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German Pages 906 [913] Year 2017
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JAHRBUCH DES ÖFFENTLICHEN RECHTS DER GEGENWART NEUE FOLGE / BAND 65
herausgegeben von
Susanne Baer, Oliver Lepsius, Christoph Schönberger, Christian Waldhoff und Christian Walter
Mohr Siebeck
Prof. Dr. Dr. h.c. Susanne Baer, LL.M., Humboldt Universität zu Berlin, Juristische Fakultät, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin Prof. Dr. Oliver Lepsius, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Allgemeine und Vergleichende Staatslehre, Universität Bayreuth, D-95440 Bayreuth Prof. Dr. Christoph Schönberger, Universität Konstanz, Fachbereich Rechtswissenschaft, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht, Vergleichende Staatslehre und Verfassungsgeschichte, D-78457 Konstanz Prof. Dr. Christian Waldhoff, Humboldt-Universität zu Berlin, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Finanzrecht, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin Prof. Dr. Christian Walter, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Völkerrecht, Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), Prof.-Huber-Platz 2, D-80539 München
ISBN 978-3-16-155255-7 / eISBN 978-3-16-159058-0 ISSN 0075–2517 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abruf bar. © 2017 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt schriftlich und unter dem Vorbehalt, dass das Manuskript nicht anderweitig zur Veröffentlichung angeboten wurde. Mit der Annahme zur Veröffentlichung überträgt der Autor dem Verlag das ausschließende Verlagsrecht. Das Verlagsrecht endet mit dem Ablauf der gesetzlichen Urheberschutzfrist. Der Autor behält das Recht, ein Jahr nach der Veröffentlichung einem anderen Verlag eine einfache Abdruckgenehmigung zu erteilen. Bestandteil des Verlagsrechts ist das Recht, den Beitrag fotomechanisch zu vervielfältigen und zu verbreiten und das Recht, die Daten des Beitrags zu speichern und auf Datenträger oder im Online-Verfahren zu verbreiten. Dieses Jahrbuch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Bembo-Antiqua gesetzt, auf alterungsbeständiges Papier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Inhaltsverzeichnis Schwerpunktthema: Der Umgang des öffentlichen Rechts mit der juristischen Person des Privatrechts Thorsten Kingreen: Das Verfassungsrecht der Zwischenschicht. Die juristische Person zwischen grundrechtsgeschützter Freiheit und grundrechtsgebundener Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Hinnerk Wissmann: Grundrechtsbindung im Gewährleistungsstaat. Zur Verortung juristischer Personen des Privatrechts im Öffentlichen Recht . 41 Andreas Kulick: Vom Kopf auf die Füße. Die juristische Person des Privatrechts und die wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte . . . . 57 Thomas Kleinlein: Die juristische Person des Privatrechts in der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Thomas Ackermann: Unternehmen als Grundrechtssubjekte. Zur verfassungsrechtlichen Transformation privatrechtlicher Formen nicht-individueller Unternehmensträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Rainer Hüttemann: Juristische Personen im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Peter Rawert: Vom Umgang des öffentlichen Rechts mit der Stiftung des BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Martin Heger: Societas delinquere non potest? Unternehmen als Adressat staatlicher Strafsanktionen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Aufsätze und Abhandlungen Peter Häberle: Poesie und Verfassung – unter Einbeziehung von Drehbüchern aus Filmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
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Claus Dieter Classen: Der Verfassungsbegriff der Demokratie in Deutschland und in Frankreich. Bemerkungen zur Konkretisierung eines offenen Verfassungsbegriffs im europäischen Rechtsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Hans-Peter Schneider: Verfassung und Verfassungsrecht im Zeichen der Globalisierung – zwischen nationaler Entgrenzung und transnationaler Entfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Alexander Blankenagel: An Russland kann man nur glauben. Eine soziologische, kulturwissenschaftliche und rechtliche Analyse Russlands . . . . 313 Adalbert Podlech: Sprachliche Bedingungen einer Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts (1977) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Ansgar Hense: Sechzig Jahre Konkordatsurteil des Bundesverfassungsgerichts. Bausteine zur Rekonstruktion des Kontextes und seine Folgewirkungen . . . . 357 Valentin M. Pfisterer: „Finanzprivatsphäre“ in Deutschland. Der verfassungsrechtliche Schutz persönlicher Informationen wirtschaftlicher und finanzieller Natur in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393
Debatte: Die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft – eine vorläufige Bilanz Hubert Treiber: Genese und ursprüngliche Intention einer steuerungswissenschaftlich konzipierten Wissenschaft vom Verwaltungsrecht. Anmerkungen eines Nicht-Juristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Claudio Franzius: Die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft – eine vorläufige Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Martin Eifert: Transformation der Verwaltungsrechtswissenschaft – Neue Verwaltungsrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Jan Philipp Schaefer: „Neue“ oder „neoklassische“ Verwaltungsrechtswissenschaft? Zu den Zukunftsaussichten der Wissenschaft vom Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Ralph Christensen und Felix Hanschmann: Was bleibt von der Gesetzesbindung bei der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“? . . . . . . . . 485 Sophie Schönberger: Mehr Wissenschaft wagen! Die uneingelösten Versprechen der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Klaus Rennert: Neue Verwaltungsrechtswissenschaft und Rechtsprechung . . . 533
Inhaltsverzeichnis
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Porträts und Erinnerungen Hans Meyer: Von Adenauer bis Merkel: Die Rechtswelt im Spiegel meiner Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 Mirjam Künkler und Tine Stein: Staat, Recht und Verfassung. Ernst-Wolfgang Böckenfördes politisches und verfassungstheoretisches Denken im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 Peter Badura: Öffentliches Recht in München seit 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . 611
Entwicklungen des Verfassungsrechts im europäischen Raum Gernot Sydow: Auf der Suche nach dem pouvoir constituant. Perspektiven der britischen Verfassungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 Dirk Hanschel: Hat Schottland eine Zukunft in der Europäischen Union? Rechtliche Handlungsoptionen nach dem britischen EU-Referendum . . . . . . 647 Jörg Luther: Erwartungen und Zumutungen des italienischen Verfassungsreferendums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 Vincenzo Baldini: Perspektiven eines transnationalen Verfassungsdialogs vor dem Hintergrund des italienischen Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . 687 Dimitrios Parashu: Der jüngste legislative Vorstoß für eine institutionalisierte Schuldenbremse in der Hellenischen Republik: Adieu dem Rechtsstaat? . . . . 701
Entwicklungen des Verfassungsrechts im außereuropäischen Raum I. Amerika Johannes Reich: „Originalismus“ als methodologischer Scheinriese und verfassungspolitische Konterrevolution. Rechtsvergleichende Kritik der Auslegung der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika aufgrund ihres Wortlauts in seiner ursprünglichen Bedeutung . . . . . . . . . . . . 713 Ute Sacksofsky: „Große Richter“? Vergleichende Beobachtungen zum Tod von Antonin Scalia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743 Mary Anne Case: Scalia as Procrustes for the Majority, Scalia as Cassandra in Dissent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 765
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Patrick Bahners: “The Folly of a Judge-Run Democracy”. Ein Interview mit Antonin Scalia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779 César Landa: The Impact of Conventionality Control on Peruvian Law between the Period of Dictatorship and the Consolidation of Constitutional Democracy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 797 Raúl Gustavo Ferreyra: The Subordination Principle as Foundation of the Constitutional State. Its regulation in Argentina, Brazil, Colombia, Ecuador, and Mexico . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 821
II. Asien Ryuji Yamamoto: Die demokratische Legitimation der Verwaltung in Japan . . 849 Teng-Chieh Yang: Rule of Law oder Rule by Law?
Eine methodische Reflexion zur Rechtsstaatsfrage in China . . . . . . . . . . . . 877
Schwerpunktthema: Der Umgang des öffentlichen Rechts mit der juristischen Person des Privatrechts
Das Verfassungsrecht der Zwischenschicht Die juristische Person zwischen grundrechtsgeschützter Freiheit und grundrechtsgebundener Macht von
Prof. Dr. Thorsten Kingreen, Universität Regensburg Inhalt A. „Frei geboren, aber überall in Ketten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 B. Das Verfassungsrecht der Zwischenschicht: Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 I. Das Konfusionsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 2. Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 II. Die Grundrechtsfähigkeit der juristischen Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Grundrechtsverpflichtung juristischer Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2. Wesensmäßige Anwendbarkeit I: Juristische Personen als Grundrechtsträger . . . . . . . . . . . . 12 3. Wesensmäßige Anwendbarkeit II: Der Grundrechtsinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 a) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 b) Rechtsprechung des U.S. Supreme Court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 C. Wechselwirkungen zwischen einfachem Recht und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 I. Die juristische Person: Eine „Person aus Recht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 II. Funktionaler Vergleich statt personaler Durchgriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 III. Grundrechtsberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1. Grundrechtstypische Gefährdungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2. Das Referenzgebiet Sozialrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 IV. Grundrechtsverpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1. Grundrechtstypische Gefährderlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Abwendung grundrechtstypischer Gefährderlagen durch einfaches Recht . . . . . . . . . . . . . . . 36 D. „I’ll believe corporations are people when Texas executes one“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
A. „Frei geboren, aber überall in Ketten“ Private haben Freiheit, Staaten Macht. Diese binäre Differenzierung zwischen einer durch grundrechtliche Freiheit geprägten Gesellschaft auf der einen und einem mit hoheitlicher Macht ausgestatteten Staat auf der anderen Seite prägt das moderne Ver-
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fassungsdenken, seit die Siedler in Neuengland gegen die britische Kolonialmacht rebelliert und in ihrer Verfassung Freiheitsbereiche abgesteckt haben, die sie vor staatlicher Macht schützen sollten. Für die feudalistischen europäischen Gesellschaften war das Thema der Macht mit einer Frontstellung gegen den Staat allerdings nicht erledigt. Als Jean-Jaques Rousseau den Menschen als zwar „frei geboren“, aber „überall in Ketten“ liegend sah,1 hatte der Vordenker der französischen Revolution, anders als Thomas Jefferson bei der Formulierung der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, weniger einen bevormundenden Staat vor Augen als vielmehr die ständische Gesellschaft des Ancien Régime, in der Klerus und Adel unter dem Schutz der Monarchie umfangreiche Privilegien genossen. Diese Feudalordnung mit ihrer ungleichen Eigentumsverteilung sollte durch einen neuen Staat beseitigt werden, durch die Nation,2 die die volonté générale3 repräsentieren sollte. Aufgrund dieser Distanz zu intermediären Machtstrukturen und den aus diesen erwachsenden und sich verfestigenden sozialen Ungleichheiten enthielt die Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 keine kollektiven Grundrechte wie die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit; 1791 wurden korporative Zusammenschlüsse und berufliche Vereinigungen sogar verboten.4 Die Verfassung von 1793 profilierte hingegen deutlicher als die amerikanische Unabhängigkeitserklärung das Ideal der Gleichheit, das nicht gegen, sondern durch Parlament und Gesetz verwirklicht werden sollte.5 Die verbändefeindlichen Wurzeln der Französischen Revolution sind seit langem gekappt. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sind heute in allen europäischen Staatsverfassungen (auch in Frankreich) sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 11 EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art. 12 GRCh) gewährleistet. Auch schützen diese Grundrechtstexte nicht mehr nur Einzelpersonen, sondern, wenn auch überwiegend nicht explizit, auch Verbände, etwa in Art. 19 Abs. 3 GG.6 Die Akkumulation privater Macht und die Ausübung sozialer Macht gelten damit als Ausübung von Freiheit und deren Beschneidung als rechtfertigungsbedürftig. Das bürgerliche Recht hat diese Entwicklung vorgezeichnet, indem es etwa in Deutschland nicht nur natürlichen Personen (§ 1 BGB), sondern auch juristischen Personen (§§ 14 ff. BGB) die Rechtsfähigkeit und damit auch die Vertragsfreiheit zuerkennt. Diese Regelungen setzten den vorläufigen Schlussstrich unter die Auseinandersetzung zwischen der durch Friedrich Carl von Savigny geprägten romanistischen Auffassung, die nur natürliche Personen für 1 Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social ou principes du droit publique, 1762, hier zitiert nach der deutschsprachigen Ausgabe von Hans Borchard (Hrsg.), Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipen des Staatsrechtes, 1991, 1. Buch Kap. 8. 2 S. dementsprechend später Art. 3 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. 3 Vgl. Art. 6 der der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. 4 Zur französischen Assoziationsfeindschaft Jörg-Detlef Kühne, Die französische Menschen- und Bürgerrechtserklärung im Rechtsvergleich mit den Vereinigten Staaten und Deutschland, JöR 38 (1990), 1 (21 ff.); Friedrich Müller, Korporation und Assoziation, 1965, 82 ff. 5 Vgl. beispielsweise Claus-Dieter Classen, Französischer Einfluss auf die Grundrechtsentwicklung in Deutschland, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 187 Rn. 5 ff.; Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 15. Aufl. 2016, § 3 Rn. 61 ff.; Hasso Hofmann, Die Grundrechte 1789 – 1949 – 1989, NJW 1989, 3177 (3180). 6 Horst Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 III Rn. 24.
Das Verfassungsrecht der Zwischenschicht
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rechtsfähig hatte erklären wollen,7 und der maßgeblich durch Otto von Gierke vertretenen germanistischen Auffassung von der realen Verbandspersönlichkeit, die auch überindividuellen Einheiten Rechtsfähigkeit zuerkannte8 und die sich letztlich durchgesetzt hat. Die juristische Person ist die rechtliche Organisationsform einer funktional ausdifferenzierten, sozial und ökonomisch arbeitsteiligen und politisch pluralistischen Gesellschaft.9 Mit ihr wird zwischen Individuum und Staat eine intermediäre Zugehörigkeitsschicht eingezogen, deren Akteure über eine vom Wechsel der Mitglieder unabhängige Identität besitzen. Juristische Personen sind sowohl aus dem Privatrecht – wo sie als Vereine und Verbände individuelle Mitgliederinteressen bündeln und zudem den institutionellen Handlungsrahmen für die Entstehung von regelmäßig international operierenden Großunternehmen bilden, die nicht mehr auf personale, insbesondere familiäre Strukturen angewiesen sind – als auch dem Öffentlichen Recht – wo sie etwa als Universitäten, Kammern und Sozialversicherungsträger eine freiheitserweiternde und politisch pluralistische Funktion haben – nicht mehr wegzudenken. Ganze Rechtsgebiete, wie das disziplinär nach wie vor eng verbundene Arbeits- und Sozialrecht, sind geprägt durch Verhandlungsregime zwischen Verbänden, die teilweise sogar die Befugnis zur Rechtsetzung haben.10 Hier erweist sich die wichtige Funktion von Verbänden, die nicht nur Interessen artikulieren, sondern auch zum Ausgleich bringen. Mit den Korporationen der vorrevolutionären ständischen Gesellschaft haben diese überwiegend auf dem Prinzip der freiwilligen Assoziation beruhenden Vereinigungen aber nur noch wenig gemein.11 Dennoch sind auch im freiheitlichen Verfassungsstaat die Bedenken, mit denen die individualistische Kritik ihre ablehnende Position(ierung) gegen die Anerkennung juristischer Personen begründet hatte, nicht vom Tisch. Nach wie vor herrscht erhebliche Unsicherheit darüber, welches Recht in dieser Zwischenschicht zwischen Individuum und Staat gilt. Rechtsdogmatisch geht es um die Rechtsfähigkeit, also die Fähigkeit, Träger von Rechten und Rechtspflichten zu sein. Allerdings stellt sich nicht mehr die Frage, ob juristische Personen überhaupt rechtsfähig sein können, sondern um die Gewichtung des Verhältnisses von Rechten und Pflichten. Insoweit steht die rechtliche Beziehung der natürlichen zu den durch sie konstituierten juristischen Personen im Fokus. Haben juristische Personen die gleichen Rechte und Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts Bd. II, 1840, §§ 60, 85. Otto von Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände, 1902 (hier zitiert nach der Ausgabe 1965), S. 23 ff. 9 Klassisch: Niklas Luhmann, Soziologische Auf klärung Bd. III, 1981, S. 392: „Die Gesellschaft entwickelt auf ihrer Systemebene eine Innendifferenzierung in Teilsysteme, die als solche noch keine Organisationen sind, aber Organisationsbildung begünstigen, nämlich Systeme für Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Erziehung, Religion usw. Organisationen, die auf solche Funktionsbereiche angesetzt sind, bringen einerseits die Besonderheit des Systemtypus zum Tragen; sie selegieren Mitglieder für programmierte Aufgaben, sie bestehen aus Entscheidungen, sie setzen, oft kontrafaktisch, eine organisationsaffine Umwelt voraus, usw. Sie sind zugleich aber gesellschaftlichen Funktionsbereichen zugeordnet. Sie müssen damit den Primat einer bestimmten Funktion anerkennen und sich zugleich an einer gesellschaftlich bestimmten Umwelt ausrichten.“ Ferner: James S. Coleman, Foundations of social theory, 1992. 10 Thorsten Kingreen/Stephan Rixen, Sozialrecht: Ein verwaltungsrechtliches Utopia?, DÖV 2008, 741 ff. 11 Friedrich Müller, Korporation und Assoziation, 1965, S. 15 ff. 7 8
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Pflichten wie die sie tragenden natürlichen Personen? Kann also, anders formuliert, von den natürlichen Personen automatisch auf die Rechte und Pflichten der juristischen Personen geschlossen werden? Bleibt damit in der juristischen Person das Verhältnis von Freiheit und durch Macht begründeter Verantwortung im Vergleich zur natürlichen Person unverändert? Als Unterfrage wird damit auch aufgeworfen, wie das Recht mit hybriden juristischen Personen umgeht, die gemeinsam durch natürliche Personen und staatliche Akteure getragen werden. Nicht erledigt hat sich auch das in der Französischen Revolution formulierte Anliegen, die soziale Macht intermediärer Akteure rechtlich einzufangen. In Deutschland entstand schon in der Weimarer Zeit, dann aber verstärkt nach 1949 der Verbändestaat.12 Große, teils öffentlich-rechtlich, teils privatrechtlich organisierte Verbände prägen die Politik (hier insbesondere in Gestalt der in Art. 21 GG als „Zwischenglieder zwischen dem Bürger und den Staatsorganen“13 anerkannten politischen Parteien), das Arbeits- und Wirtschaftsleben, das Sozial- und Gesundheitswesen sowie den Sport.14 Sie werden förmlich in politische Entscheidungsprozesse einbezogen15 oder wirken informell auf diese ein; zum Teil substituieren sie sogar staatliche Funktionen, wenn sie privates Recht setzen.16 Soziale Macht ist ein auch globales Phänomen. Bei den intermediären Akteuren des 21. Jahrhunderts handelt es sich auch um weltweit operierende, regelmäßig politisch protegierte Unternehmen und Konzerne, deren Umsatz oftmals das Bruttoinlandsprodukt auch mittelgroßer Staaten übersteigt.17 Ihre wirtschaftliche Machtstellung generiert einen politischen Einfluss, der keiner demokratischen Kontrolle unterliegt; rechtlichen Bindungen können sie sich durch „forum shopping“ entziehen. Insbesondere in den weniger entwickelten Staaten profitieren sie von Defiziten in der sozial-, wirtschafts- und umweltpolitischen Regulierung, die gesundheitsschädliche und menschenunwürdige Arbeitsbedingungen und den rücksichtslosen Umgang mit Natur und Umwelt begünstigen.18 Für den traditionellen verfassungsstaatlichen Dualismus aus privater Freiheit und staatlicher Bindung sind diese in der Zwischenschicht zwischen der natürlichen Per12 Klassisch (und umstritten): Theodor Eschenburg, Herrschaft der Verbände?, 1955. Vgl. ferner etwa E.-W. Böckenförde, Die politische Funktion wirtschaftlich-sozialer Verbände und Interessenträger in der sozialstaatlichen Demokratie, Der Staat 15 (1976), 457 ff.; Dieter Grimm, Verbände, in: Benda/Mai hofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Teil 1, 2. Aufl. 1995, S. 665 ff.; Hans-Detlef Horn, Verbände, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 41; Phillipe C. Schmitter/Jürgen Grote, Der korporatistische Sisyphus. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, PVS 38 (1997), 530 ff.; Walter Schmidt, Gesellschaftliche Machtbildung durch Verbände, Der Staat 17 (1978), 244 ff. 13 BVerfGE 44, 125 (145) – Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung [1977]. 14 Hans-Detlef Horn, Verbände (Fn. 12), § 41 Rn. 24 ff. 15 In Bayern meinte man sie gar über den 1999 abgeschafften Senat an der Staatsleitung beteiligen zu müssen. 16 S. dazu etwa Steffen Augsberg, Rechtsetzung zwischen Staat und Gesellschaft, 2003, insbes. S. 124 ff. und Gregor Bachmann, Private Ordnung, 2006, insbes. S. 227 ff. und Andreas Engert, Private Normsetzungsmacht: Die Standardisierung von Regelungen im Markt als Form der Fremdbestimmung, RW 2014, 301 ff. 17 Katarina Weilert, Transnationale Unternehmen im rechtsfreien Raum? Geltung und Reichweite völkerrechtlicher Standards, ZaöRV 69 (2009), 883 (883). 18 Eindrucksvolle Aufstellung etwa bei Gunther Teubner, Die anonyme Matrix – Zu Menschenrechtsverletzungen durch „private“ transnationale Akteure, Der Staat 45 (2006), 161 (162 f.).
Das Verfassungsrecht der Zwischenschicht
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son und dem Staat ansässigen Akteure eine erhebliche Herausforderung. Grundrechtstheorie und -dogmatik sind nach wie vor auf den Grundrechtsschutz für Individuen und gegen den Staat fokussiert und sehen in der juristischen Person nur einfach ein Zuordnungsproblem. Die Dialektik von individueller Freiheit und staatlicher Macht bedingt, dass juristische Personen des Privatrechts grundsätzlich grundrechtsberechtigt sind, weil auch natürliche Personen grundrechtsberechtigt sind – auch wenn die Berufung auf Grundrechte im Einzelfall nur soziale Machtpositionen zu Lasten gegenläufiger interner wie externer Interessen absichern soll. Juristischen Personen des öffentlichen Rechts muss der Grundrechtsschutz hingegen wegen ihrer Zugehörigkeit zur Sphäre des Staates versagt werden, selbst wenn sie im Einzelfall legitime Individualinteressen vertreten, die ohne sie kein ausreichendes Gehör fänden. Entsprechendes gilt für die Grundrechtsverpflichtung, die grundsätzlich nur öffentlich-, nicht aber privatrechtlich organisierte juristische Personen treffen soll. Soziale Macht vermag diese staatszentrierte Verfassungstheorie19 nur über staatliche Schutzverpflichtungen einzufangen, die aber u.a. dort wirkungslos bleiben müssen, wo sie an nationalstaatliche Grenzen stoßen. International wird daher vermehrt diskutiert, ob die Unternehmen auch unmittelbar menschenrechtlich zur Verantwortung gezogen werden müssen.20 Die Europäische Kommission drückt in Ihrem Strategiepapier „A renewed strategy 2011–2014 für Corporate Social Responsibility“21 immerhin die Erwartungshaltung aus, dass sich europäische Unternehmen bei allen weltweiten Aktivitäten an menschenrechtliche Mindeststandards halten und knüpft damit an den Bericht des Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen zu Fragen von Unternehmensverantwortung, John Ruggie, an, der die menschenrechtlichen Pflichten zwar nicht unmittelbar aus dem geltenden Völkerrecht, aber doch aus einer universell anerkannten gesellschaftlichen Erwartung ableitet.22 Vor dem Hintergrund, dass Impulse für Veränderungen im internationalen Menschenrechtsschutz auch aus den staatlichen Grundrechtsordnungen kommen, wird im Folgenden das Verfassungsrecht der Zwischenschicht näher entfaltet. Eine solche Untersuchung muss sich in mehrfacher Hinsicht der Realität von sich auflösenden Grenzen stellen: zwischen den vormals abgeschlossenen nationalstaatlichen Rechts19 Begriff: Gunther Teubner, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, ZaöRV 63 (2003), 1 ff. 20 Vgl. zum Ganzen Jochen v. Bernstorff, Extraterritoriale menschenrechtliche Staatenpflichten und Corporate Social Responsibility, AVR 49 (2011), 34; Angelika Emmerich-Fritsche, Zur Verbindlichkeit der Menschenrechte für transnationale Unternehmen, AVR 45 (2007), 541; Anne Peters, Sind transnationale Unternehmen verpflichtet, (internationale) Menschenrechte zu respektieren und zu fördern?, in: Kirchschläger u.a. (Hrsg.), Menschenrechte und Wirtschaft im Spannungsfeld zwischen State und Nonstate Actors, 2005, 127; Birgit Spießhofer, Wirtschaft und Menschenrechte – rechtliche Aspekte der Corporate Social Responsibility, NJW 2014, 2473; Thomas Voland, Unternehmen und Menschenrechte – vom Soft Law zur Rechtspflicht, BB 2015, 67, 70–72; Marc-Philippe Weller/Luca Kaller/Alix Schulz, Haftung deutscher Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen im Ausland, AcP 216 (2016), 387. Monographisch David Buntenbroich, Menschenrechte und Unternehmen, 2005; Antje Hennings, Über das Verhältnis von Multinationalen Unternehmen zu Menschenrechten, 2009; Kristina Koeltz, Menschenrechtsverantwortung multinationaler Unternehmen, 2009. 21 COM(2011), 681 final. 22 United Nations, Human Rights Office of the High Commissioner, Guiding Principles on Business and Human Rights, 2011, http://www.ohchr.org/Documents/Publications/GuidingPrinciplesBusinessHR_EN.pdf.
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ordnungen, die privat- wie öffentlich-rechtlich mit international operierenden Akteuren konfrontiert sind, zwischen öffentlichem und privatem Recht, deren Abgrenzung untereinander durch heterogene Prozesse der Privatisierung von öffentlichen Aufgaben und Funktionen und der damit einhergehenden Entstehung von hybriden Akteuren und Netzwerken gekennzeichnet ist, und schließlich zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht, denn es ist das Wesen der juristischen Person, „aus Recht“ zu bestehen.
B. Das Verfassungsrecht der Zwischenschicht: Bestandsaufnahme Im Verfassungsrecht der Zwischenschicht geht es um die Grundrechtsfähigkeit der juristischen Person, die Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsverpflichtung gleichermaßen umfasst. Man möchte eigentlich meinen, dass es sich dabei um eine weitgehend konsolidierte Problemstellung handelt. Tatsächlich herrscht hier aber eine maßgeblich durch das sog. Konfusionsargument ausgelöste Konfusion, die zunächst aufgelöst werden muss (I.), bevor die Frage der Grundrechtsfähigkeit (II.) untersucht wird:
I. Das Konfusionsargument Fixpunkt der Diskussion ist das sog. Konfusionsargument, das die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft grundrechtsdogmatisch reformuliert. Danach folgt aus der Grundrechtsverpflichtung die fehlende Grundrechtsberechtigung und aus der Grundrechtsberechtigung die fehlende Grundrechtsverpflichtung: Wer also grundrechtsverpflichtet ist, kann nicht grundrechtsberechtigt sein, und wer grundrechtsberechtigt ist, kann nicht grundrechtsverpflichtet sein.23 Bei näherer Betrachtung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des EuGH ist diese Dichotomie allerdings zu schlicht:
1. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht lässt sich allenfalls für die erste Teilaussage des Konfusionsarguments in Anspruch nehmen. Danach sind staatliche Organe grundsätzlich nicht Träger von Grundrechten.24 Juristische Personen des öffentlichen Rechts sollen daher, weil grundrechtsverpflichtet, nicht grundrechtsberechtigt sein.25 Sie handelten „nicht in Wahrnehmung unabgeleiteter, ursprünglicher Freiheiten, sondern aufgrund von Kompetenzen, die vom positiven Recht zugeordnet und inhaltlich bemessen und begrenzt sind. Die Regelung dieser Beziehungen und die Entscheidung 23 Wolfgang Kahl, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. 3 [Oktober 2014] Rn. 172 f.; Gerrit Manssen, Grundrechte. Staatsrecht II, 13. Aufl. 2016, Rn. 89. 24 Vgl. für die Länder BVerfGE 81, 310 (334) – Kalkar II [1990]. 25 BVerfGE 21, 362 (370) – Sozialversicherungsträger [1967]; zuletzt BVerfG, Urt. v. 6.12.2016, 1 BvR 2821/11 u. a. Rn. 188, 192.
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daraus resultierender Konflikte sind nicht Gegenstand der Grundrechte, weil der unmittelbare Bezug zum Menschen fehlt.“26 Staatliche Kompetenz und Macht sollen also kategorial inkompatibel sein mit grundrechtlicher Freiheit. Innerhalb einer als einheitlich verstandenen Staatsgewalt können sich Konflikt- und Gefährdungslagen, wie sie zwischen Privaten und dem Staat bestehen, gar nicht erst ausbilden, weil es sich nur um horizontale oder vertikale Kompetenzkonflikte handeln kann. Dieses Einheitskonstrukt lässt sich allerdings mit der Anerkennung verselbständigter öffentlich-rechtlicher juristischer Personen nur schwer vereinbaren 27 und kann, wie die anerkannten Durchbrechungen zeigen, auch nur durchgehalten werden, wenn man nicht kategorial auf die Person, sondern auf konkret wahrgenommene Funktionen abstellt. Die zweite Teilaussage des Konfusionsarguments, dass grundrechtliche Freiheit auch unvereinbar sein soll mit grundrechtlicher Bindung, ist noch brüchiger. Zwar wird die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit der Lüth-Entscheidung überwiegend als Ablehnung einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte interpretiert.28 Der stattdessen beschrittene Weg, die Grundrechte als Bestandteil einer „objektiven Wertordnung“ im Wege der sog. „mittelbaren Drittwirkung“ auf die Auslegung des einfachen Rechts „ausstrahlen“ zu lassen,29 soll verdeutlichen, dass Private nicht der gleichen umfassenden Grundrechtsbindung unterliegen wie nach Art. 1 Abs. 3 GG der Staat.30 Die unmittelbare Grundrechtsbindung der öffentlichen Hand unterscheide sich daher „grundsätzlich von der in der Regel nur mittelbaren Grundrechtsbindung, der auch Private und Privatunternehmen – insbesondere nach den Grundsätzen der mittelbaren Drittwirkung und auf der Grundlage von staatlichen Schutzpflichten – unterworfen sind.“31 Daran ist richtig, dass nicht alles, was der Staat aufgrund seiner grundrechtlichen Bindung unterlassen muss, auch Privaten verboten ist; zudem wird das Verhalten Privater oftmals durch einfaches Recht (etwa das Kartellrecht) passgenauer reguliert. Das folgt aber nicht aus dem Gegensatz „unmittelbar“ – „mittelbar“, sondern daraus, dass sich Private in der Abwägung auf Grundrechte berufen können, der Staat hingegen nicht.32 Wenn und soweit die Grundrechte aber in privaten Rechtsverhältnissen gelten, muss der Richter, der einen Rechts BVerfGE 68, 193 (206) – Zahntechniker-Innungen [1984]. Friedrich E. Schnapp, Zur Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte Bd. II, 2007, § 52 Rn. 27. Dazu noch näher unten II. 2. 28 BVerfGE 7, 198 (204 ff.) – Lüth [1958]; vgl. Thorsten Kingreen/Ralf Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, 32. Aufl. 2016, Rn. 196 ff. 29 Der Einfluss der Grundrechte beschränkt sich dabei nicht auf die Generalklauseln (wie es lange Zeit hieß), „sondern erstreckt sich auf alle auslegungsfähigen und -bedürftigen Tatbestandsmerkmale der zivilrechtlichen Vorschriften“ (BVerfG, NJW 2016, 2247 [2250]; dazu Andreas Kulick, „Drittwirkung“ als verfassungskonforme Auslegung – Zur neuen Rechtsprechung des BVerfG, NJW 2016, 2236 [2238 f.]). – Zusammenfassend zur Rechtsprechung etwa Horst Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Bd. I, 3. Aufl. 2013, Vorb. Rn. 96 ff.; Wolfgang Kahl, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. 3 [Oktober 2014] Rn. 328 ff. 30 Stefan Perner, Grundfreiheiten, Grundrechtecharta und Privatrecht, 2013, S. 164 ff. und Ralf Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 272 ff. 31 BVerfGE 128, 226 (249) – Fraport [2011]. 32 Vgl. auch Wolfgang Rüfner, Grundrechtsadressaten, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 197 Rn. 88: „Verlegenheitslösung“. 26 27
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streit unter Privaten zu entscheiden hat, sie bei der Auslegung des einfachen Rechts berücksichtigen.33 Seine Entscheidung läuft dann im Ergebnis darauf hinaus, dass Private untereinander zur Rücksichtnahme auf ihre jeweiligen Grundrechte angehalten werden. Die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte begründet also nicht anders als die unmittelbare Drittwirkung Pflichten Privater, wenn auch mediatisiert über eine richterliche Entscheidung.34 Diese Pflichten folgen aus der Notwendigkeit, im Einzelfall kollidierende Grundrechte auch im Rahmen der Auslegung des einfachen Rechts zu einem möglichst schonenden Ausgleich zu bringen.35 Entsprechendes gilt für die Rechtsprechung zu den grundrechtlichen Schutzpflichten für das chancenlose Grundrecht im privatrechtlichen Konflikt, die sich in Fällen einer faktischen Asymmetrie im Vertragsrecht letztlich gegen den von dieser Ungleichgewichtigkeit profitierenden Privaten richten.36 „Mittelbare Drittwirkung“ und „Schutzpflicht“ sind also letztlich rhetorische Tarnungen der grundrechtlichen Inpflichtnahme Privater. Das muss nicht prinzipiell gegen sie sprechen, denn die unmittelbare Drittwirkung erzeugt allzu leicht das Missverständnis, dass private und staatliche Bindung kongruent sind. Für den hiesigen Zusammenhang, das Konfusionsargument, ist das aber wichtig, weil sich damit dessen Prämisse, dass Grundrechtsträger per se nicht grundrechtsgebunden sein können, als haltlos erweist. Das zeigt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum „Bierdosen-Flashmob“ auf einem öffentlich zugänglichen, aber im Eigentum einer GmbH und Co. KG stehenden Platz in der Passauer Innenstadt.37 Das Bundesverfassungsgericht stellt hier zwar fest, dass die Gesellschaft als juristische Person nach Art. 19 Abs. 3 GG Trägerin des Eigentumsgrundrechts (Art. 14 Abs. 1 GG) sei. Gleichwohl könnten sich die Veranstalter des Flashmobs auf Art. 8 Abs. 1 GG berufen, der zwar kein Zutrittsrecht zu beliebigen Orten schütze, aber die Durchführung von Versammlungen überall dort schütze, wo ein allgemeiner öffentlicher Verkehr eröffnet ist.38 Zwar sei die GmbH & Co. KG „nicht wie die staatliche Gewalt unmittelbar an Grundrechte gebunden“, doch sei „die Versammlungsfreiheit […] im Wege der mittelbaren Drittwirkung nach Maßgabe einer Abwägung zu beachten.“39 Trotz dieses Bekenntnisses zu einer „nur“ mittelbaren Drittwirkung heißt es dann aber, dass „Private im Wege der mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten freilich unbeschadet ihrer eigenen Grundrechte auch ähnlich oder auch genauso weit wie der Staat durch die Grundrechte in Pflicht genommen werden [können], insbesondere, wenn sie in tatsächlicher Hinsicht in eine vergleichbare Pflichten- oder Garantenstellung hineinwachsen wie traditionell der Staat.“40 Das Bundesverfassungsgericht verweist insoweit auf seine FRAPORT-Entscheidung, obwohl es dort wegen der öf33 Klassisch: Karl Doehring, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsvergleichung und des Völkerrechts, 3. Aufl. 1984, S. 209. 34 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, 489 f.; ferner etwa Johannes Hager, Grundrechte im Privatrecht, JZ 1994, 373 (374, 382). 35 Vgl. BVerfGE 134, 204 (223) – Werkverwertungsverträge [2013]. 36 BVerfGE 81, 242 (255) – Handelsvertreter [1990]; 92, 26 (46) – Zweitregister [1995]; 134, 204 (223) – Werkverwertungsverträge [2013]. 37 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats v. 18.7.2015, 1 BvQ 25/15, NJW 2015, 2485. 38 BVerfG, NJW 2015, 2485 (2485). 39 BVerfG, NJW 2015, 2485 (2485 f.). 40 BVerfG, NJW 2015, 2485 (2486).
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fentlichen Anteilsmehrheit an einer privatrechtlichen juristischen Person nicht um eine mittelbare Drittwirkung, sondern um einen Fall unmittelbarer Grundrechtsbindung i.S.v. Art. 1 Abs. 3 GG ging.41 Es möchte also beide Fälle gleich behandeln, weil es für die Grundrechtsberechtigung bei Art. 8 Abs. 1 GG nicht auf die Eigentumsverhältnisse am öffentlichen Raum ankommen kann. Damit erweist sich aber das Bekenntnis zur mittelbaren Drittwirkung im Flashmob-Fall als bloße Rhetorik. Wenn nämlich auch die mittelbare Drittwirkung eine dem Staat vergleichbare grundrechtliche Inpflichtnahme deckt, verschwimmen die Grenzen zur unmittelbaren Grundrechtsbindung.42 Der einzige (selbstverständliche) Unterschied besteht dann noch darin, dass sich der grundrechtlich in die Pflicht genommene private Eigentümer anders als eine öffentliche oder öffentlich beherrschte juristische Person auf sein kollidierendes Grundrecht (Art. 14 Abs. 1 GG) berufen kann. Das ist aber keine Frage der (unmittelbaren oder mittelbaren) Grundrechtsverpflichtung, sondern der Abwägung zwischen kollidierenden Grundrechten, die diese staatlichem wie bei nichtstaatlichem Eingreifen erforderlich ist. So beschränkt sich die materiell-rechtliche Bedeutung der Unterscheidung zwischen unmittelbarer Drittwirkung und mittelbarer Drittwirkung auf die graduellen Unterschiede zwischen staatlicher und privater Bindung. Rechtserheblich ist sie vor allem im Prozessrecht, denn im Verfassungsbeschwerdeverfahren kann nur über die Konstruktion einer mittelbaren Drittwirkung die öffentliche Gewalt i.S.v. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG adressiert werden. Doch ändert das nichts daran, dass die rechtsanwendende Gewalt (insbesondere also die Fachgerichte) die Grundrechte nur deshalb berücksichtigen muss, weil und soweit diese unmittelbare materielle Verpflichtungen auch gegenüber Privaten begründen.
2. Rechtsprechung des EuGH Im Unionsrecht hat das Argument der zu vermeidenden Konfusion von privater Berechtigung und öffentlicher Bindung eine noch geringere Valenz. Es wird in vielen Teilbereichen vom Grundsatz der Rechtsformneutralität geprägt, d.h. die Anwendbarkeit von Normen hängt nicht von der Rechtsform ab, weil sich anderenfalls die Mitgliedstaaten durch die ihnen frei stehende Rechtsformwahl der Anwendung des Unionsrechts entziehen könnten („keine Flucht aus dem Unionsrecht“).43 Unerheblich ist auch, ob eine freiheitsbeeinträchtigende Maßnahme auf staatlicher Recht setzung oder auf von Privatpersonen geschlossenen Verträgen oder sonstigen Akten beruht, weil es insoweit (etwa bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen) in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Praktiken gibt, die aber nicht dafür maßgebend sein können, ob Unionsrecht anwendbar ist oder nicht.44 41 So ausdrücklich BVerfGE 128, 226 (248 f.) – Fraport [2011]; Gleiches gilt für BGH, NJW 2015, 2892. 42 Christoph Smets, Staatsgleiche Grundrechtsbindung Privater aus Funktionsnachfolge? Zur Auf hebung eines Hausverbots für eine Versammlung auf privatem Grund, NVwZ 2016, 35 (37 f.). 43 Vgl. etwa für das Kartellrecht EuGH, Rs. C-41/90, ECLI:EU:C:1991:161, Rn. 21 (Höfner und Elser). 44 EuGH, Rs. C-415/93, ECLI:EU:C:1995:463, Rn. 84 (Bosman).
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Dieser Ansatz trägt namentlich die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Bindung von Korporationen an die Grundfreiheiten. So sind etwa die nationalen Sportverbände im Rahmen privatautonomer Rechtsetzung45 ebenso an die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV), die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) und die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) gebunden wie etwa Gewerkschaften im Rahmen von kollektiven Maßnahmen gegen Unternehmen.46 Tragend ist insoweit die Begründung, dass die private der staatlichen Normsetzung funktional entspricht. Die Verwirklichung der Grundfreiheiten sei gefährdet, „wenn die Beseitigung der staatlichen Schranken dadurch in ihren Wirkungen wieder aufgehoben würde, dass privatrechtliche Vereinigungen oder Einrichtungen kraft ihrer rechtlichen Autonomie derartige Hindernisse aufrichteten.“47 Das ist ein eher pragmatischer Zugang, der ganz im Zeichen des unionsrechtlichen effet utile steht. Er wird möglich, weil der EuGH die Grundfreiheiten nicht in den theoretisch-historischen Kontext der Grundrechte rückt, sondern einfach prüft, ob soziale Verbandsmacht mit staatlicher Rechtsetzungsmacht vergleichbar ist. Die Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit (Art. 34 AEUV) ist zwar weniger eindeutig. Hier hat der EuGH nach anfänglicher Ablehnung48 einer unmittelbaren Drittwirkung Art. 34 AEUV auf die private Normsetzung durch einen gemeinnützigen Verein angewendet.49 Es ist aber nicht ganz klar, ob die Bindung die Normsetzung selbst erfasst oder nur die staatlichen Normen, die die private Rechtsetzung inkorporieren.50 Unabhängig davon lässt sich festhalten, dass die (im Schrifttum allerdings kritisch begleitete51) Rechtsprechung zur Bindung an die Grundfreiheiten weitaus weniger als die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf die Abgrenzung zwischen privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Sphäre abstellt, sondern darauf, ob eine Korporation im Einzelfall ein Potenzial zur Gefährdung subjektiver Rechte hat, das demjenigen staatlicher Akteure entspricht. Allerdings sind die Grenzen dieser Bindung auch noch nicht ausgelotet. Der EuGH hat nämlich die Arbeitnehmerfreizügigkeit sogar auf individualrechtliche Vereinbarungen angewendet; 52 teilweise
45 EuGH, Rs. 36/74, ECLI:EU:C:1974:140, Rn. 16/19 (Walrave und Koch); Rs. 13/76, ECLI:EU: C:1976:115, Rn. 17/18 (Donà); Rs. C-415/93, ECLI:EU:C:1995:463, Rn. 82 ff. (Bosman); Verb. Rs. C-51/96 u. C-191/97, ECLI:EU:C:2000:199, Rn. 47 (Deliège); Rs. C-176/96, ECLI:EU:C:2000:201, Rn. 9 f. (Lehtonen und Castors Braine). 46 EuGH, Rs. C-438/05, ECLI:EU:C:2007:772, Rn. 42 ff. (International Transport Workers’ Association). 47 So EuGH, Rs. 36/74, ECLI:EU:C:1974:140, Rn. 16/19 (Walrave und Koch). 48 EuGH, Rs. 311/85, ECLI:EU:C:1987:418, Rn. 30 (VVR/Sociale Dienst van de Plaatselijke en Gewestelijke Overheidsdiensten); ECLI:EU:C:1988:448 Rn. 11 (Bayer u.a./Süllhöfer). Für eine unmittelbare Drittwirkung auch der Warenverkehrsfreiheit demgegenüber GA Trstenjak, Schlußantr. zu EuGH, Rs. C-171/11, ECLI:EU:C:2012:176, Ziff. 43 (Fra.bo). 49 EuGH, Rs. C-171/11, ECLI:EU:C:2012:453, Rn. 27 ff. (Fra.bo). 50 Nachweise zum Streitstand: Thorsten Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 34–36 AEUV Rn. 112. 51 Thorsten Kingreen, ebd., Rn. 113. 52 EuGH, Rs. C-281/98, ECLI:EU:C:2000:296, Rn. 34 (Angonese); Rs. C-94/07, ECLI:EU:C: 2008:425, Rn. 45 (Raccanelli).
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werden demgegenüber Private nicht unmittelbar an die Grundfreiheiten gebunden, sondern wird die mitgliedstaatliche Schutzpflicht aktiviert.53 Auch bei der Grundfreiheitsberechtigung spielt die Abgrenzung zwischen öffentlichem und privaten Bereich keine tragende Rolle: Träger der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit sind gemäß Art. 54 Abs. 1 (i.V.m. Art. 62) AEUV auch Gesellschaften. Das sind nach Art. 54 Abs. 2 AEUV nicht nur juristische Personen des bürgerlichen, sondern auch des öffentlichen Rechts. Für die Unionsgrundrechte regelt Art. 51 GRCh die umfassende Bindung der Union und die eingeschränkte Bindung der Mitgliedstaaten. Regelungen zur Bindung Privater (und damit auch privater Korporationen) enthält die Norm, insoweit mit Art. 1 Abs. 3 GG vergleichbar, nicht. Allerdings wird man daraus kaum schließen können, dass eine Drittwirkung der Unionsgrundrechte ausscheidet, schon, weil die Charta in Art. 15 Abs. 2 und 45 GRCh auch die Personenverkehrsfreiheiten garantiert, für die der EuGH die Drittwirkung, wie vorstehend ausgeführt, bereits bejaht hat. Auch ist es bei einzelnen sozialen Grundrechten für Arbeitnehmer (Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen, Verbot der Kinderarbeit, Schutz des Familien- und Berufslebens, Art. 29–33 GRCh) jedenfalls naheliegend, dass sie auch und gerade (private) Arbeitgeber unmittelbar verpflichten. Einschlägige Rechtsprechung des EuGH gibt es allerdings noch nicht; 54 im Schrifttum ist die Frage umstritten.55 Für die Interpretation der Grundrechte des Grundgesetzes ist die Rechtsprechung des EuGH keine ferne Welt. Die Einschlägigkeit der Grundfreiheiten bei privaten Verhaltensweisen löst nämlich nach überwiegender Meinung auch die Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte i.S.v. Art. 51 GRCh aus,56 die in Kollisionslagen Vorrang vor den Grundrechten des Grundgesetzes genießen.57 Gegen die deutsche Grundrechtsinterpretation, die eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte ablehnt, werden sich daher ggfs. die subjektiv-öffentlichen Verfassungsrechte des Unionsrechts durchsetzen.
II. Die Grundrechtsfähigkeit der juristischen Person Das Konfusionsargument unterstellt damit eine kategoriale Unterscheidung zwischen staatlicher Bindung und gesellschaftlicher Freiheit, die so nicht besteht und auch durch die einschlägigen Verfassungstexte nicht vorgegeben ist.58 Zwar begrün53 EuGH, Rs. C-265/95, ECLI:EU:C:1997:595, Rn. 30 (Kommission/Frankreich); Rs. C-112/00, ECLI:EU:C:2003:333, Rn. 57 (Schmidberger). 54 Für Art. 31 GRCh ablehnend aber GA Trstenjak, Schlussantrag v 8.9.2011, C-282/10, ECLI:EU:C:2011:559, Rn. 80 ff. (Dominguez). 55 Vgl. Stefan Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht, 2013, 162 ff. 56 Nachweise zum Streitstand: Thorsten Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.); EUV/AEUV, 5. Auf. 2016, Art. 51 GRCh Rn. 16 ff. 57 Dazu näher Thorsten Kingreen, Die Grundrechte des Grundgesetzes im europäischen Grundrechtsföderalismus, JZ 2013, 801 (807 f.). 58 Berechtigte Kritik: Michael Goldhammer, Grundrechtsberechtigung und -verpflichtung gemischtwirtschaftlicher Unternehmen, JuS 2014, 891 (894 f.); Friedrich E. Schnapp, Grundrechtsberechtigung
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det Art. 1 Abs. 3 GG die Bindung aller staatlichen Gewalt an die Grundrechte, schließt damit aber weder die Grundrechtsverpflichtung nichtstaatlicher Akteure noch die Grundrechtsberechtigung von öffentlich-rechtlich organisierten Akteuren aus. Auch das europäische Recht wird nicht in dem binären Sinne gedeutet, dass Private nur Rechte, öffentliche Akteure hingegen allein Kompetenzen haben; es wird die deutsche Grundrechtsinterpretation beeinflussen. Schon aus diesem Grunde kann man die Ausgangsfrage nach dem für intermediäre Akteure maßgeblichen Verfassungsrecht nicht einfach dadurch beantworten, dass man die Zwischenschicht zwischen Individuum und Staat wiederum in jeweils einen Block privatrechtlicher Freiheit und öffentlich-rechtlicher Bindung unterteilt. Maßgebend für das deutsche Verfassungsrecht ist vielmehr Art. 19 Abs. 3 GG, dem drei wichtige Aussagen entnommen werden können: Er regelt erstens nur die Grundrechtsberechtigung (dazu 1.), berechtigt zweitens allgemein, d.h. ohne kategoriale Unterscheidung nach der Rechtsform, inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach Grundrechtsträger sein können (s. 2.), und macht drittens die Grundrechtsberechtigung davon abhängig, ob auch das konkrete Grundrecht seinem Wesen nach anwendbar ist (3.). Das sind wichtige Eingrenzungen, mit denen sich der Grundrechtsschutz und die Grundrechtsverantwortung intermediärer Akteure gut begründen und begrenzen lassen:
1. Grundrechtsverpflichtung juristischer Personen Art. 19 Abs. 3 GG regelt die Grundrechtsberechtigung, nicht die Grundrechtsverpflichtung juristischer Personen.59 Die Grundrechtsverpflichtung richtet sich daher nach dem allgemeinen Art. 1 Abs. 3 GG, weshalb zwar juristische Personen des öffentlichen Rechts uneingeschränkt grundrechtsverpflichtet sind, aber auch nicht ausgeschlossen ist, dass im Einzelfall auch juristische Personen des Privatrechts an die Grundrechte gebunden sein können.60 Umgekehrt folgt aber aus Art. 1 Abs. 3 GG nichts für die Grundrechtsberechtigung; dass er – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – dennoch immer wieder argumentativ bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 3 GG ins Feld geführt wird, zeigt, dass das untaugliche Konfusionsargument nach wie vor unterschwellig wirkt.
2. Wesensmäßige Anwendbarkeit I: Juristische Personen als Grundrechtsträger Begrifflich weitergehend als das Zivilrecht schützt Art. 19 Abs. 3 GG nicht nur vollrechtsfähige Vereinigungen, sondern auch sonstige privatrechtliche Vereinigungen, denen das Zivilrecht lediglich Teilrechtsfähigkeit einräumt wie namentlich den Per(Fn. 27), § 52 Rn. 27; Friedrich K. Schoch, Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen, Jura 2001, 201 (204). 59 Weitgehend allg. Meinung, s. nur Horst Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 III Rn. 28. 60 Vgl. zu BVerfG, NJW 2015, 2485 bereits oben I. 1.
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sonengesellschaften.61 Für das Verständnis der Norm entscheidend ist die einschränkende Wendung der „wesensmäßigen Anwendbarkeit“. Sie wird nicht nur auf den Grundrechtsinhalt62, sondern auch auf den Grundrechtsträger („Rechtsträgerseite“63) bezogen.64 Daraus wird überwiegend gefolgert, dass Art. 19 Abs. 3 GG trotz der allgemeinen Formulierung („inländische juristische Personen“) nicht rechtsformneutral ist. Das Bundesverfassungsgericht stellt insoweit auf das personale Substrat der juristischen Person ab: „Das Wertsystem der Grundrechte“ basiere auf der „Würde und Freiheit des einzelnen Menschen als natürlicher Person“. Es rechtfertigt „eine Einbeziehung der juristischen Personen in den Schutzbereich der Grundrechte nur, wenn ihre Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung der natürlichen Personen sind, besonders wenn der ‚Durchgriff ‘ auf die hinter den juristischen Personen stehenden Menschen dies als sinnvoll oder erforderlich erscheinen lässt.“65 Aufgrund dieses individualistischen Ansatzes, der die juristische auf die natürliche Person rückbezieht, gelten daher die Grundrechte ihrem Wesen nach grundsätzlich nicht für juristische Personen des öffentlichen Rechts, „weil der unmittelbare Bezug zum Menschen fehlt.“66 Daher sind nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts etwa die Bundesländer,67 die Gemeinden,68 Sozialversicherungsträger,69 Ärztekammern70 und Sparkassen71 nicht grundrechtsberechtigt. Den personalen Bezug sieht das Bundesverfassungsgericht hingegen bei öffentlich-rechtlichen Institutionen als gegeben an, denen die Rechtsordnung grundrechtlich geschützte Lebensbereiche zuordnet, nämlich den öffentlich-rechtlich organisierten Rundfunkanstalten und Hochschulen im Hinblick auf ihre jeweiligen Grundrechte (Art. 5 Abs. 1 S. 2 bzw. Abs. 3 S. 1 GG).72 Eine weitere Ausnahme soll für die Prozessgrundrechte der Art. 101 Abs. 1 S. 2 und 103 Abs. 1 GG gelten. Diese sollen auch juristische Personen des öffentlichen Rechts schützen, weil sie „keine Indivi dualrechte wie die Art. 1 bis 17 GG“, sondern „objektive Verfahrensgrundsätze“ enthielten.73 Das ist in jeder Hinsicht eine rätselhafte Begründung.74 Man kann fra Horst Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 III Rn. 4 4 ff. Dazu später 3. 63 Friedrich K. Schoch, Grundrechtsfähigkeit (Fn. 58), 203. 64 Horst Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 III Rn. 30; Michael Goldhammer, Grundrechtsberechtigung (Fn. 58), 892; Friedrich K. Schoch, Grundrechtsfähigkeit (Fn. 58) 203. 65 BVerfGE 21, 362 (369) – Sozialversicherungsträger [1967]; auch in der Literatur erfährt der individualistische Ansatz verbreitet Zustimmung, s. etwa Peter M. Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Begr./Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Rn. 209 ff. 66 BVerfGE 21, 362 (371) – Sozialversicherungsträger [1967]; 61, 82 (101) – Sasbach [1982]. 67 BVerfGE 81, 310 (334) – Kalkar II [1990]. 68 BVerfGE 98, 17 (47) – Sachenrechtsmoratorium [1998]. 69 BVerfGE 21, 262 (277) – Arbeitsvermittlungsmonopol [1967]; 39, 302 (314) – AOK [1975]; 77, 340 (344) – Beschlagnahme von Filmmaterial [1987]. 70 BVerfG, NJW 1997, 1634 (1634 f.). 71 BVerfGE 75, 192 (200) – Sparkassen [1987]. 72 Vgl. BVerfGE 15, 256 (262) – Universitäre Selbstverwaltung [1967] und BVerfGE 31, 314 (322) – Rundfunkentscheidung [1971]. 73 BVerfGE 21, 362 (373) – Sozialversicherungsträger [1967]; 61, 82 (104) – Sasbach [1982]; 75, 192 (200) – Sparkassen [1987]. 74 Kritisch auch Josef Isensee, Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 199 Rn. 56. 61
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gen, wie denn überhaupt der für die „wesensmäßige Anwendbarkeit“ i.S.v. Art. 19 Abs. 3 GG vermeintlich erforderliche „Bezug zum Menschen“ begründet werden kann, wenn die besagten Normen gar keine Individualrechte enthalten.75 Abgesehen davon ist unklar, warum sie keine Individualrechte sein sollen; zumindest prozessual – sie sind in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG genannt – ist diese Position kaum haltbar. Schließlich: Wäre diese Gegenüberstellung von individualrechtlicher und objektivrechtlicher Grundrechtsfunktion richtig, so müssten zumindest die objektiv-recht lichen Grundrechtegehalte bei den anderen Grundrechten auch von den juristischen Personen des öffentlichen Rechts gerügt werden können.76 Hervorzuheben sind ferner mehrere Entscheidungen aus dem Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung. So hat das Bundesverfassungsgericht auf der einen Seite die Grundrechtsberechtigung einer Zahntechnikerinnung verneint, weil diese in das öffentlich-rechtliche System des gesetzlichen Krankenversicherungsrechts einbezogen sei;77 es hat diese aber auf der anderen Seite für eine Orthopädietechniker innung bejaht, weil diese nicht in das Krankenversicherungssystem integriert gewesen sei.78 Diese beiden Entscheidungen werden im Schrifttum teilweise als inkongruent angesehen,79 enthalten aber einen wichtigen Differenzierungsansatz. Die erste Entscheidung betont zwar zunächst die Notwendigkeit eines personalen Bezugs für die Grundrechtsberechtigung, argumentiert dann aber rein funktional mit der Eingliederung in das System der gesetzlichen Krankenversicherung.80 In der zweiten Entscheidung wird auf das Erfordernis eines personalen Substrats gar nicht mehr eingegangen und allein darauf abgestellt, dass „die Innungen der Orthopädietechniker von den angegriffenen Regelungen nicht in ihrer Funktion als Teil der staatlichen Verwaltung, sondern als Interessenvertretung ihrer Mitglieder betroffen“81 seien. Zur Bejahung der Grundrechtsberechtigung dürfte aber auch beigetragen haben, dass die streitgegenständlichen Regelungen auch von privaten Verbänden angegriffen worden waren und sich allein an der Rechtsform anknüpfende Unterschiede kaum hätten rechtfertigen lassen.82 Der Ansatz, auf (in der Sache hier übrigens zweifelhafte83) Unterschiede im einfachen Recht (= Inkorporation in das System der gesetzlichen Krankenversicherung) abzustellen, ist grundsätzlich überzeugend, wenn man die rechtliche Ausgestaltung und die konkret betroffene Aufgabe der juristischen Person im Einzelfall für maßgebend hält, und nicht den individualistischen „Durchblick“ auf die natürlichen Personen.84 Es erschließt sich dann aber nicht, warum das Bundesverfassungsgericht später Kassenärztliche Vereinigungen pauschal 75 Entsprechendes gilt für die neuerdings verwendete Gegenüberstellung von „individueller Autonomie“ auf der einen und (wohl objektiv und systemisch verstandener) „prozeduraler Gerechtigkeit und Waffengleichheit“ auf der anderen Seite (BVerfG, NJW 2014, 1723 [1725]). 76 Friedrich K. Schoch (Fn. 58), 205 Fn. 94; vgl. auch Peter M. Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 65), Art. 19 Abs. 3 Rn. 325. 77 BVerfGE 68, 193 (209 f.) – Zahntechniker-Innungen [1984]. 78 BVerfGE 70, 1 (16) – Orthopädietechniker-Innungen [1985]. 79 Etwa von Horst Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 III Rn. 67. 80 BVerfGE 68, 193 (207 f.) – Zahntechniker-Innungen [1984]. 81 BVerfGE 70, 1 (16) – Orthopädietechniker-Innungen [1985]. 82 Zum Argument der Waffengleichheit noch unten C. II. 83 Peter Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 1997, 267. 84 Dazu noch unten C. I.
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und auch dann vom Grundrechtsschutz ausgenommen hat, soweit sie Grundrechte der in ihr zusammengeschlossenen Ärzte fördern.85 Außerdem bleibt offen, was diese funktionale Argumentation für die Grundrechtsberechtigung privatrechtlicher Verbände bedeutet, die in das System der gesetzlichen Krankenversicherung einbezogen sind.86 Die Dinge verkomplizieren sich weiter, weil das Bundesverfassungsgericht die „wesensmäßige Anwendbarkeit“ in einigen Entscheidungen mit der Begründung verneint, dass die betreffende juristische Person „öffentliche Aufgaben“ wahrnehme. Damit tritt die Frage der Rechtsnatur in den Hintergrund, denn auf der einen Seite sollen auch juristische Personen des öffentlichen Rechts grundrechtsberechtigt sein, wenn sie keine öffentlichen Aufgaben, sondern die Interessen ihrer Mitglieder wahrnehmen (wie im vorstehenden Fall der Zahntechnikerinnung). Auf der anderen Seite sollen auch juristische Personen des Privatrechts nicht grundrechtsberechtigt sein, wenn und soweit sie öffentliche Aufgaben wahrnehmen, so der TÜV87, eine gemeinnützige Baugenossenschaft88 und eine Wohnungsbaugesellschaft89. Auch hier bleiben Fragen offen: Aus der Diskussion über Staatsaufgaben und öffentliche Aufgaben war an sich die Erkenntnis übrig geblieben, dass es nicht möglich ist, feste staatliche bzw. öffentliche Aufgabenbestände zu definieren.90 Außerdem ist es nicht einsichtig, dass das Bundesverfassungsgericht auf der einen Seite zunächst das rechtsformbezogene Konfusionsargument auffährt, um die fehlende Grundrechtsfähigkeit der juristischen Personen des öffentlichen Rechts zu begründen,91 der Rechtsform dann auf der anderen Seite doch nur „indizielle Bedeutung“ beimessen will.92 Jüngst formuliert es sogar allgemein, die Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt sei „unabhängig von den gewählten Handlungsformen und den Zwecken, zu denen sie tätig wird“93. Da es aus der von verfolgten Zwecken unabhängigen Grundrechtsverpflichtung mit dem Konfusionsargument zugleich die fehlende Grundrechtsberechtigung ableitet,94 kann daher die Frage der Grundrechtsfähigkeit insgesamt nicht von dem Zweck abhängig sein, eine öffentliche Aufgabe zu erfüllen. Insgesamt bleibt damit unklar, in welchem Verhältnis Rechtsform und wahrgenommene Aufgabe zueinander stehen, wenn es um die Frage der „wesensmäßigen Anwendbarkeit“ geht. 85 BVerfG, NJW 1996, 1588 (1588 f.). Passend wäre hier die Begründung gewesen, dass es sich um eine Auseinandersetzung der Kassenärztlichen Vereinigung mit einzelnen Mitgliedern handelte. Denn bei verbandsinternen Streitigkeiten befindet sich der Verband in keiner grundrechtstypischen Gefährdungslage, vgl. auch noch unten C. III. 2. 86 S. unten C. III. 2. 87 BVerfG, NJW 1987, 2501 (2502). 88 BVerfG, NJW 1996, 584 (584): „Befugnisse nur im öffentlichen Interesse“. 89 BVerfG, NVwZ-RR 2016, 242 (243). 90 Vgl. Thorsten Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund. Gemeinschaftsrechtliche Einflüsse auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 2003, 108 ff. Speziell kritisch im Hinblick auf Art. 19 Abs. 3 GG etwa Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 14. Aufl. 2016, Art. 19 Rn. 18; Gerrit Manssen, Grundrechte. Staatsrecht II, 13. Aufl. 2016, Rn. 88; Friedrich K. Schoch, Grundrechtsfähigkeit (Fn. 58), 206. 91 BVerfGE 21, 362 (371) – Sozialversicherungsträger [1967]; 61, 82 (101) – Sasbach [1982]. 92 So BVerfGE 68, 193 (212) – Zahntechniker-Innungen [1984]. 93 BVerfG, Beschl. v. 19.7.2016, 2 BvR 470/08, Rn. 29. 94 BVerfG, Beschl. v. 19.7.2016, 2 BvR 470/08, Rn. 28.
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Das Problem wird virulent bei den Nachfolgeunternehmen der vormaligen Staatsunternehmen, etwa der (zu 100 % vom Bund getragenen) Deutschen Bahn AG.95 Die Situation ist hier einigermaßen unübersichtlich, weil die Diskussion vielfach von der Grundrechtsbindung (Art. 1 Abs. 3 GG) her geführt und damit kurzerhand mit dem Konfusionsargument erledigt wird. So bejaht das Bundesverfassungsgericht in der FRAPORT-Entscheidung die Grundrechtsbindung der Betreibergesellschaft, weil diese zu ca. 70 % von öffentlichen Anteilseignern beherrscht werde, und schließt daraus eher „beiläufig“96 auf die fehlende Grundrechtsberechtigung;97 zuvor hatte es, gewissermaßen umgekehrt, die Grundrechtsberechtigung eines Energieversorgungsunternehmens verneint, weil es zu 72 % in kommunaler Hand war.98 Das Konfusionsargument hat also nach wie vor eine tragende Rolle in der Debatte. Dementsprechend verlaufen die Fronten etwa bei der Grundrechtsberechtigung der Deutschen Bahn AG, die von denjenigen bejaht wird, die ihre Grundrechtsbindung verneinen99 und von denjenigen abgelehnt wird, die diese bejahen.100 Legt man die referierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde, spricht wegen der staatlichen Beherrschung der Deutschen Bahn AG101 und auch wegen der von ihr zu erfüllenden Aufgaben, die man mit der gebotenen Vorsicht als jedenfalls überwiegend öffentlich ansehen darf, alles für eine Grundrechtsbindung der Deutschen Bahn AG. Mit dem aufgabenbezogenen Argument müsste man dann aber an sich auch die privaten Wettbewerber der Bahn als grundrechtsverpflichtet ansehen, denn diese haben jedenfalls im Bereich des Personenverkehrs die gleiche Funktion wie die Deutsche Bahn AG.102 Umgekehrt kann man damit aber nicht ihre Grundrechtsberechtigung verneinen, die – insbesondere im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG – nicht 95 Die Deutsche Bahn AG ist ein aus mehreren Teilunternehmen bestehender Konzern; Anteilseigner ist aber jeweils zu 100 % der Bund, vgl. Robert Uerpmann-Wittzack, Verkehr, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 89 Rn. 6, 42. 96 Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 14. Aufl. 2016, Art. 19 Rn. 18. 97 BVerfGE 128, 226 (247) – Fraport [2011]: „Mit der unmittelbaren Grundrechtsbindung und der damit fehlenden Berechtigung, sich in einem Zivilrechtsstreit gegenüber Privaten auf eigene Grundrechte zu berufen […]“; ferner S. 248 f.: „die Grundrechtsbindung und die ihr entsprechende fehlende Grundrechtsberechtigung“ (Hervorhebungen nur hier), ferner BVerfG, Beschl. v. 19.7.2016, 2 BvR 470/08, Rn. 27 f.: Wegen Grundrechtsverpflichtung keine Grundrechtsberechtigung eines von einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft in Privatrechtsform betriebenen Schwimmbads. 98 BVerfG, NJW 1990, 1783 (1783); dagegen etwa Bodo Pieroth, Die Grundrechtsberechtigung gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen, NWVBl. 1992, 85 (88). 99 Hubertus Gersdorf, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Begr./Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 87e Abs. 3 Rn. 53 f; Markus Möstl, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 87e [2006] Rn. 102; Robert Uerpmann-Wittzack, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 87e Rn. 10. 100 Etwa Ulrich Battis/Jens Kersten, Die Deutsche Bahn AG als staatliches Wirtschaftsunternehmen zwischen Grundrechtsverpflichtung, Gemeinwohlauftrag und Wettbewerb, WuW 2005, 493 (495 f., 501); Georg Jochum, Die Grundrechtsbindung der Deutschen Bahn AG, NVwZ 2005, 779 (781); Barbara Remmert, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar zum Grundgesetz, Art. 87e [2016] Rn. 13. 101 Mit dieser Begründung etwa auch Elke Gurlit, Grundrechtsbindung von Unternehmen, NZG 2012, 249 (253); Thomas Hammer, Die unternehmerische Freiheit der Eisenbahnen des Bundes, DÖV 2011, 761 (765). 102 In diesem Sinne etwa Hubertus Gersdorf, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 99), Art. 87e Abs. 3 Rn. 53.
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ernsthaft zweifelhaft ist. Die auch materiell privaten Eisenbahnunternehmen wären dann also gleichermaßen grundrechtsverpflichtet und -berechtigt. Wenn aber damit aus der Grundrechtsverpflichtung ohnehin nicht zwangsläufig auf eine fehlende Grundrechtsberechtigung geschlossen werden kann, muss auch bei der Deutschen Bahn AG die Frage der Grundrechtsberechtigung unabhängig von ihrer nach Art. 1 Abs. 3 GG bestehenden Grundrechtsbindung allein am Maßstab des Art. 19 Abs. 3 GG geprüft werden und könnte im Einzelfall durchaus bejaht werden, wenn sie funktional in der gleichen Lage ist wie ihre privaten Wettbewerber. Das Bundesverwaltungsgericht hat daher, allerdings jeweils noch vor der FRAPORT-Entscheidung, die Grundrechtsberechtigung der TELEKOM unter Hinweis „auf ihre ausschließlich privatwirtschaftliche Tätigkeit und Aufgabenstellung (Art. 87f Abs. 2 GG)“ bejaht, obwohl der Bund zum maßgeblichen Zeitpunkt noch die Mehrheit der Anteile gehalten hat103 und daher auch eine Grundrechtsbindung hätte angenommen werden müssen. In Kombination mit dem Konfusionsargument erweist sich das Beherrschungsargument allerdings insgesamt als prekär. Wenn nämlich der öffentliche und der private Anteil konvergieren, möglicherweise sogar bei jeweils genau 50 % (wie etwa beim Flughafen Düsseldorf ) liegen, kann man weder von einer staatlichen Beherrschung sprechen, die die Grundrechtsbindung auslösen würde, noch davon, dass ein „unmittelbarer Bezug zum Menschen“104 besteht, der die Grundrechtsberechtigung begründen könnte. Und soll sich an der Gewichtung allen Ernstes etwas ändern, wenn eine Seite nur 50,1 % und die andere 49,9 % hält?105 Soll also etwa keine Grundrechtsbindung der FRAPORT AG mehr bestehen, wenn der öffentliche Anteil unter 50 % rutscht?106 Reichen umgekehrt auch weniger öffentliche Anteile zur Begründung der Grundrechtsverpflichtung, wenn die Hauptversammlungspräsenz regelmäßig nur zwischen 67 % und 74 % lag und dadurch der Staatsanteil faktisch über 50 % stieg?107 In der Literatur werden diese offenen Fragen auf ein vermeintlich unlösbares Dilemma zurückgeführt: Entweder man akzeptiere, dass sich der Staat die Grundrechtsberechtigung durch marginale Hinzuziehung Privater „erschleichen“ und sich damit zugleich der Grundrechtsbindung entziehen könne oder man beeinträchtige den Grundrechtsschutz Privater, wenn allein eine geringe staatliche Beteiligung die Grundrechtsberechtigung entfallen und die Grundrechtsbindung entstehen lasse.108 Was allerdings nicht gesagt wird: In diese vermeintliche „dilemmatische Grundstruktur“109 gerät man nur, wenn man auf der Grundlage des Konfusionsarguments Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsverpflichtung in ein Verhältnis wechselseitiger Exklusivität stellt. Bei den gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen ist aber 103 BVerwGE 114, 160 (189); 118, 352 (359); 120, 54 (79); anders aber noch BVerwGE 113, 208 (211). Das Bundesverfassungsgericht (E 115, 115 [227 f.]) hat die Grundrechtsfähigkeit nach der Privatisierung dann ebenfalls bejaht. 104 BVerfGE 68, 193 (206) – Zahntechniker-Innungen [1984]. 105 Vgl. Michael Goldhammer, Grundrechtsberechtigung (Fn. 58), 893. 106 BVerfGE 128, 226 (228) – Fraport [2011]: Nachdem der Bund seine Anteile verkauft hat, liegt der öffentliche Anteil nur noch bei 52 %. 107 Vgl. BGH, GRUR 2012, 728 sowie Elke Gurlit, Grundrechtsbindung (Fn. 101), 253. 108 So plastisch Horst Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 III Rn. 73, 77. 109 Horst Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 III Rn. 77.
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gerade diese Prämisse das eigentliche Problem, ja sie sind gewissermaßen der lebende Beweis für die Brüchigkeit des Dualismus von Individuum und Staat. Schließt zeigt auch die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit des beschleunigten Ausstieges aus der Kernenergie,110 dass sich die personalistische Interpretation von Art. 19 Abs. 3 GG nicht durchhalten lässt. Geklagt hatte u. a. eine Aktiengesellschaft, deren Geschäftsanteile zu 100% beim schwedischen Staat lagen. An sich hätte das Bundesverfassungsgericht auf der Linie seiner bisherigen Rechtsprechung die Grundrechtsberechtigung verneinen müssen.111 Es möchte davon aber jetzt bei juristischen Personen des Privatrechts, die von einem fremden Staat getragen werden, eine Ausnahme machen. Hier komme nämlich das Konfusionsargument nicht zum Tragen, weil der fremde Staat von vornherein nicht verpflichtet sei, die Grundrechte der Menschen in Deutschland zu garantieren und sie entsprechend zu schützen. Weil er nicht an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden sei, spreche also nichts dagegen, ihn zum Träger derselben zu machen.112 Mit der personalistischen Durchblicksthese lassen sich diese Aussagen nicht vereinbaren, denn diese argumentiert grundsätzlich damit, dass Hoheitsträger keine Freiheit ausüben, sondern Kompetenzen;113 das gilt aber für den schwedischen ebenso wie für den deutschen Staat. Das Bundesverfassungsgericht argumentiert daher auch eher funktional:114 Eine von einem ausländischen Staat gehaltene juristische Person des Privatrechts, die ausschließlich als Wirtschaftssubjekt agiert, verfüge wie andere, rein private Marktteilnehmer weder unmittelbar noch mittelbar über innerstaatliche Machtbefugnisse. Anders hingegen sei es bei den von deutschen Hoheits trägern getragenen juristischen Personen des Privatrechts, die sich gegen Beschränkungen ihrer wirtschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten mittels der Kompetenz ordnung zur Wehr setzen könnten. Da dieser Kompetenzschutz ausländischen Hoheitsträgern verwehrt sei, müssten diese auch wegen der europarechtlichen Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 54 AEUV) grundrechtsberechtigt sein.115 Gegen diese funktionale Argumentation ist zwar im Prinzip nichts einzuwenden. Aber diese müsste dann konsequenterweise auch zur Bejahung der Grundrechtsfähigkeit der von deutschen Hoheitsträgern getragenen juristischen Personen des Privatrechts gelten. Denn diese befinden sich aus funktionaler Perspektive im Hinblick auf den Atomausstieg in der gleichen grundrechtlichen Gefährdungslage wie das vom schwedischen Staat getragene Unternehmen. Die vom Bundesverfassungsgericht angedeutete Alternative, ein Kompetenzschutz, hat eine gänzlich andere Zielrichtung als der Grundrechtsschutz und dürfte auch wesentlich weniger effektiv sein. Auch eröffnet die Lösung des Bundesverfassungsgerichts nur wieder ein neues Problemfeld bei Unternehmen, die sowohl von der Bundesrepublik Deutschland als auch von einem BVerfG, Urt. v. 6.12.2016, 1 BvR 2821/11 u. a. Vgl. die in Rn 190 des vorstehenden Urteils zitierte Rechtsprechung. 112 BVerfG, Urt. v. 6.12.2016, 1 BvR 2821/11 u. a., Rn. 192. 113 Vgl. etwa BVerfGE 68, 193 (206) – Zahntechniker-Innungen [1984]. 114 Vgl. die Bezugnahme auf die „grundrechtstypische Gefährdungslage“ in Rn. 195 des Urteils. – Zum funktionalen Zugriff auf die Thematik noch näher unten C. II. 115 BVerfG, Urt. v. 6.12.2016, 1 BvR 2821/11 u. a., Rn. 194, 196 ff. Das wirft auch noch die Frage auf, ob diese Ausweitung der Grundrechtsberechtigung nur EU-Mitgliedstaaten zugutekommt oder generell allen ausländischen Staaten. 110 111
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ausländischen Staat getragen sind. Das Konfusionsargument müsste hier schon bei einer deutschen Beteiligung von 1% zu einer Verneinung, das europarechtliche Argument hingegen schon bei einer ausländischen Beteiligung von 1% zu einer Bejahung der Grundrechtsberechtigung führen. Alle diese Verwerfungen kann man vermeiden, wenn man die Verfassungsentscheidung in Art 19 Abs 3 GG für eine von beiden geschiedene dritte Zurechnungsebene von Rechten und Pflichten ernstnimmt und sie von anthropozentrischen Analogien wie dem personalen Substrat befreit. Dann nämlich fällt es nicht schwer, in einer grundrechtstypischen Gefährdungslage trotz Grundrechtsverpflichtung die Grundrechtsberechtigung und in einer grundrechtstypischen Gefährderlage trotz Grundrechtsberechtigung die Grundrechtsverpflichtung zu bejahen.116
3. Wesensmäßige Anwendbarkeit II: Der Grundrechtsinhalt Von der Frage der generellen Grundrechtsträgerschaft zu trennen ist die Prüfung, ob die konkrete Tätigkeit der juristischen Person grundrechtlich geschützt ist („Grundrechtsinhaltsseite“117). Insoweit kommt es nicht auf das „Wesen“ der juristischen Person an, sondern des Recht, das sie in Anspruch nimmt. Auch insoweit wirft die Wendung „ihrem Wesen nach anwendbar“ in Art. 19 Abs. 3 GG diverse Zweifelsfragen auf (dazu a)). Die ergänzend heranzuziehende Rechtsprechung des U.S. Supreme Court (b)) zeigt, dass hinter dieser Fragestellung grundlegende Auseinandersetzungen über die Einordnung der juristischen Person zwischen Individuum und Staat stehen.
a) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht bestimmt auch die Grundrechtsinhaltsseite durch eine naturalistische Analogie, die eng mit der für die Rechtsträgerseite verwendeten Formel vom personalen Substrat118 verwandt ist: Wenn „der Grundrechtsschutz an Eigenschaften, Äußerungsformen oder Beziehungen anknüpft, die nur natürlichen Personen wesenseigen sind, kommt eine Erstreckung auf juristische Personen als bloße Zweckgebilde der Rechtsordnung nicht in Betracht. Das wird umso eher der Fall sein, als der Grundrechtsschutz im Interesse der Menschenwürde gewährt wird, die nur natürliche Personen für sich in Anspruch nehmen können.“119 Mit dieser Begründung hat es das Bundesverfassungsgericht abgelehnt, das aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG folgende Recht, sich nicht selbst einer Straftat bezichtigen zu müssen, auf eine juristische Person des Privatrechts anzuwenden.120 Ergiebige Rechtsprechung gibt es namentlich zu Art. 4 Abs. 1, 2 GG. Das Bundesverwaltungsgericht hat etwa eine Kapitalgesellschaft als „ihrem Wesen nach be Dazu näher unten C. III. und IV. Friedrich K. Schoch, Grundrechtsfähigkeit (Fn. 58), 203. 118 Dazu oben 2. 119 BVerfGE 95, 220 (242) – Auf bewahrungspflicht [1997]. 120 BVerfGE 95, 220 (242) – Auf bewahrungspflicht [1997]. 116 117
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kenntnisfremd“ angesehen, weshalb sie sich „weder aus ihrer eigenen Rechtsstellung noch aufgrund des religiösen Bekenntnisses ihres Geschäftsführers oder ihrer Gesellschafter“ auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG berufen könne.121 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ungleich weniger eindeutig.122 Zwar betonen mehrere Entscheidungen, dass juristische Personen durch Art. 4 Abs. 1, 2 GG nur für den Fall einer religiösen Zielsetzung geschützt seien.123 Ein Unternehmen, das sich geweigert hatte, Lohnfortzahlungen zu leisten, die durch einen zulässigen Schwangerschaftsabbruch entstanden waren, konnte sich daher nicht auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen.124 Weniger klar ist hingegen eine Entscheidung aus dem Jahre 2002: Es ging hier um eine ebenfalls als GmbH organisierte Metzgerei, die ausschließlich von Muslimen betrieben wurde und unter Berufung auf die Religionsfreiheit eine Ausnahmegenehmigung für das sog. Schächten beantragt hatte. Die Entscheidung formuliert zunächst scheinbar unmissverständlich: „Als juristische Person des privaten Rechts verfolgt die Beschwerdeführerin gewerbliche Ziele. Sie dient also nicht religiösen oder weltanschaulichen Zwecken und ist deshalb selbst nicht Trägerin des Grundrechts der Religionsfreiheit“. Art. 4 Abs. 1, 2 GG könne hier daher den allein anwendbaren Art. 2 Abs. 1 GG nicht wie bei natürlichen Personen verstärken. Dennoch heißt es dann unmittelbar danach: „Gleichwohl ist dieses Grundrecht auch hier im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung mit zu berücksichtigen“.125 Das überrascht, denn wenn das Grundrecht die Klägerin nicht schützt, kann es auch nicht zu ihren Gunsten in der Abwägung herangezogen werden. Eine mögliche Antwort liefert aber der Bezugspunkt des „auch hier“ in dem vorstehenden Zitat. Er bezieht sich nämlich ausdrücklich auf ein nur drei Tage zuvor ergangenes Urteil des Ersten Senats, das die gleiche Fragestellung betraf, aber von einer natürlichen Person (ebenfalls ein muslimischer Metzger) erstritten worden war.126 Hier hatte sich das Bundesverfassungsgericht maßgeblich auf Art. 4 Abs. 1, 2 GG gestützt, um die Notwendigkeit einer Ausnahmegenehmigung zu begründen. „Auch hier“ meint also: Wenn die natürliche Person in den Genuss eines Grundrechts kommt, kann für die juristische Person nichts anderes gelten, wenn auch erst im Rahmen der Abwägung.
b) Rechtsprechung des U.S. Supreme Court Die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court und überhaupt die Debatte in den USA ist wesentlich ergiebiger als in Deutschland, weil bereits innerhalb des Gerichtshofs schon seit vielen Jahren nicht nur die Chancen, sondern auch die Risiken eines BVerwGE 64, 196 (199) [1981]. Die folgende Passage stammt weitgehend aus Thorsten Kingreen/Florian Möslein, Die Identität der juristischen Person: Die Hobby Lobby-Entscheidung des U.S. Supreme Court, JZ 2016, 57 (62). 123 BVerfGE 24, 236 (246 f.) – Aktion Rumpelkammer [1968]; 30, 112 (120) – Bremische Simultanschulen [1971]; 44, 103 (104) – Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal II [1977]; 125, 39 (74) – Adventssonntage Berlin [2009]. – Die Frage der Grundrechtsträgerschaft noch offen lassend BVerfGE 19, 206 (215) – Kirchenbausteuer [1965]. 124 BVerfG NJW 1990, 241 (241). 125 BVerfG NJW 2002, 1485 (1485). 126 BVerfGE 104, 337 (347) – Schächten [2002]. 121
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Grundrechtsschutzes juristischer Personen kontrovers diskutiert werden. Anders als in Deutschland wird bei der Auslegung des Verfassungsrechts zudem auch das gesellschaftsrechtliche Verhältnis zwischen der Gesellschaft und den Gesellschaftern deutlicher in den Blick genommen. Die US-amerikanische Verfassung enthält keine Regelungen über die Grundrechtsberechtigung von Personenmehrheiten.127 Bereits in einer 1888 ergangenen Entscheidung hatte der U.S. Supreme Court Kapitalgesellschaften als „persons“ bezeichnet, die sich auf das XIV. Amendment (equal protection clause) berufen können.128 An dieser Linie hat er auch im Hinblick auf andere Grundrechte grundsätzlich festgehalten.129 Allerdings hat er eingeräumt, dass „‘purely personal‘ guarantees“ wie das Recht, sich nicht selbst einer Straftat bezichtigen zu müssen, nur für natürliche Personen gelten können.130 Insbesondere in der Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit hat er zudem die Frage aufgeworfen, ob der Grundrechtsschutz so weit gehen kann wie bei natürlichen Personen.131 In den einschlägigen Entscheidungen, keine von ihnen einstimmig, ging es regelmäßig um gesetzliche Beschränkungen für die Ausübung von medialer Macht durch Großunternehmen in Wahlkampfzeiten. In der Entscheidung First National Bank of Boston v. Bellotti (1978) hat der Supreme Court mit 5:4 Stimmen die Grundrechtsträgerschaft zwar grundsätzlich anerkannt und aus ihr ein Recht auf Spenden auch in Wahlkampfzeiten, also eine Art monetaristischer Meinungsfreiheit, abgeleitet.132 Danach sah es aber einige Jahre lang so aus, als gelte die Meinungsfreiheit zumindest nicht in gleichem Umfang wie für natürliche Personen. In den Entscheidungen Austin v. Michigan Chamber of Commerce (1990) und McConnell v. Federal Election Commission (2003) hat der Supreme Court Beschränkungen großunternehmerischer medialer Einflussnahme auf Wahlkämpfe mit dem unverhältnismäßig starken Einfluss legitimiert, den die Unternehmen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Machtstellung im politischen Prozess ausüben können, wenn man sie zu Trägern der Meinungsfreiheit macht (sog. distortion argument).133 In seinem Sondervotum zur Bellotti-Entscheidung hatte Richter White bereits das zweite klassische Argument gegen oder jedenfalls gegen eine zu weitgehende Grundrechtsträgerschaft von Unternehmen vorgetragen, nämlich das Problem, dass nicht alle Anteilseigner zwingend die Meinung des Unternehmens teilen (dissenting investor problem).134 Die folgende Passage stammt teilweise aus Thorsten Kingreen/Florian Möslein, Identität (Fn. 122),
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59 ff. Grundlegend Pembina Consolidated Silver Mining Co. v. Pennsylvania, 125 U.S. 181 (1888). Vgl. dazu die Aufstellung bei Brandon L. Garrett, The Constitutional Standing of Corporations, University of Pennsylvania Law Review 163 (2014), 95 (110 ff.). 130 First National Bank of Boston v. Bellotti, 435 U.S., 765, 778 Fn. 14 (1978). Zu diesem Beispiel auch noch unten C. III. 2. 131 Vgl. die Aufarbeitung der Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit Darrell H. A. Miller, Guns, Inc.: Citizens United, McDonald, and the Future of Corporate Constitutional Rights, New York University Law Review 86 (2011), 887 (893 ff.). 132 First National Bank of Boston v. Bellotti, 435 U.S., 765, 766 (1978), allerdings offen lassend, ob der Grundrechtsschutz so weit geht wie bei natürlichen Personen (777). 133 Austin v. Michigan Chamber of Commerce, 494 U.S. 652, 658–660 (1990) und McConnell v. Federal Election Commission, 540 U.S., 93, 205–209 (2003). 134 First National Bank of Boston v. Bellotti, 435 U.S., 765, 805 f. (1978), abweichende Meinung White. 128 129
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So kam es 2010 eher überraschend, dass der Supreme Court im Urteil Citizens United v. Federal Election Commission mit wiederum knapper 5:4 Mehrheit Bestimmungen verwarf, die es Unternehmen untersagten, 30 bzw. 60 Tage vor Wahlen Sendungen auf kommerziellen Kanälen über zur Wahl stehende Personen zu publizieren und dabei die Meinungsfreiheit von Kapitalgesellschaften mit derjenigen natürlicher Personen gleichstellte. Im konkreten Fall handelte es sich um ein konservatives Unternehmen, das einen kritischen Beitrag über Hillary Clinton kurz vor den Senatswahlen 2008 über „Video-on-demand“ zugänglich machen wollte.135 Die außerordentlich kontroverse Auseinandersetzung wurde mit den bekannten Argumenten geführt: Während die Gerichtsmehrheit die Bedeutung der Meinungsfreiheit für den politischen Prozess hervorhob und der Verfassung keinen Hinweis darauf entnehmen mochte, dass die Grundrechte nur für natürliche bzw. nur in abgeschwächter Form für juristische Personen gelten, und daher Korporationen in gleichem Umfang durch die Meinungsfreiheit geschützt seien wie natürlichen Personen,136 betonte die Minderheit die gerade für die individuelle Meinungsfreiheit wichtige Unterscheidung zwischen Unternehmen und „human speakers“137. In der Literatur finden sich neben grundsätzlicher Zustimmung, die auf die Notwendigkeit des Schutzes der hinter der juristischen Person stehenden natürlichen Personen verweist,138 auch ablehnende Stellungnahmen. Kritisiert wird nicht nur die Inkompatibilität mit den gesellschaftsrechtlichen Grundstrukturen,139 sondern auch der Bruch mit dem individualistischen Verständnis der Meinungsfreiheit, welche nunmehr Großunternehmen zur Beeinflussung des politischen Prozesses nutzen könnten:140 „Money isn’t speech and corporations aren’t people“.141 Mit der Entscheidung Citizens United waren die Grundlagen für ein korporatistisches Verständnis auch der Religionsfreiheit in der Entscheidung Hobby Lobby gelegt. Hier ging es um eine gewinnorientierte Kapitalgesellschaft mit 21.000 Angestellten des Milliardärs David Green, eines engagierten evangelikalen Christen, der sich unter Hinweis auf seine Religionsfreiheit dagegen wehrte, dass die von den Arbeitgebern zu finanzierende Krankenversicherung auch Verhütungsmittel umfasste. Das Gesundheitsministerium hatte sich zur Verteidigung auf die Eigenständigkeit der Gesellschaft gegenüber ihren Gesellschaftern („corporate veil“ 142 ) berufen, die kon135 Citizens United v. Federal Election Commission, 558 U.S. 310 (2010); hier und im Folgenden zitiert nach https://supreme.justia.com/cases/federal/us/558/08-205/. 136 Citizens United v. Federal Election Commission, 558 U.S. 310 (2010), s. https://supreme.justia. com/cases/federal/us/558/08-205/opinion.html. 137 Citizens United v. Federal Election Commission, 558 U.S. 310, Sondervotum Stevens, S. 2 (2010). 138 S. etwa Elizabeth Pollman, Reconceiving Corporate Personhood, Utah Law Review 2011, 1629 (1663 ff.). 139 Leo E. Strine/Nicholas Walter, Conservative Collision Course? The Tension between Conservative Corporate Law Theory and Citizens United, Cornell Law Review 100 (2015), 335 (369 ff.). 140 Anne M. Tucker, Flawed Assumptions: A Corporate Law Analysis of Free Speech and Corporate Personhood in Citizens United, Case Western Law Review 61 (2011), 495 (513 ff.). 141 David Kairys, Money isn’t speech and corporations aren’t people, http://www.slate.com/articles/ news _ and _ pol it ics/jur ispr udence/2010/01/money_ isnt _ speech _ and _cor porat ions _ arent _ people.2.html. 142 Das entspricht dem Trennungsprinzip im Gesellschaftsrecht, vgl. Ulrich Drobnig, Haftungsdurchgriff bei Kapitalgesellschaften, 1959; und Rolf Serick, Rechtsform und Realität juristischer Personen –
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sequenterweise auch auf der Ebene des Grundrechtsschutzes zum Tragen kommen müsse, d.h. wenn gesellschaftsrechtlich kein Durchgriff auf die Gesellschafter folgen kann (etwa zu Haftungszwecken), so kann verfassungsrechtlich nichts anderes gelten.143 Gegen einen verfassungsrechtlichen Durchgriff wandte sich auch Richterin Ginsburg in einem Minderheitsvotum mit dem Hinweis, dass Kapitalgesellschaften der Erzielung von Profit und nicht der religiösen Selbstverwirklichung ihrer Gesellschafter dienten.144 Ginsburg wehrt sich in diesem Zusammenhang auch gegen die Gleichsetzung von Kapitalgesellschaften mit (von der Zahlungspflicht für Verhütungsmittel ausgeschlossenen) religiösen Vereinigungen, die tatsächlich die Funktion hätten, die gemeinsamen religiösen Empfindungen ihrer Mitglieder zu bündeln.145 Man kann daraus ein drittes Argument146 gegen die Berufung von Kapitalgesellschaften auf die Religionsfreiheit ableiten, das man als dissenting employer argument bezeichnen kann: Anders als bei einer religiösen Vereinigung, die sich durch eine gemeinsame religiöse Zwecksetzung definiert (die auch die Ablehnung von Verhütungsmitteln beinhalten mag), kann sich die Berufung einer Kapitalgesellschaft, die diese spezifische Zwecksetzung nicht hat, auf die Religionsfreiheit im Ergebnis zu Lasten seiner Arbeitnehmerinnen auswirken, die keine religiös motivierten Probleme damit haben, Leistungen der Empfängnisverhütung in Anspruch zu nehmen und dies auch möchten.147 Die Mehrheit im Supreme Court hat das nicht überzeugt: Sie sieht Kapitalgesellschaften als positiv-rechtliche Fiktion, deren Zweck alleine darin bestehe, die gesetzlichen und verfassungsmäßigen Rechte derjenigen natürlichen Personen zu schützen, die mit dieser Gesellschaft „assoziiert“ sind (wozu er übrigens neben den Gesellschaftern ausdrücklich auch Management und Arbeitnehmer zählt): „A corporation“, so formulieren die die Entscheidung tragenden fünf Richter kurz und bündig, „is simply a form of organization used by human beings to achieve desired ends“.148 Damit findet verfassungsrechtlich ein Durchgriff von der Gesellschaft auf die individuellen Gesellschafter statt, der gesellschaftsrechtlich nicht vorgesehen ist. Die Entscheidung Hobby Lobby steht damit deutlich in der Tradition eines individualistischen Verständnisses der juristischen Person, in der sich Individuen zur kollektiven Grundrechtsausübung zusammenschließen. Ein rechtsvergleichender Beitrag zur Frage des Durchgriffs auf die Personen oder Gegenstände hinter der juristischen Person, 1955. 143 Burwell v. Hobby Lobby, 573 U.S. 16 (2014). 144 Sondervotum zu Burwell v. Hobby Lobby, 573 U.S. 19 (2014). 145 Burwell v. Hobby Lobby, 573 U.S., Sondervotum Ginsburg, insoweit nur mit Zustimmung von Justice Sotomayor, S. 16 (2014). 146 Vgl. zum distortion argument und zum dissenting investor problem vorstehend im Text. 147 Burwell v. Hobby Lobby, 573 U.S. 8, Sondervotum (2014): „The exemption sought by Hobby Lobby and Conestoga would override significant interests of the corporations’ employees and covered dependents. It would deny legions of women who do not hold their employers’ beliefs access to contraceptive coverage that the ACA would otherwise secure.” Vgl. zu diesem Argument bereits Frederick Mark Gedicks/Andrew Koppelman, Invisible Women: Why an Exemption for Hobby Lobby Would Violate the Establishment Clause, Vanderbilt Law Review 67 (2014), 51 (57 ff.). 148 Burwell v. Hobby Lobby, 573 U.S. 18 (2014); ähnlich Amy J. Sepinwall, Corporate Piety and Impropriety: Hobby Lobby’s Extension of RFRA Rights to the For-Profit Corporation, Harvard Business Law Review 5 (2015), 173 (202): “Because corporations lack key attributes of moral or metaphysical personhood, any rights they enjoy must be grounded in the rights of their members.”
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C. Wechselwirkungen zwischen einfachem Recht und Verfassungsrecht Die vielfältigen offenen verfassungsrechtlichen Fragen in der Zwischenschicht lassen sich darauf zurückführen, dass die juristische Person argumentativ auf die natürliche Person bezogen wird und dabei das sie konstituierende und ihre Funktionen konturierende einfache Recht nicht hinreichend beachtet wird. Im Folgenden soll diesem personalistischen ein funktionaler Ansatz gegenübergestellt werden, der das einfache Recht, aus dem die juristische Person besteht, in den verfassungsrechtlichen Fokus rückt:
I. Die juristische Person: Eine „Person aus Recht“ Die Diskussion über die Grundrechtsfähigkeit der juristischen Person lässt sich auf die Kernfrage zuspitzen, ob die juristische Person eher individualistisch gedeutet wird oder ob ihre verfassungsrechtliche Stellung unabhängig von den sie tragenden natürlichen Personen bestimmt werden muss. Das nach wie vor herrschende individualistische Konzept begreift die private natürliche Person als „Sinnmitte“149 der Verfassung und bestimmt daher Grundrechtsberechtigung wie Grundrechtsverpflichtung von der natürlichen Person her. Deshalb sind juristische Personen nur grundrechtsberechtigt, wenn ihr Handeln auf die hinter ihr stehenden natürlichen Personen zurückgeführt werden kann, und sind sie in der Regel nicht grundrechtsverpflichtet, weil auch die hinter ihr stehenden natürlichen Personen aufgrund der traditionellen Funktion der Grundrechte als individuelle staatsgerichtete Abwehrrechte nicht grundrechtsberechtigt sind. Die juristische Person löst also den kontinentaleuropäischen Dualismus von Staat und Gesellschaft nicht auf, sondern wirft für den individualistischen Ansatz nur einfach ein Zuordnungsproblem auf. Sie ist, abhängig vor allem von ihrer Rechtsform und den ihr zugewiesenen Funktionen, eben entweder Teil der staatlichen Funktionenordnung oder Ausfluss gesellschaftlicher Freiheit. Das in der Auslegung oftmals unausgesprochen mitlaufende Konfusionsargument sichert diesen Dualismus ab. Das ist ein in mehrfacher Hinsicht überraschender Befund: Die historische Auseinandersetzung zwischen dem individualistischen Ansatz von Savigny und dem korporativen Modell Gierkes, die mit der einfach-rechtlichen Anerkennung der Rechtsfähigkeit der juristischen Person an sich zugunsten von Gierke entschieden zu sein schien, wirkt in der Suche nach dem personalen Substrat der juristischen Person nach. In der Tradition von Kants personaler Ethik und Savignys individualistischer Konzeption wird die juristische Person nach wie vor als Kollektiv natürlicher Personen angesehen, obwohl sie nach Gierkes genossenschaftlichem Ansatz allein „aus Recht“ besteht. Das an diesen personalistischen Ansatz anknüpfende bundesverfassungsgerichtliche Konstrukt eines „Durchblicks“150 auf natürliche Personen ist aber 149 Hans-Georg Koppensteiner, Zur Grundrechtsfähigkeit gemischtwirtschaftlicher Unternehmungen, NJW 1990, 3105 (3106). 150 BVerfGE 61, 82 (101) – Sasbach [1982].
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in Großorganisationen wie privatwirtschaftlichen Konzernen und den Kollektivvertragsparteien im Arbeits- und Sozialrecht untauglich.151 Das Bundesverfassungsgericht sieht zwar, dass der personale Zug hier „nahezu gänzlich verloren“ geht, möchte aber Art. 19 Abs. 3 GG dennoch anwenden, weil „Großunternehmen und auch Konzerne […] wesentliche Elemente einer hochentwickelten und leistungsfähigen Volkswirtschaft“ seien.152 Diese Begründung legt die Grenzen des individualistischen Ansatzes offen: In Ermangelung eines personalen Substrats kommt es eben doch auf den Verband selbst an. Der individualistische Ansatz kann etwa auch nicht erklären, dass Stiftungen grundrechtsberechtigt sind,153 obwohl sie gar nicht von natürlichen Personen getragen werden. Er passt etwa auch nicht zur Interpretation von „inländisch“ i.S.v. Art. 19 Abs. 3 GG, für die es nicht auf die Staatsangehörigkeit der die juristische Person tragenden natürlichen Person ankommt, sondern auf den Sitz des Verbandes;154 das ist nur konsequent, denn die juristische Person kann eben keine Staatsangehörigkeit haben. Erstaunlich ist darüber hinaus, wie dieses schlichte Sphärenmodell unter den Bedingungen einer zunehmenden Hybridität von öffentlichem Recht und Privatrecht nach wie vor so vergleichsweise unangefochten bleiben konnte. Es nötigt bei den (teil-)privatisierten früheren Staatsunternehmen sowie sonstigen Hybriden zu komplexen Analysen des teils privat- teils öffentlich-rechtlichen Innenlebens, und bereitet generell überall dort Schwierigkeiten, wo Private staatsanaloge Funktionen wahrnehmen (wie das Eigentum am „öffentlichen Raum“155) oder in öffentlich-rechtliche Regelungszusammenhänge dergestalt eingebunden sind, dass sich der Staat von einer Erfüllungs- auf eine Gewährleistungsverantwortung zurückziehen kann.156 Schon vor beinahe 50 Jahren ist darauf hingewiesen worden, dass die intermediären Akteure in diesem dualistischen Sphärenmodell heimatlos sind. Ulrich K. Preuß beobachtete bereits 1969, dass „in zunehmendem Maße von privatrechtlichen Organisationen Aufgaben wahrgenommen werden, die im Rahmen des demokratischen und sozialen Rechtsstaats verfassungsrechtliche Relevanz erlangt haben“ und beklagte „eine eigenartige Inkongruenz zwischen sozialer Funktion und rechtlicher Organisation“.157 Wiltraut Rupp-von Brünneck warnte im gleichen Jahr, die Grundrechte könnten „zur wirksamen Waffe für Interessenverbände und Großunternehmen werden, um ihre Machtpositionen gegen das öffentliche Interesse zu verteidigen
Friedrich K. Schoch, Grundrechtsfähigkeit (Fn. 58), 205; anderer Ansatz bei Oliver Lepsius, Verfassungsrechtlicher Rahmen der Regulierung, in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, § 4 Rn. 70, der bei fehlendem Nachweis des personalen Substrats die Grundrechtsfähigkeit der juristischen Person verneint. 152 BVerfGE 50, 290 (363 f.) – Mitbestimmung [1979]. 153 So BVerfGE 46, 73 (82 f.) – Stiftungen [1977]. 154 Vgl. etwa Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 14. Aufl. 2016, Art. 19 Rn. 22. 155 Dazu Angelika Siehr, Das Recht am öffentlichen Raum, 2016. 156 Vgl. dazu Oliver Lepsius, Öffentliches Recht, in: Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp. 1648 (1651 f.); Andreas Voßkuhle, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), 266 (295 f.). 157 Ulrich K. Preuß, Zum staatsrechtlichen Begriff des Öffentlichen, 1969, 83; ferner Alfred Rinken, Das Öffentliche als verfassungstheoretisches Problem, dargestellt am Rechtsstatus der Wohlfahrtsverbände, 1971, 294 f. 151
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und den Einzelnen mehr und mehr zurückzudrängen“158 und nahm damit das später in der U.S.-amerikanischen Judikatur aufgegriffene distortion argument vorweg.159 Man mag dieses Problem im Einzelfall durch Zulassung intensivierter staatlicher Eingriffsbefugnisse auf der Ebene der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung in den Griff bekommen, aber das ändert nichts daran, dass die Beschränkung sozialer Macht der rechtfertigungsbedürftige Ausnahmefall bleibt. Daher können, wie im Fall Citizens United, Großunternehmen unter Berufung auf ihre Meinungsfreiheit ihre ökonomische Macht zur Beeinflussung des politischen Prozesses nutzen.160 Die Grundrechte, die in der Tradition der Französischen Revolution auch gegen soziale und politische Privilegien gerichtet sind,161 tragen so zu deren Perpetuierung bei. Die Durchgriffsthese wird schließlich noch nicht einmal ihrem eigenen Anspruch gerecht, die „Menschen“162 hinter der juristischen Person zu würdigen, wenn deren Innenleben aus gegenläufigen Interessen, Überzeugungen oder religiöse Anschauungen besteht. Wenn dieser Pluralismus dann in der juristischen Person in einen einheitlichen, grundrechtlich geschützten Willen gepresst wird, bleiben einige dieser „Menschen“ (Anteilseigner wie Arbeitnehmer) zwangsläufig auf der Strecke.163 Umgekehrt durchblickt die „Durchblicksthese“ auch nicht, dass öffentlich-rechtliche Organisationen nicht nur von der Gesellschaft zu separierende Staatsfunktionen wahrnehmen, sondern im Einzelfall auch als Interessenvertretungen Privater fungieren oder gar, wie die gesetzlichen Krankenkassen,164 Wettbewerber sind, die trotz ihrer öffentlich-rechtlichen Verfasstheit nicht einfach der staatlichen Sphäre zugeordnet werden, sondern grundrechtlich schutzbedürftig sein können. Die Vielfalt der Akteure und vor allem ihrer Funktionen ist also in dieser Zwischenschicht viel größer als es die herrschende Verfassungsdogmatik der juristischen Person zu erfassen vermag. Woran liegt das? Gewiss sind die „geistesgeschichtliche Entwicklung der Grundrechtsidee“ und die „geschichtlichen Vorgänge, die zur Aufnahme von Grundrechten in die Verfassungen der einzelnen Staaten geführt haben“165 eine Erklärung dafür, dass die Grundrechte in allererster Linie als staatsgerichtete Abwehrrechte interpretiert werden, die weder private Macht auf der einen noch öffentlich-rechtlich gerahmte Freiheit auf der anderen Seite einschließen. Diese „Erzählung“ erklärt alle Versuche, auch die juristischen Personen jeweils in eine der beiden Sphären dieses binären Modells zu pressen: Eine juristische Person ist damit entweder privat oder öffentlich, aber sie kann nicht Beides zugleich sein. Von diesem Ansatzpunkt aus konnte die rechtliche Verselbständigung, die in der Anerkennung von juristischen Personen gelegen hat, grundrechtstheoretisch letztlich nicht mitvollzogen werden. Die Grundrechtstheorie bleibt auf das Handeln des Ein158 Wiltraud Rupp-von Brünneck, Zur Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen, in: Festschrift für Adolf Arndt, 1969, 349 (357). Zustimmend Hans-Joachim Mertens, Die Grundrechtsfähigkeit der juristischen Person und das Gesellschaftsrecht, JuS 1989, 857 (858). 159 Vgl. B. II. 3. b). 160 Zu dieser Entscheidung des U.S. Supreme Court oben B. II. 3. b). 161 S. oben A. 162 BVerfGE 68, 193 (206) – Zahntechniker-Innungen [1984]. 163 Dieter Suhr, Entfaltung des Menschen durch die Menschen, 1976, 172 mit der Unterscheidung zwischen „Entfaltungsherrschaft“ und „Entfaltungsdienerschaft“. 164 Dazu noch unten III. 2. 165 BVerfGE 7, 198 (204 f.) – Lüth [1958].
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zelnen fixiert,166 obwohl kollektive Grundrechtsausübung natürlicher Personen auch ohne Art. 19 Abs. 3 GG geschützt wird,167 insbesondere durch Art. 8 und 9 GG. Soll aber Art. 19 Abs. 3 GG einen darüber hinausgehenden Mehrwert, eine eigenständige Bedeutung haben, kann man die juristische Person nicht als natürliches Wesen ansehen, das mit einem menschlichen Körper vergleichbar ein Bewusstsein im psychologischen Sinn hat und allein aus diesem Grunde zur rechtserheblichen Größe aufsteigt. Sie ist juristische Person nicht wegen bestimmter anthropomorphischer Eigenschaften, sondern sie ist es, weil Gesetze sie, wenn auch in Anlehnung an die soziale Realität, zu einer solchen gemacht haben.168 Ihre Entstehung und ihre Handlungsformen werden damit durch rechtliche Regeln determiniert. Das führt zu einem entscheidenden Punkt: Gerade weil die juristische Person durch das einfache Recht geformt ist, weil das einfache Recht so vielfältige Ausformungen der juristischen Person geschaffen hat, ihr bisweilen auch unterschiedliche Funktionen zuordnet, müssen die für die jeweilige juristische Person maßgebenden einfach-rechtlichen Regelungsstrukturen auch bei der Prüfung der Grundrechtsfähigkeit, also der Grundrechtsberechtigung wie der Grundrechtsverpflichtung, berücksichtigt werden.
II. Funktionaler Vergleich statt personaler Durchgriff Das „Wesen“ der juristischen Person besteht also darin, dass sie „aus Recht“ besteht. Deshalb ist auch das einfache Recht Maßstab dafür, ob und in welchem Umfang ihr Grundrechtsfähigkeit zuzuerkennen ist. Es kommt daher für die Grundrechtsberechtigung nicht auf die personale Betroffenheit der hinter der juristischen Person stehenden natürlichen Personen an (die ggfs. eigenen Grundrechtsschutz gelten machen können), und die Grundrechtsverpflichtung kann auch nicht einfach mit dem Hinweis auf die öffentlich-rechtliche Rechtsform oder gar die Erfüllung öffentlicher Aufgaben abgetan werden. Vielmehr ist das „Wesen“ der juristischen Person funktional zu bestimmen:169 Es kommt darauf an, ob sie sich aufgrund des einfachen Rechts im Hinblick auf ihre konkrete soziale Funktion in einer Situation befindet, die Grundrechtsschutz oder Grundrechtsverpflichtung oder ggfs. beides erforderlich macht. Der Vorrang der Verfassung wird dadurch nicht in Frage gestellt, denn das Grundgesetz nimmt auch sonst Bezug auf Tatbestände, die durch das einfache Recht konturiert werden (wie etwa das Eigentum in Art. 14 Abs. 1 GG). Es muss daher auch im Lichte dieser einfach-rechtlichen Vorprägungen ausgelegt werden.170 166 Treffend bereits Wolfgang Hoffmann-Riem, Die grundrechtliche Freiheit der arbeitsteiligen Berufsausübung, in: Festschrift für Hans-Peter Ipsen, 1977, 285: Die Grundrechtstheorie drohe „in ein anachronistisches Abseits zu geraten, wenn sie sich weiter darauf beschränkt, Grundrechtsausübung (fast) nur als das Handeln von einzelnen zu analysieren.“ 167 Albert von Mutius, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 19 Abs. 3 [April 1975] Rn. 37; Wolfgang Rüfner, Grundrechtsträger, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 196 Rn. 58. 168 In diesem Sinne auch Friedrich E. Schnapp, Grundrechtsberechtigung (Fn. 27), § 52 Rn. 25. 169 Ebenso im Ausgangspunkt: Ludwig Fröhler/Peter Oberndorfer, Körperschaften des Öffentlichen Rechts und Interessenvertretung, 1974, 58 ff. 170 Thorsten Kingreen, Vorrang und Vorbehalt der Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 263 Rn. 30 ff.
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Dieser funktionale Ansatz wurzelt im allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), denn bei der Prüfung der Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsverpflichtung werden juristische mit natürlichen Personen sowie juristische Personen des öffentlichen Rechts mit solchen des Privatrechts verglichen. Für die Grundrechtsberechtigung einer juristischen Person ist maßgebend, ob natürlichen oder anderen juristischen Personen in einer vergleichbaren Situation typischerweise Grundrechtsschutz zuteilwird. Es wäre dann gleichheitswidrig, der juristischen Person den grundrechtlichen Schutz nur deshalb zu versagen, weil sie juristische Person ist oder weil sie öffentlich- und nicht privatrechtlich strukturiert ist. Der aus dem Prozessrecht stammende Gedanke der Waffengleichheit kann damit auch für die Frage der Grundrechtsberechtigung herangezogen werden:171 In den grundrechtlich geschützten Lebensbereichen sollen juristische Personen im Verhältnis zu natürlichen Personen, aber auch untereinander gleiche Rahmenbedingungen vorfinden, d.h. grundsätzlich gleichermaßen Schutz vor staatlichem Zugriff genießen. Gleichheitsrechtlich lässt sich dementsprechend auch im Hinblick auf die Grundrechtsverpflichtung argumentieren. Der grundrechtliche Schutz wäre unvollständig, wenn er sich nur gegen staatliche Eingriffe wenden würde, nicht aber gegen vergleichbare private Beeinträchtigungen. Staatliche und private Macht müssen daher in vergleichbaren Situationen auch vergleichbaren Bindungen unterliegen. Die Grundrechtsverpflichtung der juristischen Person bemisst sich daher danach, ob sie aufgrund der konkreten sozialen Funktion eine dem Staat typischerweise vergleichbare Machtstellung hat, die es rechtfertigt, sie im Hinblick auf ihre grundrechtliche Verantwortung wie den Staat zu behandeln. Einschränkend ist hier allerdings zu berücksichtigen, dass häufig schon das einfache Recht die erforderlichen und oftmals auch passgenaueren Bindungen enthält und es daher vielfach gar keiner grundrechtlichen Bindung bedarf. Die Dichotomie von individueller Freiheit und staatlicher Bindung ist damit zwar der wesentliche Bezugspunkt für den Vergleich. Die Zuordnung zu einer der beiden Sphären hängt aber nicht von Rechtsformen und personalen Wurzeln ab, sondern davon, welche Funktion das einfache Recht der juristischen Person in der konkreten Situation zuweist. Dieser funktionale Ansatz wird in den folgenden beiden Abschnitten für die Grundrechtsberechtigung und die Grundrechtsverpflichtung näher entfaltet.
III. Grundrechtsberechtigung 1. Grundrechtstypische Gefährdungslage Im Schrifttum (und teilweise sogar in der Rechtsprechung) wird dem personalen Ansatz das auf Funktionen und Aufgaben abstellende Postulat einer grundrechtstypischen Gefährdungslage entgegengestellt: Diese besteht, wenn sich die juristische Person hinsichtlich ihres konkreten Tätigkeitsbereichs in einem für natürliche Personen 171 Vgl., allerdings kritisch, Josef Isensee, Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 199 Rn. 52.
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typischen Außenrechtsverhältnis zum Staat befindet, ihm also als ein selbständiges Rechtssubjekt gegenübertritt, das ebenso wie die natürliche Person grundrechtlichen Schutzes bedarf.172 Auch die Lehre von der grundrechtstypischen Gefährdungslage bezieht das „Wesen“ i.S.v. Art. 19 Abs. 3 GG sowohl auf die juristische Person als auch auf das geltend gemachte Grundrecht: Eine grundrechtstypische Gefährdungslage besteht, wenn und soweit die juristische Person verbandsrechtliche Zwecke verfolgt, die unabhängig von der Rechtsform grundrechtlich geschützt sind oder wenn das einfache Recht sie in eine mit natürlichen Personen vergleichbare Lage bringt.173 Mit der verbandsrechtlichen Zwecksetzung lässt sich etwa begründen, dass erwerbswirtschaftliche Unternehmen durch die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 1, 3 GG), die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und das Eigentumsgrundrecht (Art. 14 Abs. 1 GG) geschützt sind, weil eben diese Grundrechte die erwerbswirtschaftliche Betätigung als Zweck schützen.174 Da der Zweck eines Wirtschaftsunternehmens aber regelmäßig nicht in der gemeinsamen Religionsausübung und Meinungsäußerung besteht, kann es sich nicht auf Art. 4 Abs. 1, 2 und 5 Abs. 1 GG berufen. Mit entsprechender Begründung werden die Rundfunkanstalten durch Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG175 und die Hochschulen durch Art. 5 Abs. 3 GG176 geschützt. Die grundrechtstypische Gefährdungslage folgt nämlich jeweils aus der im einfachen Recht begründeten dualen Struktur: Die öffentlichen Rundfunkanstalten und Hochschulen befinden sich im Verhältnis zu staatlichen Institutionen in der gleichen Lage wie die ihnen entsprechenden privaten Einrichtungen und müssen daher auch gleichermaßen geschützt werden. Ihr Zweck bringt diese Institutionen in eine staatsgerichtete Gefährdungslage unabhängig davon, in welcher Rechtsform sie handeln. Daher ist es entgegen dem Bundesverfassungsgericht177 auch nicht ausgeschlossen, dass sich etwa Rundfunkanstalten auf Art. 14 Abs. 1 GG berufen können, wenn und soweit staatliche Eingriffe auf ihr diesem Zweck dienendes Eigentum zugreifen. Gerade hier trägt der Gedanke der Waffengleichheit: Warum sollten private Rundfunkveranstalter für Enteignungen nach Art. 14 Abs. 3 GG entschädigt werden, öffentlich-rechtliche Veranstalter aber nicht?178 Grundlegend: Albert von Mutius, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 19 Abs. 3 [April 1975] Rn. 37, 113 ff.; ihm folgend etwa Horst Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 III Rn. 33 f.; Lothar Michael/Michael Morlok, Grundrechte, 5. Aufl. 2016, Rn. 458; Bodo Pieroth, Grundrechtsberechtigung (Fn. 98), 86 ff.; Wolfgang Rüfner, Grundrechtsträger (Fn. 167), § 196 Rn. 57 ff. – Ablehnend Josef Isensee, Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 199 Rn. 51. – Die Lehre von der grundrechtstypischen Gefährdungslage wird teilweise auch von Befürwortern des individualistischen Ansatzes vertreten, vgl. Barbara Remmert, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. 3 [2009] Rn. 27 einerseits und Rn. 113 andererseits. 173 Vgl. zum Folgenden ausführlicher Thorsten Kingreen/Florian Möslein, Identität (Fn. 122), 65. 174 BVerfGE 50, 290 (339 ff.) – Mitbestimmung [1979]. 175 BVerfGE 59, 231 (255) – Freie Mitarbeiter [1982]; zum Schutz durch Art. 10 Abs. 1 GG auch BVerfGE 107, 299 (310) [2003]. 176 BVerfGE 15, 256 (262) – Universitäre Selbstverwaltung [1967]. 177 BVerfGE 78, 101 (102) – Eigentumsrecht von Rundfunkanstalten [1988]; ebenso wohl die herrschende Meinung im Schrifttum, vgl. etwa Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 14. Aufl. 2016, Art. 14 Rn. 24. 178 Wie hier etwa Peter Axer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Onlinekommentar-Grundgesetz, Art. 14 Rn. 41; Joachim Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 14 172
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Überhaupt lässt sich im Verhältnis von juristischer Personen mit unterschiedlichen Rechtsformen regelmäßig mit dem Grundsatz der Waffengleichheit argumentieren. Zwar schützt etwa das eng mit dem Persönlichkeitsrecht zusammenhängende Wohnungsgrundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG nicht den staatlichen Amtswalter in seinen Büroräumen. Wenn aber Steuerfahnder Geldhäuser ohne richterliche Durchsuchungsbeschlüsse durchsuchen, ist es nicht einsichtig, warum sich dagegen zwar die privaten Banken, nicht aber die öffentlich-rechtlichen Sparkassen verfassungsrechtlich unter Berufung auf dieses Grundrecht zur Wehr setzen können.179 Entsprechendes gilt etwa im Verhältnis zwischen der Deutschen Bahn AG und den privaten Eisenbahnunternehmen, die sich im Hinblick auf die Entgeltregulierung in einer vergleichbaren grundrechtstypischen Gefährdungslage befinden.180 Mit diesem auf Waffengleichheit zielenden Vergleich lässt sich dann sogar die Grundrechtsberechtigung aller juristischen Personen bei den Prozessgrundrechten (Art. 101 Abs. 1 S. 2, 103 GG) erklären,181 denn alle juristischen Personen unterliegen unabhängig von ihrer Rechtsform der Rechtsprechungsgewalt eines Staatsorgans.182 Grundrechtstypische Gefährdungslagen entstehen vor allem durch die einfache Rechtsetzung und -anwendung. So kann man etwa fragen, ob das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Recht, sich nicht selbst einer Straftat bezichtigen zu müssen, generell für juristische Personen gilt. Insoweit geht es also nicht um das Wesen der juristischen Person, sondern des Grundrechts, auf das sie sich beruft. Dieses soll – so das Bundesverfassungsgericht unter Rückgriff auf seinen verfehlten personalistischen Ansatz – nicht anwendbar sein, weil es insoweit an Eigenschaften, Äußerungsformen oder Beziehungen anknüpft, die nur natürlichen Personen wesenseigen seien. In den Zwiespalt, sich selbst bezichtigen zu müssen, könnten nämlich nur natürliche Personen kommen, die allein strafrechtlich verantwortlich seien.183 Ein Unternehmen ist aus diesem Grunde tatsächlich nicht in einer natürlichen Personen vergleichbaren Gefährdungslage, weil es sich nicht straf bar machen kann. Sollte aber die seit langem diskutierte strafrechtliche Unternehmenshaftung realisiert werden,184 würde das Strafrecht die juristische Person in eine Situation bringen, die derjenigen natürlicher Personen vergleichbar ist und daher für einen entsprechenden Schutz spräche. Dem Bundesverfassungsgericht bleibt dieser Weg aufgrund seines personalistischen Ansatzes versperrt.
Rn. 86. Tendenziell zurückhaltender Brun-Otto Bryde, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 14 Rn. 9. 179 Beispiel bei Friedrich K. Schoch, Grundrechtsfähigkeit (Fn. 58), 206 f. 180 Hubertus Gersdorf, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 99), Art. 87e Abs. 3 Rn. 53. 181 BVerfGE 21, 362 (373) – Sozialversicherungsträger [1967]; 61, 82 (104) – Sasbach [1982]; 75, 192 (200) – Sparkassen [1987]; vgl. bereits B. II. 2. 182 Albert von Mutius, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 19 Abs. 3 [April 1975] Rn. 118. 183 BVerfGE 95, 220 (241 f.) – Auf bewahrungspflicht [1997]. 184 Näher Markus Dubber, Zur Geschichte und Theorie der Verbandsstraf barkeit: Eine kritische Analyse aus rechtsvergleichender Sicht, KritV 2015, 377 ff.; Klaus Günther, Nulla poena sine culpa and corporate personhood, KritV 2015, 360 ff.
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2. Das Referenzgebiet Sozialrecht Der deutsche Sozialstaat hat sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich aus vorstaatlichen gesellschaftlichen Sicherungssystemen (Gemeinden, Kirchen, Zünfte) entwickelt, ohne diese freilich vollständig zu verdrängen. Sein zentrales Ordnungsprinzip ist daher bis heute die Selbstverwaltung, durch Sozialversicherungsträger wie durch die Gemeinden. Auch auf Seiten der Leistungserbringer beherrschen Verbände das Geschehen, teils privatrechtlich organisiert in Gestalt der großen Wohlfahrtsverbände, teilweise aber auch als öffentlich-rechtliche Selbstverwaltungsträger wie die Kassenärztlichen Vereinigungen (§ 77 Abs. 5 SGB V). Selbstverwaltung findet genau in der Zwischenschicht zwischen Staat und Gesellschaft statt, die die klassische Grundrechtstheorie herausfordert. Indem etwa § 29 Abs. 1 SGB IV die Sozialversicherungsträger als rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts bezeichnet, wird einerseits die staatliche Verantwortung für die soziale Sicherheit zum Ausdruck gebracht und werden daher den Sozialversicherungsträgern hoheitliche Kompetenzen zugewiesen, für deren Ausübung der Gesetzesvorbehalt gilt (§ 31 SGB I). Mit der Gewährleistung des Selbstverwaltungsrechts werden aber andererseits zugleich ihre bürgerlich-demokratischen und genossenschaftlichen Wurzeln betont und damit auch ihre Distanz zum bevormundenden (Wohlfahrts-) Staat absolutistischer Prägung.185 Gleichwohl hat sich in der verwaltungsrechtlichen Literatur der Sammelbegriff „mittelbare Staatsverwaltung“ als Gegenbegriff zur „unmittelbaren“ staatlichen Verwaltung eingebürgert.186 Er ist aber ebenso eine Verlegenheitsbezeichnung wie die Unterscheidung zwischen „mittelbarer“ und „unmittelbarer“ Drittwirkung der Grundrechte.187 In der Selbstverwaltung geht es nämlich nicht nur um die Erfüllung öffentlicher Aufgaben, sondern immer auch um die Wahrnehmung mitgliedschaftlicher Interessen. Selbstverwaltungsträger sind daher ein besonders geeignetes Betätigungsfeld für Untersuchungen über das Recht der Zwischenschicht, denn sie bieten mit ihrer dualen, durch das einfache Recht näher ausgestalteten, Struktur aus eigenen und übertragenen Aufgaben geeignete Ansatzpunkte für eine Differenzierung danach, ob gesetzlich zugewiesene Kompetenzen in Anspruch genommen oder die Interessen von Mitgliedern vertreten werden.188 Exemplarisch kann diese Differenzierung im Gesundheitsrecht ausbuchstabiert werden. Dieses ist durch eine kaum mehr überschaubare Akteursvielfalt und ein dichtes Geflecht korporativer Regelungen und Vereinbarungen geprägt, seit einiger Zeit ergänzt durch wettbewerbliche Elemente. Überall dort, wo der Staat die Leistungen nicht selbst erbringt, sondern durch externe Leistungserbringer erbringen lässt, existiert eine breite Zwischenschicht aus (korporatistischen) Arrangements zwischen öffentlichen und privaten Akteuren, die die Konkretisierung und Umsetzung 185 Karl-Jürgen Bieback, Die öffentliche Körperschaft, 1976, 349 f.; Reinhard Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, 1984, 8 ff., 70 ff.; Winfried Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, 1997, 222 f.; vgl. auch BVerfGE 33, 15 (127) – Strafgefangene [1972]. 186 Vgl., allerdings auch mit Vorbehalten, Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 23 Rn. 1. 187 S. bereits oben B. I. 1. 188 BVerfGE 68, 193 (207 f.) – Zahntechniker-Innungen [1984]; 70, 1 (16); vgl. bereits Ludwig Fröhler/Peter Oberndorfer, Körperschaften des Öffentlichen Rechts und Interessenvertretung, 1974, 32 ff.
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des nur weitmaschigen Sozialrechts durch öffentlich-rechtliche Verträge übernehmen.189 Das Bundesverfassungsgericht hat in einer älteren Entscheidung die Grundrechtsberechtigung der als Körperschaften des öffentlichen Rechts organisierten gesetzlichen Krankenkassen (§ 4 Abs. 1 SGB V) mit der Erwägung verneint, ihre Aufgabe bestehe „in dem Vollzug einer detaillierten Sozialgesetzgebung, gleichsam nach Art einer übertragenen Staatsaufgabe.“190 Das ist so undifferenziert nicht mehr haltbar, seit der Gesetzgeber vor etwa 20 Jahren den Wettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen ausgerufen hat:191 Im Wettbewerb untereinander handeln diese vor allem mit den nichtärztlichen Leistungserbringern, teilweise aber auch mit ärztlichen Akteuren (insbesondere in der hausarztzentrierten Versorgung nach § 73b SGB V) Leistungspakete aus; der zuvor praktische einheitliche Leistungskatalog zerfällt an den Rändern durch zunehmende satzungsrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten (§ 11 Abs. 6 SGB V). Wettbewerb herrscht aber vor allem auf der Beitragsseite. Es gibt zwar noch einen allgemeinen, d.h. für alle Krankenkassen gleichen Beitragssatz (§ 241 SGB V). Wenn die Krankenkassen mit den daraus generierten Einnahmen aber nicht auskommen, müssen sie kassenindividuelle Zusatzbeiträge (§§ 242, 242a SGB V) erheben, die Sonderkündigungsrechte ihrer Mitglieder auslösen (§ 175 Abs. 4 S. 5 SGB V); regulär können die Versicherten ihre Krankenkassen ohnehin alle 18 Monate wechseln (§ 175 Abs. 4 S. 1 SGB V). Die Krankenkassen sind sogar insolvenzfähig (§ 171b SGB V) und gelten kartellrechtlich als Unternehmen (§ 69 Abs. 2 SGB V). Zwar ändert das alles nichts daran, dass die Krankenkassen mit der Organisation der Gesundheitsversorgung eine wichtige öffentliche Aufgabe erfüllen. Aber das gilt natürlich gleichermaßen auch für die privaten Krankenversicherungsunternehmen. Anders als bei den gesetzlichen Krankenkassen gibt es aber nun ausgerechnet unter den privaten Krankenversicherungsunternehmen keinen Wettbewerb um Bestandsversicherte, weil diese ihr Versicherungsunternehmen wegen der nach wie vor nur sehr eingeschränkten Möglichkeit der Mitnahme von Alterungsrückstellungen praktisch nicht mehr wechseln können.192 Das deutsche Krankenversicherungsrecht ist also durch ein kurioses duales System aus grundrechtsgebundenen Behörden im Wettbewerb auf der einen Seite und grundrechtsberechtigten Unternehmen ohne relevanten Wettbewerbsdruck auf der anderen Seite geprägt;193 als Referenzgebiet, um Studierenden den Unterschied zwischen Öffentlichem und Privatrecht begreiflich zu machen, scheidet es damit aus. Die Protagonisten des dualen Systems stehen aber nicht beziehungslos nebeneinander, sondern in einem (vermeintlichen) System189 Zu den Strukturen des sozialrechtlichen Vertragsrechts näher Ulrich Becker/Thorsten Kingreen/ Stephan Rixen, Grundlagen des Sozialrechts, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht Bd. 3, 3. Aufl. 2013, § 675 Rn. 62 ff.; speziell für das Gesundheitsrecht: Ulrich Becker/Thorsten Kingreen, in: Ulrich Becker/Thorsten Kingreen (Hrsg.), SGB V. Gesetzliche Krankenversicherung, 5. Aufl. 2017, § 69 Rn. 4 ff. 190 BVerfGE 39, 302 (313) – AOK [1975]. 191 Zum Folgenden Thorsten Kingreen, Governance im Gesundheitsrecht. Zur Bedeutung der Referenzgebiete für die verwaltungsrechtliche Methodendiskussion, Die Verwaltung 42 (2009), 337 (358 f.). 192 Dazu Thorsten Kingreen, Welche gesetzlichen Regelungen empfehlen sich zur Verbesserung eines Wettbewerbs zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung?, in: Verhandlungen des 69. DJT Bd. II/1, 2013, K19–22. 193 Zum Reformbedarf Thorsten Kingreen/Jürgen Kühling, Monistische Einwohnerversicherung, 2013, 15 ff.
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wettbewerb um solche Personen, die nicht gesetzlich versicherungspflichtig sind und sich daher entweder freiwillig gesetzlich (§ 9 SGB V) oder nach § 193 Abs. 3 VVG privat versichern können. Dieser Wettbewerb ist vor allem ein Preiswettbewerb, der auch und gerade über Wahltarife (Selbstbehalte, Beitragsrückerstattungen) geführt wird. Es wäre dann aber unter dem Aspekt der Waffengleichheit kaum nachvollziehbar, dass sich die privaten Krankenversicherungsunternehmen gegen Eingriffe der Versicherungsaufsicht in diese Preisgestaltung unter Berufung insbesondere auf Art. 12 Abs. 1 GG zur Wehr setzen können, die gesetzlichen Krankenkassen hingegen nicht. Daran lässt sich erkennen, dass man die Frage der Grundrechtsberechtigung i.S.v. Art. 19 Abs. 3 GG nicht allein aus der Flughöhe eines allein verfassungsrechtlich bestimmten „Wesens“ der juristischen Person bestimmen kann, sondern zu gewärtigen hat, dass die juristische Person „aus Recht“ besteht. Das Recht, das die gesetzlichen Krankenkassen im Wettbewerb untereinander und mit den privaten Krankenversicherungsunternehmen prägt, bringt sie in eine mit juristischen Personen des Privatrechts vergleichbare Gefährdungslage, ja man könnte formulieren, dass sie erst recht grundrechtsberechtigt sind, wenn dies schon bei den wenig wettbewerblich orientierten privaten Krankenversicherungsunternehmen der Fall ist. Selbstverwaltungsrechtlich formuliert erledigen sie hier ihre eigenen Angelegenheiten und vertreten die Interessen ihrer Mitglieder an einer möglichst qualitativ hochwertigen und zugleich wirtschaftlich vernünftigen Versorgung. Gleiches gilt etwa, wenn die Krankenkassen nach § 140 SGB V zulässigerweise sog. Eigeneinrichtungen betreiben, also bei funktionaler Betrachtung mit anderen (auch privaten) Leistungserbringern konkurrieren.194 Die in diesen Fällen bestehende Grundrechtsberechtigung ändert aber nichts an ihrer ohnehin uneingeschränkten Grundrechtsbindung nach Art. 1 Abs. 3 GG und bedeutet auch nicht, dass sie umfassend grundrechtsberechtigt wären. Sie sind nämlich nicht nur Wettbewerber, sondern erlassen, etwa beim Beitragseinzug oder bei Entscheidungen über die Leistungsgewährung, Verwaltungsakte und treffen damit bei funktionaler Betrachtung hoheitliche Entscheidungen, in deren Rahmen keine Grundrechtsberechtigung besteht. Keine Grundrechtsberechtigung besteht auch im Bereich der vielfältigen systembezogenen Regulierungsfunktionen, die aber ohnehin weitgehend nicht von einzelnen Krankenkassen, sondern von deren Verbänden wahrgenommen werden.195 In gewisser Weise vergleichbar ist die Situation auf Seiten der Leistungserbringer. Hier muss man zwischen Verbänden, die neben den Interessen ihrer Mitglieder Allgemeininteressen wahrnehmen und solchen Organisationen, die allein der Wahrnehmung wirtschaftlicher Interessen ihrer Mitglieder dienen, unterscheiden. Diese Trennlinie verläuft im Wesentlichen zwischen ärztlicher und nichtärztlicher Leistungserbringung. Auf Verbandsebene hebt das Gesetz die öffentlich-rechtlich organisierten Kassenärztlichen Vereinigungen (§ 77 Abs. 5 SGB V) und die privatrechtlichen Krankenhausgesellschaften (§ 108a SGB V) dadurch hervor, dass sie nicht nur Aufgaben in ihren jeweiligen Sektoren wahrnehmen, sondern darüber hinaus auch Christoph Link, Grundrechtsschutz für Sozialversicherungsträger? Aktuelle Anmerkungen zu einem alten Problem, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Rüfner zum 70. Geburtstag, 2003, 511 (518 ff.). 195 Dazu näher Ulrich Becker/Thorsten Kingreen, in: SGB V (Fn. 189), § 69 Rn. 23. 194
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allgemeine systemische Regulierungsaufgaben, insbesondere über die Mitgliedschaft im Gemeinsamen Bundesausschuss (§ 91 SGB V), der über seine Richtlinien das gesamte, auch nichtärztliche Leistungsgeschehen steuert. Der nichtärztliche Bereich wird hingegen durch Verbände repräsentiert, die das Gesetz eher unspezifisch als „maßgebliche Spitzenorganisationen“ (z. B. §§ 125 Abs. 1 S. 1, 129 Abs. 2, 131 Abs. 1, 132a Abs. 1 SGB V), „Berufsverbände“ (§ 134a Abs. 1 SGB V) bzw. als für die „für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen“ (§§ 129 Abs. 2, 131 Abs. 1 SGB V) zuständige Organisationen bezeichnet. Die grundsätzliche Differenzierung zwischen ärztlichen und nichtärztlichen Leistungserbringerverbänden war seinerzeit maßgebend für die differenzierenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Zahntechnikerinnungen einerseits196 und den für den Bereich der Hilfsmittel zuständigen Orthopädietechnikerinnungen andererseits197. Die (schon seinerzeit zweifelhafte) Differenzierung nach der Systemintegration lässt sich allerdings nicht mehr aufrechterhalten, nachdem auch das nichtärztliche Leistungserbringungsrecht 1989 umfassend gesetzlich geregelt wurde und nunmehr zunehmend durch Verbandsrecht geprägt ist.198 Systemintegriert sind daher nunmehr alle genannten Verbände, wenn auch mit unterschiedlich dichten Vertragskompetenzen. Daraus kann man aber nicht den Schluss ziehen, dass in diesem Bereich überhaupt keine Grundrechtsberechtigung mehr besteht, zumal ja schon das einfache Recht teilweise ausdrücklich auf die Funktion der Verbände hinweist, die Interessen ihrer Mitglieder wahrzunehmen. Dagegen spricht auch, dass neben den Verbänden regelmäßig alternativ immer auch einzelne Leistungserbringer für zuständig erklärt werden, Verträge mit den Krankenkassen oder deren Verbänden abzuschließen (vgl. etwa § 125 Abs. 1 und 2, 127 Abs. 2 SGB V). Da die Grundrechtsberechtigung dieser einzelnen Leistungserbringer aber nicht zweifelhaft ist, kann für ihre Verbände nichts anderes gelten, auch wenn mit der Wahrnehmung dieser Interessen immer auch zugleich die Erfüllung gesetzlich zugewiesener Funktionen verbunden ist, die Auswirkungen auch auf die Versicherten haben. Fraglich ist, was die weitgehende Bejahung der Grundrechtsfähigkeit der Verbände der nichtärztlichen Leistungserbringer für die Krankenhausgesellschaften und für die Kassenärztlichen Vereinigungen bedeutet. Eine naheliegende Möglichkeit besteht darin, die Krankenhausgesellschaften im Hinblick auf ihre privatrechtliche Rechtsform für grundrechtsfähig zu erklären, soweit sie die Interessen ihrer Mitglieder wahrnimmt, die Kassenärztlichen Vereinigungen wegen ihrer öffentlich-rechtlichen Rechtsform hingegen nicht. Das Bundesverfassungsgericht ist hinsichtlich der Bedeutung der Rechtsform nicht ganz klar: In der Entscheidung zur Grundrechts fähigkeit der Zahntechnikerinnungen führt es auf der einen Seite aus, dass von der Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des Privatrechts in der Regel auszugehen sei, während sie bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts nur ausnahmsweise bestehe.199 Auf der anderen Seite heißt es dann aber in der gleichen Entscheidung, dass Grund für die Nicht-Anwendbarkeit der Grundrechte auf juristische Personen BVerfGE 68, 193 – Zahntechniker-Innungen [1984]. BVerfGE 70, 1 – Orthopädietechniker-Innungen [1985]. 198 Vgl. zu den Grundstrukturen Stephan Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, 375 ff. 199 BVerfGE 68, 193 (206) – Zahntechniker-Innungen [1984]. 196 197
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des öffentlichen Rechts „nicht die Rechtsform als solche“ sei, sondern „die Funktion […], in der eine juristische Person des öffentlichen Rechts von dem beanstandeten Akt der öffentlichen Gewalt betroffen wird.“200 Wenn das richtig ist, verbieten sich allerdings pauschale Ausschlüsse der Grundrechtsfähigkeit, wie sie das Bundesverfassungsgericht namentlich bei den Kassenärztlichen Vereinigungen vorgenommen hat.201 Sie werfen die Frage auf, ob trotz anderslautender Bekenntnisse nach wie vor die im Konfusionsargument wurzelnde Vorstellung mitläuft, dass Träger hoheitlicher Kompetenz nie grundrechtsfähig sein können. Tatsächlich wäre das Abstellen allein auf die Rechtsform hier besonders sachwidrig. Weil die Krankenhausgesellschaften seit Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in eine ähnliche Rolle hineinwachsen sollten wie im Bereich der ambulanten Versorgung die Kassenärztlichen Vereinigungen, war geplant gewesen, auch die Krankenhausgesellschaften in Körperschaften des Öffentlichen Rechts zu überführen. Dass dies nicht geschehen ist, ist allein dem Widerstand der christlichen Kirchen zu verdanken, die nach wie vor Trägerinnen vieler Krankenhäuser sind.202 Aus diesem Umstand kann man aber bei funktionaler Betrachtung nicht ableiten, dass die Krankenhausgesellschaften bei der Wahrnehmung der Interessen der Mitglieder grundrechtsberechtigt sind, die Kassenärztlichen Vereinigungen hingegen grundsätzlich nicht. Soweit beispielweise gesetzliche Vorgaben in ihre Rechte zur Vereinbarung des Vergütungsrechts mit den gesetzlichen Krankenkassen eingreifen, sind sie beide gleichermaßen als Vertreterinnen ihrer Mitglieder grundrechtstypisch betroffen und müssen daher auch beide als grundrechtsberechtigt angesehen werden. Die Kassenärztlichen Vereinigungen sind hingegen nicht grundrechtstypisch betroffen, wenn und soweit sie etwa Aufgaben der Bedarfsplanung (§§ 99 ff. SGB V) wahrnehmen, für die im Krankenhausrecht ohnehin staatliche Behörden zuständig sind (§ 6 Abs. 1 KHG).
IV. Grundrechtsverpflichtung 1. Grundrechtstypische Gefährderlage Man kann den Gedanken der grundrechtstypischen Gefährdungslage auch auf die Grundrechtsverpflichtung anwenden und eine grundrechtstypische Gefährderlage zur Voraussetzung für eine Bindung juristischer Personen des Privatrechts an die Grundrechte machen. Eine konkrete juristische Person befindet sich in einer grundrechtlichen Gefährderlage, wenn sie im Einzelfall bei funktionaler Betrachtung ein dem Staat vergleichbares Gefährdungspotenzial für die Grundrechte hat, das ihr eine staatsanaloge Verantwortung für den Grundrechtsschutz auferlegt. Eine grundrechtstypische Gefährderlage besteht dementsprechend auch nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts, wenn juristische Personen des Privatrechts „in tatsächlicher Hinsicht in eine vergleichbare Pflichten- oder Garantenstellung hineinwachsen wie traditionell der BVerfGE 68, 193 (207 f.) – Zahntechniker-Innungen [1984]. BVerfG, NJW 1996, 1588 (1588 f.). 202 Bernhard Schlink, Korporatismus im Krankenhauswesen, RsDE 11 (1990), 1 ff. 200 201
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Staat.“203 Es müssen m.a.W. diejenigen privaten Verhaltensformen identifiziert werden, „die in ihrer Gefährdungsrichtung strukturanalog zu gefährdenden Tendenzen politischer Machtausdehnungen sind, gegen die die Grundrechte als Abwehrrechte ursprünglich konzipiert wurden.“204 In einer solchen Gefährderlage können zwar im Einzelfall auch natürliche Personen sein; oftmals sind es aber juristische Personen, die kraft ihrer sozialen Macht die für die Grundrechtsverwirklichung notwendige Chancengleichheit in einem Maße gefährden, dass Selbstbestimmung zur Fremdbestimmung wird. Mit dieser Begründung hat das Bundesverfassungsgericht daher in jüngster Zeit vor allem die Privatautonomie von Privatversicherungsunternehmen beschränkt.205 Auch der EuGH hat in seiner Rechtsprechung zu den Personenverkehrsfreiheiten klargestellt, dass sich eine private Gefährderlage aus einem Vergleich zwischen staatlicher und sozialer Macht ergibt. Würde man nämlich ein Diskriminierungsverbot nur auf behördliche Maßnahmen anwenden, könne es zu „Ungleichheiten bei seiner Anwendung“ kommen.206
2. Abwendung grundrechtstypischer Gefährderlagen durch einfaches Recht Eine grundrechtstypische Gefährderlage ist allerdings ungleich schwerer zu begründen als eine grundrechtstypische Gefährdungslage, die aus der Perspektive rechtlich verfasster Grundrechte prüft, ob eine Situation gegeben ist, in der natürlichen Personen typischerweise Grundrechtsschutz zuteilwird. Soziale Macht ist hingegen zunächst ein primär faktisches Phänomen und damit diffuser als die notwendigerweise rechtlich begründete und durch Grundrechte begrenzte staatliche Macht.207 Private Macht kann sich, ungebunden von staatlichen Kompetenzen und Verfahren, als grundrechtlich geschützte Freiheitsausübung entfalten und ist damit auch vor staatlichen Zugriffen geschützt, die sie zum Schutze anderer begrenzen.208 Schon deshalb kann sie nicht in gleichem Umfang der Grundrechtsbindung unterliegen wie nach Art. 1 Abs. 3 GG die staatliche Gewalt. Das heißt nicht, dass soziale Macht nicht rechtlich eingehegt und als rechtserheblicher Tatbestand konkretisiert werden kann. Doch geschieht dies vorwiegend durch das einfache Recht, insbesondere das Privatrecht. Dessen Metaprinzip, die Privatautonomie, beruht auf der Vorstellung von selbstbestimmten, prinzipiell gleichberechtigten Personen, „die untereinander keine politischen Befugnisse oder soziale Sonderzuständigkeiten in Anspruch nehmen.“209 Über- und Unterordnungsverhältnisse, die durch soziale Macht begründet werden, vertragen sich mit dieser Prämisse nicht, BVerfG, NJW 2015, 2485 (2486). Andreas Fischer-Lescano/Andreas Maurer, Grundrechtsbindung von Betreibern öffentlicher Räume, NJW 2006, 1393 (1394 f.). 205 BVerfGE 114, 1 (34) – Übertragung von Lebensmittelversicherungen [2005] sowie NJW 2013, 3086 (3087). 206 EuGH, Rs. C-415/93, ECLI:EU:C:1995:463, Rn. 84 (Bosman). 207 Vgl. nur Florian Möslein, Private Macht als Forschungsgegenstand der Privatrechtswissenschaft, in: Möslein (Hrsg.), Private Macht, 2016, 1 (9). 208 Carsten Herresthal, Private Macht im Vertragsrecht, in: Private Macht (Fn. 207), 146 (157 f.). 209 Franz Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, ORDO 17 (1966), 75 (75 f.). 203
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weshalb das Privatrecht ein gewissermaßen intrinsisches Interesse daran hat, asymmetrischen Machtstrukturen entgegenzuwirken. So schützt schon das allgemeine Zivilrecht, teilweise beschleunigt durch europäisches Sekundärrecht, Arbeitnehmer, Mieter, Verbraucher, Reisende und Versicherte als (vermeintlich) schwächere und/oder wirtschaftlich/sozial abhängige Parteien vor der Übermacht ihrer jeweiligen Vertragspartner.210 Besonders weitgehend ist im Arbeitsleben der Schutz vor Diskriminierungen durch Arbeitgeber. Hier enthält die RL 2000/78/EG zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf 211 Verbote der Diskriminierungen aus Gründen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Richtlinie im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) umgesetzt. Praktische Bedeutung haben Richtlinie und Umsetzungsgesetz vor allem bei Diskriminierungen wegen des Alters. So hat der EuGH beispielsweise eine tarifvertragliche Altersgrenze von 60 Jahren für Piloten als ungerechtfertigte Diskriminierung wegen des Alters wahrgenommen, weil die internationale Regelung ausreichend sei, wonach Piloten, die das 60. Lebensjahr vollendet haben, bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres weiterhin eingesetzt werden dürfen, wenn sie Mitglied einer Flugbesatzung sind, die aus mehreren Piloten besteht, die unter 60 sind.212 Er sieht etwa ferner in herablassenden Äußerungen des Geschäftsführers eines Profifußballclubs über Homosexuelle die widerlegbare Vermutung dafür, dass der Club eine Einstellungspraxis verfolgt, die mit dem Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung nicht vereinbar ist.213 Unter dem Aspekt des Verbots der Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung sind etwa auch Ungleichbehandlungen von Lebenspartnerschaften gegenüber der Ehe bei der Hinterbliebenenversorgung durch ein berufsständisches Versorgungssystem nicht zu rechtfertigen.214 Die Richtlinie und die Umsetzungsgesetze begründen also auf der Ebene des einfachen Rechts ein eigenständiges Regime gegen Diskriminierungen durch private Arbeitgeber bzw. Verbände, das nicht anders wirkt als verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbote. Man kann daraus unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen: Auf der einen Seite wird damit zwar der Nachweis geführt, dass auch das einfache Recht wirksam vor dem Missbrauch sozialer Macht schützen kann. Eine Grundrechtsbindung wird sich daneben regelmäßig erledigen; das einfache Recht beseitigt hier nämlich die grundrechtstypische Gefährderlage durch einen quasigrundrechtlichen Schutz auf der Ebene des einfachen Rechts. Auf der anderen Seite hält damit in das Privatrecht eine grundrechtsähnliche Regulierung Einzug, die über die Grundrechte sogar hinausgeht insoweit sie eine unmittelbare Drittwirkung vorsieht. Es wird Grundrechtsschutz durch einfaches Recht gewährt. Mit dem berühmten „Federstrich des Gesetzgebers“ ( Julius von Kirchmann) werden damit die Grenzen zwischen privater Freiheit und öffentlicher Bindung, die die traditionelle Grundrechtstheorie 210 Giesela Rühl, Private Macht im Internationalen Privatrecht, in: Private Macht (Fn. 207), 475 (480 ff.). 211 ABl. 2000 L 303/16. 212 EuGH, Rs. C-447/09, ECLI:EU:C:2011:573, Rn. 63 f. (Prigge). 213 EuGH, Rs. C-81/12, ECLI:EU:C:2013:275, Rn. 4 0 ff. (ACCEPT). 214 EuGH, Rs. C-267/06, ECLI:EU:C:2008:179, Rn. 65 ff. (Maruko); Rs. C-147/08, ECLI:EU:C: 2011:286‚ Rn. 42 ff. (Römer).
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so sorgsam gezogen hat, obsolet. Über den Umweg des europäischen Sekundärrechts und des einfachen deutschen Rechts werden der sozialen Machtausübung Bindungen auferlegt, die nach dem herrschenden staatszentrierten Verfassungsverständnis undenkbar schienen. Eine wichtige Rolle bei der einfach-rechtlichen Regulierung sozialer Macht spielt schließlich das Kartellrecht. Es begreift den Markt und den Wettbewerb als „Entmachtungsinstrument“ und schützt ihn daher vor Kartellen (Art. 101 AEUV, § 1 GWB) und Akteuren mit einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV, § 19 GWB). Es hält, mittlerweile sektorspezifisch ausdifferenziert, spezielle Instrumente und Verfahren vor, mit und in denen es wesentlich ziel- und passgenauer vor der Konzentration und dem Missbrauch wirtschaftlicher Macht schützt als es die Grundrechte könnten.215 Dieser Schutz beschränkt sich nicht auf den Markt wie überhaupt das Kartellrecht den Wettbewerb nicht als Selbstzweck schützt. Vielmehr geht es – ganz im Sinne der französischen Revolutionäre – in einem größeren ordnungspolitischen Zusammenhang immer auch darum, die Gesellschaft vor einer „Re-Feudalisierung“ zu schützen 216 und zu verhindern, dass soziale Macht der demokratisch legitimierten politischen Macht (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) vorgeordnet wird.217 Sozial mächtige juristische Personen des Privatrechts sind also in einer grundrechtstypischen Gefährderlage nur dann, wenn es gar keine einfach-rechtlichen Schutzmechanismen gibt oder, wenn bestehendes einfaches Recht unzureichend ist. Dann ist die Prämisse der Privatautonomie, die Selbstbestimmung des Einzelnen, nicht gegeben und folgt daher unmittelbar aus den Grundrechten die Notwendigkeit, die Gestaltungsfreiheit der mächtigeren Vertragspartei zugunsten der Privatautonomie des Schwächeren zu beschränken.218
D. „I’ll believe corporations are people when Texas executes one“ Dieses Bonmot des Kaliforniers Robert Reich nach der Hobby Lobby-Entscheidung des U.S. Supreme Court bringt das Problem, das individualistische Interpretationen der juristischen Person mit ihrer verfassungsrechtlichen Verortung zwischen Individuum und Staat haben, treffend auf den Punkt.219 Nach wie vor wird, nicht nur in Deutschland, die Fiktion aufrechterhalten, dass es selbst in weltweit operierenden Das zeigt sich etwa im Gesundheitsrecht, wo § 69 Abs. 2 S. 1 SGB V die Krankenkassen im Leistungserbringungsrecht an das allgemeine Kartellrecht bindet, obwohl sie unbestrittenermaßen auch an die Grundrechte gebunden sind. 216 Gregor Bachmann, Die Legitimation privater Macht, in: Private Macht (Fn. 207), 603 (605). 217 Franz Böhm, Demokratie und ökonomische Macht, 1960; ferner, wenn auch zurückhaltend, Heike Schweitzer, Wettbewerbsrecht und das Problem privater Macht, in: Private Macht (Fn. 207), 447 (452 f.). 218 Vgl. BVerfGE 114, 1 (34) – Übertragung von Lebensmittelversicherungen [2005] sowie NJW 2013, 3086 (3087). 219 Vgl. ferner das dem First Baron Thurlow (1731–1806), Lord Chancellor of England, zugeschriebene Zitat (vgl. John C. Coffee, No Soul To Damn – No Body To Kick – An Unscandalized Inquiry Into the Problem of Corporate Punishment, Michigan Law Review 79 [1981], 386 [386]): „Did you ever expect a corporation to have a conscience, when it has no soul to be damned, and no body to be kicked?“ 215
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Großorganisationen ein personales Substrat gibt, das über das Bestehen und das Ausmaß der Grundrechtsfähigkeit der juristischen Person bestimmt. Die juristische Person ist aus dieser Perspektive nur ein Problem der Zuordnung, entweder zur privaten oder zur öffentlichen Sphäre. Ihre Eigenständigkeit, ihre Unterschiede sowohl zum privaten wie zum staatlichen Bereich werden durch diese Zuordnungen nivelliert, rechtsdogmatische Brüche werden als unvermeidliche Folge der Anerkennung einer transpersonalen Rechtsfähigkeit eher schulterzuckend hingenommen. Die Fixierung auf die individuelle Grundrechtsausübung auf der einen und den freiheitsgefährdenden Staat auf der anderen Seite und die Dialektik der Rechtsformen erschweren damit zugleich die Entwicklung eines Verfassungsrechts der Zwischenschicht. Dieser Dualismus konstruiert eine kategoriale Gegensätzlichkeit von Gesellschaft und Staat, die weder der Privatisierung des Öffentlichen noch der Publifizierung des Privaten gerecht werden.220 Es gilt daher, die in der Anerkennung der Rechtsfähigkeit der juristischen Person liegende rechtliche Verselbständigung ernst zu nehmen. Sie besteht „aus Recht“ und muss daher, wie das im einfachen Recht (im Gesellschaftsrecht etwa mit der haftungsrechtlichen Trennung) ganz selbstverständlich geschieht, ausgehend von der einfach-rechtlichen Zuweisung von Funktionen als verfassungsrechtlich eigenständige Trägerin von Rechten und/oder Pflichten entwickelt werden. Das größte Potenzial für diese Entwicklung weist derzeit das europäische Unionsrecht auf, das – unbelastet vom Ballast (vermeintlicher) verfassungshistorischer Pfadabhängigkeiten – die juristische Person nach ihrer Funktion beurteilt und wegen der Vielfalt von Rechtsformen und Kompetenzen im nationalen Recht im Interesse seiner einheitlichen Anwendung auch nur beurteilen kann. Für die Entwicklung eines internationalrechtlichen Menschenrechtsschutzes sind das wichtige Impulse, die auch in der verfassungsrechtlichen Diskussion in Deutschland mehr als bislang wahrgenommen werden sollten.
220 Zu beidem Jan Philipp Schaefer, Neues vom Strukturwandel der Öffentlichkeit. Gewährleistungsverwaltung nach dem Fraport-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 51 (2012) 251 (266 ff.).
Grundrechtsbindung im Gewährleistungsstaat Zur Verortung juristischer Personen des Privatrechts im Öffentlichen Recht von
Prof. Dr. Hinnerk Wißmann, Universität Münster Inhalt I. Einleitung: Flucht in den Gewährleistungsstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 II. Begriff und Bereich des Gewährleistungsstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. „Gewährleistung“ als staatswissenschaftliche Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. „Gewährleistung“ als normative und konzeptionelle Regularität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 III. Akteure des Gewährleistungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1. Ausgangsüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 a) „Gewährleistungsrechtliches Dreieck“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 b) Grundrechtsverpflichtete staatliche Regulierungsbehörden – grundrechtsberechtigte Kunden . . . 48 2. Diensteanbieter (1): Staatlich organisiert oder allein staatlich beherrscht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 a) Der Staat als alleiniger Akteur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 b) „Gemischtwirtschaftliche Einrichtungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3. Diensteanbieter (2): Außerhalb staatlicher Beherrschung – innerhalb öffentlich regulierter Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 IV. Tableau: Grundrechtsbindung als Herausforderung gewährleistungsrechtlicher Dogmatik . . . . . . . . . 52 1. Konfusion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2. Notwendigkeit von Stufungen in der mittelbaren Grundrechtsbindung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3. Veränderung von Begründungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 4. Schluss: Grundrechtsbindung als politische Gestaltungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
I. Einleitung: Flucht in den Gewährleistungsstaat? Die Chiffre vom „Gewährleistungsstaat“ ist ein wichtiges Beispiel für den Zustand der Ungleichzeitigkeit, in dem sich das deutsche Verfassungs- und Verwaltungsrecht befindet: Von den einen schon wieder abgelegt, weil das Modewort seine Hochzeit bereits hinter sich hat, ist der Gewährleistungsstaat für andere (und insbesondere für weite Teile der bodenständigen Lehre) gleich eben nur Modewort geblieben und
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daher gar nicht erst in den Sprach- und Denkgebrauch übergegangen. Und richtig ist zweifellos, dass solche Begriffe der Meta-Ebene – wenn sie im juristischen Diskurs im engeren Sinn gehört werden wollen – ihre Berechtigung nachzuweisen haben, indem sie bessere Erklärungen für bestimmte Zustände (oder gar die Lösung konkreter Rechtsprobleme) liefern, als das mit überkommenem Vokabular möglich ist. Dafür wird typischerweise ein Querstand erforderlich sein, in dem eine Beschreibungsformel (wie der „Gewährleistungsstaat“) mit einem konkreten rechtlichen Parameter gekreuzt wird, von dem Antworten auf konkrete Fragen abhängen. In diesem Sinne soll im Folgenden die Frage nach der Grundrechtsbindung (und auch die nach der Grundrechtsberechtigung) juristischer Personen des Privatrechts gestellt werden, die als Teil des rechtlich besonders ausgeformten Gewährleistungsstaats identifiziert werden können. Die Fragestellung verlangt und ermöglicht erste Differenzierungen: Es geht (nur) um Akteure, die erstens in einer bestimmten rechtsförmlichen Weise organisiert sind – als juristische Person in Form des Privatrechts –, und zweitens im besonders qualifizierten Handlungsfeld der „Gewährleistung“ tätig werden, das durch gesetzliche Festlegung von Aufgaben und Erfüllungsstandards gekennzeichnet ist. Wenn es sich wegen des letztgenannten Umstands typologisch nicht mehr allein um ein Feld gesellschaftlicher Freiheit handelt, das dem Staat gegenübergesetzt ist, kann die Frage nach der Grundrechtsbindung der Akteure, die die Aufgaben gegenüber dem Bürger erfüllen, nicht einfach abgetan werden. Gefragt sind Kriterien und Unterscheidungen, um einer „Flucht ins Privatrecht 2.0“ zu begegnen, bei der die öffentliche Hand Aufgaben definiert und erledigen lässt, die entsprechende Verantwortung dafür aber merkwürdig diffus geworden ist und eher buchhalterisch wahrgenommen wird. Nicht gemeint ist im Umkehrschluss im Folgenden der Gewährleistungsstaat als allgemeine Formel von der Staatlichkeit der Gegenwart (oder nahen Vergangenheit) überhaupt, in dem sich die Grundrechte in irgendeiner Weise auch weiter zu bewähren haben.1 Gemeint ist auch nicht eine weitere Rekapitulation der Überlegung, jeder Private könnte grundsätzlich in jedem Rechtsverhältnis vermittels gewisser staatlicher Schutzpflichten zum mittelbaren Adressaten der Grundrechte werden; 2 es geht vielmehr gerade umgekehrt darum, die Grundrechtsbindung Privater als begründungspflichtige Ausnahme kenntlich zu halten. Deshalb folgen wir auch nicht der gelegentlich zu beobachtenden Rede von der Auflösung der Grundrechte in allgemeine Rechtspflichten, wie sie insbesondere durch die grundlegend andere Perspektive des Europäischen Rechts nahegelegt wird.3 Will sich die deutsche Grundrechtsdogmatik mit ihrer scharfen Unterscheidung von Grundrechtsberechtigung und 1 Zur Überforderung solcher Gesamtbeschreibungen anhand eines benachbarten Begriffs Andreas Voßkuhle, Der „Dienstleistungsstaat“, Der Staat 40 (2001), S. 495 (506 ff.); umfassend Oliver Lepsius, Funktion und Wandel von Staatsverständnissen, in: Voßkuhle/Bumke/Meinel (Hrsg.), Verabschiedung und Wiederentdeckung des Staates im Spannungsfeld der Disziplinen, 2013, S. 37 (insb. 53 ff.). 2 Darstellung der klassischen Position bei Hans-Jürgen Papier, Drittwirkung der Grundrechte, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, 2006, § 55, Rn. 23 ff.; Wolfgang Rüfner, Grundrechtsadressaten, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, 3. Aufl. 2011, § 197, Rn. 83 ff., mit Rekurs auf die Geltung „im Privatrecht“. Zur Eigenart des deutschen Konzepts in rechtsvergleichender Perspektive Christoph Gusy, Grundrechtsbindungen Privater, in: Masing/Jestaedt/ Capitant/Le Divellec (Hrsg.), Strukturfragen des Grundrechtsschutzes in Europa, 2015, S. 93 (102 ff.). 3 Zur entsprechenden Bindung Privater nach der Rechtsprechung des EuGH etwa Frank Schorkopf,
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Grundrechtsbindung nach Art. 1 Abs. 3 GG in den normativen und rechtssystematischen Mehrebenenkonstellationen verständlich machen und mit ihrer spezifischen Rationalität wirksam bleiben, wird sie das besondere Proprium der Grundrechtsbindung allerdings neu auflegen müssen; einer solchen „Anschlussfähigkeit“ dienen die folgenden Überlegungen.4 Die Grundthese des Beitrags lautet: Wo der Staat gesetzlich bestimmte Aufgaben unter öffentlicher Finanzierung durch Private ausführen lässt, ist (statt einer akteursbezogenen, unmittelbaren) eine tätigkeitsbezogene, umfassende Grundrechtsbindung dieser Privaten möglich. Sie verlangt eine ausdrückliche gesetzgeberische Entscheidung, ist also ein (qualifizierter) Fall der mittelbaren Grundrechtsbindung. Insgesamt soll damit behauptet werden, dass die dualistischen Unterscheidungen von Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsbindung sowie unmittelbarer und mittelbarer Grundrechtsbindung nicht ausreichen, um die gewährleistungsrechtlichen Rechtsverhältnisse angemessen zu erfassen. Um diese These zu entfalten, wird im Folgenden zunächst der Begriff und Bereich des Gewährleistungsstaats näher bezeichnet (II.). Danach geht es darum, die einschlägigen Akteure typologisch zu erfassen und abzugrenzen (III.). Aus der These der umfassenden (aber nicht unmittelbaren) Grundrechtsbindung können die damit verbundenen rechtswissenschaftlichen Aufgaben benannt werden (IV.).
II. Begriff und Bereich des Gewährleistungsstaats 1. „Gewährleistung“ als staatswissenschaftliche Rekonstruktion Der Begriff der Gewährleistung bezeichnet die Einsicht, dass die öffentliche Hand bestimmte Aufgaben nicht durch eigene Hand erfüllen muss, sondern dafür Dritte einschalten kann: Der Staat zieht sich zurück in die Position dessen, der die Erbringung von bestimmten Leistungen bzw. deren Qualität durch rechtliche Vorgaben gewährleistet, aber nicht selber anbietet und durchführt.5 Gegen gewisse Euphorien der 1990-Jahre ist zunächst darauf hinzuweisen, dass dieser Vorgang prinzipiell keineswegs neu ist. Schon immer haben Staat und Gesellschaft in einer solchen Art zusammengewirkt; Private wurden mit besonderen Rechten und Pflichten ausgestattet, um anderes zu tun als nur am Privatrechtsverkehr teilzunehmen. Beliehene und Verwaltungshelfer, vor allem aber auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit etwa im kommunalen Bereich waren in der gesamten Moderne ein Faktum der Staatspraxis.6 Grundrechtsverpflichtete, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Band 2, 2014, § 3, Rn. 31 ff. 4 Zur „vertikalen“ Debatte mit Fokussierung auf die beteiligten Gerichte Andreas Voßkuhle, Pyramide oder Mobile? – Menschenrechtsschutz durch die europäischen Verfassungsgerichte, EuGRZ 2014, S. 165 ff.; Oliver Lepsius, Grundrechtspluralismus in Europa, in: Masing/Jestaedt/Capitant/Le Divellec (Hrsg.), Strukturfragen des Grundrechtsschutzes in Europa, 2015, S. 45 (60 ff.). Zur materiellen Per spektive Johannes Masing, Einheit und Vielfalt des Europäischen Grundrechtsschutzes, JZ 2015, S. 47 ff. 5 Umfassende Aufarbeitung der einschlägigen Debatte bei Claudio Franzius, Gewährleistung im Recht, 2009, insb. S. 24 ff. 6 Vgl. schon bei der Begründung des modernen deutschen Verwaltungsrechts Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Band 2, 3. Aufl. 1924, S. 243 ff., 268 ff.
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Der Unterschied liegt freilich darin, dass diese Entwicklung im „Gewährleistungsverwaltungsrecht“ nicht mehr als potentiell pathologisch oder mindestens randständig betrachtet wird, wie es sich der Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft des 20. Jahrhunderts entnehmen ließ. Zwar hatten die Begründer der frühmodernen Verwaltungsrechtswissenschaft noch ganz selbstverständlich gewusst, dass sie mit ihren Systemlehren nur einen Teil der rechtlichen und tatsächlichen Wirklichkeit des Staates abbildeten (und deswegen neben dem Verwaltungsakt eben auch Institute wie das Anstaltsrecht begründet, um damit weiter flexibel große Bereiche des Staatshandelns abdecken zu können).7 In der Folge wurde der Hauptpfad des Öffentlichen Rechts – ein Vorgang der Emanzipation wie der Entdifferenzierung – jedoch in einer Weise beschritten, dass mit den immer feiner bestimmten öffentlich-recht lichen Formen zugleich ein bestimmtes Staatsbild konstituiert zu werden schien: Der Staat könne „eigentlich“ nur öffentlich-rechtlich tätig werden; ihm gegenüber stünde die privatnützig denkende und in den entsprechenden Formen handelnde Bürgergesellschaft. Es sei daher auf strenge Scheidung der Akteure zu achten, öffentlichrechtliche Aufgaben könnten nur vom Staat und recht eigentlich auch nur in öffentlich-rechtlicher Form durchgeführt werden.8 Das war schon immer ein Zerrbild, das nicht zuletzt dazu führte, den Bereich unmittelbarer Staatstätigkeit auszuweiten, weil bestimmte Dinge eben dieser Marktgesellschaft nicht anvertraut werden könnten. Gerade mit Blick auf das Geben und Nehmen auf kommunaler Ebene galten solche Thesen freilich immer nur unter großzügiger Ausblendung der Wirklichkeit.9 Daher ist festzustellen, dass der mit Emphase ausgerufene Paradigmenwechsel hin zum Gewährleistungsstaat nicht zuletzt auf eine Überhitzung bestimmter älterer Annahmen der deutschen Staatsrechtswissenschaft reagierte, die sich nun mit dem Impetus einer realwissenschaftlich informierten Reform abräumen ließ.10
2. „Gewährleistung“ als normative und konzeptionelle Regularität Dennoch sollte die neue Lage auch nicht unterschätzt werden: Unter dem Rubrum „Gewährleistung“ wird die Einbeziehung Privater – das ist der Perspektivenwechsel – als reguläres Mittel gewertet, um staatlich gesetzte und auch verantwortete Aufgaben auszuführen.11 Dafür sind dann naheliegenderweise besondere, nun auch besser Vgl. den oft für die spätere Engführung in Haftung genommenen Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Band 1, 3. Aufl. 1924, S. 14 zur Anwendung des Zivilrechts im Verhältnis zwischen Staat und Untertan, sowie Band 2, 3. Aufl. 1924, S. 272 (für die fiskalischen Unternehmungen) sowie S. 284 (zu den Nutzungsverhältnissen der Verwaltungsanstalten). 8 Zu den Debatten und Grundpositionen Überblick bei Michael Stolleis, Entwicklungsstufen der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, 2. Aufl. 2012, § 2 , Rn. 47 ff. 9 Vgl. differenziert Johannes Hellermann, Örtliche Daseinsvorsorge und gemeindliche Selbstverwaltung, 2000, S. 16 ff. 10 Programmatische Zusammenfassung bei Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, 2. Aufl. 2012, § 1, Rn. 2 ff., 9 ff. 11 Kennzeichnend etwa die gleichberechtigte Typologie von hoheitlicher Aufgabenwahrnehmung, kooperativer Aufgabenwahrnehmung, Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch Private (sowie der „Ver7
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durchdachte rechtliche Arrangements erforderlich, weil die Grundunterscheidung staatlicher Vollverantwortung (mit Grundrechtsbindung, hoheitlichen Herrschaftsmitteln sowie öffentlicher Finanzierung) und gesellschaftlicher Freiheit (mit freiwillig gesetzten Angeboten am Markt unter Beachtung rechtlicher Grenzen und dem Risiko von Erfolg und Versagen) nicht mehr hinreicht. Deswegen sind mit dem Begriff der Gewährleistung typischerweise neue Regulierungskonzepte verbunden, die je nach Ehrgeiz und biographischer Lage als positive Herausforderung oder Störfaktor wahrgenommen werden konnten.12 Genauer wird man inzwischen sagen können: „Gewährleistung“ ist ein materielles Konzept, das auf bestimmte Ergebnisse verpflichtet ist; es deckt sich nur zum Teil mit dem steuerungsbezogenen Konzept der „Regulierung“ (i.e.S.) (oder gar Governance), das auch dort Anwendung finden kann, wo keine allgemein verfügbaren Infrastrukturen oder Dienstleistungen zu gewährleisten sind. Das kaum zu übersehende Musterbeispiel war und ist die Überführung der staatseigenen Betriebe Bahn und Post in einen neu eröffneten Markt. Sie hat dazu geführt, dass der Modus der Gewährleistung sogar unmittelbar in das Grundgesetz nobilitiert wurde (Art. 87f Abs. 1 GG). Hier haben sich einige Grundbegriffe des Regulierungsrechts herausgebildet, die das neue Rechtsgebiet kennzeichnen: Der allgemeine Zugang zu bestimmten Leistungen ist ebenso wie die Frage des Entgelts ein Gegenstand staatlicher Regulierung, die je nach Zustand des Marktgeschehens energischer oder entspannter daherkommt. Zwischen Dienstanbietern und staatlicher Verwaltung entsteht eine neue Art von Dauerbeziehung, die mit den üblichen ordnungsrechtlichen Kategorien der Gewerbeaufsicht nicht hinreichend erfasst ist.13 Verwaltungsakt und Verwaltungsvertrag müssen deshalb mit regulatorischen Gestaltungsermächtigungen und Anpassungen in der Zeit abgeglichen werden.14 Hier lässt sich nun zeigen, dass mit einem konzeptionell geordneten Gewährleistungs- bzw. Regulierungsverwaltungsrecht konzeptionell eine Lücke geschlossen werden kann (und muss), die sich zwischen der konventionellen akademischen Lehre vom Verwalwaltung als Marktteilnehmer“) bei Helmuth Schulze-Fielitz, Grundmodi der Aufgabenwahrnehmung, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, 2. Aufl. 2012, § 12, Rn. 24 ff., 64 ff., 91 ff., 122 ff. 12 Eine umfassende Zwischenbilanz mit weitem Ausgriff auch jenseits der konventionellen Referenzgebiete der Debatte ziehen die Beiträge in Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010; zur hier im Mittelpunkt stehenden Frage Oliver Lepsius, Verfassungsrechtlicher Rahmen der Regulierung, ebenda, § 4, S. 143 ff. (Rn. 45 ff., 68 ff.). Die Eigenart der Regulierungsansätze unterscheidet die hier beschriebenen Fälle vom „Verfassungsprivatrecht“, vgl. dazu Jörn Ipsen, Verfassungsprivatrecht?, JZ 2014, S. 157 ff. 13 Zur Verortung Johannes Masing, Grundstrukturen eines Regulierungsverwaltungsrechts, Die Verwaltung 36 (2003), S. 1 ff.; später dann ders., Soll das Recht der Regulierungsverwaltung übergreifend geordnet werden? Gutachten D für den DJT 2006. Neben den herkömmlichen Instrumenten (wie etwa dem Verwaltungsakt) dringen dann auch neue Handlungsformen vor (namentlich Akkreditierung, Zertifizierung), vgl. dazu Hermann Pünder, Verwaltungsverfahren, in: Ehlers/Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 15, Rn. 66 f.; zu den verfassungsrechtlichen Maßgaben, namentlich der Reichweite des Gesetzesvorbehalts im Bereich der Wissenschaftsfreiheit BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2016, 1 BvL 8/10, insb. Rn. 46 ff. 14 Zum Regulierungsermessen BVerwGE 130, 39 (48 f.); zuletzt BVerwG 6 B 46.13, Beschluss vom 5.5.2014, Rn. 9 ; zur Kritik am Konzept zuletzt Klaus F. Gärditz, Regulierungsermessen im Energie recht, DVBl. 2016, S. 399 ff.
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tungsverfahren und hoheitlichem Verwaltungsakt einerseits und dem tatsächlichen Staatshandeln in bestimmten Bereichen ergeben hatte.15 Das Konzept vom Regulierungsrecht im Gewährleistungsstaat ist geeignet, eine Reihe von Sonderentwicklungen einzuhegen und mit der allgemeinen Entwicklung des Verwaltungsrechts in neuer Weise zu verbinden – und damit der Gefahr der fachbruderschaftlichen Verkapselung dieser Gebiete ebenso zu begegnen wie dem Absinken des „Allgemeinen“ Verwaltungsrechts in einen Restbestand mit dem intellektuellen Anspruch konventioneller Sachbearbeitung.16 Dabei sind allerdings zwei Klarstellungen notwendig: Erstens enthält auch der Begriff vom „Gewährleistungsstaat“ keine Staatsaufgabenlehre. Was als öffentliche Aufgabe zu erfüllen ist, lässt sich aus einem Metabegriff wie dem des Gewährleistungsstaats ebensowenig ableiten wie aus anderen vorrechtlichen Prinzipien.17 Ob der Staat also Sicherheit, soziale Sicherheit, Bildung, „Brot und Spiele“ sicherstellen muss, ist in der Regel politische Entscheidung, die gelegentlich durch die Verfassung, regelmäßig aber erst durch die Entscheidung des Gesetzgebers konstituiert wird.18 Auch ist keine allgemeine Vorentscheidung über die vorzugswürdige Art staatlichen Handelns getroffen: Gewährleistung ist nicht der neue Super-Modus, der andere Formen wie die unmittelbare Leistungsverwaltung oder die privatautonome Marktwirtschaft unter Rechtfertigungs- oder Anpassungsdruck setzen könnte. Es geht – nur – um eine Erweiterung des Arsenals staatlicher Ordnungsinstrumente.19 Und zweitens ist das Regulierungsverwaltungsrecht nicht sektoral begrenztes „Privatisierungsfolgenrecht“, wie es gelegentlich verkürzt bezeichnet wird.20 Ganz im Gegenteil ist der Charme des Konzepts gerade seine allgemeine Verwendbarkeit: Seit langem in ein Eigenleben ausgekoppelte Bereiche wie der sogenannte „Dritte Sektor“, also der große Beritt der privaten Akteure als Leistungserbringer im Sozialstaat, lassen sich so ebenfalls neu justieren.21 Der Modus Gewährleistung, so ließe sich sagen, kann in einem Wettbewerb der Regelungsmodelle grundsätzlich auf jeden Bereich nichthoheitlicher Aufgabenerfüllung übertragen werden – muss es aber in 15 Grundlegend für eine konzeptionelle Bearbeitung Andreas Voßkuhle, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), S. 266 ff. 16 Zu dieser Herausforderung für das Verwaltungsrecht Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Rn. 1/9 ff. 17 Grundlegend zur Konzeption des Gewährleistungsstaats Martin Eifert, Grundversorgung mit Telekommunikationsleistungen im Gewährleistungsstaat, 1998; frühe Kritik bei Thomas Vesting, Zwischen Gewährleistungsstaat und Minimalstaat, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, 2000, S. 101 ff. Vgl. dann etwa Matthias Knauff, Der Gewährleistungsstaat: Reform der Daseinsvorsorge, 2004. 18 Dazu knappe Übersicht bei Hinnerk Wißmann, Verfassungsrechtliche Vorgaben der Verwaltungsorganisation, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, 2. Aufl. 2012, § 15, Rn. 10 ff. m.w.N. Zur Typologie der Verwaltungsaufgaben Susanne Baer, Verwaltungsaufgaben, ebenda, § 11, Rn. 23 ff. 19 Vgl. umfassend Martin Eifert, Regulierungsstrategien, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, 2. Aufl. 2012, § 19, insb. Rn. 153 ff. zur „regulatory choice“. 20 Breite Aufarbeitung bei Martin Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – Gestaltungsmöglichkeiten, Grenzen, Regulierungsbedarf, Gutachten D zum 67. DJT, 2008. 21 Margarethe Schuler-Harms und Ansgar Hense, Soziale Infrastrukturen im Gesundheitswesen (ambulant, stationär), in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, §§ 15 f.
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keinem Fall, soweit dies nicht durch europarechtliche bzw. verfassungsrechtliche Entscheidungen vorgegeben wird. Für das Verwaltungsrecht bedeuten diese neuen Perspektiven Verschiebungen hin zu Verbundmodellen von Organisation, Verfahren und materiellem Recht, die den typischen Dauercharakter von Verwaltungsbeziehungen (statt der Fiktion des punktuellen Kontakts) als Regelfall verarbeiten und die prozedurale Gestaltbarkeit von Rechtssituationen als Herausforderung für die Regelungsarrangements annehmen.22 Eine noch nicht hinreichend geklärte Grundfrage ist dabei nun die grundrechtliche Situation der Beteiligten, die hier typischerweise in einem gewährleistungsrechtlichen Dreieck angeordnet sind. Dabei ergibt sich insbesondere für die privaten Leistungserbringer eine doppelte Perspektive: Gegenüber dem Staat mit seinen Anordnungen erscheinen sie intuitiv grundrechtsberechtigt; wenn sie aber verpflichtet und berechtigt sind, „flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen“ nach gesetzlicher Vorschrift zu erbringen (Art. 87f GG), sind sie im gleichen Moment und ähnlich grundständig vielleicht doch auch grundrechtsverpflichtet.
III. Akteure des Gewährleistungsrechts 1. Ausgangsüberlegungen a) „Gewährleistungsrechtliches Dreieck“ In Gewährleistungskonstellationen sind typischerweise drei konkrete Rechtsbeziehungen zu unterscheiden: Dienstanbieter und Kunden schließen privatrechtliche Verträge, die Dienstanbieter unterliegen staatlicher Regulierung bei der Konfiguration ihrer Angebote (etwa durch Genehmigungsvorbehalte oder Angebotspflichten sowie Bestimmungen für die Durchführung der Verträge), und schließlich können die Kunden als Bürger gegebenenfalls staatlichen Stellen gegenüber Ansprüche erheben, die diese im Rahmen ihrer Gewährleistungs- oder Auffangverantwortung ausgesetzt sind.23 So entsteht ein gewährleistungsrechtliches Dreieck, für das anzunehmen ist, dass die rechtliche Eigenart der einzelnen Rechtsverhältnisse nur durch die wechselseitig bestehenden Querwirkungen erfasst werden kann. Für die drei Akteure lässt sich ihre grundrechtliche Position in unterschiedlich eindeutiger Weise bestimmen. Relativ einfach ist es für die staatlichen Regulierungsinstitutionen und (im Regelfall) die Kunden, gut beherrschbar inzwischen auch für Dienstanbieter, die in bestimmter Weise staatlich beherrscht sind, kompliziert jedoch für Dienstanbieter ohne staatliche Beherrschung. 22 Näher Hinnerk Wißmann, Die Anforderungen an ein zukunftsfähiges Infrastrukturrecht, VVDStRL 73 (2014), S. 369 (408 ff.). 23 Zur einschlägigen Unterscheidung von Verantwortungsstufen vgl. die Entwicklung der Debatte bei Wolfgang Hoffmann-Riem, Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff moderner Staatlichkeit, FS K. Vogel, 2000, S. 47 ff.; Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Rn. 3/109 ff.; Helmuth Schulze-Fielitz, Grundmodi der Aufgabenwahrnehmung, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, 2. Aufl. 2012, § 12, Rn. 148 ff., dort Fn. 535 mit Nachweisen zur Debatte.
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b) Grundrechtsverpflichtete staatliche Regulierungsbehörden – grundrechtsberechtigte Kunden Die gewährleistungsrechtliche Gesetzgebung und die Anwendung dieser Gesetze durch die zuständigen Regulierungsbehörden unterliegt der unmittelbaren Grundrechtsbindung des Art. 1 Abs. 3 GG. Hier fallen beide denkbaren Perspektiven zur Bestimmung des Anwendungsbereichs der Vorschrift zusammen: Zum einen die tätigkeitsbezogene (Gegenstand: Gesetzgebung bzw. ausführende Gewalt), zum anderen die institutionelle (Akteur: Gesetzgeber bzw. Exekutive). Für diese Fälle erübrigt sich die Überlegung, ob und wieweit privatrechtliche Tätigkeiten hoheitlicher Akteure oder Tätigkeiten privatrechtlich organisierter Akteure, an denen der Staat beteiligt ist, ebenfalls grundrechtsgebunden sein müssen, weil in jeder Hinsicht die besondere Rechtlichkeit der Öffentlichen Hand in Anspruch genommen wird und also eine unmittelbare Grundrechtsbindung zu bejahen ist. Für die Kunden im gewährleistungsrechtlichen Dreieck ist ebenfalls klar, dass sie – wenn sie selbst Private sind – allgemein grundrechtsberechtigt sind.24 Fraglich ist allerdings, ob diese grundrechtliche Berechtigung auch gegenüber den Dienstanbietern aktiviert werden kann oder durch den privatrechtlichen Status ihres Gegenübers abschließend überlagert ist. Kurz gesagt: Ob die Abschlussfreiheit des Dienstanbieters durch Art. 3 GG oder (nur) durch das allgemeine Antidiskriminierungsrecht begrenzt wird. Dafür lassen sich zwei Konstellationen unterscheiden: Die der staatlich organisierten bzw. beherrschten Diensteanbieter und die sog. „materiell privaten“ Diensteanbieter.
2. Diensteanbieter (1): Staatlich organisiert oder allein staatlich beherrscht a) Der Staat als alleiniger Akteur Wenn staatliche Stellen handeln, kann es für ihre Grundrechtsbindung nicht auf die gewählte Rechtsform ankommen: Keine Flucht ins Privatrecht! Das war schon lange akzeptiert, wenn öffentlich-rechtlich organisierte Teile des Staates konkret eine privatrechtliche Handlungsform wählten.25 Richtigerweise gilt aber nichts anderes, wenn der Staat (zusätzlich) eine privatrechtliche Organisationsform wählt. Der Staat bleibt also grundrechtsgebunden, egal ob er sich nun in privater oder öffentlich-rechtlicher 24 Nur der Vollständigkeit halber ist festzuhalten, dass nach ganz herrschender Auffassung die Öffentliche Hand auch als „Kunde“ nicht grundrechtsberechtigt ist – egal ob der Diensteanbieter selbst nun grundrechtsverpflichtet oder grundrechtsberechtigt ist, vgl. etwa Wolfgang Rüfner, Grundrechtsträger, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, 3. Aufl. 2011, § 196, Rn. 110, 113. Das bedeutet, dass es insoweit nicht auf die Position in einem konkreten Rechtsverhältnis ankommt, sondern auf die Konstitution des Akteurs. Das ist schon deshalb überzeugend, weil nichts anderes gilt, wenn es nicht um gewährleistungsrechtliche Dienste, sondern um „hoheitlichere“ Einwirkungen geht, etwa im Bereich der Aufsicht; siehe zur weitergehenden Grundrechtsfähigkeit nach Landesverfassungsrecht die Lage in Bayern in Bezug auf die Kommunen Heinrich Amadeus Wolff, in: Lindner/Möstl/ Wolff, Verfassung des Freistaats Bayern, 2009, Art. 10 Rn. 4 4 f. 25 Zusammenfassend zuletzt BVerfG, Beschluss vom 19.7.2016, 2 BvR 470/08, Orientierungssatz 2a.
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Form organisiert. Wäre es anders, müsste die Konsequenz lauten, dass die privaten Rechtsformen dem Staat nicht zur Verfügung stehen, um Umgehungsstrategien zu unterbinden.26 Tatsächlich ist es dann so, dass der Staat mit der Wahl zivilrechtlicher Formen zusätzliche Lasten aufnimmt, weil er z.B. auch die Gebote des Gesellschaftsrechts oder des Aktienrechts einhalten muss.27 Der Vollständigkeit halber sollte festgehalten werden, dass es dem Staat auch nichts nützt, wenn er in privater Organisationsform privatrechtsförmig unter den Bedingungen der Waffengleichheit handelt, also im Wettbewerb mit anderen ohne Sonderrechte Leistungen anbietet oder einkauft: Auch insoweit, also im Verwaltungsprivatrecht wie in der sogenannten Fiskalverwaltung, hat er nach zutreffender Auffassung zusätzlich zu den allgemeinen Bindungen für jedermann auch seine spezifischen Vorgaben, eben die Grundrechte, zu beachten.28 Umgekehrt gilt gleichsinnig: Wer materiell als Privater, als Teil der Gesellschaft anzusehen ist, richtet sich ebenfalls nicht nach den Formen seiner rechtlichen Verfassung. Sprechendes Beispiel hierfür sind insbesondere die korporierten Religionsgemeinschaften. Sie sind als Ergebnis eines wechselseitigen, aber eben auch relativen Emanzipationsprozesses als Körperschaften des Öffentlichen Rechts verfasst. Richtigerweise wird aber nicht in Zweifel gezogen, dass sie als Teil der Gesellschaft umfassend grundrechtsberechtigt sind, insbesondere Religionsfreiheit und Selbstverwaltungsrecht für sich beanspruchen können.29 Diese Einsicht bleibt im Übrigen nicht bei sich selbst: Im wichtigen gewährleistungsrechtlichen Bereich des „Dritten Sektors“ folgt darauf genau die Verdoppelung der grundrechtlichen Perspektive, die bisher als „Konfusion“ eingeordnet wird.30 Wer also Staat ist und wer Gesellschaft, wer grundrechtsgebunden und grundrechtsberechtigt, lässt sich inzwischen weder an der Handlungsform noch an der Organisationsform einfach ablesen (also: verneinen). Im Zweifelsfall muss bei einem Akteur in gesellschaftsrechtlicher Form geprüft werden, ob dessen „Inhaber“ für sich in Anspruch nehmen kann, gegenüber jedermann (in anderen Konstellationen) auch hoheitliche Gewalt in Anspruch nehmen zu können. Wenn eine solche hoheitlich befähigte Rechtspersönlichkeit am Rechtsverkehr teilnimmt bzw. teilnehmen lässt, ist sie grundrechtsgebunden, egal in welcher Form sie auftritt oder handelt. 26 BVerfGE 45, 63 (78) – Enteignungsentschädigung [1997]. Übersicht bei Bernhard Kempen, Grundrechtsverpflichtete, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, 2006, § 54, Rn. 48 ff. 27 Vgl. plastisch Josef Isensee, Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 9, 3. Aufl. 2011, § 199, Rn. 65. Zum Trend der Rekommunalisierung etwa Hartmut Bauer, Zukunftsthema „Rekommunalisierung“, DÖV 2012, S. 329 ff. Zu den hybriden „rechtsfähigen Anstalten des öffentlichen Rechts“ im kommunalwirtschaftlichen Bereich vgl. etwa § 114a GO NRW. 28 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.7.2016, 2 BvR 470/08, Orientierungssatz 2d. Überblick bei Horst Dreier, Art. 1 III, in: ders. (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Rn. 67 f. Umfassend Markus Möstl, Grundrechtsbindung öffentlicher Wirtschaftstätigkeit, 1999. 29 BVerfGE 102, 370 (387) [2000]; Übersicht zu den Einzelheiten bei Peter Unruh, Religionsverfassungsrecht, 3. Aufl. 2015, Rn. 75 f.; allgemein zur Abgrenzung Wolfgang Rüfner, Grundrechtsträger, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, 3. Aufl. 2011, § 196, Rn. 119 ff. Zur Lage aus der vielschichtigen Perspektive des Europarechts Jörg Gundel, Grundrechtsberechtigte, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Band 2, 2014, § 2 , Rn. 25 ff. 30 S. unten IV. 1.
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b) „Gemischtwirtschaftliche Einrichtungen“ Nach allgemeiner Auffassung kann der Staat sich im Rahmen gesellschaftsrechtlicher Formen auch mit privaten Akteuren zusammentun. Hier ist zu fragen: Soll es darauf ankommen, dass ein Teil der Gesellschafter, also etwa Bund, Land oder auch Stadtwerke grundrechtsverpflichtet sind, oder kommt es genau umgekehrt darauf an, dass auch grundrechtsberechtigte private Gesellschafter Anteile an diesem Unternehmen halten? Dieser Fall war lange umstritten, vermittelnde Lösungen sprachen sich dafür aus, dass nur die staatlichen Anteile in einem solchen gemischten Unternehmen grundrechtsgebunden sind und entsprechend zu handhaben wären.31 Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner einschlägigen Entscheidung zum Hausrecht der Fraport gegenüber Demonstranten, die ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wahrnehmen wollten, jedoch richtigerweise darauf abgestellt, welche der beiden beteiligten Gruppen letztlich die Beherrschung an dem Unternehmen innehat und dies dann für die Gesamtbindung durchschlagen lassen.32 Es kommt damit auf die im Einzelfall ja durchaus komplizierte Frage der Steuerung des Unternehmens an.33 Gegenüber einem kontextbezogenen Modell, das die Grundrechtsbindung einzelgrundrechtlich differenziert zumessen will, ist bei staatlicher Beherrschung so für eine neue Klarheit gesorgt: Solche Akteure sind immer und unmittelbar an alle Grundrechte gebunden; und schon die Fraport-Entscheidung selbst hat gezeigt, dass es hier durchaus nicht immer nur um die Gleichheitssätze gehen wird.
3. Diensteanbieter (2): Außerhalb staatlicher Beherrschung – innerhalb öffentlich regulierter Aufgaben Es bleibt nach dem Gesagten eine dogmatische Unklarheit für genau den Fall, der das Kernstück des Gewährleistungsverwaltungsrechts darstellt: Wie sind hinsichtlich der Grundrechtsbindung solche Diensteanbieter zu behandeln, die nicht staatlich beherrscht sind, deren Dienstleistungen aber in Bestand und Durchführung gesetzlich bestimmt sind (bzw. für die eine staatlich organisierte Finanzierung besteht)? Wird dabei das Kriterium der staatlichen Beherrschung aufgerufen, muss genauer formuliert werden: Es mangelt an staatlicher Beherrschung des Akteurs, es besteht aber eine staatliche Beherrschung der Aufgabe, die gerade nicht dem Bereich gesellschaftlicher Selbstregulierung anvertraut ist. Insofern geht es hier auch nicht um die Anwendung
Übersicht bei Horst Dreier, Art. 1 III, in: ders. (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Rn. 66 ff. sowie entsprechend bei Art. 19 III, Rn. 69 ff. Umfassend für die Debatte vor der Fraport-Entscheidung Markus Möstl, Grundrechtsbindung öffentlicher Wirtschaftstätigkeit, 1999, S. 137 ff. 32 BVerfGE 128, 226 – Fraport [2011]. Zu der spezifisch versammlungsrechtlichen Konnotation („Public Forum“) rechtsvergleichend Henning Wendt, Recht zur Versammlung auf fremden Eigentum?, NVwZ 2012, S. 606 ff. Allgemeine Kritik bei Wolfgang Rüfner, Grundrechtsträger, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, 3. Aufl. 2011, § 196, Rn. 132 ff. 33 Darstellung der Debattenlage aus Anlass der Entscheidung bei Elke Gurlit, Grundrechtsbindung von Unternehmen, NZG 2012, S. 249 ff. 31
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der Grundrechte „im Privatrecht“.34 Wird eine Grundrechtsbindung nun wegen der Akteursperspektive abgelehnt, entsteht ein merkwürdiger Effekt: Staatliche Stellen bleiben auch dort grundrechtsgebunden, wo sie ohne jeden Unterschied zu Privaten am allgemeinen zivilrechtlichen Rechtsverkehr teilnehmen; bestimmte Private dagegen sind bei bestimmten Aufgaben von diesen Sonderbindungen freigestellt, obwohl die betroffenen Rechtsverhältnisse zu einem guten Teil öffentlich-rechtlich durchreguliert sind und sie in letzter Konsequenz staatsvertretend agieren. Deswegen soll hier davon ausgegangen werden, dass der Blick auf die organisatorische Verfassung der Akteure nicht hinreicht, um für die Frage der Grundrechtsbindung die Weiterentwicklung der offenen Staatlichkeit im Modus der Gewährleistung abzubilden. Art. 1 Abs. 3 GG darf insoweit nicht überstrapaziert werden – zugleich aber auch nicht außer acht gelassen werden: Die Vorschrift stellt sicher, dass alle Formen und Tätigkeiten, die dem Staat zugerechnet werden können, unmittelbar an die Grundrechte gebunden sind. Und zutreffend erscheint auch, dass in einem Ausschlussverfahren andere, nicht staatlich beherrschte Akteure nicht unmittelbar an die Grundrechte gebunden sein können, also eine Grundrechtsbindung für sie ohne weiteren Zwischenschritt direkt durch den Befehl der Verfassung eintritt. Doch greift es dann zu kurz, unterschiedslos sämtliche andere Akteure nur als „mittelbar“ grundrechtsgebunden anzusprechen. Hiermit kann tendenziell ein „Zuviel“ an Grundrechtsbindung erzeugt werden, das die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft nicht hinreichend beachtet – aber für den hier gemeinten Fall auch ein „Zuwenig“, indem private Akteure dem Freiheitsschutz der Grundrechte auch dort unterstellt werden, wo sie materiell nicht gesellschaftliche Freiheit wahrnehmen. Das normale dualistische Modell setzt privates Handeln als freiwillig-privatautonom voraus, das nur durch einzelne Rechtspflichten „von außen“ eingrenzt wird. Das Gewährleistungsverwaltungsrecht erzeugt nun aber ein drittes Feld, in dem diese Grundzuordnung verwischt ist: Durch die (freiwillige) Beteiligung an einer gesetzlich bestimmten öffentlichen Aufgabe treten die Diensteanbieter in eine neue Kombination ihres grundrechtlichen Status ein.35 Das weist insbesondere auch auf den Staat zurück, mit dem diese Akteure agieren: Eine andere Sichtweise führt zu einer Flucht ins Privatrecht 2.0, die dem Staat erlaubte, die Ausführung von Aufgaben ohne Grundrechtsbindung zu arrangieren. Schließt man sich dieser Einsicht an, wird das Rationalitätsmodell des Grundgesetzes nicht weiter verwischt, sondern transponiert fortgeschrieben: Grundrechte binden denjenigen, der mit besonderen Privilegien und Pflichten hantiert, die der Gesetzgeber bestimmt hat. Kurz: Die Grundrechtsbindung sollte hier der – gesetzlichen – Aufgabenbestimmung folgen (und nicht der institutionellen Rückbindung), die auf die staatliche Gewährleistung ihrer Erfüllung geordnet ist. Von diesem neuen Ausgangspunkt aus sind Einwände und weitere Aufgaben einer gewährleistungsrechtlichen Grundrechtsdogmatik zu prüfen. 34 So sprechend Wolfgang Rüfner, Grundrechtsadressaten, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, 3. Aufl. 2011, § 197, Rn. 83 ff. 35 Ausdrücklich anderer Auffassung Josef Isensee, Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 9, 3. Aufl. 2011, § 199, Rn. 61, der hier die „rechtsstaatliche Dichotomie […] zu voller Wirkung“ kommen sieht.
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IV. Tableau: Grundrechtsbindung als Herausforderung gewährleistungsrechtlicher Dogmatik 1. Konfusion? Der erste, naheliegende Einwand gegen die hier vorgetragene These ist das sogenannte Konfusionsargument. Es lautet, dass Akteure regelmäßig nur entweder grundrechtsberechtigt oder grundrechtsgebunden sein können.36 Davon werden gewisse Ausnahmen bekanntlich seit jeher akzeptiert: Das gilt für öffentlich-rechtliche Institutionen (wie etwa Universitäten, Rundfunkgesellschaften oder entsprechend verfasste Religionsgemeinschaften)37 und ebenso umgekehrt auch bei privatrechtlich verfassten Beliehenen im Bereich ihrer hoheitlichen Machtausübung.38 Allerdings geht es im vorliegenden Zusammenhang nicht wie bei den bekannten Fällen um auf einzelne Grundechte ausgerichtete Ausnahmen vom Grundmodell des Entweder-Oder.39 Für die Konzeption des Gewährleistungsstaats scheint es vielmehr geboten, für einen genau bestimmten Ausschnitt das Konfusionsargument ganz grundsätzlich zu überwinden: Es besteht kein notwendiger Gegensatz zwischen (vollständiger) Grundrechtsberechtigung und (vollständiger) Grundrechtsbindung, wenn private Akteure gesetzlich bestimmte Aufgaben wahrnehmen. Voraussetzung dafür ist das besondere Regulierungsregime, das aus dem Zusammenspiel von öffentlicher Aufgabenbestimmung, gesetzlichen Vorgaben zur Aufgabendurchführung und einem gesetzlich bestimmten Finanzierungsmodell für die Durchführung dieser Aufgaben besteht, wofür der Staat letztlich in einem Modus der „Gewährleistungsverantwortung“ einsteht. Das gegen eine solche Kombination stehende Konfusionsargument hat Sympathie für sich, weil es die Unterscheidung des Rechtsstatus aufrechterhält, von der der Konstruktionsplan des Grundgesetzes ausgeht, wie sich aus Art. 1 Abs. 3 GG, aber eben auch aus Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 20 Abs. 3 GG ablesen lässt. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass das Grundgesetz als „living constitution“ der Weiterentwicklung der Staatspraxis (um nicht zu sagen: den Ausweichbewegungen) gegenüber Zuletzt klarstellend für den Ausschluss der Grundrechtsberechtigung in Bezug auf juristische Personen des Privatrechts in kommunaler Hand BVerfG, Beschluss vom 10.5.2016, 1 BvR 2871/13, insb. Rn. 5 f. Konzentrierte Kritik der Debatte bei Friedrich E. Schnapp, Zur Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, 2006, § 52, insb. Rn. 27 ff. 37 BVerfGE 15, 256 (262) [1963]; BVerfGE 18, 385 (386 f.) [1965]; BVerfGE 31, 314 (322) [1971]; zur Grenzziehung zuletzt BVerfG, Beschluss vom 2.11.2015, 1 BvR 1530/15, 1531/15. 38 Dirk Ehlers, Verwaltung und Verwaltungsrecht, in: Ehlers/Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 1, Rn. 19; Wolfgang Rüfner, Grundrechtsadressaten, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, 3. Aufl. 2011, § 197, Rn. 17 ff. 39 Das auch diese Konstruktion im Einzelfall sehr weit gehen kann, hat das BVerfG in seinem Eilrechtsbeschluss vom 18.7.2015, 1 BvQ 25/15 – Nibelungenhalle gezeigt, die eine starke Parallele zum hiesigen Konzept aufweist, wenn sie eine „genau so weit“ gehende Pflichtenstellung Privater in Bezug auf Grundrechte postuliert. Dort wird freilich die Pflichtenstellung vom Einzelgrundrecht – dem Schutz der Kommunikation auf für Publikumsverkehr geöffneten Plätzen („Öffentliches Forum“) – her begründet. Zustimmend Sebastian Schulenberg, Der „Bierdosen-Flashmob für die Freiheit“: Zu Versammlungen auf Grundstücken im Eigentum Privater, DÖV 2016, S. 55 ff.; kritische Einordnung als „Staatsgleiche Grundrechtsbindung Privater aus Funktionsnachfolge“ durch Christoph Smets, Staatsgleiche Grundrechtsbindung Privater aus Funktionsnachfolge?, NVwZ 2016, 35. 36
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beweglich bleiben muss.40 Eine klassische Antwort wäre es, in den genannten Fällen auch Private unter dem Begriff einer funktional bestimmten „vollziehenden Gewalt“ zu subsumieren. Die unmittelbare Bindung an Art. 1 Abs. 3 setzt aber die „Chance auf Hoheitlichkeit“ voraus. Der Entzug der Grundrechtsberechtigung für Private, die sich an bestimmten öffentlichen Aufgaben beteiligten, wäre deshalb ein Fehlschluss – vor allem auch deshalb, weil damit der besondere Reiz des Gewährleistungsmodells kassiert würde, der ja gerade in der „Chance auf private Effizienz“ gesehen wird, also im Mehrwert, der der privaten Aufgabenerledigung zugemessen wird. Deswegen hat die regulierungsrechtliche Debatte etwa für die Telekom und ihren Schutz von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen gerade unabhängig von der Privatisierung zurecht die Geltung der Grundrechte angenommen.41 Es ließe sich sagen: Der Aufwand, der hier betrieben wurde, liegt in der Ausschließlichkeit des Konfusionsgedankens begründet. Er ist nur als Vermutungsregel richtig, nicht aber als hermetische Grenzziehung. Im Gewährleistungsstaat schließt die Grundrechtsberechtigung gerade noch nicht aus, auch grundrechtsgebunden zu sein. Allerdings kann dies eben nur durch eine gesetzliche Regelung angeordnet werden und ist insoweit ein direktes Pendant zu der Errichtung öffentlicher Aufgaben durch Gesetz. Beides ist für die öffentliche Hand selbst eher unüblich und jedenfalls nicht notwendig. Insofern handelt es sich um ein originäres Merkmal des Gewährleistungsrechts.
2. Notwendigkeit von Stufungen in der mittelbaren Grundrechtsbindung? Gegen den hier gemachten Vorschlag lässt sich weiter vorbringen, dass über die Figur der mittelbaren Drittwirkung der angestrebte Effekt in der Rechtspraxis ohnehin schon besteht und eine weitere kategoriale Unterscheidung in diesem Bereich nicht notwendig ist. Das überzeugt aber weder konstruktiv noch praktisch. Die mittelbare Drittwirkung verpflichtet letztlich den Staat, bei Rechtsstreitigkeiten seine Grundrechtsverpflichtung auch im Streit zwischen Privaten umzusetzen. Damit sind Gesetzgebung und Gerichtsurteile an ihrer Grundrechtsbindung auszurichten; Pflichten für Private entstehen so aber nur indirekt, nämlich als Klugheitspflicht, die entsprechende staatliche Pflicht proaktiv zu bedenken. Es wäre aber eine Vermischung von Bewirkungsebenen, wenn die gerichtliche Korrektur gleichgesetzt würde mit einer originären Verpflichtung von Akteuren. Nur klarstellend soll noch einmal betont werden: Etwas gänzlich anderes sind gesetzliche Einzelpflichten, die private Akteure treffen – als Einschränkungen ihrer grundrechtlichen Freiheit, nicht als Anwendung ihrer grundrechtlichen Pflichten. Private können in der Tat nur mittelbar an die Grundrechte gebunden sein. Bloß ist die Schaltstelle im Gewährleistungsrecht richtigerweise nicht das richterliche Urteil im Einzelfall, sondern die freiwillige Übernahme gesetzlich bestimmter Aufgaben. Es handelt sich konstruktiv gesagt um die Form einer mittelbar-umfassenden Das zeigt sich umgekehrt in der Öffnung des Grundrechtsschutzes für ausländische juristische Personen des Privatrechts, BVerfGE 129, 78 – Cassina [2011], vgl. dazu etwa Markus Ludwigs, Grundrechtsberechtigung ausländischer Rechtssubjekte, JZ 2013, S. 434 ff. 41 BVerfGE 115, 205 (227 f.) [2006]. 40
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Grundrechtsbindung im Gegensatz zu der nach herrschender Auffassung möglichen mittelbar indirekten Grundrechtsbindung Privater. In Bezug auf die Gewährleistungsaufgabe gilt diese Grundrechtsbindung prinzipiell für sämtliche einschlägige Grundrechte. Und daher führt das Gewährleistungsrecht in der Tat eine notwendige Unterscheidung im Bereich mittelbarer Grundrechtspflichten ein: Möglich wäre nur hier die allgemeine gesetzliche Formel, dass die Anbieter der beschriebenen Dienste bei der Ausführung der gesetzlich bestimmten Aufgaben an die Grundrechte gebunden sind.
3. Veränderung von Begründungspflichten Wenn nach dem hier gemachten Vorschlag im Bereich gewährleistungsrechtlicher Aufgaben für die Diensteanbieter zugleich Grundrechtsbindung wie Grundrechtsverpflichtung bestehen, entsteht allerdings ein zentrales Folgeproblem: Denn auch die Grundrechtsberechtigung der Anbieter bleibt eine relevante Größe, so dass ein entscheidender Unterschied zu der (nur grundrechtsgebundenen) staatlichen Eigenverwaltung vorliegt. Das heißt, dass in der Lösung konkreter Fälle nunmehr eine Abwägung stattzufinden hat, bei der die grundrechtliche Berechtigung der grundrechtlichen Verpflichtung auch wieder Grenzen setzt. Das lässt sich etwa am Beispiel des Dritten Sektors und dort besonders an den kirchlichen Diensten in Caritas und Diakonie zeigen: Religionsverfassungsrechtlich überzeugend sind diese eigenständigen Rechtsträger schon immer in den Schutzbereich der Religionsfreiheit einbezogen worden.42 Damit ist auch der Schutz des Selbstverwaltungsrechts nach Art. 137 Abs. 3 WRV i.V.m. Art. 140 GG aufgerufen, was bekanntlich u.a. zum besonderen „kirchlichen Arbeitsrecht“ und der Frage der Reichweite der Loyalitätspflichten geführt hat. Praktisch hat die lange sehr großzügige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts43 vor allem dazu geführt, dass die diakonischen und karitativen Werke immer größer geworden sind und den Bereich der Amtskirchen seit langem an Mitarbeiterzahl und Umsatz übertreffen – zum Wohlgefallen des Staates, der durch den kirchlichen Eigenanteil Kosten sparte in Bereichen, die zugleich als gesetzlich bestimmte Aufgaben geführt werden, namentlich in Kranken- und Altenpflege, Kinderbetreuung und Jugendhilfe. Für das Gewährleistungsverwaltungsrecht bildet es nun eine entscheidende Auffälligkeit, dass diese Umstände der gesetzlichen Zweckbestimmung, der Finanzierung und der Qualitätssteuerung konstruktiv keine Rolle spielen sollen. Hier bietet sich nun folgende Weiterentwicklung älterer Dichotomien an: Wenn per Gesetz eine Aufgabe mit einer Versorgungspflicht für die Allgemeinheit festgeschrieben wird und Private darin einrücken und sich dies auch weitgehend durchfinanzieren lassen, spricht die Vermutung für eine umfassende Grundrechtsbindung im Bereich dieser Aufgaben. Da es sich hier im konkreten Fall dann um eine Konfusion mit natürlich ebenfalls weiter bestehenden Grundrechten des Dienstherrn handelte, konkret also etwa sein religionsverfassungsrechtliches Selbstverwaltungsrecht, ist die Lösung des Falls damit noch nicht vorweggenommen. In der Tat kann sich das Mit BVerfGE 46, 73 – Goch [1977]. BVerfGE 137, 273 – Loyalität II [2014].
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leid für Dritte etwa in Bezug auf bestimmte offene Verstöße gegen vorher bekannte Pflichten der Lebensführung mit guten Gründen begrenzt halten. Nur ist konzeptionell zunächst einmal einzustellen, dass dort, wo gesetzlich bestimmte Aufgaben mit staatlicher Gewährleistungspflicht durch juristische Personen des Privatrechts wahrgenommen werden, die „Gefahr der Grundrechtsbindung“ besteht, und insofern ein anderes Abwägungsmodell an die Stelle der bisherigen schlichten Zuordnungen treten müsste.
4. Schluss: Grundrechtsbindung als politische Gestaltungsentscheidung Die Grundrechtsbindung im Gewährleistungsstaat ist erkennbar ein Arbeitsprogramm. Aufgabe der vorstehenden Ausführungen war aufzuzeigen, dass mit der Weiterentwicklung der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben im Gewährleistungsstaat das konventionelle Modell der Grundrechtsbindung an seine Grenzen stößt. Es schafft einen Raum gesetzlicher Aufgaben und gesetzlicher Gewährleistungsverantwortung, in dem die tatsächlichen Akteure von den entsprechenden Bindungen freigestellt werden. Das erscheint jedenfalls dort unangemessen, wo die Aufgabenerfüllung nicht nur ein Angebot ist, sondern mit gesetzlichen Ansprüchen der Bürger und staatlich organisierter Kostentragung verbunden ist. Auch die konventionelle Gegenlösung, nämlich die unterschiedslose Unterstellung unter die unmittelbare Grundrechtsbindung mit Verlust der Grundrechtsberechtigung, verfehlt verfassungsrechtlich wie regulierungstypologisch die Besonderheit solcher Arrangements. Wegen der aufrechterhaltenen Grundrechtsberechtigung ist der Effekt nicht in grundstürzend anderen Resultaten, wohl aber in anderen Begründungsmustern und Abwägungspflichten zu sehen, was für eine gewährleistungsrechtlich angemessene Grundrechtsdogmatik nicht der geringste Nutzen wäre. Die hier vorgeschlagene Verknüpfung von Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsverpflichtung hat ihre Pointe in der Einsicht, dass sie nur durch eine ausdrückliche Entscheidung des Gesetzgebers ins Werk gesetzt werden kann: Gegenüber einem Grundrechtsberechtigten wird eine neue Pflichtendimension eröffnet, die materiell die Rückbindung an eine gesetzliche Aufgabe verlangt und formell ein Fall des Gesetzesvorbehalts ist. Recht verstanden schützt das Programm das freiheitliche Konzept des Grundgesetzes vor der Vorstellung unterschiedsloser Rechtspflichten, indem es die Besonderheit grundrechtlicher Bindungen betont, die gerade nicht jedermann treffen. Die politische Verantwortung des Gesetzgebers in Bezug auf solche Entscheidungen ist regulärer Bestandteil einer rationalen öffentlichen Ordnung, die die Grundrechte nicht überlastet und nicht unterschätzt.
Vom Kopf auf die Füße Die juristische Person des Privatrechts und die wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte von
Dr. Andreas Kulick, LL.M. (NYU), Universität Tübingen Inhalt I. Auf dem Kopf. Individualbezogenes Verständnis des Art. 19 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1. Personales Substrat, Durchgriff und grundrechtstypische Gefährdungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2. Inkonsistenzen und Widersprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 II. Wesen der Grundrechte, Wesen der juristischen Person. Dekonstruktion und Vorbereitung einer Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 1. Jenseits der subjektiv-rechtlichen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2. Die juristische Person des Privatrechts: Grundlagen und Charakteristika. Zugleich zur (Grund)Rechtsfähigkeit als juristisches Konstrukt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3. Ein instruktiver Seitenblick auf das Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 III. Auf die Füße. Funktionsbezogenes Verständnis des Art. 19 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 1. Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2. Aspekte des funktionsbezogenen Verständnisses hinsichtlich spezifischer Grundrechte . . . . . . . . . 74 3. Das „Wesen der Grundrechte“ im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 4. Vorzüge und Konsequenzen des funktionsbezogenen Verständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 IV. Sybillinisches Karlsruhe: Ein zweiter Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . 80 V. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
I. Auf dem Kopf. Individualbezogenes Verständnis des Art. 19 Abs. 3 GG 1. Personales Substrat, Durchgriff und grundrechtstypische Gefährdungslage Art. 19 Abs. 3 GG beschreibt die Voraussetzungen, unter denen die Grundrechte1 des Grundgesetzes auch auf „juristische Personen“ anwendbar sind. Zentrales Kriterium 1 Und grundrechtsgleichen Rechte, dies ist allgemeine Auffassung, siehe nur stellvertretend Tettinger, in: Papier/Merten, Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 51 Rdnr. 16, 63.
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ist „das Wesen der Grundrechte“. Juristische Personen i.S.d. Art. 19 Abs. 3 GG sind grundrechtsberechtigt, „soweit die Grundrechte ihrem Wesen nach auf sie [d.h. die juristischen Personen i.S.d. Art. 19 Abs. 3 GG] anwendbar sind“. An der Frage, welche Voraussetzungen an eine derartige wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte zu stellen sind, entzündet sich ein seit Inkrafttreten des Grundgesetzes geführter Streit, dessen Ursprünge in die Weimarer Zeit beziehungsweise bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückreichen.2 Denn hinter der Frage nach den einzelnen Merkmalen der wesensmäßigen Anwendbarkeit steht die Frage nach dem „Wesen der Grundrechte“ selbst. Zunächst kann man das Wesen „der Grundrechte“ entweder „als Frage nach dem Wesen der Grundrechte in der Rechtsordnung schlechthin“3 oder als Frage nach dem jedem einzelnen Grundrecht spezifischen Wesen verstehen. Es besteht aber weitestgehend Einigkeit, dass dies kein binäres Verständnis ist, dass sich also beide Betrachtungsweisen nicht notwendig gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr ergänzen können.4 Deshalb ist diese Frage von untergeordneter Bedeutung. Entscheidend sowohl für das Verständnis als auch für die konkrete Anwendung des Art. 19 Abs. 3 GG ist indes die Frage nach der grundrechtstheoretischen Grundlage für die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen i.S.d. Art. 19 Abs. 3 GG, die sich durch die Anknüpfung an die wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte unweigerlich stellt. Das BVerfG und der deutlich überwiegende Teil des Schrifttums bieten zur Bestimmung der wesensmäßigen Anwendbarkeit mehrere Kriterien an, die allerdings den gleichen Grundtenor aufweisen. Seit seiner Entscheidung vom 2. Mai 1967 gewährt das BVerfG juristischen Personen die „Einbeziehung […] in den Schutzbereich der Grundrechte nur, wenn ihre Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung der natürlichen Personen sind, besonders wenn der ‚Durchgriff ‘ auf die hinter den juristischen Personen stehenden Menschen dies als sinnvoll oder erforderlich erscheinen läßt.“5 Ergänzend wird in der Literatur der – vom BVerfG jedoch nicht explizit gebrauchte – Begriff des „personalen Substrats“ der juristischen Person verwendet, welches vorhanden sein müsse, um die wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte bejahen zu können.6 Hinter diesen topoi des „Durchgriffs“, „Durchblicks“7 bzw. des „personalen Substrats“ steht ein strikt individualbezogenes Verständnis der Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen nach Art. 19 Abs. 3 GG. De2 Vgl. zur geschichtlichen Entwicklung Dietmair, Die juristische Grundrechtsperson des Art. 19 Abs. 3 GG im Licht der geschichtlichen Entwicklung, 1988, 9–131. 3 Peter M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Abs. 3 Rdnr. 208. 4 So z.B. Remmert, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 55. Ergänzungslieferung 2009, Art. 19 Abs. 3 Rdnr. 28; Peter M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Abs. 3 Rdnr. 208. 5 BVerfGE 21, 362 (369) [1967]; E 68, 193 (205 f.) [1984]; vgl. auch BVerfG, 1 BvR 2821/11, 321/12, 1456/12, Urt. v. 6.12.2016, Rdnr. 158. 6 Siehe Remmert, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 55. Ergänzungslieferung 2009, Art. 19 Abs. 3 Rdnr. 35; Peter M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Abs. 3 Rdnr. 209–211; grundlegend Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 1977 (2. Bearb.), Art. 19 Abs. 3 Rdnr. 1 ff.; vgl. auch bereits ders., Die Geltung der Grundrechte für den Staatsfiskus und andere Fiskalakte, BayVBl. 1959, 201. Siehe auch Walter W. Schmidt, Grundrechte und Nationalität juristischer Personen, 1966, 28 ff. 7 So BVerfGE 61, 82 (101) [1982].
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ren Eigenschaft als (partielle) Grundrechtssubjekte rechtfertigt sich danach ausschließlich dadurch, Vehikel zur wirtschaftlichen und sonstigen sozialen, kurz grundrechtsrelevanten Betätigung natürlicher Personen zu sein. Die juristischen Personen sind grundrechtsberechtigt „soweit“ sie die grundrechtliche „Entfaltung des Menschen“8 ermöglichen. Zugespitzt formuliert ist nach dieser Auffassung der Grundrechtsschutz juristischer Personen „nur Teil des Grundrechtsschutzes des Menschen selbst.“9 Das ist mithin mit den Begriffen Durchgriff, Durchblick und personales Substrat gemeint: „dass es im Freiheitsinteresse der hinter einer juristischen Person stehenden Individuen […] geboten sein kann, gerade der juristischen Person eine eigenständige Grundrechtsposition einzuräumen.“10 Es wird nicht tatsächlich auf die Grundrechtsträgerschaft der natürlichen Personen durchgegriffen, sondern der Terminus „Durchgriff “ ist lediglich die „grundrechtsideengeschichtlich[e] […] Nabelschnur“11, welche die eigenständige Grundrechtsfähigkeit der juristischen Person als derivativer Grundrechtsträger an das „Wesen der Grundrechte“ rückbindet, nach dem nur natürliche Personen originäre Träger der Grundrechte sein können.12 Das Kriterium der „grundrechtstypischen Gefährdungslage“, das z.T. in der Literatur mit den topoi Durchgriff oder personales Substrat in Gegensatz gebracht wird,13 betont zwar das Wesen des jeweils im Einzelfall in seiner Anwendbarkeit auf juristische Personen fraglichen Grundrechts, unterscheidet sich indes in seiner Individualbezogenheit wie auch in den praktischen Ergebnissen nicht wesentlich von der Durchgriffsthese.14 Die für ein bestimmtes Grundrecht jeweils typische Gefährdungslage besteht, wenn insoweit ein „Durchgriff “/„Durchblick“ auf die natürlichen Personen in oben genanntem Sinne möglich ist. So verwendet auch das BVerfG Durchgriffsthese und grundrechtstypische Gefährdungslage weitestgehend unterschiedslos.15 Festzuhalten bleibt nach der Rechtsprechung des BVerfG und weiten Teilen der Literatur, dass die (weitestgehend austauschbaren) Kriterien Durchgriff, personales Substrat und grundrechtstypische Gefährdungslage stets auf der Prämisse beruhen, dass sich die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen aus dem Zweck rechtfertigen soll, die Grundrechtsausübung der natürlichen Personen zu ergänzen und zu verstärken. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 1977 (2. Bearb.), Art. 19 Abs. 3 Rdnr. 1. Wiltraud Rupp-v. Brünneck, Zur Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen, in: Ehmke/Schmid/ Scharoun, Festschrift für Adolf Arndt zum 65. Geburtstag, 1969, 349, 359. 10 De Wall, in: Friauf/Höfling, BKGG, 46. Ergänzungslieferung VI/2015, Art. 19 Abs. 3 Rdnr. 28. 11 Bethge, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art. 19 Abs. 3 Grundgesetz, 1985, 27; siehe auch bereits ders., Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen, AöR 104 (1979), 54, 72. 12 Siehe Peter M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Abs. 3 Rdnr. 210. 13 So z.B. Dreier, in: ders., Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 19 Abs. 3 Rdnr. 32 f. 14 So auch De Wall, in: Friauf/Höfling, BKGG, 46. Ergänzungslieferung VI/2015, Art. 19 Abs. 3 Rdnr. 26 f. Dies gilt insbesondere, wenn man hinsichtlich des „Wesens“ der Grundrechte in Art. 19 Abs. 3 GG ein allgemeines und ein grundrechtsspezifisches Verständnis nicht in Gegensatz zueinander bringt, sondern erkennt, dass durchaus beide Verständnisse parallel existieren können, siehe dazu oben Fn. 4. 15 Vgl. nur z.B. BVerfGE 45, 63 (79) [1977]; E 61, 82 (102, 105, 108) [1982]; E 106, 28 (43) [2002]. Nunmehr auch BVerfG, 1 BvR 2821/11, 321/12, 1456/12, Urt. v. 6.12.2016, Rdnr. 195. 8 9
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2. Inkonsistenzen und Widersprüche Bei genauerem Hinsehen erweist sich diese Auffassung meines Erachtens allerdings sowohl terminologisch als auch grundrechts- wie zivilrechtsdogmatisch als inkonsistent und widersprüchlich.16 Terminologisch inkonsistent und widersprüchlich ist zunächst das Kriterium des „personalen Substrats“. Wenn „das Wesen der Grundrechte“ nach Art. 19 Abs. 3 GG gerade dann ihre Anwendung auf juristische Personen unterbindet, wenn die grundrechtliche Gewährleistung auf die menschliche Person als solche abstellt, beispielsweise im Falle der Menschenwürde,17 warum soll andererseits ein so genanntes „personales Substrat“ dasjenige Kriterium sein, das die Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen begründet? Ist es nach diesen Überlegungen nicht gerade der spezifische Bezug auf die menschliche Person, der eine wesensmäßige Anwendbarkeit des fraglichen Grundrechts unterbindet? Versteht man indes den Personenbegriff weiter und über natürliche Personen hinaus, welchen Erkenntniswert hat dann das Anknüpfen an ein „personales“ Substrat? Überdies gerät man sodann in erhebliche Schwierigkeiten, die Prämisse der Individualbezogenheit juristischer Personen als Rechtfertigungsgrund für die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen nach Art. 19 Abs. 3 GG aufrecht zu erhalten. Der Begriff des „Durchgriffs“ ist nicht minder unglücklich. Es soll ja gerade nicht auf die Grundrechte der hinter der juristischen Person stehenden natürlichen Personen, sondern auf die Grundrechte der juristischen Person selbst abgestellt werden.18 „Durchblick“ ist zwar insoweit etwas präziser, spielt jedoch ebenfalls die Eigenständigkeit der von den natürlichen Personen verselbständigten Einheit herunter: Man blickt oder greift „durch“ sie hindurch. An dieser Stelle wird die terminologische zur dogmatischen Inkonsistenz. Die Legitimität der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen allein oder wesentlich in der Förderung der Grundrechtsausübung der hinter ihr stehenden Individuen zu verankern, steht in Spannung mit der Tatsache, dass jedenfalls die juristische Person des Privatrechts, die der Grundgesetzgeber als Grundfall19 der „juristischen Person“ i.S.d. Art. 19 Abs. 3 GG vor Augen hatte,20 eine von der Rechtsordnung als rechtlich verselbständigt anerkannte und in der sozialen Realität als eigenständig existente Einheit darstellt.21 Dass sie einerseits juristisch gesehen selbst Grundrechtsträger ist, weil sie im einfachen Recht Rechtsfähig16 Zu weiteren Inkonsistenzen und Widersprüchen, insbesondere (grund)rechtstheoretischer Natur siehe unten II.1. und 2. 17 Vgl. Tettinger, in: Papier/Merten, Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 51 Rdnr. 54. 18 So bereits BVerfGE 3, 383 (391) [1954]: „Aus Art. 19 Abs. 3 GG darf nicht geschlossen werden, daß nur Personengruppen, die allgemeine Rechtsfähigkeit besitzen, Träger von Grundrechten sein können, und daß deshalb lediglich sie zur Verfassungsbeschwerde befugt sind. Art. 19 Abs. 3 GG soll vielmehr klarstellen, daß nicht nur – wie es dem Ursprung der Grundrechte an sich entspräche – natürliche Personen grundrechtsfähig sind, sondern sogar juristische Personen, obwohl sie nicht notwendig Vereinigungen von natürlichen Personen sind.“ Siehe auch unten IV. 19 Es ist weitestgehend unstreitig, dass der Begriff „juristische Person“ in Art. 19 Abs. 3 GG nicht deckungsgleich ist mit dem Begriff juristischer Personen des Privatrechts, sondern dass es sich um einen eigenständigen verfassungsrechtlichen Begriff handelt, vgl. nur Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 199 Rdnr. 21 f. 20 Vgl. nur Dietmair, Die juristische Grundrechtsperson des Art. 19 Abs. 3 GG im Licht der geschichtlichen Entwicklung, 1988, 120–122. 21 Siehe dazu auch unten II.2.
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keit genießt, andererseits ihre Grundrechtsträgerschaft nicht in ihrer eigenen Existenz als rechtliches und/oder soziales Gebilde wurzeln können soll, sondern vielmehr auf der Grundrechtsträgerschaft derjenigen natürlichen Personen basieren muss, denen gegenüber sie ja gerade als ein aliud geschaffen wurde, erscheint mindestens als erheblich begründungsbedürftige konstruktive Verrenkung. Aus dieser Überlegung ergibt sich unmittelbar ein weiterer Widerspruch des individualbezogenen Kriteriums des personalen Substrats bzw. Durchgriffs. Es ging dem Grundgesetzgeber ganz offensichtlich darum, den grundrechtstheoretischen und grundrechtsdogmatischen Streit der Weimarer Zeit22 zur Grundrechtsfähigkeit von rechtlich gegenüber natürlichen Personen verselbständigten Einheiten – und dabei insbesondere dem Paradebeispiel, der juristischen Person des Privatrechts – mit der Normierung von Art. 19 Abs. 3 GG zu beenden.23 Es leuchtet nicht ein, dass jedoch durch den Individualbezug nunmehr einerseits gerade bei solchen Vereinigungen das Kriterium „personales Substrat“/„Durchgriff “ und damit die Grundrechtsfähigkeit nach Art. 19 Abs. 3 GG besonders problemlos zu bejahen ist, die ein geringes Maß rechtlicher und organisatorischer Verselbständigung von den sie konstituierenden natürlichen Personen aufweisen (Beispiel: BGB-Außengesellschaft),24 während dies bei stark rechtlich verselbständigten Einheiten wie beispielsweise Aktiengesellschaften regelmäßig erheblich schwerer fallen wird. Auf den Punkt gebracht: Je mehr eine „juristische Person“ derjenigen Einheit entspricht, die der Grundgesetzgeber als Grundfall des Art. 19 Abs. 3 GG vor Augen hatte, desto höher wird die Hürde, Art. 19 Abs. 3 GG bejahen zu können; je weniger dies der Fall ist, desto leichter wird es. Auch diese Konsequenz der vorherrschenden individualbezogenen Interpretation von Art. 19 Abs. 3 GG ist in hohem Maße erklärungsbedürftig. Ein Gedanke drängt sich zudem auf, den Wiltraut Rupp-v. Brünneck als Befürworterin der strikten Individualbezogenheit des Art. 19 Abs. 3 GG als eine der ersten ausgesprochen hat: Art. 19 Abs. 3 GG wird redundant, wenn man seinen Zweck allein in „der Durchsetzung der Grundrechte der natürlichen Personen“25 sieht. Er hätte nicht normiert werden müssen: „[D]ie gleichen Ergebnisse hätten sich bei einer sinngemäßen Auslegung auch unmittelbar aus den betreffenden Grundrechtsartikeln gewinnen lassen.“26 22 Prominentester Vertreter der ablehnenden Auffassung war Carl Schmitt, vgl. Schmitt, in: Anschütz/Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, 572, 594; ders., Verfassungslehre, 1. Aufl. 1928 (unveränderter Nachdruck 1965), 173. 23 Vgl. nur Tettinger, in: Papier/Merten, Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 51 Rdnr. 4 f.; Maser, Die Geltung der Grundrechte für juristische Personen und teilrechtsfähige Verbände, 1964, 8–12; Bethge, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art. 19 Abs. 3 Grundgesetz, 1985, 21–24. 24 Vgl. z.B. BVerfGE 10, 89 (99) [1959]: „Die Beschwerdeführer können sich auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen, obwohl sie keine natürlichen Personen sind. Das Grundrecht gewährleistet auch die allgemeine Handlungsfreiheit auf wirtschaftlichem Gebiet […]. Sie steht auch Handelsgesellschaften zu, und zwar auch solchen, die keine juristischen Personen sind, denn diese sind gerade dazu geschaffen, einer durch wirtschaftliche Interessen verbundenen Personenmehrheit eine einheitliche Willensbildung und Willensverwirklichung zu ermöglichen.“ 25 Wiltraud Rupp-v. Brünneck, Zur Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen, in: Ehmke/Schmid/ Scharoun, Festschrift für Adolf Arndt zum 65. Geburtstag, 1969, 349, 383 (Hervorhebung im Original). 26 Ebenda, 379.
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Darüber hinaus bleibt bei einer strikt individualbezogenen Legitimitätsquelle unklar, welche Anforderungen man an den Individualbezug im Einzelnen stellen muss. Ist eine unmittelbar nachweisbare Förderung konkreter Individualinteressen beispielsweise der Anteilseigner einer GmbH erforderlich, die sich auf Art. 12 Abs. 1 GG beruft? So eng scheint das BVerfG Art. 19 Abs. 3 GG jedenfalls nicht fassen zu wollen. Wodurch sind die unmittelbaren Interessen konkreter Gesellschafter eines Chemieunternehmens gefördert, wenn ihm der presserechtliche Schutz bei Veröffentlichung einer Werkszeitung gewährt wird? 27 Wodurch werden die unmittelbaren Interessen konkreter Anteilseigner eines Zeitungsverlags gefördert, wenn dieser sich auf das Fernmeldegeheimnis berufen kann? 28 Außerdem können selbstverständlich die Anteilseigner einer juristischen Person wiederum andere juristische Personen sein, deren Anteilseigner wiederum juristische Personen sind und so fort. Lässt man somit auf der anderen Seite auch eine mittelbare Förderung von Interessen gegebenenfalls auch in abstraktem Sinne (also ohne Bezug auf eine konkrete natürliche Person) zu, so stellt sich umgekehrt die Frage, welchen Grad an Mittelbarkeit und/ oder Abstraktion man ausreichen lassen möchte. Lässt man jede Form mittelbarer und abstrakter Förderung von Individualinteressen genügen, wird die Individualbezogenheit schnell zum Nicht-Kriterium. Man kann auch jede staatsorganisationsrechtliche oder den Verwaltungsbinnenbereich regelnde Norm letztlich darauf zurück führen, dass sie jedenfalls über eines der in Art. 20 GG verankerten Staatsprinzipien, z.B. das Rechtsstaatsprinzip, letztlich dazu bestimmt sind, dem einzelnen Bürger in seiner Grundrechtsausübung, beispielsweise durch effektive Gesetzgebung oder effiziente Verwaltung, zugute zu kommen. Dass es „im Freiheitsinteresse der hinter einer juristischen Person stehenden Individuen [ jedenfalls abstrakt und mittelbar] geboten sein kann,“29 einer als Aktiengesellschaft organisierten Zeitung, deren Redakteure von der Staatsgewalt körperlich misshandelt oder ohne richterliche Entscheidung ihrer Freiheit entzogen werden, die Rechte aus Art. 2 Abs. 2 GG zu gewähren – z.B. weil die Rüge der Verletzung mehrerer bei derselben Zeitung angestellten Redakteure ein systematisches Verhalten aufdeckt und damit ein größeres Gewicht hat als mehrere Einzelrügen – lässt sich als solches nicht so einfach von der Hand weisen. Genau diesen Schritt will die Ansicht, die individualbezogene Interpretation des Art. 19 Abs. 3 GG selbstverständlich wiederum nicht gehen,30 denn er würde im Ergebnis juristischen Personen die natürlichen Personen identische Grundrechtsberechtigung verschaffen, was Art. 19 Abs. 3 GG wiederum redundant machte. Ferner bestehen noch drei weitere dogmatische Inkonsistenzen der individualbezogenen Interpretation des Art. 19 Abs. 3 GG. Auf die erste Inkonsistenz weist ein weiteres Mal Wiltraut Rupp-v. Brünneck hin. Geht es lediglich um den Grundrechtsschutz der hinter der juristischen Person stehenden Individuen selbst, ist es schwerlich zu rechtfertigen, dass alle Grundrechte, die natürlichen Personen ungeachtet der Nationalität zustehen, dann doch ein Inländerkriterium aufweisen sollen, wenn sie korporativ, also durch eine juristische Person ausgeübt werden.31 Denn Art. 19 Abs. 3 Bestätigt in BVerfGE 95, 28 (34 f.) [1996]. Bestätigt in BVerfGE 100, 313 (356) [1998]. 29 De Wall, in: Friauf/Höfling, BKGG, 46. Ergänzungslieferung VI/2015, Art. 19 Abs. 3 Rdnr. 28. 30 Vgl. z.B. BVerfG (K), 1 BvR 2492/08, Beschl. v. 21.3.2012, Rdnr. 13 (zu Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). 31 Vgl. Wiltraud Rupp-v. Brünneck, Zur Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen, in: Ehmke/ 27
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GG gilt nur für „inländische“ juristische Personen. Wenn es wesentlich um die Interessen der hinter der juristischen Person stehenden Individuen gehen soll, ist es nicht einsichtig, warum ein von vier Gesellschaftern als deutsche GmbH inkorporierter Zeitungsverlag sich auf die Pressefreiheit berufen können soll, nicht aber wenn die selben vier Gesellschafter den selben Verlag – europarechtlich zulässig – als irische Limited oder als französische Société Anonyme gründen. Das Inländerkriterium der juristischen Person wird sich angesichts des eindeutigen Wortlauts des Art. 19 Abs. 3 GG nicht wegargumentieren lassen, sodass sich wiederum umgekehrt die individualbezogene Interpretation die Frage gefallen lassen muss, wie sie dieses Spannungsverhältnis auflösen will. Eine weitere Inkonsistenz zeigt Klaus Stern auf, indem er darauf hinweist, dass es Stiftungen, obwohl juristische Personen des Zivilrechts, als ausschließlich rechtlich verselbständigte Vermögen an einem „personalen Substrat“ mangelt und somit ein „Durchgriff “ auf die hinter der Stiftung stehenden natürlichen Personen nicht in Frage kommt.32 Dass insoweit der Stifter nicht als Durchgriffssubjekt herhalten kann, wird bereits dadurch deutlich, dass dieser einerseits eine juristische Person und andererseits bereits (z.T. Jahrhunderte vor Erlass des Grundgesetzes33) verstorben sein kann. Schließlich tut sich die individualbezogene Interpretation von Art. 19 Abs. 3 GG äußerst schwer damit, Grundrechtsbetätigungen einzuordnen, die durch ihre kollektive, d.h. im Regelfall korporative, Ausübung eine andere Qualität erhalten als durch die individuelle Betätigung. Die Religionsfreiheit ist sicherlich das klassische Beispiel, dies gilt aber in ähnlicher Weise auch für die Pressefreiheit, die regelmäßig durch einen als juristische Person des Privatrechts organisierten Zeitungsverlag oder Fernsehsender ausgeübt wird.34 Auch wenn beispielsweise eine Personengruppe sich gerade noch nicht als eingetragener Verein konstituiert hat, weil ihr die Eintragung verweigert wird, muss es doch gerade auf den Schutz der religiösen Betätigung des Kollektivs als solchem ankommen, die sich qualitativ eben unterscheidet von der jeweils individuellen Religionsbetätigungsfreiheit der einzelnen Mitglieder.35 Ähnliches gilt für eine Zeitungsredaktion im Vergleich zu der journalistischen Betätigung der einzelnen Redakteure: Erst die Zeitung schafft die spezifische publizistische und journalistische Plattform für die Recherche und Beiträge der einzelnen für sie tätigen Journalisten. Das Verdikt halte ich mithin für eindeutig: Das individualbezogene Verständnis, auf das sowohl das BVerfG als auch weite Teile der Literatur argumentativ zurückgreifen, stellt Art. 19 Abs. 3 GG auf den Kopf. Terminologisch bestehen Inkonsistenzen, die Vorschrift erscheint redundant und sowohl bezüglich der Inländerklausel als auch mit Blick auf das Begriffsverständnis der „juristischen Person“ widersprüchlich, Schmid/Scharoun, Festschrift für Adolf Arndt zum 65. Geburtstag, 1969, 349, 381 f. Sie will indes offenbar daraus den Schluss ziehen, das Inländerkriterium in Art. 19 Abs. 3 GG sei überflüssig. 32 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, 1118 f. 33 Man denke nur an die Fuggerschen Stiftungen, vgl. dazu http://www.fugger.de/de/singleview/ article/kurzinfo-2/33.html (besucht am 15.7.2016). 34 Dies wird häufig unter dem Begriff der sogenannten „Doppelgrundrechte“ verhandelt, siehe z.B. Peter M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Abs. 3 Rdnr. 229–233. 35 Vgl. BVerfGE 83, 341 (351 f.) [1991].
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Formen kollektiver Grundrechtsausübung mit eigener Qualität sind schwer erklärlich und die genauen Kriterien für die Bestimmung der Individualinteressen, auf die „durchgegriffen“ werden soll, sind kaum klar zu konturieren. In den folgenden Erörterungen versuche ich, Art. 19 Abs. 3 GG grundrechts- und rechtstheoretisch sowie grundrechts- und zivilrechtsdogmatisch vom Kopf auf die Füße zu stellen. Abschnitt II dekonstruiert sowohl das Wesen der Grundrechte als auch das Wesen der juristischen Person des Privatrechts,36 Abschnitt III entwickelt sodann ein Alternativkonzept, das anstelle eines individualbezogenen ein funktionsbezogenes Verständnis des Art. 19 Abs. 3 GG zugrunde legt und die zentralen dogmatischen Konsequenzen erörtert. Abschnitt IV wagt einen erneuten Blick auf die Rechtsprechung des BVerfG, nunmehr unter dem Eindruck des neuen funktionsbezogenen Verständnisses. Abschnitt V beschließt diesen Beitrag.
II. Wesen der Grundrechte, Wesen der juristischen Person. Dekonstruktion und Vorbereitung einer Rekonstruktion Die Frage nach der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen führt, wie oben dargestellt, im Rahmen des Art. 19 Abs. 3 GG über die Frage nach der wesensmäßigen Anwendbarkeit der Grundrechte auf juristische Personen. Die terminologischen und dogmatischen Inkonsistenzen der individualbezogenen Sichtweise offenbaren, dass ein Nachdenken über eine Auflösung der Inkonsistenzen und Widersprüche zunächst jenseits von Terminologie und Dogmatik ansetzen muss. Rekonstruktion setzt zunächst Dekonstruktion voraus. Diese Dekonstruktion wird sich im Folgenden sowohl mit dem Wesen der Grundrechte als auch mit dem Wesen der juristischen Person des Privatrechts auseinandersetzen. Wie es in der Natur einer Dekonstruktion liegt, wird diese als ersten Schritt weitere Inkonsistenzen und Widersprüche der individualbezogenen Sichtweise, diesmal vor allem grundrechtstheoretischer Art, zu Tage befördern (1.). In einem weiteren Schritt geht es darum, dem Wesen der Grundrechte und der juristischen Person des Privatrechts für die Zwecke des Umfangs ihrer Grundrechtsberechtigung im Allgemeinen wie im Einzelfall auf den Grund zu gehen (2.). Insoweit ist nicht zuletzt auch ein vergleichender Seitenblick auf das Völkerrecht instruktiv (3.).
1. Jenseits der subjektiv-rechtlichen Dimension Die oben bereits erwähnte Grundsatzentscheidung des BVerfG vom 2. Mai 1967, welche das individualbezogene Verständnis des Art. 19 Abs. 3 GG in der Rechtsprechung des Gerichts etablierte, lautet in seiner zentralen Passage wie folgt: 36 Obwohl, wie erwähnt (vgl. Fn. 19), der Begriff der juristischen Person in Art. 19 Abs. 3 GG auch über den Begriff der juristischen Person des Privatrechts hinausgehen kann, beschränke ich mich hier im Rahmen des Fokus des Schwerpunktthemas auf letztere als den vom Grundgesetzgeber intendierten Regelfall des Art. 19 Abs. 3 GG. Zu Überlegungen zur Anwendung von Art. 19 Abs. 3 GG über juristische Personen des Privatrechts hinaus, insbesondere auf Phänomene sozialer Emergenz im Internet, vgl. Ingold, Grundrechtsschutz sozialer Emergenz, 53 Der Staat (2014), 193.
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„Die Grundrechte sollen in erster Linie die Freiheitssphäre des Einzelnen gegen Eingriffe der staatlichen Gewalt schützen und ihm insoweit zugleich die Voraussetzungen für eine freie aktive Mitwirkung und Mitgestaltung im Gemeinwesen sichern. Von dieser zentralen Vorstellung her ist auch Art. 19 Abs. 3 GG auszulegen und anzuwenden. Sie rechtfertigt eine Einbeziehung der juristischen Personen in den Schutzbereich der Grundrechte nur, wenn ihre Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung der natürlichen Personen sind, besonders wenn der ‚Durchgriff ‘ auf die hinter den juristischen Personen stehenden Menschen dies als sinnvoll oder erforderlich erscheinen läßt.“37
Diese oder ähnliche Formulierungen finden sich auch in der Folgerechtsprechung.38 Was das BVerfG hier und in anderen ähnlich lautenden Passagen als das allgemeine „Wesen der Grundrechte“ beschreibt, ist die abwehrrechtliche Dimension der Grundrechte. Grundrechte sollen das Individuum vor Eingriffen staatlicher Gewalt schützen. Die subjektiv-rechtliche ist unbestritten eine wichtige Dimension der Grundrechte, ihr „Wesen“ erschöpft sich darin – jedenfalls nach der Rechtsprechung des BVerfG – allerdings nicht. Auch wenn in der Literatur immer wieder Versuche unternommen werden, die Dimensionen der Grundrechte auf eine, nämlich die abwehrrechtliche Dimension zu verengen,39 hat sich das BVerfG seit dem Lüth-Urteil40 klar positioniert. Grundrechte haben auch eine objektiv-rechtliche Dimension. Sie sind als positiviertes Wertsystem zu verstehen. Dies hat Auswirkungen auf alle Rechtsbereiche. Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte entzieht einerseits auch Private nicht den grundrechtlichen Wertungen und auferlegt andererseits dem Staat gewisse Schutzaufgaben ebenso wie die Pflicht, in manchen Bereichen die Voraussetzungen für die Teilhabe an der Grundrechtsausübung erst zu schaffen.41 Dass das BVerfG diese seine eigene Rechtsprechung im Rahmen des Art. 19 Abs. 3 GG nahezu gänzlich ausblendet, hat bereits Fritz Ossenbühl vor 20 Jahren attestiert.42 Für die mich hier interessierende Frage nach einem alternativen Ansatz zur offensichtlich defizitären individualbezogenen Sichtweise des Art. 19 Abs. 3 GG erschöpft sich der Erkenntniswert allerdings nicht in dieser Feststellung. Vielmehr ist die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte mehr als lediglich die Kehrseite der subjektiv-rechtlichen Dimension, sondern bedeutet die Anerkennung der zentralen gesellschaftlich-politischen Steuerungsfunktion der Grundrechte:43 Versteht man die Grundrechte als positiviertes Wertsystem einer Gesellschaft, kommt ihnen nicht nur die Aufgabe zu, den Einzelnen von staatlichen Eingriffen abzuschirmen. Stattdessen erwerben sie die Funktion, einerseits dem Einzelnen gerade in seinem Leben in der BVerfGE 21, 362 (369) [1967]. So z.B. BVerfGE 41, 126 (183) [1976]; E 68, 193 (205 f.) [1984]; E 75, 192 (195 f.) [1987]. 39 Vgl. stellvertretend Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003; zur abwehrrechtlichen Sichtweise siehe auch Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, zusammenfassend 313–319. 40 BVerfGE 7, 198 [1958]. 41 Vgl. neben BVerfGE 7, 198 [1958] nur E 33, 303 [1972] und E 39, 1 [1974]. 42 Vgl. Ossenbühl, Zur Geltung der Grundreche für juristische Personen, in: Burmeister, Verfassungsstaatlichkeit – Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, 887, 890 ff. 43 Siehe dazu, indes speziell in Bezug auf die Horizontalwirkung der Grundrechte zwischen Privaten als ein Aspekt der objektiv-rechtlichen Dimension, Kulick, „Drittwirkung“ als verfassungskonforme Auslegung – Zur neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 2016, 2236 f. Grundlegend Stone Sweet, Governing with Judges, 2000, 194 ff., speziell bzgl. der objektiv-rechtlichen Dimension 117–119. 37
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Gesellschaft gewisse Grundvoraussetzungen seiner Grundrechtsentfaltung zu garantieren und gegebenenfalls zu schaffen, andererseits die Gesellschaft und den Staat selbst in einer gewissen Form zu gestalten und zur Förderung gesellschaftlicher Freiheit, Gleichheit und gesellschaftlichem Wohlstand beizutragen.44 „Die Grundrechte sind ranghöchste Inhaltsnormen der Rechtsordnung geworden, sie prägen auch die Gesellschaft, nicht nur den Staat […].“45 So formuliert das BVerfG in Bezug auf Art. 12 Abs. 1 GG im numerus clausus-Urteil paradigmatisch: „Je stärker der moderne Staat sich der sozialen Sicherung und kulturellen Förderung der Bürger zuwendet, desto mehr tritt im Verhältnis zwischen Bürger und Staat neben das ursprüngliche Postulat grundrechtlicher Freiheitssicherung vor dem Staat die komplementäre Forderung nach grundrechtlicher Verbürgung der Teilhabe an staatlichen Leistungen. […] [D]as Freiheitsrecht wäre ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch nehmen zu können, wertlos.“46
Die gesellschaftliche Steuerungsfunktion der Grundrechte durch ihre objektivrechtliche Dimension reicht überdies, wie Dieter Grimm nachgewiesen hat,47 auch historisch deutlich weiter zurück als bis zum Lüth-Urteil. Die nachrevolutionäre französische Nationalversammlung verstand die droits de l’hommes et du citoyen als „oberste[] Leitprinzipien der Sozialordnung […]. Ihrer Bestimmung nach waren sie Zielvorgaben für den Gesetzgeber zur grundrechtskonformen Umgestaltung des einfachen Rechts. Das ist aber nichts anderes als die objektivrechtliche Grundrechtsfunktion.“48 Die Etablierung der Freiheits- als Abwehrrechte verfolgte die sozialpolitische Funktion, die Ständehierarchie aufzuheben und die Emanzipation des Bürgertums voranzutreiben unter „Herstellung gleicher Freiheit für alle.“49 So gesehen sind Abwehrfunktion auf der einen und Schutz-, Leistungs- und Teilhabefunktion der Grundrechte auf der anderen Seite nicht getrennte Grundrechtssphären der subjektiv-rechtlichen Dimension auf der einen und der objektiv-rechtlichen Funktion auf der anderen Seite, wobei lediglich die zweite auf dem Grundgedanken der gesellschaftlich-politischen Steuerungsfunktion der Grundrechte beruht. Vielmehr sind beide zwei Seiten derselben Medaille. Beiden ging es historisch gesehen um gesellschaftlich-politische Steuerung durch Grundrechte. Der Unterschied lag lediglich darin, dass das abwehrrechtliche Verständnis auf der Prämisse basierte, dass „Freiheit und Gleichheit vermittels Marktmechanismus Wohlstand und Gerechtigkeit automatisch hervorbringen“50, während die Ergänzung um weitere Grundrechtsfunktionen (Schutz, Leistung, Teilhabe, etc.) eine Konsequenz aus der Er44 Vgl. z.B. Hans-Peter Schneider, Grundrechte und Verfassungsdirektiven, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. I, 2004, § 18 Rdnr. 33 ff., 49 ff. 45 Wahl, Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. I, 2004, § 19 Rdnr. 27. 46 BVerfGE 33, 303 (330 f.) [1972]. 47 Vgl. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, in: ders., Die Zukunft der Verfassung I, 1991, 221, 224 ff. 48 Ebenda, 225 f. 49 Grimm, Die Grundrechte im Entstehungszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Die Zukunft der Verfassung I, 1991, 67, 72. 50 Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, in: ders., Die Zukunft der Verfassung I, 1991, 221, 227.
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kenntnis des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist, dass ein bestimmtes Maß an Wohlstand und Gerechtigkeit mehr bedarf als Freiheit allein. Integraler Bestandteil des Wesens der Grundrechte ist somit nicht nur der Schutz des Individuums vor staatlichen Eingriffen, sondern darüber hinaus auch das funktionale Charakteristikum, Freiheit, Gleichheit, Wohlstand und Gerechtigkeit sowohl für den Einzelnen als auch für die und in der Gesellschaft insgesamt zu fördern – gegenwärtig vor allem durch die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte in ihren funktionalen Ausprägungen Schutz, Leistung und Teilhabe. Folglich ist das „Wesen der Grundrechte“ mit einem unmittelbaren und konkreten Individualbezug nur unvollständig beschrieben. Die Grundrechte dienen nicht nur dem Einzelnen, sondern darüber hinaus auch gesellschaftlich-politischen Zielen. Wenn aber das Wesen der Grundrechte mehr als nur die subjektiv-rechtliche Dimension und mehr als nur die Individualbezogenheit ausmacht, warum soll eine individualbezogene Sichtweise gerade die Grundrechtsfähigkeit von juristischen Gebilden bestimmen, die ihre rechtliche Existenz der Tatsache verdanken, dass sie gegenüber menschlichen Individuen rechtlich verselbständigt sind? Mithin muss Art. 19 Abs. 3 GG auch grundrechtstheoretisch vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Dies erfordert als nächsten Schritt eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen und Charakteristika – mit anderen Worten: dem Wesen – des Grundtypus von Art. 19 Abs. 3 GG, der juristischen Person des Privatrechts.
2. Die juristische Person des Privatrechts: Grundlagen und Charakteristika. Zugleich zur (Grund)Rechtsfähigkeit als juristisches Konstrukt Darstellungen zu Art. 19 Abs. 3 GG, die sich mit dem Wesen der juristischen Person beschäftigen, fokussieren sich zumeist auf die Kontrastierung von Fiktionstheorie und Theorie der realen Verbandspersönlichkeit und dabei im Wesentlichen auf die Gegenüberstellung der Lehren Savignys und Gierkes.51 Entweder ist die juristische Person des Privatrechts „Fiktion“, d.h. sie soll nur als Rechtskonstrukt, nicht aber in der Wirklichkeit existieren (diese Position wird Savigny zugeschrieben) oder sie ist „reale Verbandsperson“ und als solche ein der natürlichen Person in ihrer tatsächlichen Existenz äquivalentes soziales Phänomen (Gierke). Beides wird letztlich der juristischen Person des Privatrechts nicht gerecht. Wie Werner Flume anschaulich herausgearbeitet hat, verkürzte es die Lehre Savignys in unzulässiger Weise, diese auf die Aussage zu reduzieren, eine juristische Person sei lediglich ein artifizielles Gebilde.52 Stattdessen geht Savigny von der Realität der juristischen Person des Privatrechts in der Sozialwelt aus, will indes ihre Rechtsfä51 Vgl. z.B. Oechsle, Zur wesensmäßigen Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen des Zivilrechts, 1960, 43–59; Gschwendtner, Der Begriff der juristischen Person im Verfassungsrecht und die Stellung des Art. 19 Abs. III im Wertsystem der Grundrechte, 1968, 31–33; Dietmair, Die juristische Grundrechtsperson des Art. 19 Abs. 3 GG im Licht der geschichtlichen Entwicklung, 1988, 48–99; vgl. auch, allerdings nicht mit unmittelbarem Bezug auf Art. 19 Abs. 3 GG, Palm, Person im Ertragssteuerrecht, 2013, 202–215. 52 Vgl. Werner Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. I/2 – Die juristische Person, 1983, 3: „Die Bezeichnung ‚Fiktionstheorie‘ ist für die Lehre Savignys mißverständlich.“
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higkeit in Parallelität zur Rechtsfähigkeit der natürlichen Person, die er als selbstverständlich voraussetzt, fingieren: „Die juristische Person ist eben für Savigny ganz und gar kein homunculus, keine Schöpfung der Beliebigkeit, sondern nur die Eigenschaft der sozialen Gebilde, welche nach der Rechtsordnung diese befähigt, am Rechtsverkehr teilzunehmen.“53 Die soziale Realität der juristischen Person wird somit nicht dadurch zum nullum bzw. in ihrem Wert reduziert, dass ihre Rechtsfähigkeit als juristisches Konstrukt erkannt wird, sondern vielmehr erlangt sie durch die Anerkennung ihrer Rechtsfähigkeit eine über ihre sozial-reale Bedeutung hinausgehende rechtliche Relevanz. Durch ihre privatautonome Gründung und damit ihren Eintritt in die rechtliche Lebenswelt wird ihr nichts genommen, sondern etwas gegeben.54 Folglich besteht insoweit kein wesentlicher Unterschied zu Gierke. Gierke geht jedoch noch darüber hinaus und setzt die juristische Person als „reale Verbandsperson“ nicht nur rechtlich, sondern tatsächlich mit dem Menschen gleich: 55 Die juristische Person wird zur Persönlichkeit, die selbst als solche – und eben nicht durch ihre Organe, d.h. letztlich durch natürliche Personen – handelt und einen eigenen Willen bildet. Hierin liegt tatsächlich eine Fiktion, nämlich eine „anthropomorphe Sicht“, nach der die juristische Person der natürlichen tatsächlich identisch sein soll.56 Die juristische Person des Privatrechts ist mithin ein reales soziales Gebilde, das durch einen privatautonomen Gründungsakt die Fähigkeit zur Teilnahme am Rechtsverkehr, mithin Rechtsfähigkeit, erwirbt. Dies schließt nach diesem Verständnis auch die Personengesellschaften, jedenfalls soweit sie rechtsfähig sind, mit ein. Grund für die allgemeine Verwirrung ist meines Erachtens vielmehr ein fehlgeleitetes Verständnis der natürlichen Person als Rechtssubjekt. Das Problem der Lehre Savignys57 ist nicht, dass sie die soziale Realität von Verbänden für irrelevant erachtet solange sie nicht juristisch als Träger von Rechten und Pflichten konstruiert sind, sondern stattdessen, dass sie die Rechtsfähigkeit der natürlichen Personen als „natürlich“, d.h. nicht als juristisches Konstrukt, betrachtet.58 Tatsächlich ist es jedoch erst die Rechtsordnung, die dem Individuum Rechte und Pflichten verleiht. Die Grundrechte mögen Ausfluss ethisch-moralischer Überlegungen, ja Gebote sein. Sie mögen ein Wertsystem errichten. Die Quelle von Grundrechten und Wertsystem ist jedoch das positive Recht. Das Wertsystem ist durch die Rechtsordnung, namentlich den positivierten Grundrechtskatalog, „aufgerichtet“59. Die Grundrechte gelten in demjeni Ebenda, 8 f. im Anschluss an Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. II, 1840, 242 ff. Vgl. auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, 1083 ff, 1118 ff. 55 Vgl. Gierke, Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung, 1887, 603; ders., Das Wesen der menschlichen Verbände, 1902, 3 f. 56 Vgl. Werner Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. I/2 – Die juristische Person, 1983, 18. 57 Und damit auch derjenigen Flumes, vgl. ebenda, 6, Fn. 30. 58 Vgl. Palm, Person im Ertragssteuerrecht, 2013, 205: „Bei Savigny ist der Mensch Rechtssubjekt um seines eigenen Wertes willen. Das ethische Subjekt ist Rechtssubjekt. Die metajuristische Idee von der sittlichen Persönlichkeit des Menschen bestimmt die Rechtskonstruktion. […] So einleuchtend die ethische Prämisse Savignys ist, so problematisch sind die konstruktiven Folgerungen seiner Lehre. […] Auch die natürliche Person […] ist konstruiert. Weder die Eigenschaft, Träger eines natürlichen Willens zu sein, noch seine ethische Persönlichkeit machen den Menschen aus rechtstechnischer Sicht zu einem Rechtssubjekt.“ (Hervorhebungen im Original; Zitat ohne Fußnoten). 59 So wörtlich das Lüth-Urteil, BVerfGE 7, 187 (205) [1958]. 53
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gen Umfang, in dem sie im Grundgesetz niedergelegt wurden, also beispielsweise als Meinungsfreiheit für alle, als Versammlungsfreiheit nur für Deutsche. Rechtshistorisch und rechtsvergleichend betrachtet genossen bzw. genießen nicht alle natürlichen Personen volle und gleiche Rechtsfähigkeit. Hans Kelsen konstatiert trocken: „Sklaven sind keine Personen, haben keine Rechtspersönlichkeit.“60 Dass es nach dem Grundgesetz keine Sklaven gibt bzw. geben darf, basiert zwar auf ethisch-moralischen Überlegungen, erlangt jedoch rechtliche Geltung durch Art. 1 Abs. 1 GG. Auf den Punkt gebracht: Sowohl die „natürliche Person“ als auch die „juristische Person“ sind juristische Konstrukte. Was sie voneinander unterscheidet, ist somit nicht ihre Eigenschaft als originäre im Gegensatz zu derivativen Rechtsträgern, sondern vielmehr der Grund für ihre Rechtsfähigkeit. Im Falle der natürlichen Personen konstruiert sie die Rechtsordnung als Rechtssubjekte aus ethisch-moralischen Gründen. Unter dem Grundgesetz gebietet dies darüber hinaus der erwähnte Menschenwürdeschutz als positiviertes rechtliches Postulat. Der Grund für die Rechtsfähigkeit der juristischen Person, insbesondere in der Form der juristischen Person des Privatrechts, ist dagegen rational-ökonomisch. Sie existiert nicht um ihrer selbst willen, sondern um bestimmte wirtschaftliche, soziale oder politische Zwecke innerhalb der Gesellschaft zu erfüllen.
3. Ein instruktiver Seitenblick auf das Völkerrecht Insoweit ist ein kurzer vergleichender Seitenblick auf das Völkerrecht instruktiv. Die klassische Völkerrechtstheorie hat, unter dem Einfluss des positivistischen Etatismus in der Entstehungsphase des modernen Völkerrechts als Rechtsdisziplin (ausgehendes 19. und frühes 20. Jahrhundert), lange Zeit ebenfalls zwischen „geborenen“ und „gekorenen“ Völkerrechtssubjekten unterschieden.61 Auch noch in jüngerer Zeit finden sich derartige Unterscheidungen in manchen Lehrbüchern des Völkerrechts.62 Allerdings sind hier in gewisser Weise die Rollen vertauscht: die Staaten als juristische Personen und unbezweifelbar juristische Konstrukte sollen die „originären“ Völkerrechtssubjekte sein, der Mensch war zunächst gar nicht, seit dem Zweiten Weltkrieg wird er schrittweise als derivatives Völkerrechtssubjekt anerkannt – d.h. in dem Umfang, in dem ihm Rechte, vor allem durch völkerrechtliche Verträge, durch die Staaten übertragen wurden. Auch wenn sich im Völkerrecht einerseits Terminologie und Dogmatik vom binären Begriff der Völkerrechtssubjektivität weg und zum graduellen Begriff der „Teilnehmer“ (participants) 63 bewegen und auch wenn andererseits die Staatensouveränität als zentrale völkerrechtliche Fundamentalnorm längst nicht mehr unbestritten ist,64 so fällt es doch weiterhin dogmatisch schwer, für de Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, 177. Vgl. Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, 2001, 98 ff. 62 Vgl. z.B. Kay Hailbronner, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 3. Aufl. 2004, 158. 63 Grundlegend Rosalyn Higgins, Problems and Procedures – International Law and How We Use It, 1994, 39 ff.; siehe auch James Crawford, Brownlie’s Principles of International Law, 8. Aufl. 2012, 115 f.; Malcom N. Shaw, International Law, 7. Aufl. 2014, 142 f. 64 Vgl. z.B. Anne Peters, Humanity as the A and Ω of Sovereignty, European Journal of International Law 20 (2009), 513. 60 61
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taillierte Regelungen des Menschenrechtsschutzes eine andere Rechtsquelle als die im Konsens der Staaten wurzelnden völkerrechtlichen Verträge zu finden. Unbestritten ist dort der Menschenrechtsschutz am stärksten ausgeprägt, wo das entsprechende völkerrechtliche Vertragsregime Individuen die meisten Rechte und den besten Rechtsschutz verleiht (Beispiel: EMRK einerseits im Vergleich zum nur rudimentären regionalen Menschenrechtsschutz in Asien, wo kein der EMRK entsprechendes Vertragswerk existiert, andererseits). Hier ist mithin das oben zur (Grund)Rechtsfähigkeit natürlicher Personen im nationalen Recht Gesagte besonders augenfällig. Die Legitimitätsgrundlage von Menschenrechtsverträgen ist unbestritten (jedenfalls auch) ethisch-moralischer Natur. Aber das Ausmaß der konkreten Rechte und damit das Ausmaß der (Völker)Rechtsfähigkeit des Menschen hängt wesentlich davon ab, welche Rechte ihm durch das positive Völkerrecht verliehen werden. Das mensch liche Individuum65 als Gegenstand des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes ist ebenso ein juristisches Konstrukt wie es die Staaten oder internationale Organisationen sind. Auf der anderen Seite wäre es gerade im Völkerrecht besonders abwegig, die Realität der Staaten oder auch der von ihnen geschaffenen internationalen Organisationen als soziale Gebilde als eine bloße „Fiktion“ zu negieren – was allerdings nichts daran ändert, dass es erst die Völkerrechtsordnung selbst ist, welche ihnen Rechte verleiht und Pflichten auferlegt. Von besonderem vergleichenden Interesse ist das internationale Investitionsrecht, das in Investitionsabkommen bzw. Investitionsschutzkapiteln zu regionalen Wirtschaftsabkommen materielle Rechtspositionen sowie prozessuale Klagerechte zugunsten von Investoren auf völkerrechtlicher Ebene verankert. Obwohl ein Investor auch eine natürliche Person sein kann,66 sind es in der Praxis regelmäßig juristische Personen des nationalen Privatrechts einer Vertragspartei eines Investitionsabkommens, die ein Investor-Staat-Verfahren gegen einen anderen Vertragsstaat einleiten.67 Es ist im Vergleich zum völkerrechtlichen Fremdenrecht, das keine eigenen Rechtspositionen der betroffenen natürlichen oder juristischen Personen kennt,68 eine geradezu revolutionäre Entwicklung, dass die völkerrechtlichen Investitionsabkommen (in der Regel) juristischen Personen des nationalen Rechts eines Staates das Recht einräumen, bestimmte in den Abkommen im Einzelnen niedergelegte völkerrechtliche Rechte auf internationaler Ebene vor einem internationalen Schiedstribunal ge65 Ich will hier nicht vernachlässigen, dass beispielsweise im Rahmen der EMRK auch juristische Personen teilweise in den Genuss des menschenrechtlichen Schutzes kommen können, beispielsweise im Zusammenhang mit Art. 8 EMRK (Schutz der Geschäftsräume), vgl. z.B. EGMR, Entsch. v. 20.6.1999, Nr. 29197/95, Bernard et al. v. Luxembourg. 66 Vgl. z.B. Ronald S. Lauder v. The Czech Republic, UNCITRAL, Schiedsspruch v. 3.9.2003; Vladimir Berschader and Moïse Berschader v. The Russian Federation, SCC Case No. 080/2004, Schiedsspruch vom 21.4.2006. 67 Vgl. Dolzer/Schreuer, Principles of International Investment Law, 2. Aufl. 2012, 44. 68 Vgl. insoweit paradigmatisch StIGH, The Mavrommatis Palestine Concessions, Urt. v. 30. August 1924, P.C.I.J. Series A, No. 2, 6, 12: „It is an elementary principle of international law that a State is entitled to protect its subjects, when injured by acts contrary to international law committed by another State, from whom they have been unable to obtain satisfaction through the ordinary channels. By tak ing up the case of one of its subjects and by resorting to diplomatic action or international judicial proceedings on his behalf, a State is in reality asserting its own rights – its right to ensure, in the person of its subjects, respect for the rules of international law.“
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genüber einem anderen Staat einzuklagen, ohne dass zuvor der nationale Rechtsweg erschöpft oder häufig gar beschritten werden muss.69 Doch auch hier bleibt im Wesentlichen unbestritten,70 dass die materiellen und prozessualen Rechte der Investoren im jeweiligen zwischenstaatlichen völkerrechtlichen Investitionsabkommen wurzeln. Die (Völker)Rechtsfähigkeit der Investoren reicht nur so weit wie ihnen das jeweilige zwischenstaatliche Abkommen konkrete Rechtspositionen einräumt. Nur in diesem Umfang sind sie „Teilnehmer“ dieses Völkerrechtsregimes. Besteht insoweit eine eindeutige Parallele zur (Völker)Rechtsfähigkeit von Individuen im Rahmen des Menschenrechtsschutzes, so ist doch der Grund, warum auf der einen Seite Individuen im Rahmen des Menschenrechtsschutzes und auf der anderen Seite Investoren im Rahmen des Investorenschutzes Rechte verliehen werden, ein gänzlich verschiedener. Den völkerrechtlichen Investitionsabkommen geht es nicht primär – und zumeist auch nicht einmal sekundär – um den Schutz von Investoren aus ethisch-moralischen Motiven. Vielmehr ist erklärtes Ziel der Investitionsabkommen die Steigerung wirtschaftlicher Prosperität, indem einerseits im Heimatstaat domizilierte Unternehmen durch lukrative Investitionen ihren Profit steigern und somit zur wirtschaftlichen Entwicklung im Heimatstaat beitragen sollen und indem andererseits die wirtschaftliche Entwicklung im Gaststaat durch die Investition gefördert werden soll.71 Wiederum ist der Grund der (Völker)Rechtsfähigkeit der im Wesentlichen aus juristischen Personen des Privatrechts bestehenden Investoren rational-ökonomischer und nicht ethisch-moralischer Natur.72
III. Auf die Füße. Funktionsbezogenes Verständnis des Art. 19 Abs. 3 GG 1. Rekonstruktion Die im zweiten Abschnitt dieses Beitrags vorgenommenen Dekonstruktionen des Wesens der Grundrechte, des Wesens der juristischen Person des Privatrechts und des Wesens der Rechtsfähigkeit lassen sich somit in einem neuen Verständnis des Art. 19 Abs. 3 GG rekonstruieren, das ich im Gegensatz zum ausschließlich individualbezogenen Verständnis des BVerfG und weiten Teilen der deutschen Literatur als funktionsbezogenes Verständnis bezeichnen möchte. Die Erörterungen zum Wesen der juristischen Person des Privatrechts sowie die rechtsvergleichenden Betrachtungen 69 Zur historischen Entwicklung siehe Kulick, Vier Geschichten des internationalen Investitionsrechts, SchiedsVZ 2010, 257. 70 Zu den verschiedenen Rechtspositionen im Einzelnen siehe Parlett, The Individual in the International Legal System, 2011, 109–119. 71 Vgl. nur den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Argentinischen Repu blik über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen vom 9.4.1991, Präambel, 3. Absatz: „[…] in der Erkenntnis, daß eine Förderung und ein vertraglicher Schutz dieser Kapitalanlagen geeignet sind, die private wirtschaftliche Initiative zu beleben und den Wohlstand beider Völker zu mehren […].“ 72 Siehe dazu auch Paparinskis, Analogies and Other Regimes of International Law, in: Douglas/ Pauwelyn/Viñuales, The Foundations of International Investment Law: Bringing Theory into Practice, 2014, 73, 80 f.
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zum Umgang des Völkerrechts mit der Rechtsfähigkeit natürlicher und juristischer Personen haben meines Erachtens Folgendes ergeben: Erstens ist Rechtsfähigkeit ein juristisches Konstrukt. Natürliche wie juristische Personen verfügen über sie nur in dem Maße, in dem sie ihnen durch die Rechtsordnung zugeschrieben wird.73 Mithin führt es zweitens nicht weiter, das Wesen der juristischen Person ausschließlich oder auch wesentlich in Anlehnung an dasjenige der natürlichen Person verstehen zu wollen. Denn auch wenn juristische Personen letztlich nur durch natürliche Personen handeln und einen Willen bilden können, stellen sie doch ebenso wie diese soziale Realitäten dar und sind als solche eben mehr als nur die Ansammlung einzelner natürlicher Personen. Ein Presseverlag, ein religiöser eingetragener Verein oder eine Gewerkschaft sind soziale Realität als solche, d.h. selbständig gegenüber den hinter ihnen stehenden natürlichen Personen, und erhalten selbständige rechtliche Bedeutung, unabhängig von der Rechtsfähigkeit natürlicher Personen, durch ihren jeweils rechtlich relevanten Gründungsakt. Was natürliche und juristische Personen voneinander unterscheidet, ist somit drittens der Grund, aus dem die Rechtsordnung ihnen Rechtsfähigkeit verleiht – die Legitimität ihrer Rechtsfähigkeit.74 Dieser Grund ist – im Völkerrecht wie auch im nationalen Recht – im Wesentlichen ein ethisch-moralischer hinsichtlich natürlicher Personen, ein rational-ökonomischer hinsichtlich juristischer Personen. Selbstverständlich existieren auch ethisch-moralische Gründe für die Rechtsfähigkeit juristischer Personen, beispielsweise auf Gerechtigkeitserwägungen basierende Gleichbehandlung. Umgekehrt kann man auch rational-ökonomische Motive für die Rechtsfähigkeit natürlicher Personen anführen, so zum Beispiel Freiheit und Gleichheit aller Menschen als Mittel zur Förderung einer freien Marktwirtschaft und weitreichender ökonomischer Prosperität. Entscheidend ist allerdings, dass die ethisch-moralischen Gründe bei natürlichen Personen wesentlich überwiegen, die rational-ökonomischen Gründe dagegen bei juristischen Personen. Nun bedeutet Rechtsfähigkeit selbstverständlich nicht automatisch Grundrechtsfähigkeit. Wäre dem so, wäre es überflüssig gewesen, Art. 19 Abs. 3 GG zu normieren. Das „Wesen“, auf das Art. 19 Abs. 3 GG abstellt, ist nicht das Wesen der juristischen Person, sondern das Wesen der Grundrechte. Allerdings bedeutet dies auf der anderen Seite nicht unweigerlich, dass das Wesen der juristischen Person (des Privatrechts) irrelevant für das Verständnis von Art. 19 Abs. 3 GG ist – und dass mithin die Erwägungen zur Rechtsfähigkeit keine Rolle bei der Bestimmung der Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen spielen. Die Zuordnung von Recht und Rechtsträger erfordert Klarheit darüber, wie dieser Rechtsträger beschaffen ist, was ihn charakterisiert – nur auf diese Weise kann der Umfang seiner Rechte in juristische Form gebracht werden. Entsprechend erfordert die Frage nach der Anwendbarkeit der Grundrechte auf das juristische Konstrukt „juristische Person“ notwendiger Weise die Erörterung ihres Wesens. Das Gleiche gilt auch für die Anwendbarkeit der Grundrechte auf das juristische Konstrukt „natürliche Person“. Es ist keine naturrechtliche Gegebenheit, sondern vielmehr die positiv-rechtliche Entscheidung des Grundgesetzgebers, von der grundsätzlich vollen Grundrechtsfähigkeit natürli-
Siehe oben II.2. Vgl. oben II.3.
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cher Personen auszugehen75 – auf der Grundlage ethisch-moralischer Erwägungen, aber mit rechtlicher Bedeutung eben erst durch ihre Positivierung. Aber auch hier nimmt das Grundgesetz die erwähnten Differenzierungen vor: manche Grundrechte stehen nicht allen natürlichen Personen, sondern nur Deutschen im Sinne des Grundgesetzes zu. Mithin stehen Wesen der Grundrechte und Wesen der juristischen Konstruktion (natürliche oder juristische) Person in enger Beziehung zueinander.76 Dem Wesen des Individuums korrespondiert zu aller erst die subjektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte: Freiheit und Gleichheit des Einzelnen gegenüber dem Staat. Das Wesen der Grundrechte erschöpft sich darin, wie gezeigt,77 indes nicht.78 Wenn dies bereits für die Individuen selbst gilt, muss dies erst Recht für vom Individuum rechtlich verselbständigte Einheiten gelten, die als soziale Realitäten einerseits Interessen einer Mehr- oder Vielzahl von Individuen bündeln und andererseits Interessen der Gesellschaft als solche fördern. Hier besteht die Verbindungslinie zur objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension als soziale Steuerungsfunktion: das positivierte Wertsystem der Grundrechte gestaltet die Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Juristische Personen als Entitäten mit rational-ökonomischem Existenzgrund müssen deshalb Grundrechtsschutz genießen, solange sie dieser Funktion genuin dienen: durch ihre rechtlich verselbständigte Existenz zur Förderung der Interessen der einzelnen Individuen und/oder von gesellschaftlichen Zielen beizutragen. Weist der Grundrechtsschutz der juristischen Konstruktionen natürliche und juristische Person somit zwar jeweils beide Dimensionen des Wesens der Grundrechte – subjektiv-rechtliche und objektiv-rechtliche Dimension – auf, so unterscheidet er sich jeweils darin, dass zum einen der subjektiv-rechtlichen Seite (natürliche Person) und zum anderen der objektiv-rechtlichen Seite (juristische Person) die größere Bedeutung zukommt. Ein individualbezogenes Verständnis der Grundrechte ist somit nur der Grundrechtsfähigkeit des juristischen Konstrukts der natürlichen Person adäquat, jedoch als ausschließliches Kriterium ungeeignet, um das Wesen der Grundrechte in Bezug auf das juristische Konstrukt der juristischen Person und dementsprechend ihrer Grundrechtsfähigkeit nach Art. 19 Abs. 3 GG zu bestimmen. Stattdessen ist ein funktionsbezogenes Verständnis zugrunde zu legen, das zwar die Förderung bestimmter Interessen konkreter Individuen in den Funktionsbegriff mit einbezieht, sich jedoch 75 Ähnlich bereits v. Mutius, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 19 Abs. 3 GG, 34. Ergänzungslieferung 1975, Rdnr. 18. 76 Dies bedeutet indes nicht immer, dass der Unternehmenszweck dann eine grundrechtliche Betätigung ausschließt, wenn dieser primär auf andere Ziele gerichtet ist, vgl. BVerfGE 95, 28 (34 f.) [1996] (auf wirtschaftliche Ziele in der Chemiebranche gerichteter Unternehmenszweck schließt nicht die Berufung des Unternehmens auf die Pressefreiheit ein, wenn dieses eine Werkszeitung herausgibt und bestimmte in der Werkszeitung getätigte Äußerungen gerichtlicher Überprüfung unterliegen). 77 Siehe oben II.1. 78 Vgl. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. erweiterte Aufl. 1983, 70–72; speziell in Bezug auf Art. 19 Abs. 3 GG siehe auch v. Mutius, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 19 Abs. 3 GG, 34. Ergänzungslieferung 1975, Rdnr. 20, 36. Lücke, Die Drittwirkung der Grundrechte an Hand des Art. 19 Abs. 3 GG, JZ 1999, 377, 380 f. betont ebenfalls die objektiv-rechtliche Dimension im Rahmen des Art. 19 Abs. 3 GG, will indes aus Art. 19 Abs. 3 GG insgesamt die „Drittwirkung“ der Grundrechte (als Teilaspekt der objektiv-rechtlichen Dimension) rekonstruieren.
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nicht darin erschöpft, sondern darüber hinaus auch die Förderung überindividueller, also gesellschaftlicher Ziele umfasst.
2. Aspekte des funktionsbezogenen Verständnisses hinsichtlich spezifischer Grundrechte Ist mit dem funktionsbezogenen Verständnis mithin zunächst einmal das Wesen der Grundrechte in Bezug auf die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen (des Privatrechts) allgemein charakterisiert, muss es nunmehr um die zentralen Aspekte des funktionsbezogenen Verständnisses von Art. 19 Abs. 3 GG hinsichtlich spezifischer Grundrechte gehen, allerdings ohne dass ich insoweit Anspruch auf Vollständigkeit erhebe. Bei dieser Betrachtung muss die überindividuelle Funktion im Vordergrund stehen, denn diese bedarf besonderer Konturierung, um nicht ein ähnliches Nicht-Kriterium darzustellen wie die Förderung der Interessen des Individuums über den Nachweis der Förderung bestimmter Interessen konkreter Individuen hinaus.79 Dagegen halte ich die Funktion der Förderung bestimmter Interessen konkreter Individuen für bestimmt genug, um damit die Lösung konkreter Fallkonstellationen vornehmen zu können, sodass ich auf eine weitere Konturierung an dieser Stelle verzichten werde. Da der Grund der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen gemäß Art. 19 Abs. 3 GG, wie oben gezeigt, im Wesentlichen rational-ökonomischer Natur ist, stehen die ökonomisch-sozialen Funktionen hier im Vordergrund. Am deutlichsten sichtbar ist dies hinsichtlich der Art. 12 Abs. 1 GG (i.S.d. unternehmerischen Betätigungsfreiheit) und Art. 14 Abs. 1 GG. Während man bei kleinen Personengesellschaften noch durchaus davon sprechen kann, dass diese existieren, um eine unmittelbare unternehmerische Betätigung der Gesellschafter als Verbund zu ermöglichen (z.B. bei einem als oHG organisierten Architekturbüro, bei dem die fünf Gesellschafter zugleich die fünf für die Gesellschaft tätigen Architekten darstellen), ist die unternehmerische Tätigkeit eines Einzelaktionärs einer an der Börse gehandelten Aktiengesellschaft sehr gering. Vielmehr übt die Aktiengesellschaft geschäftliche Tätigkeit nicht vorwiegend zur unternehmerischen Selbstverwirklichung jedes einzelnen Anteilseigners, sondern in ihrem eigenen Interesse aus, d.h. im Interesse der rechtlich verselbständigten Entität, die sie darstellt.80 Diese rechtliche Verselbständigung – die von Gesellschaftsform zu Gesellschaftsform in ihren jeweiligen Aspekten variieren kann – existiert bei einer Kapitalgesellschaft wie insbesondere einer Aktiengesellschaft zunächst zu dem Zweck, durch größtmögliche Kapitalakkumulation bei gleichzeitiger Reduktion des Haftungsrisikos der Anteilseigner den jeweiligen Unternehmenszweck möglichst optimal zu realisieren.81 Zugleich hat die rechtliche Verselbständigung derartiger wirtschaftlich tätiger Entitäten jedoch die Funktion, den gesellschaftlichen Wohlstand dadurch zu fördern, dass Arbeitsplätze geschaffen, Siehe oben I.2. Zum selbständigen Unternehmensinteresse siehe Werner Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. I/2 – Die juristische Person, 1983, 57 f. 81 Vgl. insoweit Friedrich Kübler/Heinz-Dieter Assmann, Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2006, 164 ff. 79
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Umsatz und Profit erzielt und teilweise reinvestiert, Steuereinnahmen erhöht und Produkte und Dienstleistungen hergestellt bzw. angeboten werden, etc. Das Maß an unternehmerischer Tätigkeit und gesellschaftlichem Wohlstand, das wir beispielsweise in der Bundesrepublik kennen, wäre undenkbar ohne die Existenz des juristischen Konstrukts juristische Person, also in einer Welt, in der lediglich natürliche Personen am Rechts- und Wirtschaftsleben teilnähmen. Ähnlich verhält es sich mit der Eigentumsfreiheit. Das eigenständige Recht einer juristischen Person an ihren Immobilien, Produktionsstätten, etc. als Realisierung des Eigentumsrechts ihrer Anteilseigner o.ä. zu konstruieren, ignorierte gerade die rechtliche Eigenständigkeit der juristischen Person. Sie genießt die Rechte aus Art. 14 Abs. 1 GG als eigene Rechte und im eigenen Interesse. Der rational-ökonomische Grund für diese rechtliche Verselbständigung der Eigentumspositionen ist wiederum, dass ein hohes Maß gesellschaftlichen Wohlstands diese eigene Berechtigung der juristischen Person zur Wahrnehmung ihrer eigenen Eigentumsinteressen erfordert. Doch die Reichweite der ökonomisch-sozialen Funktion geht über die sogenannten Wirtschaftsgrundrechte weit hinaus. So lässt sich beispielsweise die apodiktische Bejahung der wesensmäßigen Anwendbarkeit des Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 GG) auf einen in der Rechtsform einer GmbH organisierten Zeitungsverlag durch das BVerfG82 nach dem funktionsorientierten Verständnis problemlos und widerspruchsfrei erklären: Zur Wahrnehmung seines Unternehmenszwecks (verlegerische Tätigkeit), als auch um eine freie Presse und ein größtmögliches Meinungsspektrum gewährleisten zu können, muss ein Zeitungsverlag sich als juristische Person auch auf den Schutz seiner Kommunikation im Rahmen seiner unternehmerischen Tätigkeit berufen können. Will man hier einen Individualbezug konstruieren, wird man sich wie erwähnt83 schwer tun. Ähnliche Erwägungen lassen sich auch hinsichtlich der Berechtigung eines Musikunternehmens anführen, das sich auf die Kunstfreiheit beruft: es nimmt eine „Mittlerfunktion“ zwischen Künstler und Publikum ein und fördert somit die Verbreitung des Kunstwerks im Wirkbereich (hier: eines Musikstücks).84 Überdies sind die justiziellen Garantien der Art. 19 Abs. 4, 101 Abs. 1 S. 2, Art. 103 Abs. 1 GG zentral für die effektive Realisierung der eigenen Rechte der rechtlich verselbständigten Entität juristische Person, ohne die ihr eigenständiger Beitrag zum Wirtschaftsleben nicht möglich wäre. Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) flankiert all diese Rechte, indem er wiederum zum Zwecke ihrer effektiven Teilnahme am Wirtschaftsleben die grundsätzlich gleiche Behandlung der juristischen Person gegenüber anderen Wirtschaftsteilnehmern gewährleistet.85
Vgl. BVerfGE 100, 313 (356) [1998]. Siehe oben I.2. 84 Vgl. BVerfG, 1 BvR 1585/13, Urt. v. 31.5.2016, Rn. 59. Dies ist überdies ein Beispiel, wie sich Funktionsbezug und Individualbezug im Einzelfall durchaus überlappen können: Durch die Mittlerfunktion der juristischen Person wird auch das Individualinteresse des Künstlers an der Verbreitung seines Kunstwerks gegenüber dem Publikum unmittelbar gefördert. 85 Bereits eine der ersten Entscheidungen des BVerfG zu Art. 19 Abs. 3 GG geht ohne weitere Diskussion von der wesensmäßigen Anwendbarkeit von Art. 3 Abs. 1 GG auf juristische Personen aus, vgl. BVerfGE 3, 383 (391) [1954]. 82
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3. Das „Wesen der Grundrechte“ im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG Was macht somit das „Wesen der Grundrechte“ im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG im Einzelnen aus? Prämisse muss wie erläutert ein funktionsbezogenes Verständnis der Grundrechte aus dem rational-ökonomischen Grund der Teilnahme der juristischen Person am Rechtsverkehr sein.86 Ferner ist der Hinweis auf ihr Wesen sowohl allgemein als Bezugnahme auf die Dimensionen der Grundrechte – d.h. subjektiv- und objektivrechtliche Dimension – als auch dahingehend zu verstehen, dass im Wege einer funktionsbezogenen Betrachtung die Anwendbarkeit eines speziellen Grundrechts auf die jeweils als Grundrechtsträger in Frage kommende juristische Person im konkreten Einzelfall zu untersuchen ist. Wie ebenfalls zuvor erörtert,87 erfordert dies, das Wesen der juristischen Person selbst in Betracht zu nehmen. Die spezifische Anwendbarkeit eines spezifischen Grundrechts auf eine spezifische juristische Person ist nicht bestimmbar, sofern man nicht den Blick auch auf letztere richtet. Welches sind somit maßgebliche Faktoren, um die wesensmäßige Anwendbarkeit eines Grundrechts im Einzelfall zu beurteilen? Weil nach den obigen Überlegungen die Grundrechtsberechtigung der jeweiligen juristischen Person die Funktion verfolgen muss, entweder (a) die unmittelbaren Interessen konkreter natürlicher Personen und/oder (b) ökonomisch-soziale überindividuelle Zwecke bezüglich der fraglichen Grundrechtsbetätigung zu fördern, sind zunächst Zweck und Organisationsstruktur der juristischen Person in den Blick zu nehmen. Bei der juristischen Person des Privatrechts erfährt man den wesentlichen Unternehmenszweck aus der Unternehmenssatzung.88 Bei erwerbswirtschaftlich tätigen privatrechtlichen juristischen Personen stehen somit zunächst mit der wirtschaftlichen Betätigung im Zusammenhang stehende Funktionen im Vordergrund. So können beispielsweise die individuellen Interessen der Anteilseigner an unternehmerischer Betätigung gefördert werden, sofern der Nachweis unmittelbarer Förderung der Interessen konkreter natürlicher Personen gelingt. Die Grundrechtsbetätigung zu überindividuellen, d.h. ökonomisch-sozialen Zwecken, wird bei satzungsmäßiger erwerbswirtschaftlicher Betätigung regelmäßig zu vermuten sein.89 Doch auch bei primärem wirtschaftlichem Unternehmenszweck lassen sich aus der spezifischen unternehmerischen Tätigkeit weitere Rückschlüsse auf weitere potentielle Grundrechtsberechtigungen jenseits der Art. 12 und 14 GG ziehen. So habe ich bereits die Presse- und die Kunstfreiheit bei Zeitungsverlagen und Musikunternehmen erwähnt.90 Darüber hinaus können neben dem satzungsmäßigen Hauptzweck auch Nebenzwecke eine Rolle spielen. Ein Chemieunternehmen kann sich entsprechend auf die Pressefreiheit berufen, wenn es eine Werkszeitung betreibt.91
Siehe oben III.1. Siehe oben III.1. 88 Siehe nur Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, 75 ff. Zum Begriff des Unternehmens interesses allgemein siehe grundlegend Werner Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. I/2 – Die juristische Person, 1983, 56–63. 89 Zur Herleitung siehe oben III.2. 90 Siehe oben III.2. 91 Vgl. 95, 28 (34 f.) [1996]. 86 87
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Bei nichtwirtschaftlicher Betätigung der juristischen Person ist der Satzungszweck besonders zentral, um bestimmen zu können, ob sie sich auf eine spezifische Grundrechtsausübung stützen kann. So hat das BVerfG entsprechend festgestellt, dass ein Verein sich nur auf die Freiheit unternehmerischer Betätigung im Sinne von Art. 12 Abs. 1 GG berufen kann, wenn die erwerbswirtschaftliche Betätigung zu einem seiner satzungsmäßigen Zwecke zählt.92 Eine in der Form eines nichtwirtschaftlichen Vereins organisierte Religionsgemeinschaft kann sich auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen,93 ein Umweltschutzverein auf die Meinungsfreiheit im Zusammenhang mit Äußerungen zum Umweltschutz, eine Gewerkschaft auf die Versammlungsfreiheit als Veranstalter von Kundgebungen zum Arbeitnehmerschutz.94 Ein weiterer relevanter Faktor ist die Organisationsstruktur der juristischen Person. Je stärker diese rechtlich verselbständigt ist, desto schwerer wird der Nachweis der unmittelbaren Förderung der Interessen konkreter natürlicher Personen als ein möglicher oben genannter Grund für die Grundrechtsberechtigung der juristischen Person fallen. Bei einer Personengesellschaft, insbesondere einer aus nur wenigen Gesellschaftern bestehenden BGB-Außengesellschaft oder oHG,95 wird dies häufiger der Fall sein als bei einer Kapitalgesellschaft mit einer großen Zahl gegebenenfalls im Einzelnen häufig wechselnder Anteilseigner und sehr heterogenen Anteilseignerstruktur, wie beispielsweise derjenigen einer Aktiengesellschaft. Entsprechend kann in diesem Zusammenhang auch die Größe der juristischen Person, d.h. mit Blick u.a. auf Umsatz, Mitarbeiter und Anteilseigner, ein Faktor sein. Ferner muss eine Betrachtung des spezifischen Wesens der einzelnen Grundrechte der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen dort eine Grenze setzen, wo das fragliche Grundrecht spezifisch und ausschließlich den Menschen als physischen Organismus oder als ethisch-moralisches Wesen schützen soll. Denn bei diesen Grundrechten, namentlich insbesondere Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, steht gerade der ethisch-moralische und nicht der ökonomisch-soziale Grund des Grundrechtsschutzes im Vordergrund.96 Das auf rational-ökonomischen Erwägungen beruhende funktionsbezogene Verständnis des Art. 19 Abs. 3 GG muss mithin bei Grundrechten, die Grundrechtsschutz ausschließlich dem Menschen selbst als physische bzw. ethisch-moralische Person zuweist, die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen notwendiger Weise ablehnen. Schließlich möchte ich noch kurz auf das Verhältnis zu solchen juristischen Personen eingehen, die sich überwiegend oder ausschließlich in öffentlicher Hand befinden. Hier stellt sich selbstverständlich die Frage, in wieweit derartige juristische Personen Grundrechtsschutz genießen können.97 Denn wenn eine Organisation Teil des BVerfGE 97, 228 (252 f.) [1998]. Sogar bereits in der Gründungsphase des Vereins, vgl. BVerfGE 83, 341 (351 f.) [1991]. 94 Vgl. BVerfGE 122, 342 (355) [2009]. 95 Ich verweise auf das oben genannte Beispiel eines Architekturbüros, siehe III.2. 96 Vgl. z.B. BVerfG(K), 1 BvR 2492/08, Entsch. v. 21.3.2012, Rn. 13 (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG setze „zwingend“ voraus, dass der Grundrechtsträger eine natürliche Person sei). 97 Aus der umfangreichen Literatur siehe nur Maser, Die Geltung der Grundrechte für juristische Personen und teilrechtsfähige Verbände, 1964, 89–175; Derksen, Zur Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen, 1977, 63–127; Bethge, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art. 19 Abs. 3 Grundgesetz, 1985, 61–131; nur Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 199 Rdnr. 4 0–65; Goldhammer, Grundrechtsberechtigung und -verpflichtung gemischt92 93
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Staates ist, kann sie nicht zugleich Rechte gegenüber dem Staat haben. In Rechtsprechung und Literatur wird zur Abgrenzung deshalb häufig zum einen darauf abgestellt, ob der Staat die juristische Person (wesentlich) kontrolliert 98 sowie ob sie im Wesentlichen Aufgaben der Daseinsvorsorge übernimmt.99 Mit Blick auf meine Erwägungen zur funktionsbezogenen Sichtweise bin ich der Auffassung, dass das erste Kriterium irrelevant sein muss und das zweite Kriterium den wesentlichen Punkt der Grundrechtsbedürftigkeit nicht trifft. Das funktionsbezogene Verständnis von Art. 19 Abs. 3 GG scheint in der Abgrenzung zu dem Staat nahe stehenden und daher nicht grundrechtsschutzbedürftigen Entitäten hinsichtlich der überindividuellen Funktionen der Grundrechte Problemen ausgesetzt. Wo ist die Grenze zwischen der Grundrechtsausübung zu ökonomisch-sozialen Zwecken einerseits und der Tätigkeit einer juristischen Person des öffentlichen Rechts oder des Privatrechts unter staatlicher Kontrolle zur Daseinsvorsorge andererseits? Meines Erachtens liegt der zentrale Unterschied darin, dass einmal überindividuelle Zwecke durch privates Handeln im Eigeninteresse, auf der anderen Seite das Gemeinwohl durch ausschließliches oder primäres Handeln im öffentlichen Interesse gefördert werden. Eine grundrechtlich schützenswerte juristische Person handelt im Rahmen ihres Unternehmens- bzw. satzungsmäßigen Zwecks zunächst unmittelbar im Eigeninteresse, d.h. im Interesse der juristischen Person selbst und/oder ihrer Anteilseigner/Mitglieder, etc. Erst in einem zweiten Schritt werden überindividuelle Interessen gefördert. Im Gegensatz dazu ist die Förderung des Gemeinwohls primärer Zweck der Betätigung eines zur Daseinsvorsorge tätigen Unternehmens. Maßgebliches Abgrenzungskriterium muss daher sein, ob die fraglichen juristischen Personen in vergleichbarer Weise wie andere Entitäten ohne staatliche Beteiligung ihre jeweiligen Zwecke verfolgen, also zum Beispiel ob ein Unternehmen erwerbswirtschaftliche Ziele im Interesse des Unternehmens selbst oder seiner Anteilseigner in vergleichbarer Weise wie andere Marktteilnehmer verfolgt. Steht dagegen die erwerbswirtschaftliche Betätigung nach dem Unternehmenszweck oder durch faktische Eingriffe der staatlichen Mehrheitseigner unter dem Vorbehalt nicht-wirtschaftlicher Aufgaben, wie Aufgaben der Daseinsvorsorge (z.B. Wasserversorgung), so ist die juristische Person nicht grundrechtsberechtigt. Auch hier ist selbstverständlich eine spezifische Prüfung hinsichtlich der jeweils in Frage kommenden einzelnen Grundrechte im konkreten Fall erforderlich.
wirtschaftlicher Unternehmen, JuS 2014, 891; De Wall, in: Friauf/Höfling, BKGG, 46. Ergänzungslieferung VI/2015, Art. 19 Abs. 3 Rdnr. 80–127; Peter M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Abs. 3 Rdnr. 276–293. 98 Vgl. z.B. BVerfGE 128, 226 (246 f.) [2011]. 99 So z.B. BVerfGE 45, 63 (78 f.) [1977]: „Die Ausgangsverfahren der Verfassungsbeschwerden einschließlich der angefochtenen gerichtlichen Entscheidungen betreffen die Beschwerdeführer zu 1 a), 2) und 3) ausschließlich in ihrer spezifischen Funktion als Träger öffentlicher Aufgaben. Gemeinden und Landkreise nehmen als Gebietskörperschaften des öffentlichen Rechts im Bereich der Daseinsvorsorge öffentliche Aufgaben wahr, zu denen auch die Einrichtung der Wasserversorgung gehört […]. Es kommt nicht darauf an, ob die Wasserversorgung in (verwaltungs-)privatrechtlichen oder öffentlich-rechtlichen Formen durchgeführt wird, sondern allein darauf, daß die daseinsfürsorgende Leistung ihrer Rechtsnatur nach in Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe erbracht wird.“ Vgl. auch E 68, 193 (207 f.) [1984].
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Dieses Kriterium hat den Vorteil, dass damit auch die vom BVerfG und der Mehrheit der Literatur zweifelsfrei bejahte100 Grundrechtsberechtigung von staatlichen Rundfunkanstalten, Hochschulen oder auch den christlichen Kirchen widerspruchslos zu begründen ist, obwohl sich diese als öffentlich-rechtliche juristische Personen vollständig in staatlicher Hand befinden. Staatliche Rundfunkanstalten bedienen sich der Pressefreiheit als Selbstzweck ebenso wie private Rundfunksender, staatliche Hochschulen der Wissenschaftsfreiheit ebenso wie private Universitäten und die christlichen Kirchen der Religionsfreiheit ebenso wie andere Religionsgemeinschaften.
4. Vorzüge und Konsequenzen des funktionsbezogenen Verständnisses Das von mir so bezeichnete und in den vorstehenden Abschnitten entworfene funktionsbezogene Verständnis des Art. 19 Abs. 3 GG hat gegenüber dem individualbezogenen Verständnis der vorherrschenden Ansicht viele Vorteile. Es vermeidet die terminologischen Inkonsistenzen, indem es auf die widersprüchlichen Begrifflichkeiten „Durchgriff “ und „personales Substrat“ verzichtet, es macht Art. 19 Abs. 3 GG nicht zur Makulatur oder stellt ihn auf den Kopf, es kann problemlos erklären, warum auch Stiftungen grundrechtsberechtigt sein können und es wird auch dem Phänomen der kollektiven Grundrechtsausübung, z.B. bezüglich der Religions- oder der Pressefreiheit gerecht.101 Zentral ist jedoch insbesondere, dass das funktionsbezogene Verständnis sowohl das Wesen der Grundrechte als auch das Wesen der juristischen Person, vor allem des Paradefalls des Art. 19 Abs. 3 GG, der juristischen Person des Privatrechts, ernst nimmt. Denn es basiert nicht nur auf der subjektiv-rechtlichen, sondern bezieht in seine Konzeption auch die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte mit ein.102 Es ignoriert aber vor allem nicht die rechtliche Verselbständigung und soziale Realität der juristischen Person, sondern wählt einen deren Wesen entsprechenden funktionalen Zugang zu ihrer Grundrechtsberechtigung auf der Grundlage ihrer rational-ökonomischen Existenzbegründung in der Rechtsordnung.103 Damit akzeptiert das funktionsbezogene Verständnis zugleich die rechtliche Konstruiertheit der (Grund)Rechtsträgerschaft, sei es derjenigen juristischer oder natürlicher Personen, und vermeidet somit zugleich den letztlichen Rückfall in naturrechtliche Begründungen, den das ausschließlich individualbezogene Verständnis konsequenterweise vollziehen müsste.104 Schließlich kann das funktionsbezogene – im Gegensatz zum individualbezogenen105 – Verständnis eine plausible Erklärung für die Beschränkung des Grundrechtsschutzes auf inländische juristische Personen lie-
100 Vgl. stellvertretend De Wall, in: Friauf/Höfling, BKGG, 46. Ergänzungslieferung VI/2015, Art. 19 Abs. 3 Rdnr. 89–109; BVerfGE 45, 63 (79) [1977]. 101 Vgl. zu den Schwächen des individualbezogenen Verständnisses hinsichtlich all dieser Punkte oben I.2. 102 Siehe oben II.1. 103 Siehe oben II.2.–3. und III.1. 104 Siehe oben II.2. 105 Siehe oben I.2.
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fern: einen „fremdenrechtlichen Aktionsspielraum“106 zu erhalten ist konsistent, wenn man den Grund der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen (auch) in der Funktion sieht, zur Realisierung überindividueller Interessen beizutragen. Denn im Rahmen des Grundgesetzes kann diese Funktion nur im Geltungsbereich desselben bzw. innerhalb der EU107 von Relevanz sein. Zwar mag man argumentieren, auch ausländische juristische Personen des Privatrechts seien in erheblichem Umfang im Geltungsbereich des Grundgesetzes tätig. Jedoch fällt dies deshalb nicht erheblich ins Gewicht, weil solche Gesellschaften in der Regel jedenfalls dann eine deutsche Tochtergesellschaft gründen werden, wenn ihre Tätigkeit in Deutschland nicht von untergeordneter Bedeutung ist. Über diese Vorzüge hinaus wirkt sich das funktionsbezogene Verständnis jenseits der Grundrechtsberechtigung auch auf der Ebene der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung aus. Je größer die ökonomisch-soziale Bedeutung einer einzelnen juristischen Person (des Privatrechts) im Einzelnen ist,108 desto mehr mag dies zwar einerseits ihre Grundrechtsberechtigung begründen, andererseits kann dies aber eine verstärkte staatliche Kontrolle und gegebenenfalls auch Regulierung dieser juristischen Person rechtfertigen.109 Dies sind indes Fragen der Horizontalwirkung der Grundrechte, auf die ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen kann.110 Jedenfalls halte ich diese Konsequenz des funktionsbezogenen Verständnisses für ein adäquates Gegenstück zu einer potentiell weitreichenden Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des Privatrechts.
IV. Sybillinisches Karlsruhe: Ein zweiter Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Nach diesen Erörterungen und Schlussfolgerungen lohnt sich ein erneuter Blick auf die Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 19 Abs. 3 GG. Dabei ergibt sich ein deutlich Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, 1135 f. Vgl. einerseits die ratio des Art. 23 GG, andererseits BVerfGE 129, 78 (94 ff.) [2011] und nunmehr BVerfG, 1 BvR 2821/11, 312/12, 1456/12, Urt. v. 6.12.2016, Rdnr. 196–201. 108 Vgl. zu dieser Problematik auch Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 199 Rdnr. 121–123. 109 Ähnlich auch z.B. BVerfGE 128, 226 (248 f.) [2011]: „Während [die unmittelbare Grundrechtsbindung öffentlich beherrschter Unternehmen] auf einer prinzipiellen Rechenschaftspflicht gegenüber dem Bürger beruht, dient [die in der Regel nur mittelbare Grundrechtsbindung von Privatunternehmen] dem Ausgleich bürgerlicher Freiheitssphären untereinander und ist damit von vornherein relativ. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Wirkung der Grundrechte und damit die – sei es mittelbare, sei es unmittelbare – Inpflichtnahme Privater in jedem Fall weniger weit reicht. Je nach Gewährleistungsinhalt und Fallgestaltung kann die mittelbare Grundrechtsbindung Privater einer Grundrechtsbindung des Staates vielmehr nahe oder auch gleich kommen. Für den Schutz der Kommunikation kommt das insbesondere dann in Betracht, wenn private Unternehmen die Bereitstellung schon der Rahmenbedingungen öffentlicher Kommunikation selbst übernehmen und damit in Funktionen eintreten, die – wie die Sicherstellung der Post- und Telekommunikationsdienstleistungen – früher dem Staat als Aufgabe der Daseinsvorsorge zugewiesen waren.“ (meine Hervorhebung). 110 Siehe aber zu jüngeren Entwicklungen in der Rechtsprechung des BVerfG Kulick, „Drittwirkung“ als verfassungskonforme Auslegung – Zur neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 2016, 2236–2241. 106 107
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uneinheitlicheres Bild als dies zunächst den Anschein hat.111 Hier sticht zunächst die Entscheidung zum Gesamtdeutschen Block, eine der ersten Entscheidungen des Gerichts zu Art. 19 Abs. 3 GG, ins Auge. Deutlich bevor sich das BVerfG mit seiner „Durchgriffs“-Rechtsprechung positionierte, betonte es in dieser Entscheidung aus dem Jahre 1954: „Aus Art. 19 Abs. 3 GG darf nicht geschlossen werden, daß nur Personengruppen, die allgemeine Rechtsfähigkeit besitzen, Träger von Grundrechten sein können, und daß deshalb lediglich sie zur Verfassungsbeschwerde befugt sind. Art. 19 Abs. 3 GG soll vielmehr klarstellen, daß nicht nur – wie es dem Ursprung der Grundrechte an sich entspräche – natürliche Personen grundrechtsfähig sind, sondern sogar juristische Personen, obwohl sie nicht notwendig Vereinigungen von natürlichen Personen sind.“112
Das Gericht unterstreicht hier mithin die rechtliche Verselbständigung und Unabhängigkeit der juristischen Person von der hinter ihr stehenden natürlichen Personen. Der Individualbezug, dem diese Passage eher ablehnend gegenüber zu stehen scheint, findet sich indes in Ansätzen fünf Jahre später im Urteil zum Großen Erftverband: „Die Beschwerdeführer können sich auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen, obwohl sie keine natürlichen Personen sind. Das Grundrecht gewährleistet auch die allgemeine Handlungsfreiheit auf wirtschaftlichem Gebiet […]. Sie steht auch Handelsgesellschaften zu […], denn diese sind gerade dazu geschaffen, einer durch wirtschaftliche Interessen verbundenen Personenmehrheit eine einheitliche Willensbildung und Willensverwirklichung zu ermöglichen.“113
Jedoch wird hier zum einen nicht die Ausschließlichkeit des Individualbezugs als ratio des Art. 19 Abs. 3 GG behauptet und zum anderen lässt sich diese Stelle auch als eine Betonung des über die einzelnen natürlichen Personen hinausgehenden kollektiven Willenselements als Alleinstellungsmerkmal der juristischen Person interpretieren. Das BVerfG bleibt somit in seinen ersten Jahren durchaus ambig hinsichtlich des dem Art. 19 Abs. 3 GG zu Grunde liegenden Verständnisses. Auf einen zweiten Blick löst indes auch die bereits mehrfach erwähnte Entscheidung vom 2. Mai 1967,114 die den Durchgriffsbegriff in die Rechtsprechung des Gerichts einführt, diese Ambiguität nicht auf. Denn im Fall ging es um die Grundrechtsberechtigung einer juristischen Person des öffentlichen Rechts. Liest man die oben zitierte Passage unter dem Blickwinkel, dass es dem BVerfG erkennbar darum gehen musste, zu verhindern, dass sich der Staat selbst auf die Grundrechte berufen kann, lediglich weil es ihm möglich ist, rechtlich verselbständigte Einheiten zu schaffen, erscheint auch die Durchgriffsthese in einem neuen Licht: „Obwohl Art. 19 Abs. 3 GG nur von ‚juristischen Personen‘ spricht, gebietet er keine Gleichstellung der juristischen Personen des öffentlichen und des privaten Rechts. Vielmehr führt ‚das Wesen der Grundrechte‘, auf das es nach dem Inhalt der Bestimmung entscheidend ankommt, von vornherein zu einer grundsätzlichen Unterscheidung dieser beiden Gruppen. Das Wertsystem der Grundrechte geht von der Würde und Freiheit des einzelnen Menschen als natürlicher Person aus. Die Grundrechte sollen in erster Linie die Freiheitssphäre des Einzelnen gegen Eingriffe der staat Vgl. oben I.1. BVerfGE 3, 383 (391) [1954] (meine Hervorhebung). 113 BVerfGE 10, 89 (99) [1959] (meine Hervorhebung). 114 BVerfGE 21, 362 [1967]; siehe auch oben I.1. und II.1. 111
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lichen Gewalt schützen und ihm insoweit zugleich die Voraussetzungen für eine freie aktive Mitwirkung und Mitgestaltung im Gemeinwesen sichern. Von dieser zentralen Vorstellung her ist auch Art. 19 Abs. 3 GG auszulegen und anzuwenden. Sie rechtfertigt eine Einbeziehung der juristischen Personen in den Schutzbereich der Grundrechte nur, wenn ihre Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung der natürlichen Personen sind, besonders wenn der ‚Durchgriff‘ auf die hinter den juristischen Personen stehenden Menschen dies als sinnvoll oder erforderlich erscheinen läßt.“115
So besehen lässt sich die Fixierung des Gerichts auf die subjektiv-rechtliche Dimension leicht erklären: Der Staat soll Adressat, nicht Träger der Grundrechte sein. Folglich muss es um den Durchgriff auf die Interessen der einzelnen Individuen gehen, die hinter der juristischen Person stehen – was bei einer juristischen Person des öffentlichen Rechts notwendiger Weise unmöglich ist.116 Erst in späteren Entscheidungen erstreckt das BVerfG das im Zusammenhang mit juristischen Personen des öffentlichen Rechts entwickelte Durchgriffskriterium auch explizit auf juristische Personen des Privatrechts.117 Allerdings fällt bei einer Durchsicht der Rechtsprechung des Gerichts seit den 1980er Jahren auf, dass zum einen das Gericht nur sehr selten die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des Privatrechts verneint und dass zum anderen das Durchgriffskriterium nur noch selten geprüft, häufig nicht einmal erwähnt wird. Das Gericht betont bei mehreren Gelegenheiten, dass im Fall juristischer Personen des Privatrechts Art. 19 Abs. 3 GG „vielfach“118 bzw. „regelmäßig“119 erfüllt sei. In jüngster Zeit scheint es dabei zu einem Negativtest überzugehen, nach dem die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des Privatrechts nur ausgeschlossen sein soll, wenn „der Grundrechtsschutz an Eigenschaften, Äußerungsformen oder Beziehungen an[knüpft], die nur natürlichen Personen wesenseigen sind […].“120 So soll zwar eine Berufung auf die Menschenwürde bzw. den Menschenwürdekern diverser Grundrechte121 sowie auf das Recht zur körperlichen Unversehrtheit122 ausgeschlossen sein, darüber hinaus scheint das Gericht aber von der nahezu allgemeinen Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des Privatrechts auszugehen. Sie können sich unter anderem auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (jenseits des Menschenwürdekerns),123 das Recht am gesprochenen Wort,124 die Versammlungsfreiheit (als Veranstalter)125 und die Kunstfreiheit126 berufen. Die Kriterien „Durchgriff “ (personales Substrat) bzw. „grundrechtstypische Gefährdungslage“ treten gänzlich in den Hintergrund. Ebenda, 369 (meine Hervorhebungen). Beachte aber, dass das BVerfG jüngst im Falle einer inländischen juristischen Person des Privatrechts, die zu 100% von einem ausländischen Staat gehalten wird, das individualbezogene Verständnis des Art. 19 Abs. 3 GG verstärkt betont hat, da das Konfusionsargument in diesem Fall nicht weiterführte, vgl. BVerfG, 1 BvR 2821/11, 321/12, 1456/12, Urt. v. 6.12.2016, Rdnr. 192, 195. 117 Vgl. BVerfGE 68, 193 (205 f.) [1984] (in einem obiter dictum – im Fall ging es wiederum um juristische Personen des öffentlichen Rechts). 118 Ebenda, 206. 119 BVerfGE 75, 192 (196) [1987]. 120 BVerfGE 118, 168 (203) [2007]. 121 Vgl. z.B. BVerfGE 95, 220 (242) [1997] (bzgl. nemo tenetur-Grundsatz). 122 Vgl. z.B. BVerfG(K), 1 BvR 2492/08, Entsch. v. 21.3.2012, Rdnr. 13. 123 BVerfGE 118, 168 (203 f.) [2007]. 124 BVerfGE 106, 28 (42 ff.) [2002]. 125 BVerfGE 122, 342 (355) [2009]. 126 Vgl. BVerfG, 1 BvR 1585/13, Urt. v. 31.5.2016, Rdnr. 59. 115 116
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Das BVerfG hat mithin sein Durchgriffskriterium primär zum Ausschluss des Grundrechtsschutzes zugunsten juristischer Personen des öffentlichen Rechts bzw. im öffentlichen Interesse tätiger juristischer Personen des Privatrechts unter staatlicher Kontrolle127 entwickelt und greift auf es nur noch sehr sporadisch zurück, jedenfalls wenn es die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des Privatrechts erörtert. Vielmehr geben auch hier funktionale Erwägungen den Ausschlag, so zum Beispiel in einer Entscheidung zur Berechtigung einer Vor-GmbH, sich auf Art. 12 Abs. 1 GG berufen zu können, die das Gericht aus ihrer aus dem Gesellschaftszweck folgenden „Funktion als notwendige Vorstufe für die erstrebte Rechts- und Patent anwaltsgesellschaft“ schloss.128 Ferner sprach es einem Zeitungsverlag die Berechtigung zu, sich auf die Presse- und Meinungsfreiheit berufen zu können, weil es „Aufgabe der Presse ist […], umfassend Informationen zu ermöglichen, die Vielfalt der bestehenden Meinungen wiederzugeben und selbst Meinungen zu bilden und zu vertreten“129 und gewährte einem Musikunternehmen die Inanspruchnahme der Kunstfreiheit, weil es als „Mittler“ zwischen Künstler und Publikum fungiere.130 Dies ist aber nichts anderes als funktionsbezogenes Verständnis der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen (des Privatrechts). Das Gericht scheint also faktisch in die Richtung eines funktionsbezogenen Verständnisses des Art. 19 Abs. 3 GG zu steuern,131 ohne indes sein (ausschließlich) individualbezogenes Verständnis explizit aufgegeben zu haben und ohne ein alternatives Verständnis grundrechtsdogmatisch und -theoretisch klar zu konturieren. In meinen obigen Ausführungen132 habe ich versucht, eine solche Konturierung vorzunehmen.
V. Schluss Das gegenwärtig vorherrschende ausschließlich individualbezogene Verständnis der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des Privatrechts gemäß Art. 19 Abs. 3 GG ist durch ein funktionsbezogenes Verständnis zu ersetzen. Grundlage dieses Verständnisses ist das Wesen der Grundrechte in ihrer subjektiv-rechtlichen und objektiv-rechtlichen Dimension, der wesentlich rational-ökonomische Grund der (Grund) Rechtsfähigkeit juristischer Personen und das Wesen der juristischen Person des Privatrechts als rechtlich verselbständigte Zweckverbände mit sozialer Realität. Im Einzelnen erfordert das funktionsbezogene Verständnis eine spezifisch funktionale Betrachtung im Einzelfall, die sowohl das Wesen der fraglichen einzelnen Grundrechte als auch das Wesen der fraglichen juristischen Person des Privatrechts, insbesondere hinsichtlich ihres Unternehmenszweckes, ihrer Organisationsstruktur und Größe, in Vgl. BVerfGE 45, 63 (78 f.) [1977]. Vgl. BVerfG, 1 BvR 2998/11 und 236/12, Beschl. v. 14.1.2014, Rdnr. 50, 59 f. 129 Vgl. BVerfG (K), 1 BvR 1145/11, Beschl. v. 17.11.2011, Rdnr. 8. 130 Vgl. BVerfG, 1 BvR 1585/13, Urt. v. 31.5.2016, Rn. 59. 131 Das Urteil des BVerfG vom 6.12.2016, 1 BvR 2821/11, 321/12, 1456/12, Rdnr 195, zum Atomausstieg scheint das individualbezogene Verständnis wieder stärker zu unterstreichen. Allerdings läuft die letztliche Bejahung der Aktivlegitimation von Vattenfall aus EU-rechtlichen Gründen faktisch wiederum auf ein funktionsbezogenes Verständnis des Art. 19 Abs. 3 GG hinaus, vgl. Rdnr. 196–201. 132 Siehe insbesondere oben III.1.–3. 127
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den Blick nimmt. In seiner jüngeren Rechtsprechung scheint das BVerfG faktisch auf ein ähnliches Verständnis hinzusteuern, ohne allerdings sein altes ausschließlich individualbezogenes Verständnis des Art. 19 Abs. 3 GG explizit aufgeben zu haben.
Die juristische Person des Privatrechts in der Rechtsprechung des EGMR von
Privatdozent Dr. Thomas Kleinlein, Universität Frankfurt am Main* Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 II. Textbefund im internationalen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Persönlicher Geltungsbereich nach Art. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2. Recht zur Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3. Formulierung einzelner Gewährleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 III. Dogmatische Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 1. Drei Gruppen von Gewährleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 a) Unproblematische Rechtsträgerschaft juristischer Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 b) Keine Rechtsträgerschaft juristischer Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 c) Kritische Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 2. Praktische Ununterscheidbarkeit von juristischer Person und hinter ihr stehenden Individuen . . . . 96 3. Vergleichbarkeit der Interessenlage von juristischer und natürlicher Person . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 a) Schutz der Privatsphäre, Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 b) Freiheit der Meinungsäußerung, Art. 10 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 IV. Besonderheiten bei Kontrollstandard und Entschädigungshöhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 V. Normative Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 1. Menschenrechte für juristische Personen in der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2. EMRK und integraler Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 3. Bedeutung des Schutzes der Rechte juristischer Personen des Privatrechts in der Gegenwart . . . . 110 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
* Für Anregungen und Kritik danke ich Isabel Feichtner, Rainer Hofmann, Stefan Kadelbach, Anna Katharina Mangold und Peter J. Oliver.
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I. Einleitung „We are not European, I am sorry to say. We are not human. The third question whether we have any rights, remains for your Lordships’ decision“: Mit diesen Worten leitete der Prozessvertreter der Beschwerdeführerin im Verfahren Air Canada gegen Vereinigtes Königreich1 seine Stellungahme in der mündlichen Verhandlung vor dem Europäischen Gerichthof für Menschenrechte (EGMR) ein.2 Sollte die ostentative Demut seitens einer Passagierflugzeuggesellschaft, deren Flotte heute zu den zehn größten der Welt zählt, prozesstaktisch motiviert gewesen sein, so ging diese Strategie am Ende nicht auf. Die Mehrheit der Kammer verneinte einen Verstoß gegen Konventionsgarantien.3 Im Übrigen ist durchaus zu bezweifeln, ob die Bescheidenheit in dieser Form sachlich angemessen war. Zwar erscheint die Vorstellung, dass juristische Personen Menschenrechte haben, auf den ersten Blick als Widerspruch in sich4 und stehen insbesondere „corporate human rights“ normativ und ideologisch durchaus in der Kritik.5 Anders als das Grundgesetz mit Art. 19 Abs. 3 kennt die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) auch keine allgemeine Bestimmung, die den Geltungsbereich ihrer Gewährleistungen auf juristische Personen des Privatrechts erstrecken würde, neben Wirtschaftsunternehmen also insbesondere Gewerkschaften, Sportverbände, Kirchen und politische Parteien. Jedoch ist es im Vergleich mit anderen internationalen Instrumenten des Menschenrechtsschutzes ein Alleinstellungsmerkmal der EMRK, dass einzelne ihrer Gewährleistungen juristische Personen einbeziehen und das Recht zur Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK nicht auf natürliche Personen beschränkt ist. Zudem hatte sich der EGMR bereits vor dem Air Canada-Verfahren in der Auslegung zugunsten juristischer Personen insgesamt großzügig gezeigt, zumal hinsichtlich der von Air Canada als verletzt gerügten Verfahrensgarantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK.6 EGMR, Urteil v. 5.5.1995, Air Canada ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 18465/91. Zitiert nach N. Bratza, The Implications of the Human Rights Act 1998 for Commercial Practice, European Human Rights Law Review 5 (2000) 1, S. 1 (1). 3 EGMR, Air Canada ./. Vereinigtes Königreich (Anm. 1), § 63. 4 M. Emberland, The Human Rights of Companies. Exploring the Structure of ECHR Protection, 2006, S. 27: „conceptual oxymoron“; A. Dignam, The Human Rights of Companies: Exploring the Structure of ECHR Protection by Marius Emberland, The Cambridge Law Journal 66 (2007) 2, S. 463 (462): „contradiction in terms“; A. Simpson, Review of Marius Emberland The Human Rights of Companies – Exploring the Structure of ECHR Protection, European Law Review 32 (2007), S. 419 (419): „simply absurd“. Wohlfeil ist der Hinweis, die EMRK diene ausweislich ihres Titels und ihrer Erwägungsgründe dem Schutz der „Menschenrechte und Grundfreiheiten“ und der Begriff der Grundfreiheiten sei semantisch nicht an natürliche Personen gebunden (s. Emberland (Anm. 4 ), S. 27): Die beiden Begriffe „Menschenrechte“ und „Grundfreiheiten“ gelten vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte und der Parallele zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als synonym, s. H. Guradze, Die Europäische Menschenrechtskonvention. Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten nebst Zusatzprotokollen. Kommentar, 1968, S. 43 (zu Abs. 4 der Präambel) und 45–46 (zu Art. 1 EMRK, „Rechte und Freiheiten“). 5 S. etwa C. Harding/U. Kohl/N. Salmon, Human Rights in the Market Place. The Exploitation of Rights Protection by Economic Actors, 2008; A. Grear, Redirecting Human Rights. Facing the Challenge of Corporate Legal Humanity, 2010. 6 S. zu Art. 6 Abs. 1 EMRK EGMR, Urteil v. 24.10.1986, AGOSI ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 9118/80, Serie A Nr. 108, §§ 63 ff.; EGMR, Urteil v. 7.7.1989, Unión Alimentaria Sanders ./. Spanien, 1 2
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Allerdings stammt die entscheidende Rechtsprechung aus den 1990er und 2000er Jahren, einer Zeitspanne, der eine starke „tendance anthropomorphique“ attestiert worden ist.7 Obschon der Anteil der Fälle, in denen juristische Personen Beschwerdeführer sind, unter 5 % liegen dürfte,8 kann die Feststellung einer Konventionsverletzung in einer von einer juristischen Person eingelegten Individualbeschwerde von entscheidender Bedeutung für den Schutzmechanismus der EMRK insgesamt sein. Das hat zuletzt das Yukos-Verfahren deutlich vor Augen geführt,9 in dem der EGMR Russland letztlich verpflichtete, 1,9 Milliarden Euro Entschädigung an die Aktionäre der liquidierten Yukos-Aktiengesellschaft zu zahlen.10 Der Yukos-Prozess gilt als eines der zentralen Motive für eine Gesetzesänderung, durch die dem russischen Verfassungsgericht die Befugnis eingeräumt wurde, Urteile des EGMR für vollstreckbar oder nicht vollstreckbar zu erklären.11 In Deutschland erfuhr die Frage der EMRK-Garantien für juristische Personen bislang eher wenig Aufmerksamkeit, jedenfalls im Vergleich etwa mit dem Vereinigten Königreich, wo der Human Rights Act von 1998 reges Interesse an der Bedeutung der EMRK-Gewährleistungen für Wirtschaftsunternehmen auslöste.12 Trotz geschriebenen Grundrechtskatalogs und ausdrücklicher Regelung der Grundrechtsträgerschaft inländischer juristischer Personen ist die Frage auch in Deutschland keineswegs bedeutungslos, zumal der EGMR gegenüber EuGH und Bundesverfassungsgericht zuweilen eine Pionierrolle eingenommen hat.13 Der Beitrag untersucht daher die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen nach der EMRK sowie ihre Partei- und Prozessfähigkeit im Verfahren der Individualbeschwerde vor dem EGMR. Zunächst wird dazu die textliche Grundlage für die Geltungserstreckung der EMRK-Gewährleistungen auf juristische Personen des Privatrechts im Vergleich zu anderen Instrumenten des internationalen MenschenNr. 11681/85, Serie A Nr. 157, §§ 28 ff.; EGMR, Urteil v. 9.12.1994, Stran Griechische Raffinerien u.a. ./. Griechenland, Nr. 13427/87, Serie A Nr. 310-A, §§ 38 ff.; zusammenfassend zur Rechtsprechung insgesamt P. Oliver, Companies and Their Fundamental Rights. A Comparative Perspective, International and Comparative Law Quarterly 64 (2015) 3, S. 661 (676–678). 7 J.-P. Tricoit, L’entreprise, titulaire de droits fondamentaux, Journal européen des droits de l’homme 1 (2013) 1, S. 101 (103). 8 Von den 646 in der Onlinedatenbank HUDOC des EGMR für das Jahr 2015 gelisteten Urteile in französischer Sprache sind 17 nachvollziehbar auf Beschwerden juristischer Personen zurückzuführen. Das entspricht einem Anteil von weniger als 3 % (http://hudoc.echr.coe.int/, geprüft am 31.10.2016). Für den Fünfjahreszeitraum 2003–2008 hat Emberland (Anm. 4 ), S. 13–14 ermittelt, dass 3,8 % der Urteile Beschwerden von Unternehmen oder von Personen betrafen, die klar geschäftliche Interessen verfolgten. Die meisten Fälle betrafen Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 1 ZP1-EMRK, Art. 10 EMRK. 9 EGMR, Urteil v. 20.9.2011, Oao Neftyanaya Kompaniya Yukos ./. Russland, Nr. 14902/04, (2012) 54 EHRR 19; s. dazu W. van den Muijsenberg/S. Rezai, Corporations and the Eurpean Convention on Human Rights, Global Business and Development Journal 25 (2012) 1, S. 43. 10 EGMR, Urteil über die gerechte Entschädigung (Art. 41 EMRK) v. 31.7.2014, Oao Neftyanaya Kompaniya Yukos ./. Russland, Nr. 14902/04. 11 A. Galiautdinova, Russland, der EGMR und das Wahlrecht für Strafgefangene v. 3.6.2016, http://verfassungsblog.de/russland-der-egmr-und-das-wahlrecht-fuer-strafgefangene/ (geprüft am 31.10.2016). Im Yukos-Fall wurde allerdings die Rechtsträgerschaft der juristischen Person nicht problematisiert. 12 S. etwa Bratza (Anm. 2 ); zuletzt P. Oliver, The Fundamental Rights of Companies. European and US Law Compared, 2017. 13 Emberland (Anm. 4 ), S. 134–135.
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rechtschutzes analysiert (II.). Im nächsten Schritt arbeitet der Beitrag die dogmatische Begründung für die Erstreckung einzelner Gewährleistungen auf juristische Personen heraus. In der Rechtsprechung lassen sich zwei Begründungsansätze unterscheiden, die praktische Ununterscheidbarkeit von juristischer Person und hinter ihr stehenden Individuen einerseits und die Vergleichbarkeit der Interessenlage von juristischer und natürlicher Person im Hinblick auf eine bestimmte Konventionsgewährleistung andererseits (III.). Soweit die Gewährleistungen der EMRK danach auf juristische Personen des Privatrechts anwendbar sind, lassen sich in der Judikatur des EGMR Besonderheiten bei der Kontrolldichte feststellen. Sie sind allerdings nicht an die Unterscheidung zwischen natürlichen und juristischen Personen geknüpft, sondern an den kommerziellen Charakter der Rechtsausübung. Auch bei der Bemessung der Entschädigung nach Art. 41 EMRK zeigen sich Besonderheiten (IV.). Angesichts der in der Literatur geäußerten Grundsatzkritik insbesondere an der Idee von Menschenrechten für Wirtschaftsunternehmen („corporate human rights“) fragt der Beitrag im Anschluss an die Rekonstruktion der Rechtsprechungspraxis nach der normativen Rechtfertigung der Rechteerstreckung auf juristische Personen. Dazu wird insbesondere dargelegt, dass die in der Entstehungsphase der EMRK prägenden Vorstellungen in engem Zusammenhang mit den Ideen eines integralen Föderalismus standen, und der Wandel dieser Vorstellungen zu den Hintergrundannahmen der späteren Rechtsprechung sowie die Bedeutung des Schutzes der Rechte juristischer Personen des Privatrechts in der Gegenwart untersucht. Dabei ergibt sich ein vielschichtiges Bild, das von der Differenzierung zwischen gemeinnützigen und gewerblichen juristischen Personen sowie von zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden Unterschieden geprägt ist (V.).
II. Textbefund im internationalen Vergleich Aufschluss über die Frage der Geltung von EMRK-Gewährleistungen für juristische Person vermitteln zunächst die Bestimmung des Art. 1 EMRK über den Geltungsbereich der Konvention (1.), mittelbar auch Art. 34 EMRK über die Beschwerdeberechtigung im Verfahren der Individualbeschwerde (2.) sowie die Formulierung einzelner Gewährleistungen (3.), vor allem im Vergleich zu anderen Instrumenten des internationalen Menschenrechtschutzes.
1. Persönlicher Geltungsbereich nach Art. 1 EMRK Gemäß Art. 1 EMRK sichern die Konventionsstaaten „allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen“14 bestimmte Rechte und Freiheiten zu. Für die Auslegung dieser Bestimmung kommt es auf die authentischen englischen und französischen Textfassungen an.15 In englischer Sprache lautet die Formulierung in Art. 1 EMRK: „everyone within their jurisdiction“, in der französischen Fassung erstreckt sich der Kursivsetzung, auch bei den Folgezitaten in diesem Abschnitt, TK. So der vorletzte Satz des Konventionstexts, unmittelbar nach Art. 59 EMRK: „Geschehen zu
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Geltungsbereich der EMRK-Garantien „à toute personne relevant de leur juridiction“. Legt dieser Wortlaut zunächst nicht unbedingt nahe, dass der persönliche Geltungsbereich der EMRK auch juristische Personen erfasst, so offenbart sich doch eine Sonderstellung der EMRK gegenüber dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR),16 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AMRK)17 und der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker (Banjul-Charta).18 Art. 2 Abs. 1 IPbpR lautet in der englischen Fassung: „Each State Party to the present Covenant undertakes to respect and to ensure to all individuals …“. Der nach Art. 53 Abs. 1 IPbpR ebenso verbindliche französische Wortlaut bezieht sich gleichfalls auf Individuen:19 „Les Etats parties au présent Pacte s’engagent à respecter et à garantir à tous les individus …“. Dementsprechend steht der Schutzmechanismus des Zivilpakts auch nach Auffassung des Ausschusses für Menschenrechte nur Individuen zur Verfügung.20 Die Gewährleistungen der Amerikanischen Menschenrechtkonvention sind ebenfalls explizit auf Individuen beschränkt. Art. 1 Abs. 2 AMRK definiert ‚Person‘ als menschliches Wesen: „For the purposes of this Convention, ‘person’ means every human being.“ Gleichermaßen gilt nach Art. 2 der Banjul-Charta: „Every individual shall be entitled to the enjoyment of the rights and freedoms recognized and guaranteed in the present Charter“. Im Vergleich zu diesen Vertragswerken ist die EMRK interpretatorisch offen für eine Einbeziehung juristischer Personen in den Schutzmechanismus.
2. Recht zur Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK Gemäß Art. 34 EMRK kann der Gerichtshof von „jeder natürlichen Person, nichtstaatlichen Organisation oder Personengruppe“ mit einer Individualbeschwerde befasst werden, die behauptet, durch einen Mitgliedstaat in einem der in dieser Konvention oder den Protokollen dazu anerkannten Rechte verletzt zu sein. Das Recht
Rom am 4. November 1950 in englischer und französischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist“. 16 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte v. 19.12.1966, 999 UNTS 171 und 1057 UNTS 407, ILM 6 (1967), 368, BGBl. 1973 II S. 1534. 17 Amerikanische Menschenrechtskonvention v. 22.11.1969, OAS Treaty Series No. 36, 1144 UNTS 123, ILM 9 (1970), 673; deutsche Übersetzung: EuGRZ 1980, 435. 18 African [Banjul] Charter on Human and Peoples’ Rights v. 27.6.1981, OAU Dok. CAB/ LEG/67/3 rev. 5, ILM 21 (1982), 58. 19 Der UN-Zivilpakt ist nach seinem Art. 53 Abs. 1 im chinesischen, englischen, französischen, russischen und spanischen Wortlaut verbindlich. 20 Human Rights Committee, decision on admissibility v. 14.7.1989, A Newspaper Publishing Company v Trinidad and Tobago, Nr. 360/1989, UN Dok. CCPR/C/36/D/360/1989 (1989), § 3.2; Human Rights Committee, decision on admissibility v. 14.7.1989, A Publication and a Printing Company v Trinidad and Tobago, Nr. 361/1989, UN Dok. Supp Nr. 4 0 (A/44/40) 1989, 309, § 3.2. In der offiziellen deutschen Übersetzung von Art. 2 Abs. 1 IPbpR ist die Beschränkung auf Individuen weniger deutlich. Sie lautet: „Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, die in diesem Pakt anerkannten Rechte zu achten und sie allen in seinem Gebiet befindlichen und seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen […] zu gewährleisten.“ (Herv. TK). Allerdings sind Diskriminierungsverbote wie Rasse, Hautfarbe und Geschlecht auf natürliche Personen zugeschnitten.
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zur Individualbeschwerde steht also nicht nur Individuen zu.21 In der authentischen englischen Fassung ist das Beschwerderecht „any person, nongovernmental organisation or group of individuals“ eingeräumt. Weil jedoch die französische Fassung die Partei- und Prozessfähigkeit nur „toute personne physique, toute organisation non gouvernementale ou tout groupe de particuliers“ zugesteht, wird die juristische Person unter „nichtstaatliche Organisation“ subsumiert.22 Der englische und französische Wortlaut „non-governmental organisation“ / „organisation non gouvernementale“ ließe sich womöglich so verstehen, dass das Beschwerderecht nur gemeinnützigen Gesellschaften wie NGOs/ONGs im heute gebräuchlichen Wortsinne zustehen soll.23 Allerdings belegt die Entstehungsgeschichte, dass eine solche Einschränkung nicht vorgesehen war. Vielmehr sollten durchaus auch wirtschaftliche Vereinigungen erfasst werden. Der vom Rechtsausschuss der „Europäischen Bewegung“ im Mai 1948 erarbeitete vorläufige Entwurf sah ein Beschwerderecht für „any natural or corporate person“ vor (Art. 7 lit. a des Entwurfs).24 Diese Formulierung wurde später zwar in „corporate body“ und schließlich in „non-governmental organisation“ korrigiert. Es gibt indes keinerlei Hinweise darauf, dass diese Änderungen die Reichweite des Beschwerderechts einschränken sollten.25 Schließlich wurde die Bestimmung ohne Diskussion im späteren Entwurfsprozess im Rahmen des Europarates übernommen.26 Dem Entwurf der Europäischen Bewegung kommt große Bedeutung deshalb zu, weil ihn die Versammlung des Europarats stillschweigend als Arbeitsgrundlage akzeptierte.27 Nach dem aktuellen Leitfaden des Gerichtshofs zu den Zulässigkeitskriterien wird ‚non-governmental organisation‘ schlicht als der Gegenbegriff zu ‚governmental organisation‘ verstanden.28 Auch im Hinblick auf die Individualbeschwerde für juristische Personen erweist der internationale Vergleich eine Sonderstellung der EMRK. Nach Art. 1 und 2 des M. Eudes, Groupes et minorités devant la Cour européenne des droits de l’homme, Annuaire de droit européen 3 (2005), S. 71 (74–75): „un peu paradoxal“ (mit Blick auf die Interpretation der Begriffe ‚nichtstaatliche Organisation‘ und ‚Personengruppe‘ durch die Konventionsorgane). 22 Emberland (Anm. 4 ), S. 33; K. Rogge, in: K. Pabel/S. Schmahl (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 2013, Art. 34 EMRK, Rn. 130. 23 Eine derartige Einschränkung vermittelt die Formulierung in Art. 2 Zusatzprotokoll zur Europäischen Sozialcharta über Kollektivbeschwerden vom 9.11.1995, SEV Nr. 158; vgl. Tricoit (Anm. 7 ), S. 104. Dort wird allerdings auch explizit „Repräsentativität“ der beschwerdeberechtigten „nationalen nichtstaatlichen Organisationen“ verlangt. 24 A. H. Robertson (Hrsg.), Collected Edition of the “Travaux Préparatoires” of the European Convention on Human Rights, Bd. 1, 1975, S. 298 (französisch: „toute personne physique, toute personne morale“, S. 299). 25 Emberland (Anm. 4 ), S. 4. S. A. H. Robertson (Hrsg.), Collected Edition of the “Travaux Préparatoires” of the European Convention on Human Rights, Bd. 2, 1975, S. 3 u. 68. Die späteren Fassungen bringen keine substantiellen Änderungen, s. ebd., S. 132; vgl. Emberland (Anm. 4 ), S. 35–36. 26 Robertson (Anm. 24), S. 156 und 202; A. H. Robertson (Hrsg.), Collected Edition of the “Travaux Préparatoires” of the European Convention on Human Rights, Bd. 5, 1979, S. 318. 27 P.-H. Teitgen, Introduction to the European Convention on Human Rights, in: R. Macdonald u.a. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 3 (9). Teitgen war selbst Mitverfasser sowohl des Entwurfs der Europäischen Bewegung als auch des Konventionstextes. 28 Council of Europe/European Court of Human Rights, Practical Guide on Admissibility Criteria, 2014; s. auch C. Schwaighofer, Legal Persons, Organisations, Shareholders as Applicants (Article 25 of the Convention), in: M. de Salvia/M. Villiger (Hrsg.), The Birth of European Human Rights Law. Liber Amicorum Carl Aage Nørgaard, 1998, S. 321 (323). 21
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Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte können „Einzelpersonen“ dem Ausschuss eine schriftliche Mitteilung zur Prüfung einreichen.29 Das Beschwerdeverfahren nach Art. 34 EMRK unterscheidet sich auch wesentlich von Art. 44 AMRK, der eine actio popularis zulässt: „Any person or group of persons, or any nongovernmental entity legally recognized in one or more member states of the Organization, may lodge petitions with the Commission containing denunciations or complaints of violation of this Convention by a State Party.“30 Im System der AMRK haben juristische Personen danach ein Beschwerderecht, sofern ihre Beschwerde die behauptete Verletzung von Individuen betrifft.31 Das Beschwerderecht nach Art. 5 Abs. 3 des Protokolls vom 5. Juni 1998 zur Afrikanischen Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker kann bestimmten NGOs und Individuen eingeräumt werden: „The Court may entitle relevant Non Governmental organizations (NGOs) with observer status before the Commission, and individuals to institute cases directly before it, in accordance with article 34 (6) of this Protocol.“32 Im Beschwerdemechanismus der EMRK muss eine juristische Person demgegenüber jedenfalls eigene Rechte und kann nicht etwa die Rechte ihrer Mitglieder geltend machen;33 nur wenn die juristische Person selbst Rechtsinhaber ist, kann ihr die erforderliche Opfereigenschaft nach Art. 34 EMRK zukommen. Die strenge Unterscheidung zwischen der juristischen Person und den hinter ihr stehenden Individuen führt auch dazu, dass ein Durchgriff, ein „piercing of the corporate veil”, zur Begründung der Opfereigenschaft von Anteilseignern nur in besonderen Fällen er Fakultativprotokoll zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte v. 19.12.1966, 999 UNTS. 302, BGBl. 1992 II S. 1247, 115 Vertragsstaaten, s. https://treaties.un.org (geprüft am 31.10.2016). 30 Nachweis in Fn. 17. 31 Inter-American Commission of Human Rights, decision on admissibility v. 6.10.1997, Tabacalera Boquerón SA v Paraguay, Nr. Report No 47/97 (1997), Annual Report of the Inter-American Commission of Human Rights 229; §§ 24–27; s. M. Emberland, The Corporate Veil in the Jurisprudence of the Human Rights Committee and the Inter-American Court and Commission of Human Rights, Human Rights Law Review 4 (2004) 2, S. 257 (260–261) m.w.N. 32 Protocol to the African Charter on Human and Peoples’ Rights on the Establishment of the African Court on Human and Peoples’ Rights v. 9.6.1998, OAU Dok. OAU/LEG/EXP/AFCHPR/ PROT (III). 33 EGMR, Urteil v. 15.7.1982, Eckle ./. Deutschland, Nr. 8130/78, EGMR-E 2, S. 105, § 66; EKMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 4.5.1983, Syndicat X ./. Frankreich, Nr. 9900/82, DR 32, 261 (254–265); EKMR v. 7.3.1991, Open Door Counselling Ltd. u.a. ./. Irland, Nr. 14234/88 und 14235/88, Serie A Nr. 246-A, §§ 63–64; EKMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 7.4.1997, Scientology Kirche Deutschland e.V. ./. Deutschland, Nr. 34614/97, § 1; EKMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 1.7.1998, Association des amis de Saint-Raphaël et de Fréjus u.a. ./. Frankreich, Nr. 45053/98, DR 94-A, 124 (131); EGMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 13.3.2001, Cˇonka ./. Belgien, Nr. 51564/99, § 1; EGMR (GK), Urteil v. 29.4.2008, Burden ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 13378/05, § 33 m.w.N. Weitere Nachweise aus der älteren Rechtsprechung der Kommission bei L.-E. Pettiti/O. de Schutter, Le rôle des associations dans le cadre de la Convention européenne des droits de l’homme, Journal des tribunaux – Droit européen 4 (1996) 31, S. 145 (146). S. aber EGMR (GK), Urteil v. 17.7.2014, Centre for Legal Resources on behalf of Valentin Câmpeanu ./. Rumänien, Nr. 47484/08, Rn. 104–114 (Nichtregierungsorganisation als de facto-Prozessvertreter). S. dazu die Anm. von L. van den Eynde, Requêtes d’ONG à la Cour européenne des droits de l’homme: la Cour tente (trop) prudemment d’élargir l’accès à son prétoire en contournant ses propres embûches, Revue trimestrielle des droits de l’homme 27 (2016) 105, S. 227. EGMR (GK), Urteil v. 5.6.2015, Lambert u.a. ./. Frankreich, Nr. 46043/14 (zu Art. 2, 3, 8 EMRK; Sterbehilfe). Zu Kritik und Reformvorschlägen s. Eudes (Anm. 21), S. 78 ff. 29
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laubt ist.34 Auf diese Weise wird auch das Problem der Rechtsunsicherheit entschärft, das sich im Fall der Opfereigenschaft der hinter der juristischen Person stehenden Individuen ergeben kann: Die Identifizierung von Anteilseignern ist unter Umständen schwierig, wechseln doch etwa Aktien oft den Halter.35
3. Formulierung einzelner Gewährleistungen Steht das Recht zur Individualbeschwerde nach der EMRK also auch juristischen Personen offen, so legen doch manche Einzelgewährleistungen der EMRK bei unbefangener Lektüre nahe, dass ihr persönlicher Anwendungsbereich nur natürliche Personen umfasst. Art. 2 Abs. 1 Satz 1 EMRK etwa gewährleistet das „Recht jedes Menschen auf Leben“. Weniger deutlich auf natürliche Personen bezogen ist schon Art. 2 Abs. 1 Satz 2 EMRK, wonach „[n]iemand“ „absichtlich getötet werden …“ darf. Diese negative Formulierung findet sich auch in Art. 3 EMRK: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“36 Im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen natürlichen und juristischen Personen neutral formuliert ist demgegenüber etwa Art. 14 EMRK: „Der Genuß der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung […] zu gewährleisten.“ Nach Art. 1 Abs. 1 Satz 1 ZP1-EMRK hat explizit „jede natürliche oder juristische Person“ das Recht auf Achtung ihres Eigentums.37 Bei einer strengen Lektüre könnte man daher zu dem Ergebnis kommen, dass nur einige wenige EMRK-Garantien, wenn nicht gar ausschließlich der Schutz des Eigentums nach Art. 1 Abs. 1 Satz 1 ZP1-EMRK, auch juristischen Personen zugutekommen.38 Art. 1 Abs. 1 Satz 1 ZP1-EMRK, der als einzige Bestimmung die Gewährleistung direkt auf juristische Personen erstreckt („Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht auf Achtung ihres Eigentums.“), könnte nämlich auch zu dem Umkehrschluss einladen, dass bei Fehlen einer solchen expliziten Erwähnung juristische Personen gerade nicht geschützt seien.39 Nach Ansicht der Konventionsorgane freilich schloss der Wortlaut „everyone“ allein die Erstreckung einer Gewährleistung auf juristische Personen weder aus noch legte er sie zwingend nahe. Bereits die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) bezog juristische Personen ohne weiteres in den persönlichen Schutzbe EKMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 28.1.1983, Yarrow u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 9266/81 u.a., DR 30, 155; EGMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 12.2.1992, Agrotexim Hellas u.a. ./. Griechenland, Nr. 14807/89, Serie A Nr. 330, § 66. 35 P. Oliver, Book Review. The Human Rights of Companies: Exploring the structure of ECHR protection, by Marius Emberland, Common Market Law Review 43 (2006) 6, S. 1766. 36 Art. 2 Abs. 1 EMRK lautet in der authentischen englischen Fassung: „Everyone’s right to life shall be protected by law. No one shall be deprived of his life intentionally…“, Art. 3 EMRK „No one shall be subjected to torture …“. Die ebenfalls authentischen französischen Formulierungen lauten: „Le droit de toute personne à la vie est protégé par la loi. La mort ne peut être infligée à quiconque intentionnellement …“ (Art. 2 Abs. 1 EMRK) und „Nul ne peut être soumis à la torture…“ (Art. 3 EMRK). 37 Protokoll Nr. 1 vom 20.03.1952, ETS No. 5, BGBl. 2010 II S. 1198 (i.d.F. des Prot. Nr. 14). 38 J. G. Ku, The Limits of Corporate Rights Under International Law, Chicago Journal of International Law 12 (2012) 2, S. 729 (748). 39 Harding/Kohl/Salmon (Anm. 5 ), S. 28. 34
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reich des „everyone“/„toute personne“ gewährleisteten Recht auf rechtliches Gehör nach Art. 6 Abs. 1 EMRK ein,40 lehnte diese Erstreckung dagegen bei Art. 3 EMRK oder dem Recht auf Freiheit und Sicherheit nach Art. 5 EMRK ab.41 Dem Wortlaut der Einzelgewährleistung kommt demnach keine entscheidende Bedeutung für die Reichweite der Garantie zu.
III. Dogmatische Begründung 1. Drei Gruppen von Gewährleistungen In der Kommentarliteratur findet sich daher die Formel, das betreffende Menschenrecht müsse „seiner Natur nach“ auf juristische Personen anwendbar sein.42 In diesem Fall sei die juristische Person grundrechtsberechtigt und komme grundsätzlich auch als Beschwerdeführerin infrage. Dogmatischer Auf hänger dafür ist die Opfer eigenschaft i.S. von Art. 34 EMRK. Weil auch die juristische Person die Verletzung eigener Rechte geltend machen muss, setzt die Parteifähigkeit „nichtstaatlicher Organisationen“ i.S. von Art. 34 EMRK voraus, dass die Personenmehrheit oder juristische Person Träger der Konventionsrechte sein kann.43 Die Opfereigenschaft ist ein autonomer Begriff,44 der nicht von der Rechtsfähigkeit im innerstaatlichen Recht abhängt.45 Um einen In-sich-Prozess auszuschließen, müssen nichtstaatliche Organisationen über eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber dem Staat verfügen und dürfen keine staatlichen Funktionen ausüben.46 Rechtsträgerschaft und Beschwerderecht 40 EKMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 2.4.1973, Firestone Tire and Rubber Co u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 5460/72, Yb 16 (1973), 152. 41 EKMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 11.4.1991, Boucheras und Groupe Information Asiles ./. Frankreich, Nr. 14438/88, DR 69, 236 (248), § 1 (1) zu Art. 5 EMRK; EKMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 16.1.1986, Verein „Kontakt-Information-Therapie“ (KIT) und Hagen ./. Österreich, Nr. 11921/86, DR 57-A, 81, § 1 (4) zu Art. 3 EMRK. 42 R. J. Schweizer, § 138: Allgemeine Grundsätze, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band VI/1: Europäische und universelle Grund- und Menschrechte, 2010, S. 77 (104), Rn. 54; W. Schabas, The European Convention on Human Rights. A Commentary, 2015, S. 741. 43 EGMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 7.10.2008, Preußische Treuhand ./. Polen, Nr. 47550/06, §§ 47 ff.: Konventionsrechte müssen nach ihrem Schutzbereich auf die nichtstaatliche Organisation Anwendung finden; O. de Schutter, L’accès des personnes morales à la Cour européenne des droits de l’homme, in: Mélanges offerts à Silvio Marcus Helmons. Avancées et confins actuels des droits de l’homme aux niveaux international, européen et national, 2003, S. 83; Rogge (Anm. 22), Rn. 119: „Konventionsrechtsfähigkeit“; J. A. Frowein/W. Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention. EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, Art. 34 Rn. 18–19; Schweizer (Anm. 42), S. 104 Rn. 54; S. Kadelbach, Kapitel 30: Internationale Durchsetzung, in: O. Dörr u.a. (Hrsg.), EMRK/GG. Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, S. 1983 (1906), Rn. 21; P. Schäfer, in: U. Karpenstein/F. Mayer (Hrsg.), Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 34, Rn. 4 0; C. Grabenwarter/K. Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention. Ein Studienbuch, 6. Aufl. 2016, § 13 Rn. 11. 44 EGMR, Urteil v. 27.5.2004, Gorraiz Lizarraga u.a. ./. Spanien, Nr. 62543/00, § 35. 45 Rogge (Anm. 22), Rn. 127–128; Schwaighofer (Anm. 28), S. 322; Schäfer (Anm. 43), Rn. 39; Schabas (Anm. 42), S. 736. 46 EGMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 30.3.2004, Radio France ./. Frankreich, Nr. 53984/00, § 36; EGMR, Urteil v. 7.12.2006, Österreichischer Rundfunk ./. Österreich, Nr. 35841/02, § 53; EGMR,
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stehen juristischen Personen aber unabhängig von ihrem Sitz und ihrer Staatszugehörigkeit zu. Die Irrelevanz dieser Kriterien lässt sich Art. 1 EMRK entnehmen, demzufolge die EMRK für alle der Herrschaft ( jurisdiction) eines Staates unterstehenden Personen gilt. Außerdem kommt es bei Unternehmen grundsätzlich weder auf die Größe noch auf die Art der Geschäftstätigkeit an.47 Der EGMR ließ auch den Einwand eines beklagten Staates nicht zu, die Beschwerdeführerin sei eine bloße „Strohfirma“. Der Gerichtshof entgegnete diesem Vorbringen vielmehr, dass die juristische Person nach den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts gegründet und ihre Existenz in den Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten auch nicht bestritten worden sei, und verweist damit jedenfalls dann doch auf das innerstaatliche Recht, wenn die Rechtsträgerschaft innerstaatlich anerkannt ist. Auch sei die Unternehmenszentrale der Beschwerdeführerin durchsucht und seien ihre Unterlagen beschlagnahmt worden, sodass die juristische Person unmittelbares Opfer i.S. von Art. 34 EMRK sei.48 Welche Konventionsgarantien sind nun aber „ihrer Natur nach“ auf juristische Personen anwendbar? Im Hinblick auf die Rechtsträgerschaft juristischer Personen oder die Anwendbarkeit ratione materiae der Konventionsgarantien auf juristische Personen49 lassen sich drei Gruppen von Gewährleistungen unterscheiden.50
a) Unproblematische Rechtsträgerschaft juristischer Personen Die erste Gruppe umfasst die Garantien, deren Anwendbarkeit auf juristische Personen als selbstverständlich gilt und auch von den Konventionsorganen nicht bezweifelt worden ist. Dazu zählen zunächst die Verfahrensgarantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK,51 das Recht auf eine wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK,52 die Garantie des Gesetzlichkeitsprinzips nach Art. 7 EMRK 53 sowie bereits ausweislich ihres WortUrteil v. 13.12.2007, Islamic Republic of Iran Shipping Lines ./. Türkei, Nr. 4 0998/98, Recueil 2007-V, §§ 80–81. 47 Emberland (Anm. 4 ), S. 12. 48 EGMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 23.3.2000, Société Faugyr Finance S.A. ./. Luxemburg, Nr. 38788/97, §§ 3 –8. 49 Zum Begriff Emberland (Anm. 4 ), S. 110. 50 Ebd., S. 63. 51 EGMR, AGOSI ./. Vereinigtes Königreich (Anm. 6 ), §§ 63 ff.; EGMR, Unión Alimentaria Sanders ./. Spanien (Anm. 6 ), §§ 28 ff.; EGMR, Stran Griechische Raffinerien u.a. ./. Griechenland (Anm. 6 ), §§ 38 ff.; EGMR, Urteil v. 20.11.1995, Pressos Compania Naviera S.A. u.a. ./. Belgien, Nr. 17849/91, Serie A Nr. 332, §§ 45–46; EGMR, Urteil v. 23.10.1997, National and Provincial Building Society, Leeds Permanent Building Society und Yorkshire Building Society ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 21319/93, 21449/93, 21675/93, Recueil 1997-VII, §§ 94 ff.; EGMR, Urteil v. 10.1.2006, Teltronic-CATV ./. Polen, Nr. 48140/99, §§ 45 ff. (zur Höhe der Gerichtsgebühren); EGMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 26.8.2008, VP Diffusion SARL ./. Frankreich, Nr. 14565/04 (zur Prozesskostenhilfe). 52 EGMR, Urteil v. 27.9.2005, Amat-G Ltd and Mebaghishvili ./. Georgien, Nr. 2507/03, 42, 51–54; EGMR, Urteil v. 27.9.2005, Iza Ltd and Makrakhidze ./. Georgien, Nr. 28537/02, 36, 46–49; EGMR, Urteil v. 28.6.2007, Association for European Integration and Human Rights and Ekimdzhiev ./. Bulgarien, Nr. 62540/00, §§ 95–103; s. auch M. K. Addo, The Corporation as a Victim of Human Rights Violations, in: ders. (Hrsg.), Human Rights Standards and the Responsibility of Transnational Corporations, 1999, S. 187 (195); van den Muijsenberg/Rezai (Anm. 9 ), S. 49. 53 EGMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 12.11.2002, Fortum Oil and Gas Oy ./. Finnland,
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lauts die Eigentumsgarantie nach Art. 1 ZP1-EMRK.54 Weiterhin gelten das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK und die Beschränkung der Rechtseinschränkungen nach Art. 18 EMRK 55 unproblematisch auch für juristische Personen. Im Yukos-Urteil etwa werden die Artikel 6, 7, 13, 14, 18 EMRK und Art. 1 ZP1-EMRK erörtert, ohne dass die Frage der Rechtsträgerschaft der Beschwerdeführerin als juristischer Person problematisiert würde.56
b) Keine Rechtsträgerschaft juristischer Personen Auf der anderen Seite gilt die Anwendbarkeit des Rechts auf Leben nach Art. 2 EMRK,57 des Verbots der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung nach Art. 3 EMRK,58 des Rechts auf Freiheit und Sicherheit nach Art. 5 EMRK,59 der Gewissensfreiheit in Art. 9 EMRK60 sowie des Rechts auf Eheschließung, Art. 12 EMRK61 wegen des primär individualistischen und menschenwürdebezogenen Gehalts dieser Rechte gemeinhin als ausgeschlossen.62 Für eine derartige Gewährleistungserstreckung besteht auch kein praktisches Bedürfnis, etwa für ein Recht auf Leben von juristischen Personen (wie es im Zusammenhang mit dem Yukos-Fall tatsächlich diskutiert wurde), schon weil entsprechende Beschwerden offenbar nicht eingereicht werden.63 Schließlich würde ein Recht auf Leben die staatliche Regelungshoheit für die Gestaltung des Gesellschaftsrechts und insbesondere Gründungsanforderungen oder die zwangsweise Liquidation von juristischen Personen beschränken.64
Nr. 32559/96, § 3 ; vgl. auch EGMR, Radio France ./. Frankreich (Anm. 46), §§ 17–20; s. Addo (Anm. 52), S. 195; van den Muijsenberg/Rezai (Anm. 9 ), S. 49. 54 S. etwa EGMR, Urteil v. 25.7.2002, Sovtransavto Holding ./. Ukraine, Nr. 48553/99, Recueil 2002VII, §§ 84 ff.; s. Oliver (Anm. 35), S. 1767; vgl. J. Basedow/F. W. Bulst, Der Eigentumsschutz nach der EMRK als Teil der europäischen Wirtschaftsverfassung, in: H. Bauer u.a. (Hrsg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat. Festschrift für Reiner Schmidt zum 70. Geburtstag, 2006, S. 3. 55 van den Muijsenberg/Rezai (Anm. 9 ), S. 49. 56 EGMR, Oao Neftyanaya Kompaniya Yukos ./. Russland (Anm. 9 ), §§ 661 ff. 57 EGMR, Urteil v. 6.4.2000, Comingersoll ./. Portugal, Nr. 35382/97, Recueil 2000-IV, zustimmendes Sondervotum des Richters Rozakis, dem sich die Richter Bratza, Caflisch und Vajić anschlossen. 58 EKMR, Verein „Kontakt-Information-Therapie“ (KIT) und Hagen ./. Österreich (Anm. 41), § 1 (4); EGMR, Comingersoll ./. Portugal (Anm. 57), zustimmendes Sondervotum des Richters Rozakis, dem sich die Richter Bratza, Caflisch und Vajić anschlossen. 59 EKMR, Boucheras und Groupe Information Asiles ./. Frankreich (Anm. 41), § 1 (1); EGMR, Teilentscheidung über die Zulässigkeit v. 1.10.2002, Wouterse Marpa Zeeland BV and Metal Welding Service BV ./. Niederlande, Nr. 46300/99, § B.2. 60 EKMR, Verein „Kontakt-Information-Therapie“ (KIT) und Hagen ./. Österreich (Anm. 41), § 1 (4). 61 Emberland (Anm. 4 ), S. 33; Schweizer (Anm. 42), S. 105, Rn. 55 m.w.N. 62 Emberland (Anm. 31), S. 63; van den Muijsenberg/Rezai (Anm. 9 ), S. 50. 63 Ebd., S. 51. 64 L. J. Dhooge, Human Rights for Transnational Corporations, Journal of Transnational Law & Policy 16 (2007) 2, S. 197 (239).
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c) Kritische Fälle Bei einer dritten Gruppe von Gewährleistungen war die Anwendbarkeit zu Beginn fraglich und wurde von den Konventionsorganen zumindest sporadisch begründet. Dabei lassen sich zwei Argumentationsmuster unterscheiden, die sogleich näher zu untersuchen sind: Zum einen dient die kollektive Natur bestimmter Konventionsgarantien oder ihre kollektive Ausübung als dogmatischer Ansatzpunkt für die Berechtigung von privaten juristischen Personen und Personenvereinigungen.65 Juristische Person und hinter ihr stehende Individuen sollen hier praktisch nicht zu unterscheiden sein. Zum anderen argumentieren die Konventionsorgane mit der Vergleichbarkeit der Interessanlage von juristischer und natürlicher Person.66
2. Praktische Ununterscheidbarkeit von juristischer Person und hinter ihr stehenden Individuen Im Hinblick auf die Vereinigungsfreiheit nach Art. 11 EMRK und die in Art. 9 EMRK gewährleistete Religionsfreiheit begründen die Konventionsorgane die Rechtsträgerschaft juristischer Personen derivativ. Aufgrund des kollektiven Charakters von Religionsfreiheit und Vereinigungsfreiheit soll die juristische Person die hinter ihr stehenden Individuen als eigenständiger Rechtsträger repräsentieren können. Damit wird die im Hinblick auf die unmittelbare Betroffenheit der Beschwerdeführerin nach Art. 34 EMRK strenge Unterscheidung zwischen der juristischen Person und den hinter ihr stehenden Individuen für den Fall relativiert, dass es um die Rechtsträgerschaft und damit die potentielle Opfereigenschaft der juristischen Person geht. Die Konventionsorgane anerkannten ohne Weiteres, dass auch juristische Personen als Veranstalter einer Versammlung Opfer einer Verletzung der Versammlungsfreiheit nach Art. 11 EMRK sein können.67 Diese Einordnung war offenbar innerhalb des Gerichts unumstritten.68 Ebenso anerkannt ist, dass juristische Personen die 65 Auf diesen Gesichtspunkt reduziert bei V. Röben, Kapitel 5: Grundrechtsberechtigte und -verpflichtete, Grundrechtsgeltung, in: O. Dörr u.a. (Hrsg.), EMRK/GG. Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, S. 253, Rn. 42; ihm folgend Schweizer (Anm. 42), S. 104, Rn. 54. 66 Vgl. Pettiti/Schutter (Anm. 33), S. 146: „requête en tant que victime indirecte“ vs. „requête d’intérêt collectif “; Schutter (Anm. 43), S. 100. 67 EKMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 10.1.0.1979, Rassemblement jurassien und Unité jurassienne ./. Schweiz, Nr. 8191/78, DR 17, 93 (EuGRZ 1980, 36), S. 118 ff.; EKMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 16.7.1980, Christians against Racism and Fascism ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 8440/78, DR 21, 138 (148–149); EKMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 15.3.1984, Vereinigung A. und H. ./. Österreich, Nr. 9905/82, DR 36, 187 (191–192), § 2 . S. auch EGMR, Urteil v. 21.6.1988, Plattform „Ärzte für das Leben“ ./. Österreich, Nr. 10126/82, Serie A Nr. 139 (= EuGRZ 1989, 522), §§ 34 ff.; EGMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 14.5.2002, Gypsy Council u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 66336/01, § 6 ; EGMR, Urteil v. 14.9.2010, Hyde Park u.a. ./. Moldavien (Nr. 5 u. 6), Nr. 6991/08 u. 15084/08, § 32; EGMR (GK), Urteil v. 13.2.2003, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a. ./. Türkei, Nr. 41340/98, 41342/98, 41343/98 und 41344/98, §§ 87–88 für politische Parteien, u.a. mit deren wichtiger Rolle für die Gewährleistung von Pluralismus und Funktionieren der Demokratie. 68 Ku (Anm. 38), S. 748.
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Gewerkschaftsfreiheit nach Art. 11 EMRK geltend machen können.69 Darüber hinaus wird das Recht auf Bildung nach Art. 2 ZP1-EMRK für die Gründung und den Betrieb einer Privatschule umstandslos auch juristischen Personen gewährleistet.70 Auch bei der Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK gilt die ansonsten strenge Differenzierung zwischen juristischen Personen und ihren Mitgliedern als künstlich („essentially artificial“).71 Die EKMR argumentierte, dass eine Kirche in Wirklichkeit im Namen ihrer Mitglieder handele, wenn sie eine Beschwerde einlege. Deshalb müsse anerkannt werden, dass auch die Kirche die in Art. 9 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Rechte im eigenen Namen für ihre Mitglieder („in its own capacity as a representative of its members“) besitzen und ausüben kann.72 Später betrachtete die EKMR diese stellvertretende Geltendmachung von Rechten der Mitglieder als Alternative zur Geltendmachung eigener Rechte („either in its own capacity or as a representative of its members“).73 Ab Mitte der 1980er Jahre ging die Kommission dann offenbar schlicht von der Berechtigung von Religionsgemeinschaften nach Art. 9 EMRK aus und verzichtete auf eine Erörterung der Frage, ob die Religionsgemeinschaft eigene Rechte oder Rechte ihrer Mitglieder geltend macht.74 Später stützte der Gerichtshof allerdings die Grundrechtsberechtigung eines religiösen Vereins wieder ausdrücklich auf den Repräsentationsgedanken.75 Daneben bejahte der EGMR in Verfahren, die das Selbstbestimmungsrecht von Religionsgemeinschaften zum Gegenstand hatten, ohne Weiteres eine Berechtigung aus Art. 9 EMRK.76 Diese Rechtsprechung lässt sich auf einen Begriff bringen, wenn man davon ausgeht, dass die korporative Religionsfreiheit in der Konzeption des EGMR der individuellen dienen soll. Daher zieht der EGMR den Repräsentationsgedanken dann heran, wenn eine Religionsgemeinschaft materielle Individualrechte geltend macht.77 Kon S. die Nachweise in Frowein/Peukert (Anm. 43), Art. 34 Rn. 18. EGMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 6.9.1995, Verein Gemeinsam Lernen ./. Österreich, Nr. 23419/94; vgl. Emberland (Anm. 4 ), S. 53, Fn. 154: „[t]he right to education […] has been said to be sufficiently collective to include associations’ claims“. 71 EGMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 5.5.1979, Church of Scientology ./. Schweden, Nr. 7805/77, DR 16, 68 (71); EKMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 19.3.1981, Omkarananda und Divine Light Zentrum ./. Schweiz, Nr. 8118/77, DR 25, 105 (117). 72 EGMR, Church of Scientology ./. Schweden (Anm. 71), S. 70; Änderung der Rechtsprechung gegenüber EKMR, Entscheidung v. 17.12.1968, Church of X., Nr. 3798/68, Yb 12 (1969), 306 (314); s. auch EKMR, Omkarananda und Divine Light Zentrum ./. Schweiz (Anm. 71); vgl. C. Walter, Religionsverfassungsrecht in vergleichender und internationaler Perspektive, 2006, S. 370 ff.; J.-P. Schouppe, La dimension institutionnelle de la liberté de religion dans la jurisprudence de la Cour européenne des droits de l’homme, 2015, insb. S. 191 ff. 73 EKMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 13.3.1986, Vereniging Rechtswinkels Utrecht, Nr. 11308/84, DR 46, 200 (202). 74 C. Walter, Kapitel 17: Religions- und Gewissensfreiheit, in: O. Dörr u.a. (Hrsg.), EMRK/GG. Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, S. 957 (1017), Rn. 104. 75 EGMR (GK), Urteil v. 27.6.2000, Cha’are Shalom Ve Tsedek ./. Frankreich, Nr. 27417/95, Recueil 2000-VII, § 72; EGMR, Urteil v. 2001, Metropolitan Church of Bessarabia ./. Moldawien, Nr. 58911/00, § 101; EGMR, Urteil v. 6.11.2008, Leela Förderkreis e.V. u.a. ./. Deutschland, Nr. 58911/00, § 79. 76 S. etwa EGMR, Urteil v. 20.10.2000, Hasan u. Caush ./. Bulgarien, Nr. 30985/96, Recueil 2000XI, §§ 60 ff.; EGMR, Urteil v. 31.7.2008, Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas ./. Österreich, Nr. 4 0825/98, §§ 62–63. 77 Walter (Anm. 74), S. 1018, Rn. 105. 69
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sequenterweise können sich dann nicht-religiöse, gewinnorientierte juristische Personen nicht auf die Religionsfreiheit berufen, um sich gegen ihre Kirchensteuerpflichtigkeit zu wenden.78
3. Vergleichbarkeit der Interessenlage von juristischer und natürlicher Person Die zweite Variante der Begründung einer Rechtsträgerschaft und Parteifähigkeit juristischer Personen stützt sich auf die Vergleichbarkeit der Interessenlage mit der Situation bei der Verletzung der Rechte von natürlichen Personen. Das Vorgehen der Konventionsorgane zeigt sich beim Schutz von Geschäftsräumen juristischer Personen als „Wohnung“ nach Art. 8 EMRK sowie bei der Freiheit der Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK. In beiden Fällen übernimmt der EGMR eine Pionierrolle, etwa gegenüber dem EuGH oder dem deutschen Bundesverfassungsgericht.79
a) Schutz der Privatsphäre, Art. 8 EMRK Zwar stellte die EKMR zunächst fest, dass Art. 8 EMRK im Gegensatz zu Art. 9 EMRK einen eher individuellen als kollektiven Charakter habe, weil das Hauptziel von Art. 8 EMRK der Schutz des Einzelnen vor Behördenwillkür sei.80 Dennoch können juristische Personen vor dem EGMR neben dem Schutz ihrer Korrespondenz81 auch den Schutz ihrer Geschäftsräume mit gleichem Recht einfordern wie Individuen.82 In diesen Fällen werden nicht die hinter der juristischen Person stehenden Individuen in ihrem Recht aus Art. 8 EMRK verletzt; allenfalls ist unter Umständen das Eigentumsrecht von Anteilseignern betroffen (Art. 1 ZP1-EMRK), wenn etwa Geschäftsräume eines Unternehmens durchsucht werden.83 Das Argument der praktischen Ununterscheidbarkeit von juristischer Person und den hinter ihr stehenden Individuen steht hier also nicht zu Verfügung; der Repräsentationsgedanke passt nicht. Die Grundrechtsträgerschaft der juristischen Person muss daher anders begründet werden. 78 EKMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 27.2.1997, Company X ./. Schweiz, Nr. 7865/77, DR 16, 85; EKMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 15.4.1996, Kustannus Oy Vapaa Ajattelija AB u.a. ./. Finnland, Nr. 20471/92, DR 85, 29. 79 Emberland (Anm. 4 ), S. 134–135 m.N. 80 EKMR, Entscheidung über die Zulässigkeit v. 9.1.1995, Church of Scientology of Paris ./. Frankreich, Nr. 19509/92, § 1 (5): „more an individual than a collective character“. Allerdings hat auch Art. 8 EMRK eine kollektive Dimension, weil das Recht auf Achtung des Privatlebens in einem bestimmten Umfang auch das Recht umfasst, Beziehungen zu anderen Menschen aufzunehmen und weiterzuentwickeln, s. EGMR, Urteil v. 16.12.1992, Niemietz ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 13710/88, Serie A 251-B (= EuGRZ 1993, 65 = NJW 1993, 718), § 29. 81 EGMR, Urteil v. 28.6.2007, Association of European Integration and Human Rights ./. Bulgarien, Nr. 62540/00, § 60; EGMR, Urteil v. 16.10.2007, Wieser und Bicos Beteiligungen GmbH ./. Österreich, Nr. 74336/01, Recueil 2007-IV, §§ 43, 45 (auch „Wohnung“); EGMR, Urteil v. 14.3.2011, Bernh Larsen Holding AS u.a. ./. Norwegen, Nr. 24117/08, § 108. 82 EGMR, Urteil v. 16.4.2002, Société Colas Est ./. Frankreich, Nr. 37971/97, Recueil 2002-III, § 42 (der EGMR macht sich hier den Vortrag der französischen Regierung, § 30 zu eigen). 83 Harding/Kohl/Salmon (Anm. 5 ), S. 37.
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Der EGMR verwies im Fall Niemietz zum einen auf den französischen Wortlaut des Art. 8 EMRK. Dabei hob der Gerichtshof hervor, dass der Begriffsinhalt des Wortes „domicile“ weiter reiche als derjenige des Wortes „home“ und beispielsweise das Arbeitszimmer eines freiberuflich Tätigen umfassen könne.84 Vor allem aber argumentierte der Gerichtshof pragmatisch: 85 Würde man den Schutz des Art. 8 EMRK mit dem Argument versagen, die gerügte Maßnahme beziehe sich allein auf berufliche Tätigkeiten, so könnte dies zu einer Ungleichbehandlung führen. Der Schutz greife nämlich durchaus zugunsten von Personen, bei denen berufliche und nichtberufliche Tätigkeiten in einem Maße ineinandergreifen, dass eine Unterscheidung kaum möglich wäre: Man könne durchaus bei sich zu Hause beruflichen oder geschäftlichen Tätigkeiten nachgehen oder sich in seinem Arbeitszimmer oder in einem Geschäftsraum einer Privatangelegenheit widmen.86 Im Fall Niemietz lag diese Argumentation in der Tat nahe, betraf er doch den Schutz des Büros eines Rechtsanwalts, eines „freiberuflich Tätigen“, bei dem „das, was er tut, so sehr Teil seines Lebens sein [kann], daß man nicht sagen kann, in welcher Eigenschaft er in einem gegebenen Augenblick handelt“.87 Jedoch ist gerade dieses Argument der Vermeidung von Abgrenzungsschwierigkeiten und daraus eventuell resultierender Ungleichbehandlungen auf den Fall Colas Est 88 nicht übertragbar. Da dieser ausschließlich Geschäftsräume einer juristischen Person betraf, formulierte der EGMR etwas vage: The Court reiterates that the Convention is a living instrument which must be interpreted in the light of present-day conditions […]. Building on its dynamic interpretation of the Convention, the Court considers that the time has come to hold that in certain circumstances the rights guaranteed by Article 8 of the Convention may be construed as including the right to respect for a company’s registered office, branches or other business premises (see, mutatis mutandis, Niemietz […]).89
Diese Begründung provoziert natürlich die Fragen, welche denn jene „present-day conditions“ sein sollen, auf die sich die dynamische Auslegung bezieht, und warum überhaupt eine dynamische Interpretation die Ausweitung des Schutzes von Unternehmen begründen soll.90 Der EGMR bleibt die Antwort schuldig. Die dynamische Interpretation und evolutive Expansion ist prägend für die Rechtsprechung zur Rechtsträgerschaft juristischer Personen in dieser Fallgruppe.91 Der EGMR argumentiert allerdings weniger mit den subjektiven Interessen der juristischen Person als mit der objektiven Förderung der Konventionsziele.92 Die Gleichstellung der juristischen mit der natürlichen Person, die dadurch bewirkt wird, dass sie in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK einbezogen wird, bezieht sich aus EGMR, Niemietz ./. Bundesrepublik Deutschland (Anm. 80), § 30. van den Muijsenberg/Rezai (Anm. 9 ), S. 55. 86 EGMR, Niemietz ./. Bundesrepublik Deutschland (Anm. 80), § 30. 87 Ebd., § 29; Die Entscheidung Niemietz wurde bestätigt in EGMR, Urteil v. 25.2.1993, Miailhe ./. Frankreich, Nr. 12661/87, Serie A Nr. 256-C. 88 EGMR, Société Colas Est ./. Frankreich (Anm. 82); vgl. Emberland (Anm. 4 ), S. 54. 89 EGMR, Société Colas Est ./. Frankreich (Anm. 82), § 41. 90 Harding/Kohl/Salmon (Anm. 5 ), S. 28. 91 Vgl. van den Muijsenberg/Rezai (Anm. 9 ), S. 59; Harding/Kohl/Salmon (Anm. 5 ), S. 28: „boundaries are being pushed constantly“. 92 Emberland (Anm. 4 ), S. 136. 84 85
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drücklich nur auf eine bestimmte Situation („certain circumstances“). Im konkreten Fall war die Durchsuchung der Geschäftsräume in großem Umfang auf der Grundlage weit formulierter Befugnisse und damit ohne gesetzliche Vorkehrungen gegen einen Missbrauch dieser Befugnisse sowie ohne gerichtlichen Durchsuchungsbeschluss erfolgt.93 Damit war die Freiheit von Willkür als Eckstein des Rechtsstaats prinzips betroffen. Zwar kann man grundsätzlich einwenden, die Berufung auf die Rechtsstaatlichkeit als in der Präambel benanntem objektiven Konventionsziel sei deshalb zirkulär, weil die rule of law nur dann betroffen sein könne, wenn juristische Personen überhaupt Rechtsträger seien.94 Entscheidend ist indes, dass es dem EGMR auf die objektive Förderung der Freiheit vor Regierungswillkür ankam.95 Unabhängig davon lässt sich durchaus argumentieren, dass juristische Personen unter Umständen den Schutz der Privatsphäre genießen sollen. Grundlage dafür ist die Erwägung, dass etwa Unternehmen unabhängig von ihrem „individuellen Sub strat“ einen „inneren Bereich“ benötigen, der vom Eindringen der Öffentlichkeit freigehalten wird. Sie müssen auch als Unternehmen mit Geschäftspartnern und anderen Akteuren Beziehungen eingehen können.96 Besonders deutlich wird diese Loslösung vom „individuellen Substrat“ und die Verselbständigung der juristischen Person beim Schutz ihrer Reputation.97 Gerade die Verselbständigung der juristischen Person begründet in diesen Fällen die einer natürlichen Person vergleichbare Schutzbedürftigkeit.
b) Freiheit der Meinungsäußerung, Art. 10 Abs. 1 EMRK Die Freiheit der Meinungsäußerung gestand der EGMR im Sunday Times einer juristischen Person ohne weitere Diskussion zu.98 Zu einer Begründung veranlasst sah sich der Gerichtshof erst im Fall Autronic AG, der den Empfang von Fernsehprogrammen mittels Telekommunikationssatelliten und damit rein kommerziell motivierte Äußerungen betraf („corporate commercial speech“).99 Ähnlich wie bei Art. 8 EMRK lehnte der EGMR Kategorisierungen aus pragmatischen Gründen ab:100 Nach Ansicht des Gerichtshofs kann weder der rechtliche Status der Autronic AG als EGMR, Niemietz ./. Bundesrepublik Deutschland (Anm. 80), §§ 48–49. Harding/Kohl/Salmon (Anm. 5 ) 95 Emberland (Anm. 4 ), S. 135–136, 141; van den Muijsenberg/Rezai (Anm. 9 ), S. 55–56. 96 Emberland (Anm. 4 ), S. 144–145. 97 EGMR, Urteil v. 20.11.1989, markt intern Verlag GmbH und Klaus Beermann ./. Deutschland, Nr. 10572/83, Serie A Nr. 165, § 34; EGMR, Urteil v. 25.8.1998, Hertel ./. Schweiz, Nr. 25181/94, § 42; EGMR, Urteil v. 19.7.2011, Uj ./. Ungarn, Nr. 23954/10, § 22; s. dazu J.-P. Costa, La Cour européenne des droits de l’homme protège-t-elle assez le droit à la réputation, et de qui?, in: J. Casadevall (Hrsg.), Mélanges en l’honneur de Dean Spielmann, 2015, S. 109 (114); vgl. auch Harding/Kohl/Salmon (Anm. 5 ), S. 23 ff. 98 EGMR, Urteil v. 26.4.1979, Sunday Times ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 6538/74, Serie A Nr. 30, § 45. 99 S. zum Schutz nichtkommerzieller Aktivitäten auch EGMR, Urteil v. 20.9.1994, Otto-Preminger-Institut ./. Österreich, Nr. 13470/87, Serie A Nr. 295-A; EGMR, Urteil v. 19.12.1994, Vereinigung Demokratischer Soldaten Österreichs und Gubi ./. Österreich, Nr. 15153/89, Serie A Nr. 302; EKMR, Open Door Counselling Ltd. u.a. ./. Irland (Anm. 33). 100 Emberland (Anm. 4 ), S. 138; van den Muijsenberg/Rezai (Anm. 9 ), S. 57. 93
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juristischer Person noch die kommerzielle Natur ihrer Tätigkeiten sie des Schutzes von Art. 10 EMRK berauben. Art. 10 EMRK ist vielmehr auch auf gewinnorientierte juristische Personen anwendbar. Zur Begründung stützt sich der Gerichtshof auf den Wortlaut „jedermann“ sowie auf die ausdrückliche Erwähnung von bestimmten Unternehmen in Art. 10 Abs. 1 Satz 3 EMRK.101 Dieses Wortlautargument vermag indes kaum zu überzeugen, erfasst doch der persönliche Schutzbereich anderer, ebenfalls „jedermann“ gewährleisteten Konventionsgarantien, namentlich Art. 2 und 3 EMRK, juristische Personen zweifelsohne nicht.102 Neben dem pragmatischen Argument der Vermeidung von Abgrenzungsschwierigkeiten bleibt auch hier die objektive Bedeutung der Meinungsfreiheit und des Informationsinteresses der Öffentlichkeit für die Ziele der Konvention, hier die in der Präambel benannte „wahrhaft demokratische politische Ordnung“. Der EGMR hebt denn auch in diesem Zusammenhang hervor, dass das Recht der freien Meinungsäußerung einer der Grundpfeiler einer demokratischen Gesellschaft sei.103
IV. Besonderheiten bei Kontrollstandard und Entschädigungshöhe Die Einbeziehung von juristischen Personen in den Schutzmechanismus der EMRK bedeutet allerdings nicht ihre vollständige Gleichstellung. Im Hinblick auf den Kontrollstandard lässt sich feststellen, dass bei einer Inanspruchnahme der Konventionsgewährleistungen für wirtschaftliche Aktivitäten der Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten grundsätzlich eine größere Rolle spielt. So wird die Vereinbarkeit von Eingriffen in das Eigentumsrecht mit dem öffentlichen Interesse i.S. von Art 1 ZP1-EMRK vermutet, sofern sie nicht „manifestly without reasonable foundation“ sind.104 Auch bei der Freiheit der Meinungsäußerung ist etabliert, dass ein Beurteilungsspielraum „im Wirtschaftsleben“ von erheblicher Bedeutung ist („commercial speech“). Der Gerichtshof beschränkt seine Prüfung auf die Frage, ob die getroffenen Maßnahmen auf der nationalen Ebene grundsätzlich gerechtfertigt werden können und verhältnismäßig sind.105 Weniger gefestigt ist der erweiterte mitgliedstaatliche Beurteilungsspielraum bei der Durchsuchung von Wohnungen und der Kontrol101 EGMR, Urteil v. 22.5.1990, Autronic AG ./. Schweiz, Nr. 12726/87, EuGRZ 1990, 261 = NJW 1991, 620, § 47 unter Verweis auf s. auch EGMR, Sunday Times ./. Vereinigtes Königreich (Anm. 98); EGMR, markt intern Verlag GmbH und Klaus Beermann ./. Deutschland (Anm. 97); EGMR, Urteil v. 28.3.1990, Groppera Radio u.a. ./. Schweiz, Nr. 10890/84, Serie A Nr. 173 (= EuGRZ 1990, 255 = NJW 1991, 615). 102 Harding/Kohl/Salmon (Anm. 5 ), S. 28. 103 EGMR, Sunday Times ./. Vereinigtes Königreich (Anm. 98), § 65 mit Verweis auf EGMR, Urteil v. 7.12.1976, Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 5493/72, Serie A Nr. 24, s. dort § 49; vgl. Emberland (Anm. 4 ), S. 145–146; van den Muijsenberg/Rezai (Anm. 9 ), S. 58. 104 EGMR, Urteil v. 21.2.1986, James u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 8793/79, Serie A Nr. 98, § 46. 105 EGMR, markt intern Verlag GmbH und Klaus Beermann ./. Deutschland (Anm. 97), § 33; s. auch EGMR, Urteil v. 23.6.1994, Jacubowski ./. Deutschland, Nr. 15088/89, Serie A Nr. 291 (= NJW 1995, 857), § 26; EGMR, Urteil v. 10.1.2013, Ashby Donald ./. Frankreich, Nr. 36769/08, § 39. Ausführlich P. Oliver/T. Bombois, La liberté d’expression commerciale en droit de l’Union européenne, Annuaire de droit de l’Union européenne (2014), S. 3 (4–14); kritisch L. Marino, Plaidoyer pour la liberté d’expression, droit fondamental de l’entreprise, Revue trimestrielle de droit commercial (2011) 1, S. 1 (7–8).
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le des Briefverkehrs juristischer Personen.106 Der EGMR hält sich bei der Erklärung dieses Kontrollstandards wiederum zurück.107 Erkennbar ist immerhin, dass der erweiterte Beurteilungsspielraum nicht auf der Unterscheidung zwischen natürlichen und juristischen Personen beruht, sondern auf der Differenzierung zwischen wirtschaftlichen und nicht-wirtschaftlichen Aktivitäten. Der EGMR hat auch juristischen Personen als „gerechte Entschädigung“ i.S. von Art. 41 EMRK den Ersatz immaterieller Schäden zugesprochen.108 Im Fall Comingersoll sprach der Gerichtshof eine Entschädigung nach Art. 41 EMRK jedenfalls teilweise für den Verlust zu, den individuelle Mitglieder einer Gesellschaft erlitten hatten. Der Gerichtshof argumentierte dabei vor allem mit der praktischen Wirksamkeit der Konventionsgarantien. Da der Gerichtshof hauptsächlich über Geldentschädigungen für Abhilfe sorgen könne, lege der Gedanke der praktischen Wirksamkeit auch den Ausgleich immaterieller Schäden für juristische Personen und Unternehmen nahe.109 Als relevanten Anknüpfungspunkt für die Entschädigungsleistung benannte der Gerichtshof die Reputation einer juristischen Person, Planungsunsicherheit und Störungen in der Unternehmensführung, die durch eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren Art. 6 EMRK durch eine überlange Verfahrensdauer bewirkt werden können.110 Grundlage der Entschädigung ist daneben der immaterielle Schaden, der den natürlichen Personen hinter der juristischen Person, ihrem „individuellen Substrat“, zugefügt wird.111 Im Urteil Comingersoll bezieht der Gerichtshof explizit, allerdings „in geringerem Umfang“, die Unannehmlichkeiten mit ein, die den Mitgliedern der Geschäftsführung des Unternehmens bereitet worden sind.112 Vier Richter wollten dagegen nur die Gesellschaft als solche mit eigenen Attributen wie ihrer Reputation für Folgen der Verletzung entschädigen, nicht jedoch ihre „human components“ für die erlittene Angst oder Ungewissheit. Entscheidendes Kriterium ist für diese vier Richter, inwieweit sich die juristische Person verfestigt und gegenüber ihren Mitgliedern verselbständigt hat. Dies sei beim Schutz des fairen Verfahrens zugunsten eines Wirtschaftsunternehmens eher anzunehmen als bei einer politischen Partei in einem Fall, der die Versammlungsfreiheit betraf.113 In den Unterschieden zwischen der Mehrheit und den vier Richtern, die hinter dem Sonder106 EGMR, Bernh Larsen Holding AS u.a. ./. Norwegen (Anm. 81), § 159; EGMR, Urteil v. 2.10.2014, Delta Pekárny ./. Tschechische Republik, Nr. 97/11, abweichende Meinung der Richter Villiger, Yudoviska und Pejchal, § 2 ; vgl. J. Laffranque, Dawn raids, surprises and promises : on competition and human rights, in: J. Casadevall (Hrsg.), Mélanges en l’honneur de Dean Spielmann, 2015, S. 307 (309). 107 Vgl. Emberland (Anm. 4 ), S. 156–196. 108 EGMR, Urteil v. 27.2.1992, Manifattura FL ./. Italien, Nr. 12407/86 (noch implizit); EGMR, Comingersoll ./. Portugal (Anm. 57), § 35 (nunmehr explizit); seither st. Rspr., s. EGMR, Urteil v. 2.8.2001, Grande Oriente d’Italia di Palazzo Giustiniani ./. Italien, Nr. 35972/97; § 38; EGMR, Urteil v. 4.10.2005, Maisons traditionelles ./. Frankreich, Nr. 68397/01, § 35; EGMR, Urteil v. 8.6.2004, Clinique Mozart SARL ./. Frankreich, Nr. 46098/99, § 4 0. 109 EGMR, Comingersoll ./. Portugal (Anm. 57), §§ 35–36. 110 Ebd., § 35. 111 M. Emberland, Compensating Companies for Non-Pecuniary Damage. Comingersoll S.A. v Portugal and the Ambivalent Expansion of the ECHR Scope, British Yearbook of International Law 74 (2003), S. 4 09 (429 f.). 112 EGMR, Comingersoll ./. Portugal (Anm. 57), § 35; s. auch EGMR v. 4.3.2014, Microintelect OOD ./. Bulgarien, Nr. 34129/03, § 59. 113 EGMR, Comingersoll ./. Portugal (Anm. 57), zustimmendes Sondervotum des Richters Rozakis,
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votum stehen, werden unterschiedliche Verständnisse der juristischen Person erkennbar. Das Sondervotum folgt mit besonderer Deutlichkeit der Vorstellung von der realen Verbandspersönlichkeit. Die Mehrheit bleibt hier unbestimmt. Erkennbar wird aber, dass die hinter dem Sondervotum stehenden Richter stärker auf die Rechtsstaatlichkeit als Ziel der EMRK fokussiert sind als die Mehrheit, die stärker den Menschenwürdegehalt der Konventionsgarantien betont.114 Ein Grund dafür, auch juristischen Personen eine Entschädigung nach Art. 41 EMRK zuzusprechen, besteht darin, dass es auf diese Weise möglich wird, schwer zu beziffernde Schäden auszugleichen.115 Allerdings wird juristischen Personen im Vergleich zu natürlichen Personen in derselben Situation ungefähr 42 % mehr Entschädigung zugesprochen.116 In der Literatur wurde dieser Umstand als im Einklang mit der Vorstellung gebilligt, dass hinter der juristischen Person letztlich Geschädigte individuelle Rechteträger stünden.117 Darin liegt in der Tat eine plausible Erklärung für die höheren Entschädigungssummen, die indes die Verselbständigung der juristischen Person wiederum relativiert. Partiell ist indes auch eine Zurückhaltung beim Zusprechen von Entschädigung zu verzeichnen, wenn der Gerichtshof die Feststellung der Verletzung als Ausgleich genügen lässt.118 Damit bleiben auch die Vorstellungen von der Eigenständigkeit der juristischen Person unscharf, auf die sich aus der Rechtsprechung zu Art. 41 EMRK schließen lässt.
V. Normative Rechtfertigung Bei der Entschädigungshöhe wie auch schon bei den beiden dogmatischen Begründungansätzen – der praktischen Ununterscheidbarkeit von juristischer Person und hinter ihr stehenden Individuen wie auch der Vergleichbarkeit der Interessenlage – wird erkennbar, dass die Rechte juristischer Personen nicht um ihrer selbst willen geschützt werden. Ihr Schutz ist vielmehr funktional entweder auf die Rechte der hinter der juristischen Person stehenden Individuen oder aber allgemeiner auf objektive Konventionsziele wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bezogen.119 Die Gleichstellung juristischer mit natürlichen Personen impliziert damit nur bedingt eine „Humanisierung“ der juristischen Person.120 Im ersten Fall gilt die Unter scheidung zwischen juristischer Person und hinter ihr stehenden Individuen aus praktischen Gründen als „künstlich“, im zweiten Fall wird die Vergleichbarkeit von natürlicher und juristischer Person gerade durch die Bedeutung ihres Schutzes für dem sich die Richter Sir Nicolas Bratza, Caflisch und Vajic´ anschlossen, § 3 ; vgl. Emberland (Anm. 4 ), S. 143. 114 Emberland (Anm. 111), S. 430. 115 Tricoit (Anm. 7), S. 103; s. etwa EGMR, Maisons traditionelles ./. Frankreich (Anm. 108), § 35; EGMR, Clinique Mozart SARL ./. Frankreich (Anm. 108), § 4 0. 116 S. Altwicker-Hàmori/T. Altwicker/A. Peters, Measuring Violations of Human Rights. An Empirical Analysis of Awards in Respect of Non-Pecuniary Damage under the European Convention on Human Rights, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 76 (2016) 1, S. 1 (32). 117 Ebd., S. 39. 118 EGMR, Grande Oriente d’Italia di Palazzo Giustiniani ./. Italien (Anm. 108), § 38. 119 S. zu „subjective approach“ und „objective approach“ auch Emberland (Anm. 4 ), S. 57 ff. 120 Kritisch Harding/Kohl/Salmon (Anm. 5 ), S. 32–37.
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objektive Konventionsziele hergestellt. Die Bedeutung insbesondere der Meinungsäußerungs-, Versammlungs-, aber auch der Religionsfreiheit für das Funktionieren eines demokratischen Systems wird in der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch in anderem Zusammenhang immer wieder hervorgehoben.121 Damit lässt sich die Einbeziehung juristischer Personen in den Schutzbereich von Versammlungs- und Religionsfreiheit sogar doppelt, nämlich mit beiden dargelegten Argumentationsfiguren, begründen. Jedenfalls als Hintergrundannahme wird in dieser Rechtsprechung, die auch rein kommerziellen Zwecken dienende juristische Personen in den Schutzmechanismus der Konvention einbezieht, eine europäische Form des Liberalismus erkennbar, in der Demokratie, Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit eng miteinander verknüpft sind.122 Der EGMR ist sich der wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung der Konvention, die vornehmlich bürgerliche und politische Rechte gewährleistet, wohl bewusst.123 Da sich die Präambel der EMRK auch auf das Ziel des Europarats bezieht, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herzustellen, wird teilweise darüber hinaus auch auf die Bedeutung der Grundrechte von Unternehmen für die wirtschaftliche Einheit in Europa hingewiesen.124
1. Menschenrechte für juristische Personen in der Kritik Die Rechtsprechung des EGMR dient den Kritikern einer Erstreckung menschenrechtlicher Gewährleistungen auf juristische Personen und insbesondere auf Wirtschaftskonzerne als erste Referenz.125 Zur Zielschreibe der Kritik wird die EMRK gerade auch wegen ihrer Vorbildfunktion für den Menschenrechtsschutz weltweit.126 Auf globaler Ebene wird kritisiert, ein Paradigma der „trade-related market-friendly human rights“ „verzerre“ die Menschenrechte und verdränge die ursprüngliche Bedeutung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 als Sprache der Inklusion,127 die sich auf die menschliche Würde und die Verletzbarkeit des menschlichen Körpers („embodied vulnerability“) beziehe.128 Mit dem „Rights Talk in the Domain of Supply and Demand“129 instrumentalisierten die wirtschaftlichen Interes121 Schweizer (Anm. 42), S. 104, Rn. 55; s. zum öffentlichen Interesse an der Anerkennung und Durchsetzung von Grundrechten für Unternehmen auch Oliver (Anm. 6 ), S. 662. 122 Emberland (Anm. 4 ), S. 42–44 m.w.N.; J. Klabbers, Marius Emberland, ‘The Human Rights of Companies’, Finnish Yearbook of International Law 17 (2006), S. 377. 123 EGMR, Urteil v. 9.10.1979, Airey ./. Irland, Nr. 6289/73, § 26: „Whilst the Convention sets forth what are essentially civil and political rights, many of them have implications of a social or economic nature.“ 124 Emberland (Anm. 4 ), S. 50–51. 125 Ku (Anm. 38), S. 746. 126 Grear (Anm. 5 ), S. 26–27. 127 U. Baxi, The Future of Human Rights, 3. Aufl., 2008, S. 134 ff. 128 A. Grear, Challenging Corporate ‘Humanity’. Legal Disembodiment, Embodiment and Human Rights, Human Rights Law Review 7 (2007) 3, S. 511 (516) mit Bezug auf Baxi (Anm. 127) und B. S. Turner, Vulnerability and Human Rights, 2006; A. Grear, Human Rights – Human Bodies? Some Reflections on Corporate Human Rights Distortion, The Legal Subject, Embodiment and Human Rights Theory, Law and Critique 17 (2006) 2, S. 171. 129 Harding/Kohl/Salmon (Anm. 5 ), S. 1.
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sen von Unternehmen die wirkmächtige Sprache der Menschenrechte.130 Wegen der engen Verstrickung von Menschenrechtsdiskurs und liberalem Kapitalismus, wie ihn die EMRK paradigmatisch vor Augen führe,131 machten sich globale Konzerne einen Diskurs zunutze, der sich dafür auch sehr gut nutzen lasse.132 Auf der andere Seite bestehen klare Defizite bei der menschenrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen, die unter dem Schlagwort der „corporate human rights accountability“ thematisiert wird.133 Daher wird wiederum zugunsten der Anerkennung von Menschenrechten juristischer Personen sogar argumentiert, sie trage dazu bei, dass Unternehmen ihrerseits ihre menschenrechtliche Verantwortlichkeit ernster nähmen.134 Andere halten das schlicht für naiv: Es würden vielmehr die Interessen von Wirtschaftsunternehmen moralisch aufgewertet und den Belangen lebender Menschen gleichgestellt.135 Unternehmen könnten die EMRK instrumentalisieren um die Regelungshoheit einzuschränken, die die Konventionsstaaten im Bereich der Wirtschafts- und Sozialgestaltung zugunsten der Belange von Individuen einsetzen könnten.136 Mit der Kumulation von Macht in der Hand großer kollektiver Akteure, den „oversize bees“137, nehme stattdessen auch die Verletzbarkeit von Individuen zu.138 Die berechtigte Kritik an der Verletzung von Menschenrechten durch Konzerne und an der Kumulation von Macht ist indes in einem juristischen oder auch rechtspolitischen Diskurs für sich genommen kein hinreichendes Argument, um juristischen Personen die Konventionsgarantien pauschal zu verweigern.139 Rechtspolitisch sprechen auch weder eine drohende Überlastung des EGMR noch der Schutzmechanismus des internationalen Investitionsschutzrechts als solcher gegen eine Einbeziehung von Wirtschaftsunternehmen in den Schutzmechanismus der EMRK. Wie ausgeführt, wird das Beschwerdeverfahren nur in geringem Umfang zur Verfolgung von rein kommerziellen Interessen genutzt.140 Insbesondere sind multinationale Konzerne relativ selten Beschwerdeführer vor dem EGMR.141 Ihre Beschwerden nehmen die knappen Ressourcen des überlasteten Gerichtshof also nur in beschränktem Umfang in Anspruch. Die Anrufung des EGMR wird zudem nicht durch das Regime des internationalen Investitionsschutzes überflüssig, sondern ergänzt dieses und füllt bestehende Schutzlücken. Inländische Unternehmen haben keine Möglichkeit, Rechtsschutz gegenüber ihrem eigenen Heimatstaat im Wege des diplomatischen Schutzes zu suchen, und auch das ICSID-System steht ihnen gemäß Art. 25 des Grear (Anm. 128), S. 516. Grear (Anm. 5 ), S. 25–27. 132 Grear (Anm. 128), S. 534. 133 Ebd., S. 514; s. auch schon Robertson (Anm. 24), S. 148 (Mr Nally). 134 Addo (Anm. 52), S. 196. 135 Grear (Anm. 128), S. 519. 136 Emberland (Anm. 4 ), S. 17; Tricoit (Anm. 7 ), S. 103; van den Muijsenberg/Rezai (Anm. 9 ), S. 52. 137 M. Dan-Cohen, Rights, Persons, and Organizations. A Legal Theory for Bureaucratic Society, 1986, S. 199. 138 Schutter (Anm. 43), S. 84. 139 van den Muijsenberg/Rezai (Anm. 9 ), S. 52. 140 S.o. bei Fn. 9. 141 Emberland (Anm. 4 ), S. 12; Grear (Anm. 5 ), S. 24. S. aber EGMR, Urteil v. 20.11.1995, BritishAmerican Tobacco Company Ltd ./. Niederlande, Nr. 19589/92, Serie A Nr. 331. 130 131
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ICISD-Übereinkommens nicht zur Verfügung. Danach ist die Zuständigkeit des Zentrums zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten grundsätzlich auf Rechtsstreitigkeiten zwischen einem Vertragsstaat und einem Angehörigen eines anderen Vertragsstaats beschränkt.142 Allerdings ist die Rechtsprechung des EGMR deshalb angreif bar, weil der Gerichtshof keine transparente Theorie der juristischen Person entwickelt hat. Angesichts der generellen Argumentationsweise und Methodik des Gerichtshofs verwundert dieses Defizit wiederum wenig.143 Insbesondere rechtfertigt das Argument des Gerichthofs, dass hinter der juristischen Person ja die Rechte und Interessen von Individuen stünden, nicht ohne Weiteres, Rechte der juristischen Person zu postulieren. Das gilt insbesondere für Menschenrechte: Selbst wenn Interessen von Individuen durch die juristische Person vertreten werden, lässt diese sich eben nicht einfach auf ihr menschliches „Substrat“ reduzieren oder wird mit diesem austauschbar. Das wird besonders deutlich bei der Verletzbarkeit menschlicher Körper. Denn die juristische Person ist ja gerade vom menschlichen Körper gelöst und überdauert den Tod ihrer „Gesellschafter“, sei es als Fiktion oder als reale Verbandspersönlichkeit. Der Begründungsansatz der praktischen Ununterscheidbarkeit vermag darüber hinaus nicht zu erklären, warum Beschwerdeführer nicht die Individuen als Gruppe sein sollen, denen die Religions- oder Versammlungsfreiheit gemeinsam zusteht, sondern die juristische Person. Das Argument der hinter der juristischen Person stehenden Individuen und ihrer Rechte verwechselt kollektive Rechte und juristische Person. Die juristische Person ist Rechtsträger als Einheit, nicht als Kollektiv.144 Überzeugend lässt sich die Rechtsträgerschaft juristischer Personen deswegen allein mit ihrer Bedeutung für objektive Konventionsziele begründen.
2. EMRK und integraler Föderalismus Wird die Rechtsprechung des EGMR zur Rechtsträgerschaft juristischer Personen in einer globalen Kritik des Menschenrechtsdiskurses mit dem „neoliberalen“ „Zeitgeist“ in Verbindung gebracht,145 so gilt es umso mehr, sich die konkreten entstehungsgeschichtlichen Grundlagen der EMRK zu vergegenwärtigen. In der aktuellen 142 Übereinkommen zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehö rigen anderer Staaten v. 18.3.1965, 575 UNTS 159, BGBl. 1969 II S. 371. Art. 25 Abs. 1 Satz 1 des ICISD-Übereinkommens besagt über die Zuständigkeit des Internationales Zentrums zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten: „Die Zuständigkeit des Zentrums erstreckt sich auf alle unmittelbar mit einer Investition zusammenhängenden Rechtsstreitigkeiten zwischen einem Vertragsstaat (oder einer von diesem abhängigen Gebietskörperschaft oder Stelle, die er dem Zentrum benennt) einerseits und einem Angehörigen eines anderen Vertragsstaats andererseits, wenn die Parteien schriftlich eingewilligt haben, die Streitigkeiten dem Zentrum zu unterbreiten.“ 143 Emberland (Anm. 4 ), S. 65–66; Harding/Kohl/Salmon (Anm. 5 ), S. 26; für eine klassische Darstellung der Theorien F. Hallis, Corporate Personality. A Study in Jurisprudence, 1930. Kritisch Grear (Anm. 128) (538): „… the pragmatism of the Court’s approach is deeply unsatisfactory from a critical perspective“; Grear (Anm. 5 ), S. 29. 144 Grear (Anm. 128), S. 517–518. S. zum Unterschied zwischen einer „collective conception“ und einer „corporate conception“ von Gruppenrechten P. Jones, Human Rights, Group Rights, and Peoples’ Rights, Human Rights Quarterly 21 (1999) 1, S. 80 (83 ff., 86 ff.). 145 Grear (Anm. 5 ), S. 25–26.
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Debatte um Menschenrechte für juristische Personen wird gerade auch um die Gegenwartsbedeutung der historischen Grundlagen des Menschenrechtsschutzes gerungen.146 Für die fortwährende Bedeutung der historischen Grundlagen der Menschenrechte wird insbesondere ihre Relevanz für eine kritische Perspektive angeführt: Die ideologischen Konturen des Liberalismus böten die Grundlage für die Begründung von Menschenrechten auch für Wirtschaftsunternehmen. Zudem haben die historischen Grundlagen des internationalen Menschenrechtsschutzes, die in einer Reaktion auf den Holocaust liegen, tiefgehende Bedeutung für ein Verständnis der Menschenrechte als Antwort auf die Verletzbarkeit körperlicher Personen.147 Aufschluss über die Vorstellungen, die mit der Einräumung eines Rechts zur Individualbeschwerde für nichtstaatliche Organisationen und Personengruppen verbunden waren, geben Dokumente aus der Zeit vor der Ausarbeitung des eigentlichen Konventionstexts. Die Versammlung des Europarats verließ sich in einem bemerkenswerten Ausmaß auf Vorarbeiten in der Europäischen Bewegung (European Movement / Mouvement Européen). In Vorbereitung des Haager Europa-Kongresses vom 7. bis 10. Mai 1948 hatte ein Komitee der Europäischen Bewegung, der Rechtsausschuss als Unterausschuss des Kulturausschusses (juridical subcommittee of the Cultural Committee) ein auf den 1. Mai 1948 datiertes Projet de Déclaration des Droits verfasst.148 Berichterstatter des Cultural Committee waren Alexandre Marc and Denis de Rougemont.149 Alexandre Marc wiederum, Journalist, Schriftsteller und von 1940 bis 1943 Angehöriger der Résistance, war Berichterstatter für das Projet de Déclaration des Droits. Schon dieser Entwurf enthielt besondere Bestimmungen zum Schutz der Rechte von „collectivités autonomes“. Auf dem Haager Europa-Kongress erläuterte Marc den Titel Projet de Déclaration des Droits, der bewusst den Bezug auf Menschenrechte unterließ: Pourquoi déclaration des droits et non pas des droits de l’homme? Parce que nous sommes quelques-uns à croire que nous devons affirmer d’un même geste, d’une même volonté, d’une même voix, les droits de l’individu et les droits des collectivités. C’est un point sur lequel j’attire votre attention parce que, dans un rapport succinctement résumé, il risquerait de passer inaperçu. La seule originalité certaine de ce projet de déclaration consiste, ainsi que je l’ai mentionné, dans l’introduction des droits des communautés ou des collectivités. Pourquoi «collectivités»? C’est un terme général. Évidemment, nous n’avons pas voulu préciser. Nous entendons par là, simplement, […] que la base de l’Europe, pour nous, c’est le principe d’autonomie …150
146 Einerseits Addo (Anm. 52); S. 188: „excessive overlay of the historical basis of human rights“; andererseits Grear (Anm. 128), S. 520: „the historical basis of human rights remains deeply relevant“. 147 Ebd. 148 Das Projet de Déclaration des Droits und ein auf den 4. Mai 1948 datierter Rapport wurden offenbar nicht veröffentlicht. Eine Mikrofiche-Kopie befindet sich in der Bibliothek des Europakollegs in Brügge, s. A. W. B. Simpson, Human Rights and the End of Empire. Britain and the Genesis of the European Convention, 2004, S. 611, Fn. 74. 149 Ebd., S. 604. 150 Intervention d’Alexandre Marc au congrès de l’Europe (La Haye, 8 mai 1948), in: Archives du Mouvement européen international, Bruxelles. Congress of Europe (May 1948), Vol. IV. Cultural Committee, S. 45.
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Diese Ausführungen wurzeln fest in Marcs Vorstellung von einem „integralen“ Föderalismus. In dieser Vorstellung soll der Föderalismus das Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft, in all ihren Gruppierungen, Schichtungen und strukturellen Ausdrucksformen insgesamt prägen.151 Bei Alexandre Marc ist dieser integrale Föderalismus in der Opposition zu dem die Gesellschaft als Ganzes zen tralisierenden französischen Nationalstaat zu verstehen. Stattdessen sollten in einer gegliederten Zivilgesellschaft Regionen, Kommunen, Minderheiten und soziale Kleingruppen ihre rechtlich abgesicherte Autonomie entfalten können.152 Marcs Föderalismustheorie speist sich zum einen aus einem christlichen Personalismus und zum anderen aus einem libertären Sozialismus, wie Marc ihn mit Pierre Joseph Proudhon verband.153 Dazu gehörte auch die Vorstellung, dass eine humane Gesellschaft auf der Autonomie ihrer sozialen Grundbestandteile, vor allem der Belegschaft in Betrieben beruhen sollte. Die Konzeption der „Person“ in der Tradition des christlichen Trinitätsdenkens gilt als der profundeste Ursprung von Marcs Überzeugungen.154 Mit dem Trinitätsdenken entfalteten frühe christliche Theologen eine Vorstellung von Personalität, die sich sowohl durch die Einmaligkeit des Individuums als auch durch seine Relation zu anderen Personen auszeichnet. Individualität und Relationalität zusammen, nicht die Individualität allein, machen danach die menschliche Person in ihrer vollständigen Gestalt aus; die Relationalität der Person ist bereits konstitutives Prinzip der (individuellen) Autonomie. An die Stelle der Selbstgenügsamkeit des Individuums tritt die Angewiesenheit der Person auf die größere Einheit verschieden weit gefasster sozialer Gruppen. Marcs Manifest lautete: „Ni individualistes ni collectivistes, nous sommes personnalistes!“155 Der integrale Föderalismus bestimmt damit nicht nur das politische Institutionensystem, sondern die Strukturierung der Gesellschaft insgesamt. Man kann also sehen, dass in den Überlegungen, die in den Entwurfsprozess der EMRK eingeflossen sind, bereits die Rechte von intermediären „Kollektiven“ befürwortet werden.156 Eine weitere Grundlage für deren Verknüpfung mit dem Menschenrechtsschutz bietet die Vorstellung von einem strukturellen Schutz der Menschenrechte, die für die EMRK insbesondere mit Charles de Visscher in Verbindung gebracht wird. Der renommierte belgische Völkerrechtsprofessor und internationale Richter de Visscher war in der Europäischen Bewegung ebenfalls Mitglied des 151 A. Marc, A hauteur d’homme: la révolution fédéraliste, 1948; A. Marc, Fondements du fédéralisme: destin de l’homme à venir, 1997; s. dazu H. Marhold, Alexandre Marc und der „Integrale Föderalismus“, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus 2011. Föderalismus, Subsidiarität und Regionen in Europa, 2011, S. 83. 152 Marhold (Anm. 151), S. 84. 153 A. Marc, New and Old Federalism. Faithful to the Origins, Publius: The Journal of Federalism 9 (1979) 4, S. 117 (122): „special relation between integral federalism and Personalism, which is a far cry from individualistic existentialism“; P.-J. Proudhon, Du principe fédératif (1863) et oeuvres diverses sur les problèmes politiques européens, 1959; dt. P.-J. Proudhon, Über das föderative Prinzip und die Notwendigkeit, die Partei der Revolution wieder aufzubauen, 1989. S. auch die von Marc besorge Ausgabe von Proudhons Schriften P.-J. Proudhon, Avènement de la France ouvrière, 1945. 154 Marhold (Anm. 151), S. 84–85. 155 Zitiert nach D. de Rougemont, Alexandre Marc et l’invention du personnalisme, in: H. Rieben (Hrsg.), Le fédéralisme et Alexandre Marc, 1974, S. 51 (51). 156 Simpson (Anm. 4 ), S. 419.
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Rechtsausschusses. De Visscher zufolge ist wesentliche Voraussetzung der Freiheit eine Machtverteilung, zu der autonome Vereinigungen beitragen, seien es Wirtschaftsunternehmen oder Sportvereine. In unfreien Gesellschaften bestünden solche Vereinigungen nur als Schöpfungen des Staates.157 Als strukturelle Garantie („garantie structurelle“) ist ihre Existenz die Grundlage für einen Mechanismus, der die Einhaltung der Konventionsgewährleistungen sicherstellen soll. Freiheit kann danach durch ein System der gegenseitigen Kontrolle gewährleistet werden, das schon seiner Natur nach Freiheit schützt. Der Schutz der Freiheit wird nicht durch Verflechtungen zwischen dem Einzelmenschen und dem Staat erreicht, sondern zwischen verschiedenen autonomen Organisationen und Gruppen, die innerhalb der Gesellschaft bestehen. Der ebenfalls vom Rechtsausschuss vorgelegte „Bericht“, datiert auf den 1. Mai 1948, enthält eine Passage, die de Visscher zugeschrieben wird. Danach gibt es nur einen Weg, das Individuum vor den „Klauen des Staates“ zu schützen und der Konfrontation von Individuum und Staatsgewalt Grenzen zu setzen. Dazu müssen zahlreiche verschiedene Zuständigkeitsbereiche und Organisationen geschaffen werden, um einen befriedigenden „modus vivendi“ zwischen ihnen und dem Staat herzustellen. Die Existenz solcher intermediärer Organisationen könne für Ausgleich sorgen und ein Gleichgewicht herstellen, das die Voraussetzung für eine effektive Garantie der Achtung von Menschenrechten sei.158 Der Bericht bringt diesen Gedanken später auf den Begriff „un vivant équilibre d’autonomies articulées“. Aus diesem Grund müsse eine Rechteerklärung nicht nur Rechte von Individuen enthalten, sondern auch Rechte von – unter Umständen auch spontan gebildeten – organisierten Gruppen („collectivités (en prenant ce terme dans son sens le plus général) naturelles et volontaires“).159 Diese Ideen hatte de Visscher bereits 1946 in einem Aufsatz mit ganz ähnlichen Formulierungen veröffentlicht. Dort heißt es, die Zunahme der Funktionen des modernen Staates erweitere seine Zugriffsmöglichkeiten auf das Individuum. Deswegen müsse verhindert werden, dass sich der Mensch vollständig in der Maschinerie des Staates verfange. Das könne nur erreicht werden, wenn zahlreiche verschiedene Zuständigkeitsbereiche und Organisationen („multiple and diverse groups and jurisdictions“) verteidigt oder wiederhergestellt würden, die dazu in der Lage sind, die gefahrvolle Konfrontation von Individuum und Staatsgewalt zu beenden. Das sei die grundlegende Idee hinter sozialer Vielfalt („sociological pluralism“) als Erneuerung des Liberalismus. Es müsse neben dem Staat noch weitere eigenständige Zentren und Gruppen mit eigenständigen Gedanken, Gefühlswelten und Interessen („distinct centers and groups of thought, of feelings, and of interests”) geben, die ihre Eigenart aus geistigen Werten schöpfen und eigene soziale Kräfte durch Überzeugung und nicht nur durch Zwang entfalten. Wörtlich heißt es weiter: From the vigor of these groups the establishment of diverse interests and from the establishment of a satisfactory modus vivendi between them and the state there will emerge formulas of C. de Visscher, Human Rights in Roman Law Countries, The ANNALS of the American Academy of Political and Social Science 243 (1946) 1, S. 53. 158 Abgedruckt bei Simpson (Anm. 148), S. 609–610. 159 Ebd., S. 610. 157
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compromise and equilibrium that alone are able to guarantee effectively the respect for human rights.160
Jedenfalls für die Entstehungsphase greift es daher zu kurz, die EMRK als liberales Projekt zu verstehen, das dem Schutz von Menschenrechten in einer kapitalistischen Wirtschaft dienen und deshalb auch die Rechte von Unternehmen schützen soll.161 Gegen dieses dominant liberal-kapitalistische Verständnis ihrer Autoren spricht bereits, dass das Ursprungsdokument der EMRK aus Rücksicht gegenüber planwirtschaftlichen Strukturen keine Gewährleistung des Eigentumsschutzes enthielt.162
3. Bedeutung des Schutzes der Rechte juristischer Personen des Privatrechts in der Gegenwart Gewiss hat sich die Rechtsprechung von diesen ursprünglichen Ideen des integralen Föderalismus entfernt. Sie lässt sich insgesamt plausibel dahin deuten, dass sie einem liberalen Modell von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in Europa folgt.163 Dieses ist nach wie vor ausschließlich auf den Staat als Verletzer von Menschenrechten fokussiert. Die Rechtsprechung des EGMR und die Vorstellungen des integralen Föderalismus, die in die Vorbereitungsarbeiten für die EMRK eingingen, haben gemeinsam, dass sie Individuum und Gemeinschaft nicht schlicht einander gegenüberstellen. Als Element des Grundrechtsschutzes „in einer demokratischen Gesellschaft“ (vgl. Art. 8 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2 EMRK) soll der Schutz der Rechte von juristischen Personen des Privatrechts vor allem die strukturellen Voraussetzungen für die Verwirklichung der Konventionsgarantien verbessern. Diese Problematik ist heute so komplex wie die Konventionsstaaten unterschiedlich sind. Insgesamt ergibt sich ein vielschichtiges Bild, das normativ von der Differenzierung zwischen gemeinnützigen und gewerblichen juristischen Personen sowie von zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden Unterschieden geprägt ist. Ein Ansatzpunkt für Kritik bleibt, dass die Hintergrundannahmen weder des integralen Föderalismus noch der europäischen Form des Liberalismus, das hinter der Rechtsprechung aufscheint, für die Rechte übermächtiger multinationaler Konzerne passen.164 Dieser Einwand betrifft sowohl die Vorstellung von einer strukturellen Gliederung der Gesellschaft als Schutz gegenüber der Staatsgewalt als auch das Ziel der wirtschaftlichen Einheit Europas. Multinationale Konzerne sprengen diese Vorstellungswelt. Wie dargelegt kommt den Beschwerden multinationaler Konzerne zur Verfolgung kommerzieller Interessen allerdings auch nur eine marginale Bedeutung zu.165 Visscher (Anm. 157), S. 58–59. Dignam (Anm. 4 ), S. 465 mit einer Kritik an Emberland (Anm. 4 ). 162 S. dazu Robertson (Anm. 25), S. 192–194 (Mr. Nally); zur Haltung des Vereinigten Königreichs s. G. Marston, The United Kingdom’s Part in the Preparation of the European Convention on Human Rights, International and Comparative Law Quarterly 42 (1993) 4, S. 796 (812–813). 163 S.o. bei Fn. 122. 164 Vgl. Dignam (Anm. 4 ), S. 465. 165 S.o. bei Fn. 8. 160 161
Die juristische Person des Privatrechts in der Rechtsprechung des EGMR
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Durchaus mit den strukturellen Vorstellungen des integralen Föderalismus vereinbar ist die Rechtsprechung des EGMR zum Schutz der Rechte von Gewerkschaften, Kirchen und politischen Parteien. Hier fungiert die juristische Person als Vehikel effektiver Rechteausübung organisierter Individuen und bildet die praktische Ununterscheidbarkeit von juristischer Person und hinter ihr stehenden Individuen den dogmatischen Ansatzpunkt. Deshalb ist auch die Unterscheidung zwischen gemeinnützigen und gewerblichen Gesellschaften relevant: Wie gesehen haben die Konventionsorgane Beschwerden nicht zugelassen, mit denen sich nicht-religiöse, gewinnorientierte Unternehmen auf die Religionsfreiheit beriefen, um sich gegen die Kirchensteuer zu wenden.166 Soweit ersichtlich betreffen auch die Fälle, in denen eine juristische Person in ihrer Versammlungsfreiheit nach Art. 11 EMRK verletzt sein kann, nicht reine Wirtschaftsunternehmen.167 Die Gewährleistung der Rechte juristischer Personen des Privatrechts dient insoweit vielmehr der effektiven Rechtewahrnehmung durch gemeinnützige Organisationen und bildet im weiteren Sinne auch einen Beitrag zu einem gesellschaftlichen Pluralismus. Selbst in der Gruppe der Gewährleistungen, bei denen die Rechtsträgerschaft juristischer Personen des Privatrechts als unproblematisch gilt, bestehen Unterschiede zwischen gemeinnützigen und gewerblichen Gesellschaften, so bei der Prozesskostenhilfe.168 Der EGMR hat anerkannt, dass Art. 6 EMRK nicht nur natürlichen,169 sondern auch gemeinnützigen juristischen Personen170 unter bestimmten besonderen Umständen ein Recht auf Prozesskostenhilfe verleiht. Im Fall VP Diffusion hatte die französische Regelung Bestand, der zufolge juristische Personen nur dann Prozesskostenhilfe in Anspruch nehmen können, wenn sie gemeinnützig sind.171 Diese unterschiedliche Behandlung wurde mit der unterschiedlichen steuerlichen Behandlung im französischen Steuersystem gerechtfertigt. In der Entscheidung Granos Organicos Nacionales erkannte der EGMR auch keinen Verstoß gegen Art. 6 EMRK darin, dass § 116 ZPO keine Form der Prozesskostenhilfe für ausländische juristische Personen vorsieht, sofern diese nicht in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum registriert und dort ansässig sind.172 Demnach besteht offenbar keine generelle Verpflichtung der Konventionsstaaten, Wirtschaftsunternehmen Prozesskostenhilfe zu gewähren.173 Dass die Unterscheidung von gemeinnützigen und kommerziellen Zwecksetzungen von grundsätzlicher Bedeutung für die Recht-
S.o. bei Fn. 78. S.o. bei Fn. 67. 168 EGMR, VP Diffusion SARL ./. Frankreich (Anm. 51); EGMR, Urteil v. 22.3.2012, Granos Organicos Nacionales ./. Deutschland, Nr. 19508/07, NJW-RR 2013, 1075. 169 EGMR, Urteil v. 15.2.2005, Steel and Morris ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 68416/01. 170 EGMR, VP Diffusion SARL ./. Frankreich (Anm. 51). 171 Ebd. 172 EGMR, Granos Organicos Nacionales ./. Deutschland (Anm. 166), §§ 46 ff.; vgl. allgemein auch O. Diggelmann/T. Altwicker, Finanzielle Gerichtszugangsschranken in Zivilprozessen im Licht von Art. 6 Abs. 1 EMRK, DÖV 65 (2012) 20, S. 781. 173 P. Oliver, Privacy and Data Protection: The Rights of Economic Actors, in: S. de Vries u.a. (Hrsg.), The EU Charter of Fundamental Rights as a Binding Instrument. Five Years Old and Grow ing, 2015, S. 287. 166 167
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sprechung ist, zeigt sich zudem bei dem oben dargelegten differenzierten Kontrollstandard.174 Auf der Grundlage der vorstehenden Erwägungen schwieriger zu rechtfertigen sind die Rechte juristischer Personen des Privatrechts, soweit sie dogmatisch mit der Vergleichbarkeit der Interessenlage von juristischer und natürlicher Person begründet werden. Das betrifft die Art. 8 und 10 EMRK. Hier kommt es normativ maßgeblich auf die Bedeutung der Rechte von juristischen Personen des Privatrechts für die Förderung objektiver Konventionsziele wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie an. Der Effekt und damit auch der normative Stellenwert, den die Durchsetzung der Rechte von juristischen Personen des Privatrechts für diese objektiven Ziele haben kann, unterscheiden sich zwischen den Konventionsstaaten signifikant. Die Bedeutung der Rechte juristischer Personen wird besonders deutlich, wenn man sich die zu erwartende Welle von Beschwerden gegen Aktionen zur Türkei gegen „Gülen-Verdächtige“175 sowie die wahrscheinlichen Beschwerden der Menschenrechtsorganisation Memorial gegen Russland oder von Presseunternehmen gegen Ungarn vor Augen führt.
VI. Fazit Im Detail ist die Rechtsprechung des EGMR deutlich weniger kohärent, als dieser Überblick zu vermitteln vermag. Dazu trägt sicher bei, dass es die Arbeitsweise des Gerichtshofs kaum zulässt, eine schlüssige Theorie der juristischen Person zu entfalten, die einzelne Konventionsgarantien übergreift. Deutlich wird jedoch sowohl aus der Analyse der Rechtsprechung als auch in Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte, dass sich die Einbeziehung juristischer Personen in den Schutzmechanismus der Konvention nicht allein aus der Perspektive der Rechte der ‚Person‘, sondern nur unter Einbeziehung der objektiven Konventionsziele verstehen lässt. Diese Feststellung steht im Einklang damit, dass sich die EMRK als hochentwickeltes europäisches System zum Schutz der „Menschenrechte und Grundfreiheiten“ nicht allein aus der Warte des Individuums begreifen lässt.
S.o. IV. S. bereits die Beschwerde eines der Nähe zu Gülen bezichtigten Unternehmens, das Nachhilfeunterricht angeboten hatte und dem Ende 2015 die Lizenz entzogen worden war. Gerügt waren Art. 1 und 2 ZP1-EMRK, Art. 6 EMRK, Art. 14 EMRK. Mangels Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe wies die 2. Sektion die Beschwerde gemäß Art. 35 Abs. 4 EMRK als unzulässig zurück, s. EGMR, Entscheidung v. 29.9.2016, Özel Feza Eg˘ itim Ög˘retim Yurt ve Kantin I˙¸sletmecilig˘ i Ticaret Anonim S¸irketi ./. Türkei, Nr. 16318/16. 174
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Unternehmen als Grundrechtssubjekte Zur verfassungsrechtlichen Transformation privatrechtlicher Formen nicht-individueller Unternehmensträger von
Prof. Dr. Thomas Ackermann, LL.M. (Cambridge) Universität München/Wissenschaftskolleg zu Berlin
Inhalt I. Besuch aus Arkadien: Ein Gedankenspiel H.L.A. Harts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 II. Fragen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Das derivative Konzept: Ein uneingelöstes Versprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 2. Folgefragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 a) Die Bestimmung der als Grundrechtsträger in Betracht kommenden Einheiten . . . . . . . . . . . 122 b) Die Konkretisierung der Grundrechtsausstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 III. Das Unternehmen als durch komplementäre individuelle Grundrechtsbetätigung konstituierter Marktakteur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1. Vorüberlegung: Methodologischer Individualismus oder methodologischer Kollektivismus? . . . . . . 128 2. Das Unternehmen als Nexus komplementärer wirtschaftlicher Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 a) Rechtsfähigkeit: Vom Privatrechtssubjekt zum Grundrechtssubjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 b) Repräsentation: Organhandeln und das Prinzipal-Agenten-Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 3. Das Unternehmen als Marktakteur: Das Problem der nicht im wirtschaftlichen Kalkül reflektierten Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 IV. Unternehmensgrundrechte: Skizze einer kritischen Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 1. Justizgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Materielle Grundrechte zum Schutz der unternehmerischen Markttätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 139 a) Unternehmenstragende juristische Personen als Träger materieller Grundrechte . . . . . . . . . . . 139 b) Der grundrechtliche Schutz unternehmerischer Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 c) Der grundrechtliche Schutz akzessorischer Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3. Grundrechte jenseits des Marktes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
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I. Besuch aus Arkadien: Ein Gedankenspiel H.L.A. Harts „It is said by many that the juristic controversy over the nature of corporate personality is dead. If so we have a corpse and the opportunity to learn from its anatomy.“1 Mit diesen Worten leitete H.L.A. Hart 1953 in seiner Oxforder Antrittsvorlesung ein Gedankenspiel ein: Man stelle sich einen intelligenten Juristen vor, der in einem rechtlichen Arkadien ausgebildet wurde, in dem allein das Individuum Träger von Rechten und Pflichten und jegliche Rechtstheorie verboten ist. Mit dem englischen, aber auch anderen Rechtssystemen konfrontiert, würde der Arkadier lernen, dass in diesen Systemen Rechte und Pflichten Einrichtungen wie der Universität Oxford, dem Staat, Idolen, der hereditas jacens,2 aber auch der „one-man tax-dodging Company“ zugeordnet werden. Er würde vom alltäglichen Gebrauch von Aussagen erfahren, die „Smith & Co. Ltd.“ als Rechtsträger ausweisen und in ihren Voraussetzungen und Rechtsfolgen teils mit Aussagen über „Smith“ als Rechtsträger übereinstimmen, teils davon abweichen. Dem Zusammenspiel allgemeiner Regeln mit denen des Gesellschaftsrechts würde der Arkadier die Voraussetzungen entnehmen können, unter denen der Satz „Smith & Co. Ltd. schuldet White 10 £ “ ebenso unmittelbar auf einen Sachverhalt anwendbar ist wie der Satz „Smith schuldet White 10 £ “. Dem Studium dieser Regeln würde er auch die besondere Bedeutung entnehmen können, die gewöhnliche Wörter erhalten, wenn sie auf eine Kapitalgesellschaft bezogen werden: etwa die Rede von der fortbestehenden „Existenz“ einer solchen Gesellschaft selbst nach dem Tod ihrer Gesellschafter und ihrer Beschäftigten oder von der „Täuschungsabsicht“ einer Kapitalgesellschaft. In seine Heimat zurückgekehrt, könnte der Arkadier seinen Landsleuten von der Ausdehnung der für Individuen geschaffenen Regeln auf juristische Personen, von den dabei befolgten Analogien und von der mit dieser Ausdehnung verbundenen Anpassung gewöhnlicher Begriffe berichten. All das wäre ihm möglich, ohne von einer Fiktion, einer Kollektivbezeichnung, einer „Gesammtperson“ oder einem „Gesammtwillen“ zu sprechen.3 Erst wenn wir den Arkadier zu fragen zwingen, „was ist Smith & Co. Ltd.?“, und hierauf keine Antwort zulassen, die erläutert, wie und unter welchen Voraussetzungen Bezeichnungen von juristischen Personen verwendet werden, sondern auf einer Erklärung bestehen, was die Bezeichnung als solche beschreibt, wofür sie steht, was sie bedeutet, können wir, so Hart nicht ohne Süffisanz, unseren einfach gestrickten Arkadier die Qualen von Theoretikern nachempfinden lassen, die sich über das Wesen der juristischen Person als Kollektiv von Individuen, als reales Individuum oder aber als fiktives Individuum streiten.4 Mit diesem Gedankenspiel führte Hart seinen Hörern die Fruchtlosigkeit der Frage nach dem Wesen der juristischen Person vor Augen. Wenn wir in der Lage sind, H.L.A. Hart, Definition and Theory in Jurisprudence: An Inaugural Lecture, 1953, S. 17. Es war ein bekannter Streitfall in der Geschichte der Theorie der juristischen Person, wie das nach gemeinem Recht zwischen dem Tod des Erblassers und dem Erbantritt des Erben herrenlose Vermögen des Erblassers (hereditas jacens) zu behandeln sei; vgl. hierzu Martin Wolff, L.Q.Rev. 54 (1938), 494 (495 f.), durch den Hart Kenntnis von dieser Figur erlangt haben könnte. 3 Hart (Fn. 1), S. 18, zitiert die hier in Anführungszeichen gesetzten Begriffe in deutscher Sprache und in der Schreibweise Gierkes. 4 Hart (Fn. 1), S. 18. 1 2
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die distinktiven Merkmale adäquat zu beschreiben, mit denen Bezeichnungen der juristischen Person in unserem Rechtssystem verwendet werden, ist jede weitere Verfolgung der Frage „Was ist eine juristische Person?“ obsolet.5 Natürlich gibt es ein Motiv für die Hartnäckigkeit, mit der man rechtsordnungsübergreifend6 vom 19. bis zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gleichwohl immer wieder um diese Frage kreiste: Wer nach dem Wesen der juristischen Person sucht, zielt auf die Herstellung einer Beziehung zwischen rechtlichen und außerrechtlichen Begriffen der Person, sei es, dass die juristische Person an die außerrechtlich konstituierte, „reale“ Personalität eines Kollektivs anknüpft, sei es, dass sie Charakteristika, die ein Individuum außerrechtlich zur Person machen, rechtlich nachahmt oder, wie es nicht ganz treffend heißt, „fingiert“. Nur sind, wie Hart richtig erkannte,7 die Voraussetzungen, unter denen wir außerrechtlich Individuen, Organisationen oder sonstigen Kollektiven personale Qualität verleihen, so vielfältig, dass es keineswegs eine bestimmte Eigenschaft oder eine bestimmte Summe von Eigenschaften ist, die Personalität ausmacht.8 Manche dieser Voraussetzungen mögen rechtlich relevant sein, andere nicht. Unangebracht wäre es jedenfalls, eine in irgendeinem kommunikativen Zusammenhang zu einem Subjekt verschmolzene Einheit (etwa die „leidende Nation“ oder die „wütende Menge“, um zwei Beispiele Harts zu nennen) nur um dieser Einheit willen rechtlich als Person anzuerkennen. Die von Hart totgeglaubten Vorstellungen vom Wesen der juristischen Person leben indes fort – allerdings nicht in der Welt des Gesellschaftsrechts, wo sie meist nur noch als historische Reminiszenz gepflegt werden,9 sondern in anderen Zusammenhängen, in denen die durch das Gesellschaftsrecht geschaffenen unternehmerischen Rechtsträger auftauchen und Anstoß erregen. Teils entzündet sich Unmut an der Wandelbarkeit und Beweglichkeit juristischer Personen, die es ihnen im Vergleich zu Individuen erleichtert, sich staatlichem Zugriff (etwa einer Besteuerung oder der Sanktionierung rechtswidrigen Verhaltens) zu entziehen. Teils ist es aber auch ihre von menschlichen Schicksalen unbeeinträchtigte Stabilität, die sie zu Kristallisationspunkten finanzieller Kraft und wirtschaftlicher Macht werden lässt, die in den Augen vieler nicht nur einzelne Märkte, sondern ganze Volkswirtschaften und Gemeinwesen zu dominieren drohen, wenn sie etwa „too big to fail“ sind oder ihre wirtschaftliche Macht in politischen Einfluss ummünzen. Im Umgang mit diesen Problemen offenbart sich zuweilen ein bemerkenswerter Glaube an die Begründungskraft axiomatischer Aussagen über das Wesen der juristischen Person. Wie etwa der Streit um Hart (Fn. 1), S. 23. Vgl. die wechselseitigen Bezüge zwischen deutschen, französischen und englischen Beiträgen zur Theorie der juristischen Person, etwa bei Hans J. Wolff, Juristische Person und Staatsperson Bd. I, 1933, S. 37 ff. (zu Michoud), S. 52 ff. (zu Hauriou und Saleilles), S. 58 ff. (zu Planiol und Berthelémy); Raymond Saleilles, De la personnalité juridique, 2. Aufl. 1922, S. 311 (zu Savigny); ferner Frederick W. Maitlands Übersetzung von Otto von Gierke, Political theories of the middle age, 1900. 7 Hart (Fn. 1), S. 24. 8 Die „Fiktionstheorie“ in der Tradition Savignys muss sich Harts Kritik allerdings nicht zuziehen, wenn man sie mit Werner Flume, in: Festschrift für Franz Wieacker zum 70. Geburtstag, 1978, S. 340 (342), so versteht, dass „die Frage nach der Realität dessen, dem die Eigenschaft ‚Juristische Person‘ zukommt, gar nicht gestellt“ wird. 9 Den Versuch einer Aktualisierung von Otto von Gierkes Genossenschaftstheorie bietet immerhin Karsten Schmidt, Einhundert Jahre Verbandstheorie im Privatrecht, 1987. 5 6
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das viel beachtete Urteil Citizens United zeigt, in dem der U.S. Supreme Court die gesetzliche Begrenzung von Wahlkampfspenden juristischer Personen verwarf,10 werden anthropomorphe Vorstellungen gerne in Anspruch genommen, um den grundrechtlichen Schutz juristischer Personen vor staatlichen Eingriffen zu erklären,11 während andererseits die Betonung des „fiktiven“ oder besser: künstlichen Charakters der juristischen Person als rechtliches Konstrukt die Grundlage für eine Lockerung staatlicher Fesseln bieten soll.12 Es kann sich aber auch umgekehrt verhalten: So wird gerade die Künstlichkeit der juristischen Person in Deutschland als ontologisch unüberwindliches Hindernis gegen die Einführung eines Unternehmensstrafrechts ins Feld geführt,13 während man auf der Seite der Befürworter einer solchen staatlichen Intervention teilweise den Nachweis der sozialen Realität eines zurechnungsfähigen Kollektivsubjekts für rechtlich relevant hält.14 Harts Arkadier wüsste mit solchen Argumenten nichts anzufangen. In der Tat verweigern Überlegungen, die die juristische Person als solche charakterisieren und daraus Schlüsse für die Möglichkeiten und Grenzen ihrer rechtlichen Behandlung ziehen, die mühevolle Arbeit an den Rechtssätzen, aus denen sich ergibt, ob und unter welchen Voraussetzungen sich juristische Personen wie Individuen auf Grundrechte berufen können, um staatliche Eingriffe in die Schranken zu weisen. Mühevoll ist diese Arbeit deshalb, weil sich das einfachrechtliche Zusammenspiel zwischen den Regeln des Gesellschaftsrechts und den sonstigen Regeln des Privatrechts, dem sich – von Randunschärfen wie der Rechtsfähigkeit der BGB-Außengesellschaft abgesehen – ohne größere Schwierigkeiten entnehmen lässt, welche Kollektive von Individuen oder von Individuen losgelöste Einheiten Rechtssubjekte sind und welche Rechte (und Pflichten) ihnen im Privatrecht zugeordnet sein können, auf der Ebene des Verfassungsrechts nicht wiederholt. Zwar ordnet das Grundgesetz anders als etwa die Europäische Menschenrechtskonvention oder die EU-Grundrechtecharta15 in Art. 19 Abs. 3 GG ausdrücklich die Geltung der Grundrechte „auch für inländische juristische Personen“ an, „soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind“. Aber mit der unbefangenen Lektüre dieser Regelung ist außer der Einsicht, dass irgendwelche (aber nicht notwendig alle und nicht notwendig nur) im einfachen Recht mit Rechtsfähigkeit ausgestattete Einheiten und Kollektive irgendwelche (aber nicht alle) Grundrechte der Individuen innehaben, noch nichts gewonnen. Denn auch ein mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht vertrauter, aber ver Citizens United v. Federal Election Commission, 558 U.S. 310 (2010). Vgl. das vielzitierte, 2011 (allerdings im Zusammenhang mit Steuererhöhungen) gefallene Wort des damaligen amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney „corporations are people“; https://www.washingtonpost.com/politics/mitt-romney-says-corporations-are-people/2011/08/11/ gIQABwZ38I_story.html?utm_term=.834de194c683 (abgerufen am 30.11.2016). 12 Vgl. etwa Thom Hartman, Unequal Protection: How Corporations Became “People” – and You Can Fight Back, 2. Aufl. 2010, S. 297 (“End Corporate Personhood”). 13 Vgl. etwa die Kritik Bernd Schünemanns, ZIS 2014, 1 ff., an dem seiner Ansicht nach ontologisch unhaltbaren Versuch der Einführung eines Verbandsstrafrechts. 14 Vgl. etwa den Versuch, aus der „psychodynamischen“ Realität des Unternehmens Einsichten über dessen Haftung zu gewinnen, bei Claudia Nagel, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht, 2012, S. 153 ff. 15 Zum Grundrechtsschutz der juristischen Person nach der EMRK und der GRCh mit weiteren Nachw. Thomas Ackermann, NZKart 2015, 17 (20 f.); Peter Oliver, ICLQ 64 (2015), 661 ff. 10 11
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ständiger Arkadier würde sich fragen, ob das Grundgesetz die Definition des Grundrechtssubjekts mit der Bezeichnung „juristische Person“ an das einfache Recht delegiert und die dort vorfindlichen Formen rechtsfähiger Einheiten und Kollektive schlicht in seine Grundrechtsregeln hineinkopiert oder ob nicht vielmehr ein autonomer verfassungsrechtlicher Begriff zu bilden ist. Darüber hinaus würde er wissen wollen, welche Differenzierungen das „Wesen“ der Grundrechte als Kriterium für die Ausstattung des als juristische Person verfassten Grundrechtssubjekts mit sich bringt. Diese beiden (möglichen), einerseits nach der Konstitution der juristischen Person, andererseits nach den Inhalten spezifischer Grundrechtsgewährleistungen differenzierenden Filter (und die in diesem Beitrag nicht näher behandelte, ebenfalls alles andere als eindeutige Inlandseigenschaft) bestimmen die Transformation einfachrechtlich konstituierter Rechtssubjekte in Grundrechtssubjekte. Diese Transformation gilt es zu erklären, ohne den Scheinbegründungen der Lehren von der Natur der juristischen Person als solcher auf den Leim zu gehen. Mit der Anknüpfung an das Gedankenspiel Harts möchte ich keineswegs den Unernst des folgenden Versuchs signalisieren, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Neben wirtschaftsvölkerrechtlichen Restriktionen sind grundrechtliche Bindungen die entscheidenden rechtlichen Grenzen demokratisch legitimierter staatlicher Herrschaft über Wirtschaftsakteure. Nur innerhalb dieser Grenzen lässt sich die vielfach geforderte (Rück-)Gewinnung staatlicher Kontrolle über unternehmerisches Verhalten und unternehmerische Macht durch einfache Mehrheitsentscheidung verwirklichen. Zu unterscheiden sind insoweit die Grundrechte der unternehmerischen Akteure selbst und Grundrechte von Gesellschaftern sowie weiterer Personen, die als Manager, Arbeitnehmer oder Gläubiger ebenfalls Stakeholder des Unternehmens sind. Unternehmens- und Stakeholder-Grundrechte, namentlich Grundrechte der Gesellschafter,16 sind gleichermaßen wichtig für die Vermessung staatlicher Handlungsspielräume; indes beschränkt sich dieser Beitrag auf eine Untersuchung der Unternehmensgrundrechte, und zwar auf die Grundrechte nicht-individueller, nämlich als Körperschaft oder als Personengesellschaft verfasster Unternehmensträger. Im Anschluss an den verfassungsrechtlichen Sprachgebrauch17 und unter Inkaufnahme einer Abweichung von der privatrechtlichen Terminologie, in der Personengesellschaften herkömmlicherweise nicht zu den juristischen Personen gezählt werden,18 sind diese Unternehmensträger gemeint, wenn hier von juristischen Personen die Rede ist. Mit dem fremden Blick nicht des Arkadiers, sondern des Privatrechtlers betrachtet, ergibt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine vollkommen befriedigende Antwort auf die Frage, worauf sich die Transformation der unternehmenstragenden juristischen Person in einen Grundrechtsträger gründet und nach welchen Regeln sie sich vollzieht (dazu II.). Indes zwingen Brüche und Leerstellen in der Begründung und Durchführung nicht zur Aufgabe des in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung formulierten, derivativen Ansatzes zur Erklärung des Grundrechtsschutzes für juristische Personen als Ausdruck der freien Entfaltung natürlicher Hierzu eingehend Wolfgang Schön, in: Festschrift für Peter Ulmer, 2003, S. 1359 ff. Vgl. die Subsumtion der Personengesellschaften unter den Begriff der „juristischen Person“; dazu mit weiteren Nachw. Horst Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 19 III Rz. 47. 18 Vgl. für die h.M. Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 182 ff.; a.A. Thomas Raiser, AcP 194 (1994), 495 ff. 16 17
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Personen. Vielmehr gilt es diesen Ansatz unter Zugrundelegung der Einsicht zu rekonstruieren, dass sich in der Bildung und Betätigung der unternehmenstragenden juristischen Person ein komplexes Zusammenspiel wirtschaftlicher Freiheitsbetätigung von Individuen ausdrückt, die als Gesellschafter, Gläubiger, Angehörige des Managements und ggf. weitere Stakeholder des Unternehmens komplementäre Interessen kollektiv verwirklichen und dadurch einen korporativen Marktakteur schaffen (dazu III.). Hieraus ergeben sich Folgerungen, die die vom Bundesverfassungsgericht erzielten Ergebnisse teilweise besser verstehen helfen, sie teilweise aber auch in ein kritisches Licht rücken (dazu IV.).
II. Fragen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1. Das derivative Konzept: Ein uneingelöstes Versprechen Der selbst von einem Mitglied des Gerichts nachempfundene „Schock“ einer unbefangenen Lektüre des Art. 19 Abs. 3 GG19 wird in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch ein derivatives Konzept überwunden. Deren Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass der originäre Schutz durch die Grundrechte natürlichen Personen zukommt und die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen hieraus abzuleiten ist. Dieser Ansatz wird in unterschiedliche Formulierungen gekleidet, deren prominenteste die sogenannte „Durchgriffsthese“ ist: „Die Grundrechte sind in erster Linie Individualrechte der einzelnen Menschen, die vorrangig dem Schutz seiner Freiheitssphäre dienen und darüber hinaus eine freie Mitwirkung und Mitgestaltung des Einzelnen im Gemeinwesen sichern sollen. Juristische Personen in den Schutzbereich materieller Grundrechte einzubeziehen, ist danach nur dann gerechtfertigt, wenn deren Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung der privaten natürlichen Personen ist, insbesondere wenn der ‚Durchgriff ‘ auf hinter ihnen stehende Menschen es als sinnvoll und erforderlich erscheinen läßt.“20 Diese Voraussetzungen hält das Bundesverfassungsgericht bei juristischen Personen des Privatrechts regelmäßig für erfüllt, wenn diese nicht vom (deutschen) Staat beherrscht werden.21 Dass die Rede vom „Durchgriff “ als Beschreibung der Rückführung des Grundrechtsschutzes juristischer Personen auf den Grundrechtsschutz natürlicher Personen allerdings nicht auf die Goldwaage zu legen ist, machen bereits die vom Bundesverfassungsgericht selbst verwendeten Anführungszeichen deutlich. In der Tat wirkt der verfassungsrechtliche Import dieses Begriffs aus dem Zivilrecht, in dem mit „Durchgriff “ die Haftung der Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft für Schulden der Gesellschaft unter Durchbrechung der Trennung zwischen dem Gesellschaftsvermögen und dem Privatvermögen der Gesellschafter gemeint ist, be Wiltraut Rupp-v. Brünneck, in: Festschrift für Adolf Arndt, 1969, S. 349 (349). BVerfGE 75, 192 (195 f.); ebenso BVerfGE 21, 362 (369); 68, 193 (205 f.). 21 BVerfGE 39, 302 (312); 75, 192 (196). Zur fehlenden Grundrechtsberechtigung bei staatlicher Beherrschung BVerfGE 45, 63 (79 f.); 68, 193 (212 f.); 128, 226 (244, 246 f.); zum Sonderfall der mit Rücksicht auf die Niederlassungfreiheit bejahten Grundrechtsfähigkeit der von einem EU-Mitgliedstaat beherrschten juristischen Person des Privatrechts BVerfG, U. v. 06.12.2016 – 1 BvR 2821/11 – Rz. 191 ff. 19
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fremdlich, geht es hier doch nicht etwa um die Inpflichtnahme von „hinter“ der juristischen Person stehenden Individuen, sondern umgekehrt um die Herleitung einer Berechtigung der juristischen Person aus Rechten von Individuen, deren Freiheit sich in der juristischen Person verwirklicht.22 Diesem – bloß terminologischen – Bedenken trägt das Bundesverfassungsgericht zumindest vereinzelt Rechnung, indem es anstelle von „Durchgriff “ den Begriff „Durchblick“ (ohne Anführungszeichen) verwendet.23 Ebenfalls nur eine terminologische Verschiebung ohne inhaltliche Abweichung vom derivativen Konzept liegt vor, wenn das Bundesverfassungsgericht bei der Beantwortung der Frage, ob juristischen Personen des öffentlichen Rechts ausnahmsweise Grundrechtsfähigkeit zuzuerkennen ist, darauf abstellt, ob diese „individuelle Rechte der hinter ihnen stehenden natürlichen Personen verfolgt“ haben und dem Staat „in der gleichen ‚grundrechtstypischen Gefährdungslage‘ gegenüber[stehen] wie der einzelne Eigentümer“.24 Im Hinweis auf die grundrechtstypische Gefährdungslage sieht das Gericht hier wohl nur eine Paraphrase seines im selben Satz bekräftigten, derivativen Ansatzes.25 Schließlich ist auch die unlängst erfolgte Anerkennung der Grundrechtsfähigkeit einer von einem ausländischen Staat beherrschten juristischen Person des Privatrechts nicht als Abkehr vom derivativen Ansatz zu deuten. Vielmehr erfährt Art. 19 Abs. 3 GG hier nur eine Ergänzung mit Rücksicht auf die Niederlassungsfreiheit.26 In der Literatur wird dieser Ansatz immer wieder kritisiert und zurückgewiesen. Ansatzpunkt der Kritik ist zum einen der grundsätzliche Einwand, mit der Annahme einer bloß dienenden Funktion werde der „Eigenwert der Botschaft des Art. 19 Abs. 3 GG“27 verkannt, zum anderen der Vorwurf einer inkonsistenten Handhabung der „Durchgriffsthese“, was juristische Personen (wie die Stiftung) betrifft, denen das Bundesverfassungsgericht auch ohne „personales Substrat“ zur Vermeidung von Schutzlücken Grundrechte zuerkennt.28 Beide Kritikpunkte zwingen indes nicht dazu, das derivative Konzept insgesamt aufzugeben; sie weisen allerdings zu Recht auf Mängel in der Durchführung des Konzepts durch das Bundesverfassungsgericht hin, die es zu benennen und zu beheben gilt. In grundsätzlicher Hinsicht ist zunächst anzumerken, dass weder der Wortlaut noch die Entstehungsgeschichte des Art. 19 Abs. 3 GG einer derivativen Konzeption der Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen im Wege steht. Ungeachtet von Divergenzen über das Ob und Wie einer ausdrücklichen Regelung zu den Grundrechten juristischer Personen wurde in den Beratungen des Parlamentarischen Rates eine Rückbindung der Frage nach den Grundrechten der juristischen Person an den 22 Kritisch zur Verwendung des Begriffs „Durchgriff “ etwa auch Josef Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX: Allgemeine Grundrechtslehren, 3. Aufl. 2011, § 199 Rz 6. 23 BVerfGE 61, 82 (101). 24 BVerfGE 45, 63 (79). Ebenso BVerfGE 61, 82 (101 f.); 106, 28 (43). 25 Ebenso Peter M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Bd. I, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Rz. 216 (tautologische Umschreibung des auf die Durchgriffsthese auf bauenden Grundkonzepts). 26 BVerfG, U. v. 06.12.2016 (Fn. 21), Rz. 196 ff. 27 Peter J. Tettinger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte Bd. II, 2006, § 51 Rz. 22. 28 Beide Kritikpunkte finden sich pointiert bei Dreier (Fn. 17), Art. 19 III Rz. 33. Zur Grundrechtsfähigkeit der Stiftung BVerfGE 46, 73 (83); 70, 138 (160).
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Grundrechtsschutz des Individuums durchaus erkennbar.29 So erklärte von Mangoldt, der im Ausschuss für Grundsatzfragen den Vorsitz führte, das Bedürfnis nach einer solchen Regelung wie folgt: Unter der Weimarer Verfassung sei die Ausdehnung des Gleichheitssatzes auf die juristische Person gerechtfertigt worden, „indem man sagte: Die juristische Person setzt sich zusammen aus Einzelpersonen, und da die Einzelperson Anspruch auf Gleichheit hat, so gilt diese Gleichheit dann auch für die juristische Person. Nun gibt es juristische Personen, für die das zweifelhaft ist, z.B. Aktiengesellschaften, bei denen der Kapitalanteil von stärkerer Bedeutung ist und bei denen die Einzelperson sehr zurücktritt.“30 Insoweit sollte eine (nach der Vorstellung von Mangoldts enumerative) Vorschrift für Klarheit sorgen. Der Abgeordnete Heuss, der anders als von Mangoldt eine Regelung für überflüssig hielt, bezog sich ebenfalls auf diesen Zusammenhang: „Die juristische Persönlichkeit ist natürlich eine fiktive Persönlichkeit, begrenzt auf Menschen, die in ihrer Summierung eine juristische Person darstellen, aber doch in ihrer individuellen Bezogenheit auf diesen Gesamttatbestand.“31 Dass sich im weiteren Verlauf der Beratungen die zunächst weder von von Mangoldt noch von Heuss präferierte, generalklauselartige Formulierung des heutigen Art. 19 Abs. 3 GG durchsetzte, liegt daran, dass weder ein Katalog einzelner Grundrechte noch eine Präzisierung der als Grundrechtsträger in Betracht kommenden Organisationen zu befriedigen vermochte, und ist nicht als Absage an die Vorstellung zu interpretieren, dass sich die Ausstattung der juristischen Person mit Grundrechten den Individuen verdankt, die – so unvollkommen dies Heuss und von Mangoldt auch in ihren an das Bild des Leviathan erinnernden Formulierungen ausdrückten – in der Gründung und Betätigung der juristischen Person ihrer grundrechtlich geschützte Freiheit verwirklichen. Auch die konzeptionelle Ausgestaltung des Grundrechtsschutzschutzes durch das Grundgesetz lässt kaum Zweifel daran zu, dass der Mensch als Träger der Menschenwürde Person und damit originäres Subjekt der in der Idee der Menschenwürde wurzelnden Grundrechte ist.32 Für die Erklärung und Konkretisierung der Grundrechtsausstattung von Kollektiven und Organisationen kommt daher nur ein Ansatz in Betracht, der die „juristische“ Personalität dieser Einheiten auf die „natürliche“ der Menschen zurückbezieht und jedenfalls in diesem Sinne derivativ ist. Selbstverständlich sei damit nicht geleugnet, dass auch die „natürliche“ Personalität des Menschen nicht anders als die „juristische“ Personalität nicht-individueller Einheiten Folge einer normativen Entscheidung über die Zuordnung von Rechten und Pflichten ist.33 Nur ist es eben die normative Entscheidung des Grundgesetzes, diese Zuordnung mit Blick auf die Grundrechte primär beim Menschen zu verorten. Ebenso wenig muss sich, wer eine derivative Begründung der Grundrechtsfähigkeit Darauf weist auch Barbara Remmert, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 55. EL. 2009, Art. 19 Abs. 3 Rz. 9, hin. 30 Protokoll der 27. Sitzung des Grundsatzausschusses v. 1.12.1948, in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949: Akten und Protokolle Bd. 5/II, 1993, S. 771. 31 Protokoll der 27. Sitzung des Grundsatzausschusses v. 1.12.1948 (Fn. 30), S. 772. 32 So auch – ungeachtet seiner Kritik an der „Durchgriffsthese“ – Dreier (Fn. 17), Art. 19 III Rz. 1 Fn. 2 . 33 Darauf wird immer wieder hingewiesen, etwa von Dreier (Fn. 17), Art. 19 III Rz. 1; Friedrich E. Schnapp, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte Bd. II, 2006, § 52 Rz. 1. 29
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juristischer Personen im Kontext des Grundgesetzes für angemessen hält, den Vorwurf eines naiven Umgangs mit theoretisch längst ad acta gelegten Vorstellungen vom subjektiven Recht und von der Person als dessen Inhaber entgegenhalten lassen. Mit Kelsen kann man zwar im Begriff der juristischen Person eine Hilfskonstruktion sehen, die bedeutet, „daß die Rechtsordnung Pflichten und Rechte statuiert, die das Verhalten von Menschen zum Inhalt haben, die Organe und Mitglieder der durch ein Statut konstituierten Körperschaft sind, und daß dieser komplizierte Sachverhalt vorteilhaft, weil in verhältnismäßig einfacher Weise, mit Zuhilfenahme einer Personifikation des die Körperschaft statuierenden Statutes beschrieben werden kann“.34 Doch bedient sich das Grundgesetz dieser Personifikation und zwingt damit seine Interpreten, daran anzuknüpfen. Das ist indes unschädlich, wenn man sich beim Gebrauch von Begriffen wie „Person“, „Rechtssubjekt“, „Rechtsträger“ und „Rechtsfähigkeit“ vor anthropomorphen Vorstellungen hütet und – dem Vorbild von Harts Arkadier folgend – deren rechtstechnische Prägung im Blick behält: Die Dechiffrierung der „juristischen Person“ im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG verlangt keinen Rückgriff auf außerrechtliche Vorstellungen von Personalität, sondern besteht schlicht darin, die Rechtssätze zu entwickeln, die es bestimmten Kollektiven von Individuen oder von Individuen losgelösten Einheiten erlauben, sich auf bestimmte Grundrechtsinhalte zu berufen und Verfahren zu initiieren, mit denen diese Inhalte geklärt und dem dadurch verpflichteten Staat gegenüber durchgesetzt werden. Weil die von juristischen Personen geltend zu machenden Grundrechte nach der Entscheidung des Grundgesetzes originär auf den Schutz der mit Menschenwürde begabten Individuen bezogen sind, ist es notwendig, diese Rechtssätze so zu bilden, dass sie mit dieser positivrechtlichen Grundaussage übereinstimmen. Die vom Bundesverfassungsgericht erkannte Funktion der juristischen Person als Medium für die freie Entfaltung natürlicher Personen ist daher zu Recht die normative Leitschnur für die Beantwortung der Fragen, welche Nicht-Individuen als juristische Personen Grundrechte in Anspruch nehmen und durchsetzen können und für welche Grundrechtsinhalte dies gilt. An diesem Befund ist auch dann nicht vorbeizukommen, wenn man anstelle der „Durchgriffsthese“ auf das Vorliegen einer „grundrechtstypischen Gefährdungslage“ abstellt. Allerdings ist der Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zuzugeben, dass die Durchführung des auf dieses Fundament gründenden, derivativen Ansatzes zu wünschen übrig lässt. An die Stelle sachlicher Begründungen tritt eine bildhafte Sprache, wenn vom „Durchgriff “ oder auch „Durchblick“ auf natürliche Personen die Rede ist. Die dadurch hervorgerufene Vorstellung eines korporativen Schleiers („corporate veil“), der den Durchgriff oder Durchblick auf „hinter“ der juristischen Person stehende Individuen freigibt, mag ästhetisch ansprechender sein als das in der Genese des Art. 19 Abs. 3 GG wirkmächtige Bild der aus Individuen zusammengesetzten juristischen Person, hat aber ebenso wenig Erklärungskraft, denn gänzlich unbeantwortet bleibt die aus der Perspektive eines derivativen Ansatzes entscheidende Frage, worin der spezifische Mehrwert oder Gewinn für die im Zentrum des Grundrechtsschutzes stehende freie Entfaltung von Individuen liegt, wenn nicht nur die Individuen selbst, sondern auch von ihnen gebildete Kollektive 34
Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 194.
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oder auch in ihrem Bestand von Individuen unabhängige Einheiten als juristische Personen mit Grundrechten ausgestattet werden. Die Annahme des Bundesverfassungsgerichts, dass die hier interessierenden unternehmenstragenden juristische Personen des Privatrechts (jedenfalls soweit sie von privaten natürlichen Personen gebildet werden und sich nicht der Staat der privaten Rechtsform bedient) ohne Weiteres als Grundrechtsträger in Betracht kommen,35 mag im Ergebnis zutreffen. Doch klafft zwischen diesem Ergebnis und dem Anspruch, die Ausstattung der juristischen Person mit Grundrechten auf die Grundidee der freien Entfaltung des Individuums zurückzuführen, eine unverkennbare Lücke. So bleibt der derivative Ansatz ein uneingelöstes Versprechen.
2. Folgefragen Dieses Begründungsdefizit führt zu Mängeln in der Durchführung des derivativen Konzepts, die sich einerseits bei der Bestimmung der als Grundrechtsträger in Betracht kommenden Einheiten, andererseits bei der Konkretisierung ihrer Grundrechtsausstattung zeigen.
a) Die Bestimmung der als Grundrechtsträger in Betracht kommenden Einheiten Im Vordergrund der Kritik an der „Durchgriffsthese“ des Bundesverfassungsgerichts steht der Einwand, dass sich die generelle Anerkennung von Einheiten, denen das Privatrecht Rechtsfähigkeit verleiht, als Grundrechtsträger offenkundig nicht mit der Idee verträgt, dass hierfür ein „personales Substrat“ in Gestalt natürlicher Personen erforderlich ist, die als Mitglieder, Gesellschafter oder Eigentümer „hinter“ der juristischen Person stehen.36 Das ist besonders augenfällig bei der Stiftung, die ein rechtlich verselbständigtes Sondervermögen ohne Mitglieder und damit eine Rechtsform ist, bei der ein so verstandener „Durchgriff “ oder „Durchblick“ auf natürliche Personen von vornherein ausscheidet. Doch auch bei Kapitalgesellschaften (insbesondere solchen, deren Gesellschafter keine natürlichen Personen sind) findet man ein „personales Substrat“ bisweilen nur in homöopathisch verdünnter Dosis, was selbst das Bundesverfassungsgericht zu Fehlschlüssen veranlasst hat.37 Von der ausdrücklichen Regelung der Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen sollen jedoch, mit den Worten von Mangoldts, gerade auch die Einheiten erfasst werden, „bei denen die Einzelperson sehr zurücktritt“.38 Eine naturalistische Umsetzung des derivativen Konzepts, die Art. 19 Abs. 3 GG auf die treuhänderische Wahrnehmung kollektiver Interessen natürlicher Personen durch Vereinigungen reduziert, denen sie als Mitglieder angehören, wird diesem Anliegen nicht gerecht.39 Siehe oben, Fn. 21. Repräsentativ für diese Kritik ist Dreier (Fn. 17), Art. 19 III Rz. 33. 37 Vgl. das Mitbestimmungsurteil BVerfGE 50, 290 (357 ff.); näher zur Kritik des Urteils unten, Abschnitt IV.2. 38 Siehe oben, Fn. 29 mit zugehörigem Text. 39 Dies betonen etwa auch Huber (Fn. 25), Art. 19 III Rz. 218; Wolfgang Rüfner, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Bd IX, 3. Aufl. 2011, § 196 Rz. 59. 35
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Vor allem aber wird mit dieser Vorstellung das Gefüge individueller Interessen verkannt, das sich in der Gründung und Betätigung gerade der im Privatrecht anerkannten Formen nicht-individueller Unternehmensträger verwirklicht: Kapital- und Personengesellschaften verdanken ihr Dasein und ihre Gestalt nicht der rechtlichen Anerkennung eines Kollektivs gleichgerichteter Gesellschafterinteressen, sondern einem komplexen Nexus von Interessen unterschiedlicher Gruppen, zu denen außer den (nach Mehrheit und Minderheit zu unterscheidenden) Gesellschaftern jedenfalls auch die Gläubiger und das Management zählen. So ist bereits die privatrechtliche Rechtsfähigkeit von Kapital- und Personengesellschaften als solche nur als Ergebnis eines – als hypothetischer Konsens rekonstruierbaren – Interessenausgleichs zwischen Gesellschaftern und Gläubigern zu verstehen.40 Ihre Transformation in ein Grundrechtssubjekt kann vor diesem Hintergrund nur gelingen, wenn man sie auch verfassungsrechtlich nicht als schlichte Addition gleichgerichteter Gesellschafterinteressen, sondern als Einheiten wahrnimmt, die das Produkt komplementärer individueller, grundrechtlich geschützter Interessen sind. Diese Einheiten sind daher mit einem nicht auf die beteiligten Individuen und erst recht nicht auf eine bestimmte Gruppe von Individuen (namentlich die Gesellschafter) reduzierbaren Eigensinn versehen. Will man diese besondere, nicht-additive Form kollektiver Grundrechtsausübung nicht schutzlos stellen, bleibt nichts anderes übrig, als die dadurch geschaffenen Einheiten selbst als Grundrechtsträger anzuerkennen. Weil in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dieser Schritt fehlt und die Rede vom „Durchgriff “ oder „Durchblick“ das Missverständnis nahelegt, in der Grundrechtsfähigkeit der juristischen Person schreibe sich schlicht die Grundrechtsfähigkeit „hinter“ ihr stehender Gesellschafter, Mitglieder oder Eigentümer fort, kommt es zur scheinbar unüberbrückbaren Distanz zwischen dem derivativen Ansatz des Gerichts und den damit erzielten Ergebnissen, was den Kreis der grundrechtsfähigen juristischen Personen betrifft.
b) Die Konkretisierung der Grundrechtsausstattung Eine konsequente Umsetzung des derivativen Konzepts definiert nicht nur den Kreis der als Grundrechtsträger in Betracht kommenden juristischen Personen, sondern muss auch die Basis für die Konkretisierung ihrer Grundrechtsausstattung sein. In welcher Hinsicht eine grundrechtsfähige juristische Person der natürlichen Person gleichzustellen ist oder aber Differenzierungen zwischen natürlichen und juristischen Personen geboten sind, hängt, wenn man den derivativen Ansatz ernst nimmt, allein davon ab, inwieweit mit der Grundrechtsausstattung der juristischen Person „der freien Entfaltung der privaten natürlichen Personen“ gedient ist, die das Bundesverfassungsgericht zu Recht als Leitstern der Interpretation des Art. 19 Abs. 3 GG ansieht. Vor diesem Hintergrund ist die Inanspruchnahme von wirtschaftlich relevanten Grundrechten durch unternehmenstragende juristische Personen zu sehen,41 aber auch deren Schutz durch Verfahrensgrundrechte und schließlich die vor allem durch Siehe unten, Abschnitt III.2.a). So im Ansatz auch Oliver Lepsius, WiVerw 2011, 206 (213).
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die jüngere Rechtsprechung des U.S. Supreme Court in den Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit gerückte Frage, inwieweit als juristische Personen konstitutierte Unternehmen grundrechtlichen Schutz für nicht wirtschaftliches Verhalten genießen, wie etwa den Einsatz von Unternehmensressourcen zum Zwecke der Finanzierung von Wahlkampfmaßnahmen42 oder die religiös motivierte Weigerung, sich an den Kosten einer Krankenversicherung für Beschäftigte zu beteiligen.43 Jede dieser Dimensionen des Grundrechtsschutzes gilt es mit Blick auf den Nexus individueller, grundrechtlich geschützter Interessen zu vermessen, der sich jeweils in der Bildung und Betätigung der ihrerseits Grundrechte in Anspruch nehmenden juristischen Person verwirklicht. Wiederum sind diese Fragen nur dann adäquat zu beantworten, wenn man dabei die besondere, komplementäre individuelle Interessen zur Geltung bringende Form kollektiver Grundrechtsausübung in den Blick nimmt, die sich in der unternehmenstragenden juristischen Person verwirklicht, und wiederum gilt es dabei die von Theorien über das Wesen der juristische Person angebotenen Scheinlösungen zu vermeiden. Beides ist, wie die folgenden Beispiele zeigen, in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht vollständig gelungen.
aa) Juristische Personen als „Zweckgebilde“ und der personale Bezug der Grundrechte An erster Stelle ist der Topos von der juristischen Person als „Zweckgebilde der Rechtsordnung“ zu nennen, mit dem das Bundesverfassungsgericht den Abstand kennzeichnet, der zwischen natürlicher und juristischer Person klafft, um auf diese Weise nach dem personalen Bezug des jeweiligen Grundrechts bemessene Differenzierungen in der Gewährung von Freiheitsrechten zu erklären oder im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG Ungleichbehandlungen zwischen natürlichen und juristischen Personen zu rechtfertigen. Charakteristisch hierfür ist die Begründung, mit der es das Bundesverfassungsgericht ablehnte, einer juristischen Person den Schutz des Nemo-tenetur-Grundsatzes zukommen zu lassen, der als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt ist. Die Grundsatzfrage nach der Anwendbarkeit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auf juristische Personen offenlassend, setzte das Bundesverfassungsgericht mit einer allgemeinen Erklärung der durch Art. 19 Abs. 3 GG eröffneten Differenzierung zwischen juristischen und natürlichen Personen an: „Jedenfalls dort, wo der Grundrechtsschutz an Eigenschaften, Äußerungsformen oder Beziehungen anknüpft, die nur natürlichen Personen wesenseigen sind, kommt eine Erstreckung auf juristische Personen als bloße Zweckgebilde der Rechtsordnung nicht in Betracht. Das wird um so eher der Fall sein, als der Grundrechtsschutz im Interesse der Menschenwürde gewährt wird, die nur natürliche Personen für sich in Anspruch nehmen können.“44 So verhalte es sich beim Zwang zur Selbstbezichtigung: „Der Zwiespalt, in den ein solcher Zwang den einzelnen führt, muß vor allem aus Gründen der Menschenwürde vermieden werden. Dieser Bezug schließt eine Erstreckung auf juristische Perso Citizens United v. Federal Election Commission, 558 U.S. 310 (2010). Burwell v. Hobby Lobby, 573 U.S. _ (2014). 44 BVerfGE 95, 220 (242). 42 43
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nen aus. Eine Lage, wie sie der Zwang zur Selbstbezichtigung für natürliche Personen herauf beschwört, kann bei ihnen nicht eintreten. Sie bilden ihren Willen nur durch Organe und unterliegen im Hinblick auf Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten nur einer eingeschränkten Verantwortlichkeit.“45 Diese Begründung wirft Fragen auf. Wenn die juristische Person ihre Grundrechtsberechtigung nach dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts daraus bezieht, dass sie Ausdruck der freien Entfaltung natürlicher Personen ist, scheint ihre Bezeichnung als bloße Zweckschöpfung der Rechtsordnung auf den ersten Blick in einem offenkundigen Widerspruch hierzu zu stehen. Diese an die gesellschaftsrechtliche Fiktionstheorie erinnernde Formulierung legt eine Beliebigkeit in der rechtlichen Kreation und Behandlung juristischer Personen nahe, die mit ihrem grundrechtlichen Fundament unvereinbar wäre. Allerdings mag die Rede vom „Zweckgebilde“ nur der Kennzeichnung des Umstandes dienen, dass allein natürliche, nicht aber juristische Personen Träger der Menschenwürde sind und juristische Personen daher anders als natürliche durchaus als Mittel zum Zweck behandelt werden dürfen.46 Selbst dann aber wird nicht recht deutlich, wie der Menschenwürdegehalt eines Grundrechts das entscheidende Kriterium für eine positive oder negative Antwort auf die Frage nach der Grundrechtsausstattung der juristischen Person sein kann, ja wie dieser überhaupt zu bestimmen ist. So kann etwa der vom Bundesverfassungsgericht erkannte Zwiespalt, den ein Zwang zur Selbstbezichtigung verursacht, durchaus nicht nur bei Individuen, sondern auch bei Organisationen identifiziert werden, wenn man ihn nicht naturalistisch als Gefühlslage, sondern als Konflikt versteht, der durch den Zwang zum Handeln wider das eigene Interesse verursacht wird. Die entscheidende Frage ist daher nicht, ob juristische Personen im Angesicht eines Zwangs zur Selbstbelastung denselben Zwiespalt empfinden können wie natürliche Personen (selbstverständlich nicht), sondern ob es mit Blick auf die in einer juristischen Person zum Ausdruck kommende kollektive Grundrechtsbetätigung sinnvoll und geboten ist, diese mindestens ansatzweise so vor einer Selbstbelastung zu schützen wie die natürliche. Letztere Frage ist in der europäischen Rechtsprechung immerhin anders beantwortet worden als vom Bundesverfassungsgericht.47 Damit sei nicht gesagt, dass dem Bundesverfassungsgericht auch im Ergebnis zu widersprechen ist; allein der – wie auch immer zu messende – personale Bezug eines Grundrechts zum Individuum ist als Begründung für die Weigerung, einer juristischen Person entsprechenden Schutz zu gewähren, jedenfalls dann unzureichend, wenn man sich jenseits einfacher Unterscheidungen (etwa hinsichtlich des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit) in die breite Grauzone derjenigen Grundrechte begibt, deren Anwendung auf juristische Personen zumindest denkbar ist. Das gilt auch in umgekehrter Richtung: Die Anwendbarkeit eines bestimmten Grundrechts auf juristische Personen versteht sich nicht schon deshalb von selbst, weil das Grundrecht nicht an wesenseigene Eigenschaften, Äußerungsformen oder Beziehungen natürlicher Personen anknüpft. Die entscheidende Frage ist vielmehr BVerfGE 95, 220 (242). Dazu schon Ackermann (Fn. 15), 22. 47 Anerkannt wird die Selbstbelastungsfreiheit für juristische Personen durch den EuGH, ECLI: EU:C:2002:582, Rz. 74 – PVC II, und durch das EuG, ECLI:EU:T:2001:61, Rz. 66 f. – Mannesmannröhren-Werke. 45
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auch hier, ob die Anerkennung der Grundrechtsträgerschaft der jeweiligen juristischen Person erforderlich ist, um Lücken im Schutz der in ihr zum Ausdruck kommenden kollektiven Grundrechtsausübung zu vermeiden. Wie wenig aussagekräftig dagegen die Fixierung auf das Vorhandensein oder Fehlen eines spezifischen Bezugs zur natürlichen Person und deren Würde ist, zeigt sich gerade in den Fällen, in denen das Bundesverfassungsgericht juristischen Personen einen Schutz durch Grundrechte zuerkannt hat, deren personaler Bezug unverkennbar ist. So steht es der Erstreckung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) auf juristische Personen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht entgegen, dass Art. 13 Abs. 1 GG seinem Ursprung nach ein personales Individualrecht gewährleistet, das dem Einzelnen im Hinblick auf seine Menschenwürde und im Interesse seiner freien Entfaltung einen „elementaren Lebensraum“ einräumt.48 Ebenso wenig sah sich das Bundesverfassungsgericht an der Anwendung des Rechts am gesprochenen Wort auf juristische Personen gehindert, nur weil es sich hierbei um eine Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts handelt, das „seinem Ursprung nach ein die freie Entfaltung der Persönlichkeit gewährleistendes Individualrecht ist, das seine Grundlage insoweit auch in dem Schutz der Menschenwürde findet“.49 Die erzielten Ergebnisse mögen Zustimmung verdienen. Sie sind jedoch nicht überzeugend mit apodiktischen Aussagen darüber zu rechtfertigen, wie eng oder locker der personale Bezug des jeweiligen Freiheitsrechts ist. Nicht anders verhält es sich bei der Anwendung des Gleichheitssatzes. So begründete das Bundesverfassungsgericht die Vereinbarkeit der auf natürliche Personen beschränkten Gewährung von Prozesskostenhilfe mit Art. 3 Abs. 1 GG damit, dass die Prozesskostenhilfe die „Konkretisierung eines aus dem Sozialstaatsprinzip sich ergebenden verfassungsrechtlichen Gebots“ darstelle. Der „auf Gleichheit im sozialen Bereich ausgerichtete Aspekt des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 1 GG“ gelte „seinem Wesen nach nur für den Menschen, nicht aber für juristische Personen“.50 Hintergrund ist wiederum die Gegenüberstellung der juristischen Person (hier einer Kapitalgesellschaft) als „künstliche Schöpfung nach Maßgabe einer von der Rechtsordnung aus Zweckmäßigkeitsgründen zugelassenen Rechtsform“51 und der – hier im Sozialstaatsprinzip zum Ausdruck kommenden – „Erhaltung und Sicherheit der menschlichen Würde“.52 Auch hier liegt der personale Bezug im Auge des Betrachters; dass sich die Prozesskostenhilfe durchaus auch als Erfordernis eines auch juristischen Personen zu gewährenden effektiven Rechtsschutzes verstehen lässt, zeigt die gegenläufige Rechtsprechung des EuGH.53
Vgl. BVerfGE 42, 212 (219); 44, 353 (371), 76, 83 (88). BVerfGE 106, 28 (43). 50 BVerfGE 35, 348 (357 f.). 51 A.a.O. (Rz. 22). 52 A.a.O. (Rz. 21). 53 EuGH, ECLI:EU:C:2010:811, Rz. 41 f. – DEB. 48 49
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bb) Die Ausnahmestellung der Justizgrundrechte In unübersehbarem Kontrast zu dem Versuch, bei der Anwendung bestimmter Grundrechte auf juristische Personen auf das Kriterium des personalen Bezugs abzustellen, steht die Haltung des Bundesverfassungsgerichts zu den Justizgrundrechten der Art. 101 Abs. 1 und 103 Abs. 1 GG.54 Hier lehnt es die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung ab, in Anknüpfung an die Durchgriffsthese zwischen natürlichen und juristischen Personen zu differenzieren; es müssten diese Grundrechte vielmehr „für jedes gerichtliche Verfahren gelten und daher auch jedem zugute kommen, der nach den Verfahrensnormen parteifähig ist oder von dem Verfahren unmittelbar betroffen wird“.55 Ausschlaggebend für die Sonderrolle der Justizgrundrechte ist aus der Sicht des Gerichts das Zurücktreten des personalen Bezugs zugunsten objektiver Gewährleistungen, nämlich rechtsstaatlicher Erfordernisse an prozedurale Gerechtigkeit als „Voraussetzungen einer richtigen Entscheidung“.56 Die Ausnahmestellung, die das Bundesverfassungsgericht den Justizgrundrechten zuweist, indem es (nur) in dieser Hinsicht eine generelle Gleichstellung juristischer mit natürlichen Personen befürwortet, führt zu schwer nachvollziehbaren Grenzziehungen, was den Grundrechtsschutz juristischer Personen in Verfahrensfragen betrifft. So haben juristische Personen, denen (etwa aufgrund ihrer Ausländereigenschaft) die Grundrechtsberechtigung nach Art. 19 Abs. 3 GG fehlt, zwar die Rechte auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 GG und auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG, aber sie können sich nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG berufen.57 Wie die bereits erwähnten, ablehnenden Entscheidungen zur Selbstbelastungsfreiheit und zur Prozesskostenhilfe für juristische Personen belegen, zeigt die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung außerhalb der Justizgrundrechte generell keine besondere Neigung, juristischen Personen in verfahrensrechtlich relevanten Fragen die Unterstützung der Grundrechte in gleichem Umfang wie natürlichen Personen zu gewähren. Jenseits der Justizgrundrechte beharrt das Bundesverfassungsgericht also keineswegs darauf, dass prozedurale Gerechtigkeit für juristische Personen als objektiver Wert in genau der gleichen Weise zu verwirklichen ist wie für natürliche Personen. Mit Recht wird deshalb von einem „Systembruch“ durch die pauschale Erstreckung der Justizgrundrechte auf juristische Personen gesprochen und darauf hingewiesen, dass die für diese Grundrechte in Anspruch genommene „Eigenschaft als objektive Wertentscheidung kein Spezifikum der Justizgrundrechte, sondern eine allen Grundrechten gemeinsame Dimension“ sei.58
Zum Folgenden bereits Ackermann (Fn. 15), 19. BVerfGE 3, 359 (363); 12, 6 (8); 21, 362 (373). 56 BVerfGE 9, 89 (95). 57 BVerfG NJW 2006, 2907 (2908) (hinsichtlich ausländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts); zustimmend und mit weiteren Nachw. zur – die Frage teilweise offen lassenden – Rspr. Huber (Fn. 25), Art. 19 Rz. 324; a.A. Dreier (Fn. 17), Art. 19 III Rz. 41 f. 58 So Huber (Fn. 25), Art. 19 Rz. 325. Die h.L. billigt freilich die Haltung des BVerfG zur Sonderrolle der Justizgrundrechte, vgl. m.w.Nachw. Dreier (Fn. 17), Art. 19 III Rz. 40; Tettinger, in: Merten/ Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. II, 2006, § 51 Rz. 63. 54 55
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Wiederum richtet sich diese Kritik nicht per se gegen die Ergebnisse, sondern in erster Linie gegen ein Begründungsdefizit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Während das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen zu Art. 19 Abs. 3 GG Anleihen bei der Fiktionstheorie nimmt, um die juristische Person als Grundrechtsträger gleichsam zum Verschwinden zu bringen, wenn die Anwendung bestimmter Grundrechte unangebracht erscheint, nimmt es bei der Anwendung der Justizgrundrechte die einfach-rechtliche „Realität“ der juristischen Person als Prozesspartei zum Nennwert und stellt sie ohne weiteres dem Menschen gleich. Auch damit wird das Bundesverfassungsgericht nicht dem derivativen Ansatz gerecht: Die verfassungsrechtliche Absicherung nicht nur der materiellen, sondern auch der prozeduralen Stellung einer juristischen Person muss sich zurückführen lassen auf den Nexus grundrechtlich geschützter Interessen von Individuen, der sich in ihr verwirklicht. Erkennt man freilich, dass hiermit nicht nur die „hinter“ der juristischen Person stehenden Gesellschafter gemeint sind, sondern auch die Inhaber komplementärer Interessen (namentlich die Gläubiger), die zur Durchsetzung ihrer Rechte einen Prozessgegner benötigen, verfügt man bereits über den Schlüssel für die Lösung des Problems, warum eine prozedurale Grundrechtsberechtigung durchaus auch dann gerechtfertigt sein kann, wenn die betreffende juristische Person als Träger materieller Grundrechte nicht in Betracht kommt.
III. Das Unternehmen als durch komplementäre individuelle Grundrechtsbetätigung konstituierter Marktakteur 1. Vorüberlegung: Methodologischer Individualismus oder methodologischer Kollektivismus? Der Versuch, die Lücken im derivativen Ansatz des Bundesverfassungsgerichts durch eine Rekonstruktion des Zusammenwirkens grundrechtlich geschützter Interessen von Individuen zu schließen, das sich in der Gründung und Betätigung unternehmenstragender juristischer Personen äußert, geht auf eine methodologische Vorentscheidung zurück, die es zunächst zu erläutern gilt. Löst man sich für einen Augenblick von der juristischen Perspektive, gibt es zwei Möglichkeiten, Unternehmen und sonstige Kollektive (darunter auch den Staat) verstehend zu erfassen. Zum einen kann man versuchen, Kollektive wie soziale Phänomene überhaupt aus dem Handeln der daran beteiligten Individuen zu erklären. Insoweit spricht man von methodologischem Individualismus. Exemplarisch hierfür steht die Soziologie Max Webers, die soziales Handeln deutend zu verstehen suchte und hierunter von dem Handelnden mit einem subjektiven Sinn verbundenes, menschliches Verhalten versteht.59 Eine Ausprägung dieser Perspektive ist die ökonomische Analyse des Rechts, die den methodologischen Individualismus unter Zugrundelegung der Annahme eines zweckrationalen Verhaltens betreibt. Zum anderen ist es denkbar, Kollektive als Ganzes zu analysieren. Dies ist die Perspektive des methodologischen Kollektivismus, welche die Soziologie in der Tradition Durkheims prägt, dem zufolge soziologische Tatbe Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1976, § 1.
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stände „wie Dinge zu betrachten“ sind, die, „für sich betrachtet, außerhalb des individuellen Bewusstseins stehen“.60 Die folgenden Überlegungen zur unternehmenstragenden juristischen Person als Nexus komplementärer Interessen fußen auf den Prämissen des methodologischen Individualismus. Das sei kurz erläutert. Zunächst ist zu betonen, dass eine Betrachtung von Kollektiven aus der Perspektive des methodologischen Kollektivismus durchaus erhellend sein kann. Unternehmen, Parteien, Kirchen, den Staat usw. als Ganzes zu sehen, mag je nach der verfolgten Fragestellung sinnvoll und fruchtbar sein, weil damit das Proprium des jeweiligen Kollektivs in den Blick rückt. Diese holistische Sicht zeichnete bereits Gierkes Genossenschaftstheorie aus, in der Körperschaften als „Socialgebilde“ dargestellt wurden, „welche als reale Verbandspersonen aus dem Individualrecht herauszutreten vermögen“.61 Soziologische, philosophische oder psychologische Perspektiven sind damit kompatibel.62 Was hier aber interessiert, ist die Verwertbarkeit eines solchen Ansatzes für die Begründung der Grundrechtsberechtigung von Kollektiven. Im Zusammenhang mit der Frage, ob webbasierte Kollektivitätsformen (wie Netzwerke und Schwärme) als Grundrechtssubjekte nach Art. 19 Abs. 3 GG in Betracht kommen, ist in der Tat der Versuch unternommen worden, eine Analyse von Merkmalen dieser kollektiven Phänomene, die sich aus der Perspektive des methodologischen Kollektivismus zeigen, in eine Argumentation für deren Einbeziehung in der Kreis der grundrechtsberechtigten juristischen Personen einzubauen.63 Hier ist jedoch Skepsis geboten: Jedenfalls dem Modell der Grundrechte des Grundgesetzes ist es allein angemessen, grundrechtsberechtigte Kollektive nicht als autonome Einheiten anzusehen, sondern sie im Grundrechtsverhältnis zwischen Staat und Individuum zu verorten. Es ist schwer zu sehen, wie sich hierfür etwas anderes als die Sicht des methodologischen Individualismus eignen könnte. Denn der methodische Kollektivismus bietet gerade nicht, was man zu dieser Verortung benötigt: eine Erklärung der Grundrechtsberechtigung des Kollektivs aus der Rückbindung an die Grundrechtsberechtigung der beteiligten Individuen. Eine gewisse Bestätigung hierfür ergibt sich, wenn man auf die eigenwillige englische Rezeptionsgeschichte der Genossenschaftstheorie Gierkes schaut (die ihrerseits auf eine eigenwillige Hobbes-Rezeption zurückgeht).64 Veranlasst durch eine Übersetzung Maitlands wurde Gierke zum Gründervater des englischen Rechtspluralismus, mit dem koexistierende rechtliche Ordnungen als soziale Phänomene erfasst werden. Hier passt eine holistische Sicht auf die Kollektive, die diese Ordnungen produzieren. Auf diese Weise lässt sich etwa die Koexistenz staatlichen und nichtstaatl ichen Rechts (z.B. in Gestalt der lex mercatoria) diskutieren. Zugleich wird damit aber auch deutlich, dass es sich bei Unternehmen und überhaupt bei den juristischen Personen im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG nicht so verhält: Niemand wollte über die Regelung des Art. 19 Abs. 3 GG eine jenseits der staatlichen Rechtsordnung stehende Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, 1965, S. 88. Otto v. Gierke, Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung, 1887, S. 11. 62 Vgl. die zusammenfassende Darstellung der Sichtweisen unterschiedlicher Disziplinen auf das Unternehmen bei Susanna K. Ripken, Fordham Journal of Corporate & Financial Law XV (2009), 97 ff. 63 Albert Ingold, Der Staat 2014, 193, 196 ff. 64 Hierzu David Runciman, Pluralism and the Personality of the State, 1997, insbes. S. 34 ff. (zu Gierke), 89 ff. (zu Maitland). 60 61
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Figur der juristischen Person mit selbsttragender Legitimität begründen. Die juristische Person bleibt vielmehr in die staatliche Rechtsordnung eingespannt, auch wenn der Staat wegen der in ihr zum Ausdruck kommenden Grundrechtsbetätigung von Individuen nicht mit ihr umspringen darf, wie es ihm gefällt. Legt man diese Prämisse zugrunde, ist eine individualistische Rekonstruktion der unternehmenstragenden juristischen Person unumgänglich. Diese gilt es in zwei Schritten zu entfalten: Zunächst ist der Nexus komplementärer wirtschaftlicher Interessen freizulegen, durch die die unternehmenstragende juristische Person gebildet wird (dazu 2.). Sodann ist auf das Problem der nicht im Unternehmen als Marktakteur repräsentierten Interessen einzugehen (dazu 3.).
2. Das Unternehmen als Nexus komplementärer wirtschaftlicher Interessen Die bereits mehrfach angeklungene Grundthese dieses Beitrags ist, dass unternehmenstragende juristische Personen des Privatrechts nicht adäquat erfasst werden, wenn man zur Beantwortung der Frage nach ihrer Grundrechtsberechtigung im Rahmen eines derivativen Ansatzes nur auf deren Gründer bzw. Gesellschafter abstellt. Zwar handelt es sich hierbei um die (nicht notwendig natürlichen) Personen, die den Unternehmensträger als rechtsfähige Einheit durch einen Gesellschaftsvertrag oder (im Falle einer Stiftung) durch ein einseitiges Rechtsgeschäft ins Leben rufen. Ebenso sind es auch die Gesellschafter, die nach Maßgabe ihrer Anteile Inhaber der bestehenden Gesellschaft sind (während die Stiftung keinen Inhaber hat). Indes griffe es zu kurz, daraus zu schließen, dass die verschiedenen Formen rechtsfähiger Unternehmensträger allein der Betätigung der wirtschaftlichen Freiheit der Gründer bzw. Gesellschafter dienen, die ihren grundrechtlichen Schutz in der Eigentums-, Berufs- und Vereinigungsfreiheit sowie in der Privatautonomie als Aus prägung der allgemeinen Handlungsfreiheit findet. Vielmehr liegt die Existenz unternehmenstragender juristischer Personen (in dem weiten, auch rechtsfähige Per sonengesellschaften umfassenden Sinn, den Art. 19 Abs. 3 GG gebietet) 65 auch im wirtschaftlichen Interesse all derer, die zu dem Unternehmensträger in eine Beziehung als Gläubiger, Arbeitnehmer oder Manager treten. Diese im Verhältnis zu den Gesellschaftern komplementären Interessen drücken sich gleichfalls in der Betätigung von Grundrechten aus: Sieht man von Gläubigern ab, die Rechte gegenüber der juristischen Person aus einer deliktischen Handlung oder aus einem sonstigen gesetzlichen Schuldverhältnis herleiten, gründet sich die Herstellung der rechtlichen Beziehung zwischen der juristischen Person und ihren Gläubigern, Arbeitnehmern und Managern auf die Wahrnehmung der Privatautonomie. Arbeitnehmer und Manager nehmen dadurch zudem ihre Berufsfreiheit wahr. Darüber hinaus ist die Innehabung vermögenswerter Forderungen gegenüber der juristischen Person Schutzgegenstand der Eigentumsfreiheit. Auch wenn sich die unternehmenstragende juristische Person privatrechtlich als Geschöpf der Gründer bzw. Gesellschafter darstellt, ist sie daher funktional betrachtet ein Gebilde, das die Rechtsordnung zur Verfügung stellt, um rechtliche Beziehungen zu anderen Personen zu definieren, und zwar vor 65
Siehe oben, Abschnitt I.
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dem Hintergrund grundrechtlich geschützter, wirtschaftlicher Interessen aller Beteiligten. Es handelt sich bei der Schaffung der zum Betrieb von Unternehmen vorgesehenen Rechtsträger durch das Privatrecht also, vereinfacht gesagt, um eine Infrastrukturdienstleistung des Gesetzgebers, die eine wirtschaftlich sinnvolle Koordinierung zwischen „hinter“ und „vor“ dem Rechtsträger stehenden Personen ermöglicht und ihren grundrechtlichen Eigenwert gerade aus diesem Zusammenspiel bezieht. Diesen funktionalen Zusammenhang herausgearbeitet zu haben, ist das Verdienst der ökonomischen Analyse des Gesellschaftsrechts, in der insbesondere Kapitalgesellschaften seit einer grundlegenden Arbeit von Jensen und Meckling verbreitet als Nexus oder Netzwerk von Verträgen (nexus of contracts) analysiert werden.66 Die Darstellung der unternehmerischen Organisation als vertragliches Netzwerk verdeutlicht insbesondere, dass außer den Beziehungen, die das Unternehmen zu (Vertrags-) Gläubigern unterhält, auch die innerhalb des Unternehmens bestehenden Beziehungen zwischen Inhabern, Managern und Mitarbeitern konsensualen Charakter haben und in ihrer Gesamtheit die Einheit „Unternehmen“ konstitutieren, deren Träger die juristische Person des Privatrechts ist. Dabei mag für unsere Zwecke die – sich bei jeder Sozialvertragstheorie stellende – Frage dahinstehen, ob es sich bei diesen Beziehungen in all ihren Facetten stets um reale Verträge handelt oder ob es nicht vielmehr auch um die Konstruktion hypothetischer Verträge geht, denn ausschlaggebend für unsere Zwecke ist nicht die Vertragskonstruktion als solche, sondern die mit ihrer Hilfe offengelegte wirtschaftliche Funktion bestimmter Aspekte des Gesellschaftsrechts, die für die Transformation juristischer Personen des Privatrechts in Grundrechtssubjekte relevant sind. Hier steht an erster Stelle die Funktion der Rechtsfähigkeit, die das Scharnier zwischen der Konstitution nicht-individueller Unternehmensträger als Privatrechtssubjekt und ihrer Anerkennung als Grundrechtssubjekt bildet. An zweiter Stelle steht ein Merkmal, das mit Blick auf die Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes zu Differenzierungen zwischen juristischen und natürlichen Personen sowie auch zwischen verschiedenartigen juristischen Personen Anlass gibt: die Repräsentation der juristischen Person durch Organe, die ihr Handlungsfähigkeit verleihen, aber auch Steuerungsprobleme verursachen.
a) Rechtsfähigkeit: Vom Privatrechtssubjekt zum Grundrechtssubjekt Die Selbstverständlichkeit, mit der das Bundesverfassungsgericht Personengesellschaften, Kapitalgesellschaften und juristische Personen des Privatrechts überhaupt als Grundrechtsträger betrachtet (es sei denn, der Staat bedient sich dieser privatrechtlichen Formen), setzt den Schluss von der Rechtsfähigkeit als Figur des Privatrechts auf die Grundrechtsfähigkeit voraus: Wer Träger privatrechtlicher Rechte und Pflichten sein kann, kann danach grundsätzlich auch Träger von Grundrechten sein. Diese Aussage ist begründungsbedürftig, weil die Frage nach der Ausstattung eines Michael Jensen/William J. Meckling, Journal of Financial Economics 3 (1976), 305. Beispielhaft für diese Herangehensweise in Standardwerken der ökonomischen Analyse des Gesellschaftsrechts seien genannt Frank H. Easterbrook/Daniel R. Fischel, The Economic Structure of Corporate Law, 1991; Reinier Kraakman u.a., The Anatomy of Corporate Law, 2. Aufl. 2009. 66
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Subjekts mit Rechten (und Pflichten) im Horizontalverhältnis zu anderen Rechtssubjekten nicht notwendig genauso entscheiden werden muss wie die Frage nach dessen Ausstattung mit Rechten in der Vertikalbeziehung zum Staat. Dass Vermögensgegenstände, die das Privatrecht einer juristischen Person in ihrem Verhältnis zu anderen Personen zuordnet, in den Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts fallen, zwingt für sich genommen nicht dazu, zugleich auch die Grundrechtsberechtigung der juristischen Person mit Blick auf ein in dieser Hinsicht bestehendes Eigentum im Sinne des Art. 14 GG anzuerkennen. Denn immerhin ist es denkbar (und wird vertreten), dass es sich hierbei um eine Berechtigung handelt, die eigentlich den natürlichen Personen zusteht, die (unmittelbar oder mittelbar) hinter der juristischen Person stehen, und von der juristischen Person nur treuhänderisch wahrgenommen wird.67 Um diesem Einwand zu begegnen, ist eine Begründung dafür anzugeben, dass die Zuweisung dieser Berechtigung an die juristische Person nicht mit einer Zuweisung an das Kollektiv der hinter ihr stehenden Inhaber gleichzusetzen ist, sondern einen Eigenwert hat. Dieses fehlende Glied im derivativen Konzept des Bundesverfassungsgerichts erschließt sich aus einer funktionalen Betrachtung der Rechtsfähigkeit nicht-individueller Unternehmensträger (seien dies Personen- oder Kapitalgesellschaften), wie sie die Nexus-of-contracts-Theorie bietet.68 Kollektive unternehmerische Aktivität von Individuen kann in ihrer einfachsten Form durch eine schuldrechtliche Vereinbarung zwischen den Beteiligten rechtlich stabilisiert werden, die ohne die Kreation eines von den Beteiligten zu unterscheidenden Rechtssubjekts auskommt. Dies ist das Konzept der römischen societas,69 das in der lange Zeit herrschenden Vorstellung von der nicht rechtsfähigen BGB-Gesellschaft fortwirkte.70 Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Möchten A und B gemeinsam eine Gaststätte betreiben, mag es zunächst ausreichen, dass beide Parteien ihre jeweiligen Beiträge für den Erfolge des Unternehmens festlegen und einander vertraglich zusagen. Weder hierfür noch für den Abschluss von Verträgen mit Lieferanten und Kunden bedarf es notwendig eines von A und B zu unterscheidenden rechtsfähigen Subjekts als Unternehmensträger. Das Interesse, kollektive unternehmerische Aktivität durch Kredite von Gläubigern (mit-)finanzieren zu lassen, schafft indes das wirtschaftliche Bedürfnis, die dem Unternehmen gewidmeten Vermögenswerte von den sonstigen Vermögenswerten der Gesellschafter mindestens so zu trennen, dass den Gläubigern, die Mittel zur Finanzierung des Unternehmens einsetzen, dem Unternehmen gewidmete Vermögenswerte im Verhältnis zu den persönlichen Gläubigern der Gesellschafter vorrangig zur Verfügung stehen.71 Sollten A und B, um das Beispiel fortzusetzen, einen 67 So etwa Anat Scolnicov, Lifelike and Lifeless in Law: Do Corporations Have Human Rights?, Cambridge Legal Studies Research Paper No. 13/2013. 68 Die folgenden Ausführungen basieren maßgeblich auf Erkenntnissen von Henry Hansmann/Reinier Kraakman, Harvard L.Rev. 119 (2006), 1333 ff.; zusammenfassend John Armour/Henry Hansmann/ Reinier Kraakman, in: Kraakman u.a. (Fn. 66), S. 6 f. 69 Hierzu etwa Heinrich Honsell, Römisches Recht, 7. Aufl. 2010, S. 148. Zu der hier nicht weiter zu verfolgenden Frage, warum sich die römische societas nicht zu einer rechtsfähigen Einheit entwickelte, Hansmann/Kraakman (Fn. 68), 1356 ff. 70 Bis zur Entscheidung BGHZ 146, 341, mit der der BGH unter Zustimmung des überwiegenden Schrifttums die Rechtsfähigkeit der Außen-GbR anerkannte. 71 Hansmann/Kraakman (Fn. 68), 1337 f., sprechen insoweit von „weak entity shielding“. Die starke
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Kredit für ihr Gaststättenprojekt benötigen, ist es für die Kalkulierbarkeit des mit dem Kredit verbundenen Risikos und damit auch für die von A und B zu entrichtenden Kreditkosten von erheblicher Bedeutung, ob der Kreditgeber sich in einer für ihn nicht überschaubaren Gruppe persönlicher Gläubiger von A und B befindet, mit denen er bei der Befriedigung seiner Forderung gleichrangig konkurriert, oder ob A und B Vermögenswerte zugunsten ihres Projekts zur Verfügung stellen, hinsichtlich derer der Kreditgeber Vorrang im Verhältnis zu den persönlichen Gläubigern von A und B genießt. Dieses sowohl für die Gesellschafter als auch für den Kreditgeber vorteilhafte, darüber hinaus auch für jede auch nur ansatzweise marktwirtschaftlich orientierte Gesellschaft wünschenswerte Arrangement lässt sich durch die Schaffung eines Rechtsträgers verwirklichen, dem diese Vermögenswerte zugeordnet werden.72 Eine wesentliche Funktion der Rechtsfähigkeit unternehmenstragender Einheiten, seien dies Personengesellschaften, Kapitalgesellschaften oder Stiftungen, besteht also darin, im beiderseitigen Interesse von Gesellschaftern und Gläubigern und im Sinne einer effizienten Unternehmensfinanzierung dem Unternehmen gewidmete Vermögenswerte nicht bei den Gesellschaftern zu belassen, sondern sie einem gesonderten Rechtsträger zu übertragen und sie damit vor den persönlichen Gläubigern der Gesellschafter abzuschirmen.73 Weil Gesellschafter und Gläubiger solche Rechtsträger nicht durch eine schuldrechtliche Vereinbarung ins Leben rufen können, die nur inter partes wirkt, stellt der Gesellschaftsrechtsgesetzgeber ihnen diese zur Verfügung.74 Diese funktionale Erklärung der Rechtsfähigkeit nicht-individueller Unternehmensträger hat Konsequenzen für deren Anerkennung als Grundrechtssubjekte. Die Entscheidung des einfachen Gesetzgebers, rechtsfähige Einheiten zur Verfügung zu stellen, in deren Mantel Individuen schlüpfen können, um unternehmerische Aktivitäten kollektiv auszuüben und zu finanzieren, verdankt sich nicht nur dem Interesse der Gesellschafter, sondern auch dem Interesse der Gläubiger an einer Unterscheidung des Gesellschaftsvermögens vom Vermögen der Gesellschafter (und bei der Stiftung, mutatis mutandis, dem Interesse an der Unterscheidung des Stiftungsvermögens vom Vermögen des Gründers). Dass die Gesellschaft Inhaberin der ihr zugewiesenen Vermögensgegenstände ist, darf daher nicht als pragmatisches Kürzel für die kollektive Inhaberschaft der Gesellschafter missverstanden werden. Dementsprechend ist auch der grundrechtliche Schutz dieser Vermögensgegenstände durch die Eigentumsfreiheit der Gesellschaft nicht nur als Treuhänderin der Gesellschafter anvertraut. Die Gesellschaft als zivilrechtlich konstituierte Rechtsträgerin ist vielmehr selbst Trägerin des Eigentumsgrundrechts, in dessen Schutzbereich die ihr zivilrechtForm des „entity shielding“ erfordert darüber hinaus das an die Gesellschafter gerichtete Verbot, dem Unternehmen ihren Anteil an den überlassenen Vermögenswerten zu entziehen. 72 Zu diesen und weiteren Vorteilen des „entity shielding“ Hansmann/Kraakman (Fn. 68), 1343 ff.; zu den Kosten dies., 1350 ff. 73 Die nicht ubiquitär, sondern nur bei bestimmten Typen der Gesellschaft (in Deutschland etwa bei der AG und der GmbH) anzutreffende „beschränkte“ Gesellschafterhaftung für Schulden der Gesellschaft ist hiervon zu unterscheiden. Dadurch wird das Vermögen der Gesellschafter vor den Gläubigern des Unternehmens abgeschirmt, also eine Vermögenstrennung in umgekehrter Richtung hergestellt. Hansmann/Kraakman (Fn. 68), 1339 f., sprechen insoweit von „owner shielding“. 74 Dabei mögen die zur Verfügung gestellten Formen zwingend oder dispositiv ausgestaltet sein; vgl. dazu etwa Jens-Hinrich Binder, Regulierungsinstrumente und Regulierungsstrategien im Kapitalgesellschaftsrecht, 2012, S. 63 ff.
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lich zugeordneten Vermögensgegenstände fallen. Damit ist der Schritt vom Privatrechts- zum Grundrechtssubjekt getan.
b) Repräsentation: Organhandeln und das Prinzipal-Agenten-Problem Der zweite für die Grundrechtsausstattung der juristischen Person des Privatrechts relevante Schritt führt von der Rechts- zur Handlungsfähigkeit. Unternehmenstragende juristische Personen sind aus der Perspektive des Grundrechtsschutzes nicht nur statisch als Träger von Rechten, sondern auch als Akteure zu erfassen, deren Handeln durch Grundrechte vor ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen zu bewahren ist. Dabei handelt es sich um eine notwendige Schlussfolgerung aus der Einsicht in die (nicht nur treuhänderische) Rechtsträgerschaft der juristischen Person: Der rechtsgeschäftliche Erwerb und Verlust von Rechten sowie die Eingehung damit korrespondierender Pflichten muss, damit die Rechtsträgerschaft einen Inhalt hat, der (selbst nicht handlungsfähigen) juristischen Person durch ihr zuzurechnende Handlungen ebenso möglich sein wie das rein tatsächliche Agieren im vor- und außervertraglichen Bereich, das mit sämtlichen Unternehmensfunktionen von der Finanzierung bis zum Produktvertrieb einhergeht. Der grundrechtliche Schutz der unternehmenstragenden juristischen Personen wäre daher unvollständig, wenn man ihn nicht auch auf die Handlungen erstreckte, die ihr zugerechnet werden. Staatliche Maßnahmen, die Freiheitsspielräume eines Individuums mit Blick auf Handlungen beschränken, die einer juristischen Person zugerechnet werden, sind daher als Eingriffe in Grundrechte der juristischen Person zu würdigen.75 So fallen die Wahl der Branche, die Werbung für Produkte, der Abschluss von Verträgen mit Kunden usw. nicht anders als bei unternehmerisch tätigen natürlichen Personen in den Schutzbereich der jeweils einschlägigen Grundrechte der unternehmenstragenden juristischen Person. Allerdings darf die Grundrechtsanwendung ebenso wenig wie das einfache Recht blind für den Umstand sein, dass juristische Personen anders als Individuen nicht selbst handeln, sondern durch andere repräsentiert werden, und zwar primär durch Individuen, die für sie Organfunktionen (z.B. als Geschäftsführer einer GmbH oder als Vorstand einer Aktiengesellschaft) wahrnehmen. In den Fällen, in denen nicht die Gesellschafter selbst die Organstellung einnehmen, sondern nicht zum Kreis der Gesellschafter gehörende Manager, erweitert sich das Geflecht komplementärer Interessen, das sich im Unternehmen zur Geltung bringt, um die Interessen der Angehörigen des Managements. Dass sich die Interessen des Managements nicht im Gleichlauf mit den Interessen der Gläubiger befinden, versteht sich von selbst. Darüber hinaus ist das Management aber oft auch nicht der verlängerte Arm der Gesellschafter: Klaffen Eigentum (der Gesellschafter) und Kontrolle (durch das Management) auseinander, wie dies am deutlichsten bei großen Kapitalgesellschaften mit weit gestreutem Anteilsbesitz zu erkennen ist, ergibt sich für das Management die Gelegenheit zu
75 Das schließt nicht aus, dass zugleich auch Eingriffe in Grundrechte des handelnden Individuums vorliegen können.
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opportunistischem Verhalten, die ökonomisch als Prinzipal-Agenten-Problem diskutiert wird und klassisches Kernthema der Corporate-Governance-Diskussion ist.76 Abgesehen von der Frage, mit welchen gesellschaftsrechtlichen Strategien diesem Problem zu begegnen ist,77 hat das Auseinanderfallen von Eigentum und Kontrolle auch Grundrechtsrelevanz: So unterscheidet sich etwa die Verarbeitung der Anreize, die von verhaltenssteuernden Regeln und ihrer Durchsetzung durch Sanktionen ausgehen, deutlich zwischen natürlichen und juristischen Personen (sowie auch zwischen verschiedenen Typen juristischer Personen).78 Entsprechendes gilt für die Empfindlichkeit gegenüber immateriellen Belastungen, die ein gerichtliches Verfahren mit sich bringt.79 Am Maßstab des Willkürverbots zu messende Ungleichbehandlungen können vor diesem Hintergrund gerechtfertigt sein; ebenso können diese Erwägungen zu einer zwischen juristischen und natürlichen Personen sowie zwischen verschiedenen Typen juristischer Personen differenzierenden Rechtfertigung der Einschränkung von Freiheitsrechten führen. Wichtig ist allerdings, dass sich diese Erwägung spezifisch auf die Rechtfertigung von Maßnahmen bezieht, die auf eine Bewältigung des (bei großen Unternehmen mit weit gestreutem Anteilsbesitz ausgeprägten) Prinzipal-Agenten-Problems zielen, und nicht mit einer pauschalen Zurücksetzung großer gegenüber kleinen und mittleren Unternehmen gleichzusetzen ist, was die Dichte des ihnen zukommenden Grundrechtsschutzes betrifft.80
3. Das Unternehmen als Marktakteur: Das Problem der nicht im wirtschaftlichen Kalkül reflektierten Interessen Der methodologische Individualismus des Nexus-of-contracts-Modells des Unternehmens ist der Individualismus des homo oeconomicus, der Person, die über geordnete Präferenzen verfügt und deren Verwirklichung anhand eines Kosten-Nutzen-Kalküls optimiert. Im realen oder hypothetischen Konsens des Beziehungsdreiecks aus Gläubigern, Managern und Gesellschaftern (das sich, wenn man die Unterscheidung zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaftern hinzufügt, zum Viereck erweitert) 81, bilden sich unter Zugrundelegung dieser Rationalitätsannahme die gesellschaftsrechtlichen Regeln, die das Unternehmen zum effizienten Marktakteur werden lassen. Die Rolle des Staates in dieser marktkonformen Adaptation des Hobbesschen Sozialvertrags besteht in erster Linie darin, dispositives Recht zur Verfügung zu stellen, das den vertraglichen Konsens der Beteiligten imitiert.82 Zwingende staat Grundlegend Adolf Berle/Gardiner Means, The Modern Corporation and Private Property, 1932. Vgl. dazu den Überblick bei John Armour/Henry Hansmann/Reinier Kraakman, in: Kraakman u.a. (Fn. 66), S. 38 f. 78 Näher zur Wirkung präventiver Geldbußen auf juristische Personen Thomas Ackermann, ZHR 179 (2015), 538 (555 ff.). 79 Dazu unten, Abschnitt IV.1. 80 Zur aus diesem Grund kritisch zu sehenden Position des Bundesverfassungsgerichts im Mitbestimmungsurteil unten, Abschnitt IV.2.b). 81 Hierzu Luca Enriques/Henry Hansmann/Reinier Kraakman, in: Kraakman u.a. (Fn. 66), S. 89 ff. 82 Damit sei die Möglichkeit von penalty default rules nicht geleugnet, dazu grundlegend Ian Ayres/ Robert Gertner, Yale L.J. 99 (1989), 87; näher zur Ökonomik dispositiven Rechts Florian Möslein, Dispositives Recht, 2011, S. 265 ff. 76
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liche Vorgaben stellen sich dagegen als Eingriffe dar, die im Grunde nur als Maßnahmen zur Bekämpfung eines (beispielsweise durch Informationsasymmetrien bedingten) Marktversagens zu rechtfertigen sind. Dieser Gedanke lässt sich über das Netzwerk der Gesellschafter, Gläubiger und Manager hinaus für das gesamte soziale Beziehungsgeflecht fortschreiben, in dem sich Unternehmen befinden: Wer auch immer materielles oder Humankapital in Unternehmen „investiert“ – Arbeitnehmer, Lieferanten, aber auch der Staat selbst, der mit Dienstleistungen von der Brand bekämpfung durch öffentliche Feuerwehren bis hin zur Unterhaltung eines Aus bildungssystems für die nächste Generation von Arbeitnehmern zum Unterneh- menserfolg beiträgt –, kann seine Investition zumindest in der Theorie vertraglich absichern.83 Soweit kein Marktversagen vorliegt, hat daher der ökonomischen Modellvorstellung zufolge auch in diesen Beziehungen der Gesetzgeber allenfalls dispositive Regeln zur Verfügung zu stellen, welche den Beteiligten die Transaktionskosten realer Vertragsschlüsse ersparen. Allerdings wird auch in diesem Modell nicht ausgeblendet, dass das nach diesen Regeln optimierte Gewinnstreben von Unternehmen nicht durchweg mit gesellschaftlichen Vorstellungen vom Allgemeinwohl harmoniert. Anliegen wie die Vermeidung von Umweltverschmutzung und Korruption oder die Erhaltung von Arbeitsplätzen werden im wirtschaftlichen Kalkül des Unternehmens nicht um ihrer selbst willen, sondern nur insoweit reflektiert, als sich ihre Missachtung gewinnmindernd auswirkt. Jedoch lässt sich unternehmerisches Gewinnstreben durchaus mit Interessen in Übereinstimmung bringen, die nicht als solche im wirtschaftlichen Kalkül des Unternehmens reflektiert werden, wenn es gelingt, ihre Missachtung mit finanziellen Sanktionen zu belegen, die hoch genug sind, um Unternehmen Anreize zu Verhaltensweisen zu nehmen, die diesen Interessen widersprechen. Vor diesem Hintergrund kann sich ein Befürworter des Nexus-of-contracts-Modells neutral zu der Frage verhalten, ob und gegebenenfalls welchen Zielen eine Gesellschaft Vorrang gegenüber der Wohlfahrtsmaximierung einräumen sollte. Diese Neutralität erstreckt sich indes nicht auf die Wahl der Mittel: Wer sich dem Effizienzdenken konsequent verschreibt, lehnt tendenziell gesetzgeberische Eingriffe ab, die sich nicht darauf beschränken, das unternehmerische Profitziel über die von Sanktionen ausgesandten Preissignale in den Dienst nicht wirtschaftlicher Interessen zu stellen, sondern die Struktur des Unternehmens selbst so verändern, dass das vom Management gesteuerte Verhalten des Unternehmens von vornherein nicht nur am Gewinnziel, sondern auch an einem im Konfliktfall als vorrangig erachteten Gemeinwohlziel ausgerichtet wird. Die Orientierung an verschiedenen Zielen werde letztlich dazu führen, dass weder die wirtschaftliche noch die nicht wirtschaftliche Zielverwirklichung optimiert werde.84 Diese Argumentation, die das Gesellschaftsrecht frei von den Zumutungen gesellschaftlicher Konflikte über Allgemeinwohlziele hält und ihre Austragung wirtschaftsrechtlicher Regulierung überlässt, beruht So prägnant Easterbrook/Fischel (Fn. 66), S. 24 f. So etwa sehr deutlich Easterbrook/Fischel (Fn. 66), S. 38: „We do not address optimal ways to deal with pollution, bribery, plant closings, and other decisions that have effects on people who may not participate in the corporate contract. Society must choose whether to conscript the firm’s strength (its tendency to maximize wealth) by changing the prices it confronts or by changing its structure so that it is less apt to maximize wealth. The latter will yield less of both good ends than the former.“ 83
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freilich auf Prämissen, die man nicht unbedingt teilen muss. Das gilt vor allem für die Annahme der generellen Überlegenheit einer Unternehmenssteuerung durch finanzielle Sanktionen: 85 Selbst wenn man dieser Technik der Unternehmenssteuerung aufgeschlossen gegenübersteht, ist doch nicht zu leugnen, dass die von Sanktionen erhoffte Anreizwirkung keine Selbstverständlichkeit ist. So ist etwa nicht auszuschließen (wenn auch nicht im Regelfall anzunehmen), dass Sanktionen verpuffen, weil Unternehmen imstande sind, sie durch Preiserhöhungen oder Lohnsenkungen auf Kunden bzw. Arbeitnehmer abzuwälzen. Darüber hinaus mögen präventionspolitisch optimal zugeschnittene Sanktionen so hoch ausfallen, dass sie delinquente Unternehmen schlicht in die Insolvenz treiben und damit ihre intendierte Wirkung verfehlen. Schließlich sind auch Sanktionsmechanismen nicht kostenlos, sondern in vielen Fällen mit hohen Durchsetzungskosten verbunden. Diese Gesichtspunkte sprechen dafür, bei der Wahl gesetzgeberischer Maßnahmen, die unternehmerisches Gewinnstreben und Allgemeinwohlziele in Einklang bringen sollen, zwischen einer externen Steuerung durch Sanktionen und einer internen Steuerung durch Strukturund Compliance-Vorgaben jedenfalls nicht a priori und exklusiv zugunsten von Sanktionen zu entscheiden. Auf das theoretische Konzept dieser Untersuchung bezogen, lässt sich dieser Befund wie folgt ausdrücken: Statt den Nexus der im Unternehmen repräsentierten wirtschaftlichen Interessen intakt zu lassen und nur eine „Einpreisung“ nicht wirtschaftlicher Interessen durch Sanktionen zu erzwingen, kann es auch gerechtfertigt sein, diesen Nexus um nicht wirtschaftliche Interessen weiterer Stakeholder zu erweitern, denen durch organisatorische Vorkehrungen innerhalb des Unternehmens Geltung verschafft wird. Dass dabei das Gewinnstreben des Unternehmens beeinträchtigt wird, ist hinzunehmen, wenn sich nicht eine externe Steuerung durch Sanktionen als wirkungsvoller oder schonender erweist. Auch diese Einsicht ist relevant für den Zuschnitt des Grundrechtsschutzes der unternehmerisch tätigen juristischen Person: Staatliche Regelungen, die Unternehmen zugunsten von Allgemeinwohlinteressen organisatorische Vorkehrungen vorschreiben, welche die Verfolgung des unternehmerischen Gewinnziels erschweren, sind zwar ebenso wie ihr funktionales Äquivalent, nämlich extern auf unternehmerisches Verhalten einwirkende Sanktionen, Grundrechtseingriffe und daher rechtfertigungsbedürftig. Weil es aber nicht von vornherein ausgemacht ist, welches dieser beiden Steuerungsinstrumente das geeignetste und schonendste Mittel zur Erreichung des angestrebten Ziels ist, ist die Forderung, das unternehmerische Gewinnziel in jedem Fall intakt zu lassen, unbegründet und dem Gesetzgeber auf der Rechtfertigungsebene ein weiter Entscheidungsspielraum zu belassen.86
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Dazu näher Ackermann (Fn. 78), 555 ff. Zur Unternehmensmitbestimmung als Beispiel unten, Abschnitt IV.2.
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IV. Unternehmensgrundrechte: Skizze einer kritischen Rekonstruktion 1. Justizgrundrechte Kehren wir zurück zu den Fragen, die in der Umsetzung der derivativen Begründung des Grundrechtsschutzes für juristische Personen durch das Bundesverfassungsgericht offen geblieben sind, lässt sich unter Zuhilfenahme der hier vorgeschlagenen Rückführung der unternehmenstragenden juristischen Person auf ein Zusammenwirken komplementärer individueller Interessen zunächst das Problem der Justizgrundrechte erhellen.87 Die aufgrund des Kontrasts zu Art. 19 Abs. 3 GG auf den ersten Blick seltsame, ein anthropomorphes Missverständnis nahelegende Gleichsetzung juristischer mit natürlichen Personen, was die Grundrechte aus den Art. 101 Abs. 1, 103 Abs. 1 GG betrifft, ist zumindest im Ansatz mit Hilfe der Erwägungen zu rechtfertigen, mit denen die Transformation des privatrechtsfähigen in ein grundrechtsfähiges Subjekt zu erklären ist. Danach wird in der gesetzgeberischen Schaffung rechtsfähiger Unternehmensträger ein Zusammenspiel komplementärer Interessen von Gesellschaftern und Gläubigern anerkannt, dem auch auf der Ebene der Grundrechte Geltung zu verschaffen ist.88 Dieses Zusammenspiel setzt sich auf der Ebene auf der Parteifähigkeit fort: Dass die unternehmenstragende juristische Person als Prozesspartei Zugang zum gesetzlichen Richter und rechtliches Gehör erhält, rechtfertigt sich aus den gleichen Erwägungen wie die Anerkennung ihrer Rechtsfähigkeit, denn um die rechtliche Beziehung zur juristischen Person im Gläubigerinteresse gerichtlich klären und ggf. durchsetzen zu lassen, ist auch ein entsprechender Justizzugang der juristischen Person notwendig. Kurz gesagt, sind der juristischen Person die Justizgrundrechte auch im Interesse ihrer Prozessgegner zu gewähren.89 Daher kommt es auch nicht darauf an, ob „hinter“ der juristischen Person ihrerseits grundrechtsfähige Personen oder aber nicht nach Art. 19 Abs. 3 GG grundrechtsfähige Einheiten wie der Staat oder ausländische juristische Personen stehen. Auf einem anderen Blatt steht allerdings die Frage, ob die Erfordernisse des rechtsstaatlichen Gebots prozeduraler Gerechtigkeit, die sich in den Justizgrundrechten verwirklichen, für juristische und natürliche Personen stets gleich zu konkretisieren sind. Hierin läge in der Tat ein anthropomorphes Missverständnis der juristischen Person, die anders als Individuen nicht selbst, sondern durch Organe handelt. Bereits unabhängig vom Prinzipal-Agenten-Problem im Verhältnis zwischen Gesellschaftern und Managern90 dürfte klar sein, dass das vom Management gesteuerte Prozessverhalten der juristischen Person nicht den gleichen Anreizen gehorcht wie das Prozessverhalten eines Menschen. Die juristische Person ist als solche unempfänglich für die immateriellen Belastungen, die ein gerichtliches Verfahren mit sich bringt, und die sie repräsentierenden Manager werden aufgrund ihrer professionellen Rolle insoweit eher indifferent sein. Daher ist davon auszugehen, dass Siehe oben, Abschnitt II.2.b) bb). Siehe oben, Abschnitt III.2.a). 89 Hinzugefügt sei, dass diese ratio auf jeden Prozessgegner der juristischen Person, also auch auf den Staat in einer prozessual klärungsbedürftigen rechtlichen Beziehung zur juristischen Person passt. 90 Siehe oben, Abschnitt III.2.b). 87
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ein opportunistisches Prozessverhalten, das beispielsweise Verfahrensverzögerungen um eines finanziellen Vorteils willen herbeiführt, bei juristischen häufiger als bei natürlichen Personen vorkommt. Dem sollte ein zwischen juristischen und natürlichen Personen differenzierendes Verfahrensrecht (etwa durch unterschiedliche Präklusionsregelungen) Rechnung tragen dürfen, ohne mit den Justizgrundrechten in Konflikt zu geraten. Diesen Gesichtspunkt hält das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung außerhalb der Justizgrundrechte durchaus für beachtlich. Das wird in einem Beschluss zur Verfassungskonformität des § 81 Abs. 6 GWB deutlich, mit dem der Gesetzgeber (nur) juristischen Personen die Verzinsung von Kartellgeldbußen ab zwei Wochen nach Zustellung des Bußgeldbescheids auferlegt hat: Die darin liegende Schlechterstellung juristischer gegenüber natürlichen Personen hielt das Bundesverfassungsgericht durch das Anliegen des Gesetzgebers für gerechtfertigt, das bei juristischen Personen erhöhte Risiko einer Verfahrensverschleppung durch Einspruchs einlegung zu reduzieren.91 Die darin zum Ausdruck kommende Einsicht, dass prozedurale Gerechtigkeit für juristische Personen anders zu verwirklichen sein kann als für natürliche Personen, sollte auch bei der Anwendung der Justizgrundrechte beherzigt werden.92
2. Materielle Grundrechte zum Schutz der unternehmerischen Markttätigkeit Was den Schutz der unternehmerischen Markttätigkeit juristischer Personen durch materielle Grundrechte betrifft, seien drei Punkte angesprochen, in denen die hier vorgetragenen Überlegungen zu einer Klärung des vom Bundesverfassungsgericht verfolgten derivativen Konzepts beitragen können.
a) Unternehmenstragende juristische Personen als Träger materieller Grundrechte Erstens hilft die Einsicht, dass sich die Anerkennung der unternehmenstragenden juristischen Person als Grundrechtssubjekt dem Zusammenspiel komplementärer grundrechtlich geschützter Interessen von Gesellschaftern bzw. Gründern auf der einen und Gläubigern auf der anderen Seite verdankt, bei der Bestimmung der als Grundrechtssubjekte in Betracht kommenden Einheiten, die durch die Rede vom „Durchgriff “ oder „Durchblick“ in Verwirrung gerät.93 So bereitet es kein Problem, dass auch die privatrechtliche Stiftung als Grundrechtssubjekt in Betracht kommt: Auf das Fehlen einer natürlichen Person als Inhaber kommt es nicht an; entscheidend ist, dass sich die rechtliche Anerkennung der Stiftung dem gemeinsamen Interesse des Gründers und all derjenigen verdankt, die als Gläubiger exklusiven (d.h. Gläubi BVerfGE 133, 1 (15). Dazu auch Ackermann (Fn. 15), 20. An der dort bezogenen, weitergehenden Position, dass bei den Justizgrundrechten generell die Maßgaben des Art. 19 Abs. 3 GG beachtet werden sollten, es insoweit also auch auf die Inländereigenschaft der juristischen Person ankomme, halte ich nicht fest. 93 Siehe oben, Abschnitt II.2.a). 91
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ger des Gründers sowie den Gründer selbst ausschließenden) Zugriff auf das in der Stiftung verselbständigte Vermögen erhalten wollen. Ebenso wenig spielt es für die Zuerkennung der Grundrechtsträgerschaft als solche eine Rolle, dass bei großen, insbesondere börsennotieren Kapitalgesellschaften im „Durchblick“ auf die Inhaber gelegentlich nur eine Vielzahl von Aktionären zu erkennen ist, die allein als Kapitalanleger agieren, ohne die in der Hand des Managements liegenden unternehmerischen Geschicke der Gesellschaft entscheidend beeinflussen zu können. Richtig ist zwar, dass dadurch ein Prinzipal-Agenten-Problem entsteht, dessen Bewältigung rechtliche Regeln erfordert. Aber dieser Gedanke ist nur in einer differenzierten Prüfung der Rechtfertigung der durch diese Regeln ggf. bewirkten Einschränkung von Freiheitsrechten, nicht in der Ablehnung der Grundrechtssubjektivität der im Streubesitz befindlichen Kapitalgesellschaft umzusetzen.94 Schließlich bestätigt die hier entwickelte Konkretisierung des derivativen Konzepts auch, dass juristische Personen des Privatrechts grundsätzlich nicht als Träger materieller Grundrechte anzusehen sind, wenn sich der Staat ihrer bedient, um unternehmerischen Aktivitäten nachzugehen: Anders als bei den Prozessgrundrechten, die der juristischen Person im Interesse ihres Prozessgegners zu gewähren sind, der seine eigenen Rechte nicht ohne ein Gegenüber gerichtlich klären und durchsetzen lassen kann, ist zur Begründung der materiellen Grundrechtsfähigkeit der juristischen Person des Privatrechts prinzipiell erforderlich, dass die Gründer bzw. Gesellschafter ihrerseits grundrechtsfähig sind, damit diese nicht durch das Überwerfen des Mantels der privatrechtlichen Rechtsform einen nicht zu ihrer Verfügung stehenden grundrechtlichen Schutz erwerben können.95
b) Der grundrechtliche Schutz unternehmerischer Freiheit Zweitens stützt das Verständnis der unternehmenstragenden juristischen Person als Nexus komplementärer wirtschaftlicher Interessen die These, dass die gewinnorientierte Markttätigkeit der juristischen Person ebenso grundrechtlichen Schutz (insbesondere durch die Eigentums-, Berufs- und Vereinigungsfreiheit sowie die allgemeine Handlungsfreiheit) verdient wie die entsprechende Tätigkeit von Individuen.96 Anders als bei Individuen können staatliche Beschränkungen gewinnorientierten Handelns im Interesse von Gemeinwohlzielen allerdings nicht nur extern (typischerweise als sanktionsbewehrte Verhaltensregeln) ansetzen, sondern die Gestalt unternehmensorganisatorischer Vorgaben annehmen. Diese haben ihrerseits Eingriffscharakter, sollten aber aufgrund der schwer zu treffenden Entscheidung zwischen den in Betracht kommenden Regelungsinstrumenten einer großzügigen Rechtfertigung zugänglich sein.97 94 Siehe oben, Abschnitt III.2.b). Zu den damit im Konflikt stehenden Aussagen im Mitbestimmungsurteil des BVerfG sogleich unter b). 95 Zum Sonderfall der von einem EU-Mitgliedstaat beherrschten, ihre Niederlassungsfreiheit wahrnehmenden juristischen Person des Privatrechts siehe oben Fn. 26 mit zugehörigem Text. 96 Siehe oben, Abschnitt III.2.b). 97 Siehe oben, Abschnitt III.3.
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Im Ergebnis, jedoch nicht in der Begründung entspricht dies der Position, die das Bundesverfassungsgericht im Mitbestimmungsurteil bezogen hat.98 Das Bundesverfassungsgericht billigte darin die Unternehmensmitbestimmung der Arbeitnehmer nach dem Mitbestimmungsgesetz 1976 als mit den Grundrechten der betroffenen Gesellschaften, ihrer Anteilseigner und der Koalitionen der Arbeitgeber vereinbar. Nach der hier vertretenen Auffassung handelt es sich bei der Unternehmensmitbestimmung um einen Eingriff in die durch die Eigentums-, Berufs- und Vereinigungsfreiheit geschützte Freiheit der unternehmenstragenden juristischen Person, ihre Organisation an dem wirtschaftlichen Zweck auszurichten, der sich mit der Gründung und dem Betrieb des Unternehmens verbindet, denn es ist mehr als zweifelhaft, dass die Unternehmensmitbestimmung wertsteigernd wirkt, zumal sie sonst als freiwilliges Arrangement anzutreffen wäre und den betroffenen Gesellschaften nicht durch zwingendes Recht vorgeschrieben werden müsste.99 Dieser Eingriff in die Unternehmensorganisation ist indes gerechtfertigt, weil die damit verbundene Relativierung unternehmerischen Gewinnstrebens einem legitimen sozialen Zweck verpflichtet ist und schwerlich gleich geeignete, mildere Alternativen zur Erreichung dieses Zwecks (insbesondere externe Anreize zur Wahrung der Arbeitnehmerinteressen) zu finden sind. Das Bundesverfassungsgericht beließ es jedoch nicht bei einer gradlinigen Grundrechtsprüfung, sondern sah sich dazu veranlasst, die Verfassungskonformität der Unternehmensmitbestimmung mit Erwägungen zum „personalen Bezug“ der geprüften Grundrechte zu stützen, die den Grundrechtsschutz insbesondere großer Kapitalgesellschaften und ihrer Anteilseigner von vornherein verkürzen, ohne dass dafür ein normatives Fundament erkennbar wäre.100 So betonte das Gericht im Zusammenhang mit Art. 14 GG den „gegenüber dem Sacheigentum geringere[n] personale[n] Bezug des Anteilseigentums“101 und hielt eine Anwendung des Art. 9 Abs. 1 GG auf größere Kapitalgesellschaften für zweifelhaft, weil „bei diesen das personale Element bis zur Bedeutungslosigkeit“ zurücktrete.102 Schließlich relativierte das Bundesverfassungsgericht auch die Anwendung des Art. 12 Abs. 1 GG auf die Tätigkeit eines Großunternehmens mit dem gleichgerichteten Argument, dass der „personale Grundzug“ dieses Grundrechts, der bei Klein- und Mittelbetrieben „voll verwirklicht“ sei, bei Großunternehmen „nahezu gänzlich verloren“ gehe.103 Unternehmerische Tätigkeit hat danach offenbar eine höhere grundrechtliche Dignität, wenn sie vom Individuum als Handwerker, Krämer oder Bauer auf der eigenen Scholle allein oder allenfalls in einem engen persönlichen Verbund ausgeübt wird, als im Kontext großer und komplexer unternehmerischer Organisationen. Hierin zeigt sich ein anachronistisches Bild vorindustriellen Wirtschaftens, das schon zur Zeit des Inkraft BVerfGE 50, 290 (339 ff.). Näher hierzu Luca Enriques/Henry Hansmann/Reinier Kraakman, in: Kraakman u.a. (Fn. 66), S. 110 ff. 100 So auch Mathias Habersack/Jens Kersten, BB 2014, 2819 (2822 f.). Nicht zwingend erscheinen allerdings die weiteren Folgerungen Habersacks und Kerstens betreffend die Verfassungswidrigkeit einer fixen Geschlechterquote für Aufsichtsräte von Aktiengesellschaften. 101 BVerfGE 50, 290 (348). 102 BVerfGE 50, 290 (355 f.). 103 BVerfGE 50, 290 (363). 98
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tretens des Grundgesetzes längst überholt war und erkennbar nicht von den Vätern und Müttern der Verfassung geteilt wurde.104 Das ist bedauerlich, weil es solcher Vorstellungen nicht bedurft hätte, um die Unternehmensmitbestimmung vor den Rationalitätsanforderungen der Grundrechte bestehen zu lassen.
c) Der grundrechtliche Schutz akzessorischer Freiheit Drittens eröffnet die hier bezogene Perspektive zumindest einen Zugang zur Beantwortung der Frage, ob und in welchem Umfang sich die unternehmerisch tätige juristische Person auf Grundrechte berufen kann, um staatliche Maßnahmen abzuwehren, die nicht unmittelbar in die Freiheitssphäre eingreifen, die ihnen ein gewinnorientiertes Marktverhalten erlaubt. Hierfür stehen die bereits erwähnten Beispiele des Schutzes der Unverletzlichkeit der Wohnung, der Selbstbelastungsfreiheit und der Gewährung von Prozesskostenhilfe, deren Anwendbarkeit auf die juristische Person das Bundesverfassungsgericht im erstgenannten Fall bejaht und in den beiden zuletzt genannten Fällen verneint hat.105 Ausschlaggebend war aus der Sicht des Gerichts wiederum das Vorliegen oder Fehlen einer personalen Bezugs. Wie unsicher der Boden der Wertungen ist, auf dem man sich hier befindet, indiziert freilich schon der Befund, dass der Europäische Gerichtshof diese Konstellationen teilweise anders entschieden hat.106 Besinnt man sich auf die Herleitung der Grundrechtsberechtigung der juristischen Person aus dem Nexus individueller Interessen, der sich in ihrer Gründung und in ihrer Tätigkeit verwirklicht, bietet es sich an, die Zwecksetzung des Rechtsträgers, die sich aus diesem Zusammenhang ergibt, als Maßstab für die Lösung dieser Probleme heranzuziehen. Entscheidend ist dann die Frage, ob es zur Verwirklichung dieses Finalprogramms sinnvoll und geboten ist, der juristischen Person nicht nur grundrechtlichen Schutz für unmittelbar in ihr Finalprogramm fallendes Verhalten (Marktverhalten bei Unternehmen, Religionsausübung bei Kirchen usw.) zu gewähren, sondern sie auch mit weiteren, akzessorischen Grundrechtsgewährleistungen auszustatten, um zu vermeiden, dass staatliche Maßnahmen die Verwirklichung des Finalprogramms mittelbar vereiteln oder untergraben. Man kann diesen vorgelagerten Freiheitsschutz, wenn einem der Begriff behagt, durchaus als einen Bereich „grundrechtstypischer Gefährdungslagen“ bezeichnen. Ausschlaggebend scheint mir jedoch nicht die – wie auch immer zu bestimmende – Typizität der Lage, in der sich die juristische Person befindet, sondern der Bezug der geltend gemachten Freiheitsgewährleistung zu ihrer Finalität, die durch die Verknüpfung der Interessen der Beteiligten bestimmt wird. Zielt das Zusammenwirken der Beteiligten, wie in allen hier interessierenden Fällen, auf eine unternehmerische Tätigkeit und nicht auf einen ideellen Zweck, ist daher Folgendes festzuhalten: Die zu diesem Zweck geschaffene Person ist von den Vgl. insoweit die oben, Fn. 30 mit zugehörigem Text, zitierte Stellungnahme von Mangoldts. Siehe oben, Abschnitt II.2.b)aa). 106 Siehe dazu die Nachweise in den Fn. 47 (zur Selbstbelastungsfreiheit) und 53 (zur Prozesskostenhilfe). 104
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Beteiligten auf ein ökonomisch rationales Verhalten programmiert worden und darf daher von der Rechtsordnung auch als ökonomisch rationaler, nach einem Kosten-Nutzen-Kalkül handelnder Akteur behandelt werden.107 Staatliche Maßnahmen, die das Unternehmen im Vor- und Umfeld ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit treffen, wie Hausdurchsuchungen oder Anordnungen, die Mitarbeiter zu Aussagen zwingen, welche das Unternehmen einer rechtswidrigen Handlung überführen, sind vor diesem Hintergrund zunächst als Kosten zu bewerten. Fraglos können sie das vom Unternehmen erzielte wirtschaftliche Ergebnis auf ganz unterschiedliche Weisen belasten, etwa durch Geldbußen, deren Verhängung durch solche Maßnahmen ermöglicht wird, Reputationsverluste, die zur Abwanderung von Kunden führen, oder Leistungseinbrüche bei Mitarbeitern, die sich verunsichert fühlen. Aber dieser Umstand reicht für sich genommen nicht aus, einen Grundrechtsschutz zu begründen, denn Kosten verursachen nun einmal jegliche widrigen Umstände, denen sich Unternehmen gegenübersehen, ohne dass sie deren Beseitigung allein deshalb verlangen könnten. Vielmehr bedarf es eines akzessorischen Grundrechtsschutzes nur, soweit das Unternehmen spezifisch in der Verfolgung seines Gewinnerzielungszwecks behindert wird. In einer ersten, vorläufigen Annäherung ergeben sich daraus für die erwähnten Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgende Konsequenzen: Die Erstreckung des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung auf Geschäftsräume von Unternehmen durch das Bundesverfassungsgericht108 dürfte eine Stütze darin finden, dass es für die wirtschaftliche Tätigkeit, die sein Daseinszweck ist, einer räumlichen Basis bedarf, die daher grundrechtlich zu schützen ist.109 Nicht recht zu erkennen ist dagegen eine Rechtfertigung dafür, einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe grundrechtlich abzusichern, sei es (wie vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt)110 auf der Grundlage des Gleichheitssatzes, sei es (wie vom EuGH bejaht)111 auf der Grundlage des Rechts auf effektiven Rechtsschutz: Weil auch Prozessrisiken einem Kosten-Nutzen-Kalkül zugänglich sind, ist davon auszugehen, dass sich für die Führung lohnender Prozesse eine private Finanzierung findet. Die Führung der verbleibenden, unrentablen Prozesse staatlich zu subventionieren und damit einen insolventen Marktakteur künstlich zu erhalten, besteht kein Anlass. Am schwersten fällt schließlich eine Stellungnahme zur (vom Bundesverfassungsgericht verneinten, vom EuGH im Grundsatz bejahten)112 Anwendung des Rechts, sich nicht selbst bezichtigen zu müssen, auf juristische Personen: Gegen die Selbstbelastungsfreiheit der unternehmenstragenden juristischen Person spricht, dass sie auch dann, wenn sie auf diese Weise an staatlichen Verfahren zur Verfolgung rechtswidrigen Verhaltens mitwirken muss, nicht daran gehindert ist, ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit, soweit sie rechtlich erlaubt ist, nachzugehen. Andererseits ist fraglich, ob nicht Hierzu bereits Ackermann (Fn. 15), 22 f. Vgl. BVerfGE 42, 212 (219); 44, 353 (371), 76, 83 (88). 109 Die Anwendung des Rechts am gesprochenen Wort auf juristische Personen durch BVerfGE 106, 28 (43 f.), lässt sich auf eine entsprechende Argumentation stützen. 110 BVerfGE 35, 348 (357 f.). 111 EuGH, ECLI:EU:C:2010:811, Rz. 41 f. – DEB. 112 Vgl. einerseits BVerfGE 95, 220 (242), andererseits EuGH, ECLI:EU:C:2002:582, Rz. 74 – PVC II; EuG, ECLI:EU:T:2001:61, Rz. 66 f. – Mannesmannröhren-Werke. 107
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ein „gläsernes“, zur Offenbarung jeder Rechtswidrigkeit verpflichtetes Unternehmen seinen Mitarbeitern Anreize zur organisierten Unwissenheit gibt, mit der Folge, dass nicht nur unrechtmäßiges Verhalten unbekannt bleibt, sondern auch die Verfolgung der Unternehmensziele durch eine ineffiziente Organisation beeinträchtigt zu werden droht.
3. Grundrechte jenseits des Marktes? Zumindest kursorisch sei schließlich ein Ausblick auf die Beantwortung der Frage gegeben, ob sich unternehmenstragende juristische Personen auf Grundrechte berufen dürfen, um staatliche Einschränkungen von Handlungen abzuwehren, die keine wirtschaftliche Zielsetzung verfolgen, also außerhalb des Marktkontexts angesiedelt sind. Anschauungsmaterial hierfür bieten neuere causes célèbres aus der amerikanischen Rechtsprechung, zum einen das Urteil Citizens United v. Federal Election Commission, in dem der Supreme Court die gesetzliche Begrenzung von Wahlkampfspenden juristischer Personen (im konkreten Fall allerdings einer nicht gewinnorientierten juristischen Person) als unvereinbar mit der durch den Ersten Verfassungszusatz geschützten Meinungsfreiheit verwarf,113 zum anderen das Urteil Burwell v. Hobby Lobby, in dem der Supreme Court eine Regelung, die gewinnorientierten Gesellschaften unabhängig von den religiösen Überzeugungen ihrer Gesellschafter die Mitfinanzierung von Krankenversicherungspolicen für Beschäftigte auferlegte, die Leistungen zur Empfängnisverhütung umfassten, wegen eines Verstoßes gegen die im Religious Freedom Restoration Act gewährleistete Religionsfreiheit zu Fall brachte.114 Juristischen Personen wird auf diese Weise ein umfassender, von ihrer Zwecksetzung unabhängiger Grundrechtsschutz zuteil, bei dem die politischen oder religiösen Überzeugungen ihrer Mitglieder oder Gesellschafter der juristischen Person zugerechnet werden. Im Fall einer Kapitalgesellschaft kann man insoweit von einem „umgekehrten Durchgriff “ sprechen, der die Trennung zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern durchbricht.115 Solche Zurechnungs- oder Durchgriffskonstruktionen bedürfen einer inhaltlichen, grundrechtsdogmatisch umzusetzenden Begründung, zumal sie einfachrechtliche Vorgaben zu den Zwecken bestimmter Formen juristischer Personen (etwa die Ausrichtung einer Kapitalgesellschaft auf einen unternehmerischen Zweck) womöglich überspielen. Auf den ersten Blick scheint sich hierfür ein derivatives Konzept anzubieten, das die juristische Person als Grundrechtsträger aus dem Nexus der komplementären Interessen der Beteiligten begründet. In der Tat wurde in den USA auf der Grundlage der Nexus-of-contracts-Theorie der Kapitalgesellschaft bereits lange vor der Entscheidung Citizens United der Versuch unternommen, die Unvereinbarkeit 113 Citizens United v. Federal Election Commission, 558 U.S. 310 (2010). Hierzu eingehend Emde, Wahlkampffinanzierung durch Unternehmen, 2014. 114 Burwell v. Hobby Lobby, 573 U.S. _ (2014). Hierzu aus dem deutschen Schrifttum Thorsten Kingreen/Florian Möslein, JZ 2016, 57 ff. 115 Kingreen/Möslein (Fn. 114), 59, die im Ergebnis wie hier eine kritische Position zu diesem Gedanken beziehen, aber abweichend von der hiesigen Position eine individualistische Rückführung der Grundrechtsberechtigung der juristischen Person auf den Menschen ablehnen, a.a.O., 63.
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jeglicher Beschränkung der Wahlkampffinanzierung durch Kapitalgesellschaften mit deren Meinungsfreiheit zu begründen:116 Habe das Management die Absicht, Mittel der Gesellschaft zur Wahlkampffinanzierung einzusetzen, liege es an den Gesellschaftern, sie im Rahmen ihrer satzungsmäßigen Rechte entweder daran zu hindern oder dies zu erlauben. Sei dem Management die Wahlkampffinanzierung gestattet, könnten Minderheitsgesellschafter, die damit nicht einverstanden sind, ihre Anteile verkaufen und dafür – die Effizienz der Kapitalmärkte vorausgesetzt – einen angemessenen Preis erzielen. Die Gesellschafter seien daher ohne weiteres selbst in der Lage, den Einsatz des von ihnen zur Verfügung gestellten Kapitals für politische Zwecke zu steuern und bedürften dazu keiner zwingenden gesetzlichen Vorgaben. Verworfen wird zudem die Idee, zur Vermeidung unfairer Vorteile im politischen Wettbewerb sei es gerechtfertigt, die Verwendung der im wirtschaftlichen Wettbewerb von der Gesellschaft angehäuften finanziellen Mittel zu verbieten:117 Wer den Geldfluss zur Wahlkampffinanzierung durch Kapitalgesellschaften verschließe, werde den politischen Wettbewerb nicht von finanziellen Einflüssen freihalten, sondern sorge letztlich nur für dessen Verzerrung. Diese Sicht erscheint jedoch einseitig und unvollständig. Die Festlegung der unternehmerisch tätigen juristischen Person auf die Verfolgung eines wirtschaftlichen Zwecks zur Disposition der Gesellschafter zu stellen, vernachlässigt die Interessen der Kunden des Unternehmens, denn es ist in Anbetracht allfälliger Informationsprobleme wohl nicht realistisch, dass diese durch Abwanderung auf eine von ihnen beim Produkterwerb verdeckt mitfinanzierte Förderung einer ihnen nicht genehmen politischen Richtung reagieren. Entsprechendes gilt für die Investitionen von Fremdbzw. Humankapital, die Kreditgeber und Arbeitnehmer der Gesellschaft zur Verfügung stellen. Vor allem aber basiert das Argument, die Ummünzung ökonomischer in politische Macht könne nur um den Preis einer Verzerrung des politischen Wettbewerbs verhindert werden, auf der anfechtbarem Vorstellung, dass der politische Wettbewerb nur intakt sei, wenn er auch die ökonomischen Machtverhältnisse reflektiere. Es muss einem Gemeinwesen aber möglich sein, dies anders zu beurteilen und die Priorität der Politik über die Wirtschaft zu behaupten, selbst wenn mit finanziellen Mitteln erkaufter politischer Einfluss nie auszuschließen ist. Das Anliegen, dem Gesetzgeber diese Entscheidung offenzuhalten und ihm zu erlauben, ein Ausgreifen wirtschaftlicher Macht über Märkte hinaus in den politischen Prozess, aber auch in die Bildung religiöser Überzeugungen oder in sonstige Bereiche der Gesellschaft zu verhindern, rechtfertigt es, einen Grundrechtsschutz abzulehnen, der die Begrenzung einer unternehmenstragenden juristischen Person auf ihre wirtschaftliche Zwecksetzung unterläuft. Dies entspricht dem Ansatz der deutschen Rechtsprechung, die einen außerhalb der wirtschaftlichen Zwecksetzung liegenden Grundrechtsschutz der unternehmenstragenden juristischen Person ablehnt.118 Vordergründig liegt darin eine Ungleichbehandlung juristischer und natür116 Zum Folgenden Henry N. Butler/Larry E. Ribstein, The Corporation and the Constitution, 1995, S. 59 ff. Die im folgenden Text referierte Argumentation lässt sich auf die Verwendung der Mittel der Gesellschaft zu anderen nicht wirtschaftlichen Zwecken übertragen. 117 Dieses Argument spielte in der Rechtsprechung des Supreme Court vor der Wende durch Citizens United eine große Rolle, vgl. Austin v. Michigan Chamber of Commerce, 494 U.S. 652, 658 f. (1990). 118 Prägnant BVerwGE 64, 196 (199): „Die Klägerin ist als Kapitalgesellschaft ihrem Wesen nach
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licher Personen, die ein einzelunternehmerisch erworbenes Vermögen grundsätzlich nach Belieben einsetzen und jegliche Einschränkung ihrer Dispositionsfreiheit am Maßstab der Grundrechte überprüfen lassen können. Aber diese Gegenüberstellung verkennt, dass die Grundrechtssubjektivität der unternehmenstragenden juristischen Person nicht um ihrer selbst willen, sondern zugunsten der Individuen gewährt wird, deren wirtschaftliche Interessen sich in der juristischen Person verwirklichen. Wie diese Individuen mit den ihnen von der juristischen Person zufließenden wirtschaftlichen Vorteilen umgehen, insbesondere ob sie diese einem nicht wirtschaftlichen Zweck widmen, ist selbstverständlich eine unter dem Schutz ihrer Grundrechte stehende Entscheidung. Dazu bedarf es keiner Grundrechtsberechtigung der juristischen Person.
V. Fazit Die anfängliche Verwirrung, die H.L.A. Harts Arkadier beim Studium der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts befallen muss, legt sich, wenn es ihm gelingt, den begrifflichen Nebel zu durchdringen, der sich um die derivative Begründung der Grundrechtsträgerschaft der unternehmenstragenden juristischen Person legt. Deren in diesem Beitrag freigelegter Kern ist, dass sich in der unternehmenstragenden juristischen Person ein Nexus komplementärer wirtschaftlicher Interessen von Individuen verwirklicht. Nimmt man diese Einsicht ernst und löst sich von der Fehlvorstellung, es komme für die Grundrechtsfähigkeit auf den Durchblick auf „hinter“ der juristische Person stehende Individuen als deren „personales Substrat“ und für die konkrete Grundrechtsausstattung auf eine Messung des „personalen Bezugs“ des jeweiligen Grundrechts an, finden die meisten von der Rechtsprechung erzielten Ergebnisse, von Randkorrekturen abgesehen, eine plausible Erklärung. Deutlich wird zudem, dass die Grundrechtssubjektivität der juristischen Person einer Rückgewinnung staatlicher Kontrolle über unternehmerisches Verhalten und unternehmerische Macht nicht entgegensteht, sondern nur moderate Anforderungen an die Rationalität solcher Maßnahmen stellt. Alles Weitere ist eine Frage des politischen Willens und des demokratischen Diskurses.
bekenntnisfremd und kann sich daher […] weder aus ihrer eigenen Rechtsstellung noch aufgrund des religiösen Bekenntnisses ihres Geschäftsführers oder ihrer Gesellschafter auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG berufen.“
Juristische Personen im Steuerrecht von
Prof. Dr. Rainer Hüttemann, Dipl.-Volksw., Bonn Inhalt I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 II. Historische Entwicklung der Steuerpflicht juristischer Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 III. Körperschaftsbesteuerung juristischer Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Begründung einer eigenen Körperschaftsteuerpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 2. Steuerliche Doppelbelastung ausgeschütteter Gewinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 3. Einkommensermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 4. Steuertarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 IV. Behandlung juristischer Personen bei anderen Einzelsteuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 V. Querschnittsfragen der Steuerpflicht juristischer Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 1. Beginn und Ende der Steuerpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 2. Persönliche Steuerbefreiungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 3. Steuerpflicht von juristischen Personen des öffentlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4. Besteuerung von Personengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 VI. Juristische Personen im Steuerrechtsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 1. Handlungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 2. Eigene Pflichten der gesetzlichen Vertreter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 3. Steuerliche Organhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 VII. Juristische Personen als Gestaltungsinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 1. Einschaltung juristischer Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 2. Steuerliche Grenzen der Gestaltungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 VIII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
I. Einführung Die Entscheidung der Rechtsordnung, neben Menschen auch bestimmte Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des privaten und öffentlichen Rechts als „juristische Personen“ mit eigener Rechtspersönlichkeit auszustatten, wirkt sich auch auf das Steuerrecht aus. § 33 Abs. 1 AO definiert den Begriff des „Steuerpflichtigen“ wie folgt:
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„Steuerpflichtiger ist, wer eine Steuer schuldet, für eine Steuer haftet, eine Steuer für Rechnung eines Dritten einzubehalten oder abzuführen, wer eine Steuererklärung abzugeben, Sicherheit zu leisten, Bücher und Aufzeichnungen zu führen oder andere ihm durch die Steuergesetze auferlegte Verpflichtungen zu erfüllen hat.“
Wie der weitgefasste Wortlaut („wer“) andeutet, können nicht nur Menschen, sondern auch juristische Personen, rechtsfähige Personengesellschaften sowie nichtrechtsfähige Körperschaften, Personenvereinigungen und Stiftungen Beteiligte eines „Steuerrechtsverhältnisses“1 sein.2 Aus der Definition des § 33 Abs. 1 AO folgt zugleich, dass der Begriff des „Steuerpflichtigen“ nicht allgemein vorgegeben, sondern „relativ“ ist, d.h. durch die einzelnen Steuergesetze ausgefüllt wird.3 Sie bestimmen letztlich, „wer“ eine Steuer schuldet oder „wer“ als Beteiligter des Steuerrechtsverhältnisses bestimmte verfahrensrechtliche Pflichten zu erfüllen hat. So sind nach § 1 Abs. 1 EStG nur „natürliche Personen“ einkommensteuerpflichtig, während die Einkommensteuer der juristischen Personen – die Körperschaftsteuer – seit 1920 in Deutschland den Gegenstand eines eigenen Gesetzes bildet. Diese Aufspaltung in zwei eigenständige Steuergesetze für natürliche und juristische Personen stellt im geltenden Steuersystem jedoch eine Ausnahme dar, denn die anderen Einzelsteuern (z.B. Gewerbe-, Grund-, Grunderwerb- und Umsatzsteuer) richten sich gleichermaßen an natürliche wie juristische Personen. Der Sonderweg der Einkommensbesteuerung4 ist nicht nur Ergebnis der historischen Entwicklung, sondern auch der Tatsache geschuldet, dass eine Differenzierung zwischen „physischen“ und „nichtphysischen“ Personen bei einer auf die „persönliche“ Leistungsfähigkeit einer Person bezogenen Steuer wie der Einkommensteuer wesentlich näher liegt als bei Objektsteuern wie z.B. der Gewerbesteuer, die jeder schuldet, „für dessen Rechnung“ ein Gewerbe betrieben wird. Unabhängig davon, ob die Steuerpflicht von juristischen Personen wie im Fall der Körperschaftsteuer rechtlich verselbständigt ist oder wie bei der Gewerbesteuer natürliche und juristische Personen in ein und demselben Gesetz erfasst werden, ergeben sich bei der steuerlichen Behandlung von juristischen Personen einige übergreifende Querschnittsfragen.5 Diese betreffen z.B. den Beginn und das Ende der Steuerpflicht sowie die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Gesellschafter und seine Kapitalgesellschaft für steuerliche Zwecke in gewisser Hinsicht als „Einheit“ behandelt werden müssen, weil sie finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch miteinander verknüpft sind („Organschaft“). Weitere Unterschiede zur Besteuerung natürlicher Personen resultieren aus persönlichen Steuerbefreiungen, die es im geltenden Recht nur für juristische Personen gibt. Ferner differenziert das Steuer1 Zum Begriff des „Steuerrechtsverhältnisses“ als Oberbegriff für das Steuerpflichtverhältnis, das Steuerverfahrensverhältnis und das Steuerschuldverhältnis statt vieler nur Drüen in Tipke/Kruse, AO/ FGO, Oktober 2013, Vor § 33 Tz. 4. 2 Zum Begriff der Steuerrechtsfähigkeit vgl. näher Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/ FGO, Juni 2014 § 33 Rz. 28 ff.; Drüen (Fn. 1), § 33 Rz. 25 ff. 3 Ein solcher Vorrang der Einzelsteuergesetze entspricht auch der Funktion der Abgabenordnung als „Mantelgesetz“ in Steuerangelegenheiten; vgl. dazu Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, Oktober 2010, Einführung Tz. 1. 4 Dazu näher unten II. und III. 5 Siehe dazu unten IV.
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recht auch innerhalb der Gruppe der juristischen Personen zwischen juristischen Personen des privaten und des öffentlichen Rechts sowie zwischen mitgliederbezogenen Körperschaften (Kapitalgesellschaften, Genossenschaften und Vereine) und mitgliederlosen Stiftungen und Anstalten. Juristische Personen werfen nicht nur hinsichtlich der Ausgestaltung der Einzelsteuergesetze – der Steuerschuld – besondere Fragen auf. Auch in Hinsicht auf steuerliche Haftungstatbestände und die Beteiligung im Steuerverfahren ergeben sich zusätzliche Rechtsprobleme daraus, dass juristische Personen nur durch Organe – also letztlich natürliche Personen – handeln können, für die eigene verfahrensrechtliche Pflichten bestimmt werden müssen, um die effektive Erfüllung der steuerlichen Pflichten juristischer Personen sicherzustellen.6 Schließlich ist nicht zu übersehen, dass die steuerliche Anerkennung juristischer Personen zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet, wenn es etwa darum geht, durch Zwischenschaltung von juristischen Personen steuerliche „Abschirmwirkungen“ zu erzeugen. Hier stellt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen das Steuerrecht solchen Gestaltungen – z.B. durch steuerliche Sonderregelungen oder unter Rückgriff auf das Rechtsinstitut des Gestaltungsmissbrauchs – die Anerkennung versagt.7
II. Historische Entwicklung der Steuerpflicht juristischer Personen Die Anfänge der Besteuerung juristischer Personen in Deutschland reichen zurück in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, also in die Zeit, in der mit dem französischen Code de Commerce von 1807 und dem preußischen AktG von 1843 auch die Grundlagen für das moderne Aktienwesen gelegt wurden.8 Mit der wachsenden Zahl von Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien in der industriellen Revolution – die GmbH als weitere Kapitalgesellschaft wurde erst 1892 eingeführt9 – stellte sich für die deutschen Staaten die Frage, in welcher Weise auch „nichtphysische“ Personen in die Besteuerung einbezogen werden sollten. Bei den – im Vergleich zur Einkommensteuer – älteren Objekt- oder Realsteuern kam es schon sehr früh und ohne größeren Widerstand zu einer Ausdehnung der Steuerpflicht auf juristische Personen. Beispielhaft erwähnt sei die preußische Gewerbesteuer von 1820, der von Anfang an auch Gewerbebetriebe von Aktiengesellschaften unterlagen.10 Diese Entwicklung kann auf Grund der – äquivalenztheoretischen – Rechtfertigung der preußischen Gewerbesteuer als „Preis“ der 1807 eingeführten Gewerbefreiheit nicht überraschen, denn der Staat habe – so eine Begründung im Schrifttum – „für die Aktiengesellschaft wie für jede physische Person die allgemeinen Grundlagen, Dazu näher unten V. Vgl. unten VI. 8 Zur Geschichte des Aktienwesens vgl. eingehend Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, 2007; siehe dort den Beitrag zur Geschichte der Besteuerung von Aktiengesellschaften von Hüttemann, Bd. II, S. 1212. 9 Zur – wechselvollen – steuerlichen Behandlung der GmbH nach ihrer Einführung vgl. Seer, Die Entwicklung der GmbH-Besteuerung – Analysen und Perspektiven, 2005, S. 21 ff. 10 Zu den Anfängen der Besteuerung juristischer Personen in Deutschland vgl. Feitelberg, Die Einkommensbesteuerung nichtphysischer ( juristischer) Personen, 1900, S. 83 ff.; Dietzel, Die Besteuerung der Actien-Gesellschaften in Verbindung mit der Gemeindebesteuerung, 1859, S. 9 0. 6 7
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auf welchen jede Einzelwirtschaft beruht, geschaffen“.11 Die preußische Gewerbesteuer ist zudem ein gutes Beispiel, wie Steuern in der Frühphase der industriellen Revolution als Instrument der Wirtschaftslenkung genutzt wurden, denn Eisenbahnaktiengesellschaften waren seit 1838 von der Gewerbesteuer ausgenommen, um den Auf bau des noch jungen Eisenbahnwesens nicht zu behindern.12 Einige Jahre später kehrten sich die steuerpolitischen Ziele allerdings um und Eisenbahnaktiengesellschaften unterlagen zwischen 1853 und 1861 einer auf den „Reinertrag“ bezogenen progressiven Sondergewerbesteuer.13 Unabhängig von solchen Sonderentwicklungen bleibt festzuhalten, dass die zivilrechtliche Rechtsfähigkeit von juristischen Personen bei objektbezogenen Steuerarten wie den Gewerbe- und Grundsteuern von Anfang an eine Einbeziehung in die Steuerpflicht nahelegte, mit der das Steuerrecht lediglich die zivilrechtliche Zuordnung des Gewerbebetriebs und Grundbesitzes für steuerliche Zwecke nachvollzogen hat. Nicht anders stellte sich die Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei der Einführung von neuen Rechtsverkehrssteuern (Stempelsteuer) und einer allgemeinen Verbrauchsteuer (Umsatzsteuer) dar, zu denen neben natürlichen Personen auch rechtsfähige Kapitalgesellschaften und andere juristische Personen ganz selbstverständlich in gleicher Weise herangezogen wurden.14 Bei der „modernen“ Einkommensteuer verlief die Entwicklung anders.15 Zwar existierten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits Vorformen der Einkommensteuer wie z.B. die preußische Klassensteuer von 1820 oder die klassifizierte Einkommensteuer von 1851. Beide waren aber auf „physische“ Personen beschränkt.16 Die Phase der „modernen“ Einkommensteuer, die sich nicht in einer mehr oder weniger pauschalen Besteuerung der Bürger nach ihrer Klassenzugehörigkeit erschöpft, sondern auf eine progressive Besteuerung des tatsächlichen Gesamteinkommens einer Person unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Verhältnisse gerichtet ist, beginnt erst mit dem sächsischen EStG von 1878 und dem preußischen EStG von 1891.17 Beide Gesetze stehen auch für einen Paradigmenwechsel bei der Einkommensbesteuerung juristischer Personen, denn sie beziehen erstmals auch Aktiengesellschaften und andere juristische Personen in die Einkommensteuer ein. Damit fand eine jahrzehntelange steuerwissenschaftliche und steuerpolitische Diskussion 11 Siehe nur Hecht, FA 7 Jg. II (1890), 43 f. Allgemein zur Heranziehung der Aktiengesellschaft zu den „Objectsteuern“ Wagner, Finanzwissenschaft, Zweiter Teil, 1880, S. 325. 12 Dazu näher Hüttemann (Fn. 8 ), S. 1216; Feitelberg (Fn. 10), S. 84 f. 13 Eingehend Rasenack, Die Theorie die Körperschaftsteuer, 1974, S. 24 f. Wegen der Anknüpfung an den „Reinertrag“ kann man diese Steuer als Vorläufer der Körperschaftsteuer ansehen, so etwa Seer (Fn. 9 ), S. 3 und Heurung in Erle/Sauter, KStG, 2003, Einführung Rz. 26. Vgl. auch die zeitgenössische Kritik an der dem Charakter einer „Realsteuer“ widersprechenden Anknüpfung an den Reinertrag bei Feitelberg (Fn. 10), S. 85. 14 Zum rechtsformunabhängigen Unternehmerbegriff im UStG 1926 vgl. nur Popitz, UStG, 3. Aufl. 1928, § 1 Anm. II. 1 a. 15 Überblick über die geschichtliche Entwicklung bei Feitelberg (Fn. 10), passim; Rasenack (Fn. 13); Seer (Fn. 9 ), S. 4 ff.; ferner Hecht (Fn. 11), 37; Simon, Die Staatseinkommensteuer der Aktiengesellschaft, 1892; Hüttemann, StuW 2014, 61. 16 Statt vieler nur Feitelberg (Fn. 10), S. 84. 17 Zur Entwicklung der modernen Einkommensteuer vgl. statt vieler nur Clausen in Herrmann/ Heuer/Raupach, EStG/KStG, 2010, Dok. Anm. 1 ff.; ferner Piltz, StuW 2014, 39.
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über die Rechtfertigung einer eigenständigen Einkommensbesteuerung von Aktiengesellschaften18 ihren vorläufigen Abschluss. Gegen eine Einkommensbesteuerung von „nichtphysischen“ Personen war vor allem eingewandt worden, dass die bloße Fiktion der eigenen Rechtspersönlichkeit für die Besteuerung nicht maßgeblich sein könne und es der Aktiengesellschaft aus wirtschaftlicher Sicht an einem „eigenen“ Einkommen fehle, da ihr Einkommen nichts anderes als das Einkommen ihrer Aktionäre sei. Die Aktiengesellschaft sei nur „hinsichtlich der Produktion, nicht aber hinsichtlich der Konsumtion ein wirtschaftendes Subjekt“.19 Wenn überhaupt, dürfe eine Besteuerung von Aktiengesellschaften daher lediglich als vereinfachte Besteuerung ihrer Gesellschafter stattfinden mit der Folge, dass die Dividenden bei den Gesellschaftern nicht noch einmal der Steuer unterliegen dürften. Diese – auch heute noch aktuellen Einwände20 – konnten sich im politischen „Steuerkampf um die Aktiengesellschaft“21 aber nicht durchsetzen. Am Ende dürften für die meisten Bundesstaaten – neben dem Hinweis auf die zivilrechtliche Selbstständigkeit der juristischen Personen – vor allem fiskalische „Zweckmäßigkeiten“ entscheidend gewesen sein:22 Zum einen sollten durch die Erfassung des Gewinns von juristischen Personen steuerliche Wettbewerbsverzerrungen gegenüber Einzelunternehmen und Personengesellschaften verhindert werden. Zum anderen wollte man auch das Einkommen ausländischer Aktiengesellschaften, die im Inland einen Gewerbebetrieb unterhielten, deren Aktien aber von Aktionären mit ausländischem Wohnsitz gehalten wurden, im Inland besteuern. Dabei wurde keineswegs übersehen, dass eine selbständige Einkommensbesteuerung von juristischen Personen eine steuerliche Doppelbelastung des ausgeschütteten Gewinns auf der Ebene der Gesellschaft und des Anteilseigners zur Folge hatte. Dieses Problem nahm man indes in Kauf und versuchte ihm in den meisten Bundesstaaten durch bestimmte Entlastungsmechanismen (z.B. Steuerfreistellungen auf der Ebene der Gesellschaft oder des Gesellschafters) zu begegnen.23 Mit den Erzbergerschen Reichsfinanzgesetzen von 1919/1920 kam es nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs zu einer Neuordnung der Einkommensbesteuerung von juristischen Personen, die durch das KStG 1920 aus der Einkommensteuer herausgelöst und in einem eigenen Gesetz verselbständigt wurde.24 Damit wollte der Gesetzgeber nicht nur die Diskussion um die Berechtigung der Einkommensbesteuerung von juristischen Personen beenden, sondern auch den Besonderheiten „nicht physischer Personen“ besser Rechnung tragen. Dabei ging es zum einen um den Einkommensbegriff, da „persönliche Verhältnisse“ bei juristischen Personen keine Grundlegend Dietzel (Fn. 10), passim; siehe auch Hecht (Fn. 11), 44 ff. So Hecht (Fn. 11), 41. 20 Vgl. aus finanzwissenschaftlicher Sicht statt vieler Schneider, Handbuch der Finanzwissenschaft Bd. II, 3. Aufl. 1980, S. 497, 534 ff.; aus juristischer Sicht Palm, Person im Ertragsteuerrecht, 2013, S. 472, 541 ff. 21 Feitelberg (Fn. 10), S. 86. 22 So Wagner, FA 8 (1891), 551, 673. 23 Für einen Überblick über die verschiedenen Entlastungsmechanismen in den deutschen Bundesstaaten siehe Blum, Die steuerliche Ausnutzung der Aktiengesellschaften in Deutschland, 1911, S. 29 ff.; Rasenack (Fn. 13), S. 49 ff.; Seer (Fn. 9 ), S. 12 ff. 24 Zur Entstehungsgeschichte des KStG 1920 siehe nur Evers, KStG 1920/1922, 1923, Einleitung, S. 30 ff. 18 19
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Rolle spielen, und zum anderen um den „opfertheoretisch“ begründeten progressiven Einkommensteuertarif, der für juristische Personen als unpassend empfunden wurde.25 Nach der gesetzgeberischen Grundentscheidung zugunsten einer gesetzlichen Verselbstständigung der Körperschaftsbesteuerung, bei der es – ungeachtet abweichender Reformvorschläge – bis heute geblieben ist, verlagerte sich die steuerpolitische Diskussion in der Folgezeit vor allem auf das Problem der steuerlichen Doppelbelastung ausgeschütteter Gewinne. Der Gesetzgeber des KStG 1920 entschied sich insoweit – nicht zuletzt wegen des großen Finanzbedarfs des Deutschen Reichs – für eine ungemilderte Doppelbelastung und rechtfertigte diese mit dem Hinweis, dass die Verleihung der Rechtspersönlichkeit den Erwerbsgesellschaften „so viel Rechte“ gewähre, dass „sie die Folgen der Selbständigmachung auch auf einem Gebiete tragen müssen, auf dem sie für sie nachteilig ist“.26 Zwar kam es später zu gewissen Erleichterungen, doch bereits die nationalsozialistische Steuerpolitik kehrte zur ungemilderten Doppelbelastung zurück, um die Umwandlung der – politisch unerwünschten – „anonymen“ Kapitalgesellschaften in Personenunternehmen zu befördern.27 Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte man zunächst, das Problem der steuerlichen Doppelbelastung durch einen gespaltenen Steuertarif zu mildern, der ausgeschüttete Gewinne niedriger belastete.28 Erst mit der Einführung des körperschaftsteuerlichen Anrechnungsverfahrens durch das KStG 1977 kam es praktisch zu einer Integration der Körperschaftsteuer in die Einkommensteuer. Da die von der Kapitalgesellschaft auf die Dividende gezahlte Körperschaftsteuer beim Anteilseigner angerechnet wurde, unterlag der ausgeschüttete Gewinn beim Anteilseigner im Ergebnis nur noch der Einkommensteuer mit dem für ihn geltenden individuellen Steuersatz.29 Das Anrechnungsverfahren, von dem sich der Gesetzgeber zugleich eine breitere Streuung des Aktienbesitzes erhoffte,30 machte allerdings komplizierte Regelungen zur Herstellung der körperschaftsteuerlichen Vorbelastung auf der Ebene der Kapitalgesellschaften erforderlich, deren Komplexität und Missbrauchsanfälligkeit schon bald Kritik auslösten.31 Ferner war der Anrechnungsmechanismus auf das Inland beschränkt. Nachdem absehbar wurde, dass diese Inlandsbeschränkung aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen keine Zukunft haben würde,32 kehrte der deutsche 25 Zu den Beweggründen des Gesetzgebers vgl. Evers (Fn. 24), Einleitung, S. 49 ff.; Rasenack (Fn. 13), S. 71 ff.; Brinkmann, Die Körperschaftsteuer in der Zeit von 1918 bis 1929, 1987, S. 30 ff.; Seer (Fn. 9 ), S. 4 0 ff. 26 Begründung zum KStG 1920, abgedruckt bei Evers (Fn. 24), § 1 Anm. 10. 27 Vgl. nur Seer (Fn. 9), S. 56 f. mit weiteren Nachweisen; eingehend zur nationalsozialistischen Steuerpolitik Voß, Steuern im Dritten Reich, 1995. 28 Ab 1958 betrug der Ausschüttungssteuersatz 15 Prozent und der Thesaurierungssteuersatz 51 Prozent. 29 Zum Körperschaftsteuergesetz 1977 vgl. BT-Drucks. 7/1470; ferner die Darstellung des Anrechnungsverfahrens bei Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. 1993, §§ 17, 18; Seer (Fn. 9 ), S. 80 ff. 30 Vgl. BT-Drucks. 7/1470, S. 326 ff. 31 Zu den Nachteilen des Anrechnungsverfahrens vgl. näher Seer (Fn. 9 ), S. 99 ff.; Raupach in Schön u.a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift Knobbe-Keuk, 1997, S. 675. 32 Grundlegend Knobbe-Keuk in Kirchhof u.a. (Hrsg.), Festschrift für Franz Klein, 1994, S. 347; EuGH-Urteil vom 7.9.2004 Rs. C-319/02 Manninen Slg. 2004, I-7477.
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Gesetzgeber – ebenso wie andere EU-Staaten – mit Wirkung zum 1.1.2001 zum klassischen Körperschaftsteuerrecht mit einer definitiven Körperschaftsteuer zurück.33 Der steuerlichen Belastung des ausgeschütteten Gewinns auf Gesellschafts ebene wird seitdem durch pauschalierte Entlastungsmechanismen (Teileinkünfteverfahren bzw. Abgeltungsteuer) beim Anteilseigner Rechnung getragen.
III. Körperschaftsbesteuerung juristischer Personen 1. Begründung einer eigenen Körperschaftsteuerpflicht Die Gesetzgeber des KStG 1920 und des KStG 1977 haben die eigenständige Einkommensbesteuerung von juristischen Personen vor allem mit der „Verleihung der Rechtspersönlichkeit“34 bzw. der „Einheitlichkeit der Rechtsordnung“35 begründet. In ähnlicher Weise hat auch das BVerfG die Körperschaftsteuer als „notwendige Konsequenz aus der Verselbständigung der juristischen Person“ bezeichnet 36 und in der Folgezeit in der „Abschirmung der Vermögensphäre einer Kapitalgesellschaft gegenüber ihren Anteilseignern“ eine hinreichende Rechtfertigung für die unterschiedliche steuerliche Behandlung von Personen- und Kapitalgesellschaften gesehen.37 Diese „rechtliche“ Sichtweise, die von der zivilrechtlichen Verselbständigung auf ein von den Anteilseignern verschiedenes eigenes Einkommen der juristischen Person schließt, hat bereits im finanzwissenschaftlichen Schrifttum des 19. Jahrhunderts deutliche Kritik erfahren.38 So wurde der Aktiengesellschaft schon früh ein „eigenes“ Einkommen abgesprochen, weil sie „nicht für sich arbeitet, sondern für die Träger der juristischen Person, für physische Personen“.39 Eine Vergleichbarkeit zu natürlichen Personen bestehe lediglich dort, wo juristische Personen mit öffentlichen oder wohltätigen Zwecken – insbesondere Stiftungen – zu „ihren Existenzzwecken konsumieren“.40 Diese Unterscheidung nach dem „Substrat“ einer juristischen Person ist im neueren juristischen Schrifttum wieder aufgegriffen worden und als Argument für ein verfassungsrechtliches Verbot der wirtschaftlichen Doppelbelastung ausgeschütteter Gewinne verwendet worden.41 In die gleiche Richtung zielen Stimmen im wirtschaftswissenschaftlichen Schrifttum, die unter Hinweis auf einen wirtschaftlichen Einkommensbegriff eine steuerliche Doppelbelastung von Kapitalgesellschaftsgewinnen ablehnen.42 Der Kritik an der „rechtlichen Betrachtungsweise“ ist darin zuzustimmen, dass die zivilrechtliche Verselbstständigung der juristischen Person für sich genommen noch Vgl. Gesetzesbegründung zum Steuersenkungsgesetz BT-Drucks. 14/2683, S. 94 ff. Begründung zum Entwurf des KStG 1920, abgedruckt bei Evers (Fn. 24), § 1 Anm. 10. 35 BT-Drucks. 7/1470, S. 326. 36 BVerfG v. 24.1.1962 – 1 BvR 845/58, BVerfGE 13, 331, 339. 37 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 Rz. 118. 38 Grundlegend Dietzel (Fn. 10). 39 Hecht (Fn. 11), 45. 40 Hecht (Fn. 11), 40. 41 Palm (Fn. 20), S. 539 f. 42 Statt vieler nur Schneider (Fn. 20), S. 535 ff. 33
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keine hinreichende Begründung für eine Körperschaftsteuer darstellt.43 Allerdings darf man bezweifeln, ob die „Einheit der Rechtsordnung“44 tatsächlich der entscheidende Gesichtspunkt für die Einbeziehung von juristischen Personen in die Einkommensbesteuerung gewesen ist. Dagegen spricht bereits die Tatsache, dass das geltende Recht auch „nichtrechtsfähige“ Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen sowie rechtlich unselbständige Betriebe von juristischen Personen der öffentlichen Hand der Körperschaftsteuer unterwirft.45 Auch der – äquivalenztheoretische – Versuch des Gesetzgebers von 1920, die Körperschaftsteuer mit den „Vorteilen der Rechtsform“ zu begründen,46 kann heute kaum noch überzeugen,47 zumal die Haftungsbeschränkung – abweichend von der Gesetzesbegründung – regelmäßig gerade nicht zu einer „Verstärkung der Kreditfähigkeit“ führt, wie jeder Gründer einer UG oder GmbH schnell feststellen wird. Man darf auch bezweifeln, ob die Unterscheidung zwischen einer „objektiven“ Leistungsfähigkeit von juristischen Personen und einer „subjektiven“ Leistungsfähigkeit natürlicher Personen für sich genommen eine ausreichende Rechtfertigung für eine eigene Körperschaftsteuer und die doppelte Besteuerung des ausgeschütteten Gewinns darstellt, zumal bei juristischen Personen ohne Erwerbszwecke wie z.B. gemeinnützigen Stiftungen eine „subjektive“ – d.h. auf die eigenen Satzungszwecke bezogene – Leistungsfähigkeit durchaus anzuerkennen ist.48 Ohnehin kommt dem Begriff der „objektiven“ eigenen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit49 eher eine beschreibende denn eine erklärende Funktion zu. Denn diese Begriffsbildung erschöpft sich in der – zutreffenden – Beobachtung, dass nach der Zivilrechtsordnung die juristische Person selbst die Einkünfte erwirtschaftet und eine „subjektive“ Komponente bei juristischen Personen entbehrlich ist, sie erklärt aber noch nicht die Notwendigkeit einer eigenständigen Besteuerung von juristischen Personen anstelle ihrer Anteilseigner.50 Einen mehr beschreibenden Charakter hat schließlich auch der Hinweis auf die lediglich „vorläufige Leistungsfähigkeit“ der Kapitalgesellschaft,51 der weniger der Begründung einer Körperschaftsteuer dienen soll, sondern sich vor allem gegen die steuerliche Doppelbelastung der an den Gesellschafter „transferierten“ Leistungsfähigkeit richtet. Richtigerweise erschließt sich der Sinn einer eigenständigen Körperschaftsbesteuerung vor allem aus der Notwendigkeit einer sofortigen steuerlichen Erfassung des auf Gesellschaftsebene einbehaltenen Gewinns.52 Es wäre nicht nur fiskalisch, son43 Ebenso Schön in: Jachmann (Hrsg.), DStJG Bd. 37, S. 231 ff. Vgl. den Überblick über die Argumente für und gegen eine Besteuerung von Körperschaften bei Desens in Herrmann/Heuer/Raupach (Hrsg.), EStG/KStG, 2014, Einf. KStG Rz. 31 ff. 44 Dazu skeptisch Hey, Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung in Europa, 1997, 245 f. 45 Vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 5 und 6 KStG. 46 Vgl. Begründung zum KStG 1920, abgedruckt bei Evers (Fn. 24), § 1 Anm. 10. 47 Zu Recht ablehnend Hey (Fn. 4 4), S. 258 ff. 48 Zutreffend Palm (Fn. 20), S. 540 f. 49 Zur objektiven Leistungsfähigkeit statt vieler Tipke, Steuerrechtsordnung, Bd. II, 2. Aufl. 2003, S. 1173 f.; Pezzer in Festschrift für K. Tipke, 1995, S. 424 f.; J. Lang in Ebeling (Hrsg.), DStJG Bd. 24, S. 58 f. 50 Vgl. auch Schön (Fn. 43), S. 230: „Leerformel“. 51 So Hey (Fn. 4 4), S. 254 im Anschluss an Schipporeit, StuW 1980, 196 f. 52 So bereits Wagner, FA 8 (1891), 551, 669 ff.; aus dem neueren Schrifttum siehe Schön (Fn. 43), S. 231; ders. in Dötsch u.a. (Hrsg.), Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, S. 141 ff.
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dern auch aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit schlicht nicht hinzunehmen, wenn die Gewinne von Einzelunternehmen und Personengesellschaften im Jahr ihrer Entstehung steuerlich belastet würden, die einbehaltenen Gewinne von Kapitalgesellschaften aber bis zu ihrer Ausschüttung an die Anteilseigener steuerlich verschont blieben.53 Dieses Argument ist keineswegs neu, sondern hat bereits in der steuerpolitischen Diskussion des 19. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle gespielt.54 Auch die Begründung des KStG 1977 nennt – zu Recht – die „Wahrung der Wettbewerbsneutralität“ als einen wesentlichen Grund für die Belastung einbehaltener Gewinne.55 Nur in diesem Sinne ist es zutreffend, wenn der Körperschaftsteuer im geltenden Unternehmenssteuerrecht eine „Komplementärfunktion“56 beigelegt wird, mit der eine steuerliche Gleichbehandlung von Unternehmensgewinnen über alle Unternehmensträger hinweg gewährleistet wird. Die „Steuerlücke“, die bei einem Verzicht auf die Körperschaftsteuer eintreten würde, lässt sich auch nicht in der Weise schließen, dass der Gewinn einer Kapitalgesellschaft – vergleichbar der Rechtslage bei einer Personengesellschaft (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG) – den Anteilseignern unmittelbar für steuerliche Zwecke zugerechnet wird. Zwar ist verschiedentlich eine solche „Teilhabersteuer“57 vorgeschlagen worden. Sie stößt aber nicht nur in der Wirklichkeit börsennotierter Publikumskapitalgesellschaften – z.B. in Hinsicht auf die Behandlung von Verlusten – auf kaum lösbare praktische Schwierigkeiten, sondern erweist sich auch aus steuerrechtlicher Perspektive als nicht überzeugend, weil der Anteilseigner damit Gewinne versteuern müsste, die ihm nicht zugeflossen sind und auf die er wegen der rechtlichen Verselbständigung des Gesellschaftsvermögens auch nicht zugreifen kann.58 Für eine solche transparente Besteuerung bedürfte es also – ebenso wie bei Personengesellschaften – zunächst eines gesetzlichen Steuerentnahmerechts des Gesellschafters, das aber bei „anonymen“ Gesellschaften wenig sinnvoll erscheint.59 Schließlich scheitert die Idee einer Teilhabersteuer aber auch daran, dass ein einseitiger Verzicht auf eine Körperschaftsteuer bei grenzüberschreitenden Dividendenzahlungen zu Verwerfungen führen würde, solange das Ausland an einer selbständigen Körperschaftsteuer festhält.60 Im Ergebnis ist somit festzuhalten, dass eine eigenständige Körperschaftsteuer ein notwendiges ergänzendes Element eines wettbewerbsneutralen Unternehmenssteuerrechts ist, solange man an der Sofortbesteuerung des Gewinns von Einzel unternehmen und Personengesellschaften festhält. Anders ausgedrückt: Eine Körperschaftsteuer wäre – zumindest bei Kapitalgesellschaften61 – erst dann verzichtbar, wenn man die Besteuerung von Einkommen insgesamt im Sinne einer „Konsum Vgl. nur Schön (Fn. 43), S. 232; rechtsvergleichend Harris, Corporate Tax Law 2013, S. 144 ff. Siehe Wagner, FA 8 (1891), 551, 669 ff. 55 BT-Drucks. 7/1470, S. 326. 56 So auch Lang (Fn. 49), S. 62. 57 Vgl. die Vorschläge von Engels/Stützel, Teilhabersteuer, 1968; zu diesem Modell näher Desens (Fn. 43), Einf. KSt Anm. 174. 58 Zu diesem Problemkreis statt vieler Schön (Fn. 43), S. 232. 59 Das Modell von Engels/Stützel (Fn. 57) sah daher die Erhebung einer auf die Einkommensteuer anrechenbaren Kapitalertragsteuer auf der Ebene der Kapitalgesellschaft vor. 60 So bereits die Steuerreformkommission 1971, KSt IV Tz. 148 ff. 61 Eine „Teilhabersteuer“ versagt allerdings bei KSt-Subjekten ohne Erwerbszwecken, die nicht auf eine Gewinnausschüttung an die Anteilseigner gerichtet sind. 53
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orientierung“ umgestalten und Gewinne bei allen Unternehmensformen nicht bereits bei Realisation, sondern erst bei ihrer Entnahme für private Konsumzwecke besteuern würde.62 Ein letzter Punkt betrifft den persönlichen Anwendungsbereich der Körperschaftsteuer und ihre Abgrenzung gegenüber Unternehmensträgern, deren Gewinne im Rahmen der Einkommensteuer transparent besteuert werden. Das geltende KStG enthält insoweit eine abschließende Aufzählung der Steuersubjekte in § 1 Abs. 1 KStG, die – wie es der Große Senat des BFH ausgedrückt hat – „an die zivilrecht liche Rechtsform anknüpft“.63 Eine derartige Bezugnahme auf konkrete Rechtsformen des zivilen Gesellschaftsrechts bedeutet einerseits einen erheblichen Gewinn an Rechtssicherheit,64 führt allerdings notgedrungen im Grenzbereich personalistischer Kapitalgesellschaften (GmbH) bzw. kapitalistischer Personengesellschaften (GmbH & Co. KG) zu Abgrenzungen, die rechtspolitisch keineswegs zwingend erscheinen: Ebenso wie man eine „kapitalistische“ Publikums-KG mit zahlreichen Kommanditisten „theoretisch“ auch der Körperschaftsteuer unterwerfen könnte, erscheint mit Rücksicht auf die Einflussrechte der Gesellschafter auch eine transparente Einkommensbesteuerung einer „personalistischen“ GmbH mit einem geschlossenen Gesellschafterkreis möglich.65 Derartige Abgrenzungen müssen allerdings wegen ihrer weitreichenden Konsequenzen dem Gesetzgeber vorbehalten sein, weshalb es der BFH – zu Recht – abgelehnt hat, den Katalog der Körperschaftsteuersubjekte nach „typologischen“ Gesichtspunkten abzugrenzen und eine „kapitalistisch strukturierte“ GmbH & Co. KG – wie es die Finanzverwaltung zur Bekämpfung von Abschreibungsgesellschaften vorgeschlagen hatte66 – im Auslegungswege unter den Tatbestand der „nichtrechtsfähigen Vereine, Anstalten, Stiftungen und anderen Zweckvermögen“ (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 KStG) zu subsumieren.
2. Steuerliche Doppelbelastung ausgeschütteter Gewinne Aus der Einsicht, dass die Einkommensbesteuerung von juristischen Personen aus heutiger Sicht weniger auf „rechtlichen“ Argumenten beruht, sondern vor allem für eine wettbewerbsneutrale Besteuerung des einbehaltenen Gewinns von Kapitalgesellschaften im Vergleich zu Personenunternehmen erforderlich ist, ergibt sich zugleich, dass eine steuerliche Doppelbelastung ausgeschütteter Gewinne weder durch die „Einheit der Rechtsordnung“ noch durch eine am Zivilrecht orientierte Trennung zwischen Gesellschaft und Gesellschafter vorgegeben ist.67 Insoweit erweist sich die Begründung des KStG 1920, in der eine „Doppelbesteuerung“ unter Hinweis auf die rechtliche Trennung von Körperschaft und Anteilseigner schon dem Grunde Zutreffend Schön (Fn. 43), S. 233. Vgl. BFH-Beschluss v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751, 758. 64 Mit Recht verweist der Große Senat des BFH in seinem Beschluss v. 25.6.1984 (Fn. 61), 758 auf den Zweck des § 1 KStG, „über den Anwendungsbereich des Körperschaftsteuerrechts Klarheit zu schaffen.“ 65 Zutreffend Schön (Fn. 43), S. 238 f.; ders. (Fn. 52), S. 148. 66 Vgl. die Nachweise in BFH-Beschluss v. 25.6.1984 (Fn. 63), 758. 67 Statt vieler nur Hey (Fn. 4 4), S. 245 f. 62
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nach bestritten wurde,68 heute nicht mehr als überzeugend.69 Umgekehrt erscheint es zweifelhaft, aus einem „wirtschaftlichen Einkommensbegriff “70 oder dem Hinweis auf eine lediglich „vorläufige“ Leistungsfähigkeit der Kapitalgesellschaft71 zwingende Rückschlüsse auf die Behandlung der ausgeschütteten Gewinne auf der Ebene der Anteilseigner zu ziehen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht stellt sich – wenn es um die Gleichbehandlung von ausgeschütteten Dividenden beim Anteilseigner und „transparent“ besteuerten Unternehmensgewinnen bei Mitunternehmern geht – ohnehin die Frage, ob beide Sachverhalte überhaupt miteinander vergleichbar sind.72 Auch wenn man dies – wofür gute Gründe sprechen73 – bejaht und aus dem Gleichheitssatz für den Bereich des Ertragsteuerrechts74 ein Gebot der „rechtsformneutralen“ Besteuerung ableitet, so wird man beachten müssen, dass alle Modelle zur Vermeidung einer steuerlichen Doppelbelastung ausgeschütteter Gewinne75 nicht nur steuerpraktische Fragen aufwerfen, sondern auch gewisse Rückwirkungen auf grenzüberschreitende Sachverhalte haben, die der Gesetzgeber nicht einfach ausblenden kann. Im Einzelnen: – Ein Dividendenabzugsverfahren auf der Ebene der Körperschaft, wie es bereits im 19. Jahrhundert in einigen Bundesstaaten praktiziert wurde,76 vermeidet zwar eine Doppelbelastung, bedeutet aber bei grenzüberschreitenden Ausschüttungen zugleich einen Verzicht auf das Besteuerungsrecht in Hinsicht auf den im Inland erzielten Gewinn der Körperschaft überhaupt und dürfte daher praktisch ausscheiden.77 – Das zwischen 1977 und 2000 praktizierte „Vollanrechnungsverfahren“ erscheint zwar unter Neutralitätsgesichtspunkten als ideale Lösung des Problems der Doppelbelastung, weil es sicherstellt, dass der ausgeschüttete Gewinn beim Anteilseigner lediglich mit seinem persönlichen Steuersatz belastet wird.78 Dieser Entlastungsmechanismus funktioniert aber – sieht von dem erheblichen Verwaltungsaufwand zur Sicherung der Vorbelastung der Dividende einmal ab – nur im Inlandsfall, denn eine Einbeziehung von Auslandsdividenden hätte zur Folge, dass auch eine im Ausland gezahlte Körperschaftsteuer vom inländischen Finanzamt angerechnet werden muss.79 Das Anrechnungsverfahren war deshalb steuerpoli Vgl. Gesetzesbegründung zum KStG, abgedruckt bei Evers (Fn. 24), § 1 Anm. 10. Statt vieler Schön (Fn. 43), S. 230; Hey (Fn. 4 4.), S. 252. 70 Repräsentativ Schneider (Fn. 20), S. 534. 71 So etwa Hey (Fn. 4 4), S. 254 ff. 72 Dazu näher Hey in Ebeling, DStJG Bd. 24, S. 155 ff.; Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16. 73 Vgl. zu den Argumenten Hey (Fn. 72), S. 167 ff. 74 Zur Rechtsformneutralität im Umsatzsteuerrecht vgl. BVerfG v. 10.11.1999 – 2 BvR 2861/91, BVerfGE 101, 151. 75 Für einen systematischen Überblick siehe Desens (Fn. 43), Einf. KSt Anm. 16 ff.; rechtsvergleichend Harris (Fn. 53), S. 251 ff. 76 So etwa in Sachsen-Weimar, weitere Nachweise zur Rechtslage in den Bundesstaaten bei Seer (Fn. 9 ), S. 15 f. 77 Statt vieler Schön (Fn. 43), S. 241. 78 Für einen Überblick über das Anrechnungsverfahren nach dem KStG 1977 statt vieler KnobbeKeuk (Fn. 29), § 17. 79 Zu den technischen Schwierigkeiten siehe etwa Raupach in Widmann (Hrsg.), DStJG Bd. 20, 1997, S. 21, 23 f.; zur beschränkten Europatauglichkeit statt vieler Raupach in Schön u.a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift Knobbe-Keuk, 1997, S. 675. 68 69
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tisch nicht zu halten, nachdem der EuGH eine Gleichbehandlung von in- und ausländischen Dividenden im Binnenmarkt verlangt hatte.80 – Eine Dividendenfreistellung auf der Ebene der Anteilseigner unter Hinweis auf die Vorbelastung des ausgeschütteten Gewinns mit Körperschaftsteuer erledigt zwar das Problem der steuerlichen „Doppelbelastung“. Ein solches Freistellungssystem erweist sich aber schon im Inlandsfall unter Gleichheits- und Neutralitätsgesichtspunkten als wenig geeignet, solange Körperschaftsteuer- und Einkommensteuersatz wesentlich voneinander abweichen.81 Im internationalen Kontext wäre eine – durch die Grundfreiheiten zwingend gebotene – Freistellung von Auslandsdi videnden ebenfalls problematisch, solange nicht eine mit der inländischen Körperschaftsteuer vergleichbare Vorbelastung der Auslandsdividenden gewährleistet ist. Angesichts dieser und weiterer Schwierigkeiten82 überrascht es nicht, dass viele Staaten – nach einer Hochphase der Anrechnungsverfahren in den 70er Jahren – zu „imperfekten“ Lösungen zurückgekehrt sind, die das Problem der steuerlichen Doppelbelastung nicht beseitigen, sondern seine Auswirkungen lediglich zu „mildern“ versuchen. In diese Entwicklung reiht sich auch die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers ein, zu einer definitiven Körperschaftsteuer zurückzukehren und auf der Ebene des Anteilseigners die Dividende – im Bereich des Betriebsvermögens – teilweise von der Einkommensteuer freizustellen oder – im Bereich des Privatvermögens – lediglich der niedrigen Abgeltungsteuer zu unterwerfen.83 Diese „secondbest-Lösung“ führt notwendigerweise zu steuerlichen Verzerrungen, die der Gesetzgeber aber vor allem in Kauf genommen hat, um bei grenzüberschreitenden Sachverhalten inländisches Steuersubstrat zu sichern. In diesem Kontext ist darauf hinzuweisen, dass sich das Problem der steuerlichen „Doppelbelastung“ nicht nur bei Ausschüttungen an natürliche Personen im Verhältnis von Körperschaftsteuer und Einkommensteuer stellt, sondern auch bei der Weiterausschüttung von Gewinnen an körperschaftsteuerpflichtige Anteilseigner. Auch insoweit sollte Einigkeit bestehen, dass der schlichte Hinweis auf die zivilrechtliche Selbstständigkeit von juristischen Personen für sich genommen kein überzeugender Grund für eine Doppel- oder Mehrfachbelastung („Kaskadeneffekt“) ist, sondern unter Wettbewerbsgesichtspunkten und in Hinsicht auf die Wahrung der nationalen Besteuerungsrechte eine Einmalbelastung mit Körperschaftsteuer ausreichend erscheint.84 Aus diesem Grund sieht das geltende Recht in § 8b KStG nicht nur eine 95-prozentige Freistellung von Dividenden, sondern – wegen der wirtschaftlichen 80 Vgl. nur EuGH-Urteil vom 6.6.2000 – Rs. C-35/98 Verkooijen, Slg. 2000-I 4071; EuGH v. 7.9.2004 Rs. C-319/02 Manninen Slg. 2004, I-7477. 81 Aus diesem Grund sieht das von Paul Kirchhof vorgelegte Bundessteuergesetzbuch einen linearen Steuersatz von 25 Prozent vor, vgl. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, S. 378. Dieser Steuersatz dürfte aber im Vergleich zum geltenden progressiven Tarif zu erheblichen Steuermindereinnahmen führen. 82 Aus rechtsvergleichender Sicht Harris (Fn. 53), S. 251 ff. 83 Zum „Halbeinkünfteverfahren“ vgl. monographisch Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, 2004; Otto, Die Besteuerung von gewinnausschüttenden Körperschaften und Anteilseignern nach dem Halb einkünfteverfahren, 2007. 84 Vgl. nur Desens (Fn. 83), S. 127 f.; zum „körperschaftsteuerlichen Prinzip der Einmalbesteuerung“ vgl. Spengel/Schaden, DStR 2003, 2192, 2193.
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Vergleichbarkeit von Ausschüttungen und Anteilsveräußerungen – ergänzend sogar eine entsprechende Freistellung von Gewinnen aus Beteiligungsveräußerungen vor.85 Allerdings hat der Gesetzgeber die Freistellung von Dividenden seit 2013 an eine Mindestbeteiligung in Höhe von 10 Prozent geknüpft, so dass es bei Streubesitzdividenden wieder zu einer körperschaftsteuerlichen Doppelbelastung kommt. Hintergrund dieser Änderung ist eine Entscheidung des EuGH, der vom deutschen Gesetz geber eine Ausdehnung der Dividendenfreistellung auf Körperschaften in EU-Staaten, die an inländischen Kapitalgesellschaften beteiligt sind, verlangt hatte.86 Damit ist der Gesetzgeber – wenn auch mit einer niedrigeren Beteiligungsschwelle87 – zum Schachtelprivileg des § 6 Nr. 8 KStG 1920 zurückgekehrt. Abschließend sei noch ein Blick auf solche juristische Personen geworfen, bei denen eine „doppelte“ Belastung von Gewinnen rechtsformbedingt ausscheidet, weil sie keinen Erwerbszwecken dienen und daher keine echten Gewinnausschüttungen an Anteilseigner vornehmen. Gemeint sind Non Profit Organisationen des privaten Rechts (insbesondere Vereine und Stiftungen) sowie juristische Personen des öffentlichen Rechts.88 Würde man die Einkommensbesteuerung – wie in der Finanzwissenschaft gefordert – auf das „konsumierbare“ Einkommen von Individuen beschränken und die Körperschaftsteuer nur als eine Art „vorgezogene“ Einkommensteuer der Anteilseigner verstehen, dann müssten solche Non Profit Organisationen mangels „privatnützigen“ Einkommens ganz von der Körperschaftsteuer ausgenommen werden.89 Allerdings ist nicht zu übersehen, dass das Einkommen zumindest bei „mitgliedernützigen“ NPO (wie Sportvereinen oder Berufsverbänden und Gewerkschaften) letztlich – wenn auch ohne direkte Ausschüttungen – vor allem „privatnützigen“ Zwecken dient. Ferner kann man sich fragen, ob nicht gerade Non Profit Einrichtungen über eine den natürlichen Personen vergleichbare „subjektive Leistungsfähigkeit“ verfügen, weil sie ihr Einkommen für „eigene“ satzungsmäßige Zwecke verwenden und nicht an Anteilseigner ausschütten.90 Entscheidend ist letztlich aber auch hier, dass die Körperschaftsteuer in erster Linie auf eine wettbewerbsneutrale Sofortbesteuerung von einbehaltenen Gewinnen gerichtet ist, die von der Art der Einkommensverwendung (Gewinnausschüttung, Selbsthilfe zugunsten der Mitglieder, altruistische Zwecke) ganz abstrahiert.91 Bei Non Profit Einrichtungen und bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts ergibt sich noch ein weiteres Problem. Soweit versteuerte Gewinne aus wirt Für einen Überblick siehe Desens (Fn. 83), S. 132 ff. EuGH-Urteil v. 20.10.2011 – Rs. C-284/09, Slg. 2011, I-9879. 87 Das Schachtelprivileg setzt eine mindestens Beteiligung von 20 Prozent voraus. 88 Zum Steuerrecht des Non Profit Sektors vgl. Hüttemann, KSzW 2014, 158; zur Besteuerung öffentlicher Unternehmen vgl. Hüttemann, Die Besteuerung der öffentlichen Hand, 2002. 89 Vgl. dazu aus der US-amerikanischen Literatur grundlegend Bittker/Rahdert, Yale Law Review 1976, 299; zur fehlenden Leistungsfähigkeit von NPO aus dem deutschen Schrifttum Walz, Non Profit Law Yearbook, 2001, 197, 201. 90 So im neueren Schrifttum Palm (Fn. 20), S. 540 f. unter Rückgriff auf Überlegungen im älteren Schrifttum, vgl. insbesondere Dietzel (Fn. 10), S. 30; vgl. auch Hecht (Fn. 11), S. 41. 91 Zur Wettbewerbsneutralität als tragender ratio legis der Besteuerung von NPO vgl. – bezogen auf gemeinnützige Körperschaften – nur Walz (Fn. 89), S. 204 ff.; Hüttemann, Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht, 3. Aufl. 2015, Rz. 6.68 ff.; aus dem US-amerikanischen Schrifttum grundlegend Hansmann, Virginia Law Review (1989), 605 ff. 85
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schaftlichen Tätigkeiten zur Finanzierung der ideellen satzungsmäßigen Zwecke oder der hoheitlichen Aufgaben eingesetzt werden, stellt sich die Frage, ob es anlässlich einer solchen „Gewinnüberführung“ in den ideellen oder hoheitlichen Bereich – vergleichbar der Einkommensteuerpflicht auf ausgeschüttete Gewinne von Kapitalgesellschaften – zu einer steuerlichen Nachbelastung kommen muss. Dafür lässt sich anführen, dass die Überführung von Gewinnen aus dem wirtschaftlichen Bereich in die ideelle bzw. hoheitliche Sphäre eine Art von „Konsum“ zu satzungsmäßigen Zwecken darstellt. Vor allem hätte ein Verzicht auf eine solche Nachbelastung zur Folge, dass das Ziel einer „wettbewerbsneutralen“ Besteuerung von Unternehmensgewinnen verfehlt würde. Jedenfalls erscheint eine solche Nachbelastung dann konsequent, wenn der allgemeine KSt-Satz – wie dies im geltenden Recht der Fall ist – gerade mit Rücksicht auf die Einkommensteuerpflicht von Gewinnausschüttungen deutlich abgesenkt worden ist.92 Das geltende Recht sieht daher in § 20 Abs. 1 Nr. 9 und 10 EStG eine definitive Kapitalertragsteuer vor, wenn Gewinne aus wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben bzw. Betrieben gewerblicher Art in die ideelle bzw. hoheitliche Sphäre überführt werden. Diese Besteuerung „fiktiver Gewinnausschüttungen“ ist allerdings mit erheblichen Anwendungsproblemen verbunden, weil das geltende Recht auch eine (fiktive) Rücklagenbildung berücksichtigt. Praktisch sinnvoller wäre daher eine Rückkehr zum alten Recht, das die Problematik der Nach belastung typisierend durch einen höheren Körperschaftsteuersatz auf Gewinne von Non Profit Organisationen gelöst hatte.93
3. Einkommensermittlung Das Körperschaftsteuergesetz enthält keinen eigenen Einkommensbegriff. Was als Einkommen gilt und wie das Einkommen zu ermitteln ist, bestimmt sich vielmehr nach den Vorschriften des Einkommensteuergesetzes (§ 8 Abs. 1 Satz 1 KStG). Diese Verweisung ist ein Relikt aus der Phase der Einkommensbesteuerung juristischer Personen, als für natürliche und juristische Personen im Grundsatz die gleichen Einkünfteermittlungsvorschriften galten.94 Der Gesetzgeber des KStG 1920 hat an diesem Gleichlauf bewusst festgehalten, denn er sah die Gründe für die Verselbständigung der Körperschaftsbesteuerung vorrangig im Bereich der privaten Abzüge und des Steuertarifs.95 Die Verweisung des § 8 Abs. 1 Satz 1 KStG auf das Einkommensteuergesetz findet allerdings ihre Grenze dort, wo dessen Vorschriften – wie z. B. über den Abzug von privaten Sonderausgaben (§§ 10 ff. EStG) – erkennbar nur für natürliche Personen gedacht sind oder durch besondere Vorschriften des KStG – wie z.B. über nichtabzugsfähige Aufwendungen (vgl. § 10 KStG) – verdrängt werden.96 Ein Beispiel ist der steuerliche Spendenabzug, der für natürliche Personen im Kon Vgl. Hüttemann (Fn. 88), S. 155 ff. Hüttemann, FR 2009, 308, 312; zustimmend Bott, DStZ 2015, 112, 130. 94 Zur Einkommensbesteuerung juristischer Personen vor 1920 vgl. Brinkmann (Fn. 25); Seer (Fn. 9 ), S. 6 ff. 95 Vgl. dazu Evers (Fn. 24), Einleitung, S. 51. 96 Statt vieler nur Roser in Gosch, KStG, 3. Aufl. 2016, § 8 Rz. 18; Intemann in Rödder/Herlinghaus/ Neumann, KStG, 2015, § 8 Rz. 26 ff. 92 93
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text der Sonderausgaben (§ 10b EStG) geregelt ist, bei Körperschaften hingegen Gegenstand einer gesonderten Regelung in § 9 KStG ist. Weitere Abweichungen vom Einkommensteuerrecht betreffen z.B. Aufwendungen zur Erfüllung satzungsmäßiger Zwecke, die nur bei Körperschaften denkbar sind und steuersystematisch als Form der Einkommensverwendung die Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer nicht mindern dürften (vgl. § 10 Nr. 1 KStG). Auch wenn die Verweisung in § 8 Abs. 1 KStG auf den Einkünftekatalog des § 2 EStG grundsätzlich alle Einkunftsarten umfasst, steht doch außer Frage, dass juristische Personen z.B. keine Einkünfte aus „nichtselbständiger Tätigkeit“ erzielen können.97 Für buchführungspflichtige Körperschaften – vor allem für Kapitalgesellschaften – enthält § 8 Abs. 2 KStG zudem eine wesentliche Modifikation. Danach gelten bei diesen Körperschaften alle Einkünfte als „Einkünfte aus Gewerbebetrieb“. Diese Fiktion geht auf die Rechtsprechung des RFH zurück98 und dient in erster Linie der Vereinfachung. Sie hat zur Folge, dass alle Einkünfte von buchführungspflichtigen Körperschaften als gewerbliche Einkünfte durch Betriebsvermögensvergleich zu ermitteln sind (§§ 4, 5 EStG). Rechtsprechung und Finanzverwaltung gehen sogar noch einen Schritt weiter und leiten aus § 8 Abs. 1 KStG ab, dass eine Kapitalgesellschaft überhaupt keine steuerliche „Privatsphäre“ haben könne, so dass nach dieser Ansicht grundsätzlich alle Erträge und Aufwendungen körperschaftsteuerrechtlich relevant sind.99 Indes ist gerade vor dem Hintergrund eines einheitlichen Einkommensbegriffs nicht recht verständlich, weshalb die einkommensteuerlichen Liebhabereigrundsätze bei Kapitalgesellschaften nicht zur Anwendung kommen sollen.100 Schon bald nach Einführung des KStG 1920 hat sich gezeigt, dass sich bei der Einkommensermittlung von juristischen Personen – und insbesondere von Kapitalgesellschaften – besondere Fragen der Abgrenzung zwischen der Gesellschafts- und der Gesellschaftersphäre stellen, die bei natürlichen Personen nicht vorkommen können. Ein erster Problemkreis betrifft sog. verdeckte Gewinnausschüttungen, die – wie es in § 8 Abs. 3 Satz 1 KStG heißt – „für die steuerliche Ermittlung des Einkommens ohne Bedeutung“ sind. Da Gesellschafter mit ihrer Gesellschaft zivilrechtlich wirksame Austauschverträge schließen können, die grundsätzlich auch steuerlich anzuerkennen sind, bestand insbesondere in der Phase der steuerlichen Doppelbelastung ausgeschütteter Gewinne ein steuerlicher Anreiz, den Gewinn der Gesellschaft nicht „offen“ auszuschütten, sondern in „verdeckter Form“ (also z.B. durch Einräumung einer überhöhten Geschäftsführervergütung) an den Gesellschafter auszukehren.101 Als Reaktion auf solche Gestaltungen hat der RFH schon früh das Institut der verdeckten Gewinnausschüttung entwickelt, die steuerlich wie eine offene Ausschüttung behandelt wird.102 Diese Rechtsprechung ist durch das KStG 1934 in das 97 Zu den relevanten Einkunftsarten bei juristischen Personen außerhalb von § 8 Abs. 2 KStG vgl. näher Intemann (Fn. 96), § 8 Rz. 32. 98 Vgl. RFH-Urteil v. 19.10.1927 – I A 3/27, RStBl. 1928, 6; RFH-Urteil v. 13.3.1928 – I A 395/27 S, RStBl. 1929, 521. 99 Ständige Rechtsprechung seit BFH-Urteil v. 4.12.1996 – I R 54/95, BFH/NV 1997, 190; zuletzt BFH-Urteil v. 22.8.2007 – I R 32/06, BStBl. II 2007, 961. 100 Vgl. die Kritik an der Rechtsprechung bei Hüttemann in Kirchhof u.a. (Hrsg.), FS Raupach, 2006, S. 495; Roser (Fn. 96), § 8 Rz. 74; Birk, BB 2009, 860; Weber-Grellet, BB 2014, 2263. 101 Zur Motivation einer „verdeckten“ Gewinnauskehrung vgl. nur Seer (Fn. 9 ), S. 58. 102 RFH-Urteil v. 15.7.1925 – AI A 36/20, RFHE 17, 91, 95; zur Entwicklung des Rechtsinstituts
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Gesetz aufgenommen. Wie ein Blick auf die umfangreiche Kasuistik der Rechtsprechung zeigt, kommt diesem Rechtsinstitut auch heute noch eine erhebliche praktische Bedeutung zu.103 Ein weiteres Problem bei Kapitalgesellschaften ist die unterschiedliche steuerliche Belastung von Gewinnausschüttungen und Fremdkapitalvergütungen. Diese ergibt sich gegenwärtig daraus, dass Gewinnausschüttungen sowohl mit Körperschaftsteuer und Abgeltungsteuer, Fremdkapitalzinsen hingegen – wegen ihrer Abzugsfähigkeit auf Gesellschaftsebene – lediglich mit Abgeltungsteuer belastet sind.104 Auch dieses Problem stellt sich bei natürlichen Personen und Personengesellschaften nicht, weil Darlehensgewährungen an sich selbst beim Einzelunternehmer schon zivilrechtlich nicht möglich sind und solche „Sondervergütungen“ bei Personengesellschaften wie Gewinne behandelt werden (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 2. Halbs. EStG). Be sondere Fragen stellen sich schließlich bei Gewinnverlagerungen über die Grenze durch eine übermäßige Gesellschafterfremdfinanzierung – insbesondere zwischen verbundenen Unternehmen.105 Nachdem der EuGH es dem deutschen Gesetzgeber untersagt hat, solche Gestaltungen – wie früher in § 8a KStG a.F. vorgesehen – nur im grenzüberschreitenden Fall zu bekämpfen,106 kam es 2008 zur Einführung einer sog. Zinsschranke, die ganz allgemein – also bei jeder Fremdfinanzierung unabhängig vom Gläubiger und auch im reinen Inlandsfall – den Abzug von Zinsaufwendungen einschränkt.107 Inzwischen haben sich nicht nur viele andere Länder, sondern sogar die EU diesem Ansatz angeschlossen,108 dessen verfassungsrechtliche Zulässigkeit allerdings in Deutschland weiterhin umstritten ist.109 Im Rahmen der Körperschaftsteuer stellt sich schließlich noch ein weiteres Problem, das in dieser Form nur bei Kapitalgesellschaften denkbar ist. Es geht um einen möglichen „Handel“ mit steuerlichen Verlustvorträgen, auch „Mantelkauf “ genannt.110 Da das Körperschaftsteuerrecht über die Verweisung in § 8 Abs. 1 KStG – in den Grenzen der sog. „Mindestbesteuerung“ – einen periodenübergreifenden Verlustabzug nach § 10d EStG ermöglicht, stellt sich die Frage, ob ein steuerlicher Verder verdeckten Gewinnausschüttung vgl. näher Fröhlich, Die verdeckte Gewinnausschüttung, 1968; Oppenländer, Verdeckte Gewinnausschüttung, 2004. 103 Siehe statt vieler nur die umfangreichen Kommentierungen bei Gosch in Gosch, KStG, 3. Aufl. 2015, § 8 Rz. 550 ff. und Neumann in Rödder/Herlinghaus/Neumann, KStG, 2015, § 8 Rz. 129 ff. 104 Umfassend zur unterschiedlichen steuerlichen Behandlung von Eigen- und Fremdkapital Schön (Hrsg.), Eigen- und Fremdkapital, 2013; rechtsvergleichend Röder in Sieker (Hrsg.), DStJG Bd. 39 (2016), S. 307. 105 Zur Gesellschafterfremdfinanzierung siehe nur Marquart in Schön(Hrsg.), Eigen- und Fremdkapital, 2013, S. 125 mit rechtsvergleichenden Hinweisen. 106 EuGH-Urteil v. 12.12.2002 – Rs. C-324/00 Lankhorst-Hohorst, Slg. 2002, I-11802. 107 Zur Wirkungsweise der Zinsschranke nach § 4h EStG und § 8a KStG vgl. statt vieler Dorenkamp in Hüttemann (Hrsg.), DStJG Bd. 33 (2010), S. 301; Stangl in Rödder/Herlinghaus/Neumann, KStG, 2015, § 8a Rz. 31 ff.; monographisch Bohn, Zinsschranke und Alternativmodelle zur Beschränkung des steuerlichen Zinsabzugs, 2009. 108 Vgl. nur Art. 4 der Richtlinie EU 2016/1164 v. 12.7.2016, ABl.EU L 193 v. 19.7.2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts. 109 Siehe die Richtervorlage des I. Senats des BFH v. 14.10.2015 – I R 20/15, DB 2016, 321. 110 Siehe den Überblick über die Rechtsentwicklung zur Verlustnutzung bei Körperschaften vor 2008 bei Dötsch in Spindler u.a. (Hrsg.), FS Schaumburg, 2009, S. 253; zur Entwicklung des § 8c KStG siehe die Nachweise bei Suchanek in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 8c KStG Rz. 2 ff.
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lustvortrag wegen der rechtlichen Identität der Körperschaft auch dann noch genutzt werden kann, wenn es zu einem grundlegenden Gesellschafterwechsel kommt und die Neugesellschafter die Gesellschaft durch Zuführung von Mitteln wirtschaftlich wiederbelebt haben. Der BFH hatte darin zunächst einen steuerlichen Gestaltungsmissbrauch gesehen111 und später die Versagung des Verlustabzuges damit begründet, dass die Altgesellschaft nach dem Wechsel der Anteilseigner und der Eigenkapitalzufuhr nicht mehr mit der Neugesellschaft „wirtschaftlich identisch“ sei.112 Nachdem der BFH unter dem Eindruck der Kritik im Schrifttum113 diese Rechtsprechung in den 80er Jahre aufgegeben hatte114 und eine gesetzliche Verankerung der früheren Rechtsprechung in § 8 Abs. 4 KStG a.F. aus Sicht des Gesetzgebers nicht die erhoffte Wirkung hatte, kam es 2008 zu einer radikalen Änderung: Seither bestimmt § 8c KStG, dass die Übertragung von mehr als 50 Prozent der Anteile oder Stimmrechte zu einem vollständigen Untergang des Verlustabzugs führt. Bemerkenswert ist, dass der Gesetzgeber diesen – im Schrifttum wohl einheitlich als überschießend kritisierten115 – Paradigmenwechsel damit begründet hat, dass „sich die wirtschaftliche Identität einer Gesellschaft durch das wirtschaftliche Engagement eines anderen Anteilseigners ändert“.116 Gleichzeitig ist es aber trotz dieser Durchbrechung des Trennungsprinzips dabei geblieben, dass Verluste der Kapitalgesellschaft nicht bei den Anteilseignern berücksichtigt werden können. 2010 ist die Regelung durch eine Konzernklausel und den Verlusterhalt in Höhe der vorhandenen stillen Reserven „entschärft“ worden.117 Der Versuch des Gesetzgebers, für Anteilswechsel im Zusammenhang mit Unternehmenssanierungen Ausnahmen vorzusehen, ist inzwischen am europäischen Beihilfenrecht gescheitert.118
4. Steuertarif Zu den wesentlichen Gründen, die den Gesetzgeber des KStG 1920 zur Verselbstständigung der Einkommensbesteuerung juristischer Personen bewogen haben, gehörte auch die Abkehr vom progressiven Einkommensteuertarif, der für „nichtphysische Personen“ als unpassend empfunden wurde.119 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Steuersätze in der Weimarer Republik um ein Vielfaches höher lagen als zu Zeiten des Kaiserreichs,120 weshalb die Tarifstruktur erheblich an Bedeutung gewonnen hatte. Die Entscheidung zugunsten eines proportionalen KSt-Tarifs wird auch 111 Vgl. BFH-Urteile v. 8.1.1958 – I 131/57 U, BStBl. III 1958, 97 und v. 27.9.1961 – I 6/60 U, BStBl. III 1961, 540. 112 Ständige Rechtsprechung seit dem BFH -Urteil v. 15.2.1966 – I 112/63, BStBl. III 1966, 289. 113 Kritisch etwa Knobbe-Keuk, StuW 1974, 350, 357; dies. (Fn. 29), § 16 VII. 114 BFH-Urteil v. 29.10.1986 – I R 318 - 319/83, BStBl. II 1987, 310. 115 Siehe statt vieler nur die Kritik bei Desens (Fn. 43), Einf. KSt Anm. 92; Hey, GmbHR 2008, 404. 116 BT-Drucks. 16/4841 v. 27.3.2007, S. 76; siehe auch Möhlenbrock in Hüttemann (Hrsg.), DStJG Bd. 33, S. 345 ff. 117 Dazu Suchanek (Fn. 110), Rz. 3, 6. 118 Siehe zuletzt das Urteil des EuG v. 4.2.2016 – T 287/11 Heitkamp Bau Holding, GmbHR 2016, 384 und T 620/11 GFKL Financial Services, IStR 2016, 390. 119 Vgl. Begründung zum KStG 1920, abgedruckt bei Evers (Fn. 24), S. 53. 120 So betrug der Spitzensteuersatz der preußischen Einkommensteuer 4 Prozent.
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heute noch als richtig angesehen, denn die übliche „opfertheoretische“ Begründung steigender Steuersätze und andere Tarifelemente wie z.B. ein Grundfreibetrag ergeben bei juristischen Personen keinen Sinn, weil diese weder über eine Konsumfähigkeit verfügen noch existenznotwendige Aufwendungen haben.121 Nichts anderes gilt, wenn man die Steuerprogression mit sozialpolitischen Erwägungen begründet, denn Umverteilungsziele beziehen sich richtigerweise nur auf natürliche Personen und nicht auf juristische Personen.122 Dies schließt nicht aus, dass man sich aus anderen Gründen für einen progressiven KSt-Tarif entscheidet (z.B. zur Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen oder zur Verhinderung von Monopolstrukturen), allerdings widerstreitet ein solcher Tarif der Wettbewerbsgleichheit123. Zudem ist nicht zu übersehen, dass Körperschaften einer solchen Progression relativ einfach durch Aufspaltung in mehrere kleine Einheiten ausweichen können.124 Betrachtet man die tatsächliche Höhe des KSt-Satzes seit 1920, so lassen sich verschiedene Entwicklungsphasen unterscheiden.125 Während der Steuersatz in den Anfangsjahren der Weimarer Republik bei lediglich 10 bzw. 20 Prozent gelegen hat, was wegen des deutlichen höheren ESt-Spitzensatzes von 60 Prozent eine „Flucht in die GmbH“ auslöste, kam es in der NS-Zeit zu einer kontinuierlichen Anhebung des Steuersatzes bis zu 55 Prozent, was – wegen der ungemilderten Doppelbelastung des ausgeschütteten Gewinns – die Umwandlung in Personenunternehmen erheblich begünstigte. In der Nachkriegszeit führte der gespaltene Steuersatz für einbehaltene und ausgeschüttete Gewinne in Kombination mit einem niedrigeren Sondersteuersatz für „personenbezogene“ Kapitalgesellschaften zu einer unübersichtlichen Tarifstruktur, die im 1977 eingeführten Anrechnungsverfahren durch einen – an den Einkommensteuerspitzensatz angenäherten – Thesaurierungssteuersatz (zunächst 56 Prozent) und einen niedrigeren Ausschüttungssteuersatz (zunächst 36 Prozent) abgelöst wurde. Da die Körperschaftsteuer auf die Einkommensteuer vollständig angerechnet wurde, entwickelte sich in der Praxis das sog. „Schütt-Aus-Hol-ZurückVerfahren“, mit dem gerade bei mittelständischen Kapitalgesellschaften die Belastung einbehaltener Gewinne auf das persönliche Steuersatzniveau der Anteilseigner herabgeschleust wurde.126 Heute liegen die Dinge genau umgekehrt und die – im Vergleich zur Einkommensteuer eher niedrigere – proportionale Belastung von Kapitalgesellschaftsgewinnen mit lediglich 29,83 Prozent (KSt und GewSt) führt zu einem „Lock-in-Effekt“, der vor allem eine Thesaurierung von Gewinnen begünstigt.127 Insgesamt zeigt der Rückblick auf die Entwicklung der Steuersätze, wie schwierig es ist, außerhalb eines Anrechnungssystems eine „Tarifneutralität“ zwischen Personenunternehmen und Kapitalgesellschaften herzustellen.
Dazu statt vieler nur Desens (Fn. 43), Einf. KSt Anm. 7. Siehe nur Pezzer in Lang (Hrsg.), FS Tipke, 1995, 419, 430. 123 Ossenbühl, Die gerechte Steuerlast, 1972, S. 125. 124 Vgl. Reiß in Wassermeyer (Hrsg.), DStJG Bd. 17 (1994), S. 3, 19. 125 Siehe die Übersicht über die Entwicklung des KSt-Satzes bei Desens (Fn. 43), Dok. KSt Anm. 5 ff. 126 Dazu Knobbe-Keuk (Fn. 29), § 17 V. 127 Statt vieler nur Schön (Fn. 43), S. 243. 121
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IV. Behandlung juristischer Personen bei anderen Einzelsteuern Im Unterschied zur Einkommensbesteuerung juristischer Personen, die – wie dargelegt – zahlreiche Sonderfragen aufwirft, gestaltet sich die Einbeziehung juristischer Personen bei den anderen Steuerarten erheblich einfacher. Dies liegt daran, dass die Körperschaftsteuer eine Personensteuer ist, die das Einkommen der juristischen Person als „Person“ erfasst, so dass bei ihrer Ausgestaltung die Unterschiede zu natürlichen Personen besonders deutlich hervortreten. Demgegenüber werden juristische Personen bei anderen Einzelsteuern lediglich auf Grund der zivilrechtlichen Zuordnung eines bestimmten Steuergegenstandes als „Steuerschuldner“ in Anspruch genommen, ohne dass es für diese Steuerpflicht juristischer Personen weiterer besonderer Regelungen bedarf.128 Betrachtet man zunächst die Erbschaft- und Schenkungsteuer, die als Steuer auf Einkommenstransfers durchaus eine gewisse Nähe zur Einkommensteuer aufweist,129 so erfasst diese auch Erbschaften von und Schenkungen an juristische Personen, wobei der Erwerb mangels eines „natürlichen“ Verwandtschaftsverhältnisses im Regelfall der Steuerklasse III zugeordnet wird. Allerdings sind Zuwendungen an bestimmte juristische Personen (z.B. die öffentliche Hand, Kirchen und gemeinnützige Einrichtungen) von der Steuer befreit.130 Im vorliegenden Kontext ist vor allem die 1974 eingeführte Erbersatzsteuer von Interesse (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG), mit der eine „Umgehung“ der Erbschaftsteuer durch die Errichtung von Familienstiftungen verhindert werden soll.131 Der Gesetzgeber begegnet dieser „privaten Erbrechtssetzung“132 dadurch, dass das Stiftungsvermögen alle 30 Jahre wie bei einer „fiktiven“ Erbfolge besteuert wird.133 Wie bereits erwähnt sind juristische Personen bei Objektsteuern – z.B. der Gewerbe- und Grundsteuer – von Anfang an in die Steuerpflicht einbezogen worden. An dieser Rechtslage hat sich bis heute nichts geändert. So gilt als Steuerschuldner der Gewerbesteuer „der, für dessen Rechnung das Gewerbe betrieben wird“ (§ 5 Abs. 1 Satz 1 GewStG). Steuerschuldner der Grundsteuer ist, wem „der Steuergegenstand bei der Feststellung des Einheitswerts zugerechnet ist“ (§ 10 Abs. 1 GrStG). Während die Grundsteuer lediglich im Bereich der Steuerbefreiungen spezielle Vorschriften für bestimmte juristische Personen enthält,134 finden sich im Gewerbesteuerrecht zahlreiche rechtsformabhängige Sonderregelungen, z.B. in Hinsicht auf den Begriff des Gewerbebetriebs (§ 2 Abs. 2 GewStG), den Gewerbeertrag (§ 7 Satz 2 GewStG) und die Hinzurechnungen und Kürzungen (§§ 8, 9 GewStG).135 Allgemein ist fest128 Auf diese Unterschiede zwischen Objekt- und Einkommensteuer ist im Schrifttum bereits im 19. Jahrhundert hingewiesen worden, vgl. nur Hecht (Fn. 11), S. 41. 129 Zum systematischen Verhältnis der Erbschaftsteuer zur Einkommensteuer vgl. nur Seer in Tipke/ Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 15 Rz. 1 ff. 130 Siehe näher § 13 Abs. 1 Nr. 16 ErbStG. 131 Vgl. BT-Drucks. 7/1333, S. 3. 132 Dazu grundlegend Dutta, Warum Erbrecht, 2014. 133 Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit vgl. BVerfG v. 8.3.1983 – 2 BvL 27/81, BVerfGE 63, 312; BVerfG v. 22.8.2011 – 1 BvR 2570/10, HFR 2011, 1247. 134 Vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 1 GrStG. 135 Siehe etwa die Kürzungsvorschrift des § 9 Nr. 2a GewStG zur Verhinderung einer Doppelbelastung ausgeschütteter Gewinne von Kapitalgesellschaften bei einer Schachtelbeteiligung von 15 %.
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zustellen, dass die Einbeziehung von juristischen Personen bei Objektsteuern durch den Belastungsgrund vorgezeichnet ist. Die kommunale Gewerbe- und Grundsteuer beruhen nach herkömmlichem Verständnis auf dem Äquivalenzprinzip, d.h. die lokal verortete objektive Leistungskraft eines Gewerbebetriebs bzw. der Sollertrag eines Grundbesitzes soll ohne Berücksichtigung der Lebensverhältnisse des zivilrechtlichen Eigentümers zur Besteuerung herangezogen werden.136 Vor diesem Hintergrund gibt es keinen Anlass, solche Objekte aus der Besteuerung auszuklammern, die nach der Zivilrechtsordnung nicht natürlichen, sondern juristischen Personen zuzuordnen sind. Zu den Steuern, die hinsichtlich der Person des Steuerschuldners nicht zwischen natürlichen Personen, Personengesellschaften und juristischen Personen unterscheiden, zählt auch die Umsatzsteuer, die an den Begriff des „Unternehmers“ anknüpft. Unternehmer ist nach § 2 Abs. 1 Satz 1 UStG, „wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt“. Diese „rechtsformneutrale“ Anknüpfung setzt den Belastungsgrund der Umsatzsteuer konsequent um, denn die Umsatzsteuer zielt auf die Belastung des privaten Konsums und die Steuerpflicht des Unternehmers dient lediglich dazu, eine solche Belastung auf indirektem Wege sicherzustellen, zumal unterstellt wird, dass der Unternehmer die Umsatzsteuer über den Preis auf den Abnehmer „überwälzen“ kann.137 Die „Rechtsformneutralität“ gehört daher nach der Rechtsprechung des EuGH zu den zentralen Grundsätzen des europäischen Mehrwertsteuerrechts.138 Dies bedeutet allerdings nicht, dass das geltende Recht auf jegliche Sonderregelungen für juristische Personen verzichten würde. Hinzuweisen ist zum einen auf die Einschränkung der Unternehmereigenschaft für juristische Personen des öffentlichen Rechts (§ 2b UStG) und zum anderen auf die Regelungen zur Organschaft (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG). Auf beides wird noch zurückzukommen sein.139
V. Querschnittsfragen der Steuerpflicht juristischer Personen 1. Beginn und Ende der Steuerpflicht Während bei natürlichen Personen der Beginn und das Ende der Steuerpflicht eindeutig durch Geburt und Tod bestimmt werden,140 stellen sich bei juristischen Personen gewisse Sonderfragen, die letztlich nur unter Berücksichtigung der zivilrechtlichen Entstehungs- und Beendigungsbedingungen einerseits und den Prinzipien der jeweiligen Einzelsteuer beantwortet werden können.141 Im Rahmen der Körperschaftsteuer ist z.B. umstritten, ob die Besteuerung einer Kapitalgesellschaft „als Ka Dazu statt vieler nur Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 16 Rz. 1. Zur Umsatzsteuer als „indirekter“ Steuer und der Rolle des Unternehmers als „Steuereinnehmer“ vgl. nur Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 12. 138 Vgl. EuGH-Urteil v. 7.7.1999 – Rs. C-216/97 Gregg, Slg. 1999, I-4947; EuGH-Urteil v. 6.11.2003 – Rs. C-45/01 Christoph-Dornier-Stiftung, Slg. 2003, I-13859; aus dem Schrifttum zum Neutralitätsgrundsatz siehe Henze, UStKongrBericht 2010, S. 7. 139 Unten V. 3 und 4. 140 Vgl. dazu nur Tiede in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 2016, § 1 EStG Rz. 53. 141 Übergreifend zu Steuerfragen der Vorgesellschaft Hamm, Vorgesellschaften im Steuerrecht, 2013. 136
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pitalgesellschaft“ (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 1 KStG) erst mit Eintragung in das Handelsregister beginnt oder bereits das Stadium der Vorgesellschaft umfasst.142 Wenn man berücksichtigt, dass die Vorgesellschaft (anders als die Vorgründungsgesellschaft) mit der durch Eintragung entstehenden Kapitalgesellschaft rechtlich identisch ist143 und dem zufälligen Zeitpunkt der Eintragung in Hinsicht auf die Einkünfteerzielung und -ermittlung keine Relevanz zukommen kann, dann sprechen die besseren Gründe für die Ansicht der Rechtsprechung, dass die KSt-Pflicht bei erfolgter Eintragung auf das Stadium der Vorgesellschaft zurückwirkt, soweit es bereits zur Aufnahme einer Geschäftstätigkeit gekommen ist.144 Umgekehrt steht außer Frage, dass die Steuerpflicht einer Kapitalgesellschaft nicht mit Auflösung, sondern erst mit dem Erlöschen des Rechtsträgers nach Abschluss des Liquidationsverfahrens endet. Hier ergibt sich aber zusätzlich das Problem, dass es infolge des zeitlich begrenzten Verlustrücktrags zu „finalen“ Verlusten kommen kann, die nach dem Erlöschen der juristischen Person steuerlich endgültig nicht mehr berücksichtigt werden können. Dies ist einer der Gründe, weshalb § 11 KStG abweichend von der normalen jährlichen Gewinnermittlung einen in der Regel dreijährigen besonderen Gewinnermittlungszeitraum vorsieht.145 Während es bei der Körperschaftsteuer vor allem um eine „einheitliche“ Gewinnermittlung über die Lebensdauer der juristischen Person geht, kommt bei der Umsatzsteuer dem sog. Neutralitätsgrundsatz in der Gründungsphase eine überragende Bedeutung zu.146 Die europäisch harmonisierte Mehrwertsteuer soll lediglich den privaten Verbrauch belasten, weshalb dem Unternehmer, der lediglich als „Steuereinsammler“ tätig wird, ein Recht zum Vorsteuerabzug eingeräumt wird, soweit er steuerbelastete Eingangsleistungen für sein Unternehmen bezieht. Um die angestrebte Neutralität der Umsatzsteuer auch im Gründungsstadium zu gewährleisten, gewährt der EuGH nicht nur für Umsätze vor Aufnahme der Geschäftstätigkeit einen Vorsteuerabzug,147 sondern hat den Vorsteuerabzug sogar auf Umsätze einer Vorgründungsgesellschaft ausgedehnt, wenn deren Vorleistungen dem Geschäftsbetrieb der später entstehenden Kapitalgesellschaft zugutekommen sollen.148 Wie die Beispiele aus dem Körperschaft- und Umsatzsteuerrecht zeigen, reicht es für die steuerliche Behandlung von Kapitalgesellschaften nicht aus, aus den zivilrechtlichen Vorgaben betreffend die Gründung und Beendigung juristischer Personen ein bestimmtes Modell für deren steuerliche Behandlung zu entwickeln, sondern es muss auch den Besonderheiten der jeweiligen Einzelsteuer hinreichend Rechnung getragen werden.
Dazu aus dem Schrifttum näher Hüttemann in Gocke u.a. (Hrsg.), FS Wassermeyer, 2005, S. 27; Martini, DStR 2011, 337; weitere Nachweise zum Streitstand bei Hamm (Fn. 141), S. 9 ff. 143 Ständige Rechtsprechung seit BGH v. 9.3.1981, BGHZ 80, 129. 144 BFH v. 18.3.2010 – IV R 88/06, BStBl. II 2010, 991. 145 Eingehend zur Körperschaftsbesteuerung in der Liquidation Bergmann, Liquidationsbesteuerung von Kapitalgesellschaften, 2012. 146 Dazu Hamm (Fn. 141), S. 199 ff. 147 Grundlegend EuGH-Urteil v. 14.2.1985 – Rs. 268/83, Slg. 1985, 665 Rompelman. 148 EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-137/02, Slg. 2004, I-5547 Faxworld GbR. 142
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2. Persönliche Steuerbefreiungen Die Einbeziehung von juristischen Personen in die Einkommensbesteuerung und weitere Einzelsteuern (z.B. Gewerbe- und Grundsteuern) hat zu der Frage geführt, ob bestimmte Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen mit Rücksicht auf ihre Satzungszwecke von der Besteuerung auszunehmen sind. Während dem geltenden Einkommensteuerrecht persönliche Steuerbefreiungen für natürliche Personen ganz fremd sind, enthält das KStG in § 5 KStG einen langen Katalog von steuerbefreiten Einrichtungen, zu denen neben öffentlichen Banken (z.B. der Deutschen Bundesbank) auch Berufsverbände,149 gemeinnützige Organisationen150 und politische Parteien151 zählen. Ähnliche Befreiungen finden sich auch im Gewerbesteuer- und Grundsteuerrecht, während das Umsatzsteuerrecht – seiner Teleologie als indirekter Steuer folgend – praktisch nur sachliche Steuerbefreiungen kennt (vgl. § 4 UStG). Zu beachten ist, dass viele persönliche Steuerbefreiungen zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen auf „passive“ Einkünfte beschränkt sind (vgl. etwa § 5 Abs. 1 Nr. 9 Satz 2 KStG).152 Die Tatsache, dass für juristische Personen zahlreiche persönliche Steuerbefreiungen existieren, lässt sich wiederum auf Unterschiede zwischen natürlichen und juristischen Personen zurückführen. Während persönliche Steuerbefreiungen für natürliche Personen insbesondere bei der Einkommensteuer dem Prinzip der Allgemeinheit der Besteuerung zuwiderlaufen würden, politisch kaum durchsetzbar sind und auch vor dem Gleichheitssatz wohl kaum zu rechtfertigen wären,153 gestaltet sich die Situation bei juristischen Personen grundsätzlich anders. Im Unterschied zu natürlichen Personen, die immer auch private Lebenszwecke verfolgen, können juristische Personen nach ihrer Satzung auf die ausschließliche Verfolgung gemeinwohlrelevante Zwecke gerichtet sein, so dass eine steuerliche Entlastung gerechtfertigt erscheint. Beispielhaft erwähnt seien gemeinnützige Einrichtungen, die im Rahmen der Körperschaft-, Gewerbe- und Grundsteuer steuerlich privilegiert werden.154 Gleichzeitig ermöglicht es die rechtliche Verselbständigung dieser Einrichtungen dem Steuerrecht, seine „Subventionsbedingungen“ nicht nur in tatsächlicher Hinsicht, sondern auch auf der Ebene der Satzung zu verankern (vgl. §§ 59, 60 AO). Auf diese Weise wirkt das steuerliche Gemeinnützigkeitsrecht über seine Funktion als steuerliches Subventionsrecht auch auf die Organisationsverfassung zahlloser Non-Profit-Organisationen ein.155
Dazu Alvermann, FR 2006, 262; Kühner, Die Steuerbefreiung der Berufsverbände, 2009. Zur Steuerbefreiung von gemeinnützigen Organisationen vgl. Hüttemann (Fn. 91), Rz. 1.25 ff. 151 Zum Steuerstatus der politischen Parteien Hüttemann, FS Lang, 2010, S. 321. 152 Zur partiellen Steuerpflicht vgl. nur Hüttemann in Kohl u.a. (Hrsg.), GS Walz, 2008, S. 267. 153 Dazu nur Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 115 ff. 154 Dazu Hüttemann (Fn. 91), Rz. 1.26 ff. 155 Zu dieser Besonderheit des Gemeinnützigkeitsrechts zuletzt Hüttemann, FR 2016, 969. 149
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3. Steuerpflicht von juristischen Personen des öffentlichen Rechts Die Rechtsordnung kennt neben den juristischen Personen des Privatrechts auch solche, die ihre Rechtsfähigkeit dem öffentlichen Recht verdanken. Zu diesen „juristischen Personen des öffentlichen Rechts“ gehören neben Bund, Ländern und Gemeinden auch staatliche Körperschaften, Stiftungen und Anstalten sowie die kirchlichen Religionsgemeinschaften mit Körperschaftsstatus. Sie werden in den Einzelsteuergesetzen nicht einfach den privatrechtlichen juristischen Personen gleichgestellt, sondern unterliegen – zumal sie vielfach selbst Steuergläubiger sind – eigenen Besteuerungsregeln.156 So sind z.B. juristische Personen des öffentlichen Rechts nach § 1 Abs. 1 Nr. 6 KStG nur mit ihren „Betrieben gewerblicher Art“ unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtig, während eine Gewerbesteuerpflicht nach § 2 GewStDV die Unterhaltung einen stehenden Gewerbebetriebs voraussetzt. Die Grundsteuer befreit in § 3 Abs. 1 Nr. 1 GrStG den „für einen öffentliche Gebrauch“ genutzten Grundbesitz der öffentlichen Hand und das europäische Mehrwertsteuerrecht macht die Unternehmereigenschaft von juristischen Personen des öffentlichen Rechts nach Art. 13 MwStSystRL von der Handlungsform und der Gefahr größerer Wettbewerbsverzerrungen abhängig.157 Hinter allen diesen Sonderregelungen verbirgt sich in der Sache ein Zielkonflikt:158 Auf der einen Seite spricht der Umstand, dass die öffentliche Hand in der Regel Steuergläubiger und nicht Steuerschuldner ist, für eine großzügige Verschonung öffentlicher Einrichtungen, auch um die föderale Verteilung der Steuerquellen zu respektieren und eine „Gegenseitigkeitsbesteuerung“ verschiedener Hoheitsträger möglichst zu vermeiden. Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, dass eine Nichtbesteuerung öffentlicher Unternehmen diesen einen steuerlichen Wettbewerbsvorteil im Verhältnis zu nicht begünstigten Unternehmen der privaten Wirtschaft verschaffen würde. Das geltende Recht versucht seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts beiden Anliegen durch ein Besteuerungsregime Rechnung zu tragen, das sich beispielhaft an den Vorschriften des Körperschaftsteuerrechts verdeutlichen lässt: Nach § 1 Abs. 1 Nr. 6 KStG unterliegt die öffentliche Hand nur mit ihren „Betrieben gewerblicher Art“ der Körperschaftsteuer, während der hoheitliche Bereich und die Vermögensverwaltung nicht steuerpflichtig sind.159 Die Grenze zwischen Steuerpflicht und Nichtbesteuerung wird also letztlich durch die Wettbewerbsrelevanz einer wirtschaftlichen Tätigkeit gezogen und der BFH stellt für das Vorliegen eines steuerpflichtigen „Betriebs gewerblicher Art“ i.S. von § 4 Abs. 1 KStG entscheidend darauf ab, ob die öffentlich Hand eine Tätigkeit ausführt, wie sie auch private Unternehmen durchführen könnten.160 Weitere körperschaftsteuerliche Zu den Anfängen vgl. Hensel, StuW 1930, 873; für einen Überblick über die heutige Rechtslage vgl. Hüttemann (Fn. 88), S. 19 ff. 157 Dazu eingehend Wiesch, Die umsatzsteuerliche Behandlung der öffentlichen Hand, 2016. 158 Dazu näher Hüttemann (Fn. 88), S. 5 ff. 159 Zur Körperschaftsteuerpflicht von juristischen Personen des öffentlichen Rechts vgl. Seer, DStR 1992, 751; Seer/Klemke, DStR 2001, 825; Siegel, Der Begriff des Betriebs gewerblicher Art im Körperschaft- und Umsatzsteuerrecht, 1999; Hüttemann (Fn. 88), S. 24 ff. 160 Vgl. etwa BFH v. 29.10.2008 – I R 51/07, BStBl. III 2009, 1022; BFH v. 3.2.2010 – I R 8/09, BStBl. II 2010, 592; ferner Seer/Klemke, BB 2010, 2015; Hüttemann (Fn. 88), S. 75 ff. 156
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Besonderheiten gelten auch für die Einkommensermittlung bei Betrieben gewerblicher Art. Diese ist – abweichend vom Wortlaut des § 1 Abs. 1 Nr. 6 KStG – nicht auf die Trägerkörperschaft, sondern auf jeden einzelnen Betrieb gewerblicher Art bezogen,161 und folgt einem anderen Einkommensbegriff, der keine Gewinnerzielungsabsicht verlangt (§ 8 Abs. 1 Satz 2 KStG). Letztere Besonderheit ist im Zusammenhang mit § 4 Abs. 6 KStG zu sehen, der unter bestimmten Voraussetzungen eine Zusammenfassung von profitablen Betrieben mit dauerdefizitären Betrieben erlaubt (ein solcher „Querverbund“ erfolgt z.B. zwischen gewinnträchtigen kommunalen Energieversorgungs- und defizitären Verkehrsbetrieben).162 Ähnliches gilt – aus Gründen der Gleichbehandlung von Eigenbetrieben und Tochtergesellschaften – nach § 8 Abs. 7 bis 9 KStG auch für Kapitalgesellschaften der öffentlichen Hand mit unterschiedlichen Geschäftsfeldern. Auch das europäische Mehrwertsteuerrecht enthält eine besondere Vorschrift über die Steuerpflicht von juristischen Personen des öffentlichen Rechts, stellt aber für die Unternehmereigenschaft nicht auf die Art der Tätigkeit, sondern vorrangig auf die Handlungsform ab:163 Während eine auf privatrechtlicher Grundlage erfolgende Tätigkeit der öffentlichen Hand – z.B. eine Vermietung von Räumen – stets als „unternehmerische“ Betätigung anzusehen ist, sind hoheitliche Tätigkeiten nach Art. 13 MwStSystRL nur umsatzsteuerbar, wenn die Gefahr „größerer Wettbewerbsverzerrungen“ besteht, wobei nach der Rechtsprechung des EuGH bereits ein potentieller Wettbewerb schädlich ist.164 Diese Rechtslage hat der deutsche Gesetzgeber nach langem Zögern165 durch Einfügung eines neuen § 2b UStG in das nationale Umsatzsteuerrecht übernommen.166 Die Einsicht, dass die Besteuerung von wirtschaftlichen Tätigkeiten juristischer Personen der öffentlichen Hand bei der Körperschaft- und Umsatzsteuer nicht in erster Linie dem fiskalischen Allgemeininteresse, sondern vor allem der Wettbewerbsneutralität im Verhältnis zur privaten Konkurrenz dient, hat schließlich zur Folge, dass die Finanzgerichte in diesem Bereich bei einer rechtswidrigen Nichtbesteuerung ausnahmsweise eine steuerrechtliche Konkurrentenklage samt Auskunftsanspruch zugelassen haben.167
Grundlegend BFH v. 13.3.1974 – I R 7/71, BStBl. II 1974, 391. Zum körperschaftsteuerlichen Querverbund vgl. Hüttemann, FR 2009, 308; ders., DB 2009, 2629; Eversberg/Baldauf, DStZ 2010, 358. 163 Vgl. EuGH v. 17.10.1989 – Rs. C-231/87 Commune die Carpaneto Piacentino u.a., Slg. 1989, I-3233; EuGH v. 16.9.2008 – Rs. C-288/07 Isle of Wight Council, Slg. 2008, I-7203. 164 Grundlegend EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-102/08 Salix, Slg. 2009, I-4629. 165 Der BFH hatte bereits seit 2010 den bisherigen § 2 Abs. 3 UStG – abweichend vom Wortlaut – „richtlinienkonform“ im Sinne der europäischen MwSt-Richtlinien ausgelegt, vgl. etwa das BFHUrteil v. 17.3.2010 – XI R 17/08, BFH/NV 2010, 2359; BFH-Urteil v. 10.11.2011 – V R 41/10, BFH/ NV 2012, 670. 166 Dazu aus dem Schrifttum Widmann, UR 2016, 13; Baldauf, DStZ 2016, 355; Küffner/Rust, DStR 2016, 1633; monographisch Wiesch (Fn. 157), S. 198 ff. 167 Vgl. dazu nur das BFH-Urteil v. 5.10.2006 – VII R 24/03, BStBl. II 2007, 243. 161
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4. Besteuerung von Personengruppen Die Steuergesetze richten sich an einzelne „Steuerpflichtige“, nicht aber an Personengruppen. Für das Einkommensteuerrecht folgt das Prinzip der Individualbesteuerung („Subjektprinzip“) bereits aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip und dem Einkommensbegriff, die beide auf die Lebensverhältnisse einer bestimmten natürlichen Person zugeschnitten sind.168 Dieses Prinzip wird selbst bei der Zusammenveranlagung von Ehegatten nur scheinbar durchbrochen, denn auch hier werden die Einkünfte jedes Ehegatten zunächst getrennt ermittelt und die nach Zusammenrechnung der Einkünfte nach dem Splittingtarif berechnete Einkommensteuer gegen beide Ehegatten als Gesamtschuldner festgesetzt (§ 44 AO).169 Für andere Steuern ergibt sich die „individuelle“ Steuerpflicht schlicht daraus, dass der jeweilige Steuertatbestand – entsprechend der Zivilrechtslage – nur einer bestimmten natürlichen Person, einer Personengesellschaft oder einer juristischen Person zuzurechnen ist. So ist z.B. Steuerschuldner der Umsatzsteuer, wer als „Unternehmer“ eine Leistung gegen Entgelt ausführt (§§ 1 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 1 UStG). Schließen sich hingegen mehrere Freiberufler in einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts zusammen, die nach außen am Markt auftritt und freiberufliche Leistungen erbringt, ist allein diese – und sind nicht ihre Gesellschafter – für umsatzsteuerliche Zwecke als Unternehmer und damit als Steuerschuldner anzusehen.170 Während natürliche Personen ohne Einschränkungen als eigenständige Steuersubjekte anerkannt sind, hat sich im Steuerrecht im Zusammenhang mit „abhängigen“ juristischen Personen die Rechtsfigur der „Organschaft“ entwickelt.171 Bei der Organschaft wird die Steuersubjektivität einer von einem Mehrheitsgesellschafter beherrschten Kapitalgesellschaft durchbrochen und diese „Organgesellschaft“ mit dem beherrschenden Gesellschafter („Organträger“) in bestimmter Hinsicht als steuerliche „Einheit“ behandelt. In historischer Perspektive ist interessant, dass das Rechtsinstitut der „Organschaft“ nicht nur bei den Einzelsteuern unterschiedliche Funktionen hat, sondern sich auch die Funktion der Organschaft bei einzelnen Steuern grundlegend gewandelt hat.172 So diente die Organschaftslehre dem Preußischen OVG ursprünglich dazu, die gewerbliche Tätigkeit von ausländischen Unternehmen durch Mittelspersonen in Preußen der Staatseinkommensteuer zu unterwerfen. Dazu wurde die abhängige Kapitalgesellschaft ungeachtet ihrer rechtlichen Selbständigkeit als „Angestellte“ der ausländischen Muttergesellschaft qualifiziert, wenn sie im Auftrag und für Rechnung des Organträgers tätig wurde (Angestelltentheorie).173
168 Zum Grundsatz der Individualbesteuerung vgl. aus dem Schrifttum nur Lehner/Waldhoff in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 1 EStG Rz. A 89 ff.; Hey in Tipke u.a. (Hrsg.), GS Trzaskalik, 2005, S. 219. 169 Vgl. nur Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, Rz. 845. 170 Siehe Abschn. 2.1 Abs. 1 und 2 UStAE. 171 Zur Organschaft vgl. Herzig (Hrsg.), Organschaft, 2004; Witt, Die Konzernbesteuerung, 2006; Prinz/Witt, Steuerliche Organschaft, 2015; Hüttemann in Schön/Osterloh-Konrad, Zukunftsfragen des Steuerrechts, 2010, S. 127. 172 Dazu den Überblick bei Hüttemann (Fn. 171), S. 127. 173 Grundlegend PrOVG v. 18.6.1896, PrOVGSt 5, 163.
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Diese Idee – die sich im internationalen Steuerrecht zu keiner Zeit hat durchsetzen können174 – wurde später vom RFH aufgegriffen, um bei der Körperschaftsteuer eine übergreifende Verlustverrechnung mit konzernmäßig eingegliederten Kapitalgesellschaften zu ermöglichen. Nach der sog. Zurechnungstheorie blieb eine Organgesellschaft zwar subjektiv steuerpflichtig, ihr Einkommen war aber unter der Voraussetzung einer finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Eingliederung sowie einer vertraglichen Ergebnisabführungspflicht dem „Organträger“ für steuerliche Zwecke zuzurechnen.175 Für den RFH war dabei der Gedanke ausschlaggebend, dass Einkommen letztlich ein wirtschaftlicher Begriff sei, so dass bei wirtschaftlicher Betrachtung das Organ, das sein Einkommen für den Organträger zu erzielen und abzuführen hat, von vornherein kein „eigenes“ Einkommen habe.176 Der BFH hat diese Rechtsprechung zunächst fortgeführt,177 später aber Zweifel an der gesetzlichen Grundlage geäußert,178 so dass es 1969 zur Kodifikation der Organschaft in § 7a KStG kam. 2001 wurden die Voraussetzungen der körperschaftsteuerlichen Organschaft durch den Verzicht auf eine wirtschaftliche und organisatorische Eingliederung erheblich vereinfacht.179 Aus gesellschaftsrechtlicher Sicht bleibt anzumerken, dass das steuerliche Erfordernis des „Ergebnisabführungsvertrages“ den wesentlichen Anstoß für die Kodifikation des Vertragskonzerns in den §§ 291 ff. des AktG 1965 gegeben hat.180 Während die Organschaft im Körperschaftsteuerrecht – schon wegen des voluntativen Merkmals des Ergebnisabführungsvertrages – stets nur begünstigende Wirkung hatte, diente die Organschaft im Gewerbesteuerrecht bis 2001 ganz anderen Zielen. Sie knüpfte allein an den Tatbestand der finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Eingliederung an und war deshalb vom Willen der Beteiligten weitgehend unabhängig („Zwangsorganschaft“). Die gewerbesteuerliche Organschaft hatte vor allem eine „Gemeindeschutzfunktion“, d.h. durch die gewerbesteuerliche Zusammenfassung der Gewerbebetriebe des Organträgers und der Organgesellschaften und die Zerlegung des Gesamtergebnisses nach bestimmten objektiven Kriterien (z.B. der Zahl der Arbeitnehmer) sollte einer willkürlichen Verlagerung der Steuerkraft zwischen verschiedenen Gemeinden entgegen gewirkt werden.181 Wiederum anderen Zwecken dient die Figur der Organschaft im Umsatzsteuerrecht. Sie wurde ursprünglich entwickelt, um die „Kaskadeneffekte“ der bis 1967 in Deutschland geltenden Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer zu mildern.182 Bei dieser Steuer kam es auf jeder Produktions- oder Handelsstufe zu einer erneuten Belastung mit Umsatzsteuer, ohne dass den Unternehmern ein Recht zum Vorsteuerabzug ein174 Vgl. zur „Anti-Organ-Klausel“ des Art. 5 Abs. 7 OECD-Musterabkommen nur Görl in Vogel/ Lehner, DBA, 6. Aufl. 2015, Art. 5 Rz. 165. 175 Grundlegend RFH v. 26.7.1932 – I D 2/31/III D 2/32, RFHE 31, 297. 176 Flume, StbJb 1958/59, S. 283; Knobbe-Keuk (Fn. 39), § 20. 177 BFH-Gutachten v. 27.11.1956 – I D 1/56 S, BStBl. III 1957, 139. 178 BFH-Urteil v. 17.11.1966 – I 283/63, BStBl. III 1967, 118. 179 Siehe dazu Rödder/Schumacher, DStR 2001, 780; Herlinghaus, GmbHR 2001, 956. 180 Zu den gesellschaftsrechtlichen Implikationen der Organschaft vgl. monographisch Sonnenschein, Organschaft und Kapitalgesellschaftsrecht, 1976; Witt (Fn. 171), S. 315 ff.; Hüttemann, ZHR 171 (2007), 451. 181 BFH-Urteil v. 27.6.1990 – I R 183/85, BStBl. II 1990, 916. 182 Dazu nur Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 61.
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geräumt wurde. Auf diese Weise bestand insbesondere bei konzernmäßig organisierten Unternehmen ein erheblicher steuerlicher Anreiz, die Zahl der Zwischenstufen beim Vertrieb von Waren zu reduzieren.183 Nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG wird die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit nicht selbständig ausgeübt, wenn eine „juristische Person nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist (Organschaft)“. Bei dieser Rechtslage ist es – auch nach der Umstellung auf die harmonisierte europäische Mehrwertsteuer im Jahr 1968 – bis heute geblieben, zumal Art. 11 MwStSystRL den Mitgliedstaaten ein entsprechendes Wahlrecht zur Einführung einer Mehrwertsteuergruppe einräumt.184 Im Bereich steuerpflichtiger Umsätze kommt der umsatzsteuerlichen Organschaft im heutigen System der All-Phasen-Netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug vor allem ein gewisser Vereinfachungseffekt zu.185 Anders liegen die Dinge bei der Beteiligung von Nichtunternehmern und der Ausführung steuerbefreiter Umsätze, da in diesen Fällen die Umsatzsteuer mangels eines Vorsteuerabzugs nicht neutral ist und die Organschaft in der Regel zu seiner echten Steuerentlastung führt.186 Nachdem der EuGH erst vor kurzem festgestellt hat, dass die deutschen Regelungen zur Organschaft in § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG mit den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben nicht vereinbar sind,187 ist die Zukunft der umsatzsteuerlichen Organschaft in Deutschland derzeit offen. So hat der Gerichtshof u.a. beanstandet, dass nach deutschem Recht nur „juristische Personen“ Organgesellschaften sein können. Die Umsatzsteuersenate des BFH haben daraus im Wege einer „richtlinienkonformen Auslegung“ abgeleitet, dass abweichend vom Zivilrecht auch Personengesellschaften unter bestimmten Voraussetzungen als „juristische Personen“ i.S. von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG zu behandeln sind.188 Rich tigerweise wäre es Sache des Gesetzgebers gewesen, das geltende Recht an die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben anzupassen.
VI. Juristische Personen im Steuerrechtsverhältnis 1. Handlungsfähigkeit Die Einbeziehung juristischer Personen in die Steuerpflicht nach den besonderen Einzelsteuern hat auch Rückwirkungen auf das „allgemeine“ Steuerrecht, insbesondere ihre „Beteiligungsfähigkeit“ im Steuerverfahren. Im Unterschied zu natürlichen Personen, die im Fall ihrer Geschäftsfähigkeit nach bürgerlichem Recht auch im Steuerverfahren voll handlungsfähig sind (vgl. § 79 Abs. 1 Nr. 1 AO), sind juristische Zu diesen Wettbewerbsverzerrungen vgl. auch das BVerfG-Urteil v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57 und 70/63, BVerfGE 21, 12. 184 Zur Umsatzsteuergruppe nach der MwStSystRL vgl. nur Boor, Die Gruppenbesteuerung im harmonisierten Mehrwertsteuerrecht, 2014. 185 Siehe nur Englisch (Fn. 182), § 17 Rz. 65. 186 Vgl. dazu nur Hüttemann (Fn. 91), Rz. 7.121. 187 EuGH v. 16.7.2015 – Rs. C-108/14 und 109/14 Larentia und Minerva, DB 2015, 1696. 188 BFH v. 2.12.2015 – V R 25/13, DStR 2016, 219; BFH v. 1.6.2016 – XI R 17/11, DStR 2016, 1668. 183
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Personen selbst handlungsunfähig. Für sie können nur natürliche Personen handeln, deren Verfahrenshandlungen unter bestimmten Voraussetzungen den juristischen Personen zugerechnet werden. Deshalb bedarf es im steuerlichen Verfahrensrecht besonderer Regelungen dazu, welche Personen zur Vornahme von Verfahrenshandlungen für die juristischen Personen befähigt sind. Nach § 79 Abs. 1 Nr. 3 AO handeln juristische Personen, Vereinigungen oder Vermögensmassen durch „ihre gesetzlichen Vertreter oder durch besonders Beauftragte“. Nach der Rechtsprechung des BFH ist für juristische Personen lediglich die erste Alternative relevant,189 d.h. die Steuererklärung einer juristischen Person bedarf zu ihrer Wirksamkeit nach § 150 Abs. 3 AO der „eigenhändigen Unterschrift“ ihres gesetzlichen Vertreters, während die zweite Alternative – „Beauftragte“ – lediglich für nichtrechtsfähige Personenvereinigungen und Vermögensmassen gelten soll. Der BFH stützt diese Auslegung vor allem auf einen systematischen Zusammenhang zu § 34 AO, der nur die gesetzlichen Vertreter von juristischen Personen erwähnt, sowie das fehlende Bedürfnis, beim Vorhandensein gesetzlicher Vertreter weitere „Beauftragte“ als vertretungsberechtigt anzuerkennen.190
2. Eigene Pflichten der gesetzlichen Vertreter Praktisch noch wichtiger als die Handlungsfähigkeit ist für das Steuerrecht die Frage, wie die Erfüllung steuerlicher Pflichten durch die Organe gewährleistet werden kann. Denn das steuerrechtliche Sanktionssystem – z.B. die Festsetzung eines Verspätungszuschlages bei nicht rechtzeitiger Abgabe einer Steuererklärung oder eines Zwangsgeldes wegen der Verweigerung einer Auskunft – richtet sich zunächst nur gegen den „Steuerpflichtigen“, d.h. die juristische Person selbst. Damit diese Druckmittel auch gegenüber den gesetzlichen Vertretern von juristischen Personen eingesetzt werden können, bedarf es einer Erstreckung der steuerlichen Pflichten von juristischen Personen auf ihre gesetzlichen Vertreter. Eben dies bestimmt § 34 Abs. 1 AO: Die gesetzlichen Vertreter von juristischen Personen haben „deren steuerliche Pflichten zu erfüllen“. Folglich ist es möglich, gegen den Geschäftsführer einer GmbH oder den gesetzlichen Vertreter einer Universität (z.B. den Rektor) persönlich einen Verspätungszuschlag oder ein Zwangsgeld festzusetzen, wenn Steuererklärungen verspätet oder gar nicht abgegeben werden. Da § 34 AO die Pflichtenstellung der vertretenen juristischen Person unberührt lässt, haben die Finanzbehörden – z.B. bei der Festsetzung von Zuschlägen – ein Auswahlermessen, ob sie gegen die juristische Person, die gesetzlichen Vertreter oder gegen alle Beteiligten vorgehen.191 Wer gesetzlicher Vertreter ist, bestimmt sich nach den einschlägigen Bestimmungen des privaten und des öffentlichen Rechts. Die nach § 34 AO zu erfüllenden 189 BFH v. 15.10.1998 – III R 58/95, BStBl. II 1999, 237; BFH v. 30.10.2008 – III R 107/07, BStBl. II 2009, 352; BFH v. 13.8.2008 – X I R 19/08, BStBl. II 2009, 497; siehe auch Drüen (Fn. 1), § 79 Rz. 22; Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, 2009, § 79 Rz. 80 f. 190 BFH v. 15.10.1998 – III R 58/95, BStBl. II 1999, 237; im Anschluss an Söhn in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, AO/FGO, 2009, § 79 Rz. 80 f.; a.A. Rüsken in Beermann/Gosch, AO/FGO, 2000, § 79 Rz. 64.2 f. 191 Dazu nur Kruse in Tipke/Kruse, AO/FGO, 2012, § 328 Rz. 35.
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steuerlichen Pflichten sind öffentlich-rechtlicher Natur und können durch interne privatrechtliche Vereinbarungen nicht abbedungen werden. Bei Kollegialorganen (z.B. dem Vorstand eines Vereins) kann die Gesamtverantwortung aller Organmitglieder daher durch eine interne Geschäftsverteilung lediglich eingeschränkt, aber nicht aufgehoben werden.192 Die von § 34 AO erfassten steuerlichen Pflichten betreffen insbesondere Aufzeichnungs-, Erklärungs- und Auskunftspflichten. Hinsichtlich der Steuerentrichtungspflicht stellt § 34 Abs. 1 Satz 2 AO klar, dass das Organ keine eigenen Mittel aufwenden muss, sondern sich diese Pflicht nur auf die verwalteten Mittel bezieht.
3. Steuerliche Organhaftung Die dem gesetzlichen Vertreter durch § 34 AO auferlegten „eigenen“ steuerlichen Pflichten bilden zugleich die Grundlage für die in § 69 AO bestimmte steuerliche Haftung des gesetzlichen Vertreters. Danach haften die „in den §§ 34 und 35 bezeichneten Personen“, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis „infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt“ werden. Die Haftung setzt also ein eigenes Verschulden des gesetzlichen Vertreters in Hinsicht auf die ihm persönlich obliegenden Pflichten (vgl. § 34 AO) voraus. Eine dem § 31a BGB vergleichbare Haftungsprivilegierung für ehrenamtlich tätige Organmitglieder kennt die AO nicht.193 Die steuerliche Organhaftung rechtfertigt sich daraus, dass juristische Personen die ihnen obliegenden steuerlichen Pflichten mangels eigener Handlungsfähigkeit nicht selbst erfüllen, sondern durch gesetzliche Vertreter handeln. Zugleich sollen Steuerausfälle ausgeglichen werden, die ein Vertreter durch die schuldhafte Verletzung seiner Pflichten verursacht hat.194 Eine Haftung nach § 69 AO setzt voraus, dass ein gesetzlicher Vertreter eine Pflichtverletzung begangen hat, die zu einem Haftungsschaden geführt hat, für den Haftungsschaden ursächlich war und schuldhaft begangen worden ist. Schuldformen sind Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit. Die steuerliche Organhaftung wird durch Haftungsbescheid (vgl. §§ 191 ff. AO) geltend gemacht. Da der Steuerschuldner und der haftende Vertreter – ebenso wie mehrere haftende Vertreter – Gesamtschuldner sind (§ 44 AO), steht es im pflichtgemäßen Ermessen der Finanzbehörden, ob neben dem Steuerschuldner auch der Haftungsschuldner bzw. welches Organmitglied bei einem Kollegialorgan in Anspruch genommen wird.
192 Siehe BFH v. 23.6.1998 – VII R 4/98, BStBl. II 1998, 761; aus dem Schrifttum näher Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, 2012, § 69 Rz. 32 f.; Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, 2014, § 34 Rz. 52 f. 193 Zur Haftung eines ehrenamtlich tätigen Vorstandsmitglieds eines Vereins BFH v. 23.6.1998 – VII R 4/98, BStBl. II 1998, 761. 194 Zu Rechtsnatur und Zweck der steuerlichen Organhaftung vgl. Boeker (Fn. 192), § 69 Rz. 7; Loose (Fn. 192), § 69 Rz. 2.
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VII. Juristische Personen als Gestaltungsinstrument 1. Einschaltung juristischer Personen Die Anerkennung der juristischen Personen als selbstständige Rechtsträger durch das Steuerrecht eröffnet natürlichen Personen zusätzliche steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten. Überträgt z.B. ein Einzelunternehmer seine gewerbliche Tätigkeit auf eine GmbH, unterliegen die von der GmbH erwirtschafteten Einkünfte bis zu ihrer Ausschüttung nur der Körperschaft- und Gewerbesteuer. Die „Zwischenschaltung“ einer Kapitalgesellschaft kann auch dazu dienen, die Verwirklichung steuerlicher Tatbestände – z.B. eines gewerblichen Grundstückshandels – in der Person des Gesellschafters zu verhindern, weil einzelne Grundstücksverkäufe durch die GmbH erfolgen. Im internationalen Steuerrecht ist die Gründung einer ausländischen „Basisgesellschaft“195 ein verbreitetes Gestaltungsinstrument, um ein Steuergefälle zwischen verschiedenen Staaten auszunutzen. In diesen und weiteren Fällen stellt sich für die Steuerrechtsordnung die Frage, ob sie die „Einschaltung“ einer juristischen Person für steuerliche Zwecke respektiert oder unter bestimmten Voraussetzungen steuerlich relevante Sachverhalte nicht der juristischen Person, sondern den dahinter stehenden Gesellschaftern zurechnet. In diesem Zusammenhang ist – da es um Einschränkungen des Trennungsprinzips geht – auch von einem „Durchgriff “ durch die juristische Person die Rede.196
2. Steuerrechtliche Grenzen der Gestaltungsfreiheit Aus der gesetzgeberischen Entscheidung zugunsten einer Körperschaftsteuer und der steuerlichen Anerkennung der Selbstständigkeit von Kapitalgesellschaften folgt zunächst, dass eine steuerliche „Nichtanerkennung“ von Kapitalgesellschaften oder eine Relativierung des Trennungsprinzips nur in Ausnahmefällen in Betracht kommt und einer besonderen gesetzlichen Grundlage bedarf. Dabei lassen sich vor allem zwei Anknüpfungspunkte unterscheiden: Zum einen enthalten die Einzelsteuergesetze verschiedene Regelungen, mit denen der Gesetzgeber die „Abschirmwirkung“ einer Kapitalgesellschaft in Hinsicht auf bestimmte Steuerrechtsfolgen eingeschränkt und eine „mittelbare“ Tatbestandsverwirklichung über eine Kapitalgesellschaft einer unmittelbaren Tatbestandsverwirklichung durch den Gesellschafter steuerrechtlich in gewisser Hinsicht gleichgestellt hat. So geht z.B. das Grunderwerbsteuerrecht in § 1 Abs. 3 GrEStG davon aus, dass der Erwerb von mindestens 95 Prozent der Anteile einer Kapitalgesellschaft, zu deren Vermögen ein inländisches Grundstück gehört, einem direkten Erwerb des Grundstücks steuerlich gleichzustellen ist. Auch die bereits erwähnte Ersatzerbschaftsteuer nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG zielt auf die Besteuerung einer „fiktiven“ natürlichen Erbfolge ab. Im Kontext des internationalen Steu Zum Begriff der „Basisgesellschaft“ statt vieler nur Großfeld, Basisgesellschaften im Internationalen Steuerrecht, 1974; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl. 2011, Rz. 10.23 ff. 196 Vgl. dazu monographisch Raupach, Der Durchgriff im Steuerrecht, 1968; von Beckerath, Der Durchgriff im deutschen Außensteuerrecht, 1978. 195
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errechts ist die Hinzurechnungsbesteuerung nach §§ 7 ff. AStG zu erwähnen, die die steuerliche „Abschirmwirkung“ einer ausländischen Kapitalgesellschaft in einem Niedrigsteuerland dadurch auf hebt, dass bei einem mit über 50 Prozent beteiligten unbeschränkt steuerpflichtigen Gesellschafter der thesaurierte „Zwischengewinn“ der Kapitalgesellschaft beim Gesellschafter als Kapitaleinkünfte angesetzt wird (§ 10 Abs. 1 und 2 AStG).197 Darüber hinaus gibt es zahlreiche spezielle Missbrauchsvorschriften, die – z.B. zur Verhinderung eines sog. „Treaty-Shopping“198 – die Inanspruchnahme bestimmter Steuervorteile aus Doppelbesteuerungsabkommen von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig machen (vgl. etwa § 50d Abs. 3 EStG). Greifen solche speziellen Vorschriften nicht ein, ist zum anderen zu prüfen, ob einer eingeschalteten „funktionslosen“ Kapitalgesellschaft die steuerrechtliche Anerkennung zu versagen ist, weil es sich um ein Scheingeschäft handelt (§ 41 AO) oder ein steuerlicher Gestaltungsmissbrauch (§ 42 AO) vorliegt.199 Dabei dürfte die Annahme eines Scheingeschäfts bei der Einschaltung einer in- oder ausländischen Kapitalgesellschaft regelmäßig fernliegen, wenn die Einkünfteverlagerung auf die Kapitalgesellschaft ernsthaft gewollt ist und nicht lediglich vorgetäuscht wird.200 Jedoch ist die Gründung einer ausländischen „Basisgesellschaft“ nach der ständigen Rechtsprechung des BFH als unangemessene Gestaltung i.S. des § 42 AO anzusehen, wenn die Gesellschaft – wie z.B. eine funktionslose „Brief kastenfirma“ – keinem wirtschaftlichen Zweck dient und keine eigene wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet.201 Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist jeweils unter Würdigung der Gesamtumstände zu prüfen.202 Die Rechtsprechung des BFH ist insoweit allerdings zurückhaltend, zumal auch gesetzgeberische Wertungen zu berücksichtigen sind, die sich aus spezialgesetzlichen Missbrauchsvorschriften ergeben. So wird man z.B. den Vorschriften über die Hinzurechnungsbesteuerung nach den §§ 7 ff. AStG entnehmen müssen, dass die schlichte Ausnutzung eines Steuergefälles zwischen In- und Ausland durch eine Verlagerung „passiver“ Einkünfte auf eine niedrig besteuerte ausländische Kapitalgesellschaft ohne Hinzutreten besonderer Umstände nicht als „unangemessen“ anzusehen ist, weil es ansonsten einer Hinzurechnungsbesteuerung gar nicht bedurft hätte.203 Soweit es um die Anwendung europäischen Sekundärrechts – z.B. im Anwendungsbereich der Mutter-Tochter-Richtlinie – oder die Reichweite der gemein197 Zu Zielsetzung, Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Hinzurechnungsbesteuerung vgl. die Darstellungen bei Schaumburg (Fn. 195), Rz. 10.1 ff.; Wassermeyer in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/ Schönfeld, Außensteuerrecht, 2016, Vor §§ 7–14 AStG Rz. 1 ff. 198 Zum „Treaty-Shopping“ und zur Steuerumgehung bei DBA vgl. den Überblick bei Schaumburg (Fn. 195), Rz. 16.124 ff.; Prokisch in Vogel/Lehner, DBA, 6. Aufl. 2015, Art. 1 Rz. 88 ff. 199 Zur Abgrenzung siehe BFH v. 7.2.1975 – VIII B 61 – 62/74, BStBl. II 1975, 608; BFH v. 21.10.1988 – III R 194/84, BStBl. II 1989, 216. 200 Vgl. nur Drüen (Fn. 1), § 41 Rz. 68; aus der Rechtsprechung BFH-Urteil v. 21.10.1988 – III R 194/84, BStBl. II 1989, 216. 201 Siehe näher Drüen (Fn. 1), § 42 Rz. 98 ff.; Schaumburg (Fn. 195), Rz. 10.28 ff.; BFH v. 29.1.1975 – I R 135/70, BStBl. II 1975, 553; BFH v. 23.10.1991 – I R 40/89, BStBl. II 1992, 1027; BFH v. 20.3.2002 – I R 63/99, BStBl. II 2003, 50. 202 Vgl. BFH v. 20.3.2002 – I R 63/99, BStBl. II 2003, 50. 203 Dazu Schaumburg (Fn. 195), Rz. 10.31 f.; Wassermeyer (Fn. 197), Vor §§ 7 – 14 AStG Rz. 23 ff.; BFH v. 23.10.1991 – I R 40/89, BStBl. II 1992, 1027; BFH v. 20.3.2002 – I R 63/99, BStBl. II 2003, 50.
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schaftsrechtlichen Grundfreiheiten geht, ist der gemeinschaftsrechtliche Begriff des Rechtsmissbrauchs maßgebend.204
VIII. Zusammenfassung Die Anerkennung von juristischen Personen als selbstständige Rechtsträger hat vielfältige Rückwirkungen auf das Steuerrecht, da die Steuergesetze an die Güterverteilung nach der allgemeinen Rechtsordnung anknüpfen. Soweit juristischen Personen bestimmte Objekte oder Tätigkeiten zuzurechnen sind, werden sie wie natürliche Personen bei Objekt- und Verbrauchsteuern als Steuerschuldner herangezogen. Hingegen rechtfertigt sich die Körperschaftsteuer als „Einkommensteuer der juristischen Person“ weniger durch die eigene Rechtspersönlichkeit, sondern ist vor allem zur Wahrung der Wettbewerbsneutralität der Besteuerung geboten, weil eine Sofortbesteuerung des einbehaltenen Gewinns von juristischen Personen – jedenfalls bei Publikumsgesellschaften – nicht auf der Ebene der Anteilseigner sichergestellt werden kann. Gleichzeitig ist es aus Gründen der Ausschüttungs- und Finanzierungsneutralität sinnvoll, eine steuerliche Doppelbelastung ausgeschütteter Gewinne mit Körperschaft- und Einkommensteuer durch gewisse Entlastungsmechanismen beim Dividendenempfänger möglichst zu vermeiden. Den rechtlichen und wirtschaftlichen Besonderheiten von juristischen Personen trägt das geltende Steuerrecht durch zahlreiche Sonderregelungen in den Einzelsteuergesetzen – z.B. zur Behandlung von Unternehmensgruppen als „steuerlicher Einheit“ – Rechnung. Dazu gehören auch verfahrensrechtliche Regelungen, mit denen die steuerlichen Pflichten der juristischen Personen auf ihre gesetzlichen Vertreter erstreckt und über eine eigene steuerliche „Organhaftung“ effektuiert werden. Grundsätzlich akzeptiert das Steuerrecht die mit der steuerlichen Anerkennung von juristischen Personen verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten, setzt diesen aber im Einzelfall – z.B. bei der Zwischenschaltung funktionsloser Kapitalgesellschaften – gewisse Schranken, um missbräuchliche Gestaltungen zu verhindern.
204 Dazu aus der Rechtsprechung EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995; Schön, IStR-Beihefter 1996/2; ders. in Kirchhof u.a. (Hrsg.) FS Reiß, 2008, S. 571; Kofler in Hüttemann (Hrsg.), DStJG Bd. 33 (2010), S. 213.
Vom Umgang des öffentlichen Rechts mit der Stiftung des BGB* von
Notar Prof. Dr. Peter Rawert, LL.M. (Exeter), Hamburg** Inhalt I. Das „Verwaltungsmodell“ als überkommenes Konzept der rechtsfähigen Stiftung des Privatrechts . . . 180 1. Das deutsche Stiftungsrecht als Kind des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 2. Die Regelung des Stiftungsrechts im BGB und den Landesgesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 3. Die Republikaner-Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 4. Reformdebatten und Reformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 a) Der 44. Deutsche Juristentag 1962 und seine Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 b) Das (Grund-)Recht auf Stiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 c) Die Rolle des Landesrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 5. Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 II. Die staatliche Mitwirkung im Stiftungswesen nach geltendem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 1. Stiftungsaufsicht/Staatsaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 2. Die Funktion der Aufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 a) Errichtungsstadium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 b) Laufende Stiftungsaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 aa) Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 bb) Schutz, Kontrolle, Garantie und Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 3. Stiftungsaufsicht und Grundrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 a) Die Grundrechtssubjektivität der Stiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 b) Die einzelnen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 c) Sonderfall: Die staatlich errichtete Stiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 d) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 * Der Beitrag ist meinem verehrten akademischen Lehrer Dieter Reuter (1940–2016) gewidmet. Ursprünglich hatte er ihn der Redaktion des Jahrbuches zugesagt. Auf seinem täglichen Gelehrtenspaziergang, der ihm von seinem Arzt nahegelegt worden war, wurde er jedoch am 17.3.2016 von einem außer Kontrolle geratenen Fahrzeug erfasst. Er war sofort tot. ** Die Ausführungen orientieren sich in Teilen an vorangegangenen Veröffentlichungen, unter anderem an Rawert, in: FS für Dieter Reuter, 2010, 1323 ff.; ders., in: FAZ v. 23.4.2002, 51, sowie der gemeinsam mit Rainer Hüttemann erstellten Kommentierung in J. v. Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch (§§ 80–88 BGB) 2011. Wiederholungen waren unvermeidlich.
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4. Konsequenzen für die operative Aufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 a) Die Instrumente der Stiftungsaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 b) Die Maßstäbe der Stiftungsaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 c) Rechtsschutz gegen Maßnahmen der Stiftungsaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 III. Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
I. Das „Verwaltungsmodell“ als überkommenes Konzept der rechtsfähigen Stiftung des Privatrechts Keine andere juristische Person des Privatrechts steht in einer so engen Beziehung zum öffentlichen Recht wie die rechtsfähige Stiftung der §§ 80–88 BGB. Das hat zwei Gründe: Zum einen bedarf es zur Entstehung einer solchen Stiftung neben dem privatrechtlichen Stiftungsgeschäft der Anerkennung durch die zuständige Behörde des Landes, in dem die Stiftung ihren Sitz haben soll (§ 80 Abs. 1 BGB). Zum anderen unterliegen rechtsfähige Stiftungen des Privatrechts hierzulande durchgängig einer staatlichen Aufsicht, die durch die Landesstiftungsgesetze der sechzehn Bundesländer geregelt wird. Gewiss bedarf auch die Errichtung anderer juristischer Personen wie z.B. die von Vereinen, Gesellschaften mit beschränkter Haftung oder Aktiengesellschaften eines staatlichen Mitwirkungsakts.1 Auch gibt es zahlreiche Gesetze, die bestimmte juristische Personen einer staatlichen Aufsicht unterwerfen. Man denke nur an die Bankenaufsicht nach dem KWG oder die Versicherungsaufsicht nach dem VAG.2 Anders als im Stiftungsrecht vollzieht sich die Mitwirkung des Staates im Errichtungsstadium von Vereinen und Kapitalgesellschaften jedoch nicht im Rahmen eines Verfahrens vor politisch weisungsgebundenen Verwaltungsbehörden, sondern ist Teil der sogenannten Freiwilligen Gerichtsbarkeit, d.h. ein Akt der weisungsunabhängigen Dritten Gewalt. Was wiederum die laufende Unterwerfung juristischer Personen des Privatrechts unter staatliche Aufsicht betrifft, so ist ihr Anknüpfungspunkt regelmäßig nicht die Rechtsform der jeweiligen Entität, sondern ausschließlich der Gegenstand ihres Unternehmens, d.h. ihr konkretes Auftreten im Rechtsverkehr. Lediglich die Stiftung der §§ 80–88 BGB ist kraft Rechtsform einem staatlichen Genehmigungs- bzw. Anerkennungserfordernis3 sowie laufender behördlicher Aufsicht unterstellt. Auf den Gegenstand ihrer Tätigkeit kommt es nicht an. Ein seltsamer Befund für eine Rechtsperson, deren öffentliche Wahrnehmung wie bei keinem anderen Rechtsträger außer dem Idealverein mit dem Begriff der „Zivilgesellschaft“, d.h. der Gemeinwohlpflege jenseits staatlicher Institutionen verbunden ist. Vgl. § 21 BGB, § 11 Abs. 1 GmbHG, § 41 Abs. 1 S. 1 AktG. Vgl. §§ 32 ff. KWG, §§ 294 ff. VAG. 3 Durch das Gesetz zur Modernisierung des Stiftungsrechts vom 15.7.2002 (BGBl. 2002 I, 2634) wurde der bis dato als „Genehmigung“ bezeichnete Verwaltungsakt zur Erlangung der Rechtsfähigkeit einer Stiftung in „Anerkennung“ umbenannt. Die Begründung des Regierungsentwurfs (BT-Drs. 14/8765 vom 11.4.2002) hebt in den Anmerkungen zum zu reformierenden § 80 ausdrücklich hervor, dass es sich lediglich um eine „begriffliche Änderung“ handelt. Tatsächlich wollte man mit der Einführung des Begriffs der „Anerkennung“ lediglich den Eindruck der Verwendung obrigkeitsstaatlicher Sprache vermeiden. Kritisch dazu Rawert, in: FAZ v. 23.4.2002, 51. 1 2
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1. Das deutsche Stiftungsrecht als Kind des 19. Jahrhunderts Das Stiftungsrecht mit seiner eigentümlichen Gemengelage zwischen privatem und öffentlichem Recht, bundes- und landesrechtlichen Regelungen sowie den Besonderheiten des Anerkennungs- und Aufsichtsverfahrens lässt sich nur vor dem Hintergrund einer historischen Entwicklung verstehen, die durch tiefgreifende staats- und privatrechtspolitische Vorbehalte gegenüber Stiftungen gekennzeichnet ist.4 Tatsächlich war das Stiftungswesen hierzulande bis spät in das 18. Jahrhundert durch eine enge Bindung an kirchliche Institutionen geprägt. Über Jahrhunderte war die „pia causa“, sprich der fromme oder gottgefällige Zweck, der Zentralbegriff des Stiftungsrechts. Als „res ecclesiastica“ unterstand die Stiftung zuvörderst der Obhut der Kirche. Zwar kam es in der Neuzeit zu ersten Gegentendenzen. Ausgangspunkt war die beginnende Zentralisierung von lokalen Einrichtungen wie vor allem Spitälern und vergleichbaren Einrichtungen der Krankenpflege in kommunalen Behörden.5 Die „Entmaterialisierung“6 des Stiftungswesens, d. h. seine Loslösung aus dem bis dato für seine Existenz und Entfaltung charakteristischen geistlich-religiösen Kontext, gelang indes erst in der Folge der Auf klärung. Vor dem Hintergrund des vom Absolutismus in Anspruch genommenen Monopols staatlicher Gemeinwohlpflege und dem darauf beruhenden Misstrauen gegenüber privater und womöglich „abergläubisch“ motivierter Wohltätigkeit7 kam es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer weitreichenden Säkularisierung des Stiftungswesens.8 Eine vollständige Abkehr von dem für Stiftungen bis dahin typischen Prinzip einer Festlegung auf bestimmte Zwecke war damit zwar nicht verbunden. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass die für die Verewigung von Vermögen bis dato notwendige „pia causa“ insoweit lediglich eine Wandlung zur „utilitas publica“ erfuhr.9 Gleichwohl war der Boden bereitet für eine Entwicklung, die es der historischen Rechtsschule des 19. Jahrhunderts ermöglichen sollte, die Stiftung als verselbständigte Vermögensmasse mit eigener Rechtsfähigkeit und weitgehender Freiheit in der Wahl zulässiger Stiftungszwecke zu etablieren. Es ist vor allem Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) zu verdanken, dass aus der Stiftung als einem ehedem lediglich erb- und kirchenrechtlich definierten Sondervermögen in vornehmlich klerikaler Trägerschaft ein „künstlich angenommenes Subject“10 werden konnte, das anders als die Verbände keines mitgliedschaftlich-personalen Subs trates bedurfte, sondern einen zur „angenommenen“ Rechtsperson avancierten Zweck darstellte. 4 Dazu grundlegend Richter, Rechtsfähige Stiftung und Charitable Corporation, 2001, 40 ff.; überdies MüKoBGB/Weitemeyer, Bd. 1, 7. Aufl. 2015, § 80 Rn. 8 ff.; Schulze, in: Hopt/Reuter (Hg.), Stiftungsrecht in Europa, 2001, 55 ff. 5 Siegmund-Schultze, in: FS für Willi Geiger 1989, 671, 673 ff. m.w.N.; siehe auch Borgolte, ZRG KA 105 [1988], 71 ff. 6 Reuter, in: FS für Walther Hadding, 2004, 231 ff. 7 v. Campenhausen, in: v. Campenhausen/Richter (Hg.), Stiftungsrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2014, § 5 Rn. 29 ff. 8 Strachwitz, Die Stiftung – ein Paradox? Zur Legitimität von Stiftungen in einer politischen Ordnung, 2010, S. 81 ff. 9 Schulte, Staat und Stiftung, 1989, 29 ff.; MüKoBGB/Weitemeyer (Fn. 4 ), § 80 Rn. 8 m.w.N. 10 v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Zweiter Band, 1840, 239.
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Die Überwindung des überkommenen Stiftungsbegriffs durch ein formales, d.h. nicht vom Inhalt des jeweiligen Stiftungszwecks vorgegebenes Verständnis von Stiftung war ein erheblicher Fortschritt. Bedenkt man, dass noch knapp zwei Jahrzehnte vor dem Erscheinen von Savignys „System des heutigen römischen Rechts“ im Streit um das Testament des Frankfurter Kaufmanns Johann Friedrich Städel (1728– 1816) fast ein Dutzend deutscher Rechtsfakultäten jahrelang darüber gerechtet hatte, ob die Errichtung eines Kulturinstituts ein zulässiger Stiftungszweck sein könne,11 hatte die Rechtsdogmatik neue Ufer betreten. Die Entwicklung hatte freilich eine Schattenseite. Keineswegs hatte Savigny den Stiftungsbegriff neu formuliert, um Stiftern und Stiftungen damit einen vom Privatrecht garantierten Freiraum für bürgerschaftliches Engagement zu verschaffen. Wie selbstverständlich gingen er und die anderen Protagonisten der historischen Rechtsschule davon aus, dass die Funktionsfähigkeit eines ohne Mitglieder und folglich anstaltlich organisierten Stiftungswesens der Anbindung an einen zuverlässigen Anstaltsträger bedurfte, und dieser Träger letztlich allein der Staat sein konnte. Das Erfordernis, die Errichtung von Stiftungen einer hoheitlichen Genehmigung zu unterwerfen, war für Savigny nicht nur deshalb Dogma, weil es dem Rechtsverkehr das Entstehen des „künstlich angenommenen Subjects“ erkennbar machen sollte. Savigny hielt die Pflicht zur Konzessionierung von Stiftungsvorhaben vielmehr auch für politisch notwendig, da er in der Tradition des preußischen Absolutismus staatlicher Wohlfahrtspflege den Vorrang vor privater Philanthropie einräumte. In einer bahnbrechenden rechtshistorisch-rechtsvergleichenden Untersuchung, die kurz vor der Stiftungsrechtsreform des Jahres 200212 erschien, hat der Stiftungsspezialist Andreas Richter den Einfluss Savignys auf die Entwicklung des deutschen Stiftungswesens umfassend gewürdigt.13 Zutreffend hat Richter festgestellt, dass Savignys Sicht des Stiftungsrechts zwar die Emanzipation des Stiftungswesens aus dem Dunstkreis kirchlicher Einflüsse gefördert hat. Der Entwicklung einer bürgerlichen Stiftungskultur hingegen habe sie den Vorbehalt staatlicher Prüfung der Würdigkeit jedes Einzelvorhabens entgegengesetzt. Den bis heute bestehenden Einfluss staatlicher Behörden auf Stiftungen hat Richter zu Recht darauf zurückgeführt, dass Savigny die Obhut über das Stiftungswesen dem Obrigkeitsstaat anvertraute, anstatt – entsprechend dem anglo-amerikanischen Modell des Trusts – Stifter, Stiftungsorgane und Stiftungsbegünstigte (Destinatäre) in sein Modell einzubeziehen. Im Kontrast zum Treuhandmodell des Common Law hat Richter das Stiftungsmodell Savignys daher als „Verwaltungsmodell“ bezeichnet. In diesem Modell wird der Staat zum Administrator einer juristischen Person, die er bereits durch ihren Gründungsakt dem öffentlichen Wohlfahrtsmonopol unterwirft, damit sie sich alsdann laufender staatlicher Obhut als würdig erweise.
Vgl. Richter (Fn. 4 ), 49 ff.; Becker, in: FS für Heinz Hübner, 1984, 21 ff.; vgl. auch Strachwitz (Fn. 8 ), 102 f. 12 BGBl. 2002 I, 2634. 13 Richter (Fn. 4 ), 40 ff., 135 ff. 11
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2. Die Regelung des Stiftungsrechts im BGB und den Landesgesetzen Das BGB hat das Verwaltungsmodell übernommen. Aufgrund des von Savigny hergestellten Zusammenhangs zwischen dem Stiftungswesen und der öffentlichen Verwaltung hielt es der historische Gesetzgeber für geboten, die Genehmigungspflicht für Stiftungen, die faktisch bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts gang und gäbe war,14 fortzuschreiben. Sowohl der Ersten als auch der Zweiten Kommission zum Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches erschien eine an Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten orientierte behördliche Gründungskontrolle bei Stiftungen unentbehrlich. Die Möglichkeit, mithilfe einer Rechtsperson wie der Stiftung ein privates Vermögen auf unabsehbare Zeit einem bestimmten Zweck zu unterwerfen, sei eine weit über den normalen Gehalt des Eigentums hinausgehende Befugnis, die der Staat nicht ohne Prüfung des Wertes oder Unwertes des jeweiligen Stiftungsvorhabens anerkennen könne. Die keineswegs seltene Neigung, „Stiftungen zu thörichten, unnützen oder bizarren Zwecken“ zu errichten, dürfe durch das Gesetz nicht unterstützt werden. Da eine zuverlässige Abgrenzung billigenswerter von nicht billigenswerten Zwecken durch eine generalisierende gesetzliche Regelung aber nicht erfolgen könne, sei es unvermeidlich, die Entscheidung darüber im Einzelfall staatlichen Genehmigungsbehörden anheim zu stellen.15 Ohnehin sei es bedenklich, wenn durch Stiftungen erhebliches Vermögen dauernd für bestimmte „vielleicht ganz unnütze oder doch minderwertige“ Zwecke festgelegt werden könne. Der Staat tue vielmehr gut daran, das „Nationalvermögen … dem lebendigen Verkehre zu erhalten“, zumal die Gefahr übermäßiger Stiftungen mit der steigenden Konzentration großer Vermögen in wenigen Händen wachse.16 Dem vornehmlich polizeistaatlichen Argument der Prävention gegenüber „bizarren Zwecken“ war damit ein privatrechtspolitisches zur Seite gestellt: die Furcht vor der Herrschaft der toten Hand, sprich einer Refeudalisierung der ökonomischen Verhältnisse. Mit diesen Feststellungen war die Entscheidung gefallen, Stiftungen anders als Idealvereine im Stadium ihrer Gründung nicht einem System von Normativbestimmungen, sondern einem Konzessionssystem mit freiem Behördenermessen zu unterwerfen. Den zuständigen staatlichen Stellen sollte die landesrechtlich bereits zuvor sanktionierte tatbestandsunabhängige Möglichkeit zur Verhinderung jedes politisch nicht gewollten Stiftungsvorhabens erhalten bleiben. Zwar hatte das Bundeszivilrecht die „Allzweckstiftung“ – sprich die Stiftung, die prinzipiell jeden nicht rechts14 Vgl. Gebhard in: Schubert, Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung eines Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuches, Allgemeiner Teil, Teil 1, 1981, 701 ff. 15 Kommissionsbericht bei Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band: Einführungsgesetz und Allgemeiner Teil, 1899, 961. Deutlich auch die Denkschrift bei Mugdan, a.a.O., 831: „Das Stiftungsgeschäft geht in seinen Wirkungen über die der Privatautonomie gezogenen Grenzen weit hinaus. Wenn die Rechtsordnung dem Einzelnen die außerordentliche Machtvollkommenheit beilegt, eine Vermögensmasse auf unbestimmte Zeit einem bestimmten Zwecke zu widmen, so geschieht dies, um Zwecke, welche dem Gemeinwohl dienen, dadurch zu fördern. Nicht zu Gunsten jedes beliebigen Zweckes kann dem Willen des Einzelnen diese Macht eingeräumt werden. Da jedoch eine gesetzliche Feststellung der zulässigen Stiftungszwecke nicht angängig ist, so muß die Wirksamkeit des einzelnen Stiftungsgeschäfts von der Billigung des zuständigen Staatsorganes abhängig gemacht werden.“ 16 Kommissionsbericht S. 961 f.
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widrigen Zweck verfolgen darf – zum gesetzlichen Typus des BGB erhoben. Stifter jedoch hatten sich gleichwohl mit dem Belieben einer nach den jeweiligen Opportunitäten entscheidenden Verwaltung abzufinden,17 und dieses für eine lange Zeit. Tatsächlich teilte man Stiftungswilligen noch bis in das späte 20. Jahrhundert beispielsweise in Hamburg auf die Vorlage eines Genehmigungsantrages mit, man werde ihr Vorhaben nach einer „eingehenden Abstimmung mit den für den Stiftungszweck zuständigen Fachbehörden“ auf Rechtmäßigkeit und „Praktikabilitätsgesichtspunkte“ prüfen. Diese Prüfung werde umfangreicher ausfallen, wenn nicht „nach der Mustersatzung der Senatskanzlei“ verfahren werde. Für die Inanspruchnahme dieser Prüfungskompetenz konnten die Landesbehörden zwei Gesichtspunkte anführen: Zum einen war der Gesetzgeber des Jahres 1896 aus Gründen der verfassungsmäßigen Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern davon ausgegangen, nur die privatrechtlichen Gesichtspunkte des Stiftungsrechts normieren zu dürfen.18 Alle ihrem Inhalt nach öffentlich-rechtlichen Fragen sollten den Landesgesetzgebern vorbehalten bleiben. Das BGB beschränkte sich mit seinen Regelungen daher im Wesentlichen darauf, die Rechtsnatur und die Rechtsfolgen des Stiftungsgeschäfts, gewisse vermögensrechtliche Gesichtspunkte wie den Erwerb und den Anfall des Stiftungsvermögens sowie die Eigenschaft der Stiftung als Rechtssubjekt und ihre Teilnahme am Rechtsverkehr zu normieren. Alle anderen Fragen blieben dem Landesrecht überlassen, so insbesondere die Durchführung des Genehmigungsverfahrens für eine konkrete Stiftung sowie die anschließende, laufende Stiftungsaufsicht über das neu entstandene Rechtssubjekt. Zum anderen gab es § 85 BGB. Nach ihm wurde die Verfassung einer Stiftung zwar primär durch das ihr zugrundeliegende private Stiftungsgeschäft bestimmt. Dies galt jedoch nur, soweit nicht zwingende Regelungen des Bundes- oder Landesrechts entgegenstanden. Historisch betrachtet sicherte die Norm den Ländern zusätzlich zu ihren Befugnissen im „Polizeirecht“ eine Kompetenz, auch über die Regelungen des BGB hinausgehende zivilrechtliche Anforderungen für die Verfassung von Stiftungen mit Sitz im jeweiligen Bundesland zu erlassen.19 Konsequenz war, dass im gesamten 20. Jahrhundert die Errichtung rechtsfähiger Stiftungen des Privatrechts von Bundesland zu Bundesland zum Teil erheblich unterschiedlich geregelt und gehandhabt wurde, jedes Bundesland seine eigenen „Mustersatzungen“ pflegte, man zwischen stiftungsfreundlichen und stiftungskritischen Bundesländern unterschied und „forum shopping“ bei der Wahl der zuständigen Gründungs- und Aufsichtsbehörden gang und gäbe war.
3. Die Republikaner-Urteile Wo Stifter in Deutschland gegen Ende des 20. Jahrhunderts standen, machen überdies die Gerichtsentscheidungen in der Sache der „Franz-Schönhuber-Stiftung“ deutlich. Mitte der Neunzigerjahre hatte die Partei „Die Republikaner“ die Geneh Rawert, Die Genehmigungsfähigkeit der unternehmensverbundenen Stiftung, 1990, 59. Mugdan (Fn. 15), 417 f., 420; Liermann, Handbuch des Stiftungsrechts, 1963, 274 f. 19 Staudinger/Hüttemann/Rawert (2011), § 85 Rn. 3 m.w.N. 17
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migung einer parteinahen Stiftung beantragt. Der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen hatte einen entsprechenden Antrag zunächst nicht beschieden. Vom VG Düsseldorf wurde der Minister allerdings zur Genehmigung der Stiftung verpflichtet.20 Auf seine Berufung hob das OVG Münster die erstinstanzliche Entscheidung auf. Die Stiftung – so das Gericht – gefährde im Falle ihrer Genehmigung das Gebot der Achtung der Menschenwürde, die Einhaltung des Verbots der Diskriminierung wegen der Rasse, der Sprache, der Abstammung oder des Glaubens sowie das Demokratieprinzip als Verfassungsrechtsgüter. Dies sei aus dem Auftreten der hinter ihr stehenden Partei zu schließen. Gegen das Parteienprivileg des Art. 21 Abs. 2 GG verstoße diese Auslegung des Begriffs der Gemeinwohlgefährdung nicht. „Die Republikaner“ seien auf die Errichtung einer echten Stiftung nämlich nicht angewiesen. Es bleibe ihnen unbenommen, eine parteinahe oder politische „Stiftung“ in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins zu gründen und ihre Ziele in dieser Form zu verfolgen.21 Das BVerwG schloss sich dem OVG an.22 Zugleich hielt es der Revision vor, sie habe nicht dartun können, weshalb der Partei der Weg zu einer Vereinsgründung versperrt gewesen sei.23 Der unlängst verstorbene Dieter Reuter hat die Republikaner-Urteile des OVG Münster und des Bundesverwaltungsgerichts als Rolle rückwärts in das Stiftungsrecht des 19. Jahrhunderts bezeichnet.24 Es ist bedauerlich, aber wer die Urteile liest, muss Reuter Recht geben. Gekleidet in das Gewand eines womöglich vertretbaren Ergebnisses begegnet der Leser dem Denken Savignys in seiner reinsten Ausprägung. Während gegen die Gründung einer parteinahen Stiftung in der Rechtsform eines Vereines nach dem Vorbild der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. oder der Friedrich-Ebert-Stiftung e.V. nach Ansicht beider Instanzen offenbar keine Bedenken bestanden, sollte die Rechtsform der Stiftung ihren Initiatoren versagt bleiben wegen der – so wörtlich – „mit der Entstehung der Stiftung begründeten besonderen Obhutspflicht der Stiftungsaufsicht, die mit der Genehmigung eine Mitverantwortung für die Verwirklichung des Stifterwillens übernimmt.“25 Die Verantwortung des Staates für die unter seiner fürsorglichen Kuratel stehenden, anstaltlich organisierten Stiftungen also als Maßstab privatautonomer Gestaltungsfreiheit bei der Rechtsformwahl? 26
4. Reformdebatten und Reformen Tatsächlich war Reuters Kritik nur die Spitze eines Eisbergs von seit langem vorgebrachten Klagen, die einen unzeitgemäßen Etatismus im Stiftungswesen rügten, die latente Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte durch unterschiedliche Bundesländer und ihre Behörden monierten sowie die Unübersichtlichkeit des Stif VG Düsseldorf, Urteil vom 25.3.1994 – 1 K 4629/93 = NVwZ 1994, 811. OVG Münster, Urteil vom 8.12.1995 – 25 A 2431/94 = NVwZ 1996, 913. 22 BVerwG, Urteil vom 12.2.1998 – 3 C 55/96 = E 106, 177 = NJW 1998, 2545. 23 BVerwG, Urteil vom 12.2.1998 – 3 C 55/96 = E 106, 177 = NJW 1998, 2545 (2547). 24 Reuter, in: Hopt/Reuter (Hg.), Stiftungsrecht in Europa, 2001, 139, 143 f. 25 OVG Münster, Urteil vom 8.12.1995 – 25 A 2431/94 = NVwZ 1996, 913 (914). 26 Eingehende Urteilskritik bei Reuter (Fn. 24), 139, 143 f. 20 21
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tungsrechts dafür verantwortlich machten, dass das deutsche Stiftungswesen bis in die 1990er Jahre hinein vergleichsweise unterentwickelt war.27
a) Der 44. Deutsche Juristentag 1962 und seine Folgen Rufe nach einer Reform des Stiftungsrechts waren dabei erstmals schon in den 1960er Jahren laut geworden. 1962 debattierte der 44. Deutsche Juristentag in Hannover über die Frage: „Soll das Stiftungsrecht bundesgesetzlich vereinheitlicht und reformiert werden, gegebenenfalls mit welchen Grundzügen?“. Diskutiert wurden eine umfassende Kodifikation des gesamten Rechts der selbstständigen Stiftung des privaten Rechts durch ein Bundesstiftungsgesetz, die Ablösung des überkommenen Konzessionssystems durch ein System von zeitgemäßen und am Recht der Vereine und Kapitalgesellschaften orientierten Normativbestimmungen sowie die Beschränkung der Stiftungsaufsicht auf eine reine Rechtskontrolle und ihre Übertragung auf die Organe der Freiwilligen Gerichtsbarkeit. Der Bundesgesetzgeber nahm die Reformforderungen allerdings nicht auf. Zum einen hatten sich Ende der 1960er Jahre die meisten Bundesländer neue Stiftungsgesetze gegeben, die das Stiftungsrecht aus seinen bis dato vorkonstitutionellen Regelungszusammenhängen 28 lösten und ihm damit einen neuen und den inzwischen etablierten Standards des Verwaltungsrechts angepassten Stellenwert zumaßen. Zum anderen stellte das BVerwG in einer Grundsatzentscheidung 1972 klar, dass Stiftungen als inländische juristische Personen im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG Grundrechtsschutz genießen und die Stiftungsaufsicht ihr Ermessen nicht an die Stelle des Ermessens der Stiftungsorgane setzen darf.29 Mit diesem Diktum war entschieden, dass aufsichtsbehördliche Maßnahmen gegenüber Stiftungen auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt sind und keine Fachaufsicht zum Gegenstand haben dürfen. Eine von der Bundesregierung zur Prüfung von Reformbedarf eingesetzte Interministerielle Arbeitsgruppe Stiftungsrecht kam daher 1974 zu dem Ergebnis, dass eine Novellierung des Stiftungsrechts nicht erforderlich sei.30
b) Das (Grund-)Recht auf Stiftung Ein Schlussstrich unter die Reformdebatte war damit gleichwohl nicht gezogen. Da die Praxis sowohl im Errichtungsstadium von Stiftungen als auch bei der laufenden Aufsicht noch immer über erhebliche Rechtsunsicherheit klagte,31 wurden ab Mitte der 1970er Jahre Vorschläge entwickelt, mit deren Hilfe die Unzulänglichkeiten des Dazu statt vieler Härtl, Ist das Stiftungsrecht reformbedürftig?, 1990, passim. Siehe die Darstellung bei Ebersbach, Handbuch des Deutschen Stiftungsrechts, 1972, 339 ff. sowie die überkommenen Rechtsgrundlagen, 790 ff. 29 BVerwG, Urteil vom 22.9.1972 – VII C 27/71 = E 40, 347; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 11.10.1977 – 2 BvR 209/76 = E 46, 73. 30 Der Bericht der Arbeitsgruppe ist veröffentlicht in: Deutsches Stiftungswesen 1966–1976, 361 ff.; dazu Seifart ZRP 1978, 144 ff. 31 Statt vieler Härtl (Fn. 27), passim. 27
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geltenden Rechts auf dem Boden der lex lata bewältigt werden sollten.32 Im Mittelpunkt stand dabei die Idee eines Grundrechts auf Stiftung, welches die Behörden bei ihren Entscheidungen leiten und vor allem binden sollte. Erstmals propagiert wurde dieses Recht 1976 durch Jochen A. Frowein. Frowein griff dazu auf die Glaubens-, Presse-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, den Schutz von Ehe und Familie sowie die Privatschulfreiheit zurück. Der Stifter, der eine religiöse Stiftung errichte, genieße den Schutz des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Art. 5 Abs. 1 GG garantiere die Möglichkeit, ein Presseunternehmen in der Rechtsform einer Stiftung zu betreiben. Die Errichtung einer Stiftung zur Durchführung von Forschungsaufgaben oder wissenschaftlicher Lehre bzw. zur Finanzierung oder sonstigen Förderung der Wissenschaft oder der Kunst stehe unter dem Schutz des Art. 5 Abs. 3 GG. Die Gründung einer Familienstiftung könne im Einzelfall in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG fallen. Art. 7 Abs. 4 GG gewähre das Recht, eine Privatschule in der Rechtsform einer Stiftung zu errichten. Subsidiär komme schließlich die allgemeine Handlungsfreiheit als sedes materiae der Stifterfreiheit in Betracht.33 Auch die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG schütze – so Frowein – die Vermögenswidmung zu Stiftungszwecken, weil die Freiheit testamentarischer Verfügungen zum Kernbereich des Erbrechts gehöre und damit als Gewährleistung der Stiftung von Todes wegen verstanden werden müsse.34 Dagegen lasse sich die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG zur Begründung einer Stifterfreiheit allenfalls eingeschränkt heranziehen, weil sie keine bestimmte Art der Eigentumsverwendung gewährleiste, sondern nur solche Verfügungsmöglichkeiten schütze, die die Rechtsordnung positiv normiere.35 Froweins Anliegen war es, auf dem Weg über die Anerkennung eines Grundrechts auf Stiftung auch im Rahmen eines formal weiterbestehenden Konzessionssystems zu einem tatbestandlich gebundenen Anspruch auf Zuerkennung der Rechtsfähigkeit für jedes gesetzeskonforme Stiftungsvorhaben zu gelangen.36 Das von den Landesbehörden bis dahin reklamierte Ermessen bei der Genehmigung einer Stiftung sollte verfassungskonform als subjektiv öffentliches Recht des Stifters auf Errichtung seiner Stiftung auszulegen sein. Außerhalb gesetzlich normierter Versagungsgründe sollten die Behörden folglich keine Möglichkeit mehr haben, ein Stiftungsvorhaben, das den vom BGB und den Landesgesetzen aufgestellten Mindestanforderungen an die Errichtung einer selbstständigen Stiftung entsprach, zu verhindern. Im Kern ging es darum, die Funktion der Stiftungsgenehmigung auf eine reine Technik der Verselbstständigung juristischer Personen zu reduzieren. In der Sache sollte sie sich nicht mehr von einer Registereintragung im Rahmen eines Normativsystems unterscheiden,37 also z.B. bei der Gründung eines Vereins oder einer Kapitalgesellschaft. Grundlegend insoweit die Kommentierungen von Reuter in der ersten und zweiten Auflage des Münchener Kommentars zum BGB 1978 und 1984. Reuter unternahm darin vor allem den Versuch, Regelungslücken des Stiftungsrechts durch die analoge Anwendung von Vereins- und Erbrecht zu schließen. 33 Frowein, Grundrecht auf Stiftung, 1976, 12 ff. 34 Frowein (Fn. 33), 16. 35 Frowein (Fn. 33), 16. 36 Frowein (Fn. 33), 17 f. 37 Vgl. MüKoBGB/Weitemeyer (Fn. 4 ), § 80 Rn. 12. 32
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Frowein fand mit seinen Thesen Zuspruch. Der Schwerpunkt für die normative Verankerung der Stifterfreiheit im Grundgesetz verlagerte sich allerdings schon bald von den Spezialgrundrechten hin zu Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG. Grund dafür war die zutreffende Einsicht, dass die Wahl einer Rechtsform für sich genommen ein neutraler Akt ist und nicht etwa selbst eine Meinungsäußerung oder ein Akt der Glaubens- oder Bekenntnisfreiheit. In der Tat würde die Schlüssigkeit der These, dass sich ein Stifter für die Wahl der Rechtsformstiftung auf Spezialgrundrechte berufen kann, den Nachweis voraussetzen, dass die rechtsfähige Stiftung des Privatrechts notwendige Bedingung zur Verwirklichung der entsprechenden grundrechtlich gewährleisteten Freiheiten ist. Dieser Nachweis lässt sich indes in aller Regel nicht erbringen.38 Freilich ist auch die Verortung der Stifterfreiheit in Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG nicht ohne Widerspruch geblieben. Zwar kann heute als gesichert gelten, dass sich ein Stifter beim Gebrauch der ihm vom einfachen Gesetz in den §§ 80–88 BGB eingeräumten Möglichkeiten auf die Eigentums- und Erbrechtsgarantie des Grundgesetzes stützen kann. Überdies verleiht ihm auch die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit die Befugnis, die von der Privatrechtsordnung bereitgestellten Rechtsformen zu nutzen, sofern nicht speziellere Grundrechte Schutz vermitteln.39 Von einer verfassungsrechtlich geschützten Stifterfreiheit lässt sich also insoweit sprechen, wie auch von einer verfassungsrechtlich geschützten Vertragsfreiheit ausgegangen wird. Heftig umstritten ist allerdings die Frage, inwieweit die Gesetzesakzessorietät der Grundrechte aus Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG der Stifterfreiheit Grenzen setzt. Insoweit haben vor allem Manssen und Sachs die These vertreten, dass Abwehrrechten kein subjektives Recht auf Errichtung einer rechtsfähigen Stiftung entnommen werden könne. Die Möglichkeit des Stiftens sei ausschließlich rechtlich konstituiert. Mehr als das, was das einfache Recht an Stifterrechten biete, könne nicht Gegenstand einer verfassungsrechtlichen Garantie sein. Gewähre das BGB nur einen Anspruch auf Ermessensentscheidung über die Zuerkennung der Rechtsfähigkeit, lasse sich dieser nicht unter Rückgriff auf Grundrechte in eine gebundene Entscheidung uminterpretieren.40 Richtig an den Thesen von Manssen und Sachs ist, dass sich weder aus Art. 14 Abs. 1 GG noch aus Art. 2 Abs. 1 GG oder gar Art. 1 Abs. 1 GG ein Grundrecht konstruieren lässt, das den Gesetzgeber dazu zwänge, die Rechtsform der rechtsfähigen Stiftung des privaten Rechts zu schaffen, wäre sie im BGB nicht schon geregelt.41 Ist der Gesetzgeber allerdings tätig geworden, hat er sich selbst gebunden.42 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum 38 Rawert, in: FS für Dieter Reuter, 2010, 1323, 1329; Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), Vorbem. 26 zu §§ 80 ff.; so auch Schmidt-Jortzig, in: Strachwitz/Mercker (Hg.), Stiftungen in Theorie, Recht und Praxis, 2005, 55, 59; Krause/Thiele, in: Non Profit Law Yearbook 2007, 133, 136. 39 Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), Vorbem. 27 zu §§ 80 ff. 40 Manssen, Privatrechtsgestaltung durch Hoheitsakt, 1994, 219; Sachs, in: FS für Walter Leisner, 1999, 955, 961. 41 A.A.: Schmidt-Jortzig (Fn. 38), 55, 61 ff.; MüKoBGB/Reuter, 6. Aufl. 2012, Vor § 80 Rn. 34; Krause/Thiele (Fn. 38), 133, 137. Siehe auch Hof, in: v. Campenhausen/Richter, Stiftungsrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2014, § 4 Rn. 29. 42 Vgl. Bumke, Der Staat, 2010, 77, 89. Dass die §§ 80 ff. BGB vorkonstitutionelles Recht sind bzw.
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„grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt“43 bedeutet dies, dass die Befugnis zur Errichtung einer Stiftung nur von Kriterien abhängig sein darf, die dem Gesetz zumindest im Wege der Auslegung zu entnehmen sind und deren konkrete Ausgestaltung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt. Ein behördliches Genehmigungs- bzw. Anerkennungsermessen ist damit unvereinbar. Durch das Gesetz zur Modernisierung des Stiftungsrechts vom 15.7.2002 hat der Bundesgesetzgeber sich dieser Erkenntnis nach eingehenden Beratungen angeschlossen. Mehr als hundert Jahre nach Inkrafttreten des BGB hat er mit dem novellierten Tatbestand der §§ 80, 81 BGB ein subjektives Recht auf Errichtung einer rechtsfähigen Stiftung als rechtlich konstituierte Freiheit geschaffen.44 Die Kontroverse um die Befugnisse der zuständigen Behörden im Anerkennungsverfahren hat damit insoweit ihr Ende gefunden.
c) Die Rolle des Landesrechts Da die Verfasser des BGB der Auffassung waren, der enge Zusammenhang des Stiftungswesens mit dem öffentlichen Recht der Einzelstaaten gebiete es, den Landesgesetzgebern die Entscheidung darüber zu belassen, unter welchen Voraussetzungen ein Stiftungsvorhaben zu genehmigen oder abzulehnen sei,45 enthielten die bundesgesetzlichen Regelungen des BGB anfangs keine vollständige Kodifikation des Stiftungsprivatrechts. Auch das Inkrafttreten des Grundgesetzes änderte zunächst nichts an dem für das Stiftungsrecht typischen Nebeneinander von Bundes- und Landesrecht. Zwar bekam der Bund nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1, Art. 72 GG für den Bereich des bürgerlichen Rechts die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz.46 Dementsprechend war in der Folge des 62. Deutschen Juristentages47 intensiv darüber debattiert worden, inwieweit sich die Einführung eines umfassenden Bundesstiftungsgesetzes empfehle. Der Gesetzgeber beließ es jedoch bei den Regelungen der ursprünglichen §§ 80–88 BGB und sanktionierte die zivilrechtliche Regelungskompetenz der Länder in § 85 BGB48 ausdrücklich. waren, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, da der bundesrepublikanische Gesetzgeber das BGB durch zahlreiche Änderungen seit 1949 in seinem Willen aufgenommen hat. 43 Grundlegend BVerfG, Beschluss vom 12.11.1958 – 2 BvL 4, 26, 40/56, 1, 7/57 = E 8, 274 (325) = NJW 1959, 475, 477. 44 Zum Terminus „Anerkennung“ siehe oben Fn. 3. Zur Gesetzgebungsgeschichte eingehend Nissel, Das neue Stiftungsrecht, 2002, passim. 45 Mugdan (Fn. 15), 420, 961 f. 46 Diese Kompetenz umfasst auch stiftungsrechtliche Regelungen, die für sich betrachtet zwar öffentlich-rechtlicher Natur sind, allerdings lediglich Vorfragen für den Eintritt oder Wegfall privatrechtlicher Rechtsfolgen zum Gegenstand haben, vgl. hierzu grundlegend Salzwedel, Verhandlungen 44. DJT, 1962, 52 ff.; siehe überdies Bund-Länder-Arbeitsgruppe Stiftungsrecht, Bericht v. 19.10.2001, Abschnitt K; Gesetzesentwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Modernisierung des Stiftungsrechts (BT-Drs. 14/8765 vom 11.4.2002), Begründung A. II; Schulte/Risch, in: Werner/Saenger, Die Stiftung, 2008, Rn. 1330 ff.; MüKoBGB/Weitemeyer (Fn. 4 ) § 80 Rn. 19; Andrick/Suerbaum, NJW 2002, 2905 f.; Andrick/Suerbaum, Stiftung und Aufsicht, Nachtrag: Das modernisierte Stiftungsrecht, 2003, 4 ff.; Richter (Fn. 4 ), 430 ff.; Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), Vorbem. 16 zu §§ 80 ff. 47 Siehe oben I.3.a). 48 Siehe oben I.2.
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Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Modernisierung des Stiftungsrechts vom 15.7.200249 haben sich die Verhältnisse allerdings gravierend gewandelt. Zwar ist es in seinem Rahmen nicht zu der immer wieder geforderten „Entstaatlichung“ des Stiftungswesens – beispielsweise durch die Einführung eines von den Organen der Freiwilligen Gerichtsbarkeit geführten Stiftungsregisters und die Ablösung der verwaltungsbehördlichen Stiftungsaufsicht durch die Dritte Gewalt – gekommen. Auch am Nebeneinander von Bundes- und Landesrecht hat sich prima facie nichts geändert. Mit dem Reformgesetz hat der Bundesgesetzgeber seine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das Stiftungsprivatrecht jedoch erstmals umfassend ausgeschöpft. Durch die neu gefassten §§ 80, 81 BGB sind daher die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften in den Landesstiftungsgesetzen nach Art. 31 GG ungültig geworden. Dies betrifft vor allem die Vorschriften zum notwendigen Inhalt von Stiftungsgeschäft und Stiftungssatzung aber auch alle Regelungen, welche die Möglichkeit von Zweck- oder Satzungsänderungen sowie Auf hebungs- oder Zusammenlegungsbeschlüssen durch Stiftungsorgane betreffen.50 Nach richtiger Ansicht sind sie sämtlich obsolet geworden. Sowohl die §§ 80, 81 BGB als auch § 87 BGB enthalten heute abschließende bundesgesetzliche Vorgaben, die abweichenden oder ergänzenden Vorschriften der Länder entgegenstehen.51 Unumstritten ist dieser Befund allerdings nicht. Gegen die herrschende Beurteilung der Gesetzgebungskompetenz im Stiftungsrecht wurde vorgebracht, dass das Bundesverfassungsgericht zur Bestimmung des Umfangs der Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG eine historische Betrachtung anstelle.52 Der Begriff des bürgerlichen Rechts, wie er in der Norm zum Ausdruck komme, sei mithin so zu verstehen, wie er zum Zeitpunkt der Verabschiedung des BGB im Lichte der Kompetenznorm des Art. 14 Nr. 13 der Reichsverfassung von 1871 interpretiert worden sei. Dies wiederum bedeute, dass der Gesetzgeber die §§ 80 ff. BGB zumindest insoweit als dem öffentlichen Recht zugehörig betrachtet habe, als es um die Voraussetzungen für die Genehmigung einer rechtsfähigen Stiftung des Privatrechts und ihre Auflösung gegangen sei.53 Dieser Ansicht ist freilich nicht zu folgen. Die historische Betrachtungsweise, von welcher das Bundesverfassungsgericht spricht, bezieht sich lediglich auf die generelle Abgrenzung des bürgerlichen Rechts vom öffentlichen Recht und nicht auf die Zu-
BGBl. 2002 I, 2634. Vgl. hierzu Arnold in: Hüttemann/Richter/Weitemeyer (Hg.), Landesstiftungsrecht, 2011, Rn. 27.6 ff.; Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), § 87 Rn. 3. 51 Happ, Stifterwille und Zweckänderung: Möglichkeiten und Grenzen einer Änderung des Stiftungszwecks durch Organbeschluss, 2007, 141 ff.; Wiesner, Korporative Strukturen bei der Stiftung bürgerlichen Rechts, 2012, 54 ff.; Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), § 87 Rn. 4. So jetzt offenbar auch Richter/Grummert, in: Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 5, 4. Aufl. 2016, § 117 Rn. 17; a.A. die Praxis der Landesbehörden. 52 So vor allem Achilles, ZRP 2002, 23 ff. unter Berufung auf BVerfG, Beschluss vom 10.3.1976 – 1 BvR 355/67 = E 42, 20, 29 ff. und BVerfG, Urteil vom 19.10.1982 – 2 BvF 1/81 = E 61, 149, 174 ff. 53 Die bundesgesetzliche Festlegung eines Anspruchs auf Anerkennung einer Stiftung als rechtsfähig sei kein Gegenstand bürgerlichen Rechts und daher verfassungswidrig. So Achilles, ZRP 2002, 23 ff.; Backert, ZSt 2004, 51 ff.; zurückhaltender jetzt aber Bamberger/Roth/Backert, 3. Aufl. 2012, § 80 Rn. 25, 43. 49
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ordnung einzelner Sachmaterien.54 Schon für den Gesetzgeber der Reichsverfassung von 1871 galten Normen, welche die privatautonomen Gestaltungsmöglichkeiten der rechtsunterworfenen Individuen erfassen sollten, als typisch bürgerlich-rechtlich. Dass man später – bei Verabschiedung des BGB – die Genehmigungsfähigkeit einer konkreten Stiftung aus verwaltungspolitischen Opportunitätserwägungen in die Hand der jeweils zuständigen Behörden legen wollte, ändert nichts an diesem Befund.55 Nach anfänglichem Widerstand56 haben die Bundesländer ihre Stiftungsgesetze an die geänderte Rechtslage angepasst. Diese Anpassung erfolgte in erster Linie durch die von der Reform des BGB erzwungene Eliminierung aller Tatbestände, die die materiellen Voraussetzungen des Anerkennungsverfahrens betrafen. Im Übrigen war aus der Wissenschaft und Praxis ein Modellentwurf für ein Landesstiftungsgesetz vorgelegt worden.57 Er verfolgte das Ziel, die rechtlichen Rahmenbedingungen für Stiftungen im Wege einer generellen Angleichung des Rechts der Länder zu vereinfachen sowie die Rechte von Stiftern zu stärken, und zwar durch Betonung ihrer Kompetenz zur autonomen Normsetzung im Rahmen der Satzungsgestaltung. Dementsprechend sah der Modellentwurf eine drastische Reduzierung des landesrechtlichen Normenbestandes vor, und zwar unter anderem durch eine vollkommene Abschaffung aller aufsichtsbehördlichen Genehmigungsvorbehalte, die bis dato für bestimmte Rechtsgeschäfte einer Stiftung mit Dritten bestanden hatten.58 Viele Landesgesetzgeber haben die Vorschläge aufgegriffen.59 Tatsächlich gibt es heute außer in Bayern60 in keinem Bundesland mehr Genehmigungsvorbehalte der erwähnten Art. Teilweise sind sie ersatzlos abgeschafft worden, teilweise wurden sie durch Anzeigepflichten ersetzt. Zu der von den Verfassern des Modellentwurfs angestrebten „bundesweiten Vereinheitlichung des Landesrechts“ ist es allerdings nicht gekommen. Ebenfalls nicht durchgesetzt hat sich die Erkenntnis, dass die in § 87 BGB enthaltene Regelung über behördliche Maßnahmen wie die Zweckänderung oder Auf hebung einer Stiftung landesrechtliche Regelungen über entsprechende Befugnisse durch Stiftungsorgane wegen des abschließenden Charakters der bundesrechtlichen Norm verbieten.61
54 Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), Vorbem. 18 zu §§ 80 ff.; MüKoBGB/Weitemeyer (Fn. 4 ) § 80 Rn. 19; Andrick/Suerbaum (Fn. 46), 5. 55 Vgl. Franzius, in: Hüttemann/Richter/Weitemeyer (Hg.), Landesstiftungsrecht, 2011, Rn. 1.17. Zu den besonderen Vorbehalten des Freistaates Bayern vgl. Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), Vorbem. 19 zu §§ 80 ff. 56 Es ist nicht fernliegend zu vermuten, dass dieser Widerstand, der vor allem aus den zuständigen Landesbehörden kam, in einer latenten Furcht der dort tätigen Verwaltungsbeamten vor einem gewissen Bedeutungsverlust wurzelte. 57 Hüttemann/Rawert, ZIP 2002, 2019, 2024 ff. 58 Hüttemann/Rawert, ZIP 2002, 2019, 2020 f. 59 Vgl. dazu die Darstellung von Franzius (Fn. 55), Rn. 2 .131 ff. 60 Art. 19 BayStiftG. 61 Siehe oben I. 3. c).
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5. Tendenzen Seit der Jahrhundertwende verzeichnet Deutschland einen Stiftungsboom. Von den insgesamt ca. 21.300 rechtsfähigen Stiftungen des Privatrechts, die nach einer Statistik des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen zum 31.12.2015 existierten, wurde etwa die Hälfte seit dem Jahr 2000 errichtet.62 Geschuldet ist diese Entwicklung einerseits dem Steuerrecht. Zuwendungen in den Vermögensstock einer Stiftung sind seit 2000 steuerlich in besonderer Weise privilegiert.63 Das hat viele Mäzene veranlasst, Beträge, die auch in andere gemeinnützige Rechtsträger hätten investiert werden können, Stiftungen zu überlassen. Aber auch die Modernisierung des Stiftungsprivatrechts hat das Stiften zumindest tendenziell attraktiver gemacht. Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass die behördlichen Mustersatzungen lediglich Empfehlungen sind, über die man sich mit eigenen Vorstellungen hinwegsetzen kann und es tatsächlich keine andere juristische Person des Privatrechts gibt, deren Organ- und Binnenstruktur so individuell gestaltet werden kann wie die der Stiftung. Dieses Faktum und der mit dem Begriff der Stiftung verbundene Nimbus einer besonderen „Nachhaltigkeit“ ihres Wirkens64 sind auf die Entwicklung des Stiftungswesens nicht ohne Einfluss geblieben. Um die Arbeit gemeinnütziger Stiftungen in Deutschland weiter zu erleichtern und zusätzliche Anreize für Stifter zu schaffen, haben sich die Justizministerinnen und Justizminister auf ihrer 85. Konferenz im Juni 2014 für eine ergebnisoffene Überprüfung des Stiftungsrechts ausgesprochen. Im Mittelpunkt dieser Überprüfung sollen die Rechte von noch lebenden Stiftern, die Möglichkeit der Bündelung von Ressourcen nicht überlebensfähiger Stiftungen, eine Steigerung der Transparenz im Stiftungswesen, die Schaffung und Verbesserung bundeseinheitlicher rechtlicher Rahmenbedingungen sowie die Absicherung von Stiftungen in Zeiten niedriger Kapitalerträge stehen.65 Bei den Stiftern geht es im Kern um die Frage, inwieweit ihnen die Möglichkeit eingeräumt werden soll, zu Lebzeiten die Verfassung „ihrer“ Stiftungen noch zu verändern. Auf dem Boden der lex lata sind solche Änderungen, sofern sie den Stiftungszweck betreffen, nahezu ausgeschlossen. Auch bei Satzungsänderungen unter62 Statistiken des Bundesverbands Deutscher Stiftungen: „Rechtsfähige Stiftungen bürgerlichen Rechts 2001–2015 in Deutschland“ sowie „Stiftungserrichtungen 1990–2015 in Deutschland“, letztere beruhend auf Umfragen unter den Stiftungsaufsichtsbehörden, abruf bar unter https://www.stiftungen. org/no_cache/de/forschung-statistik/statistiken.html, zuletzt abgerufen am: 17.11.2016. 63 Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung von Stiftungen vom 14.7.2000, BGBl. I S. 1034; dazu Crezelius/Rawert, ZEV 2000, 421 ff. 64 Das beliebte Schlagwort „Nachhaltigkeit“ wird von den Protagonisten des deutschen Stiftungswesens inzwischen unentwegt im Munde geführt – insbesondere wenn es darum geht, den Gesetzgeber zu weiteren Privilegien für Stiftungen zu bewegen. 65 Beschluss der 85. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister am 25.–26.6.2014 im Ostseebad Binz auf Rügen. Siehe dazu auch schon den Beschluss zur Reform des Stiftungsrechts aus der Sammlung der zur Veröffentlichung freigegebenen Beschlüsse der 198. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 11.–13.6.2014 in Bonn. Der Bericht der BundLänder-Arbeitsgruppe „Stiftungsrecht“ an die ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 9.9.2016 ist abruf bar unter http://www.innenminsterkonferenz.de/IMK/DE/ termine/to-beschluesse/2016-11-29_30/nummer%2026%20reform%20stiftungsrecht.pdf, zuletzt abgerufen am 5.1.2017.
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halb der Zweck-Ebene sind sie an hohe Voraussetzungen geknüpft.66 In der Praxis löst dies oft Unverständnis aus. Erwogen wird daher, Stiftern, bei denen es sich um natürliche – und mithin sterbliche – Personen handelt, Sonderrechte einzuräumen. Diese Sonderrechte sollen keinen korporativen Charakter haben. Sie sollen die noch lebenden Stifter nicht gleichsam zu „Gesellschaftern“ ihrer Stiftung machen. In der Sache ist vielmehr daran gedacht, durch die Einräumung der Sonderrechte den Gründungsprozess einer Stiftung auf den Zeitpunkt bis zum Tod der Stifter zu strecken.67 Der europäische Rechtsvergleich bietet Beispiele für solche Regelungen.68 Soweit es die Bündelung von Ressourcen nicht überlebensfähiger Stiftungen bzw. die Absicherung von Stiftungen in Zeiten niedriger Erträge betrifft, wird die Frage diskutiert, inwieweit es unter erleichterten Voraussetzungen zulässig sein könnte, mehrere „notleidende Stiftungen“69 unter Ausnutzung von Synergieeffekten zusammenzulegen bzw. nicht mehr lebensfähige Stiftungen anderen – lebensfähigen – Stiftungen zuzulegen. Derzeit besteht diese Möglichkeit nur, wenn die Erfüllung des Zwecks einer Stiftung unmöglich geworden ist (§ 87 BGB). Die Eingriffsbefugnis der Stiftungsbehörden wird allerdings sehr restriktiv ausgelegt. In der Kommentarliteratur wird als Beispiel für die Unmöglichkeit der Zweckerfüllung aus finanziellen Gründen lediglich der endgültige Verlust des gesamten Stiftungsvermögens genannt. Nirgends wird zwischen dem Wegfall der Substanz und dem Verlust der Ertragskraft differenziert. Teilweise wird sogar die Ansicht vertreten, dass § 87 Abs. 1 BGB auf Fälle einer dauernden Ertragsschwäche nicht anwendbar sei, so lange überhaupt noch Vermögen – und sei es noch so gering – vorhanden ist.70 Fallmaterial aus der Rechtsprechung fehlt vollständig. Angesichts dieser Unsicherheiten wundert der Ruf nach dem Gesetzgeber nicht. Der Topos „Transparenz“ hat seinen Grund in der noch immer als nicht ausreichend empfundenen Publizität im Stiftungswesen. Das bezieht sich nicht nur auf Fragen der Rechnungslegung. Es betrifft auch die Offenlegung der Organ- und Vertretungsverhältnisse einer Stiftung des BGB. Anders als bei den übrigen juristischen Personen des Privatrechts fehlt es im Stiftungswesen an einem Register, mit dem sich die wesentlichen Rechtsverhältnisse einer Stiftung einfach und unter Schutz des guten Glaubens in die Richtigkeit der Eintragungen feststellen lassen.71 Schließlich bietet das Nebeneinander von Bundes- und Landesrecht noch immer Raum für kontroverse Rechtsansichten. Relevant ist dabei vor allem die Frage, in Vgl. § 6 BaWürttStiftG, Art. 5 Abs. 4 BayStiftG, § 5 Abs. 1 BerlStiftG, § 10 BrbgStiftG, § 8 Abs. 1 und 2 BremStiftG, § 7 Abs. 1 und 3 HmbStiftG, § 9 HessStiftG, § 9 MeckVorPStiftG, § 7 NdsStiftG, § 5 NRWStiftG, § 8 Abs. 1 und 3 RhPfStiftG, § 7 Abs. 1 und 3 SaarlStiftG, § 9 SächsStiftG, § 9 Abs. 1 und 3 SachsAnhStiftG, § 5 SchlHolStiftG, § 9 ThürStiftG. 67 Vgl. Rawert, in: Non Profit Law Yearbook 2012/2013, 51, 56 ff. 68 Beispielhaft sei Art. 86a des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs genannt. Dazu vor allem Jakob, RIW 2005, 669, 673 f.; ders., SJZ 104, 2008, 533, 535 ff.; Büchler/Jakob/Jakob, ZGB 2012, 86a Rn. 1 ff.; Grüninger, in: Baseler Kommentar ZGB I, 2010, Art. 86a Rn. 3 ff. 69 Zum Begriff Hüttemann/Rawert, ZIP 2013, 2136. 70 So vor allem Lutter, in: Non Profit Law Yearbook 2004, 43, 53. 71 Zwar existieren in allen Bundesländern Stiftungsverzeichnisse, doch begründen Eintragungen in diese keine Vermutung ihrer Richtigkeit (vgl. exemplarisch § 3 Abs. 1 S. 2 HmbStiftG). Ein Stiftungsregister mit positiver oder negativer Publizität gibt es nicht. Vgl. hierzu Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), Vorbem. 104 ff. zu §§ 80 ff.; Rawert, in: FS für Peter Kreutz, 2010, 825 ff. 66
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wieweit das BGB abschließende Regelungen im Hinblick auf die Änderung des Zwecks einer Stiftung, ihre Auflösung oder ihre Zusammen- bzw. Zulegung mit oder zu einer anderen Stiftung trifft.72 Der Debatte gleichsam entzogen scheint freilich die Frage, ob ein modernes Stiftungswesen zu Beginn des 21. Jahrhunderts überhaupt noch der Mitwirkung einer Verwaltungsbehörde bei der Errichtung rechtsfähiger Stiftungen des bürgerlichen Rechts bedarf und ob die allenthalben als funktional unentbehrlich empfundene Aufsicht über die Stiftungen als ein mitgliederloses Rechtssubjekt zwingend durch den Staat erfolgen muss, oder ob sie nicht auch durch andere Institutionen der Zivilgesellschaft respektive durch eine interne „Foundation Governance“ erfolgen kann. Tatsächlich lautet der Befund: Das Verwaltungsmodell als Konzept der rechtsfähigen Stiftung des Privatrechts hat dem Grunde nach überlebt, und zwar praktisch unangefochten.
II. Die staatliche Mitwirkung im Stiftungswesen nach geltendem Recht Schon eingangs ist darauf hingewiesen worden, dass die Rechtsform der Stiftung des BGB gleichsam synonym für private Gemeinwohlpflege steht. Das fortbestehende Verwaltungsmodell, also die überkommene und noch immer durchgängige Einbettung des Stiftungswesens in ein behördliches System der Gewährung von Rechtsfähigkeit und anschließender Unterstellung unter staatliche Aufsicht, wirkt in einer modernen Zivilgesellschaft folglich prima facie wie ein Fremdkörper.73 Die Stiftungs- oder Staatsaufsicht (1.), ihre richtig verstandene Funktion (2.), ihre verfassungsrechtliche Legitimation (3.) sowie die konkrete Art und der Umfang zulässiger staatlicher Einwirkung auf Stiftungen (4.) werfen daher Fragen auf.
1. Stiftungsaufsicht/Staatsaufsicht Zunächst ist festzustellen, dass der Begriff der Stiftungsaufsicht nicht einheitlich verwendet wird. Teils heißt es, dass er neben der laufenden Überwachung der Stiftungsverwaltung auch die Anerkennung der Stiftung als eine Form „präventiver Aufsicht“ umfasst. In diesem weiten Sinne wird insoweit auch von der „Staatsaufsicht“ über Stiftungen gesprochen.74 Die Stiftungsgesetze der Länder hingegen verstehen unter der Stiftungsaufsicht lediglich die laufende Verwaltungskontrolle der in ihrem Geltungsbereich ansässigen Stiftungen.75 Abseits begrifflicher Erwägungen ist allerdings Siehe oben I. 3. c). Suerbaum, in: Jahreshefte zum Stiftungswesen 2008, 89, 90; ebenso: Jakob, ZSt 2006, 63; Hof (Fn. 41), § 4 Rn. 124. 74 Achilles, Die Aufsicht über die kirchlichen Stiftungen der evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland, 1986, 59; Hof (Fn. 41), § 10 Rn. 1 f.; Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), Vorbem. 83 zu §§ 80 ff. 75 Vgl. §§ 8 –14 BaWürttStiftG, Art. 10–19 BayStiftG, §§ 7–9 BerlStiftG, §§ 6 –9 BrbgStiftG, §§ 11– 15 BremStiftG, §§ 5 –6 HmbStiftG, §§ 10–16 HessStiftG, §§ 4 –9 MeckVorPStiftG, §§ 10–16 NdsStiftG, 72 73
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zu bedenken, dass sämtliche Formen staatlicher Mitwirkung im Stiftungswesen in einem vom Verfassungsrecht vorgegebenen normativen Zusammenhang stehen. Die Wertentscheidungen, die die Rolle der Behörden im Anerkennungsverfahren bestimmen, gelten auch im Aufsichtsverfahren und umgekehrt. Darüber besteht im Stiftungsrecht heute Einvernehmen.76
2. Die Funktion der Aufsicht Was die Funktion der Aufsicht über Stiftungen betrifft, ist zwischen dem Stadium ihrer Errichtung und ihrem späteren „Leben“ zu unterscheiden.
a) Errichtungsstadium Im Verfahren auf Anerkennung einer Stiftung als rechtsfähig besteht die Funktion der dafür zuständigen Landesbehörden seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Modernisierung des Stiftungsrechts vom 15.7.200277 ausschließlich in der Prüfung der Einhaltung der von den §§ 80, 81 BGB geregelten Normativbestimmungen. Obschon Stiftungen zu ihrer Entstehung nach wie vor einer staatlichen Genehmigung78 bedürfen, steht in der Sache außer Frage, dass sich das historische Konzessionssystem unter der Herrschaft des Grundgesetzes und infolge der Stiftungsrechtsmodernisierung des Jahres 2002 materiell zu einem System von Normativbestimmungen gewandelt hat, also die Anerkennung als rechtsfähig erfolgen muss, wenn die Maßgaben des gesetzlichen Gründungstatbestandes erfüllt sind. Diese Bestimmungen besagen, dass ein Stiftungsgeschäft neben der Widmung eines Vermögens zu bestimmten Zwecken eine Satzung enthalten muss, die Regelungen über den Namen, den Sitz, den Zweck, das Vermögen der Stiftung sowie die Bildung ihres Vorstands enthält (§ 81 Abs. 1 S. 1 BGB). Überdies muss aus der Perspektive des Errichtungszeitpunktes die „dauernde und nachhaltige Erfüllung des Stiftungszwecks gesichert“ erscheinen und der Stiftungszweck darf das Gemeinwohl nicht gefährden (§ 80 Abs. 2 S. 1 BGB). Ungeschriebenes Merkmal des Errichtungstatbestandes ist ferner die Fremdnützigkeit des Stiftungszwecks. Nach herrschender Meinung sind sowohl Selbstzweckstiftungen als auch Stiftungen, die lediglich den Stifter begünstigen sollen, unzulässig.79 Begründet wird dies unter Hinweis auf die Funktionslosigkeit derartiger Rechtssubjekte bzw. die Unzulässigkeit der Bildung von Haftungsenklaven. Soweit es die formale Prüfung der Satzungsbestandteile betrifft (Name, Sitz, Zweck, Organstruktur), bereitet diese gewöhnlich keine Probleme. Die Anerkennungsbehörde darf die Festsetzungen des Stifters lediglich beanstanden, wenn sie in §§ 6 –11 NRWStiftG, § 9 RhPfStiftG, §§ 10–16 SaarlStiftG, §§ 6 –7 SächsStiftG, § 10 SachsAnhStiftG, §§ 8 –14 SchlHolStiftG, § 12 ThürStiftG. 76 Hof (Fn. 41), § 10 Rn. 2 , 126; Büermann, in: Bertelsmann Stiftung (Hg.), Handbuch Stiftungen, 2. Aufl. 2003, 838 f.; Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), Vorbem. 83 zu §§ 80 ff. 77 BGBl. 2002 I, 2634. 78 Zur Terminologie siehe oben Fn. 3. 79 Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), Vorbem. 8 zu §§ 80 ff. m.w.N.
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sich widersprüchlich oder unschlüssig sind. Solche Beanstandungen kommen in der Praxis zuweilen vor, wenn ein Stifter sich entscheidet, neben dem Stiftungsvorstand ein weiteres Organ (Stiftungsrat/Kuratorium) einzurichten. In diesem Falle hat die Satzung eine klare Kompetenzabgrenzung zwischen Vorstand und weiterem Organ vorzusehen, weil das Stiftungsrecht – anders als beispielsweise das Aktienrecht – eine solche nicht vorhält. Ist das nicht der Fall, so kann die Anerkennungsbehörde dies beanstanden und auf Abhilfe bestehen.80 Eher neuralgisch ist die Prüfung der zweckadäquaten Vermögensausstattung einer Stiftung. Grundsätzlich ist sie eine Prognoseentscheidung des Stifters. Die Anerkennungsbehörde ist an die Entscheidung gebunden.81 Sie selbst hat keinen Prognosespielraum. Ihre Aufgabe besteht lediglich darin, die Maßgaben des Stifters auf ihre Vertretbarkeit zu überprüfen. Tatsächlich sind die Anerkennungsbehörden in der Vergangenheit insoweit „großzügig“ gewesen. Vor Beginn der von der Finanzkrise 2008 eingeleiteten Niedrigzinsphase war es gang und gäbe, Stiftungen bereits mit einer Kapitalausstattung anzuerkennen, die im fünf- oder niedrigen sechsstelligen Euro-Bereich lag. Oft wurde dabei berücksichtigt, dass Stifter unverbindlich weitere Zuwendungen in Aussicht stellten, insbesondere durch Verfügung von Todes wegen. Rechtlich korrekt war diese Praxis nicht. Grund für das laxe Vorgehen der Behörden war offenbar der politische Auftrag, der weiteren Entwicklung des deutschen Stiftungswesens nicht durch Kleinlichkeit im Wege zu stehen. Nicht umsonst überbieten sich die Bundesländer seit Jahren gegenseitig mit Statistiken, die ihre Stiftungsfreundlichkeit auf quantitativer Grundlage beweisen sollen. Geführt hat diese Entwicklung dazu, dass bei etwa einem Viertel der per 31.12.2015 hierzulande existierenden ca. 21.300 rechtsfähigen Stiftungen ein Kapital von weniger als 100.000 Euro vorhanden ist und bei insgesamt gut drei Vierteln ein Kapital von weniger als 1.000.000 Euro.82 Die andauernde Politik der „finanziellen Repression“ bedroht viele dieser Stiftungen inzwischen in ihrer Existenz. Das Instrumentarium der laufenden Stiftungsaufsicht für solche „notleidenden Stiftungen“ gilt gemeinhin als unzureichend. Derzeit wird rechtspolitisch diskutiert, inwieweit dieser Befund gesetzgeberische Maßnahmen fordert.83 Kontrovers ist auch die Rolle des von § 80 Abs. 2 BGB normierten Gemeinwohlvorbehaltes. Der Bundesgesetzgeber hat sich zur Beantwortung der Frage, wann eine Gemeinwohlgefährdung vorliegt, auf die Republikaner-Entscheidung des BVerwG vom 12.2.1998 gestützt.84 Danach soll das Gemeinwohl jedenfalls dann gefährdet sein, „wenn es hinreichend wahrscheinlich, also eine nicht bloß entfernt liegende Möglichkeit ist, dass die Erlangung der Rechtsfähigkeit und die damit verbundene Verfolgung des Stiftungszwecks durch die dann rechtsfähige Stiftung zu einer Be Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), § 80 Rn. 19. So richtig MüKoBGB/Weitemeyer (Fn. 4), § 80 Rn. 108 ff.; vgl. Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), § 80 Rn. 23. 82 Statistik des Bundesverbands Deutscher Stiftungen: „Überwiegend kleine Stiftungen“, beruhend auf der Datenbank Deutscher Stiftungen, Stand Februar 2016, abruf bar unter https://www.stiftungen. org/fileadmin/bvds/de/Forschung_und_Statistik/Statistik_2016/Stiftungskapital_2015.pdf, zuletzt ab gerufen am 17.11.2016. 83 Siehe oben I.4; vgl. auch Hüttemann/Rawert, ZIP 2013, 2136 ff. 84 BT-Drs. 14/8894, 10. 80 81
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einträchtigung von Verfassungsrechtsgütern führen würde“.85 Konsequenz dieser Rechtsprechung ist, dass nicht nur Stiftungszwecke, die gegen Rechtssätze verstoßen, unzulässig sein sollen, sondern bereits solche, die an der Grenze der Rechtswidrigkeit liegen und diese jederzeit überschreiten können.86 Überspitzt könnte man sagen: Die Angst vor dem Klon rechtfertigt die Verweigerung der Anerkennung einer Stiftung, deren Zweck in der Erforschung humangenetischer Reproduktionsverfahren besteht. Als „Gefahrenabwehrklausel“ bestehen gegen den Gemeinwohlvorbehalt allerdings erhebliche Bedenken. Weil sich aus der Vorschrift selbst nicht mit hinreichender Bestimmtheit ergibt, aus welchen Gründen die Behörden die Anerkennung einer Stiftung als rechtsfähig versagen können, stellt sie eine unverhältnismäßige Einschränkung des Rechts auf Stiftung dar, das durch Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem einfachen Recht (§§ 80, 81 BGB) geschützt ist. Viel spricht daher dafür, dass der Gemeinwohlvorbehalt des § 80 Abs. 2 BGB verfassungswidrig ist.87 Nach richtiger Ansicht dürfen die Anerkennungsbehörden ein Stiftungsvorhaben folglich nur zurückweisen, wenn das Stiftungsgeschäft wegen eines konkreten Gesetzesverstoßes unwirksam ist. „Präventive Stiftungsaufsicht“ kann es nur in gesetzlich klar geregelten Fällen geben.
b) Laufende Stiftungsaufsicht aa) Ausgangspunkt Ausgangspunkt der laufenden Stiftungsaufsicht ist die Erkenntnis, dass die Stiftung des BGB ein besonders schutzbedürftiger Rechtsträger ist. Sie ist ein mitgliederloses Rechtssubjekt. Ihre Organe sind zwar an den Stiftungszweck und das Stiftungsrecht gebunden. Tatsächlich stehen sie gegenüber „ihrer“ Stiftung in einem Treueverhältnis, für welches das Bundesrecht über die Verweisung der §§ 86, 27 Abs. 3 BGB die Regelungen des Auftragsrechts (§§ 664 ff. BGB) für anwendbar erklärt.88 Dieter Reuter hat die Aufgabe von Stiftungsvorständen daher zutreffend wie folgt umschrieben: „Ihr Handeln muss so sein wie das der Stiftung, wenn sie eine natürliche Person wäre und ihre Interessen selbst wahrnehmen könnte“.89 Freilich hat Reuter auch darauf hingewiesen, dass es bei der Stiftung in aller Regel keine Instanz gibt, die das aus § 665 BGB folgende Weisungsrecht gegenüber den Organmitgliedern ausüben kann. In der Praxis fehlt es nämlich zumeist an Personen, welche aus eigenem Recht die Verpflichtungen der Stiftungsorgane durchsetzen können. Das liegt maßgeblich daran, dass weit über 90 % der hierzulande tätigen Stiftungen steuerbe85 BT-Drs. 14/8894, 10 unter Berufung auf BVerwG, Urteil vom 12.2.1998 – 3 C 55/96 = E 106, 177 = NJW 1998, 2545. 86 Vgl. BT-Drs. 14/8765, 9; Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), § 80 Rn. 28 f. 87 Eingehend dazu Volkholz, Geltung und Reichweite der Privatautonomie bei der Errichtung von Stiftungen, 2002, 190 ff. m.w.N.; vgl. auch Muscheler, Stiftungsrecht, 2. Aufl. 2011, 125 ff. 88 Die bundesgesetzliche Vorgabe wird inhaltlich von vielen Landesstiftungsgesetzen aufgegriffen, siehe § 7 Abs. 1 BaWürttStiftG, Art. 6 Abs. 2 BayStiftG, § 6 Abs. 1 BremStiftG, § 4 Abs. 1 HmbStiftG, § 5 HessStiftG, § 4 Abs. 1 NRWStiftG, § 7 Abs. 1 RhPfStiftG, § 5 Abs. 1 SaarlStiftG, § 4 Abs. 1 SächsStiftG, § 14 Abs. 1 S. 2 SachsAnhStiftG, § 8 Abs. 1 S. 2 ThürStiftG. 89 Reuter, in: Non Profit Law Yearbook 2002, 157.
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günstigten Zwecken im Sinne der §§ 51 ff. AO dienen. Adressat der Wohltaten solcher Einrichtungen ist folglich die Allgemeinheit. Diese ist zu anonym, als dass sie Einfluss oder gar subjektive Rechte im Hinblick auf die Tätigkeit konkreter Stiftungen haben könnte. Aber selbst dann, wenn Stiftungen – wie z.B. Familienstiftungen – nur einem begrenzten Kreis von Destinatären dienen, bestehen erhebliche Schutzlücken. Gerade Familienstiftungen werden in der Praxis nicht selten errichtet, um künftigen Generationen den uneingeschränkten Ge- bzw. Verbrauch des Familienvermögens vorzuenthalten.90 Gang und gäbe ist daher die Gestaltungsempfehlung, Destinatären solcher Stiftungen einklagbare Ansprüche ausdrücklich zu versagen. All das bringt die Stiftung in eine „typische Gefährdungslage“,91 die eine Aufsicht über sie funktional unentbehrlich macht – auch wenn damit nicht notwendig gesagt ist, dass sie von staatlichen Stellen ausgeübt werden muss.92 Hierzulande freilich gehört die behördliche Aufsicht über Stiftungen zu den überkommenen Prinzipien des Stiftungsrechts.
bb) Schutz, Kontrolle, Garantie und Beratung Historisch gesehen ist die Notwendigkeit staatlicher Aufsicht über Stiftungen Ausdruck von Vorbehalten gegenüber privater Gemeinwohlpflege gewesen.93 Heute hingegen wird ihre Raison d´Être in erster Linie mit dem Integritätsinteresse der Stiftung selbst begründet. Die Rede ist insoweit von einer „Schutzfunktion“ des Staates für die in seinem Herrschaftsbereich errichteten Stiftungen. Neben dieser Schutzfunktion soll eine „Kontrollfunktion“ bestehen. Weil die Stiftung ein Rechtsträger ohne personales Substrat ist, sei ihre Verkehrsfähigkeit latent gefährdet. Diese aufrecht zu erhalten obliege dem Staat auch im Interesse der Allgemeinheit. Tatsächlich mehren sich in jüngerer Zeit Berichte über Stiftungen, denen funktionierende Organe buchstäblich abhandenkommen.94 Ohne „rettende Eingriffe“ staatlicher Aufsichtsbehörden wären sie nicht nur selbst in ihrem Bestand gefährdet. Es würde vielmehr auch eine Beeinträchtigung des Rechtsverkehrs drohen, weil er gleichsam mit „Blasen“ ohne Lenkung konfrontiert wäre. Solche Rechtsgebilde haben in einer marktwirtschaftlichen Ordnung aber keinen Platz. Fraglich ist allenfalls, inwieweit die Wahrnehmung der Stiftungsaufsicht dem Staat auch im Interesse des Stifterwillens obliegt. Traditionell wird eine solche „Garantiefunktion“ bejaht.95 Die Stiftungsgesetze nahezu aller Bundesländer erklären den Willen des Stifters zur Richtschnur der Stiftungsaufsicht.96 Daran ist richtig, dass der 90 Zur Familienstiftung aus der Sicht der Kautelarjurisprudenz Schiffer, in: Schiffer (Hg.), Die Stiftung in der Beraterpraxis, 4. Aufl. 2015, § 2 Rn. 21 ff. m.w.N. 91 Schulte, DÖV 1996, 490, 497, 499; vgl. auch Andrick/Suerbaum, Stiftung und Aufsicht, 2001, § 4 Rn. 18. 92 Zu anderen Mechanismen siehe Jakob, in: Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 5, 4. Aufl. 2016, § 119 Rn. 73 ff. 93 Siehe dazu I. 1. Zu den heute vertretenen Funktionen Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), Vorbem. 84 ff. m.w.N. 94 Vgl. zur notleidenden Stiftung Hüttemann/Rawert, ZIP 2013, 2136 ff. 95 Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), Vorbem. 84 zu §§ 80 ff. 96 § 2 BaWürttStiftG, Art. 2 Abs. 1 BayStiftG, § 6 Abs. 1 BrbgStiftG, § 3 BremStiftG, § 4 Abs. 1
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Gesetzgeber mit der Bereitstellung des Rechtsinstituts der Stiftung und dem Verwaltungsmodell die Erwartung schürt, dass eine Stiftung trotz ihres mangelnden personalen Substrats eine dauerhaft lebensfähige juristische Person sein und bleiben kann. Eine Funktion, die über den Schutz der Integrität der Stiftung hinausgeht, ist der Gewährleistung des Stifterwillens jedoch nicht zuzumessen.97 Insbesondere dient sie nicht den aktuellen Interessen eines noch lebenden Stifters. Maßgeblicher Stifterwille im Sinne des Stiftungsrechts ist stets nur der objektive Stifterwille, wie er bei Errichtung der Stiftung seinen Ausdruck in ihrer konkreten Verfassung gefunden hat. Spätere Wandlungen dieses Willens und aus ihnen resultierende subjektive Wünsche und Vorstellungen sind für die Ausübung der Stiftungsaufsicht bedeutungslos.98 Neben der Schutz-, Kontroll- und Garantiefunktion wird diskutiert, inwieweit der Stiftungsaufsicht auch eine „Beratungsfunktion“ zukommt.99 Sie soll Grundlage für Recht und Pflicht der zuständigen Behörden zu Vorschlägen und Hinweisen in rechtlichen und tatsächlichen Zweifelsfragen sein100 und Rechtsverstößen von Stiftungsorganen bereits im Vorfeld begegnen. Art. 11 BayStiftG normiert ausdrücklich: „Die Stiftungsaufsichtsbehörden sollen die Stiftungen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben verständnisvoll beraten, fördern und schützen sowie die Entschlusskraft und die Selbstverantwortung der Stiftungsorgane stärken.“ Die zwischen Stiftungsorganen und Aufsichtsbehörden konsensual betriebene Bewältigung von Problemen ist allerdings kritisch zu bewerten. Sie birgt latent das Risiko, dass die Behörden die ohnehin fließenden Grenzen zwischen staatlicher Rechtsaufsicht und behördlicher Mitverwaltung von Stiftungen überschreiten. Dieter Reuter hat zu Recht die Gefahr beschworen, dass solchermaßen konzertiertes Verhalten zu „Nichtangriffspakten zum Nachteil der Stiftung“ führen kann.101 Zutreffend hat er darauf hingewiesen, dass mit einer Pflichtverletzung des Stiftungsvorstands, die zu einem Schaden bei einer Stiftung führt, tendenziell immer auch eine Amtspflichtverletzung der Aufsichtsbehörde einhergehe. Sie bestehe darin, dass nicht rechtzeitig gegen das Fehlverhalten eingeschritten, sondern das Fehlverhalten qua Beratung womöglich sogar unterstützt worden sei. Im Ergebnis – so Reuter – könne dies dazu führen, dass es wegen Schädigung der Stiftung einen Anspruch gegen den Stiftungsvorstand gebe, welcher von der Aufsichtsbehörde geltend zu machen sei, und zugleich einen Anspruch gegen die Aufsichtsbehörde, welcher vom Stiftungsvorstand durchgesetzt werden müsse.102 Tatsächlich hat der BGH in einem Fall mangelhaft ausgeübter Stiftungsaufsicht entschieden, dass sich eine Stiftung im Rahmen HmbStiftG, § 5 HessStiftG, § 4 Abs. 1 MeckVorPStiftG, § 2 NdsStiftG, § 4 Abs. 1 und § 6 Abs. 2 NRWStiftG, § 1 Abs. 1 RhPfStiftG, § 5 Abs. 1 SaarlStiftG, § 2 SächsStiftG, § 1 SachsAnhStiftG, § 1 Abs. 1 ThürStiftG. 97 A.A. offenbar Schulte, in: Hüttemann/Richter/Weitemeyer (Hg.), Landesstiftungsrecht, 2011, Rn. 28.32. 98 Zu rechtspolitischen Tendenzen Rawert, in: Non Profit Law Yearbook 2012/13, 51, 56 ff. sowie Reformvorschläge zur Verbesserung des Stiftungsrechts des Bundesverbands Deutscher Stiftungen, Stiftungsposition März 2015, abruf bar unter https://www.stiftungen.org/fileadmin/bvds/de/Verband/Positionen/StiftungsPosition_2015_Reformvorschlaege.pdf, zuletzt abgerufen am 17.11.2016. 99 Schulte (Fn. 97), Rn. 28.35 f. 100 Schwinteck, Vorstandskontrolle in rechtsfähigen Stiftungen bürgerlichen Rechts, 2001, 217. 101 MüKoBGB/Reuter (Fn. 41), Vor § 80 Rn. 13, 80. 102 Reuter (Fn. 89), 157, 171.
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von Amtshaftungsansprüchen ein Verschulden ihres unter staatlicher Aufsicht stehenden Vorstandes nach § 254 BGB anrechnen lassen muss. Dahinter verbirgt sich der Gedanke einer Art von „Aufrechnung“ mit Gegenansprüchen. Besteht die Amtspflichtverletzung einer Behörde freilich gerade darin, dass sie das mit dem vermeintlichen Mitverschulden identische Fehlverhalten der Stiftungsorgane nicht verhindert hat, ist die Anwendung des § 254 BGB zulasten der Stiftung widersinnig.103 Aus diesem Befund ein generelles Verbot behördlicher Beratungstätigkeit ableiten zu wollen104, schießt über das Ziel jedoch deutlich hinaus. Es ist nicht interessengerecht, wenn Stiftungsorgane sich ausnahmslos selbst überlassen und damit der Gefahr späterer, repressiver Aufsichtsmaßnahmen ausgesetzt werden. Gerade im Stiftungsrecht gibt es in der Praxis viele Sachverhalte, deren juristische Beurteilung unklar ist. Anders als die Organe von körperschaftlich organisierten Rechtsträgern können sich Stiftungsvorstände in Grenzsituationen nicht des Votums einer Mitgliedschaft vergewissern. Überdies ist zu bedenken, dass die zuständigen Stellen von kritischen Sachverhalten in der Regel nicht oder zumindest zu spät erführen, würde behördliche Beratung generell verweigert. Aus der Sicht der Stiftung wäre dies nicht weniger gefährlich als die Möglichkeit eines unterstellten Paktes zu ihren Lasten. Für die Praxis entscheidend ist daher einzig, dass die Pflicht zu „verständnisvoller Beratung“ nicht unterhalb der Schwelle rechtlich ernstzunehmender Monita den Vorwand zu „hoheitlichen Erziehungsversuchen“ liefert.105
3. Stiftungsaufsicht und Grundrechtsschutz a) Die Grundrechtssubjektivität der Stiftung Sowohl die Legitimation als auch die Reichweite der staatlichen Stiftungsaufsicht werden durch die Grundrechtssubjektivität der Stiftung bestimmt. Diese Grundrechtssubjektivität ist heute unbestritten. Vermittelt wird sie durch Art. 19 Abs. 3 GG.106 Sowohl das BVerwG als auch das BVerfG haben das wiederholt bestätigt.107 Insbesondere das BVerwG hat festgestellt, dass die Stiftung, die „als ständige Einrichtung bei der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft mitwirken soll, … für die 103 Jakob, Schutz der Stiftung, 2006, 257; MüKoBGB/Weitemeyer (Fn. 4 ), § 80 Rn. 56; Suerbaum, in: Jahreshefte zum Stiftungswesen 2008, 89, 108 f.; ähnlich Bruns, Kommentar zum StiftG Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2010, § 8 Anm. 8. Zur erwähnten Amtshaftungsrechtsprechung siehe BGH, Urteil vom 3.3.1977 – III ZR 10/74 = Z 68, 142 = NJW 1977, 1148. Dagegen sollen mehrere Stiftungsorgane gleichstufig haften und sich nicht mit Hinweis auf fremdes Fehlverhalten entlasten können. Siehe BGH, Urteil vom 20.11.2014 – ZR 509/13 = NZG 2015, 38. 104 In diese Richtung MüKoBGB/Reuter (Fn. 41), Vor § 80 Rn. 13, 80. 105 Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), Vorbem. 85 zu §§ 80 ff.; tatsächliches Beispiel für solche Erziehungsversuche bei Rawert, in: FS für Klaus Hopt, 2010, 177 f. 106 Zur Vermittlungstheorie vgl. Isensee in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2011, § 199 Rn. 104 ff. 107 BVerfG, Beschluss vom 11.10.1977 – 2 BvR 209/76 = E 46, 73 (83); BVerfG, Beschluss vom 17.2.1981 – 2 BvR 384/78 = E 57, 220 (240); BVerwG, Urteil vom 22.9.1972 – VII C 27/71 = E 40, 347 (349). Zur Grundrechtssubjektivität der Stiftung neuestens VG Dresden, Urteil vom 9.8.2016 – 7 K 4075/14.
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Betätigung dieser ihr vom Stifter gesetzten Aufgabe des Schutzes der Grundrechte gegen unberechtigte Eingriffe des Staates …“ bedarf.108 Dazu hat von Mutius darauf hingewiesen, dass die Formulierung des Art. 19 Abs. 3 GG, nach dem die Grundrechte auch für inländische „juristische Personen“ gelten, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind, auf Vorschlag des Redaktionsausschusses in der Sitzung vom 25.1.1949 bewusst gewählt wurde, weil die bis zu diesem Zeitpunkt in den Entwürfen des Grundgesetzes verwendeten Begriffe „‚Körperschaften und Anstalten‘ nicht alle juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts, z.B. nicht die Stiftungen“ umfassen.109 Prinzipielle Bedenken gegen die Grundrechtssubjektivität von Stiftungen sind daher unbegründet.110 Es fragt sich allerdings, wie sich dieses Ergebnis in die Dogmatik des Art. 19 Abs. 3 GG einfügt. Soweit die Ansicht vertreten wird, die Einbeziehung der juristischen Personen in den Schutzbereich der Grundrechte erscheine generell nur gerechtfertigt, wenn ein „Durchgriff “ auf die hinter den juristischen Personen stehenden Menschen dies als sinnvoll und erforderlich erscheinen lasse,111 stößt diese These bei der Stiftung an Grenzen. Die rechtsfähige Stiftung des Privatrechts ist ein entpersonalisierter Rechtsträger. Ist sie einmal als rechtsfähig anerkannt, steht ihr auch ihr Stifter wie ein fremder Dritter gegenüber. Er mag sich in der Verfassung „seiner“ Stiftung Sonderrechte vorbehalten haben. Typisch ist das Recht, lebzeitig die Letztentscheidung über die Besetzung der Stiftungsorgane zu haben oder unter bestimmten Voraussetzungen die Verfassung „seiner“ Stiftung auch nach ihrer Anerkennung als rechtsfähig noch ändern zu können. Solche Rechte sind allerdings nicht körperschaftlicher Natur. Durch ihre Verankerung in der Stiftungsatzung wird der Stifter nicht zum „Mitglied“ seiner Stiftung. Er erhält lediglich eine punktuelle, d.h. mit besonderen Kompetenzen ausgestattete Organfunktion, die sich nicht grundsätzlich von der Funktion anderer Organe unterscheidet. Zur Begründung eines wie auch immer gearteten „personalen Substrats“ eignet sie sich nicht. Begnügt man sich für den „Durchgriff “ hingegen mit dem fortwirkenden Willen der Stifterpersönlichkeit, so stellt sich die Frage, ob dieser den Grundrechtsschutz der Stiftung auch noch dann legitimiert, wenn der Stifter verstorben ist.112 Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist sie mit einem klaren „Nein“ zu beantworten. Grundsätzlich endet die Rechtssubjektivität des Einzelnen mit seinem Tod.113 Der Schutz des Andenkens eines Toten mag unter dem Gesichtspunkt eines fortwirkenden allgemeinen Persönlichkeitsrechts ein verfassungsrechtliches Anliegen sein. Der Schutz seines Willens post mortem ist es nicht. 108 BVerwG, Urteil vom 22.9.1972 – VII C 27/71 = E 40, 347; vgl. Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), Vorbem. 42 zu §§ 80 ff. 109 Stellungnahme des Allgemeinen Redaktionsausschusses vom 25.1.1949 zur Formulierung des Entwurfs des Grundgesetzes nach der 2. Lesung des Hauptausschusses vom 15./20.1.1949, Drucksache Nr. 543, abruf bar unter http://www.verfassungen.de/de/de49/grundgesetz-entwurf3-48-i.htm, zuletzt abgerufen am 17.11.2016. 110 So zutreffend v. Mutius, Verwaltungsarchiv Band 65 (1974), 87. 111 BVerfG, Beschluss vom 2.5.1967 – 1 BvR 578/63 = E 21, 362, 369; BVerfG, Beschluss vom 8.7.1982 – 2 BvR 1187/80 = E 61, 82, 101; Huber in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Abs. 3 Rn. 211. Siehe auch Isensee (Fn. 106), § 199 Rn. 6. 112 Vgl. hierzu v. Mutius (Fn. 110), 87, 89. 113 BVerfG, Beschluss vom 24.2.1971 – 1 BvR 435/68 = E 30, 173 = NJW 1971, 1645.
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Tatsächlich überzeugen allein die Stimmen, welche die Notwendigkeit des Grundrechtsschutzes der Stiftung mit ihrer Situation in konkreten Gefährdungslagen begründen.114 Ihr Kernsatz lautet: Eine rechtlich verselbstständigte Organisation bedarf bei der Tätigkeit in Bereichen, die prinzipiell grundrechtlich geschützt sind, verfassungsrechtlicher Absicherung.115 Eine Stiftung, deren Zweck beispielsweise im Betrieb einer Privatschule besteht, muss sich auf Art. 7 Abs. 4 GG berufen können; eine solche, die der Wahrnehmung von Forschungsaufgaben gewidmet ist, auf Art. 5 Abs. 1 GG. Wo immer eine Entität der öffentlichen Gewalt unterworfen ist und sich verteidigen muss, soll sie sich auf Grundrechte berufen können.116 Das ist auch der Standpunkt des BVerwG.117 Durchgriffserwägungen erscheinen bei der Stiftung allenfalls vertretbar, sofern verlangt wird, dass hinter der juristischen Person eine, „… menschlich, grundrechtlich geschützte Aktivität steckt, die auch in der neuen Rechtsgestalt grundrechtlich schutzwürdig ist“.118 Mit dieser Einschränkung bleibt zwar der Einzelne – sprich der Stifter, der „seiner“ Stiftung ihre Zwecksetzung und damit ihren Tätigkeitsbereich zuweist – dogmatischer Bezugspunkt für die Grundrechtserstreckung.119 Auf die rechtliche oder faktische Stellung des Stifters innerhalb oder gegenüber seiner Stiftung oder auf die Frage, ob er lebt oder schon tot ist, kommt es hingegen nicht an. Zugleich wird deutlich, dass sich die Grundrechtssubjektivität der Stiftung stets allein im Rahmen des ihr vom Stifter gegebenen Stiftungszwecks bewegt, d.h. die Grundrechte den satzungsmäßigen Wirkungskreis der Stiftung nicht erweitern, sondern lediglich aktualisieren.120 Stiftungszweck und Grundrechtsschutz sind damit korrespondierende Größen.
b) Die einzelnen Grundrechte Art. 19 Abs. 3 GG stellt selbst kein Grundrecht dar. Er erweitert lediglich den Kreis der Grundrechtsträger.121 Der Umfang der Grundrechtsvermittlung hängt davon ab, inwieweit das einzelne Recht „seinem Wesen nach“ auf juristische Personen anwendbar ist. Das ist generell nicht der Fall, wo es sich um höchstpersönliche Gewährleistungen handelt, die an das Menschsein im natürlichen Sinne anknüpfen. Man denke an die Menschenwürde, das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder den Schutz von Ehe und Familie.
114 Schulte (Fn. 9 ), 52 ff.; zur Kritik an der Methode des „Durchgriffs“ oder „Durchblickens“ eingehend Kämmerer, Privatisierung: Typologie-Determinaten-Rechtspraxis-Folgen, 2001, 464 ff. 115 So Schulte (Fn. 9 ), 54; Isensee (Fn. 106), § 199 Rn. 49 ff. 116 Isensee (Fn. 106), § 199 Rn. 50. 117 BVerwG, Urteil vom 22.9.1972 – VII C 27/71 = E 40, 347. Das BVerfG mag formal an der Durchgriffsthese festhalten. In der Sache macht es sich die Lehre von der grundrechtstypischen Gefährdungslage zu eigen; vgl. BVerfG, Beschluss vom 7.6.1977 – 1 BvR 108, 424/73, 226/74 = E 45, 63, 79; dazu Huber (Fn. 111), Art. 19 Abs. 3 Rn. 215. 118 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1: Allgemeine Lehren der Grundrechte, 1988, S. 1119. 119 Vgl. Huber (Fn. 111), Art. 19 Abs. 3 Rn. 222. 120 Vgl. Isensee (Fn. 106), § 199 Rn. 15. 121 Isensee (Fn. 106), § 199 Rn. 84.
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In Rechtsprechung und Literatur herrscht heute weitgehend Einigkeit über den Umfang, in dem einzelne Grundrechte „ihrem Wesen nach“ auf rechtsfähige Stiftungen des Privatrechts anwendbar sind. Zunächst können sie sich auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen. Ihnen steht sowohl die allgemeine Handlungsfreiheit als auch ein Anspruch auf Freiheit von verfassungswidrigen Eingriffen zu.122 Art. 3 Abs. 1 GG ist auf Stiftungen ebenfalls anwendbar.123 Zwar gibt es keinen schematischen Anspruch auf Gleichbehandlung mit natürlichen Personen.124 Vor allem gegenüber der Stiftungsaufsicht können Stiftungen jedoch verlangen, dass sie bei der Beurteilung vergleichbarer Sachverhalte mit anderen Stiftungen vergleichbar behandelt werden.125 Stiftungen, deren Zwecksetzung ein Bekenntnis zu einer Religionsgemeinschaft oder Kirche zum Ausdruck bringt, können den Schutz von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Anspruch nehmen. Überdies stehen ihnen die Rechte aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV zu. Sowohl das Recht auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 GG als auch die Freiheit von Forschung und Lehre nach Art. 5 Abs. 3 GG sind Grundrechte, die Stiftungen im Rahmen ihrer Zwecksetzung schützen können. Unterhält eine Stiftung eine Privatschule, kann sie sich auf Art. 7 Abs. 4 GG berufen. Auch das Grundrecht auf Freizügigkeit aus Art. 11 GG ist auf Stiftungen, die ihren Rechtssitz ändern wollen, anwendbar.126 Soweit Stiftungen ein Gewerbe ausüben, kann ihre Tätigkeit in den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG fallen. Art. 13 Abs. 1 GG schützt die Geschäftsräume von Stiftungen. Art. 14 Abs. 1 GG gilt für Stiftungen uneingeschränkt. Da das Vermögen einer Stiftung ihre Existenzgrundlage darstellt und der Verlust ihres Vermögens zum Verlust ihrer Existenz führen kann (§ 87 BGB), kommt der Eigentumsgarantie für Stiftungen geradezu eine Schlüsselfunktion zu. Eine Berufung auf die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG scheidet indessen aus. Die Stiftung als juristische Person ist prinzipiell unsterblich. Der Anfall ihres Vermögens im Falle einer Auflösung ist keine letztwillige Verfügung, sondern satzungsmäßige Vermögensverwendung. Wird eine Stiftung hingegen Erbin, ist ihre Rechtsposition durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützt. Neben die „materiellen Grundrechte“ treten schließlich die Verfahrensrechte der Art. 101 Abs. 1 und 2 GG und Art. 103 GG. Ihre Anwendbarkeit auf Stiftungen ist unstreitig. Unanwendbar auf die Stiftung ist allerdings Art. 6 Abs. 1 GG. Insbesondere Familienstiftungen können sich nach richtiger Ansicht nicht auf den Schutz der Norm berufen, weil der individualrechtlich geprägte Familienbegriff „seinem Wesen nach“ (Art. 19 Abs. 3 GG) nicht auf juristische Personen anwendbar ist.127 Bei der Prüfung BVerwG, Urteil vom 22.9.1972 – VII C 27/71 = E 40, 347; Hof (Fn. 41), § 4 Rn. 123. Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8.3.1983 – 2 BvL 27/81 = NJW 1983, 1841. 124 Vgl. Isensee (Fn. 106), § 199 Rn 89. 125 Hof (Fn. 41), § 4 Rn. 179; Härtl (Fn. 27), passim. 126 Soweit Hof (Fn. 41), § 4 Rn. 197 f. darauf hinweist, dass Sitzverlegungen in andere Bundesländer Satzungsänderungen darstellen, die einer staatlichen Genehmigung bedürfen, handelt es sich dabei zwar um Einschränkungen der Grundrechtsausübung. An ihrer Verfassungsmäßigkeit bestehen jedoch – auch nach Hof – keine Zweifel. 127 BVerfG, Urteil vom 24.1.1962 – 1 BvL 32/57 = E 13, 290, 297; vgl. auch Schulte (Fn. 9 ), 55; O. Werner in: Werner/Saenger (Hg.), Die Stiftung – Recht, Steuern, Wirtschaft – Stiftungsrecht, 2008, Rn. 30; Schöning, Privatnützige Stiftungen im deutschen und spanischen Zivilrecht, 2004, 111; Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), Vorbem. 44 zu §§ 80 ff. Differenzierend nach dem Schwerpunkt der Stiftungstätigkeit – Familienbindung oder Vermögensbindung: Hof (Fn. 41), § 4 Rn. 193. 122
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der Verfassungsmäßigkeit der Erbersatzsteuer hat das BVerfG Art. 6 Abs. 1 GG daher als Maßstab nicht einmal in Betracht gezogen.128
c) Sonderfall: Die staatlich errichtete Stiftung Als Stifter kann auch der Staat in Erscheinung treten, gleichviel ob als Bund, Land oder als Kommune bzw. Einrichtung der mittelbaren Staatsverwaltung.129 Dabei kann er allein oder gemeinsam mit natürlichen oder juristischen Personen des Privatrechts stiften. Das Stichwort lautet: Public-Private-Partnership. Die Errichtung rechtsfähiger Stiftungen des bürgerlichen Rechts durch die öffentliche Hand wird überwiegend kritisch bewertet. Ohne hinreichende Einwirkungsrechte des Staates sei sie tendenziell ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip.130 Überdies wird moniert, dass mit staatlichen Mitteln errichtete und/oder dauerhaft finanzierte Stiftungen Vehikel für Nebenhaushalte seien.131 Gleichwohl gibt es etliche rechtsfähige Stiftungen des bürgerlichen Rechts, die Hoheitsträger als (Mit-) Stifter haben. Das wirft die Frage nach ihrer Grundrechtssubjektivität auf. Das BVerfG hat wiederholt entschieden, dass die Nutzung von Rechtsträgern des Zivilrechts die staatliche Gewalt nicht von ihrer Bindung an die Grundrechte enthebt. Insbesondere von der öffentlichen Hand beherrschte gemischtwirtschaftliche Unternehmen unterlägen deshalb ebenso wie im Alleineigentum des Staates stehende Einheiten einer unmittelbaren Grundrechtsbindung, auch wenn sie in den Formen des Privatrechts organisiert seien.132 Diese Grundrechtsbindung schließe eine gleichzeitige Grundrechtssubjektivität aus. Ein Rechtsträger sei von der öffentlichen Hand beherrscht, wenn mehr als die Hälfte der Anteile zum Vermögen staatlicher Stellen zähle. Dabei wird eine Beherrschung nicht nur angenommen, wenn die Anteilsmehrheit des Staates bei einem einzigen Träger gebündelt ist, sondern auch dann, wenn die Anteile von verschiedenen staatlichen Eignern gehalten werden, die gemeinsam eine Mehrheit besitzen.133 Bei der rechtsfähigen Stiftung des BGB versagen solche Überlegungen. Als ein mitgliederloses Rechtssubjekt verfügt die Stiftung nicht über Anteilseigner. Auch ihre Ausstattung mit von der unmittelbaren oder mittelbaren Staatsverwaltung bereitgestelltem Vermögen führt nicht notwendig zu einem dauerhaften staatlichen Einfluss.134 Vielmehr steht – wie bereits dargetan – der Stifter „seiner“ Stiftung nach ihrer Verselbstständigung zur juristischen Person prinzipiell wie ein fremder Dritter gegenüber. Anders ist das allenfalls, wenn er sich in der Verfassung „seiner“ Stiftung einen Durchgriff auf die Art und Weise ihrer Tätigkeit vorbehält. Stattet die öffent Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8.3.1983 – 2 BvL 27/81 = NJW 1983, 1841. Schröder, in: Hüttemann/Richter/Weitemeyer (Hg.), Landesstiftungsrecht, 2011, Rn. 33.1. 130 Dewald, Die privatnützige Stiftung als Instrument zur Wahrnehmung öffentlicher Zwecke, 1990, 51 ff.; Schulte, in: Non Profit Law Yearbook 2001, 127 ff.; Kilian in: Mecking/Schulte (Hg.), Grenzen der Instrumentalisierung von Stiftungen, 2003, 87 ff.; zu Bundesstiftungen: Gölz, Der Staat als Stifter, 1999, 135 ff. 131 Schulte (Fn. 130), 127, 139 f. 132 BVerfG, Urteil vom 22.2.2011 – 1 BvR 699/06 = E 128, 226. 133 Vgl. BVerfG, Urteil vom 22.2.2011 – 1 BvR 699/06 = E 128, 226. 134 Nicht zuletzt das ist ein zentraler Aspekt der eingangs erwähnten Kritik am Staat als Stifter. 128 129
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liche Hand eine Stiftung mithin mit Vermögen aus und behält sich vor, die Organe dieser Stiftung dauerhaft mit Organpersonen ihrer Wahl zu besetzen und diese entsprechend zu kontrollieren, lässt sich von einer staatlichen Beherrschung der Stiftung sprechen. Ist der Staat hingegen bloßer Mit-Stifter neben anderen privaten Stiftern oder wirkt er lediglich als „Anstifter“, um durch die Errichtung einer Stiftung private Geldgeber zu Zustiftungen zu motivieren,135 kann die Rechtslage anders sein. In diesem Falle wird es darauf ankommen, ob die konkrete Verfassung der jeweiligen Stiftung ein „Durchregieren“ des Staates nach der Art eines (virtuellen) Mehrheitsgesellschafters erlaubt oder nicht. Ist ein „Durchregieren“ nicht möglich, besteht keine Grundrechtsbindung sondern Schutzbedürftigkeit.
d) Zwischenfazit Tatsächlich zeigt das Beispiel der Stiftung, dass es wenig überzeugend ist, die Grundrechtssubjektivität juristischer Personen des Privatrechts auf der Basis von „Durchgriffskategorien“ zu bestimmen. Maßgeblich kann es nur darauf ankommen, ob sie sich in einer grundrechtstypischen Gefährdungslage befindet. Ist die öffentliche Hand im Spiel – gleichviel ob allein oder gemeinsamen mit privaten Stiftern – so gilt: Hat sie eine Stiftung errichtet, hat sie diese prinzipiell in eine unumkehrbare Autonomie entlassen. Allein die Einflussmöglichkeiten auf konkrete Entscheidungen lassen Rückschlüsse darauf zu, ob die Stiftung vom Staat „beherrscht“ wird, also Grundrechtsschutz genießt oder nicht.
4. Konsequenzen für die operative Aufsicht a) Die Instrumente der Stiftungsaufsicht Die Stiftungsaufsicht ist Ländersache. Alle sechzehn Bundesländer haben eigene Stiftungsgesetze erlassen. Neben verfahrensrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit der Anerkennung rechtsfähiger Stiftungen des Privatrechts regeln sie die Mittel der Stiftungsaufsicht. Bei allen Unterschieden im Detail lassen sich diese im Wesentlichen wie folgt systematisieren: – Informations-, Unterrichtungs- und Prüfungsrechte:136 Sie sind Maßnahmen präventiver Stiftungsaufsicht. Ihr Zweck ist es, Stiftungen vor rechtswidrigen Beschlüssen oder anderen rechtswidrigen Maßnahmen ihrer Organe zu schützen.137 135 Ein Beispiel bildet die Hamburgische Kulturstiftung, die anfangs mit einem inzwischen durch private Zustiftungen vervielfachten staatlichen Startkapital i.H.v. DM 1.000.000 ausgestattet wurde. 136 § 9 BaWürttStiftG, Art. 12, 16 BayStiftG, §§ 8 Abs. 1, 9 Abs. 1 und 2 BerlStiftG, § 7 BrbgStiftG, § 12 BremStiftG, §§ 3 Abs. 3, 5 Abs. 2 – 5, 6 Abs. 1 HmbStiftG, §§ 7, 12 HessStiftG, §§ 4 Abs. 2 , 5 MeckVorPStiftG, §§ 7 Abs. 4, 11 NdsStiftG, § 7 Abs. 1 NRWStiftG, §§ 5 Abs. 3, 9 Abs. 2 und 3 RhPfStiftG, § 11 SaarlStiftG, §§ 6 Abs. 2 – 4 , 7 Abs. 1, 8 Abs. 2 SächsStiftG, § 10 Abs. 2 und 3 SachsAnhStiftG, §§ 8 Abs. 2 und 4, 10 SchlHolStiftG, § 5 Abs. 3, 12 Abs. 2 und 3 ThürStiftG. 137 Schulte (Fn. 97), Rn. 39.2.
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– A nzeigepflichten für bestimmte Rechtsgeschäfte:138 Auch hierbei handelt es sich um präventive Aufsichtsmaßnahmen. In der Vergangenheit waren in zahlreichen Bundesländern bestimmte Rechtsgeschäfte einem behördlichen Genehmigungsvorbehalt unterworfen. Inzwischen haben, bis auf Bayern,139 alle Bundesländer von entsprechenden Vorbehalten Abstand genommen. – Beanstandungs-, Anordnungs- und Ersatzvornahmerechte:140 Sie sind repressive Aufsichtsmittel von gestaffelter Eingriffsintensität, bei denen die Ausführung von konkreten Anordnungen zunächst den satzungsmäßig berufenen Organen überlassen bleibt und lediglich im Falle der Ersatzvornahme eine Durchführung der Maßnahmen durch die Stiftungsaufsicht oder von ihr beauftragten Dritten in Frage kommt. – Abberufung und Bestellung von Organmitgliedern:141 Bei Vorliegen eines wichtigen Grundes können Organmitglieder behördlich abberufen werden. Teilweise darf die Abberufung erst erfolgen, nachdem die Anordnung einer entsprechenden stiftungsinternen Organmaßnahme erfolglos geblieben ist. – Bestellung eines Sachwalters:142 Sie ist der schwerste Eingriff, den eine Aufsichtsbehörde in das Selbstverwaltungsrecht einer Stiftung anordnen kann. Er darf lediglich erfolgen, wenn die ordnungsmäßige Verwaltung einer Stiftung durch andere Maßnahmen nicht mehr sichergestellt werden kann. – Auf hebung und Umwandlung einer Stiftung:143 Liegen die Voraussetzungen des § 87 BGB vor, ist also die Erfüllung des Zwecks einer Stiftung unmöglich geworden oder gefährdet sie das Gemeinwohl, kann eine Stiftung aufgehoben oder ihr Zweck geändert werden. Im Falle der Unmöglichkeit weiterer Zweckverfolgung kommt im Einzelfall auch die Zulegung einer Stiftung zu einer anderen Stiftung oder die Zusammenlegung zweier Stiftungen, bei denen die Voraussetzungen des § 87 BGB erfüllt sind, zu einer neuen Stiftung in Betracht.144 Überdies unterwerfen alle Stiftungsgesetze die Änderung der Satzung einer rechtsfähigen Stiftung des bürgerlichen Rechts der Pflicht zu staatlicher Genehmigung. Ist die Änderung nach zivilrechtlichen Maßstäben zulässig, besteht ein Anspruch auf § 13 BaWürttStiftG, Art. 19 BayStiftG, § 7 Abs. 2 NRWStiftG, § 9 SchlHolStiftG. Siehe Art. 19 BayStiftG. 140 §§ 10, 11 BaWürttStiftG, Art. 12 Abs. 4, 17, 18 BayStiftG, § 9 Abs. 3 und 4 BerlStiftG, § 8 BrbgStiftG, § 13 Abs. 1, 2, 3 S. 1, 4 BremStiftG, § 6 Abs. 2 HmbStiftG, §§ 13, 14 HessStiftG, § 6 MeckVorPStiftG, §§ 12, 13 NdsStiftG, § 8 NRWStiftG, § 9 Abs. 4 RhPfStiftG, § 12, 13 SaarlStiftG, §§ 7 Abs. 2 und 3 SächsStiftG, § 10 Abs. 4 und 5 SachsAnhStiftG, §§ 11, 12 SchlHolStiftG, § 12 Abs. 4 ThürStiftG. 141 § 12 BaWürttStiftG, Art. 13 BayStiftG, §§ 4 Abs. 2, 9 Abs. 5 BerlStiftG, § 9 Abs. 1 und 2 BrbgStiftG, § 13 Abs. 3 S. 2 und Abs. 4, 14 BremStiftG, § 6 Abs. 3 HmbStiftG, § 15 HessStiftG, § 7 MeckVorPStiftG, §§ 14, 15 NdsStiftG, § 9 Abs. 1 und 2 NRWStiftG, § 9 Abs. 5 RhPfStiftG, §§ 14, 15 SaarlStiftG, § 7 Abs. 4 – 6 SächsStiftG, § 10 Abs. 7 S. 3 SachsAnhStiftG, § 13 SchlHolStiftG, § 12 Abs. 5 S. 3 ThürStiftG. 142 Art. 14 Abs. 1 S. 2 BayStiftG, § 9 Abs. 3 BrbgStiftG, § 6 Abs. 4 HmbStiftG, § 16 HessStiftG, § 8 MeckVorPStiftG, § 9 Abs. 3 NRWStiftG, § 9 Abs. 6 RhPfStiftG, § 16 SaarlStiftG, § 10 Abs. 8 SachsAnhStiftG, § 14 SchlHolStiftG. 143 § 14 BaWürttStiftG, Art. 8 BayStiftG, § 9 BremStiftG, § 9 HessStiftG, § 8 NdsStiftG, § 10 NRWStiftG, § 8 RhPfStiftG, § 8 SaarlStiftG, § 10 SächsStiftG, § 8 SachsAnhStiftG, § 6 SchlHolStiftG, § 11 ThürStiftG. 144 Vgl. zur notleidenden Stiftung Hüttemann/Rawert, ZIP 2013, 2136 ff. 138 139
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Erteilung der Genehmigung. Hier wird der bereits erwähnte und vom Verfassungsrecht vorgegebene normative Zusammenhang zwischen dem Verfahren auf Errichtung einer Stiftung und der späteren Stiftungsaufsicht145 deutlich. Mit der Wandlung des Verfahrens auf Anerkennung einer Stiftung von einem formellen Konzessionssystem zu einem materiellen System von Normativbestimmungen richtet sich auch die Frage nach der Genehmigungsfähigkeit von Verfassungsänderungen ausschließlich nach Zivilrecht. Im Unterschied zum Anerkennungsverfahren handelt es sich freilich nicht mehr um einen Anspruch des Stifters, sondern um einen solchen der Stiftung selbst.
b) Die Maßstäbe der Stiftungsaufsicht Stiftungsaufsicht ist reine Rechtsaufsicht. Die Stiftungsgesetze aller Bundesländer erkennen dies heute ausdrücklich an.146 Die zuständigen Behörden dürfen ihr Ermessen nicht an die Stelle des Ermessens der Stiftungsorgane setzen. Im Rahmen der Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe wie „Sparsamkeit“ oder „Wirtschaftlichkeit“ dürfen sie keine eigenen Zweckmäßigkeitserwägungen vornehmen.147 Sie dürfen die Entscheidungen der Stiftungsorgane insoweit lediglich auf ihre Vertretbarkeit überprüfen. Aufsichtsrelevant ist primär die Verfassung der jeweiligen Stiftung. Die Stiftungsverfassung ist die Gesamtheit aller Rechtsnormen, die die Organisation der selbstständigen Stiftung des Privatrechts betreffen.148 Nach § 85 BGB sind dies das Bundesrecht (§§ 80–88 BGB), das Landesrecht in Form der Landesstiftungsgesetze sowie das Stiftungsgeschäft, dessen Bestandteil nach § 81 Abs. 1 S. 3 BGB die Stiftungssatzung ist. Einzelne Bundesländer heben in ihren Stiftungsgesetzen hervor, dass neben der Stiftungsverfassung auch „Recht und Gesetz“ schlechthin Maßstab der Stiftungsaufsicht sind.149 Dazu ist kritisch angemerkt worden, dass die Stiftungsbehörden weder in der Lage noch dazu berufen seien, die Einhaltung sämtlicher für die Verwaltung einer Stiftung geltenden Rechtsvorschriften zu überprüfen.150 Über den Begriff der Gemeinwohlgefährdung in den §§ 80 und 87 BGB, der nach heute herrschender Meinung jedenfalls im Sinne einer Konformität mit dem geltenden Recht ausgelegt wird, haben die Vorgaben der allgemeinen Gesetze jedoch zumindest mittelbar Bedeutung für die Führung einer Stiftung und damit für die Aufsicht über sie.151 Stellen die Behörden der Stiftungsaufsicht Rechtsverstöße fest, die in einem Zusammen Siehe oben II. 1. § 8 Abs. 1 BaWürttStiftG, Art. 10 Abs. 1 BayStiftG, § 7 Abs. 2 BerlStiftG, § 6 Abs. 1 BrbgStiftG, § 11 BremStiftG, § 5 Abs. 1 HmbStiftG, § 10 Abs. 1 HessStiftG, § 4 Abs. 1 MeckVorPStiftG, § 10 Abs. 1 NdsStiftG, § 6 Abs. 1 NRWStiftG, § 9 Abs. 1 RhPfStiftG, § 10 SaarlStiftG, § 6 Abs. 1 SächsStiftG, § 10 Abs. 1 SachsAnhStiftG, § 8 Abs. 1 SchlHolStiftG, § 12 Abs. 1 ThürStiftG. 147 Hof (Fn. 41), § 10 Rn. 8, 10, 73 f. 148 v. Campenhausen (Fn. 7 ), § 3 Rn. 10; Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), § 85 Rn. 4. 149 § 6 Abs. 1 NRWStiftG; vgl. auch § 10 Abs. 1 HessStiftG. 150 Mecking, StiftG Rheinland-Pfalz, 2006, § 9 RhPfStiftG, Rn. 3. 151 So zutreffend Andrick/Suerbaum, Stiftungsgesetz Nordrhein-Westfalen, 2016, § 6 Rn. 33. 145
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hang mit der satzungsmäßigen Tätigkeit der Stiftung und mithin der Verfolgung ihrer Zwecke stehen152, haben sie das Recht und die Pflicht einzuschreiten. Praktisch wichtig ist die Frage, inwieweit die Stiftungsaufsichtsbehörden auch die Einhaltung der steuerlichen Normen des Gemeinnützigkeitsrechts prüfen dürfen. Tatsächlich verfolgen mehr als 90 % aller rechtsfähigen Stiftungen des Privatrechts gemeinnützige Zwecke im Sinne der §§ 51 ff. AO. Verstoßen sie gegen das Gemeinnützigkeitsrecht, können ihnen Sanktionen bis hin zum Verlust der Gemeinnützigkeit und einer Nachversteuerung aller Erträge für die vergangenen zehn Jahre drohen.153 Das Herbeiführen von Sachverhalten, die solche Sanktionen nach sich ziehen können, steht im Widerspruch zu den Pflichten der Stiftungsorgane, das Stiftungsvermögen nach Maßgabe der Stiftungsverfassung zu verwalten und zu erhalten. Angesichts der unterschiedlichen Maßnahmen, die das Landesstiftungsrecht und das Steuerrecht für den Fall eines Verstoßes gegen Regelungen des Gemeinnützigkeitsrechts vorsehen, wird ein Nebeneinander von stiftungs- und finanzbehördlicher Kontrolle (Mehrfachkontrolle) grundsätzlich für zulässig gehalten.154 Nahezu alle Stiftungsgesetze der Länder heben hervor, dass bei Einschreiten der Stiftungsaufsicht der wirkliche oder mutmaßliche Wille des Stifters zu beachten bzw. die Achtung vor dem Stifterwillen oberste Richtschnur bei der Handhabung ihrer Gesetze sei.155 Die Maßgeblichkeit des Stifterwillens bezieht sich dabei allerdings auf den sogenannten historischen Stifterwillen, d.h. denjenigen Stifterwillen der im Zeitpunkt der Errichtung der Stiftung im Stiftungsgeschäft und der Stiftungssatzung seinen Ausdruck gefunden hat. Mit der Anerkennung der Stiftung als rechtsfähig ist er Teil der Stiftungsverfassung im Sinne des § 85 BGB geworden. Insoweit kommt dem Hinweis der Landesstiftungsgesetze auf den Stifterwillen kein eigenständiger Regelungscharakter zu. Er ist vielmehr bloß deklaratorischer Natur. Lediglich als Maßstab der Auslegung des Stiftungsgeschäfts und der in ihr enthaltenen Stiftungssatzung hat der objektivierte Stifterwille Bedeutung.156 Einen selbstständigen aufsichtsrechtlichen Prüfungstopos im Range einer eigenständigen Rechtsquelle bildet er nicht. Für die Ausübung der Stiftungsaufsicht gelten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.157 Wo die Einhaltung der Stiftungsverfassung im Einzelfall durch unabhängige Instanzen sichergestellt ist, kann sich der Grad der Erfor152 Ein Beispiel wäre, dass im Zusammenhang mit satzungsmäßig betriebener klinischer Forschung unerlaubte Versuche durchgeführt würden. 153 Detailliert dazu Hüttemann, Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht, 3. Aufl. 2015, Rn. 4.143 ff., 4.160 ff. Siehe auch Andrick/Suerbaum (Fn. 151), § 6 Rn. 35. 154 Andrick/Suerbaum (Fn. 151), § 6 Rn. 34 ff.; eingehend zur Mehrfachkontrolle Schulte, DÖV 1996, 490 ff.; aus rechtsvergleichender Sicht Schlüter, Stiftungsrecht zwischen Privatautonomie und Gemeinwohlbindung, 2004, 384 ff. Aus der Rechtsprechung neuestens VG Dresden, Urteil vom 9.8.2016 – 7 K 4075/14. 155 Siehe Fn. 96. 156 BGH, Urteil vom 22.1.1987 – III ZR 26/85 = BGHZ 99, 344; BGH, Urteil vom 14.10.1993 – III ZR 157/91 = BGH NJW 1994, 184, 186; Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), § 81 Rn. 12. 157 Seyfarth in: ZSt 2008, 145 f.; Jakob in: ZSt 2006, 63 ff.; Andrick/Suerbaum (Fn. 151), § 6 Rn. 15; Burgard, Gestaltungsfreiheit im Stiftungsrecht, 2006, 209; Mecking, in: Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 5, 4. Aufl. 2016, § 103 Rn. 28; Hof (Fn. 41), § 10 Rn. 11 f., 81; Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), Vorbem. 90 zu §§ 80 ff; BGH, Urteil vom 14.10.1993 – III ZR 157/91 = BGH NJW 1994, 184, 186; OLG Hamm, Urteil vom 04.10.1993 – 8 U 124/93 = NJW-RR 1995, 120, 121.
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derlichkeit staatlicher Maßnahmen reduzieren.158 Die Stiftungsgesetze einzelner Bundesländer heben das ausdrücklich hervor.159 Kritisch zu sehen ist allerdings die Lockerung der Stiftungsaufsicht, die in einigen Bundesländern für sogenannte privatnützige Stiftungen bzw. Familienstiftungen gilt. Zumeist wird festgelegt, dass diese Stiftungen staatlicher Aufsicht nur insoweit unterliegen, als sicherzustellen ist, dass ihre Betätigung nicht gesetzlich geschützten öffentlichen Interessen zuwiderläuft.160 Insbesondere Andrick/Suerbaum haben darauf hingewiesen, dass eine partielle Aufsichtsexemption privatnütziger Stiftungen nicht nur rechtspolitisch, sondern auch bundesrechtlich zweifelhaft ist. In rechtspolitischer Hinsicht sei festzustellen, dass für die Entlastung der Behörden von der Beaufsichtigung einer relativ kleinen Zahl von Stiftungen das Risiko in Kauf genommen werde, das Vertrauen des Rechtsverkehrs in die Rechtsform Stiftung insgesamt zu beschädigen. Überdies bestehe die Schutzbedürftigkeit einer Stiftung, die Folge ihrer mitglieder- und eigentümerlosen Organisationsstruktur sei, auch im Falle ihrer Privatnützigkeit. Schwerer aber noch wögen die bundesrechtlichen Bedenken gegen eine Differenzierung zwischen privatnützigen und sonstigen Stiftungen. Das Bundesrecht (§§ 80 ff. BGB) gehe generell von einer Aufsicht über rechtsfähige Stiftungen des bürgerlichen Rechts aus. Es mache keinen Unterschied zwischen gemein- und privatnützigen Stiftungen. Das Leitbild der Stiftung deutschen Rechts sei die gemeinwohlkonforme Allzweckstiftung. Den Landesgesetzgebern fehle es wegen dieser abschließenden Regelung im BGB daher an der Kompetenz, eine Differenzierung nach bestimmten Zwecksetzungen vorzunehmen, zumal die Differenzierung den Schutz einer ganzen Kategorie von Stiftungen unterlaufe.161 Der Ansicht von Andrick/Suerbaum ist zuzustimmen. Stiftungsaufsicht ist stets auch Grundrechtsgewährleistung. Sie ist eine Forderung an den Staat, einen seiner Natur nach besonders wehrlosen Vermögensträger vor der Schädigung durch die eigenen Organe oder Dritte zu schützen. Für das Institut der rechtsfähigen Stiftung des Privatrechts ist die Stiftungsaufsicht als Ersatz für eine Kontrolle durch Mitglieder funktional unentbehrlich.162 Rechtspolitische Vorbehalte gegenüber privatnützigen Stiftungen mögen begründet sein.163 Wenn man die Anerkennungsfähigkeit von Stiftungen aber nicht generell auf solche beschränken will, die Zwecke verfolgen, die der Allgemeinheit dienen, darf es keine Differenzierung zwischen Stiftungen mit öffentlichen und privaten Zwecken geben, wenn es um die laufende staatliche Aufsicht geht.
Ebd. Z.B. § 8 Abs. 2 S. 2 BadWürttStiftG. Vgl. auch § 5 Abs. 2 HmbStiftG. 160 Z.B. § 10 BerlStiftG, § 4 Abs. 3 S. 2 BrbgStiftG, § 17 BremStiftG, § 5 Abs. 1 S. 2 HmbStiftG, § 21 Abs. 2 HessStiftG, § 10 Abs. 2 NdsStiftG, § 6 Abs. 3 und § 7 Abs. 4 NRWStiftG, § 9 Abs. 1 S. 3 RhPfStiftG, § 10 Abs. 3 SaarlStiftG, § 19 SchlHolStiftG. 161 Andrick/Suerbaum (Fn. 151), § 6 Rn. 4 0 ff. 162 Ebersbach (Fn. 28), 127; Jess, Das Verhältnis des lebenden Stifters zur Stiftung, 1991, 39; Liermann, in: Deutsches Stiftungswesen 1948–1966, 1968, 211, 215; Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), Vorbem. 89 zu §§ 80 ff.; a.A. Hof (Fn. 41), § 10 Rn. 9, 88 f.; Soergel/Neuhoff, 13. Aufl., 2000, Vorbem. 80 zu § 80 unter Berufung auf BGH, Urteil vom 29.11.1965 – III ZR 198/63 = WM 1966, 221; ähnlich bzgl. Familienstiftungen Kronke, Stiftungstypus und Unternehmensträgerstiftung, 1988, 149, 156. 163 Dazu eingehend Staudinger/Hüttemann/Rawert (Fn. 19), Vorbem. 184 ff. zu §§ 80 ff. m.w.N. 158 159
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c) Rechtsschutz gegen Maßnahmen der Stiftungsaufsicht Maßnahmen der Stiftungsaufsicht sind in der Regel Verwaltungsakte. Für den Rechtsschutz gelten die Vorschriften des allgemeinen Verwaltungsrechts.164 Gegen sie kann durch Widerspruch (§ 68 VwGO) und Anfechtungsklage (§ 42 VwGO) vorgegangen werden. Klagebefugt ist die Stiftung als Adressat einer aufsichtsrechtlichen Maßnahme. Die Mitglieder der Organe einer Stiftung sind nur dann klagebefugt, wenn sie im Einzelfall geltend machen können, dass sie in eigenen Rechten betroffen sind.165 Der Stifter selbst hat nach Anerkennung der Stiftung als rechtsfähig hingegen grundsätzlich keine Rechte gegenüber Maßnahmen der Stiftungsaufsicht. Seine subjektiven Rechte enden mit der Entstehung der Stiftung als eigenständigem Rechtsträger und ihrem eigenen Grundrechtsschutz.166 Umstritten ist allerdings, ob dies auch bei Entscheidungen der Stiftungsaufsichtsbehörden über eine Zweckänderung oder die Auflösung einer Stiftung gilt.167 Richtig dürfte die Ansicht sein, die Stifterrechte verneint. Inwieweit eine Zweckänderung oder die Auflösung einer Stiftung zulässig ist, bestimmt sich nach der Verfassung der Stiftung, d.h. nach Bundesrecht, Landesrecht bzw. dem Stiftungsgeschäft nebst Stiftungssatzung und dem darin verkörperten objektiven Stifterwillen.168 Der noch lebende Stifter bzw. sein subjektiver Wille sind nicht geschützt. Es ist Sache der Stiftung, sich gegen Maßnahmen nach § 87 BGB zur Wehr zu setzen. Unbestritten ist freilich, dass es geboten sein kann, im Rahmen der Ermittlung des objektiven Stifterwillens eine Anhörung des noch lebenden Stifters vorzunehmen. Die Stiftungsgesetze einzelner Bundesländer sehen dies ausdrücklich vor.169 Auch Destinatäre haben grundsätzlich weder Abwehrrechte gegenüber der Stiftungsaufsicht noch können sie ein Einschreiten der Behörden verlangen. Das ist unstreitig.170 Ausnahmen von dieser Regel kann es allenfalls geben, wenn die verfassungsmäßige Ausgestaltung der Rechtsposition von Destinatären einer bestimmten Stiftung ihnen ausdrücklich (punktuelle) Organkompetenzen gewährt. Es ist vielfach als Lücke im bestehenden System der Stiftungsaufsicht kritisiert worden, dass weder der lebende Stifter selbst noch ggf. seine Nachfahren oder die Begünstigten einer Stiftung das Recht haben, von den Behörden ein Einschreiten gegen nicht satzungsgemäß arbeitende Stiftungen bzw. deren Organe zu verlangen.171 Um diese Lücke zu schließen, wird rechtspolitisch die Einführung einer Stiftungsaufsichtsbeschwerde bzw. Stiftungsaufsichtsklage diskutiert. Solche Rechtsbe Schulte (Fn. 97), Rn. 29.48. Andrick/Suerbaum (Fn. 91), § 9 Rn. 52; Suerbaum in: Stumpf/Suerbaum/Schulte/Pauli, Stiftungsrecht, 2. Aufl., 2015, C Rn. 361. 166 Schulte (Fn. 97), Rn. 29.53. 167 Dafür Schlüter/Stolte, Stiftungsrecht, 3. Aufl. 2016, Kapitel 3 Rz. 42; dagegen Schulte (Fn. 97), Rn. 29.53. 168 Siehe § 85 BGB, dazu oben II. 4 b). 169 Art. 8 Abs. 2 BayStiftG, § 9 Abs. 2 BremStiftG, § 7 Abs. 3 S. 2 HmbStiftG; § 8 Abs. 2 NdsStiftG, § 5 Abs. 2 NRWStiftG, § 9 Abs. 2 ThürStiftG. 170 Zur Rechtsstellung der Destinatäre gegenüber den Aufsichtsbehörden eingehend Jakob (Fn. 103), 361 ff. Siehe überdies Andrick/Suerbaum (Fn. 151), § 6 Rn. 53 m.w.N. 171 Jakob (Fn. 103), 371, 379, 385, 416, 467, 498, 499; Schulte (Fn. 97), Rn. 29.62. 164 165
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helfe kennen unter anderem die Schweiz, Österreich, Liechtenstein und die Niederlande.172 Derzeit haben diese Vorschläge freilich keine Aussicht auf Erfolg. Stifter, die sicherstellen wollen, dass auch Personen außerhalb der Binnenstruktur „ihrer“ Stiftung Kontrollrechte über deren Tätigkeit haben, sind daher auf den Einsatz privatautonome Gestaltungsmöglichkeiten angewiesen. Tatsächlich ist es mit den Mitteln der Satzung möglich, einzelne Personen oder Institutionen mit – zivilrechtlichen! – Befugnissen gegenüber Stiftungsorganen auszustatten. Ob sich dies empfiehlt, ist eine Frage des Einzelfalls.
III. Schlussbetrachtungen In einer grundlegenden Studie zum Stiftungsrecht in Europa haben Klaus Hopt und Dieter Reuter schon vor beinahe zwei Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass das Verhältnis des Staates zur Stiftung im Kern in fast allen Stiftungsrechtsordnungen anders ist als zu juristischen Personen mit körperschaftlicher Struktur. Zwar sei das Misstrauen des Staates gegenüber Stiftungen allenthalben einer eher wohlwollenden Einstellung gewichen. Unterschiede hingegen bestünden nach wie vor im Hinblick auf Ausmaß und Ursache des Wohlwollens.173 Die stärkste Beteiligung des Staates sei in Ländern zu finden, die das Stiften als Eingriff in ein unterstelltes staatliches Monopol der Gemeinwohlpflege verstünden. Sowohl die Errichtung als auch die Überwachung einer Stiftung sei hier primär eine Frage verwaltungspolitischer Billigung. Als Beispiel nennen Hopt und Reuter Frankreich. Man mag hinzufügen: Historisch betrachtet war es in Deutschland ebenso. In anderen Ländern wie England oder Spanien hingegen werde – so Hopt und Reuter – die private Teilhabe am öffentlichen Wohl als willkommene Entlastung des Staates verstanden. Dem korrespondiere ein System rechtsgebundener Ansprüche auf Errichtung einer gemeinwohlfördernden Stiftung und eine Stiftungskontrolle, die tendenziell durch unabhängige Stellen ausgeübt werde. Tatsächlich bezieht vor allem das Modell des Common Law die Stiftungsbeteiligten wie den Stifter, die Organe der Stiftung sowie deren Destinatäre stärker als beispielsweise das deutsche Recht in das System des Schutzes einer Stiftung ein. Es ist der Gedanke der Stiftung als einer Treuhand, der sich hinter diesem Konzept verbirgt. Ein gleichsam mittleres Modell gewähre Stiftern das Recht auf Verwirklichung ihrer wie auch immer gearteten Vorstellungen. Nach Hopt und Reuter beschränkt es den Stiftungsbegriff nicht auf die Verfolgung von Zwecken, die nach dem Urteil einer staatlichen Verwaltung förderungswürdig sind, sondern begnügt sich damit, dass sich die Stiftung in die Gesamtrechtsordnung einfügt. Die Rolle des Staates in Bezug auf Stiftungsgründung und -tätigkeit erschöpfe sich mithin in der Überprüfung und Übereinstimmung des Stiftungsvorhabens und der Stiftungstätigkeit mit Recht und Gesetz. Das deutsche Stiftungsrecht entspricht diesem Modell.
172 Jakob, in: v. Campenhausen/Richter, Stiftungsrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2014, § 4 4 Rn. 42; ders. (Fn. 92), § 119 Rn. 78 ff. 173 Hopt/Reuter, in: Hopt/Reuter (Hg.), Stiftungsrecht in Europa, 2001, 1, 9 f.
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Am „liberalen“ Ende wiederum stehen für Hopt und Reuter Privatstiftungsmodelle wie das von Österreich und Liechtenstein. Hier werde die Stiftung primär als Instrument zur Verwirklichung individueller Interessen aufgefasst. Grundsätzlich seien auch eigennützige Stiftungszwecke zulässig. Die Rolle des Staates sei daher darauf beschränkt, dass die Rechte einer Stiftung gegenüber ihren Organen auf Antrag von Stiftungsbeteiligten durch Gerichte anstelle von Verwaltungsbehörden geschützt würden. Tatsächlich macht der Rechtsvergleich deutlich: Formal betrachtet mag es für die Gründung und spätere Kontrolle der Tätigkeit rechtsfähiger Stiftungen des Privatrechts wegen der besonderen Befugnisse der nach den Stiftungsgesetzen der Länder zuständigen Behörden in Deutschland bis heute beim „Verwaltungsmodell“ geblieben sein. In der Sache indes hat es sich von seinem historischen Vorbild gelöst. Mit der Anerkennung eines einfachgesetzlichen, aber damit zugleich über Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Rechts auf Stiftung (§§ 80, 81 BGB), der Erkenntnis, dass Art. 19 Abs. 3 GG auch der nicht körperschaftlich organisierten Stiftung Grundrechtsschutz vermittelt sowie der heute durchgängig akzeptierten Reduktion staatlicher Stiftungsaufsicht auf eine reine Rechtskontrolle im Interesse des Schutzes der individuellen Stiftung und des Rechtsverkehrs – nicht aber abweichender verwaltungspolitischer Gemeinwohlvorstellungen! – ist das deutsche Stiftungsrecht „zivilgesellschaftstauglich“ geworden. Auch wenn in Einzelfällen Missstände gerügt werden, bleibt generell festzustellen: Der Beweis, dass alternative Formen der Stiftungsaufsicht dem Schutz der Stiftung einen größeren Dienst erweisen als der derzeitige Umgang des deutschen öffentlichen Rechts mit der Stiftung des BGB es tut, steht aus.
Societas delinquere non potest? Unternehmen als Adressat staatlicher Strafsanktionen in Deutschland von
Prof. Dr. Martin Heger, Humboldt-Universität zu Berlin Inhalt I. Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 II. Strafsanktionen durch Bußgeldrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 1. Abgrenzung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 a) Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 b) Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 c) „Nebenwirkungen“ eines Bußgeldverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2. Sanktionen gegenüber Unternehmen aufgrund des OWiG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 a) Verbandsgeldbuße (§ 30 OWiG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 aa) Struktur und Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 bb) Mögliche Normadressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 cc) Anknüpfungstaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 dd) Bemessung der Verbandsgeldbuße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 b) Vermögensabschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 3. EU-Kartellbußgeldrecht (VO 1/2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 III. Kriminalsanktionen gegen Verbände im weiteren Sinne – (Dritt-)Verfall und Einziehung (§§ 73 ff. StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 1. Der Rechtscharakter von Verfall und Einziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 2. Der Drittverfall (§ 73 Abs. 3 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3. Die Einziehung bei einem Unternehmen (§ 74 i.V.m. § 75 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 IV. Strafverfahren gegen Unternehmensangehörige als mittelbare Kriminalisierung des Unternehmens selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 V. Verbandsstrafrecht de lege ferenda? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 1. Impulse von außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 a) Seitens der Besatzungsmächte nach dem 2. Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 b) Seitens der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 c) Haftung für weltweite Menschenrechtsverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 2. Strukturmodelle eines echten Unternehmensstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
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3. Der nordrhein-westfälische Entwurf eines Verbandsstrafgesetzbuches als Motor eines Unternehmensstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 a) Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 b) Der Inhalt des VerbStrG-Entwurfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 c) Grundstrukturen des Verbandsstrafrechts nach dem VerbStrG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 d) Kritikpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 aa) (Verfassungs-)rechtliche Grundsatzkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 bb) Pragmatische Grundsatzkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 cc) Kritikpunkte am Entwurf des Verbandsstrafgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
I. Zur Einführung Mit der diesem Beitrag vorangestellten Frage hat Thomas Weigend1 vor nahezu zehn Jahren seine „deutsche Perspektive“ auf eine Unternehmensstraf barkeit überschrieben. Das darin genannte lateinische Rechtssprichwort darf wohl bei keinem Beitrag über das Unternehmensstrafrecht fehlen, klingt damit doch an, dass die derzeit immer noch in Deutschland vorherrschende Zurückhaltung bei der Etablierung eines echten Unternehmensstrafrechts historisch fundiert sein soll. Dass diese Prämisse freilich mit Blick auf die aktuelle Rechtsentwicklung unterhalb der Schwelle echter unternehmensbezogener Kriminaltatbestände keineswegs unverrückbar mehr gelten kann, zeigen die jüngeren Rechtsentwicklungen sowohl seitens des Gesetzgebers als auch seitens der Rechtsprechung. Es sei erinnert an die vor drei Jahren eingeführte Verzehnfachung (!) der maximalen Höhe einer Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG (dazu näher unter II.); aber auch die zu § 30 OWiG bereits zuvor ergangene Rechtsprechung2 sowie die seit Ende der 1990er Jahre ergangenen Urteile zu einem Drittverfall gegenüber einem durch eine Straftat begünstigten Unternehmen gemäß § 73 Abs. 3 StGB3 (dazu unter III.) stehen für einen Wandel der strafrechtlich begründeten Sanktionierungsmöglichkeiten in Deutschland. Vor diesem Hintergrund schreibt etwa Rogall: „Der früher als unverrückbar geltende Satz „societas delinquere non potest“ gilt deshalb im deutschen Recht nicht oder jedenfalls nicht mehr.“4 Bevor ein Blick in den immer noch aktuellen Entwurf für ein Verbandsstrafrecht aus Nordrhein-Westfalen5 geworfen wird, soll das existente strafrechtliche Umfeld näher ausgeleuchtet werden. Gemeint sind damit alle Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Unternehmen bzw. anderen Verbänden aufgrund von Strafrecht im materiellen Sinne, d.h. allen repressiven staatlichen Sanktionsinstrumenten. Auch dieses Feld ist freilich derzeit im Umbau begriffen, reformiert der Gesetzgeber doch dieser In: Journal of International Criminal Justice ( JICJ), Vol. 6 (2007), S. 927 ff. BGH NJW 2006, 163, 164. 3 Leitend ist bis heute BGHSt 45, 235. 4 Rogall, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG (KK-OWiG), 4. Aufl. 2014, § 30 Rn. 8. 5 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden (abzurufen unter https://www.justiz.nrw.de/JM/leitung/jumiko/beschlues se/2013/herbstkonferenz13/zw3/TOP_II_5_Gesetzentwurf.pdf ). – Soweit im Folgenden in Fußnoten von „Begründung“ die Rede ist, bezieht sich diese auf den genannten Gesetzentwurf. 1 2
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Tage die Regelungen zur Vermögensabschöpfung 6 und damit auch zu dem das Unternehmen als solches treffenden „Drittverfall“, der deshalb schon bald „Dritteinziehung von Vermögensvorteilen“ heißen dürfte. Auch die Berechnungsgrundlagen eines solchen Verfalls werden auf eine neue gesetzliche Grundlage gestellt, so dass sich der Umfang einer Verfalls- bzw. Einziehungsentscheidung in Zukunft im Einzelfall ändern könnte. Da aber in jedem Fall daran festgehalten wird, dass Unternehmen als Drittbegünstigte von Straftaten auch Subjekt einer strafrechtlich begründeten Vermögensabschöpfung sein können (bzw. in vielen Fälle auch müssen), soll hier primär die noch geltende Rechtslage vorgestellt und ergänzend auf einzelne Reformvorschläge verwiesen werden. Ausgeklammert bleiben dagegen punitive Sanktionen auf zivilrechtlicher Grundlage wie Vertragsstrafen (§§ 339 ff. BGB), durch nationale oder internationale Schieds gerichte (vgl. §§ 1029 ff. ZPO) verhängte Strafsanktionen sowie die in Deutschland ohnehin nicht gebräuchlichen Figuren eines Strafschadensersatzes („punitive damages“7).8 Dass der Verfasser immer wieder auf Beispiele aus dem Umweltstrafrecht rekurriert, hängt nicht nur mit seinen eigenen wissenschaftlichen Interessen zusammen;9 vielmehr sind die Umweltstraftaten i.S. der §§ 324 ff. StGB innerhalb von Wirtschaftsunternehmen typischerweise Delikte, die im Unternehmensinteresse begangen werden und deshalb zu einem Vermögensvorteil des Unternehmens (und nicht dessen Mitarbeiters) führen. Da es obendrein – anders als bei den Eigentums- und Vermögensdelikten – hier kein individuelles Opfer gibt, dessen zivilrechtliche Ansprüche etwa bei einer Verfallsanordnung gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB Beachtung finden müssen, könnten Umweltstraftaten häufig prototypisch für die hier abzuhandelnden Instrumente de lege lata stehen.
II. Strafsanktionen durch Bußgeldrecht 1. Abgrenzung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten Bekanntlich zählt man zum Strafrecht in einem weiten, materiellen Sinne auch das Bußgeldrecht, das im Ausland – etwa in Österreich10 oder der Schweiz11 – häufig auch als Verwaltungs- oder Administrativstrafrecht bezeichnet wird. 6 Vgl. den Entwurf eines Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 5.9.2016 (BT-Drs. 18/9525). – Im Folgenden auch RegE. 7 BGHZ 118, 312, hielt 1992 ein US-amerikanisches Urteil, das punitive damages zugesprochen hatte, für mit den Grundsätzen der deutschen Zivilrechtsordnung unvereinbar und nicht für im Inland vollstreckbar. 8 Zu Formen eines Strafschadensersatzes im deutschen Recht vgl. nur Müller, Punitive Damages und deutsches deutsches Schadensersatzrecht, 2000; Ebert, Pönale Elemente im Privatrecht, 2004; Behr, ZJS 2010, 292 ff. 9 Vgl. zur Vermögensabschöpfung im Umweltstrafrecht Heger, Die Europäisierung des deutschen Umweltstrafrechts, 2009, S. 99 ff., und Kloepfer/Heger, Umweltstrafrecht, 3. Aufl. 2014, Rn. 153 ff. 10 Vgl. das dortige Verwaltungsstrafgesetz 1991 (VStG). 11 Vgl. das dortige Bundesgesetz über das Verwaltungsstrafrecht vom 22.3.1974 (VStR).
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a) Gemeinsamkeiten Kriminalstrafen wie Bußgelder antworten auf einen schuldhaften Verstoß gegen bestimmte Ge- oder Verbote repressiv durch die Verhängung eines Übels. Bei einer Geldstrafe bzw. Geldbuße ist das angeordnete Übel sogar völlig identisch. Beiden liegen dabei gesetzliche Tatbestände zugrunde.12 Zwar gibt es einen anerkannten Kern von nur durch Strafnormen zu sanktionierenden Verstößen (besonders augenfällig natürlich Mord und Totschlag) sowie auch bagatellhafte Gesetzesverstöße, welche lediglich durch ein Bußgeld bestraft werden können (z.B. Falschparken); eine für die dazwischen befindlichen Gesetzesverstöße verbindliche Grenzziehung, die eine klare Zuweisung einer Gruppe von Verstößen zu den Straftaten und einer anderen zu den Ordnungswidrigkeiten zuließe, ist dagegen nicht möglich. So könnte man wohl das Schwarzfahren als bloße Ordnungswidrigkeit ausgestalten,13 während es derzeit in § 265a StGB bekanntlich als Straftat ausgestaltet ist; umgekehrt gibt es vor allem im hier besonders interessierenden Wirtschafts- und Umweltstrafrecht seit längerem Tendenzen, bloße Ordnungswidrigkeiten aus kriminalpolitischen Erwägungen zu Straftaten hochzuzonen. Teilweise sind auch für sich identische Verhaltensweisen etwa bei Hinzutritt eines bemakelten Erfolgs (so bei der Gewässerverunreinigung, § 324 StGB), bei Gewerbs- und Gewohnheitsmäßigkeit (so im Naturschutzrecht, § 71a Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG)14 oder schlicht im Wiederholungsfall (z.B. Sperrgebietsverstöße)15 nicht mehr bloße Ordnungswidrigkeit, sondern Straftat. Allerdings werden Bußgelder regelmäßig zunächst durch eine Verwaltungsbehörde festgesetzt, während die Verhängung von Kriminalstrafen stets eine strafrichterliche Entscheidung erfordert (das gilt auch für einen Straf befehl); gegen die Festsetzung einer Kriminalstrafe wie eines Bußgeldes steht dann aber jeweils der Rechtsweg zu den ordentlichen (Straf-)Gerichten zur Verfügung. Angesichts dieses weitgehenden Gleichlaufs vor allem zwischen Geldstrafen ( Freiheitsstrafen wären ja gegenüber einem Unternehmen ohnehin nicht sinnvoll) und Bußgeldern sind aus Sicht einer effektiven repressiven Sanktionierung von unternehmerischem Fehlverhalten Bußgeldtatbestände jedenfalls prima facie nicht weniger geeignet, weshalb sich der deutsche Gesetzgeber seit der Eliminierung der letzten echten Unternehmensstrafnormen aus dem WiStG 1961 auch angesichts internationaler und europäischer Verpflichtungen stets auf eine Verschärfung des Ordnungswidrigkeitenrechts konzentriert hat.
12 Zu den Abgrenzungstheorien vgl. Bohner/Bülte, Ordnungswidrigkeitenrecht, 5. Aufl. 2016, Rn. 33 ff. 13 Dafür nachdrücklich etwa Alwart, JZ 1986, 536 ff. und 2009, 478 ff. sowie ZIS 2016, 534 ff. – Die Rspr. tendiert dagegen sogar zu einer weiten Auslegung (BGHSt 53, 122). 14 Vgl. Heger, Die Europäisierung des deutschen Umweltstrafrechts, S. 228. 15 Beharrliche Sperrgebietsverstöße i.S. von § 120 Abs. 1 Nr. 1 OWiG werden nach § 184f StGB zur Straftat qualifiziert (s. nur Mitsch, Recht der Ordnungswidrigkeiten, 2. Aufl. 2005, § 7 Rn. 2 ).
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b) Unterschiede Vergleicht man freilich ein Bußgeldverfahren mit einem Strafverfahren besteht für den Beschuldigten zunächst der sichtbare Unterschied, dass ersteres nicht öffentlich abläuft und bei Akzeptanz des Bußgeldbescheides im wahrsten Sinne niemand – bildlich gesprochen – auf der Anklagebank Platz nehmen muss. Die Prangerwirkung einer öffentlichen Gerichtsverhandlung samt der diese vor allem bei öffentlich agierenden Unternehmen negativen Publicity, die selbst bei einem schlussendlichen Freispruch bereits spätestens aus der Eröffnung der Hauptverhandlung resultiert, lässt sich durch die Nichtanfechtung eines Bußgeldes vermeiden. Da das diesem vorausgehende Verwaltungsverfahren nicht öffentlich ist, besteht für das betroffene Unternehmen auch kein Risiko, trotz später erreichter Entlastung von dem erhobenen Vorwurf mit diesem zumindest zeitweilig in den Augen der Öffentlichkeit konfrontiert zu sein, so dass auch moralisch „nichts hängen bleibt“. Lässt sich der Vorwurf einer Ordnungswidrigkeit bereits im Bußgeldverfahren entkräften, kommt es weder zu einem Bußgeldbescheid noch überhaupt zu einem öffentlichen Verfahren. Schließlich erschöpft sich die Sanktionierung bei einer Kriminalstrafe nicht in der Übelszufügung, d.h. der Entziehung von Geld oder Freiheit; mit der Verhängung dieser Strafe verbunden ist vielmehr ein sozialethisches Unwerturteil des Inhalts, dass der Täter in den Augen der Gesellschaft eine kriminelle Handlung an den Tag gelegt hat.16 Auch die Verhängung eines Bußgeldes erschöpft sich nicht im damit verbundenen Geldverlust, sondern zeigt allein durch ihre Existenz an, dass der Täter schuldhaft gegen bestimmte, durch Gesetz oder Verwaltungsvorschrift statuierte Ge- oder Verbote verstoßen hat. Die damit verbundene Missbilligung reicht allerdings nicht so weit wie die öffentliche Stigmatisierung als „Krimineller“, weil Ordnungswidrigkeiten sich zumeist in bloßem Verwaltungsungehorsam erschöpfen.
c) „Nebenwirkungen“ eines Bußgeldverfahrens Im Einzelfall – das zeigt heute die Praxis im Wirtschafts- und Umweltstrafrecht – können solche Bußgelder nicht nur wegen ihrer massiven Höhe ein Unternehmen besonders treffen; hinzu kommt, dass die Feststellung des zugrundeliegenden Fehlverhaltens bzw. Gesetzesverstoßes durch die Bußgeldbehörde – geht das Unternehmen dagegen nicht vor – ohne gerichtliche Bestätigung für ein Unternehmen gravierende negative Wirkungen haben kann.17 Mit Rechtskraft des Bußgeldbescheides steht nämlich nicht nur die Verpflichtung zu dessen Begleichung sowie zur Zahlung der Verfahrenskosten fest; vielmehr gelten damit auch die tatsächlichen Feststellungen, die die Ordnungswidrigkeit begründen, als gegeben und können daher auch in einem gewerberechtlichen Untersagungsverfahren wegen Unzuverlässigkeit gemäß § 35 GewO gegen das Unternehmen ins Feld geführt werden. Steht ein Unterneh16 Vgl. dazu nur grundlegend Kühl, Zum Missbilligungscharakter der Strafe, in: FS Eser, 2005, S. 149 ff. und schon ders., Der Zusammenhang von Strafe und Strafrecht, FS Lampe, 2003, S. 439 ff. 17 Vgl. dazu nur – mit Blick auf Umweltstrafverfahren aus Verteidigersicht – Rettenmaier, Die Verteidigung in Umweltstrafsachen – Strategische Grundlagen, in: Kloepfer/Heger (Hrsg.), Das Umweltstrafrecht nach dem 45. Strafrechtsänderungsgesetz, 2015, S. 81 ff.
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men mithin vor der Frage, ob es selbst als Subjekt eines Bußgeldverfahrens agieren oder lieber – aufgrund interner Ermittlungen – einzelne Mitarbeiter einem Strafverfahren aussetzen will, bei dem häufig vor allem bei nicht so schwer wiegender Schuld die Möglichkeit einer Einstellung gegen Auflagen nach § 153a StPO besteht, spricht vor diesem Hintergrund viel für die zweite Lösung; angesichts des Fehlens eines rechtskräftigen Schuldspruchs18 verbunden mit der fortgeltenden Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) kann nämlich weder aus dem Strafverfahren als solchem noch aus dem Einstellungsbescheid etwas für ein nachfolgendes gewerberechtliches Verfahren wegen Unzuverlässigkeit o.ä. hergeleitet werden.19
2. Sanktionen gegenüber Unternehmen aufgrund des OWiG Das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht kennt als Sanktionen gegenüber Unternehmen neben der Möglichkeit einer Verfallsanordnung nach § 29a OWiG auch die Verhängung einer Verbandsgeldbuße in § 30 OWiG aufgrund straf- bzw. bußgeldbewehrten Fehlverhaltens leitender Unternehmensangehöriger. Diese Verbandsgeldbuße wird häufig auch im internationalen Vergleich als die „deutsche Alternative“ zu echten Unternehmensstrafen angesehen. Und in der Tat zeigt ja nicht nur die Existenz eines Bereichs, in dem der Gesetzgeber zwischen Straf- und Bußgeldtatbeständen wählen bzw. diese auch nebeneinander bestehen lassen kann, dass vor allem die an eine Kriminalstraftat (und nicht bloß eine Ordnungswidrigkeit) eines Unternehmensmitarbeiters anknüpfende Verbandsgeldbuße große Ähnlichkeit mit einer gegenüber dem Unternehmen selbst verhängten Geldstrafe hat. In beiden Fällen beruht die Sanktionierung auf einem mit Kriminalstrafe bewehrten Verhalten; und in beiden Fällen ist der ausschöpf bare Sanktionierungsrahmen – einmal gegenüber natürlichen Personen, anderseits gegenüber Unternehmen – nahezu identisch, denn die denkbar höchste Geldstrafe beträgt nach § 40 StGB seit 2009 insgesamt 10,8 Mio. EUR, während die nach § 30 OWiG höchstmögliche Verbandsgeldbuße im Juni 2013 von bis dahin einer auf nunmehr zehn Mio. EUR erhöht worden ist. Eine Freiheitsstrafe wäre gegenüber einem Unternehmen ohnehin nicht denkbar. Allerdings lässt sich im Umkehrschluss aus § 30 Abs. 4 OWiG ablesen, dass – soweit das gegenüber dem Unternehmensmitarbeiter verfolgte Fehlverhalten Grundlage auch des Verbandsbußgeldverfahrens ist – eine Trennung beider Verfahren unzulässig sein soll.20 Damit ist im Regelfall auszuschließen, dass an dieses eine Fehlverhalten zwei unterschiedliche Verfallsanordnungen geknüpft werden können. Gleichwohl ist ein Auseinanderfallen denkbar, wenn neben dem Verbandsgeldbußverfahren noch andere als die in § 30 Abs. 1 OWiG genannten (also nicht leitende) Unternehmensangehörige wegen einer Straftat zugunsten des Unternehmens verfolgt werden und in diesem Strafverfahren – das ja nicht mit einem Verbandsbuß18 Zur problematischen Umgehung der zwingenden Wirkung der Unschuldsvermutung auch bei einer Einstellung aus Opportunitätsgründen durch faktische Erzwingung eines Schuldbekenntnisses im Fall „Edathy“ vgl. nur Trentmann, ZStW 128 (2016), 446 ff. 19 Dazu grundlegend schon Kühl, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, 1984; vgl. auch Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1998. 20 Rogall, in: KK-OWiG, § 30 Rn. 158; Bohnert/Bülte, Ordnungswidrigkeitenrecht, Rn. 175.
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geldverfahren verbunden ist – auch der Drittverfall gegenüber dem begünstigten Unternehmen angeordnet wird (der Drittverfall nach §§ 73 Abs. 3 StGB, 29a Abs. 2 OWiG setzt nur voraus, dass der Täter für das Unternehmen gehandelt, nicht auch dass er innerhalb desselben eine leitende Stellung begleitet hat).
a) Verbandsgeldbuße (§ 30 OWiG) aa) Struktur und Rechtsnatur Im Unterschied zum Kriminalstrafrecht sieht in § 30 OWiG das Bußgeldrecht auch die Möglichkeit einer Verbandsgeldbuße vor.21 Da umstritten ist, ob die in § 30 Abs. 1 21 § 30 Geldbuße gegen juristische Personen und Personenvereinigungen: (1) Hat jemand 1. als vertretungsberechtigtes Organ einer juristischen Person oder als Mitglied eines solchen Organs, 2. als Vorstand eines nicht rechtsfähigen Vereins oder als Mitglied eines solchen Vorstandes, 3. als vertretungsberechtigter Gesellschafter einer rechtsfähigen Personengesellschaft, 4. als Generalbevollmächtigter oder in leitender Stellung als Prokurist oder Handlungsbevollmächtigter einer juristischen Person oder einer in Nummer 2 oder 3 genannten Personenvereinigung oder 5. als sonstige Person, die für die Leitung des Betriebs oder Unternehmens einer juristischen Person oder einer in Nummer 2 oder 3 genannten Personenvereinigung verantwortlich handelt, wozu auch die Überwachung der Geschäftsführung oder die sonstige Ausübung von Kontrollbefugnissen in leitender Stellung gehört, eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen, durch die Pflichten, welche die juristische Person oder die Personenvereinigung treffen, verletzt worden sind oder die juristische Person oder die Personenvereinigung bereichert worden ist oder werden sollte, so kann gegen diese eine Geldbuße festgesetzt werden. (2) Die Geldbuße beträgt 1. im Falle einer vorsätzlichen Straftat bis zu zehn Millionen Euro, 2. im Falle einer fahrlässigen Straftat bis zu fünf Millionen Euro. Im Falle einer Ordnungswidrigkeit bestimmt sich das Höchstmaß der Geldbuße nach dem für die Ordnungswidrigkeit angedrohten Höchstmaß der Geldbuße. Verweist das Gesetz auf diese Vorschrift, so verzehnfacht sich das Höchstmaß der Geldbuße nach Satz 2 für die im Gesetz bezeichneten Tatbestände. Satz 2 gilt auch im Falle einer Tat, die gleichzeitig Straftat und Ordnungswidrigkeit ist, wenn das für die Ordnungswidrigkeit angedrohte Höchstmaß der Geldbuße das Höchstmaß nach Satz 1 übersteigt. (2a) Im Falle einer Gesamtrechtsnachfolge oder einer partiellen Gesamtrechtsnachfolge durch Aufspaltung (§ 123 Absatz 1 des Umwandlungsgesetzes) kann die Geldbuße nach Absatz 1 und 2 gegen den oder die Rechtsnachfolger festgesetzt werden. Die Geldbuße darf in diesen Fällen den Wert des übernommenen Vermögens sowie die Höhe der gegenüber dem Rechtsvorgänger angemessenen Geldbuße nicht übersteigen. Im Bußgeldverfahren tritt der Rechtsnachfolger oder treten die Rechtsnachfolger in die Verfahrensstellung ein, in der sich der Rechtsvorgänger zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Rechtsnachfolge befunden hat. (3) § 17 Abs. 4 und § 18 gelten entsprechend. (4) Wird wegen der Straftat oder Ordnungswidrigkeit ein Straf- oder Bußgeldverfahren nicht eingeleitet oder wird es eingestellt oder wird von Strafe abgesehen, so kann die Geldbuße selbständig festgesetzt werden. Durch Gesetz kann bestimmt werden, daß die Geldbuße auch in weiteren Fällen selbständig festgesetzt werden kann. Die selbständige Festsetzung einer Geldbuße gegen die juristische Person oder Personenvereinigung ist jedoch ausgeschlossen, wenn die Straftat oder Ordnungswidrigkeit aus rechtlichen Gründen nicht verfolgt werden kann; § 33 Abs. 1 Satz 2 bleibt unberührt. (5) Die Festsetzung einer Geldbuße gegen die juristische Person oder Personenvereinigung schließt es aus, gegen sie wegen derselben Tat den Verfall nach den §§ 73 oder 73a des Strafgesetzbuches oder nach § 29a anzuordnen.
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Nr. 1 – 3 OWiG genannten juristischen Personen und Personenverbände als solche handlungsfähig im strafrechtlichen Sinne sein können,22 ist Grundlage ihrer Bußgeldbewehrung eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit, welche durch leitende Mitarbeiter bzw. Organe des jeweiligen Verbandes begangen worden sein muss. Dabei sind prinzipiell zwei Konstellationen zu unterscheiden: Entweder wird der Verband neben dem individuell verantwortlichen Täter verfolgt oder ein solches Verfahren wird nicht eröffnet oder eingestellt (§ 30 Abs. 4 OWiG) und allein gegen den Verband wird ein Bußgeldbescheid erlassen (sog. selbständige Verbandsgeldbuße). Strukturell handelt es sich bei § 30 OWiG nicht um einen einzelnen eigenständigen Bußgeldtatbestand, sondern um eine Regelung des Allgemeinen Teils des OWiG.23 In der Rechtslehre ist umstritten, ob hinter dieser Norm die Idee eines eigenen Organisationsverschuldens des Verbandes oder eine Zurechnung von Fremdverschulden der leitenden Mitarbeiter steht.24 De lege lata ist das Zurechnungsmodell überzeugender, wobei es aber nicht darum gehen soll, einem Verband das Verschulden Dritter als fremdes, sondern das Verschulden seiner Organe und Vertreter als eigenes zuzurechnen.25
bb) Mögliche Normadressaten Der Kreis der mit einer Verbandsgeldbuße sanktionierbaren juristischen Personen und Personenvereinigungen ist in § 30 Abs. 1 OWiG relativ weit gezogen. Erfasst sind alle juristischen Personen des Privatrechts wie auch – zumindest nach der Rechtsprechung26 – des Öffentlichen Rechts (Nr. 1); neben AG, GmbH, KGaA, Genossenschaft und Stiftung als häufig wirtschaftlich tätigen Unternehmen sind damit auch eingetragene Vereine sowie öffentlich-rechtliche (auch Gebiets-)Körperschaften, Stiftungen und Anstalten sowie Kirchengemeinden 27 umfasst. § 30 Abs. 1 Nr. 2 OWiG erfasst nicht rechtsfähige Vereine; Adressaten von Nr. 3 sind in Anlehnung an § 14 Abs. 2 BGB alle rechtsfähigen Personengesellschaften, d.h. neben den im Wirtschaftsleben aktiven Personenhandelsgesellschaften wie OHG und KG, der Europäischen Wirtschaftlichen Interessenvereinigung und der Partnerschaftsgesellschaft auch die inzwischen von der Rechtsprechung als (teil-)rechtsfähig angesehene (Außen-)Gesellschaft bürgerlichen Rechts i.S. von §§ 705 ff. BGB.28 Grundsätzlich anwendbar ist § 30 Abs. 1 OWiG auch auf Vorgesellschaften; zwar handelt e sich bei ihnen (noch) nicht um juristische Personen i.S. von Nr. 1, wohl aber jedenfalls bereits um eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts oder – betreibt diese ein Handelsgeschäft (6) Bei Erlass eines Bußgeldbescheids ist zur Sicherung der Geldbuße § 111d Absatz 1 Satz 2 der Strafprozessordnung mit der Maßgabe anzuwenden, dass an die Stelle des Urteils der Bußgeldbescheid tritt. 22 Dagegen z.B. Bohnert/Bülte, Ordnungswidrigkeitenrecht, Rn. 16; dafür z.B. KK-OWiG-Rogall, § 30 Rn. 10. 23 BGHSt 46, 207, 211. 24 Vgl. dazu KK-OWiG-Rogall, § 30 Rn. 2 ff. 25 KK-OWiG-Rogall, § 30 Rn. 8. 26 OLG Frankfurt, NJW 1976, 1276; OLG Hamm, NJW 1979, 1312. 27 OLG Stuttgart, MDR 1993, 572. 28 BGH, NJW 2001, 1056.
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– um eine OHG, so dass Nr. 3 Anwendung finden kann.29 § 30 Abs. 1 Nr. 1 – 3 OWiG sind auch auf fehlerhafte Gesellschaften anwendbar, soweit diese bereits in Vollzug gesetzt worden sind.30 Schließlich kann seit dem 30.6.2013 die Verbandsgeldbuße nach § 30 Abs. 2a OWiG im Falle einer Gesamtrechtsrechtsnachfolge oder einer partiellen Gesamtrechtsnachfolge durch Aufspaltung i.S. von § 123 Abs. 1 UmwG auch gegen den Rechtsnachfolger festgesetzt werden. Dem vorausgegangen war im Jahr 2011 eine Grundsatzentscheidung des BGH, wonach gegen einen Gesamtrechtsnachfolger eines Unternehmens, dessen Organ eine Tat i.S. von § 30 Abs. 1 OWiG begangen hat, nur dann eine Verbandsgeldbuße verhängt werden darf, wenn zwischen der zur Tatzeit bestehenden Organisation und deren Gesamtrechtsnachfolger nahezu Identität besteht.31 Eine solche wirtschaftliche Identität sei jedoch nur „gegeben, wenn das ‚haftende Vermögen‘ weiterhin vom Vermögen des gemäß § 30 OWiG Verantwortlichen getrennt, in gleicher oder in ähnlicher Weise wie bisher eingesetzt wird und in der neuen juristischen Person einen wesentlichen Teil des Gesamtvermögens ausmacht“; eine darüber hinausgehende Haftung des Gesamtrechtsnachfolgers verstoße – so der BGH – gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Damit hatten es die Verantwortlichen einer Organisation in der Hand, nach Begehung der Tat durch Umwandlung von deren rechtlichen Strukturen die Verhängung einer Verbandsgeldbuße de jure zu vereiteln. Deshalb hat der Gesetzgeber zusammen mit der Erhöhung der Höchstbeträge für die Verbandsgeldbußen aufgrund von Straftaten in § 30 Abs. 2a OWiG nunmehr auch den Gesamtrechtsnachfolger als Adressat einer Verbandsgeldbuße ausgewiesen. Da im Falle einer Umwandlung die Verbandsgeldbuße gegen den Rechtsnachfolger festgesetzt werden muss, ist § 30 Abs. 2a OWiG nicht anwendbar, wenn bereits vor der Umwandlung gegen den Rechtsvorgänger einer Verbandsgeldbuße festgesetzt worden ist.32 Allerdings sind angesichts des Wortlauts von § 30 Abs. 2a OWiG sowie von dessen Ausnahmecharakter andere Begründungen einer Gesamtrechtsnachfolge ebenso wenig erfasst wie alle Formen einer Einzelrechtsnachfolge (etwa durch Veräußerung wesentlicher Wertgegenstände des Unternehmens).33 Das lässt dem Inhaber eines Unternehmens weiterhin erhebliche Spielräume zur Umgehung dieser (Gesamt-)Rechtsnachfolgeregelung.34
cc) Anknüpfungstaten Die Verhängung einer (auch selbständigen) Verbandsgeldbuße setzt stets voraus, dass ein bestimmter Organangehöriger oder leitender Mitarbeiter den Tatbestand einer Straf- oder Bußgeldnorm rechtswidrig und schuldhaft verletzt hat. Durch die Straftat KK-OWiG-Rogall, § 30 Rn. 4 4. KK-OWiG-Rogall, § 30 Rn. 45. 31 BGHSt 57, 193. 32 Bohnert/Bülte, Ordnungswidrigkeitenrecht, Rn. 173. 33 KK-OWiG-Rogall, § 30 Rn. 53; vgl. Dazu auch Eisele, Die bußgeldrechtliche Haftung des Rechtsnachfolgers, in: Eisele/Kock/Theile, Der Sanktionsdurchgriff im Unternehmensverbund, 2014, S. 153 ff. 34 Vgl. Begründung, S. 50. 29
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oder Ordnungswidrigkeit müssen entweder betriebsbezogene Pflichten des Unternehmens verletzt 35 oder dieses bereichert bzw. solches versucht worden sein.36 Der Begriff der betriebsbezogenen Pflichten orientiert sich an § 130 OWiG37; die darin für den Inhaber eines Unternehmens sowie die ihm in § 9 OWiG gleichgestellten Mitarbeiter bußgeldbewehrten Aufsichtspflichtverletzungen gegenüber Pflichtverletzungen durch Unternehmensmitarbeiter38 sind der praktisch häufigste Anknüpfungspunkt für eine Verbandsgeldbuße gemäß § 30 OWiG.39 Danach sind betriebsbezogen alle Pflichten, welche den Unternehmensträger als solchen treffen. Erfasst sind davon auch sog. echte wie unechten Sonderdelikte, die die Straf barkeit von einer besonderen Stellung des Täters etwa als Arbeitgeber (z.B. bei § 266a StGB) oder als Eigentümer oder Betreiber einer Anlage (z.B. bei § 327 StGB) abhängig machen. Diese Pflichten, die zuvörderst das Unternehmen selbst treffen, werden nach § 9 OWiG bzw. – inhaltsgleich – § 14 StGB auf dessen Organe, vertretungsberechtigten Gesellschaftern sowie gesetzlichen Vertretern bzw. Betriebsleitern oder bestimmten Beauftragten überbürdet.40 Insoweit besteht ebenfalls bis heute eine gewisse Sanktionierungslücke, als § 30 Abs. 1 Nr. 5 OWiG eine Verbandsgeldbuße zwar auch dann vorsieht, wenn eine „sonstige Person … für die Leitung des Betriebs oder Unternehmens verantwortlich handelt“, ohne allerdings zu diesem Handeln – wie § 9 Abs. 2 Nr. 2 OWiG bzw. wortgleich § 14 Abs. 2 Nr. 2 StGB es fordern – vom Betriebsinhaber ausdrücklich beauftragt worden zu sein; da in dieser Konstellation der leitend handelnde Mitarbeiter selbst mangels ihn treffender Sonderpflichten ein Sonderdelikt nicht begehen kann, ist es de lege lata unmöglich, an sein entsprechendes (Fehl-)Verhalten eine Verbandsgeldbuße anzuknüpfen. Das gleiche gilt, wenn offen bleibt, wer von mehreren Unternehmensangehörigen die der Verbandsgeldbuße zugrunde zu legende Ordnungswidrigkeit oder Straftat begangen hat und nicht jeder die im Tatbestand geforderte Täterqualität (über § 9 OWiG bzw. § 14 StGB) aufweisen kann. Dazu näher KK-OWiG-Rogall, § 30 Rn. 89 ff. Dazu näher KK-OWiG-Rogall, § 30 Rn. 98 ff. 37 § 130: (1) Wer als Inhaber eines Betriebes oder Unternehmens vorsätzlich oder fahrlässig die Aufsichtsmaßnahmen unterläßt, die erforderlich sind, um in dem Betrieb oder Unternehmen Zuwiderhandlungen gegen Pflichten zu verhindern, die den Inhaber treffen und deren Verletzung mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist, handelt ordnungswidrig, wenn eine solche Zuwiderhandlung begangen wird, die durch gehörige Aufsicht verhindert oder wesentlich erschwert worden wäre. Zu den erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen gehören auch die Bestellung, sorgfältige Auswahl und Überwachung von Aufsichtspersonen. (2) Betrieb oder Unternehmen im Sinne des Absatzes 1 ist auch das öffentliche Unternehmen. (3) Die Ordnungswidrigkeit kann, wenn die Pflichtverletzung mit Strafe bedroht ist, mit einer Geldbuße bis zu einer Million Euro geahndet werden. § 30 Absatz 2 Satz 3 ist anzuwenden. Ist die Pflichtverletzung mit Geldbuße bedroht, so bestimmt sich das Höchstmaß der Geldbuße wegen der Aufsichtspflichtverletzung nach dem für die Pflichtverletzung angedrohten Höchstmaß der Geldbuße. Satz 3 gilt auch im Falle einer Pflichtverletzung, die gleichzeitig mit Strafe und Geldbuße bedroht ist, wenn das für die Pflichtverletzung angedrohte Höchstmaß der Geldbuße das Höchstmaß nach Satz 1 übersteigt. 38 Dazu jüngst Minkoff, Sanktionsbewehrte Aufsichtspflichten im internationalen Konzern, 2016, S. 101 ff. 39 KK-OWiG-Rogall, § 30 Rn. 92. 40 Dazu vgl. KK-OWiG-Rogall, § 30 Rn. 91. 35
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dd) Bemessung der Verbandsgeldbuße Die Verbandsgeldbuße bemisst sich der Höhe nach zunächst nach § 30 Abs. 2 OWiG, wobei Ausgangspunkt die rechtliche Einstufung des Fehlverhaltens des Unternehmensangehörigen ist. Handelt es sich dabei um eine vorsätzliche Straftat, beträgt das Höchstmaß der Verbandsgeldbuße 10 Mio. EUR (Satz 1 Nr. 1), bei einer fahrlässigen Straftat die Hälfte (Satz 1 Nr. 2 ). Handelt es sich dagegen um eine Ordnungswidrigkeit, so bemisst sich das Höchstmaß der Verbandsgeldbuße nach dem Höchstmaß für diese Ordnungswidrigkeit (Satz 2 ), doch kann das Höchstmaß der Verbandsgeldbuße unter bestimmten Umständen verzehnfacht werden. Überdies ist das Höchstmaß der Geldbuße für die Ordnungswidrigkeit für die Bemessung der Verbandsgeldbuße auch dann maßgebend, wenn die Ordnungswidrigkeit mit einer Straftat zusammenfällt und das für erstere angedrohte Bußgeld mehr als 10 Mio. EUR bzw. – beim Zusammentreffen mit fahrlässigen Straftaten – mehr als 5 Mio. EUR beträgt. Schließlich ist nach § 30 Abs. 3 OWiG auch § 17 Abs. 4 OWiG entsprechend anwendbar, der bestimmt: „Die Geldbuße soll den wirtschaftlichen Vorteil, den der Täter aus der Ordnungswidrigkeit gezogen hat, übersteigen. Reicht das gesetzliche Höchstmaß hierzu nicht aus, so kann es überschritten werden.“ Das bedeutet, dass – wenn der dem Unternehmen durch die Straftat oder Ordnungswidrigkeit zugeflossenen Vorteil die nach § 30 Abs. 2 OWiG jeweils höchst möglichen Geldbußen übersteigt – die Verbandsgeldbuße auch darüber hinausgehen kann, bis der vom Unternehmen gezogene wirtschaftliche Vorteil abgedeckt ist. Damit ist die Verbandsgeldbuße der Höhe nach nicht begrenzt. Weil aber der Regelung von § 17 Abs. 4 OWiG das Nettoprinzip zugrunde liegt, so dass nur die vom Unternehmen erlangten wirtschaftlichen Vorteile bzw. Gewinn abgeschöpft werden können und daher die Aufwendungen von den Einnahmen abzuziehen sind,41 können – anders als beim für den Verfall nach § 29a OWiG (und §§ 73 ff. StGB) leitenden Bruttoprinzip (dazu unten) – nicht alle erlangten Vermögenswerte als solche mittels einer Verbandsgeldbuße abgeschöpft werden. Bei der Bemessung einer Verbandsgeldbuße gegenüber dem Gesamtrechtsnachfolger der zur Tatzeit bestehenden Organisation ist überdies § 30 Abs. 2a Satz 2 OWiG zu berücksichtigen:42 „Die Geldbuße darf in diesen Fällen den Wert des übernommenen Vermögens sowie die Höhe der gegenüber dem Rechtsvorgänger angemessenen Geldbuße nicht übersteigen.“ Eine Gesamtrechtsnachfolge soll mithin zwar nicht mehr die Verhängung einer Verbandsgeldbuße vereiteln können; andererseits soll die dadurch bewirkte Veränderung der Struktur auch nicht dazu führen, dass eine ursprünglich angemessene Geldbuße wegen der Rechtsnachfolge erhöht wird.
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Mitsch, in: KK-OWiG, § 29a Rn. 117; Bohnert/Bülte, Ordnungswidrigkeitenrecht, Rn. 179. Vgl. Bohnert/Bülte, Ordnungswidrigkeitenrecht, Rn. 173.
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b) Vermögensabschöpfung Während die Verfallsanordnung in einem Strafverfahren gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 StGB (dazu unter (III.) obligatorisch ist,43 steht sie im Rahmen von § 29a OWiG44 im Ermessen der Verwaltungsbehörde.45 Wie im Strafrecht soll nach § 29a OWiG auch im Bußgeldverfahren das erlangte „etwas“ abgeschöpft werden. Gemeint ist damit nicht der aus einer Ordnungswidrigkeit erzielte Gewinn, sondern der aufgrund der Tat dem Begünstigen zugeflossene Vermögensvorteil, selbst wenn aufgrund von für diesen getätigten Aufwendungen am Ende kein Nettoertrag übrig bleiben sollte. Es gilt daher mit Blick auf den Gegenstand des Verfalls im Straf- wie Bußgeldrecht das sog. Bruttoprinzip.46 Anders als der Verfall nach §§ 73 ff. StGB, der auch neben einer Geldstrafe angeordnet wird, kommt ein Verfall nach § 29a Abs. 1 OWiG nur dann in Betracht, wenn daneben keine Geldbuße verhängt wird, weil der aus einer Ordnungswidrigkeit herrührende Vermögensvorteil bereits über § 17 Abs. 4 OWiG bei der Bemessung der Geldbuße zugrunde gelegt werden soll, während eine solche Einbeziehung von Vermögensvorteilen bei der Bemessung einer Geldstrafe seit dem Übergang zum Tagessatzsystem nicht mehr möglich ist.47 Allerdings hat der Wandel der Bestimmung des Verfallsgegenstandes vom Netto- zum Bruttoprinzip bei gleichzeitig fortbestehender Orientierung des Höchstmaßes der Geldbuße am Nettoprinzip zur Folge, dass die Verhängung einer Geldbuße einer darüber hinaus die Differenz zwischen dem Netto- und um Bruttozuwachs erfassenden Verfallsanordnung nach § 29a Abs. 1 OWiG entgegensteht.48 Das gilt auch für das Nebeneinander einer Verbandsgeldbuße gegen ein Unternehmen und einer Verfallsanordnung aufgrund von § 29a Abs. 1 OWiG. Denkbar ist allerdings, dass das mit der Verbandsgeldbuße gegenüber dem Unternehmen ahndbare Fehlverhalten von dessen Repräsentanten nicht nach § 30 OWiG verfolgt wird, sondern vielmehr im Zuge des Bußgeldverfahrens gegen den Repräsentanten selbst gemäß § 29a Abs. 2 OWiG der Drittverfall des erlangten Bruttobetrages gegenüber dem Unternehmen angeordnet wird. Das wäre nach § 29a Abs. 4 OWiG sogar im Wege einer selbständigen (Dritt-)Verfallsanordnung möglich, selbst wenn es auch gegen den Repräsentanten gar kein Bußgeldverfahren gibt bzw. dieses 43 OLG Düsseldorf, wistra 1999, 477; Heger, in: Lackner/Kühl, § 73 Rn. 11; Franzheim/Pfohl, Umweltstrafrecht, 2. Aufl. 2001, Rn. 641. 44 § 29a Verfall: (1) Hat der Täter für eine mit Geldbuße bedrohte Handlung oder aus ihr etwas erlangt und wird gegen ihn wegen der Handlung eine Geldbuße nicht festgesetzt, so kann gegen ihn der Verfall eines Geldbetrages bis zu der Höhe angeordnet werden, die dem Wert des Erlangten entspricht. (2) Hat der Täter einer mit Geldbuße bedrohten Handlung für einen anderen gehandelt und hat dieser dadurch etwas erlangt, so kann gegen ihn der Verfall eines Geldbetrages bis zu der in Absatz 1 bezeichneten Höhe angeordnet werden. (3) Der Umfang des Erlangten und dessen Wert können geschätzt werden. § 18 gilt entsprechend. (4) Wird gegen den Täter ein Bußgeldverfahren nicht eingeleitet oder wird es eingestellt, so kann der Verfall selbständig angeordnet werden. 45 Vgl. BayObLG, NStZ 2000, 537. 46 KK-OWiG-Mitsch, § 29a Rn. 27 ff. 47 Vgl. nur Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl. 2014, Vor § 4 0 Rn. 4. 48 KK-OWiG-Mitsch, § 29a Rn. 27; Bohnert/Krenberger/Krumm, OWiG, 4. Aufl. 2016, § 29a Rn. 4.
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eingestellt wird. Geht es also aufgrund einer Ordnungswidrigkeit des Repräsentanten eines Unternehmens darum, den größtmöglichen Vermögensertrag bei diesem abzuschöpfen, dürfte häufig die Anordnung eines (ggf. selbständigen) Drittverfalls vorzugswürdig sein. Da dagegen der strafrechtliche Drittverfall gemäß § 73 Abs. 3 StGB nicht mit der Verhängung einer Verbandsgeldbuße kollidiert, kann in Folge einer vorsätzlichen oder fahrlässigen straf baren Handlung des Repräsentanten gegenüber dem Unternehmen sowohl eine Verbandsgeldbuße verhängt als auch im Zuge des Strafverfahrens gegen den Repräsentanten der Drittverfall angeordnet werden.
3. EU-Kartellbußgeldrecht (VO 1/2003) Angesichts der hohen Bußgelder sowie der regelmäßig beteiligten internationalen Großkonzerne besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit finden die kartellrechtlichen Bußgeldverfahren der EU-Kommission. Zunächst auf Grundlage von Art. 87 Abs. 2 EWGV, der inzwischen durch den insoweit inhaltsgleichen Art. 103 Abs. 2 Nr. 1 AEUV abgelöst worden ist, hat die EWG bereits 1962 mit der Verordnung 17/62 eine erste Rechtsgrundlage zur Festsetzung von Geldbußen für Verstöße gegen das europäische Kartellrecht (zunächst Art. 85, 86 EWGV, heute Art. 101, 102 AEUV) geschaffen, welche zum 1.1.2003 abgelöst worden ist durch die bis heute geltende Kartellverordnung 1/2003; einen Bußgeldtatbestand allein gegenüber Unternehmen und Unternehmensvereinigungen enthält Art. 23 Abs. 1 dieser EG-Verordnung. Weitere Bußgeldtatbestände enthält Art. 14 der EG-Fusionskontrollverordnung (FKVO); diese sehen als Adressaten sowohl Unternehmen als auch Privatpersonen vor. Als auch in Deutschland unmittelbar anwendbare Tatbestände ergänzen sie zwar das hierzulande gegenüber Unternehmen bestehende Instrumentarium;49 da es aber vorliegend vor allem auf die nationalen Rechtsakte bzw. „Befindlichkeiten“ in Bezug auf ein Unternehmensstrafrecht ankommen soll, bleiben diese EU-Bußgeldtatbestände im weiteren außen vor.
4. Zwischenfazit Deutsche Juristen und auch der Gesetzgeber weisen vor allem gegenüber der EU-Kommission, wenn es um die effektive Sanktionierung von Rechtsverstößen gegen EU-Recht durch deutsche Unternehmen geht, immer wieder darauf hin, dass das Bußgeldrecht ein probates, ja vielleicht sogar ein gegenüber dem Kriminalstrafrecht besseres Mittel zur Bekämpfung von Unternehmensdelinquenz sei. Auf den ersten Blick mag das in vielen Fällen sogar zutreffen, ermöglicht doch heute das OWiG und erst recht das EU-Kartellbußgeldrecht Geldbußen und Vermögensabschöpfungen in fast schwindelerregender Höhe. Auch bedeutet die Rechtskraft eines Bußgeldbescheides, dass rechtsförmig z.B. mit Blick auf die staatliche Gewerbeauf49 Dazu näher Dannecker, in: Wabnitz/Janovsky (Hrsg.), Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 4. Aufl. 2014, Kap. 16, Rn. 217 ff.; Wittig, Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2014, § 32 Rn. 29 ff.
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sicht festgestellt ist, dass das Unternehmen aufgrund ihm zurechenbaren Fehlverhaltens seiner Vertreter in vorwerf barer Weise materiell straf bewehrte Ge- oder Verbote verletzt hat. Andererseits zeigen empirische Untersuchungen, dass § 30 OWiG zwar in Wirtschafts-, Umwelt- und Korruptionsprozessen häufig hätte angewandt werden können, es aber gleichwohl nur zu einer relativ geringen Zahl tatsächlicher Anwendungen gekommen ist.50 Vor allem § 130 OWiG wird die Effizienz abgesprochen.51 Dass der Gesetzgeber selbst Änderungsbedarf gesehen hat, zeigt auch die erwähnte Verzehnfachung der Bußgeldobergrenzen bei auf kriminellem Handeln beruhenden Verbandsgeldbußen. Überdies entsteht ein „fader Beigeschmack“ gerade bei solchen „großen Fällen“, wurde das Ordnungswidrigkeitenrecht doch ursprünglich „geschaffen, um Bagatelldelinquenz gegen Rechtsgüter der Allgemeinheit angemessen erfassen und vereinfacht ahnden zu können“.52 Es bleiben doch erhebliche Zweifel, ob es sich bei den aktuell immer wieder bekannt gewordenen Fällen mit gravierenden Auswirkungen (sonst wären ja nicht so hohe Sanktionen angezeigt) letztlich noch um Bagatelldelinquenz handelt oder umgekehrt, ob es zu überzeugen vermag, ein eigentlich für die Sanktionierung von Bagatelldelinquenz geschaffenes Verfahren auch in ganz anderen Bereichen einzusetzen.53 Sowohl angesichts der möglichen Anknüpfung an kriminelles Verhalten der seiner Repräsentanten als auch angesichts der dafür sprunghaft angehobenen Geldsanktionsmöglichkeiten erscheint ein Übergang zu einem echten Unternehmensstrafrecht jedenfalls nicht fernliegend.
III. Kriminalsanktionen gegen Verbände im weiteren Sinne – (Dritt-)Verfall und Einziehung (§§ 73 ff. StGB) 1. Der Rechtscharakter von Verfall und Einziehung Bei den in §§ 73 ff. StGB (noch) unter dem tradierten Terminus „Verfall“ geregelten Möglichkeiten einer Abschöpfung des aus einer (nicht unbedingt auch angeklagten) Straftat erlangten vermögenswerten „etwas“ handelt es sich nach der Rechtsprechung von BGH54 wie BVerfG55 nicht um eine Strafe, so dass darauf auch nicht das Schuldprinzip anzuwenden sein soll; auch handelt es sich angesichts der Aufzählung in § 61 StGB beim Verfall nicht um eine Maßregel,56 sondern um eine Vermögensabschöpfungsmaßnahme (§ 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB) eigener Art.57 Ob dem wirklich in allen in §§ 73 ff. StGB geregelten Formen eines Verfalls so ist, mag dahin stehen; in der Lite Vgl. Krems, ZIS 2015, 5, 6. Geismar, Der Tatbestand der Aufsichtspflichtverletzung bei der Ahndung von Wirtschaftsdelikten, 2012, S. 147. 52 Bohner/Bülte, Ordnungswidrigkeitenrecht, Rn. 31. 53 Vgl. auch Brodowski, ZStW 128 (2016), 370, 393, der dafür plädiert, ab einer gewissen Schwere der Sanktion die (Erst-)Entscheidung über Schuld und Sanktion nicht – wie im Ordnungsverfahren üblich – der Verwaltung zu überlassen. 54 BGHSt 47, 260, 265; 47, 369, 375; BGH, NStZ-RR 2004, 214. 55 BVerfGE 110, 1 – erweiterter Verfall nach § 73d StGB [2004]. 56 So allerdings Krey/Dierlamm, JR 1992, 353, 358. 57 Vgl. nur Fischer, StGB, 63. Aufl. 2016, § 73 Rn. 2a. 50 51
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ratur sehen gewichtige Stimmen jedenfalls bei der 1992 eingeführten Verfallserklärung aufgrund des sog. Bruttoprinzips, d.h. einer Abschöpfung aller aufgrund der Straftat gezogenen Vorteile ohne Abzugsmöglichkeit hinsichtlich der hierfür täterseits getätigten Aufwendungen (also nicht nur des kriminell erlangten Gewinns), der Sache nach durchaus eine „verkappte“ Strafe.58 Dagegen sieht die straf- wie verfassungsgerichtliche Rechtsprechung in den Verfallserklärungen kondiktionsähnliche Maßnahmen, die vor allem kriminelle Vermögensverschiebungen verhindern und kriminelle Einnahmen abschöpfen sollen.59 Da es mir hier um die gelebte Rechtspraxis gehen soll und auch die aktuellen Reformvorschläge nichts an der insoweit gefestigten Rechtsprechung ändern (sondern diese vielmehr bestätigen) sollen,60 ist hier festzuhalten, dass es sich bei einer strafgerichtlichen Verfallsentscheidung zwar durchweg um eine Sanktionierung des Betroffenen aufgrund Kriminalrechts und mithin um eine Kriminalsanktion, nicht aber auch um eine (Kriminal-)Strafe handelt. Solange Unternehmen in Ermangelung eines echten Unternehmensstrafrechts nicht selbst Subjekte eines Strafverfahrens sein können, ist die Anordnung eines Drittverfalls (§ 73 Abs. 3 StGB) nach noch geltendem Strafrecht lediglich möglich, wenn gegen einen Unternehmensmitarbeiter ein Strafverfahren durchgeführt wird und in diesem Zusammenhang die dem Unternehmen zugeflossenen Vorteile aus der angeklagten Tat eingezogen werden; in sog. „Verschiebungsfällen“ genügt für eine Anordnung des Drittverfalls gegenüber ein begünstigtes Unternehmen, wenn diesem der Beschuldigte den Vermögensvorteil unentgeltlich oder rechtsgrundlos hat zukommen lassen.61 Nach bisherigem Recht besteht die Möglichkeit einer selbständigen Verfallsanordnung z.B. gegen ein begünstigtes Unternehmen ohne ein Strafverfahren gegen eine natürliche Person nur, wenn ein solches aus tatsächlichen Gründen nicht durchgeführt werden kann (§ 76a Abs. 1 StGB); 62 das ist etwa der Fall, wenn der Täter flüchtig oder verhandlungsunfähig ist oder sich im Ausland befindet und von dort nicht ausgeliefert wird.63 Da es darum gehen muss, dass das Strafverfahren als tatsächlichen Gründen nicht (weiter) betrieben werden kann, scheidet die Anordnung eines selbständigen Verfalls dagegen etwa aus, wenn der Täter verstorben ist,64 denn mit dem Tod eines Angeklagten ist gegen diesen aus Rechtsgründen kein Strafverfahren mehr möglich.65 58 So z.B. Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, Vorbem §§ 73 ff. Rn. 19; Fischer, § 73 Rn. 3 ; Heger, In: Lackner/Kühl, § 73 Rn. 4b; Dessecker, Gewinnabschöpfung im Strafrecht und in der Strafrechtspraxis, 1992, S. 362; Hellmann, GA 1997, 503, 521; Dannecker, NStZ 2006, 683. 59 BVerfGE 110, 1 – erweiterter Verfall nach § 73d StGB [2004] verweist auf die Ähnlichkeit zum Kondiktionsrecht der §§ 812 ff. BGB und dabei insbesondere auch auf die Kondiktionssperre in § 817 Satz 2 BGB (zust. im Schrifttum etwa Altenhain, Das Anschlussdelikt, 2002, S. 350; Best, JR 2003, 337, 341). 60 Vgl. BT-Drs. 18/9525, S. 4 4 f. 61 Grundlegend BGHSt 45, 235, 244 ff.; Heger, in: Lackner/Kühl, § 73 Rn. 9. 62 § 76a Abs. 1 i.d.F. des RegE sieht eine Streichung der Beschränkung der selbständigen Einziehung auf tatsächliche Gründe und damit eine Erweiterung des Anwendungsbereichs vor (vgl. BT-Drs. 18/9525, S. 71). 63 Vgl. OLG Celle, NStZ-RR 1996, 209; LG Bayreuth, NJW 1970, 574. 64 OLG Frankfurt, NStZ-RR 2006, 39; LK-Schmidt, § 76a Rn. 9; anders noch OLG Stuttgart, NJW 2000, 2598. 65 BGHSt 45, 108; Heger, GA 2009, 46 ff.
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Die in §§ 74 ff. StGB geregelte Einziehung von Tatwerkzeugen oder Tatprodukten (instrumentum bzw. productum sceleris) hat dagegen nach ganz h.M. jedenfalls auch einen Strafcharakter, wenn sie gegenüber einem Täter oder Teilnehmer angeordnet wird.66 Allerdings ermöglicht § 75 StGB, dass juristische Personen und andere wirtschaftlich selbstständige Personenvereinigungen im Einziehungsrecht den natürlichen Personen gleichstehen, wenn ihre Organe oder andere Personen im Leitungsbereich für sie gehandelt haben.67 Damit ist der Personenkreis, dessen (Fehl-)Verhalten zu Vermögensabschöpfungen gegenüber einem Unternehmen führen kann, bei der Einziehung zwar enger gezogen (es müssen Unternehmensangehörige in leitender Funktion sein) als beim Verfall (hier genügen auch andere Unternehmensangehörige, bei Verschiebungsfällen sogar auch Unternehmensexterne). Derzeit befindet sich der von der Bundesregierung eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung 68 im Gesetzgebungsverfahren, dessen Annahme sehr wahrscheinlich erscheint. Für die hier interessierende Frage einer Sanktionierung von Unternehmen durch Verfall und Einziehung dürfte sich inhaltlich nicht allzu viel ändern. Formal wird zwar die Terminologie vereinheitlicht, so dass in Zukunft und im Einklang mit europäischen Gepflogenheiten („confiscation“) auch der bisherige Verfall als „Einziehung“ von Taterträgen firmieren soll.69 § 73b RegE regelt ausführlicher als bisher § 73 Abs. 3 StGB die Möglichkeit eines Drittverfalls bzw. – in neuer Terminologie – der „Einziehung von Taterträgen bei anderen“; explizit normiert ist hier der „Verschiebungsfall“.70 Da die für einen Drittverfall gegenüber Unternehmen bislang maßgebende Regelung des § 73 Abs. 3 StGB sich wortgleich in § 73b Abs. 1 Nr. 1 RegE wiederfindet, dürfte sich an den Voraussetzungen nichts ändern. Die Berechnung der Einziehung von Taterträgen soll zukünftig in einem zweistufigen Verfahren durchgeführt werden; zunächst wird alles Erlangte erfasst, um dann davon nach § 73d Abs. 1 RegE bestimmte Aufwendungen des Täters abzuziehen. Dadurch könnte in Zukunft im Einzelfall der abzuschöpfende Betrag sinken.71 Andererseits dürfte einige andere Regelungen die Anordnung einer Einziehung von Taterträgen tendenziell vereinfachen und allgemein konstatierte Hemmnisse bei der Anwendung der §§ 73 ff. StGB beseitigen, so dass mit einer häufigeren Anordnung auch einer (Dritt-)Einziehung gegenüber Unternehmen gerechnet werden kann. Insgesamt könnte die Wirkung der Vermögensabschöpfung als einer an eine Straftat anknüpfenden Sanktion daher gestärkt werden.
2. Der Drittverfall (§ 73 Abs. 3 StGB) Gegenüber Unternehmen kann bislang (wie auch in Zukunft) nur ein sog. Drittverfall i.S. von § 73 Abs. 3 StGB in Betracht kommen (gemäß § 73b Abs. 1 RegE „Drit Vgl. nur Heger, in: Lackner/Kühl, § 74 Rn. 1. Heger, in: Lackner/Kühl, § 75 Rn. 1. 68 BT-Drs. 18/9525. 69 BT-Drs. 18/9525, S. 60. 70 BT-Drs. 18/9525, S. 65 f. 71 Dazu BT-Drs. 18/9525, S. 66 ff. 66 67
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teinziehung von Taterträgen“).72 Voraussetzung hierfür ist, dass ein Täter oder Teilnehmer an einer rechtswidrigen Tat dabei für das Unternehmen gehandelt hat und diesem dadurch ein vermögenswertes „etwas“ zugeflossen ist.73 Soweit der Verfall seit Einführung des Bruttoprinzips 1992 in der Literatur als strafähnliche Sanktion gilt, wird § 73 Abs. 3 StGB teilweise im Schrifttum teleologisch reduziert,74 so dass ein über den dem Unternehmen zugeflossenen Nettogewinn hinausgehender Verfall des gesamten Bruttogewinns nur bei einer „schuldhaften Verstrickung des Verfallsadressaten in die Anknüpfungstat“ angeordnet werden darf;75 weil dem Unternehmen selbst kein schuldhaftes Verhalten vorgeworfen werden kann, soll ihm nur das Verschulden verantwortlicher Personen i.S. von § 75 StGB und § 30 Abs. 1 OWiG zuzurechnen sein,76 so dass etwa bei (Umwelt-)Straftaten von Personen unterhalb dieser Ebene das Unternehmen nur den Nettogewinn abgeben müsste. Die Rechtsprechung unterscheidet dagegen – angesichts ihrer Absage an die Strafähnlichkeit des Verfalls konsequent – nicht zwischen leitenden und anderen im Unternehmensinteresse tätig gewordenen Mitarbeitern, sondern fasst beide unter dem Gesichtspunkt der Unmittelbarkeit der Vermögenserlangung durch das Unternehmen als „Vertretungsfälle“ zusammen,77 die regelmäßig eine Verfallsanordnung gegenüber dem drittbegünstigten Unternehmen begründen können;78 ein Verfall beim Drittbegünstigten ist danach sogar möglich, wenn der Täter ohne dessen Wissen gehandelt hat.79
3. Die Einziehung bei einem Unternehmen (§ 74 i.V.m. § 75 StGB) Hat ein Organ oder sonstiger leitender Angehöriger eines Unternehmens eine Straftat begangen, die eigentlich zur Einziehung eines Tatwerkzeugs oder Tatprodukts führen würde, wird – soweit sich dieser Gegenstand im Eigentum des Unternehmens findet – die Handlung des Repräsentanten mit Blick auf die Möglichkeit einer Einziehung „seinem“ Unternehmen zugerechnet, so dass auch gegenüber diesem Unternehmen die Einziehung der bemakelten Gegenstände angeordnet werden kann. Darüber hinaus ist in einigen Fällen eine erweiterte Einziehung möglich, welche zur Folge hat, dass selbst nicht im Eigentum des Täters oder Teilnehmers stehende Tatwerkzeuge oder Tatprodukte eingezogen werden; gegenüber Unternehmen ist dies nach § 75 i.V.m. § 74a StGB möglich, soweit ein Organ oder ein leitender Unterneh Die folgenden Ausführungen knüpfen an an Heger, Die Europäisierung des deutschen Umweltstrafrechts, 2009, S. 104 ff. 73 Vgl. – jeweils zu § 34 AWG – BGHSt 47, 369; BGH, NStZ-RR 2004, 214. 74 Dass Hellmann/Beckemper, Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2010, Rn. 922, diese im Wege einer verfassungskonformen Auslegung von § 73 StGB zu erreichen suchen, wird BVerfGE 110, 1 – erweiterter Verfall nach § 73d StGB [2008], freilich nicht gerecht, denn dieses verneint einen Strafcharakter von §§ 73, 73d StGB und lässt einen erweiterten Verfall von täterfremden Gegenständen zu. 75 So Hellmann/Beckemper, Wirtschaftsstrafrecht, Rn. 922. 76 So Hellmann/Beckemper, Wirtschaftsstrafrecht, Rn. 922. 77 Dazu und zur Abgrenzung zu den „Verschiebungsfällen“ und „Erfüllungsfällen“ BGHSt 45, 235, 245 ff. – Dies soll in § 73b Abs. 1 RegE nunmehr gesetzlich geregelt werden. 78 BGHSt 45, 235, 245 f.; 47, 369, 377. 79 Retemeyer, in: Achenbach/Ransiek/Rönnau (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2015, Kap. XIV Rn. 27. 72
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mensmitarbeiter entweder wenigstens leichtfertig dazu beigetragen hat, dass die Sache oder das Recht Mittel oder Gegenstand der Tat oder ihrer Vorbereitung gewesen ist (§ 74a Nr. 1 StGB) bzw. er für das Unternehmen die Gegenstände in Kenntnis der Umstände, welche die Einziehung bei dem Täter zugelassen hätten, in verwerflicher Weise erworben hat (§ 74a Nr. 2 StGB). Nach § 74 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 StGB können die aus einer vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft begangenen (z.B. Umwelt-)Straftat hervorgebrachten Gegenstände eingezogen werden (z.B. die in einer entgegen § 327 Abs. 2 Nr. 1 StGB betriebenen Räucherei geräucherten Fische).80 § 75 StGB erweitert den Anwendungsbereich auch auf Gegenstände eines Unternehmens, dem die straf bare Handlung seiner Organe oder Vertreter zugerechnet werden. Eingezogen werden können nach § 75 Nr. 1 StGB zunächst Gegenstände im Eigentum einer juristischen Person des öffentlichen wie des Privatrechts sowie – ersatzweise – bei Vereitelung der Einziehbarkeit des fraglichen Gegenstandes unter den Voraussetzungen von § 74c StGB der bei einer solchen befindliche Wertersatz. Damit erfasst sind alle privat- oder öffentlichrechtlich verfassten Unternehmen, die eine selbständige juristische Person darstellen (z.B. AG, GmbH, KGaA, Stiftung, eingetragener Verein). Nach § 75 Nr. 2 StGB kann Adressat der Einziehungsanordnung auch ein nicht rechtsfähiger Verein sein. Bis 2002 wurden darüber hinaus in § 75 Nr. 3 StGB a.F. noch die Personenhandelsgesellschaften (OHG, KG) genannt; mit der Einbeziehung auch anderer rechtsfähiger Personengesellschaften in § 75 Nr. 3 StGB zum 30.8.2002, ist die Einziehung von Gegenständen einer am Rechtsverkehr teilnehmenden Gesellschaft bürgerlichen Rechts (§§ 705 ff. BGB) möglich.81 In der Rechtspraxis kann Adressat einer Einziehungsanordnung damit insbesondere auch eine Arbeitsgemeinschaft mehrerer Bauunternehmen zur Erfüllung eines Großauftrages (ARGE) sein, sofern der einzuziehende Gegenstand der ARGE gehört und für eine Straftat eines Vertreters dieser ARGE gebraucht wird, ohne dass es darauf ankommt, ob der Gegenstand dem Bauunternehmen gehört, das diesen Mitarbeiter in die ARGE entsandt hat. Nach § 74 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 StGB können Gegenstände eingezogen werden, die zur Begehung oder Vorbereitung einer Straftat gebraucht wurden oder bestimmt sind, wie der regelmäßig zu illegalen Mülltransporten eingesetzte Lkw oder der immer wieder bei illegalen Abbrucharbeiten eingesetzte Bagger.82 Für einige Umweltstraftaten ist gemäß § 330c Satz 2 StGB darüber hinaus § 74a StGB anwendbar, so dass auch nicht im Eigentum des Täters stehende Tatmittel wie ein gemieteter Transport-Lkw der Einziehung unterliegen können, wenn dessen Eigentümer gemäß § 74a Nr. 1 StGB wenigstens leichtfertig dazu beigetragen hat, dass die Sache als Mittel einer Umweltstraftat eingesetzt werden sollte. In allen Fällen muss es sich jedoch – anders als für einen Verfall – um eine vorsätzliche Straftat handeln, soweit nicht in § 330c StGB auch fahrlässige Straftaten (hier §§ 326 Abs. 5, 328 Abs. 5, 329 Abs. 3 i.V.m. Abs. 4 StGB) als Grundlage einer Einziehung vorgesehen sind. Franzheim/Pfohl, Umweltstrafrecht, 2. Aufl. 2001, Rn. 628; Kracht, wistra 2000, 326, 327 f. Fischer, § 75 Rn. 2b. – Vgl. Bahnmüller, Strafrechtliche Unternehmensveranwortlichkeit im europäischen Gemeinschafts- und Unionsrecht, 2004, S. 52 f. 82 Franzheim/Pfohl, Umweltstrafrecht, Rn. 651. 80 81
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IV. Strafverfahren gegen Unternehmensangehörige als mittelbare Kriminalisierung des Unternehmens selbst Losgelöst von der Frage möglicher (Kriminal-)Sanktionen gegen das Unternehmen selbst stellt sich in der Praxis für Unternehmen häufig das primäre Problem, dass Straftaten von Mitarbeitern zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung mit „ihrem“ Unternehmen identifiziert werden können.83 In einigen Konstellationen führen Schuldsprüche gegen Unternehmensangehörige auch zu Sanktionen gegenüber dem Unternehmen selbst. So können Straftaten von Mitarbeitern Anlass geben zu prüfen, ob die Unternehmensleitung nicht i.S. von § 130 OWiG ihre Aufsichtspflichten verletzt hat (dazu oben unter II.); darüber hinaus kann vor allem wiederholtes Fehlverhalten von Unternehmensangehörigen von der Gewerbeaufsicht zum Anlass genommen werden, die Zuverlässigkeit des betreffenden Unternehmens zu überprüfen und schlimmstenfalles eine Untersagungsverfügung gestützt auf § 35 GewO zu erlassen. Dazu kommen finanzielle Belastungen des Unternehmens, etwa wenn es – wie häufig – die Verteidigungskosten für Unternehmensangehörige, aber auch für Zeugen etc. übernimmt; die Übernahme auch der Geldstrafe ist für die dafür unternehmensintern verantwortliche Person zwar nicht als Strafvereitelung i.S. von § 258 StGB,84 wohl aber u.U. als Untreue gemäß § 266 StGB straf bar.85 Ein monetärer Nachteil entsteht dem Unternehmen natürlich insoweit, als der fragliche Mitarbeiter wegen einer vorläufigen Festnahme, einer Zeugenaussage oder eines Gerichtstermins dem Unternehmen in bestimmten Zeiträumen nicht zur Verfügung steht. So war die Deutsche Bank AG etwa dazu gezwungen, während des Mannesmann-Prozesses vor dem LG Düsseldorf in Gerichtsnähe für den damals angeklagten Vorstandssprecher Ackermann zusätzliche Büroräume einzurichten, damit dieser wenigstens in den Verhandlungspausen seinen Pflichten als Vorstandsmitglied nachkommen konnte. Geschäftliche Verluste resultieren auch aus der Beschlagnahme von Beweismitteln wie etwa Computern und Akten im Zuge von Strafverfahren gegen Unternehmensmitarbeiter. Aber auch wenn solche finanziellen Nebenfolgen der Strafverfolgung von Unternehmensangehörigen außer Betracht bleiben, führt doch regelmäßig bereits die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens vor allem verbunden mit strafprozessualen Zwangsmaßnahmen (man denke nur an die medial begleitete Festnahme des damaligen Deutsche Post-Chefs Klaus Zumwinkel), spätestens aber ein öffentliches Hauptverfahren gegen diese fast stets dazu, dass auch der Name des Unternehmens bzw. dessen Produkte in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Neben den einzelnen Mitarbeitern sitzt dann auch das Unternehmen mitsamt seinen Produkten gleichsam vor den Augen der Öffentlichkeit auf der Anklagebank. Insbesondere wenn es um die strafrechtliche Verantwortung einzelner Mitarbeiter für in der Öffentlichkeit bekannt gewordene Gesundheitsschäden oder Umweltverschmutzungen geht, die von einem Produkt des Unternehmens ausgegangen sein Die folgenden Ausführungen knüpfen an an Heger, Die Europäisierung des deutschen Umweltstrafrechts, S. 111 ff. 84 BGHSt 37, 226. 85 Kranz, ZJS 2008, 471 ff.; Brockhaus, in: FS Wessing, 2016, S. 253 ff. 83
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könnten, ist nicht nur der Imageschaden für das Unternehmen während des Strafverfahrens erheblich. Zusätzlich besteht spätestens ab der Aufnahme staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen Unsicherheit, ob das möglicherweise inkriminierte Produkt weiter hergestellt werden kann. So konstatierte Hassemer schon Mitte der 1990er Jahre: 86 „Daß diese Unsicherheit auch Belastungen unternehmerischer Entscheidungen und der langfristigen Produktpolitik von Firmen zur Folge hat, versteht sich. Daß die hier analysierten Entwicklungen unmittelbar Konsequenzen haben für die nationale und internationale Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen Unternehmen, liegt gleichfalls auf der Hand.“
Die beschuldigten Mitarbeiter werden in Wirtschafts- und Umweltstrafsachen in der Öffentlichkeit häufig mit „ihrem“ Unternehmen identifiziert; vertreten durch seine Mitarbeiter sitzt – bildlich gesprochen – das Unternehmen selbst auf der Anklagebank, ohne sich allerdings unmittelbar gegen die Vorwürfe verteidigen zu können. Diese nachteilige Publizitätswirkung für die betroffenen Unternehmen zeigt sich exemplarisch bei Strafprozessen wegen strafrechtlicher Produktverantwortung,87 doch lassen sich die Erfahrungen etwa auf Umweltstrafverfahren übertragen. Während bis zur rechtskräftigen Verurteilung aufgrund der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) und danach wegen der erstrebten Resozialisierung (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 StVollzG) die Namen der Straftäter in den Medien zumeist anonymisiert werden,88 wird der Strafprozess häufig mit dem Namen des inkriminierten Produkts oder des Unternehmens identifiziert.89 In der Öffentlichkeit stehen damit auch Firma und Produkte des Unternehmens sowie dessen Marken als Synonyme für die Straftaten der Mitarbeiter. Unter dem Gesichtspunkt einer Sozialkontrolle über sozialschädliche, weil gesundheits- oder umweltgefährdende, Produkte und damit des Verbraucherschutzes mag dies zu begrüßen sein;90 für das betroffene Unternehmen ist der wirtschaftliche Schaden jedoch erheblich. Anders als den angeklagten Mitarbeitern ist es dem Unternehmen unmöglich, sich vor Gericht von dem Schuldvorwurf „reinzuwaschen“. Die Komplexität vieler Vorgänge in Unternehmen kann zwar mangels nachweisbarer individueller Verantwortlichkeit einzelner Angeklagter zu deren Freispruch führen,91 doch bewirkt dies nicht zwingend auch eine „Absolution“ ihres Arbeitgebers in der öffentlichen Meinung. Wenn feststeht, dass innerhalb eines Unternehmens die inkriminierte Handlung von dessen Mitarbeitern begangen wurde, kann der „Rechtsverteidigungskampf “ jedes einzelnen gegen den ihm gegenüber erhobenen individuellen Schuldvorwurf 92 zu einem Freispruch für alle Angeklagten aus Mangel an Beweisen führen, der für das Hassemer, Produktverantwortung im modernen Strafrecht, 2. Aufl. 1995, S. 71. Vgl. Vogel, GA 1990, 241, 254 ff.; Kuhlen, Fragen einer strafrechtlichen Produkthaftung, 1989, S. 23 ff. 88 Vgl. nur v. Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, 1979, S. 110 ff. 89 So der „Contergan“-Prozess vor dem LG Aachen, JZ 1971, 507, der „Mannesmann“-Prozess vor dem LG Düsseldorf, NJW 2004, 3275. 90 Vgl. Vogel, GA 1990, 241 ff. 91 Für solche Konstellationen schlägt Alwart, ZStW 105 (1993), 752, 768 ff., de lege ferenda eine subsidiäre Unternehmenshaftung vor; dagegen Dannecker, in: Wabnitz/Janovski, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 3. Kap. 1 Rn. 153. 92 Vogel, GA 1990, 241, 262. 86 87
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Unternehmen als „Gesamtschuldigen“ in der Öffentlichkeitswirkung aber einen „Pyrrhussieg“ darstellt.
V. Verbandsstrafrecht de lege ferenda? 1. Impulse von außen a) Seitens der Besatzungsmächte nach dem 2. Weltkrieg Die Westalliierten erließen Ende der 1940er Jahre in Deutschland auf dem Gebiet des Wirtschaftsstrafrechts Bestimmungen, die ausdrücklich eine Straf barkeit auch von Personenvereinigungen und juristischen Personen vorgesehen hat.93 Darauf hin wurde auf dem 40. Deutschen Juristentag 1953 in der strafrechtlichen Abteilung diskutiert, ob eine Straf barkeit juristischer Personen sachdienlich sei. Dies wurde nach Referaten von Heinitz, Engisch und Hartung letztlich klar verneint.94 Unternehmen – so Engisch – fehle sowohl die Handlungs- als auch die Schuldfähigkeit in einem strafrechtlichen Sinne, weil sie nur durch Menschen handeln und Schuld i.S. persönlicher Vorwerf barkeit auf sich laden könnten; auch könnten sie eine (Kriminal-)Strafe nicht als persönliches Übel erfahren.95 Trotz der zeitgleichen Akzeptanz einer Unternehmensstraf barkeit durch den BGH entschied sich der Gesetzgeber darauf hin zu einer Abwendung von Kriminalstrafen gegenüber Verbänden. Daran änderte auch nichts, dass das BVerfG im „Bertelsmann Lesering“-Beschluss vom 25.10.1966 ausgeführt hat:96 „Die Bestrafung juristischer Personen ist dem […] deutschen Rechtssystem nicht fremd. […] Die Anwendung strafrechtlicher Grundsätze ist also nicht grundsätzlich ausgeschlossen, wenn das Rechtssubjekt eine juristische Person ist. Die juristische Person ist als solche nicht handlungsfähig. Wird sie für schuldhaftes Handeln im strafrechtlichen Sinne in Anspruch genommen, so kann nur die Schuld der für sie verantwortlich handelnden Personen maßgeblich sein.“
b) Seitens der Europäischen Union Über Jahrzehnte saß die deutsche Strafrechtswissenschaft gewissermaßen „wie das Kaninchen vor der Schlange“ in der Erwartung, dass im Zuge einer Europäisierung des Kriminalstrafrechts über kurz oder lang die Europäische Union gleichsam die Einführung eines echten Unternehmensstrafrechts erzwingen würde. In der Tat hat93 So BGHSt 5, 28, zu Art. 8 Nr. 1 i.V.m. Art. 10a der Berliner DevisenVO v. 15.7.1950, worin „Person“ als Adressat von Devisenstrafnormen definiert wird als „Jede natürliche Person, jede Personenvereinigung oder juristische Person des öffentlichen oder privaten Rechts, jede Regierung einschließlich staatlicher oder kommunaler Verwaltungen, Körperschaften des öffentlichen Rechts und deren Dienststellen oder Organe.“ – Aus dem zeitgenössischen Schrifttum R. Schmitt, Strafrechtliche Maßnahmen gegen Verbände, 1958. 94 Vgl. nur Schünemann. ZIS 2014, 1. 95 Engisch, in: Verhandlungen des 40. DJT, Bd. 2, 1953, S. E7, E23 ff. – Vgl. auch Vogel, in: Kempf/ Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht, 2012, S. 205, 206. 96 BVerfGE 20, 323, 335 f.
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te es solche Anklänge bereits Ende der 1960er im Entwurf einer Gesellschaftsrechts-Richtlinie der EWG gegeben, doch wurde dies nicht Gesetz. 2006 versuchte es die Kommission zwar noch einmal im Entwurf einer Richtlinie zum Gewerblichen Rechtsschutz,97 doch wurde auch hier die Vorgabe eines Unternehmensstrafrechts nicht wirksam. In einigen anderen EU-Rechtsakten sind die Mitgliedstaaten angesichts bestimmter Straftaten zwar gegenüber natürlichen Personen zur Implementierung von Kriminalstrafen verpflichtet, während sie gegenüber juristischen Personen auch effektive, nicht strafrechtliche Sanktionen – wie etwa Bußgelder – vorsehen können. Es ist nicht ohne Ironie, dass damit die aktuelle Diskussion um ein Unternehmens- oder Verbandsstrafrecht in Deutschland gerade nicht auf EU-Impulse auf bauen kann. Zwar hat seit den 1990er Jahren eine Anzahl von EU-Staaten, die früher kein echtes Unternehmensstrafrecht kannten (z.B. Spanien, Österreich), inzwischen ein solches eingeführt, so dass Deutschland mit seiner Zurückhaltung auch im Kreis der strukturell eigentlich mit der deutschen verwandten Strafrechtsordnungen zusehends allein steht; allerdings hat das BVerfG im Lissabon-Urteil vom 30.6. 200998 bekanntlich das Schuldprinzip im Form persönlicher Verantwortlichkeit des Täters als Voraussetzung einer Strafe stark betont, so dass die Einführung von echten Kriminalstrafen gegenüber juristischen Personen sich insbesondere mit dem für das Strafrecht konstitutiven Schuldprinzip auseinandersetzen müsste. Dass EU-seits der deutsche Gesetzgeber doch noch zur Einführung eines Unternehmensstrafrechts genötigt werden könnte, erscheint derzeit faktisch weitgehend ausgeschlossen. Sollte in EU-Vorgaben ein solches noch einmal als zwingend einzuführendes Sanktionsinstrument aufscheinen, hätte es die Bundesregierung jedenfalls in der Hand, mittels des „Notbrems-Mechanismus“ gemäß Art. 83 Abs. 3 AEUV eine derartige Richtlinie unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen zu stoppen.99 Denkbar wäre zwar, dass der EU-Gesetzgeber eine Richtlinie mit Strafvorgaben zum Schutz der finanziellen Interessen der Union gestützt auf Art. 325 AEUV,100 der keine expliziten Veto-Rechte vorsieht, erlässt und darin die Mitgliedstaaten auch zur Einführung eines Verbandsstrafrechts verpflichtet; allerdings müsste man in einem solchen Fall angesichts des gravierenden Eingriffs in die Binnenstruktur der Strafrechtsordnung eines Mitgliedstaates erwägen, die Notbremse aus Art. 82 Abs. 3, 83 Abs. 3 AEUV hier zumindest analog einsetzen zu können.101
Vgl. den geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über strafrechtliche Maßnahmen zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums, KOM(2006) 168 vom 25.4.2006; in Art. 4 des Vorschlags werden auch gegen juristische Personen „Geldstrafen“ vorgegeben. – Einen Überblick über ausländische Regelungen gibt Engelhardt, Ad Legendum 2017, 8 ff. 98 BVerfGE 123, 267. 99 Heger, ZIS 2009, 406, 413 ff. 100 Gegen eine Strafrechtsanweisungskompetenz aus Art. 325 AEUV allerdings Dorra, Strafrechtliche Legislativkompetenzen der Europäischen Union, 2013, S. 267 ff. 101 Dafür Heger, ZIS 2009, 416. 97
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c) Haftung für weltweite Menschenrechtsverletzungen Seit einigen Jahren ist anstelle der Vorgaben der EU bei Befürwortern einer echten Unternehmensstraf barkeit in Deutschland die Überlegung in den Vordergrund getreten, mittels einer solchen könnten gravierende Menschenrechtsverletzungen, die durch international agierende Konzerne bzw. durch deren – formal rechtlich häufig selbständig agierende – Tochterunternehmen oder Repräsentanten „vor Ort“ insbesondere in Ländern der sog. „dritten Welt“ regelmäßig sanktionslos begangen werden,102 in Deutschland besser sanktioniert werden.103 Versuche von Menschenrechtsorganisationen wie dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin, gegen einzelne Manager eines solchen Konzerns ein Strafverfahren nach geltendem deutschem Strafrecht in Gang zu bringen, blieben erfolglos, auch weil die individuelle Zurechnung von Handlungen seitens rechtlich selbständiger Vertragspartner vor allem in Afrika und Teilen Asiens schwer möglich und kaum nachweisbar ist.104 Selbst wenn man das (Fehl-)Verhalten der örtlichen Vertragspartner deren faktischer Konzernmutter in Deutschland zurechnen könnte, wäre es sehr fraglich, ob innerhalb derselben die für Strafverfahren gegen deren leitende Mitarbeiter erforderliche Zurechnung und ein Schuldvorwurf erhoben werden könnte bzw. deutsches Strafrecht überhaupt anzuwenden wäre.
2. Strukturmodelle eines echten Unternehmensstrafrechts In der deutschen Rechtswissenschaft werden – auch in Anlehnung an die Rechtslage in einigen anderen europäischen Staaten, welche in jüngerer Zeit die Straf barkeit juristischer Personen eingeführt haben – zwei Grundmuster unterschieden.105 Entweder knüpft die Straf barkeit auch des Unternehmens akzessorisch an die Straf barkeit einzelner leitender Mitarbeiter an (Zurechnungsmodell) oder es wird auf eine originäre Unternehmensverantwortlichkeit abgestellt, bei der zwar auch Fehlleistungen einzelner Personen innerhalb der Unternehmenssphäre als Anknüpfungspunkt der Straf haftung dienen, eine individuelle Straf barkeit dafür aber gerade nicht ge geben sein muss.106 Während § 30 OWiG dem Zurechnungsmodell folgt, geht der nachfolgend zu besprechende NRW-Entwurf davon ab und möchte die Verbandsstrafe nicht an ein straf bares Verhalten eines unternehmensinternen Entscheidungs102 Vgl. dazu nur Kaleck/Saage-Maaß, Unternehmen vor Gericht. Globale Kämpfe für Menschenrechte, 2016. 103 Vgl. dazu Kaleck/Saage-Maaß, Corporate Accountability for Human Rights Violations Amounting to International Crimes, JICJ 2010, 669 ff.; Kaleck, in: Jeßberger/Kaleck/Singelnstein (Hrsg.), Wirtschaftsvölkerstrafrecht, 2015, S. 83 ff. – De lege ferenda denkbar wäre auch eine „völkerstrafrechtliche Lösung“ in Form einer Ergänzung des IStGH-Statuts (vgl. dazu grundlegend Adam, Die Straf barkeit juristischer Personen im Völkerstrafrecht, 2015; Schmidt, Crimes of Business in International Law, 2015). 104 Vgl. die Schilderung des Falles „Danzer“ durch den ECCHR unter https://www.ecchr.eu/de/ unsere-themen/wirtschaft-und-menschenrechte/danzer.html. 105 Allgemein zu diesen Mustern Volk, in: Kempf/Lüderssen/Volk, Unternehmensstrafrecht, S. 254 ff.; Laue, Jura 2010, 339, 345 f.; Dust, Ad Legendum 2017, 16 ff. 106 Vogel, in: Kempf/Lüderssen/Volk, Unternehmensstrafrecht, S. 203, 210.
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trägers anknüpfen.107 Denkbar ist schließlich auch die Statuierung einer Rangfolge, dass entweder – wie in der Schweiz vgl. (Art. 102 Abs. 1 schweiz. StGB) – ein Unternehmen nur subsidiär bestraft werden soll, wenn Individualpersonen nicht belangt werden können, oder umgekehrt eine vorrangige Verbandshaftung gegenüber natürlichen Personen besteht.108 Gute Gründe sprechen allerdings für eine Kumulation der Kriminalsanktionen gegen den individuell Verantwortlichen und „sein“ Unternehmen, wie es international üblich109 und heute bereits im Bußgeldrecht, aber auch im Verhältnis von Verbandsgeldbuße zu Kriminalstrafe sowie von EU-Kartellbußgeldern und Kriminalstrafen aufgrund von §§ 263, 298 StGB der Fall ist; davon geht auch der NRW-Entwurf aus.
3. Der nordrhein-westfälische Entwurf eines Verbandsstrafgesetzbuches als Motor eines Unternehmensstrafrechts a) Geschichte Im Jahr 2013 hat die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen110 einen Entwurf für ein sog. Verbandsstrafgesetzbuch (VerbStrG) vorgelegt und als Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden in den Bundesrat eingebracht.111 Wenig später einigte sich die Große Koalition darauf, folgende Passage in den Koalitionsvertrag aufzunehmen: „Mit Blick auf straf bares Verhalten im Unternehmensbereich bauen wir das Ordnungswidrigkeitenrecht aus. Wir brauchen konkrete und nachvollziehbare Zumessungsregeln für Unternehmensbußen. Wir prüfen ein Unternehmensstrafrecht für multinationale Konzerne. Das Recht der Vermögensabschöpfung werden wir vereinfachen, die vorläufige Sicherstellung von Vermögenswerten erleichtern und eine nachträgliche Vermögensabschöpfung ermöglichen. Wir regeln, dass bei Vermögen unklarer Herkunft verfassungskonform eine Beweislastumkehr gilt, so dass der legale Erwerb der Vermögenswerte nachgewiesen werden muss.“112
Während – wie ausgeführt – die Vermögensabschöpfung tatsächlich unmittelbar vor der Reform steht, hat das BMJV bislang darauf verzichtet, Vorschläge für eine Reform des Ordnungswidrigkeitenrechts zu unterbreiten; die vorgesehene Prüfung eines Unternehmensstrafrechts kam ebenfalls noch zu keinem sichtbaren Ergebnis. Angesichts des absehbaren Endes der Legislaturperiode und einer Vielzahl anderer noch nicht abgeschlossener, aber bereits in den Gesetzgebungsprozess eingeführter Reformvorschläge aus der Feder des BMJV sowie auch aufgrund von Auskünften Begründung, S. 43 f. Vogel, in: Kempf/Lüderssen/Volk, Unternehmensstrafrecht, S. 213. 109 Vogel, in: Kempf/Lüderssen/Volk, Unternehmensstrafrecht, S. 213 f. 110 Zur Motivation Kutschaty, ZRP 2013, 74 ff.; zur Konzeption Krems, ZIS 2015, 5 ff. 111 https://www.justiz.nrw.de/JM/leitung/jumiko/beschluesse/2013/herbstkonferenz13/zw3/ TOP_II_5_Gesetzentwurf.pdf. 112 http://www.focus.de/politik/deutschland/bundestagswahl-2013/der-koalitionsvertrag-imwortlaut-5-1-moderner-staat-innere-sicherheit-und-buergerrechte-freiheit-und-sicherheit_id_ 3435862.html. 107
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dortiger Mitarbeiter erscheint es derzeit nahezu ausgeschlossen, dass noch bis Herbst 2017 tatsächlich ein Unternehmens- oder Verbandsstrafrecht verabschiedet werden sollte. Immerhin haben der Entwurf eines solchen aus NRW und die Ankündigung einer Prüfung durch die Bundesregierung sowie die vor allem an den NRW-Entwurf anknüpfenden inhaltlichen Stellungnahmen aus der Rechtswissenschaft dazu geführt, dass das Thema „echtes Unternehmensstrafrecht“ auf der Agenda zahlreicher fachlicher Veranstaltungen gelandet ist. Nachdem sich eine kurzfristige Einigung auf diesem Gebiet nicht abgezeichnet hat und auch prinzipiell-verfassungsrechtliche Bedenken angeklungen sind, scheint nunmehr wieder eine gewisse Ruhe in der strafrechtlichen Diskussion eingekehrt zu sein. Weil aber der NRW-Entwurf bis heute nicht offiziell zurückgezogen worden ist und der Prüfauftrag an das BMJV nicht etwa mit einem negativen Ergebnis abgeschlossen werden konnte, mag man in Anknüpfung an die gängige Theaterdiktion derzeit ein dreiviertel Jahr vor Ende der 18. Legislaturperiode konstatieren können: Der Vorhang zu und alle Fragen offen. Angesichts der erwähnten Verknüpfung der Diskussion um ein Verbandsstrafrecht mit dem globalen Menschenrechtsschutz erscheint es im Lichte denkbarer „Farbspiele“ für die nächste Bundesregierung, an der mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Partei aus dem rot-grünen Spektrum beteiligt sein dürfte, m.E. sehr nahe liegend, dass zumindest der unerledigt gebliebene Prüfauftrag auch dem kommenden Bundes justizminister ins Stammbuch geschrieben wird. Daher sollte die nächste Zeit genutzt werden, vor dem Hintergrund des NRW-Entwurfs sowohl über die prinzipielle verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Verbandsstrafrechts als auch über dessen denkbare inhaltliche Ausgestaltung zu diskutieren. Die wesentlichen Kritikpunkte liegen nämlich bereits auf dem Tisch. Bevor darauf etwas näher eingegangen wird, sollen die Eckpunkte des NRW-Entwurfs vorgestellt werden.
b) Der Inhalt des VerbStrG-Entwurfs Kernstück des Entwurfs eines Verbandsstrafgesetzes (VerbStrG) ist dessen § 2, der unter der Überschrift „Verbandsstraftaten“ folgendes vorsieht: (1) Ist durch einen Entscheidungsträger in Wahrnehmung der Angelegenheiten eines Verbandes vorsätzlich oder fahrlässig eine verbandsbezogene Zuwiderhandlung begangen worden, so wird gegen den Verband eine Verbandssanktion verhängt. (2) Ist in Wahrnehmung der Angelegenheiten eines Verbandes eine verbandsbezogene Zuwiderhandlung begangen worden, so wird gegen den Verband eine Verbandssanktion verhängt, wenn durch einen Entscheidungsträger dieses Verbandes vorsätzlich oder fahrlässig zumutbare Aufsichtsmaßnahmen, insbesondere technischer, organisatorischer oder personeller Art, unterlassen worden sind, durch die die Zuwiderhandlung verhindert oder wesentlich erschwert worden wäre. (3) Ist im Falle des Absatz 2 die Zuwiderhandlung im Ausland begangen worden, so wir eine Verbandssanktion nur verhängt, wenn sie auf einen Verband bezogen ist, der seinen Sitz im Anwendungsbereich dieses Gesetzes ah. Die §§ 3 bis 7 des Strafgesetzbuches bleiben unberührt. (4) Die Verbandssanktion wird gegen den Rechtsnachfolger verhängt, wenn diesem im Zeitpunkt des Rechtsübergangs die Zuwiderhandlung ganz oder zum Teil bekannt oder aus
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Leichtfertigkeit nicht bekannt war. Gegen den Rechtsvorgänger verhängte Sanktionen wirken auch gegen den Rechtsnachfolger.“
Mit Begriffen wie „(Verbands-)Strafen“ und „(Verbands-)Straftaten“ orientiert sich der NRW-Entwurf – angesichts konstatierter „struktureller Mängel des Verbandssanktionsrechts de lege lata“113 – bewusst am Kriminalstrafrecht,114 so dass das bisher noch einschlägige (Verbands-)Bußgeldrecht verlassen wird. Gleichwohl orientiert sich das VerbStrG vielfach an den entsprechenden Strukturen und Begrifflichkeiten des OWiG; so bildet etwa § 2 Abs. 2 VerbStrG den Bußgeldtatbestand des § 130 OWiG ab. In § 1 sind Legaldefinitionen vorgesehen, welche sich inhaltlich an § 30 OWiG orientieren; so werden die Termini „Verbände“ und „Entscheidungsträger“ in Anknüpfung an die beide Aspekte derzeit vermengende Regelung des § 30 Abs. 1 OWiG definiert, wobei am Gleichlauf privat- und öffentlichrechtlicher Verbände festgehalten wird. Verbände sind danach juristische Personen, nicht rechtsfähige Vereine und rechtsfähige Personenvereinigungen des privaten und öffentlichen Rechts (§ 1 Abs. 1 VerbStrG), während der Kreis der Entscheidungsträger neben Organen, Vorständen und vertretungsberechtigen Gesellschaftern weiterhin auch sonstige Leitungspersonen erfassen soll (§ 1 Abs. 3 VerbStrG). Die Regelungen zur Rechtsnachfolge in § 1 Abs. 4 VerbStrG erinnern an diejenigen in § 30 Abs. 2a OWiG. In § 1 Abs. 2 VerbStrG findet sich eine Definition der „Zuwiderhandlungen“ als eine solche „gegen ein Strafgesetz, sowie sie nicht in Ausübung hoheitlicher Befugnisse vorgenommen werden. Zuwiderhandlungen sind verbandsbezogen, wenn durch sie Pflichten verletzt worden sind, die den Verband treffen, oder wenn durch sie der Verband bereichert worden ist oder bereichert werden sollte. Die Regeln des Allgemeinen Teils des StGB sollen nach § 3 VerbStrG grundsätzlich entsprechend anwendbar sein. Das unterstreicht strukturell die Zugehörigkeit des geplanten Verbandsstrafrechts zum Kriminalstrafrecht. In § 4 sind als „Verbandssanktionen“ vorgesehen einerseits „Verbandsstrafen“ (Abs. 1) und andererseits „Verbandsmaßregeln“ (Abs. 2 ). Als Verbandsstrafen vorgesehen sind die Verbandsgeldstrafe (Nr. 1), die Verbandsverwarnung mit Strafvorbehalt (Nr. 2 ) und die öffentliche Bekanntmachung der Verurteilung (Nr. 3 ); Verbandsmaßregeln sollen sein der Ausschluss von Subventionen (Nr. 1) bzw. von der Vergabe öffentlicher Aufträge (Nr. 2 ) sowie die Verbandsauflösung (Nr. 3 ). Diese Verbandssanktionen sind in den folgende §§ 5 – 12 VerbStrG näher ausgestaltet, doch soll hierauf – ebenso wie auf das in §§ 13 ff. VerbStrG vorgesehene „Verfahren gegen Verbände“115 sowie die (Folge-)Änderungen anderer Gesetze – nicht näher eingegangen werden. Es sei nur darauf verwiesen, dass in § 5 VerbStrG ein fakultatives Absehen von Verbandssanktionen vorgesehen ist, wenn der Verband durch ComplianceMaßnahmen vergleichbare Verbandsstraftaten in Zukunft zu vermeiden sucht.116 Begründung, S. 23 ff. Begründung, S. 26 f. 115 Dazu Fischer/Hoven, ZIS 2015, 32 ff. – Generell zum Wandel der Strafverteidigung zu einer Unternehmensverteidigung vgl. Taschke, in: FS Wessing, 2016, S. 123 ff. 116 Zu Compliance als Strafausschließungsgrund de lege lata Kämpfer, in: FS Wessing, 2016, S. 55 ff., und bei Schaffung eines echten Unternehmensstrafrechts Kubiciel, ebd., S. 69 ff. 113 114
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c) Grundstrukturen des Verbandsstrafrechts nach dem VerbStrG Im Unterschied zu § 30 OWiG gehen die Verfasser des Entwurfs von dem Zurechnungsmodell ab und orientiert sich am Modell einer originären Verbandsschuld.117 Weil damit nicht mehr die Zurechnung des straf- oder bußgeldbewehrten Handelns eines Repräsentanten für die Straf haftung des Verbandes maßgeblich sein soll, stellen sich die oben ausgeführten Lücken bei der Verhängung einer Verbandsgeldbuße gemäß § 30 OWiG mit Blick auf Sonderdelikte sowie Unklarheiten hinsichtlich alternativ denkbarer Täterschaft nicht (mehr).118
d) Kritikpunkte Unmittelbar nach der Veröffentlichung war der Entwurf aus NRW teils prinzipieller und scharfer Kritik seitens der deutschen Strafrechtswissenschaft ausgesetzt.119 Dahinter stand einerseits eine generelle Ablehnung eines echten Unternehmensstrafrechts, andererseits aber auch Kritik an den einzelnen vorgeschlagenen Lösungen „en detail“. Die Debatte konnte dabei anknüpfen an die Grundsatzdiskussion im deutschen Schrifttum, ob man sich dem europaweiten Trend zu einem Unternehmensstrafrecht anschließen wolle oder weiter einen deutschen Sonderweg präferiere.120 Weil sich die allgemeine Diskussion mit Vorlage des NRW-Entwurfs weitgehend auf diesen „eingeschossen“ hat und dieser gleichwohl weiterhin als „Blaupause“ für ein Bundesgesetz dienen könnte,121 beschränken sich die weiteren Ausführungen ebenfalls darauf.122
aa) (Verfassungs-)rechtliche Grundsatzkritik Die (verfassungs-)rechtliche Grundsatzkritik an einem Unternehmensstrafrecht hierzulande lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen. Erstens seien Unternehmen aufgrund ihrer Struktur nicht zu einem willensgesteuerten eigenen Verhalten imstande, so dass bereits der strafrechtliche Handlungsbegriff sie nicht erfassen kön Hoven, ZIS 2014, 19, 20. Begründung, S. 43. 119 Besonders massiv seitens von Schünemann, ZIS 2014, 1 ff. 120 Dazu vgl. nur Hirsch, Die Frage der Straffähigkeit von Personenverbänden, 1993; Otto, Die Strafbarkeit von Unternehmen und Verbänden, 1993; Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, 1993; Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz und Unternehmensstrafrecht, 1994; Heine, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, 1995; Ransiek, Unternehmensstrafrecht, 1996; Eidam, Unternehmen und Strafe, 3. Aufl. 2008; v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, 1998; Bosch, Organisationsverschulden im Unternehmen, 2002; Haeusermann, Der Verband als Straftäter und Strafprozesssubjekt, 2003. 121 Nach Odenthal, in: FS Wessing, 2016, S. 19, 30 f., ist das Verdienst des NRW-Entwurfs, „die Debatte um die Einführung einer Unternehmensstrafe um einen konkreten und eingehend begründeten Gesetzesvorschlag bereichert zu haben“; vgl. auch Schmitt-Leonardy, ZIS 2015, 11 ff. und Löffelmann, JR 2014, 185 ff. 122 Vgl. auch Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop (Hrsg.), Das Unternehmensstrafrecht und seine Alternativen, 2016 (dazu Rezension von v. Coelln, KriPoZ 2/2016, 147 ff.). 117
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ne. Zweitens erfordere das (Kriminal-) Strafrecht in Deutschland generell das Vorliegen von Schuld beim Täter im Sinne einer persönlichen Vorwerf barkeit des Fehlverhaltens; auch dies ließe sich in einem natürlichen Sinne nicht von juristischen Personen sagen. Daher laufe – drittens – auch der Gedanke ins Leere, wie etwa im Rahmen von Mittäterschaft im Sinne von § 25 Abs. 2 StGB könne einem Verbund das Verhalten seiner Repräsentanten wie eigenes zugerechnet werden, wie es der Regelung des § 30 OWiG zugrunde liegt; weil nämlich (Kriminal-)Strafrecht Schuld in dem genannten persönlichen Sinne erfordere, könne zwar die Handlung, nicht aber auch die Schuld eines Dritten dem Unternehmen zugerechnet werden. Diese Argumentation gipfelt für ihre Verfechter konsequent im Verdikt der Verfassungswidrigkeit; weil das BVerfG wiederholt – und mit besonderem Nachdruck 2009 im Lissabon-Urteil123 – das Schuldprinzip als das Grundprinzip des deutschen Strafrechts überhaupt angesehen habe, sei ohne persönliche Schuldfähigkeit sowie bei Unzulässigkeit der Zurechnung der persönlichen Vorwerf barkeit gegenüber einem Dritten ein verfassungskonformes Unternehmens- bzw. Verbandsstrafrecht nicht denkbar.124 Der Handlungsbegriff öffnet zwar in der Strafrechtswissenschaft regelmäßig das Tor zur Prüfung eines menschlichen Verhaltens hinsichtlich seiner Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit, Schuldhaftigkeit und damit letztlich seiner Straf barkeit. Könnte also ein Unternehmen im strafrechtlichen Sinne nicht als Subjekt einer Handlung angesehen werde, bliebe der Weg ins echte Unternehmensstrafrecht von vorneherein verschlossen. In der Tat kann eine juristische Person nicht einen natürlichen Willen bilden und diesem gemäß menschliche Handlungen ausführen, so dass es immer nur auf das Verhalten natürlicher Personen für das Unternehmen und mithin um eine Frage der Zurechnung gehen kann. Mit Blick auf strafrechtsrelevanten Handlungen gibt es jedoch immer wieder Konstellationen, bei welchen einem Subjekt das Verhalten eines anderen als eigenes zugerechnet werden kann;125 ein Beispiel ist die Mittäterschaft gemäß § 25 Abs. 2 StGB, bei der die Straf barkeit aller Mittäter auf der wechselseitigen Zurechnung der tatplangemäßen Handlungen der anderen beruht,126 ein anderes die Bestimmung des § 14 StGB über „Handeln für einen anderen“, wobei es vor allem darum geht, bei Sonderdelikten, bei denen die für die Strafbarkeit geforderte besondere Täterqualität – etwa als Arbeitgeber (§ 266a StGB) oder Betreiber einer Anlage (§ 327 StGB) – nicht einem Individuum, sondern einer juristischen Person zukommt, Straflosigkeit mangels Täterqualität dadurch zu vermeiden, dass der für die juristische Person handelnde Vertreter so behandelt wird, als sei er selbst (und nicht „sein“ Unternehmen) der Arbeitgeber etc.127 Das verdeutlicht, dass bereits das geltende Strafrecht Konstellationen kennt, in denen das Handeln einer natürlichen Person für eine juristische Person deren Pflicht in strafrechtlicher Hinsicht erfüllen soll. Davon ausgehend ist der Schritt dazu, dass das Handeln einer natürlichen Person von Rechtswegen als Handeln der juristischen Person angesehen werden kann, nicht allzu weit. Das gilt umso mehr als heutzutage als Handlung im BVerfGE 123, 267. So noch einmal ganz deutlich Schünemann, ZIS 2014, 1 ff. 125 Dazu grundsätzlich L. Eidam, Der Organisationsgedanke im Strafrecht, 2015, S. 311 ff. 126 Vgl. nur Kühl, in: Lackner/Kühl, § 25 Rn. 9 ff. 127 Vgl. nur Kühl, in: Lackner/Kühl, § 14 Rn. 1. 123 124
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strafrechtlichen Sinne ein vom Willen getragenes sozialerhebliches Verhalten angesehen wird; damit sollen zunächst bloße Reflexe ausgeschaltet werden, was aber auch für ein Verbandsstrafrecht gelten muss, denn die Straf haftung eines Verbandes darf nicht allein auf bloßen Zufall gegründet sein. Sozialerheblich kann aber das einem Unternehmen zurechenbare Verhalten seiner Angehörigen sehr wohl sein. Schwerer wiegt daher sicher der Vorhalt, das vorgeschlagene Verbandsstrafrecht, ja ein Unternehmensstrafrecht überhaupt sei in Deutschland mit der Verfassung unvereinbar. Dafür streitet zwar auf den ersten Blick die Judikatur des BVerfG und dabei wiederum vor allem sein „Lissabon“-Urteil von 2009, in dem die Karlsruher Richter das traditionelle Schuldprinzip des aktuellen deutschen Strafrechts gleichsam verabsolutiert haben, als sei es überhaupt die „Mutter aller Schlachten“ im Kriminalrecht.128 Da das Schuldprinzip – anders als etwa in der italienischen Verfassung – nicht ausdrücklich im Grundgesetz verankert ist, wird es aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 GG) und der Menschenwürdegarantie (Art. 1 GG) hergeleitet und damit zugleich über Art. 79 Abs. 3 GG selbst gegen Verfassungsänderungen abgesichert, soweit die Grundsätze dieser Artikel berührt sind. In der Tat würde eine Straf haftung wegen eines Verhaltens, welches einem Mensch persönlich nicht vorgeworfen werden kann, diesen letztlich zum Objekt etwa bloßer Abschreckung degradieren und damit seine Menschenwürde verletzen. Für die Straf haftung juristischer Personen hilft dies aber nichts, denn diesen kommt eine Menschenwürde im Sinne von Art. 1 GG gerade nicht zu.129 Zum gleichen Ergebnis gelangt, wer – wie etwa Sachs – mit Blick auf die Justizgrundrechte der Art. 101 ff. GG dazu gelangt, dass eine Unternehmensstrafe im Lichte der strafrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes gar nicht als Strafe anzusehen sei, so dass etwa das für echte (Kriminal-)Strafen geltende „strenge“ Schuldprinzip nicht anwendbar sei.130 Mich überzeugt diese Argumenta tion nicht, denn die Verfassung gibt zwar äußerste Grenzen für die Kriminalgesetzgebung vor, innerhalb derer dem Gesetzgeber dann aber ein weiter Spielraum zukommt.131 Daher kann er sich auch dann des Strafrechts bedienen, wenn die dazu explizierten Grundgesetzvorgaben nicht passen; Grenzen ergeben sich dann eben nur aus den Grundrechten und sonstigen Verfassungsvorgaben. Mit Vogel ist daher festzuhalten: „In den Grenzen der Grund- und Menschenrechte und des Willkürverbots kann das Recht „selbstherrlich“ bestimmen, wer Zurechnungsendpunkt eines strafrechtlich relevanten Verhaltens“132 sein soll. Rechtsstaatswidrig wäre es sicher, wollte der Strafgesetzgeber bzw. die Strafjustiz an Unternehmen bloße Exempel statuieren frei nach dem Motte, angesichts eines großen Schadensfalles brauche die Öffentlichkeit zur Beruhigung einen „Sündenbock“ in Form eines dafür verantwortlich zu machenden Unternehmens. Deshalb müsste auch ein Strafverfahren gegen ein Unternehmen stets der Suche nach der BVerfGE 123, 267. So die Begründung, S. 29 f. unter Hinweis auf Vogel, StV 2012, 427, 429. 130 Sachs, in: Kempf/Lüderssen/Volk, Unternehmensstrafrecht, S. 195 ff. 131 So gegen die Verbindlichkeit des Rechtsgutskonzepts BVerfGE 120, 224 – Geschwisterinzest [2008]. 132 Vogel, in: Kempf/Lüderssen/Volk, Unternehmensstrafrecht, S. 205, 207, unter Hinweis auf Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 18 Rn. 27. 128 129
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materiellen Wahrheit verpflichtet sein;133 auch müsste die Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) gegenüber juristischen Personen gelten.134 Wenn man aber dem Unternehmen nur solches Fehlverhalten seiner leitenden Mitarbeiter zurechnen will, welches denselben unabhängig von ihrer Täterqualität mindestens in einem natürlichen Sinne als fahrlässig-pflichtwidrig zugerechnet werden könnte, kann keine Rede davon sein, dass hinter dem Vorwurf gegen das Unternehmen eine grundlose Instrumentalisierung liegt. Das gilt auch, wenn sich nur sagen lässt, dass ein Unternehmensmitarbeiter die Handlung pflichtwidrig vorgenommen haben muss, aber offen bleibt, wer es war. Für jeden einzelnen Mitarbeiter würde im eigenen Strafverfahren in dubio pro reo streiten;135 aus Unternehmenssicht stünde jedoch fest, dass die Pflichtwidrigkeit aus seiner Sphäre stammt, so dass das Unternehmen nicht auf Verdacht hin für bloßen Zufall straf bar gemacht würde.
bb) Pragmatische Grundsatzkritik Ebenfalls grundsätzlich, wenngleich auf einer nicht prinzipiellen Ebene angesiedelt kommt eine anderer Argumentation gegen ein Unternehmensstrafrecht daher: Ein solches sei angesichts der vorhandenen Instrumente insbesondere des Bußgeldrechts und der Vermögensabschöpfung nicht erforderlich und damit letztlich nicht erforderlich.136 Angesichts der denkbaren Kriminalsanktionen sowie der zugrunde liegenden Verfahren seien Bußgeldverfahren oder auch zivilrechtliche Sanktionen regelmäßig einem echten Strafverfahren gegen ein Unternehmen vorzuziehen. Die Kriminalisierung unternehmerischen Handelns biete demgegenüber keine echten Vorteile. Damit verbunden ist der Einwand, dass die denkbaren Verbandssanktionen wie vor allem die Geldstrafe inhaltlich identisch mit einer Geldbuße seien, was freilich nur mit Blick auf Art und Höhe der Übelszufügung zutreffend ist, nicht auch mit Blick auf die mit der Verhängung einer Kriminalstrafe notwendig verbundenen sozialethischen Missbilligung des sanktionierten Verhaltens als einer im wahrsten Sinne kriminellen Handlung. In der Tat zutreffend ist die Erwägung, dass echte Kriminalstrafen auch gegenüber einem Unternehmen ein echtes Strafverfahren mit grundsätzlich allen gebotenen rechtstaatlichen Sicherungen voraussetzen. In einem behördlichen Verfahren nach Art des bisherigen Bußgeldverfahrens lassen sich zwar Bußgelder, nicht aber Kriminalstrafen verhängen.
133 Vgl. nur Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 218. 134 Dreier-Schulze-Fielitz, GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 219. 135 Dazu nur Noak, Jura 2004, 539 ff. 136 So etwa Odenthal, in: FS Wessing, 2016, S. 19, 23 f.; Dierlamm, in: FG Feigen, 2014, S. 25; Rübenstahl/Graf, Ad Legendum 2017, 20, 24.
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cc) Kritikpunkte am Entwurf des Verbandsstrafgesetzes Das von NRW vorgeschlagene Verbandsstrafgesetz verfolgt zwar ein eindeutiges Grundziel, die Kriminalisierung auch von juristischen Personen und anderen rechtsfähigen Personenvereinen, doch changiert die Begründung zwischen einem Unternehmensstrafrecht, das wirtschaftlich tätige Unternehmen – etwas klischeebehaftet – angesichts möglicher „Milliardengewinne“ für aus ihnen heraus und in ihrem Interesse begangenes straf bares Fehlverhalten zur Rechenschaft ziehen und ordentlich zur Kasse bitten will. Andererseits soll – auch aus immer wieder angedeuteten Gleichbehandlungserwägungen heraus – letztlich jeder Verband, der unter die Definitionen des § 1 VerbStrG fällt, auch bestraft werden; als einzige Ausnahme hiervon wird hoheitliches Handeln ausgenommen (§ 1 Abs. 2 Satz 1 VerbStrG), weil der Staat sich nicht selbst mittels seines Strafrechts peinigen können solle. Dagegen sollen offenbar alle – d.h. auch die nicht unternehmerisch bzw. wirtschaftlich tätigen – rechtsfähigen und nichtrechtsfähigen Vereine ebenso erfasst werden wie die politischen Parteien.137 Beides erscheint mir nicht unproblematisch. Kleinere Vereine könnten durch die Kriminalstrafen in ihrer Existenz bedroht sein, während bei Großunternehmen (die die in der Begründung betonten Milliardengewinne erwirtschaften) die Strafe höchsten 10 % ihres Umsatzes ausmachen soll. Der NRW-Vorschlag will eigentlich gerade eine Gleichbehandlung großer und kleiner Verbände durch die Übernahme des Tagessatzsystems aus § 40 StGB erreichen, wobei die Tagessatzobergrenze – angesichts der extremen Einkommensunterschiede gut nachvollziehbar – offengelassen werden soll. Im Grundsatz klingt das auch angemessen, doch erscheint die Tagessatzuntergrenze von 100 EUR tendenziell zu hoch. Sind tat- und schuldangemessen (vgl. § 46 StGB) tatsächlich 360 Tagessätze, käme man auf eine Mindeststrafe von 36.000 EUR. Bedenkt man, dass viele Vereine in Deutschland (z.B. Kindergartenträger-, Schul- und Wissenschaftsfördervereine etc.) im Jahr deutlich unter dieser Summe liegende Gesamteinnahmen erzielen und – schon angesichts der Anforderungen an die Gemeinnützigkeit, aber auch angesichts der von ihnen mit ihren Einnahmen zu erfüllenden Aufgaben – zumeist nur mäßige Rücklagen bilden können, wäre mit einer derartigen Verurteilung ihr Ende vorgezeichnet, auch wenn – wenngleich im Interesse des Vereins – z.B. der Vorstand unberechtigt Subventionen beantragt oder verwendet (gemäß § 264 Abs. 4 StGB genügt hierfür sogar Leichtfertigkeit des Handelnden) oder zu Unrecht für den einzigen Mitarbeiter keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt hat (§ 266a StGB). Der bisherige § 30 OWiG enthält erstens eine bloße kann-Regelung; zweitens ist die Verbandsgeldbuße zwar nach oben gedeckelt, doch gibt es keinen Mindeststrafrahmen, so dass in einem solchen Fall nach bisher geltendem Ordnungswidrigkeitenrecht entweder gar keine oder jedenfalls eine weit niedrigere Geldbuße gegen den Verein verhängt werden könnte. Daher sollte man erwägen, auch in einem Verbandsstrafrecht die Untergrenze für Tages sätze von einem Euro aus § 40 Abs. 2 Satz 3 StGB zu übernehmen. Bei Parteien kommt ein politisches Problem hinzu, denn allein die Einleitung eines Verbandsstrafverfahrens stellt sie fraglos an den Pranger der Öffentlichkeit und ist So „aus Gleichbehandlungsgründen“ die Begründung, S. 4 0.
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geeignet, die Wahlchancen nachhaltig zu schmälern. Das Parteienprivileg des Art. 21 GG, das diesen eine gesicherte und gleichberechtigte Position bis zu ihrem Verbot durch das BVerfG garantiert,138 erscheint hier in nicht unerheblichem Maße tangiert.139 Das gilt umso mehr, als die zur Anklage in Verbandsstrafverfahren berufenen Staatsanwaltschaften ihrerseits sogar politischen Weisungen unterworfen sein könnten. Man stelle sich vor, der Justizminister eines Bundeslandes weise kurz vor den Landtagswahlen die Staatsanwaltschaft nicht nur an, gegen einen Parteifunktionär ein Strafverfahren zu beginnen, etwa weil dieser entgegen § 31d Abs. 1 PartG Einnahmen verschleiert140 oder für eine Parteiangestellte nicht ordnungsgemäß Sozialversicherungsbeiträge abgeführt haben, sondern zugleich noch eines gegen dessen Partei, weil diese durch das denkbare – es gilt ja die Unschuldsvermutung – Fehlverhalten ihres Funktionärs begünstigt worden ist. Sollte sich der Gesetzgeber daher in Zukunft zu einem Verbandsstrafverfahren à la NRW-Entwurf durchringen, müsste er m.E. mindestens die politischen Parteien bis zu ihrem Verbot entsprechend der auf Druck des BVerfG141 in den 1960er Jahren in § 129 Abs. 2 Nr. 1 StGB aufgenommenen Regelung für kriminelle Vereinigungen ausdrücklich ausnehmen. Dass generell bei nicht wirtschaftlich agierenden juristischen Personen bzw. nichtrechtsfähigen Vereinen überhaupt ein an deren körperschaftlicher Struktur anknüpfendes Kriminalstrafrecht vorgeschlagen wird, könnte man allerdings auch mit der Erwägung in Frage ziehen, dass es doch eigentlich – das zeigen wiederum die in der Begründung angeführten „Milliardengewinne“, aber auch die Überlegung einer Sanktionierung von global veranlassten Menschenrechtsverletzungen – um die Sanktionierung wirtschaftlicher Unternehmungen, ja gerade auch global agierender Konzerne gehen sollte.142 Der Gesetzgeber muss sich mithin – hält er ein Strafrecht nicht nur gegenüber natürlichen Personen für zulässig und praktikabel – auch fragen, ob er ein Verbands- oder ein Unternehmensstrafrecht präferiert. Ersteres stellt schlicht Vereinigungen natürlichen Personen gleich, letzteres erfasst allein wirtschaftlich tätigen Unternehmen.
VI. Fazit Festzuhalten ist, dass der Gesetzgeber auch in Deutschland nicht von Verfassungswegen gehindert wäre, ein echtes Unternehmensstrafrecht einzuführen. Ob er dabei tatsächlich in einem Verbandsstrafrecht alle juristischen Personen, nicht rechtsfähigen Vereine und rechtsfähigen Personenvereinigungen gleichermaßen erfassen sollte, erscheint mir dagegen zweifelhaft. Ein Verbandsstrafrecht gegenüber nicht verbo Vgl. dazu nur Dreier-Morlok, GG, Art. 21 Rn. 157 f. Das in der Begründung, S. 4 0 bemühte „Gleichbehandlungsgebot“ mit anderen Verbänden greift m.E. gerade nicht durch, weil politische Parteien nicht bloß von Bürgern gegründete Personenvereinigungen sind, sondern eine wesentliche (und angreif bare) Rolle bei der politischen Willensbildung spielen. 140 Dazu ausführlich Saliger, Parteiengesetz und Strafrecht, 2003, S. 605 ff. 141 BVerfGE 17, 155. Dazu auch BGH, NJW 1974, 565. 142 Für eine Beschränkung auf Wirtschaftssubjekte mit Recht auch Frister, in: FS Wessing, 2016, S. 3, 14 f. 138 139
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tenen politischen Parteien wäre nicht nur im politischen Meinungskampf überaus problematisch, sondern könnte auch an Art. 21 GG scheitern. Und für die Masse kleiner Vereine oder privater GbRs, die nicht – wie die oben beispielhaft genannte ARGE mehrerer Bauunternehmen – wirtschaftlich tätig sind (sonst ist der Weg zur OHG ja nicht weit) sollte man genau überlegen, ob hier nicht das Verbandsstrafrecht „mit Kanonen auf Spatzen“ schießen würde; jedenfalls müsste man bei der möglichen Sanktionierung den geringen Einnahmen solcher Vereinigungen besser Rechnung tragen können als nach dem NRW-Entwurf. Dass ein Unternehmensstrafrecht nicht per se verfassungswidrig sein dürfte oder dass andere EU-Staaten inzwischen in Scharen in das Lager der Verbandsstrafenbefürworter „übergelaufen“ sind,143 heißt natürlich umgekehrt nicht, dass man derlei hierzulande wirklich bräuchte. Insbesondere ergibt sich bis heute aus dem Europarecht keinerlei Verpflichtung dazu; und eine solche könnte seit dem Vertrag von Lissabon auch deutscherseits durch die „Notbremse“ regelmäßig vereitelt werden. Festgehalten werden kann daher, dass es ein von außen herangetragenes „in Germania societas delinquere debet“ jetzt und in absehbarer Zeit nicht geben wird. Es ist und bleibt damit allein eine kriminalpolitische Frage für den deutschen Gesetzgeber, ob ihm eine echte Unternehmensstrafe als weitere Sanktion – neben der Verbandsgeldbuße und den Instrumenten der Vermögensabschöpfung – erforderlich erscheint.144 Dabei könnten dann auch Erkenntnisse aus dem Zivil- und Wirtschaftsrecht hinsichtlich der Präventionswirkung einer Unternehmensstrafe gegen kriminelles Verhalten innerhalb von Unternehmen145 einbezogen werden. Die Erfahrungen aus dem EU-Ausland, aber auch der Schweiz könnten dann bei der Ausgestaltung eines solchen Unternehmensstrafrechts fruchtbar gemacht werden; außerdem zeigen sie an, wie ein Unternehmensstrafrecht sehr wohl in einem Rechtsstaat selbst im Lichte eines in der Verfassung explizierten Schuldgrundsatzes – wie etwa in Italien (vgl. Art. 27 ital. Verf.)146 – gedeihen kann. Der Blick auf den NRW-Entwurf zeigt freilich, dass eine umfassende Erfassung aller Verbände sehr weit geht; näher liegt m.E. – sollte man sich in Deutschland auf politischer Ebene zu einem „societas delinquere potest“ durchringen – eine Beschränkung auf ein Unternehmensstrafrecht, das als Täter nur „echte Unternehmen“, nicht aber kleine Vereine und Parteien kennt.
143 Der Begründung, S. 26 zum NRW-Entwurf sind rund 20 europäische Staaten zu entnehmen. – Bärlein/Englerth, in: FS Wessing, 2016, S. 33 ff., erwägen vor diesem Hintergrund die Europäisierung des Unternehmensstrafrechts entsprechend dem EU-Kartellrecht, doch könnte eine solche Entwicklung jedenfalls seitens der Bundesregierung jederzeit gestoppt werden. 144 Dies hat Vogel, in: Kempf/Lüderssen/Volk, Unternehmensstrafrecht, S. 205 ff. m.E. auch mit Blick auf die entsprechende Diskussion in der Schweiz völlig zu Recht ganz deutlich gemacht. 145 Dazu jüngst Wagner, ZGR 2016, 122 ff. 146 Dazu Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, 2009, S. 29, der damals freilich noch aus dem Schuldgrundsatz ein Verbot einer Verbandsstrafe herauslesen konnte. Seit 2011 wird in Italien gegen Verbände eine Verwaltungsstrafe durch Strafgerichte und unter Zugrundelegung der Strafprozessordnung verhängt (vgl. Begründung, S. 26).
Aufsätze und Abhandlungen
Poesie und Verfassung – unter Einbeziehung von Drehbüchern aus Filmen* von
Professor Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle, Universität Bayreuth Inhalt I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 II. Das Drehbuch des französischen Films Section spéciale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 III. Thesen zum Verhältnis von Poesie und Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 1. Bestandsaufnahme aus der Sicht der 80er Jahre in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 2. Die gemeinsame republikanische Verantwortung von Juristen und Literaten im Verfassungsstaat . 254 a) Verfassungsstaat als Kulturstaat, insbesondere im Blick auf Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 b) Minimalerwartungen an Kunst und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 IV. Appendix: Utopie-Thesen einer vergleichenden Verfassungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
I. Vorbemerkung Beim Thema „Poesie und Verfassung“ begeistert schon die freie Auswahl von Texten und Büchern als Grundlage für ein Thema im Zusammenhang von Literatur und Recht. Ich selbst habe mich um den Themenkreis „Literatur und Recht“ schon in meinem Buch „Das Grundgesetz der Literaten. Der Verfassungsstaat im (Zerr-)Spiegel der Schönen Literatur“1 bemüht. Von der „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“2 aus gesehen war dies wohl konsequent. Damals kamen viele Impulse zu „Law and Literature“ aus dem angloamerikanischen Raum. In loser Folge habe ich einige Teilaspekte weiter behandelt: so im Aufsatz „Utopien als Literaturgattung des Verfassungsstaates“3 (auch der Verfassungsstaat eines J. Locke war einst eine konkrete * Schlussvortrag, den der Verf. auf einem von der Universität Montpellier veranstalteten, ihm gewidmeten internationalen Kolloquium (13./14. Mai 2016) gehalten hat. 1 P. Häberle, Das Grundgesetz der Literaten. Der Verfassungsstaat im (Zerr-)Spiegel der Schönen Literatur, 1983. 2 P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982; 2. Aufl. 1998. 3 P. Häberle, Utopien als Literaturgattung des Verfassungsstaates in: P. Selmer (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, 1987, S. 73–84.
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Utopie) – heute denken wir an die provozierende „negative Utopie“ von M. Houellebecq4 –, so in dem Beitrag „Über die Freiheit der Kunst in kulturwissenschaftlicher und rechtsvergleichender Sicht“5, so in der „Conversación“ „Poesía y derecho constitucional“ mit H. Lopez Bofill,6 so in einer Festschrift für einen italienischen Kollegen in St. Gallen über das Thema „Sprachen-Artikel und Sprachenprobleme in westlichen Verfassungsstaaten“.7 Zuletzt arbeitete ich über „Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates“8. Sogar das Büchlein „Nationalflaggen, Bürgerdemokratische Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole“9 sowie „Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat“10 gehören hierher. Diese Themenreihe bildet eine Tetralogie zum Gesamtthema: „Der kooperative Verfassungsstaat aus Kultur und als Kultur – Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre“.11 Schließlich sei – recht unbescheiden – der römische Vortrag über „Musik und Recht“12 genannt; ebenso gehört die alte Bayreuther Antrittsvorlesung über das Thema „Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen“13 in das Kraftfeld unseres Gegenstandes. Denn Präambeln bedienen sich einer Hoch- und Feiertagssprache und ringen zugleich textlich um Bürgernähe – Gleiches gilt für die universale Erklärung von 1789. Präambeln sind eine Fundgrube für die Grundwerte einer Verfassung und für Klassikertexte, für Vergangenheit und Zukunft als Narrativ, und sie stehen der großen französischen Tradition von (oft in Afrika rezipierten) Wahlsprüchen wie „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ nahe. Es ist kein Zufall, dass der schönste Passus der Präambel der neuen Bundesverfassung der Schweiz (1999) von dem Dichter A. Muschg stammt: „[…], dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.“ Einmal mehr zeigt sich, dass Literatur und Literaten Lebensbedingungen jeden Verfassungsstaats sind. In Deutschland loben Juristen und Politiker das Grundgesetz bis heute als „beste Verfassung, die es auf deutschem Boden je gab“. Und doch war vor allem in den 60er und 70er Jahren das Wort von der ungeliebten Republik im Umlauf. Auch wurde immer wieder gefragt, ob das Grundgesetz von 1949 nur das „große Angebot“ geblieben ist. In den folgenden Überlegungen gehe ich von der These von W. Jens aus, der sagt, es gebe keinen einzigen Bereich, und sei er noch so verwissenschaftlicht, der M. Houellebecq, Soumission, 2015. P. Häberle, Die Freiheit der Kunst in kulturwissenschaftlicher und rechtsvergleichender Sicht, in: P. Lerche (Hrsg.), Kunst und Recht im In- und Ausland, 1994, S. 37–87. 6 P. Häberle/H. Lopez Bofill, Poesía y derecho constitucional, in: D. Valadès (Hrsg.), Conversaciones académicas con Peter Häberle, 2006, S. 187–201; neu in Peru ediert. 7 P. Häberle, Sprachen-Artikel und Sprachenprobleme in westlichen Verfassungsstaaten, in: E. Brem u.a. (Hrsg.), Festschrift zum 65. Geburtstag von Mario M. Pedrazzini, 1990, S. 105–128. 8 P. Häberle, Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 2007 (2. Aufl. 2013, spanische Übersetzung 2012); ders., Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 2. Aufl. 2006. 9 P. Häberle, Nationalflaggen, Bürgerdemokratische Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008. 10 P. Häberle, Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat, 2011. 11 P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur: Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre, 2013. 12 P. Häberle, Musik und Recht, JöR 60 (2012). S. 205–224. 13 P. Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: J. Listl (Hrsg.), Demokratie in Anfechtung und Bewährung. Festschrift für Johannes Broermann, 1982, S. 211–249. 4 5
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nicht mit Hilfe der Poesie erhellt werden könnte – erhellt und transzendiert, weil die schöne Literatur der gelehrten Wissenschaft die Fackel voranträgt. Aus meiner Sicht lassen sich literarische Werke als Verfassungstexte im weiteren Sinne verstehen. Denn „Verfassung“ greift über den juristischen Text und seine gelebte Praxis weit hinaus. Sie umfängt kulturelle Prozesse und Inhalte der Produktion und Rezeption in einem politischen Gemeinwesen, zu denen das künstlerische Schaffen in Literatur, Film und Musik, auch der bildenden Kunst sowie Theater und Fernsehen gehört. Literarische Texte und andere „kulturelle Kristallisationen“ können zu Verfassungstexten „im weiteren Sinne“ werden; sie haben – im Rückblick – nicht selten den Auf bau und Ausbau des Verfassungsstaates vorangetrieben. Ich erinnere an Klassikertexte von Lessing zur Toleranz in „Nathan der Weise“, der als Klassikertext ein ewiger Kritikertext für jeden Verfassungsstaat bleibt, von F. Schiller im „Don Carlos“ zur Gedankenfreiheit, heute an Zitate von E. Bloch und B. Brecht zur Menschenwürde und Demokratie. Brecht wagte z.B. die provozierende Frage: „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus, aber wo geht sie hin?“ Ebenso provokativ wie genial ist sein Dictum: „Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ (Ein Schelm, wer heute an die Handhabung der Flüchtlingskrise durch die deutsche Bundeskanzlerin denkt). In der bildenden Kunst sei an „Denkmale“ erinnert, etwa an die Rodin-Statuen „Der Mensch, der in der Natur erwacht“(unter anderem eine Bezugnahme auf J.-J. Rousseau, 1875/1876) und „Die Bürger von Calais“ (1884), oder an Statuen wie die Freiheitsstatue in New York (1886), die ein Geschenk Frankreichs an die USA war, oder an das Horrorgemälde „Guernica“ von P. Picasso, als Erinnerung an die Schrecken des spanischen Bürgerkriegs (1937). Dem deutschen Grafiker, Karikaturisten und Juristen K. Staeck verdanken wir in seinen Metiers viel, vor allem in den frühen 70er Jahren.14
II. Das Drehbuch des französischen Films Section spéciale In einigen Stichworten möchte ich zunächst noch nicht auf Bücher und literarische Werke zugreifen, sondern den Blick erst auf Drehbücher von Filmen lenken. Auch sie sind „Literatur“ und können für das Thema ergiebig sein. Ich bin nicht in der Lage, all die genialen Filme aufzuzählen, die große französische Regisseure uns geschenkt haben. Ich denke nur an „Fahrenheit 451“15 von F. Truffaut, wo Bücher brennen, oder an die vielen Justizfilme wie „Wir sind alle Mörder“16 von A. Cayatte, und „Die Wahrheit“17 von H.-G. Clouzot. Für Deutschland denken wir an den „Hauptmann „Die Reichen müssen noch reicher werden. Politische Plakate“ (1973), „Die Kunst findet nicht im Saale statt. Politische Plakate“ (1976), „Brennpunkt 2. Die Siebziger Jahre, Entwürfe, Joseph Beuys zum 70. Geburtstag“, 1970–1991 (1991), neuestens K. Staeck, „Das Jahr 1966. Kunst für alle“, FAZ vom 2. Januar 2016, S. 6. 15 Fahrenheit 451. R.: François Truffaut. Drehbuch: Jean-Louis Richard, François Truffaut. GB: 1966. 16 Wir sind alle Mörder. R.: André Cayatte. Drehbuch: Charles Spaak, André Cayatte. F, I: 1952. 17 Die Wahrheit. R.: Henri-Georges Clouzot. Drehbuch: Jerome Geromini, Michèle Perrein, Véra Clouzot, Simone Drieu, Henri-Georges Clouzot. F: 1960. 14
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von Köpenick“18 bzw. das gleichnamige Theaterstück von C. Zuckmayer19 und den Roman „Der Vorleser“20 von B. Schlink, einem deutschen Staatsrechtslehrer, für die USA an den Film „Das Urteil von Nürnberg“21 mit Marlene Dietrich, und in diesem Kontext an Hannah Arendt und die Dokumentation „Das radikal Böse“22. Sie alle kennen das Meisterwerk von Charlie Chaplin: „Der große Diktator“23. Das verhältnismäßig junge Kunstmedium Film – als ein solches wurde der Film allgemein erst in den späten sechziger Jahren anerkannt – griff schon frühzeitig Themenbereiche aus dem Umfeld des Rechts und der gesellschaftlichen Relevanz rechtlicher Regeln auf. Doch „benutzte“ eine Vielzahl von Regisseuren und (Drehbuch-) Autoren die Filmkunst in erster Linie als ein „Forum“, um auf soziale Missstände24 und Fragwürdigkeiten des politischen Lebens hinzuweisen. In Werken dieser Art können auch Postulate oder Appelle an Gesellschaft und Staat erblickt werden, Recht und Rechtsregeln unter Berücksichtigung sozialer Gegebenheiten zu schaffen oder zu reformieren und auf diese Weise die beanstandeten Lebensverhältnisse zu verbessern. Filme wie „Wer erschoss Salvatore G.?“25 oder „Kein Rauch ohne Feuer“26 sind Beispiele, in denen Themen des Rechts zumindest indirekt und mittelbar behandelt und Kritik an dem Verwobensein zwischen Politik und Justiz zu Lasten der Gerechtigkeit umgesetzt wurden. Bereits in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre hatte der frühere Jurist (Rechtsanwalt) A. Cayatte eine Justiztrilogie gedreht, die sich intensiv mit Fragen von Schuld und Sühne bei Verbrechen beschäftigte. Bewegend ist das Gastarbeiterschicksal im Film von R. W. Fassbinder „Angst essen Seele auf “27 sowie „Deutschland im Herbst“28. Ein herausragendes Beispiel für die Verarbeitung unmittelbar auf das Recht bezogener Einzelthemen bildet der heftige Kampf gegen die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe, die Regisseure wiederholt mit den Mitteln ihrer Kunst führen.29 Die Zweifelhaftigkeit der Wahrheitssuche durch ein Gericht – als Parabel auf die Zweifelhaftigkeit einer jeden Suche nach Wahrheit – rückte Akira Kurosawa in das 18 Der Hauptmann von Köpenick. R.: Helmut Käutner. Drehbuch: Carl Zuckmayer, Helmut Käutner. D: 1956. 19 C. Zuckmayer, Der Hauptmann von Köpenick, 1931. Viel beachtet waren und sind noch die Werke von F. X. Kroetz, wie „Heimarbeit“ (1971), „Ich bin das Volk: volkstümliche Szenen aus dem neuen Deutschland“ (1994) – ein Rundumschlag gegen den angeblichen Rassismus in allen deutschen Schichten. 20 B. Schlink, Der Vorleser, 1995, später auch verfilmt. 21 Das Urteil von Nürnberg. R.: Stanley Kramer. Drehbuch: Abby Mann. USA: 1961. 22 Das radikal Böse. R.: Stefan Ruzowitzky. D, Ö: 2013. 23 Der große Diktator. R.: Charles Chaplin. Drehbuch: Charles Chaplin. USA: 1940. 24 Z.B. Die Vergessenen. [Los Olividados]. R.: Luis Buñuel. Drehbuch: Luis Buñuel, Luis Alcoriza. Mex: 1950, ist ein „Klassiker“ dieses Genres. 25 Wer erschoss Salvatore G.?. R.: Francesco Rosi. Drehbuch: Suso Cecchi D’Amico, Enzo Provenzale, Francesco Rosi, Franco Solinas. I: 1961. 26 Kein Rauch ohne Feuer. R.: André Cayatte. Drehbuch: André Cayatte, Pierre Dumayet. F: 1973. 27 Angst essen Seele auf. R.: Rainer Werner Fassbinder. Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder. D: 1974. 28 Deutschland im Herbst. R.: Rainer Werner Fassbinder u.a. Drehbuch: Heinrich Böll u.a. D: 1978. 29 Z.B. Ein zum Tode Verurteilter ist geflohen. R.: Robert Bresson. Drehbuch: Robert Bresson, André Devigny. F: 1956 und Tod durch Erhängen. R.: Nagisa Oshima. Drehbuch: Nagisa Oshima u.a. J: 1967.
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Zentrum seines hochberühmt gewordenen Films „Rashomon“30. Gleichwohl stellen sich „Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat“, gibt es hoffnungsvolle Versuche, sie in neuen Verfahren zu finden: die „Wahrheitskommissionen“, zuletzt in Tunesien. All diese Drehbücher böten genug Anlass, Grundsatzfragen der Rechtsphilosophie zu erörtern: etwa die Wahrheitssuche, das Handeln der Justiz als dritte Gewalt und Kriegsverbrechen. Im Folgenden sei nur ein „scénario“ (Drehbuch) herausgegriffen: das des französisch-italienischen Films „Section spéciale“ von Costa-Gavras,31 der in dem so verdienstvollen deutsch-französischen Sender „Arte“ unter dem Titel „Sondertribunal“ am 8. Februar 2016 um 20:15 Uhr ausgestrahlt wurde. Die auf einer wahren Begebenheit gründende Handlung ist folgende: Im August 1941 erschießt ein junger französischer Kommunist einen deutschen Besatzungsoffizier in Paris. Die Regierung von Vichy entscheidet, dass im Voraus sechs Franzosen (Kommunisten und Juden) als Vergeltung zum Tode verurteilt werden sollen. Durch ein Gesetz des Ministerrats unter P. Pétain wird ein Ausnahmegericht installiert. In ihm sitzt auch der Rechtsprofessor J. Barthélemy (1874–1945), Justizminister in Vichy. Dieses Ausnahmegesetz sollte vordatiert rückwirkend in Kraft treten, damit die Hinrichtungen der Selektierten rasch erfolgen könnten. Das Gesetz wurde im „Journal officiel“ veröffentlicht. Barthélemy lehnt sich in der Beratung zunächst auf, folgt jedoch dann den Anordnungen des Marschalls Pétain, der deutsche Repressalien befürchtet. Ich erinnere mich, dass bei der Beratung des Ausnahmegerichts in dem Film bzw. Drehbuch ausdrücklich auf das Verbot der Rückwirkung von Gesetzen (nulla poena sine lege) bzw. auf den großen Montesquieu und seine Gewaltenteilung Bezug genommen wird. Die deutsche Besatzungsmacht sprach von der Hinrichtung von sechs Franzosen, die terroristischer Akte schuldig waren. In Wahrheit lagen nur kleinere Delikte von zum Teil schon rechtskräftig Verurteilten vor. Die Hinrichtungen fanden statt, ohne dass später jemand zur Verantwortung gezogen wurde.32 Dieser Film gehört zum Eindrucksvollsten und Erschreckendsten, was der Verfasser im Fernsehen in mehr als 40 Jahren gesehen hat.
III. Thesen zum Verhältnis von Poesie und Verfassung 1. Bestandsaufnahme aus der Sicht der 80er Jahre in Deutschland Nur stichwortartig sei an die Bestandsaufnahme erinnert, die mein Büchlein über das Grundgesetz der Literaten33 aufgelistet hatte. Viele deutsche Schriftsteller litten seit 1949 unter der Spaltung Deutschlands. Besonders kritisiert wurde aber auch die angeblich große Differenz zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit im Westen unseres Landes. Auch die Wirklichkeit der Demokratie und des Rechtsstaats wurde Rashomon. R.: Akira Kurosawa. Drehbuch: Shinobu Hashimoto, Akira Kurosawa. J: 1950. Section spéciale. R.: Costa-Gavras. Drehbuch: Costa-Gavras, Jorge Semprún, Hervé Villeré. F: 1975. 32 Einzelheiten in: https://fr.wikipedia.org/wiki/Section_sp%C3 %A9ciale_%28film%29, zuletzt aufgerufen am 10.2.2016. 33 P. Häberle (Fn. 1). 30 31
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im geltenden „System“ von den Literaten immer wieder kritisiert 34, bald als eine Art „negative Verfassungspraxis“ unter Hinweis auf den Verfassungsschutz35, bald im Blick auf den sogenannten „Radikalenerlass“, der Bewerber des öffentlichen Dienstes betraf. Gesprochen wurde doch tatsächlich von der Bundesrepublik als „CDU-Staat“ (ein Kampf begriff ) und von ihrem angeblichen Weg zum autoritären Staat. Oft wurde das Strafrecht insgesamt kritisiert oder einzelne Normen und Gerichtsentscheidungen („Justizmethoden“, Stichwort war der sog. Todesschuss gegen Terroristen). Über die Notstandsverfassung (1968) erregten sich die Schriftsteller besonders. Viele Äußerungen richten sich gegen die Juristen schlechthin; oftmals gegen Justiz und Polizei (Klassiker der Justiz- und Juristenkritik war in der Weimarer Republik K. Tucholsky). Die Meinungsfreiheit galt nach Auffassung der Kritiker als nicht umfassend verwirklicht („Enteignet Springer!“). Auch die bestehenden Eigentums- und Besitzverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland fanden viel Kritik. Ungeteilte Zustimmung zur Wirklichkeit der grundgesetzlichen Verfassung gab es von namhaften Autoren selten. Zuweilen wurden jedoch die Realitäten der DDR, vor allem von Ausgebürgerten wie W. Biermann (auch R. Kunze oder Sarah Kirsch) kritisch beim Namen genannt. Direktzitate von G. Grass und R. Hochhuth sind im Rückblick oft erstaunlich.36 Besonders im Rückblick aus dem heute glücklich wiedervereinigten Deutschland überrascht die damalige scharfe Kritik bei vielen Autoren. Ich wage schon hier eine Überlegung zu Deutschland und Frankreich im Vergleich. Die sehr deutsche Neigung zur Übertreibung, zu extremen Positionen (so bereits Lessings Freund und Verleger Friedrich Nicolai) bzw. zum Rückzug auf die Innerlichkeit dürfte ein Grund sein, warum viele Literaten damals mit dem GG als Verfassung des Maßes und der Mäßigung der Freiheit als Normalität zu wenig anzufangen wussten. Zu Recht wird indes für Deutschland das Fehlen einer „politischen Kultur der schreibenden Zunft“ konstatiert, im Gegensatz zu Frankreich und seinem „kulturellen Nationalismus“. Die Marseillaise der Franzosen ist ein literarischer und musikalischer Text, der immer neu am Grundkonsens arbeitet und ein Stück der französischen Republik und Identität ausmacht. Frankreich kann hier bis an die Schwelle unserer Tage positiven Anschauungsunterricht vermitteln. Bei aller Kritik an politischen Zuständen und Vorgängen im Einzelnen: von V. Hugo bis J.-P. Sartre hat hier „Literatur“ einen die Republik mitbegründenden Stellenwert. Das kam nicht zuletzt in dem berühmten Satz von de Gaulle über Sartre zum Ausdruck: „Einen Voltaire verhaftet man nicht“. Eine derartige „Verfassungs(sub)kultur“ kann gewiss nicht von heute auf morgen begründet werden, sie lässt sich auch nicht einfach „kopieren“. In Frankreich war und ist Literatur nun einmal kontinuierlich „politischer“ als in Deutschland. Dennoch zeigt sich die Zusammengehörigkeit von Verfassungsstaat und Literatur: Sie muss wachsen können. Erwähnt sei auch, dass in Frankreich große Staatsmänner oft und spätestens in ihren Memoiren zu Schriftstellern von Rang wurden. Das gilt wohl für Ch. de
Zitat R. Hochhuth: „Es ist ein Märchen, die Bundesrepublik sei ein Rechtsstaat“, 1971; von ihm das umstrittene Schauspiel „Der Stellvertreter“ (1962). 35 Zitat E. Fried: „Der Verfassungsschutz begräbt die Demokratie“. 36 Nachgewiesen im obigen Band. 34
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Gaulle und F. Mitterrand, etwas weniger wohl für K. Adenauer. Wie verhält es sich mit der französischen Elite im Frankreich von heute? Aktuell wäre es reizvoll, in unseren Jahren für Deutschland die Aussagen von Literaten über das Heute widerzuspiegeln. Eine solche Bestandsaufnahme kann hier nicht geleistet werden. Stichworte müssen genügen. Man denke an die Wirtschaftskrise (das Bankensystem), die Eurokrise im Blick auf Griechenland und derzeit die Flüchtlingskrise, in der die spätere „Schöne Literatur“ wohl mindestens den humanitären Impetus der deutschen Bundeskanzlerin rühmen wird, so etwa die Schriftstellerin R. Klüger im deutschen Bundestag am 26. Januar 2016. Man denke auch an den soeben preisgekrönten Film von G. Rosi, „Fuocoammare – Seefeuer“37. Vielleicht gibt es aber in unserem Jahrzehnt weniger Wortmeldungen der „Schönen Literatur“ als zur stark politisierten Zeit der 68er. Nur eine wortgewaltige Stimme sei zitiert: G. Grass, Europas Schande: „Dem Chaos nah, weil dem Markt nicht gerecht, bist fern Du dem Land, das die Wiege Dir lieh. Was mit der Seele gesucht, gefunden Dir galt, wird abgetan nun, unter Schrottwert taxiert. Als Schuldner nackt an den Pranger gestellt, leidet ein Land, dem Dank zu schulden Dir Redensart war. Zur Armut verurteiltes Land, dessen Reichtum gepflegt Museen schmückt: von Dir gehütete Beute. Die mit der Waffen Gewalt das inselgesegnete Land heimgesucht, trugen zur Uniform Hölderlin im Tornister. Kaum noch geduldetes Land, dessen Obristen von Dir einst als Bündnispartner geduldet wurden. Rechtloses Land, dem der Rechthaber Macht den Gürtel enger und enger schnallt. Dir trotzend trägt Antigone Schwarz und landesweit kleidet Trauer das Volk, dessen Gast Du gewesen. Außer Landes jedoch hat dem Krösus verwandtes Gefolge alles, was gülden glänzt gehortet in Deinen Tresoren. Sauf endlich, sauf! schreien der Kommissare Claqueure, doch zornig gibt Sokrates Dir den Becher randvoll zurück. Verfluchen im Chor, was eigen Dir ist, werden die Götter, deren Olymp zu enteignen Dein Wille verlangt. Geistlos verkümmern wirst Du ohne das Land, dessen Geist Dich, Europa, erdachte.“38
Welch’ ein kraftvoller Text desselben G. Grass, des Literaturnobelpreisträgers (1999), der die rasche deutsche Wiedervereinigung 1990 kritisierte und die DDR leider einmal als „kommode Diktatur“ bezeichnete. In der Geschichte des deutschsprachigen Verfassungsstaates gibt es große Beispiele poetischer oder dramatischer Erfassung der Verfassung eines Volkes. So heißt es bei G. Büchner 39: „Die Staatsform muss ein durchsichtiges Gewand sein, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt. Jedes Schwellen der Adern, jedes Spannen der Muskeln, jedes Zucken der Sehnen muss sich darin abdrücken.“ Seefeuer. [Fuocoammare]. R.: Gianfranco Rosi. Drehbuch: Gianfranco Rosi. I: 2016. G. Grass, Europas Schande, 2012. 39 G. Büchner, Dantons Tod, 1835, 1. Akt, 1. Szene. 37
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Ein Klassikertext der Jurisprudenz wie der Dichtung ist aber auch der weniger revolutionär als demokratisch im Bann von 1789 stehende Text Gottfried Kellers von 1864, der für die Schweiz und ihre gewachsene Verfassung das Richtige trifft in dem Satz: „Uns scheinen jene Verfassungen die schönsten zu sein, in welchen ohne Rücksicht auf Stil und Symmetrie ein Concretum, ein errungenes Recht neben dem anderen liegt, wie die harten glänzenden Körner im Granit und welche zugleich die klarste Geschichte ihrer selbst sind.“
Dieses Zitat ist zugleich ein schönes Zeugnis kulturwissenschaftlichen bzw. kulturgeschichtlichen Verfassungsdenkens. Dass es bis heute eher in der Schweiz als in Deutschland rezipiert wurde, ist kein Zufall.
2. Die gemeinsame republikanische Verantwortung von Juristen und Literaten im Verfassungsstaat Sieht man die rechtliche Verfassung, ihre Wissenschaft und die Kunst als „andere“ Ausformung von menschlicher Kultur von vornherein zusammen, erweitert man die „rein juristische“ Betrachtung um die skizzierte kulturwissenschaftliche, so ergibt sich daraus „republikanische Verantwortung“ zur gesamten Hand: optimale Sollforderungen an den Verfassungsstaat, seine Garantien und Leistungen für Kunst und Wissenschaft sowie minimale Erwartungen gegenüber Kunst und Wissenschaft. Beides sei im Folgenden kurz umrissen.
a) Verfassungsstaat als Kulturstaat, insbesondere im Blick auf Literatur So begrenzt rechtliche Instrumente und Einrichtungen in ihrer Wirkung auf Kunst, insbesondere Literatur, immer bleiben werden, so unverzichtbar sind sie: Der Verfassungsstaat muss kulturelle Freiheit negativ ausgrenzen (status negativus von G. Jellinek) und zugleich durch manche Leistungen positiv zu effektivieren suchen. Offenheit der kulturellen Prozesse, ein Höchstmaß an Toleranz gegenüber Künstler und Kunst, etwa im Strafrecht, leistungsstaatliche Momente wie „Staatspreise“, aber auch Information über die Kunst, etwa in Schulen, Ausbau von Kunsthochschulen, andere Formen der Förderung künstlerischen Schaffens, z.B. die Einrichtung von Stadtschreibern, auch – Zeichnern, „ohne Auflage“ – all dies ist vom Verfassungsstaat um seiner selbst willen zu verlangen. In dem Maße, wie er sein Kulturverfassungsrecht im Zeichen eines „offenen Kulturkonzepts“ ausbaut, gewinnt er ein Stück seiner eigenen Zukunft. Sie entscheidet sich weniger durch Juristenarbeit denn durch Hervorbringungen anderer Wissenschaften und der Kunst. Die innergesellschaftliche Vermittlung von Orientierungswerten, die so nur auf dem Boden des Grundgesetzes möglich sind, bleibt jedenfalls eine unverzichtbare Aufgabe. Ein kulturwissenschaftlicher Ansatz im Verfassungsstaatsdenken bewährt sich auch darin, dass er die hier behandelte Fragestellung erkennt und erarbeitet. Die verfassungsstaatlichen Texte, die „Erkenntnisse und Leistungen von Wissenschaft und Kunst allen zugänglich machen“ wollen (so z.B. Art. 24 Verf. Kanton
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Unterwalden/Schweiz, 1968), machen Kunst und Wissenschaft auf längere Sicht zum „geistigen Eigentum“ aller. Diese immer häufiger werdenden Verfassungsaufträge gehören in den Zusammenhang des Postulats „Kultur für alle“ (Hilmar Hoffmann), in unserem Kontext heißt dies: „Literatur für alle.“ Fragt man nach dem Sinn solcher Verfassungstexte, so ist er weniger i.S. einer wie auch immer gearteten „Demokratisierung“ zu suchen – i.S. von „keine Kunstprivilegien!“ –, als vielmehr in grundrechtlichen, anthropologischen Zusammenhängen. Individuelle Freiheit ist kulturell erfüllte Freiheit! Objektivationen von Kunst und Wissenschaft sind aus der Sicht des Schaffenden ein Stück seiner individuellen Sinngebung, sie könne aber darüber hinaus objektiv zu Möglichkeiten der Sinngebung für andere (Bürger) werden: und damit ein Stück Kultur in der Spannung von Produktion und Rezeption. Diese Sicht entspricht einem kulturwissenschaftlichen Ansatz, der den herkömmlich juristischen ergänzen möchte. Individuelle Freiheit „wird“ nicht im luftleeren Raum, sie ist keine „natürliche Freiheit“, sie ist Kulturbegriff. Der Einzelne bedarf zur eigenen Persönlichkeitsentfaltung, zur eigenen Identitätsfindung i.S. der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG kultureller Leistungen vieler Generationen und nicht weniger schöpferischer Persönlichkeiten. Die anthropologische Bedürfnisstruktur richtet sich auf Kultur. Volksschule und Volks- bzw. Erwachsenenbildung waren bzw. sind eine erste Errungenschaft auf dem Weg „verallgemeinerter“ verfassungsstaatlicher Kultur. Der Auftrag, Kultur allen zugänglich zu machen, ist die heute aktuelle Textstufe auf diesem Weg. Der Verfassungsstaat sollte dabei nur „Angebote“ machen. Ob und wie der Einzelne die ihm zugängliche Kunst und Wissenschaft auf- und annimmt, liegt in seiner grundrechtlichen Freiheit. Kulturelle Allgemeinheit und kulturelle Freiheit sind zwei Seiten derselben Sache. Warum diese Forderungen an den Ausbau des Kulturverfassungsrechts auf jedweder Ebene staatlichen Handelns? Weil der Verfassungsstaat auf Kunst und Literatur als eine Hervorbringung der Freiheit, als „kulturelle Kristallisation“ angewiesen ist. Literarische Werke, auch filmische, wirken als „Ferment“, sie sind „Stoff “, aus dem das Recht und die Juristen einer offenen Gesellschaft kurz-, mittel- und langfristig viel Anregung und „Material“ sowie (Orientierungs-) „Werte“ gewinnen können. Die Wachstumsprozesse des Verfassungsstaates sind auf nichtjuristische Literatur angewiesen: auf sog. (meist plakative) „politische, engagierte Literatur“ ebenso wie auf höchst „privat“ erscheinende wie wohl der Großteil der Lyrik. Denn so wie das Private Lebensbedingung einer Verfassung des Pluralismus ist, so wird aus dieser Privatheit Geschaffenes zu einem Moment des Verfassungsstaates. Die ganze Bandbreite von Literatur ist in diesem Sinne positiv zu sehen. Die Innovationskraft der Literatur kann selbst noch in vehementen „Systemkritiken“ durchschlagen: insofern sie aus Stückwerk-Reformen Schubkraft entwickelt. Die Verfassung des Pluralismus muss auch den „Systemkritiker“ (er)tragen können: soweit nicht ihre „Toleranzgrenze“ vor allem der Art. 18 und 21 GG überschritten wird.40 So können von der „linken Szene“, vor allem der 68er, namhaft gemachte Demokratiedefizite Anlass sein, sich der Notwendigkeit der Verstärkung unmittelbarer De40 Vgl. BVerfGE 2, 1 (10 ff.) – SRP-Urteil [1952]; siehe auch das von den Literaten viel kritisierte KPD-Urteil, E 5, 85 [1956].
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mokratie zu erinnern (vorbildlich in Bayern auf kommunaler Ebene die Bürgerbeteiligung), so kann Polemik gegen die sog. „Berufsverbote“ zu der Frage führen, ob die damalige „Regelanfrage“ für Bewerber des öffentlichen Dienstes einer Nutzen-/ Kostenrechnung standhält. Der Stachel, der in der Literaturszene des „anderen linken Teils“ unserer damaligen Republik saß und manchen von uns stach – denken Sie an Bücher wie W. Jens’ „Republikanische Reden“41 oder die „Briefe zur Verteidigung der Republik“42 – gehört ebenso hierher wie G. Grass’ Festhalten an der Einheit Deutschlands als Kulturnation (1979). An die Wende zum sozialliberalen Aufbruch 1969 und die erste Regierungserklärung von W. Brandt sei erinnert. Dieser Auf bruch wurde von vielen Schriftstellern voller Hoffnung mitgetragen. Die deutsche Staatsrechtslehre hat erst Anfang der 80er Jahre die reiche Fülle des Begriffs „Republik“ wiederentdeckt. Gerade die Staatsrechtswissenschaft tut gut daran, die „laienhafte“ Vorformulierung von Reformwünschen und -notwendigkeiten, von neuen Bedürfnissen und Nöten der Menschen, von Hoffnungen und Wünschen in der Kunst ernst zu nehmen und insofern auf Literatur und Literaten zuzugehen: nicht nur an Festtagen und nicht bloß „ornamental“. Fast jedes Klassikerzitat von heute ist einmal ein Kritikerzitat von gestern gewesen: Mancher heutige Kritikersatz kann zu einem Klassikersatz von morgen werden! In Deutschland gab es immer wieder Defizite im Verhältnis zwischen Politikern und Literaten. Man denke an ein berühmt berüchtigtes „Pinscher Zitat“ von L. Erhard. Vielleicht verfolgen die Staatsrechtslehrer die Aussagen der „Schönen Literatur“ zu verfassungsrechtlichen Themen zu wenig. Dieses Defizit ist umso bedauerlicher als auch Staatsrechtslehre ein Stück „Literatur“ sein kann, und wo sie es ist, sich zusätzlich Rezeptionsmöglichkeiten eröffnet. Große Stilisten wie O. Mayer oder G. Jellinek haben darum wohl immer gewusst. In der Zivilrechtslehre gilt entsprechendes für einen F. C. von Savigny zur Goethezeit oder einen für Martin Wolff in der Weimarer Zeit, wohl auch für Ernst Rabel: Ihre juristische Literatur war wissenschaftliche Prosa von Rang und sie begründete auch dadurch auf Teilgebieten die Rechtskultur mit. Für Frankreich darf ich vielleicht den von mir schon in meiner Dissertation über die grundrechtliche Wesensgehaltsgarantie43 rezipierten Maurice Hauriou benennen – so schließt sich ein kleiner Kreis zu Montpellier. Diese Relevanz der Literaten als Nichtjuristen ist Konsequenz des hier vertretenen Konzepts der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“. Auch die Äußerung des Nichtjuristen zu Verfassungsfragen ist ein Beitrag zum „Konzert“ des Ganzen in den Prozessen der „Erfindung“ von Orientierungswerten, wie auch der inhaltlichen Bestimmung der Grundbegriffe des Verfassungsstaates. Verfassung als Teil des Kulturzustandes eines Volkes ist mehr als juristisches Regelwerk. Ob und wie sie auf Dauer „hält“, ist nicht allein Sache der Juristen, nicht nur Sache aller Bürger im Allgemeinen, sondern auch der Künstler und Literaten, jener also, die von Berufs, wenn man will: von „Amts wegen“ mit dem Wort umgehen.
W. Jens, Republikanische Reden, 1979. F. Duve/H. Böll/K. Staeck, Briefe zur Verteidigung der Republik, 1977. 43 P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 1962; 3. Aufl. 1983. 41
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Hinzu kommt: Gerade in Not- und Krisenzeiten, wie sie uns vielleicht noch verstärkt bevorstehen, ist die rechtliche Verfassung nur begrenzt wirksam, wenn sie nicht durch kulturelle Strukturen (auch emotionale Inhalte) abgesichert und „gehalten“ wird. Verantwortungszusammenhänge werden durch das (Verfassungs-)Recht nur zum Teil und sehr fragmentarisch gestiftet. Umso notwendiger sind kulturelle Traditionen, Inhalte und Orientierungswerte als grundierende Elemente. Gerade die bei der Meinungs- und Pressefreiheit oft hervorgehobene kritische Funktion ist ein originäres Kennzeichen auch der Kunstfreiheit (neben der Religions- und Wissenschaftsfreiheit die wichtigste Freiheit): In Goethes Diktum erkannt: „Wer Wissenschaft und Kunst hat, hat Religion; wer diese nicht hat, habe Religion.“ Übertreiben ist ein legitimes Stilmittel und Kunstmittel – man denke an die politische Karikatur, auch das Kabarett. Insofern ist Kunst ein Teil „Spannungsfeld“ (D. Göldner), wie sie den Pluralismus kennzeichnet. (Schöne) Literatur lebt in großen Teilen eben gerade von einer Kritik an den „Verhältnissen“. Da sie am stärksten von Recht und Verfassung „statisch“ gehalten werden, sind diese ihr „natürlicher“ Widerpart. Kritische Literatur ist ein Ferment in den Gärungsprozessen der Gesellschaft bzw. Öffentlichkeit, sie dient auch der Formulierung des Selbstverständnisses eines pluralistisch verfassten Volkes (juristisch relevant ist auch das Selbstverständnis des Künstlers für die Auslegung des Art. 5 Abs. 3 GG). Es dürfte jedenfalls nicht überraschen, wenn einmal ein Dichter den Satz wagen würde: „Der Verfassungsstaat ist zu wichtig, als dass man ihn nur den Juristen überlassen dürfte.“ Sicher tut jedenfalls ein Stück Selbstbescheidung des Juristen und Wissenschaftlers Not. Er kann nur eine Teilaufgabe erfüllen. Anders formuliert: Wir alle sind Hüter der Verfassung. Das hier gesuchte Verhältnis zwischen Literatur und politischem Gemeinwesen ist nicht etwa irgendeine Art von „Staatsdichtung“ bzw. „Staatskunst“ oder „positiver Kunst“. Sie hat dem Staat meist wenig genutzt und dem Autor eher geschadet. Vergil im alten Rom mag eine Ausnahme sein. Zu Recht meint der Russe L. Kopelew in seiner Frankfurter Rede als Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels 1981: „Das wahre geistige Leben in allen Ländern, besonders in denen, die autoritär oder gar totalitär beherrscht werden, entwickelt sich unabhängig von der Staatsmacht. Staatspolitische Traditionen, administrative Routine und ideologische Überlieferungen blieben entweder fremd oder stehen den geistigen, sittlichen Traditionen, den Überlieferungen nationaler Kultur direkt feindlich gegenüber.“
Dieser stark von der Idee der Nationalkultur und Kulturnation her geprägte Passus steht gewiss unter dem Eindruck der totalitären UdSSR (Könnte dieser Satz auch im gegenwärtigen Russland von Putin geschrieben sein?). Aber dieser Satz dürfte bedingt auch für freiheitliche Verfassungen gelten, jedenfalls kann er gegenüber jeder Art „konstantinischer Nähe“ skeptisch machen. Historisch gab es wohl immer Schwierigkeiten, Missverständnisse und Opposition zwischen Literatur und (Verfassungs-)Rechtsordnung. Position war (und ist) Opposition. Heute wendet sich die Opposition naturgemäß stärker gegen die überpersönliche „objektive“ Rechtsordnung, in älteren Zeiten gegen den Herrscher, den Regenten oder eine sonstige Obrigkeit, die ihrerseits die gesellschaftliche Ordnung verkörperten. Ein Grund für das Missverhältnis dürfte auch darin liegen, dass sich
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der Literat eher kritisch mit „negativen Erscheinungen“ befasst, während ein Panegyrikos der geltenden Institutionen und Rechtszustände oft eher langweilig und reizlos wirkt und die Schöpferkraft kaum stimuliert. Gute Literatur ist kaum affirmativ. Sie braucht offenbar Dissens in der Gesellschaft.
b) Minimalerwartungen an Kunst und Literatur So optimal der Verfassungsstaat der Sache Kultur und der sie schaffenden Personen Rechnung tragen soll, so minimal müssen freilich alle „Erwartungen“ des Verfassungsstaates bleiben. Hier gibt es keine „Automatik“ zwischen „input“ und „output“. Hier darf nicht nur nichts erzwungen werden, hier gilt nicht nur das Gebot „Pluralität statt Konformität“, hier muss jene Freiheit bleiben, aus der erst „kritische Sympathie“ zum Verfassungsstaat erwachsen kann. Der Verfassungsstaat will keineswegs seine Literaten als Bürger einfach „eingemeinden“ oder sonst vereinnahmen. Es gehört zu seiner Offenheit, dass er Systemkritiker unterschiedlicher Schärfe „erträgt“. Die ihm dadurch vermittelte Spannung ist keineswegs schlechthin schädlich. Sie kann zu neuen Lösungen anregen und der Entwicklung dienlich sein. Fragwürdig wird das Verhältnis von Literatur und Verfassungsstaat erst dann, wenn mangelnde Informiertheit zu krassen Fehlurteilen führt, wenn sich eine fast durchgehende literarische „Verweigerungsfront“ auf baut. Vieles deutet darauf hin, dass in unserer deutschen Republik nach 1968 die Dinge so lagen. Wir Juristen dürfen die Literatur und Literaten deshalb an ihre Unentbehrlichkeit erinnern, wir haben ihnen Informationen über das Grundgesetz anzubieten und sollen Öffentlichkeitsarbeit für unsere Verfassung zu leisten. Diese Arbeit ist nötig, um den Eindruck B. Brechts zu vermeiden: „Das Recht ist eine Katze im Sack.“ Wir können auch erwarten, dass sich Künstler ihrerseits „objektiv“ informieren und ihre Vorurteile abbauen – all dies wäre schon viel, ja genug. Jedes Mehr könnte aber in „Gängelung“ umschlagen, schon im bloßen Anschein. Es würde die Fremdheit und Kluft zwischen Juristenkunst und Literatur, zwischen Staatrechtslehre und Intellektuellen nur weiter vertiefen. Das Verhältnis des Literaten und Dichters zur politisch-rechtlichen Sphäre wird wohl immer prekär sein; im Rahmen einer offenen Gesellschaft sollte es aber nicht „umstürzend“ und nur von Missverständnissen geprägt sein. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass „Schöne Literatur“ oft auch und gerade im Widerstand am Gegner reift, dass der Literat oft etwas Anarchistisches hat und haben muss, dass er persönlich mitunter ganz im Privaten bleiben will und dass die dichterische Radikalität und Zuspitzung „berufsnotwendig“ sein kann, damit es zu selbstständigen schöpferischen Leistungen kommt. Was mitunter prima facie als „Verweigerungsfront“ aussehen könnte, ist also komplizierter. Kameradschaftliches Schulterklopfen, Anbiederungen oder andere Formen der „Einbindung“ des Literaten von Seiten des „Kulturstaates“, seines Rechts und seiner Politiker, auch der Staatsrechtslehrer, wären fehl am Platz. Das nimmt aber dem vorliegenden Versuch, der „Schönen Literatur“ (auch der Filmkunst) einen verfassungstheoretischen Spiegel vorzuhalten, nicht die grundsätzliche Berechtigung. Vielleicht kann speziell die Staatsrechtswissenschaft sich erinnern, dass sie selbst ein Stück Literatur und der Staatslehrer Autor ist. Das verstärkt zwar die Anforde-
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rungen an die Qualität unserer Texte und an die Sorgfalt, mit der wir Juristen unsere Sprache formulieren, könnte aber ein Vehikel für ein Mehr an Verständnis zwischen Verfassungsstaat und Literatur sein. Es ist bitter notwendig. Unser politisches Gemeinwesen sollte also nicht nur eine „Republik der Gelehrten“ sein, sondern dank der Gelehrtenrepublik auch zu einer Republik der Literaten im doppelten Sinne des Wortes werden können. Letztlich ist unsere Republik freilich allen anvertraut: Verantwortung kommt allen Bürgern zu. Wird sie gesamthänderisch und arbeitsteilig wahrgenommen, kann das Grundgesetz wirklich noch ganz zur besten – gelebten – Verfassung werden, die es je auf deutschem Boden gab!
IV. Appendix: Utopie-Thesen einer vergleichenden Verfassungslehre Die „Utopie-Thesen“ einer vergleichenden Verfassungslehre als juristischer Text- und Kulturwissenschaft lauten: (1) Utopien bilden eine unentbehrliche Literaturgattung und Wissenschafts- bzw. Kunstform zur teils legitimierenden, teils kritischen Selbstvergewisserung. Sie bringen bald Erfahrungen, bald Hoffnungen des Menschen ein: Sie sind anthropologisch begründet. (2) Da die Geschichte lehrt, dass speziell der demokratische Verfassungsstaat zur „kulturellen Errungenschaft“ nicht zuletzt dank Utopien, „Phantasien“, Visionen und „Träumen“ seiner Klassiker geworden ist, muss in der Zukunft Offenheit bestehen für neue oder gewandelte klassische Utopien als „Katalysatoren“ oder „Fermente“. Man denke an Martin Luther Kings „Traum“ der Rassenintegration in den USA, der in vielem bis heute noch nicht Wirklichkeit geworden ist und in Form eines neuen Feiertages 1986 juristisch wie kulturell dort besondere verfassungsstaatliche Gestalt angenommen hat. Insofern zielt die These von einer Erschöpfung utopischer Energien, sollte sie richtig sein, auf ein Krisensymptom, das den demokratischen Verfassungsstaat nicht gleichgültig lassen kann. Jeder Verfassungsstaat braucht ein unverzichtbares „Utopie-Quantum“. (3) Das schließt nicht aus, dass die Verfassungslehre bewusst wertet und zwischen „positiven“ und „negativen Utopien“ (z.B. „geschichtsphilosophischen“ oder „totalitären“) unterscheidet. Das schönste, bislang nur punktuell verwirklichte Beispiel einer „positiven“ Utopie ist bis heute I. Kants philosophischer Entwurf „Zum ewigen Frieden“44, das einer „negativen“ bildet Orwells „1984“45 oder der Film „Fahrenheit 451“46. (4) Die Verfassungslehre sollte zwischen der unentbehrlichen Kritikfunktion von Utopien und ihrer Warnfunktion unterscheiden und die Gefahren klassischer wie neuerer Utopien unerschrocken beim Namen nennen: z.B. den Marxismus/Leninismus oder den Anarchismus, heute geschlossene „Gottesstaaten“ des Islam (Iran, Afghanistan).
I. Kant, Zum ewigen Frieden, 1795. G. Orwell, 1984, 1949. 46 Fahrenheit 451 (vgl. Fn. 15). 44 45
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(5) Diese differenzierte Einordnung von Utopien bedeutet eine Korrektur am Denken Poppers in dem Maße, wie sein „kritischer Rationalismus“ der inhaltlichen Ergänzung um die kulturwissenschaftliche Methode bedarf. Utopien können antizipierend und sehr kreativ „Vermutungswissen“ schaffen, das, im Wege der „Stückwerkreform“ verwirklicht, die Entwicklungsprozesse des Verfassungsstaates bereichert. Selbst Utopien einer „geschlossenen Gesellschaft“ wie die Platons oder des Marxismus vermögen als Gegentypus zum Verfassungsstaatsmodell positive Wirkungen zu zeitigen. Diese differenzierende Einordnung baut aber insofern auf Popper auf, als sie mit ihm an die „Offenheit des Geschichtsverlaufs“ und die Möglichkeit individueller Sinngebung glaubt und sich eben hierin gegen den Marxismus oder deterministische Systeme stellt. Alldem liegt freilich das „gedämpft optimistische Menschenbild“ und der „wissenschaftliche Optimismus“ zugrunde, wie er die Verfassungslehre in Einzelfragen (etwa bei den Erziehungszielen oder beim resozialisierenden Strafrecht) sowie im Ganzen kennzeichnen sollte. (6) Die Verfassungslehre bzw. der Typus „Verfassungsstaat“ hat den Menschen Raum für ein „Utopie-Quantum“ zu geben: dies nicht nur in Gestalt der Ausgrenzung und Förderung kultureller Freiheiten (auch der Religionen!), sondern sogar weit intensiver: indem Verfassungstexte Hoffnungen (z.B. früher auf die Einheit Deutschlands oder – heute – Irlands) normieren, die mindestens konkrete „Utopie-Wünsche“ sind. Das „Prinzip Hoffnung“47, das „Prinzip Verantwortung“48, z.B. im Umweltschutz, stimuliert fruchtbare Verfassungsentwicklungen, weil der Mensch Hoffnung wie das Atmen braucht und das Gemeinwesen von verantworteter Freiheit lebt. So weit Verfassungstexte in ihrer juristischen Dimension grundsätzlich von Utopien entfernt sind und ihrer Eigenart entsprechend entfernt bleiben müssen: in Teilbereichen können sie „noch“ Utopien sein – auch das Sozialstaatsprinzip war zur Zeit von H. Heller49 und dann 1949 unter dem GG zuerst ein Stück Utopie! (7) Kunst und Künstler nehmen nicht selten vorweg, was die politische Wirklichkeit später auf die „Tagesordnung“ setzt: Man denke an den „Krieg der Sterne“ als Film in den 70er Jahren und als verteidigungspolitisches (oder gefährliches?) Konzept weltpolitischen Handelns in den 80er Jahren oder an die tschechische Wahrheitsphilosophie von V. Havel mit Blick auf das Jahr 1989. (8) In dem Maße, wie Verfassungslehre als Wissenschaft insgesamt auf Kunst und Künstler „hören“ sollte, um Sensibilität für neue Probleme zu gewinnen, muss sie der Utopie in ihrem Rahmen einen erklärten hohen Stellenwert verschaffen, freilich auch bestimmte Grenzen ziehen: Sie liegen vor allem dort, wo Gewalt und Unfreiheit zum Mittel erzwungener, „für später“ versprochener Ideal-Zustände werden. Poppers Postulat der „Stückwerkreform“ bleibt verfassungspolitische Maxime. Mit dieser Maßgabe können utopische Texte „Klassikertexte“ sein und zu Verfassungstexten im „weiteren Sinne“ werden. (9) So gesehen sind Utopien ein Stück „kulturellen Erbes“ des Verfassungsstaates als Typus, auch dort, wo sie ihm bis heute vorausgeeilt sind oder wo sie gegen ihn geschrieben wurden: Er gewinnt aus ihnen und zu Teil gegen sie Konturen. Er wird E. Bloch, Werkausgabe, Band 5 : Das Prinzip Hoffnung, 1985. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 1979. 49 H. Heller, Rechtsstaat oder Diktatur?, 1930. 47
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teils von ihnen „provoziert“, teils muss er sich an ihnen bewähren, z.B. im Umgang mit anderen Staaten im Völkerrecht i.S. von Kants „Ewige[m] Frieden“: als „kooperativer Verfassungsstaat“. (10) Utopien dürfen, ja sollten den Menschen „beunruhigen“, dasselbe gilt für den Verfassungsstaat. Sie können ihn aber auch „beruhigen“: weil und insoweit sie von ihm vielfach eingelöst worden sind und ihm die Gedankenfreiheit bestätigen. Man vergegenwärtige sich das einst „utopische“ Menschenwürde-Gebot und seine jahrhundertelange Kulturgeschichte bzw. seine heutige Idealität und Realität im gelingenden Verfassungsstaat.
Der Verfassungsbegriff der Demokratie in Deutschland und in Frankreich Bemerkungen zur Konkretisierung eines offenen Verfassungsbegriffs im europäischen Rechtsraum von
Prof. Dr. Claus Dieter Classen, Universität Greifswald Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 1. Verfassungsrechtliche Verankerung und Ausgestaltung des Demokratieprinzips . . . . . . . . . . . . . 264 2. Die unterschiedliche Bedeutung des Demokratieprinzips in der verfassungsrechtlichen Dogmatik . 266 II. Die Bedeutung der Rechtsbegriffe „Demokratie“ und „Volkssouveränität“ für das politische System . 268 1. Zum politischen System als solchem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 2. Parlamentsvorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 3. Kontrollbefugnisse des Conseil constitutionnel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 III. Zur demokratischen Legitimation von Verwaltung und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 1. Zur Legitimation der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 a) Unabhängige Verwaltungsbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 b) Sonstige Legitimationsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 2. Zur Legitimation von Justiz und Justizverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 IV. Europäische Integration und demokratische Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 V. Abschließende Grundsatzbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 1. Die Rolle offener Begriffe bei der Interpretation anderer Verfassungsnormen . . . . . . . . . . . . . . . 290 2. Zur Konkretisierung offener Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
I. Einleitung Nach Art. 2 EUV gehört zu den grundlegenden Werten der Union auch die Demokratie. Sie ist, so wird dort ausdrücklich betont, ebenso wie die anderen an gleicher Stelle genannten Werte allen Mitgliedstaaten gemeinsam. Die ausführlichen Bezug-
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nahmen des BVerfG im OMT-Vorlagebeschluss auf das Demokratieprinzip1 haben nun eine französische Kollegin, Hélène Gaudin, zur Feststellung veranlasst: „Es erstaunt, wie das Bundesverfassungsgericht es macht, sich im Namen der Verfassungsidentität auf das Demokratieprinzip zu berufen, einen allen Staaten und der Union gemeinsamen Begriff, es sei denn, dass der deutsche Verfassungsrichter eine spezifisch Deutschland eigene Konzeption definieren kann.“2 Damit ist das nachfolgend zu behandelnde Problem bereits angedeutet: Weil der Demokratiebegriff nicht nur im deutschen, sondern eben auch anderswo, nicht zuletzt auch im französischen Verfassungsrecht verankert ist, ist zu fragen, welche Bedeutung diese beiden Begriffe jeweils entfalten, wie sie sich inhaltlich zueinander verhalten. Werden bestimmte Probleme, die im einen Land mit Hinweis auf das Demokratieprinzip gelöst werden, im anderen unter Rückgriff auf andere Normen bewältigt? Nach einigen grundlegenden Bemerkungen soll zunächst das politische System angesprochen werden, und zwar zum einen die Tätigkeit von Parlament und Regierung, zum anderen Fragen des Gesetzesvorbehalts. Sodann geht es um die „unpolitischen“ Teile der Staatsgewalt, Verwaltung und Justiz. Zuletzt sollen Fragen der europäischen Integration erörtert werden. Die Überlegungen enden mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen zum Umgang mit einem so offenen Verfassungsbegriff. Durchgängig zeigt sich nämlich, dass bei ähnlichem inhaltlichem Ausgangpunkt der Demokratiebegriff in Deutschland auch als Rechtsbegriff systematisch entfaltet wird, während er in Frankreich kaum Bedeutung besitzt. Damit verbinden sich zugleich auch unterschiedliche Vorstellungen von der Funktion eines (Verfassungs-)Richters.
1. Verfassungsrechtliche Verankerung und Ausgestaltung des Demokratieprinzips Die Ausgangspunkte sind durchaus ähnlich: Beide Verfassungen definieren den jeweiligen Staat als demokratisch, das Grundgesetz in Art. 20, die französische Verfassung in Art. 1. Auch die inhaltlichen Beschreibungen, die die jeweiligen Texte selbst von diesen Prinzipien geben, ähneln sich. Nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG bedeutet Demokratie, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht – eine Formulierung, die sich in vergleichbarer Form in vielen anderen europäischen Verfassungen findet. Ähnliche Aussagen lassen sich auch der französischen Verfassung entnehmen. Nach Art. 2 Abs. 5 CF (Constitution française = französische Verfassung) lautet der Grundsatz der Republik: „Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk.“ Näher noch an Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG liegt Art. 3 Abs. 1 CF, der in Anlehnung an Art. 3 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 (D 1789) formuliert: „Die BVerfGE 134, 366 Rn. 25 ff., 102 – OMT-Vorlagebeschluss [2014]. H. Gaudin, L’affaire OMT devant son (ses?) juge(s): en attendant Karlsruhe. Plaidoyer pour un dialogue constitutionnel, AJDA 2016, 1050 (1058). Siehe allerdings auch die Frage von M. Loughlin, Großbritannien, in: A. v. Bogdandy/P. Cruz Villalón/P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Band 1, 2007, § 4 Rn. 98, zur Vorgängernorm von Art. 2 EUV (Art. 6 Abs. 1 EUV i.d.F. des Vertrages von Nizza), ob es sich bei ihr nicht um einen Trick handele: „Denn es steht fest, dass diese politischen Grundsätze in der britischen Verfassung auf eine Art und Weise geschützt werden, die uns Anlass zum Zweifeln gibt, ob sie – außer in einer höchst oberflächlichen Hinsicht – tatsächlich allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind.“ 1 2
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nationale Souveränität liegt beim Volke, das sie durch seine Vertreter und auf dem Wege des Volksentscheides ausübt.“ Verfassungstextlich findet das Demokratiegebot im Übrigen in beiden Verfassungen im Kontext der Parteien Erwähnung: Im Grundgesetz in Art. 21 als Vorgabe für deren innere Ordnung sowie im Zusammenhang mit den Verbotsvoraussetzungen nach Absatz 2, in der französischen Verfassung als Vorgabe für die politische Ausrichtung von Parteien in Art. 4 Abs. 1 sowie im Zusammenhang mit der Garantie der freien und pluralistischen Willensbildung „der Nation“ nach Art. 4 Abs. 4 CF; ein Parteiverbot hingegen ist nicht vorgesehen.3 Auch die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Demokratieprinzips ist in seinen Kernelementen ähnlich: In beiden Staaten gibt es ein durch Volkswahl bestimmtes Parlament (Art. 38 GG, Art. 24 CF) und eine Regierung, die diesem Parlament verantwortlich ist (Art. 43 GG, Art. 24 CF) und in letzter Konsequenz von diesem gestürzt werden kann (Art. 67 GG, Art. 49 f. CF). Einen Unterschied gibt es insofern, als in Deutschland der Chef der Regierung vom Parlament gewählt werden muss, während in Frankreich die Ernennung durch den Staatspräsidenten ausreicht. Nun wird letzterer in Frankreich anders als in Deutschland unmittelbar vom Volk gewählt. So gesehen steht einem Verlust an Legitimation im politischen System ein Gewinn an anderer Stelle gegenüber. Zudem spielt das Referendum in Frankreich eine gewisse Rolle, während die Lage in Deutschland komplex ist: Auf Bundesebene ist es bedeutungslos, in den Bundesländern hingegen ist es durchweg vorgesehen und zum Teil, insbesondere in Bayern, auch praktisch bedeutsam. Und schließlich haben die Verfassungsgerichte in beiden Ländern zu Recht entschieden, dass die Funktionsfähigkeit einer Demokratie wesentlich von der freien Meinungsäußerung und damit von freien und pluralistischen Medien abhängt.4 Das BVerfG hat in diesem Kontext außerdem die Bedeutung der Versammlungsfreiheit betont.5 Insoweit gibt es in Frankreich keine Parallele, sieht man einmal davon ab, dass der Vereinigungsfreiheit für die Herausbildung des verfassungsgerichtlichen Grundrechtsschutzes eine fundamentale Bedeutung zukommt.6 Der Vollständigkeit halber sei noch der im Wesentlichen überholte Dekolonisierungsauftrag in Abschnitt 18 der heute noch in Verfassungsrang stehenden Präambel der Verfassung aus dem Jahre 1946 erwähnt. 4 Siehe zur grundlegenden Bedeutung der Meinungsfreiheit in einer Demokratie als solcher BVerfGE 7, 198 (208) – Lüth [1958]; 20, 162 (174) – Spiegel [1966]; 62, 230 (247) – Boykottaufruf [1982]; andererseits Verfassungsrat (CC), 2010-3 QPC vom 28.5.2010, Rn. 6 ; 2011–131 QPC vom 20.5.2011, Rn. 3 ; 2012-647 DC vom 28.2.2012, Rn. 5 ; 2013-311 QPC vom 17.5.2013, Rn. 4 ; zur Souveränität in diesem Kontext 84–181 DC vom 11.10.1984, Rn. 37; zur Pluralität der Massenmedien BVerfGE 12, 259 (205 ff.) – 1. Rundfunkurteil [1961]; 52, 283 (296) – Tendenzschutz [1979] sowie CC, 86–217 DC vom 18.9.1986, Rn. 11 und 67; 93–333 DC vom 21.1.1994, Rn. 3 ; 2000-433 DC vom 27.7.2000, Rn. 9 ; 2001-450 DC vom 11.7.2001, Rn. 15; 2004-497 DC vom 1.7.2004, Rn. 23 f.; 2007-550 DC vom 27.2.2007, Rn. 14; 2009-580 DC vom 10.6.2009, Rn. 12, vgl. auch Rn. 15. In der Entscheidung des CC 89–259 DC vom 26.7.1989 zu Fragen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens wird das Demokratieprinzip nicht erwähnt. Nur die deutsche Judikatur zur Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Fernsehens (zuletzt BVerfGE 136, 9, Rn. 37 ff. – ZDF-Staatsvertrag [2014]) findet in Frankreich keine Entsprechung. 5 BVerfGE 69, 315 (344 ff.) – Brokdorf [1985]; instruktive Analyse der Entscheidung bei A. Doeh ring-Manteuffel/B. Greiner/O. Lepsius, Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, 2015. 6 Die Entscheidung CC, 71–44 DC vom 16.7.1971 war die erste, in der – für viele überraschend – 3
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2. Die unterschiedliche Bedeutung des Demokratieprinzips in der verfassungsrechtlichen Dogmatik Große Unterschiede zeigen sich hingegen zwischen beiden Staaten bei einem Blick darauf, was die Juristen, also Rechtspraxis und Rechtswissenschaft, aus diesem Prinzip gemacht haben. In Deutschland gibt es hierzu eine ausgefeilte, weithin anerkannte, von der Literatur entwickelte und vom Zweiten Senat des BVerfG übernommene Dogmatik. Man unterscheidet institutionelle, funktionelle, sachliche und personelle Legitimation: Jede Stelle, die staatliche Macht ausübt, muss als solche vorgesehen und auf die Erfüllung ihrer Funktion ausgerichtet sein. Vor allem aber muss ihre Tätigkeit inhaltlich durch den Volkswillen gesteuert sein, und zudem müssen die handelnden Personen ihre Bestellung dadurch auf den Volkswillen zurückführen können, dass sie von Personen ernannt wurden, die – letztlich – ihre Legitimation auf das Parlament als einzig unmittelbar vom Volk gewähltem Organ zurückführen können. Insgesamt müssen diese Elemente in sachgerechter Kombination als „Legitimationskette“ ein „hinreichendes Legitimationsniveau“ sicherstellen.7 Daraus werden dann vielfältige, zum Teil auch sehr konkrete Konsequenzen gezogen, sei es für die Interpretation anderer Verfassungsbestimmungen, sei es als eigenständige Ableitungen mit Konsequenzen z.B. für die Organisation von Verwaltung und Justiz, etwa dahingehend, dass dort eine Mitbestimmung von Beschäftigten nur in engen Grenzen zulässig ist.8 Allerdings hat es hier auch, wie am Ende noch darzustellen, Entwicklungen gegeben. Schon grundsätzlich anders ist die Lage in Frankreich. Die Suche nach vergleichbaren Aussagen, die sich zudem nicht auf ein politisches Konzept,9 sondern auf den verfassungsrechtlichen Begriff der Demokratie beziehen, führt weitgehend zu einer Leerstelle.10 Der Verfassungsrat spricht von ihr nur selten, nämlich im Wesentlichen Grundrechte als Maßstab zur Prüfung eines Gesetzes herangezogen wurden. Dazu etwa N. Marsch, in: ders./Y. Vilain/M. Wendel (Hrsg.), Französisches und Deutsches Verfassungsrecht im Vergleich, 2015, § 6 Rn. 16; T. Hochmann, ebd., § 7 Rn. 8. 7 BVerfGE 83, 60 (72) – Ausländerwahlrecht Hamburg [1990]; 93, 37 (66 ff.) – Einigungsstelle Schleswig-Holstein [1995]; 107, 59 (87 ff.) – Wasserverband Lippe [2002]; 130, 76 (124) – Privatisierung Maßregelvollzug [2012]. Aus der Literatur etwa E.-W. Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, 1. Aufl. 1974, 2. unveränderte Aufl. 1998, S. 73 ff.; ders., Demokratie als Verfassungsprinzip, in: P. Kirchhof/J. Isensee (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 2 , 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 14 ff.; M. Je staedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, 1993, S. 285 ff. 8 Zur Verwaltung BVerfGE 93, 37 (70 ff.) – Einigungsstelle Schleswig-Holstein [1995]; siehe auch schon BVerfGE 9, 268 (282 ff.) – Bremer Personalvertretung [1959]. Grundsatzkritik in T. Blanke (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000; zum Teil auch C. D. Classen, Demokratische Legitima tion im offenen Rechtsstaat, 2009, S. 37 ff. 9 So etwa G. Vedel, Manuel élémentaire de droit constitutionnel, 1949 (Nachdruck 2002), der den gesamten ersten Teil seines Werkes zum modernen Staat ganz unter den Demokratiebegriff stellt (S. 14 ff.); M. Hauriou, Précis de droit constitutionnel, 2. Aufl. 1929, S. 139 ff.; R. Carré de Malberg, Contribution à la théorie générale de l’État, 1920, Band 2 , S. 183 f.; aus jüngerer Zeit A.-M. Le Pourhiet, Droit constitutionnel, 6. Aufl. 2014, S. 79 ff.; F. Hamon/M. Troper, Droit constitutionnel, 36. Aufl., 2015, Rn. 76; P. Ardant/B. Mathieu, Droit constitutionnel et institutions politiques, 27. Aufl. 2015, Rn. 228 ff.; J. Petot, Modernisation ou crises de l’État démocratique, RDP 2000, 633 (675 ff.). 10 L. Heuschling, Krise der Demokratie und Krise der juristischen Demokratielehre in Frankreich, in: H. Bauer/P. M. Huber/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 42 f.; Vilain, in:
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im Kontext der politischen Willensbildung.11 Aber auch in der Literatur findet man kaum eigenständige Aussagen zum verfassungsrechtlichen Begriff der Demokratie.12 Offenbar geht man – ähnlich wie beim Prinzip der Republik – zumindest implizit, teilweise sogar explizit,13 davon aus, dass im Grundsatz die Verfassung selbst abschließend umschreibt, was sie unter Demokratie versteht mit der Folge, dass im Streitfall allein die konkreten Ausformungen maßstäblich sind. Spezifische Fragen werden wenn, dann eher unter Rückgriff auf den in Frankreich deutlich traditionsreicheren Begriff der Souveränität beantwortet.14 Dieser findet sich schon in den Verfassungstexten der Revolutionszeit, beginnend mit Art. 3 D 1789. Der Begriff „Demokratie“ taucht hingegen erstmalig in der Präambel der Verfassung von 1848 auf.15 Trotzdem besteht zwischen beiden Verfassungsinterpretationen insofern eine Parallele, als auch nach deutschem Verfassungsverständnis für die geschilderte Definition der demokratischen Legitimation die in Art. 20 Abs. 2 GG verankerte Volkssouveränität die zentrale Grundlage liefert.16 Das BVerfG stellt dabei aber Marsch/Vilain/Wendel, Französisches und deutsches Verfassungsrecht, 2015 (Fn. 6 ), § 3 Rn. 59 (eine im Vergleich zu Deutschland „wesentlich unscheinbare juristische Tragweite“). 11 Nachweise in Fn. 24 ff. 12 Siehe die kurzen Erwähnungen bei J. Gicquel/J.-E. Gicquel, Droit constitutionnel et institutions politiques, 29. Aufl. 2015, Rn. 417 ff.; M. Verpeaux, Droit constitutionnel français, 2. Aufl. 2015, Rn. 61; L. Favoreu u.a., Droit constitutionnel, 17. Aufl. 2015, Rn. 829 ff. Etwas ausführlicher O. Gohin, Droit constitutionnel, 2. Aufl. 2013, der dann die Grundsätze der Gewaltentrennung, der Machtbegrenzung, der Transparenz, des möglichen Machtwechsels und des Schutzes der Macht problematisiert (Rn. 214 ff.), die nach deutscher Tradition nur zum Teil zur Demokratie zu rechnen sind; die zentrale Frage nach der Legitimation der Macht wird ausgespart. 13 Nach G. Carcassonne/M. Guillaume, La Constitution, 13. Aufl. 2016, Rn. 10 statuiert Art. 1 CF mit der Demokratie ein Prinzip, das zu verwirklichen Auftrag der ganzen Verfassung sei; ähnlich T. Renoux/M. de Villiers/X. Magnon, Code Constitutionnel, 7. Aufl. 2016, zu Art. 2 CF, dort Anm. 2 . Favoreu u.a. (Fn. 12) und Verpeaux (Fn. 12) gehen dann jeweils sehr schnell zur Behandlung des Wahlrechts über. 14 Ebenso in der älteren Verfassungsrechtsliteratur A. Esmein, Éléments de droit constitutionnel français et étranger, 7. Aufl. 1921, Band 1 S. 1 f., 33 f., 40; der Begriff Demokratie wird nur im Register mit Verweis auf Souveränität und andere Stichworte erwähnt (Band 2 , S. 658); ähnlich Hauriou (Fn. 9 ), S. 164 ff.; zur Verbindung von Demokratie und Souveränität auch Carré de Malberg (Fn. 9 ), S. 183; C. Teitgen-Coly, Les instances de régulation et la Constitution, RDP 1990, 153 (227); Vilain (Fn. 10), § 3 Rn. 58; Gicquel/Gicquel (Fn. 12), Rn. 425. Insgesamt dazu Heuschling (Fn. 10), S. 39. Zum Konzept der Souveränität als solchem A. Haquet, Le concept de souveraineté en droit constitutionnel français, 2004. 15 Unter II. Danach wird er erst wieder in Art. 1 der Verfassung von 1946 (sowie mit marginaler Bedeutung in der Präambel, vgl. in Fn. 3 ) erwähnt. In der politischen Diskussion wird er wohl erst seit dem beginnenden 19. Jahrhundert verwendet; siehe Heuschling (Fn. 10), S. 38. 16 Auf diese Norm allein wird abgestellt in BVerfGE 107, 59 (86, 91, 93, 94) – Wasserverband Lippe [2002]; 130, 76 (123) – Privatisierung Maßregelvollzug [2012]; parallele Erwähnung mit Art. 20 Abs. 1 in BVerfGE 93, 37 (66) – Einigungsstelle Schleswig-Holstein [1995]. Zur Verankerung der Volkssouveränität in Art. 20 auch Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 20 (Demokratie) Rn. 82; Jestaedt (Fn. 7 ), S. 155 ff.; kritisch dazu O. Lepsius, Souveränität und Identität als Frage des Institutionensettings, JöR n.F. 63 (2015), S. 63 (81) mit der nicht überzeugenden Annahme, dass Souveränität in diesem Kontext Bindungslosigkeit und nicht nur letzte Legitimationsquelle bedeute. Zur in Frankreich traditionell gemachten Unterscheidung zwischen der Souveränität der Nation und der des Volkes siehe Carré de Malberg (Fn. 9 ), S. 183; Haquet (Fn. 14), S. 63 ff.; Vedel (Fn. 9 ), S. 131; Heuschling (Fn. 10), S. 47 ff.; D. Grimm, La souveraineté, in: M. Troper/D. Chagnollaud (Hrsg.), Traité international de droit constitutionnel, Band 1, 2012, S. 547 (571); der heutige Verfassungstext bezieht beide Elemente ein (Grimm, a.a.O., S. 572). Das Verständnis des BVerfG entspricht dabei wohl im Kern dem der nationalen Souveränität;
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regelmäßig die Verbindung von Demokratie und Volkssouveränität her und argumentiert dann mit dem Begriff der Demokratie bzw. der demokratischen Legitimation. Dies wird in Frankreich gerade nicht so gemacht. Und wenn der Verfassungsrat die Souveränität prüft, fragt er regelmäßig allein, ob eine bestimmte Maßnahme die „grundlegenden Bedingungen der Ausübung der Souveränität beeinträchtige“. Unmittelbar subsumtionsfähig ist das nicht, selbst wenn der Rat seine Entscheidungen regelmäßig nur lakonisch begründet und mittlerweile jedenfalls für die internationale Zusammenarbeit eine abschließende Konkretisierung gefunden hat.17 Und auch wenn die Karlsruher Richter die Antwort auf die Frage, wie denn das erwähnte „hinreichende Legitimationsniveau“ erreicht wird, gleichfalls nur auf der Grundlage weiterer Wertungen geben können, ist ihre Bereitschaft zur Konkretisierung des offenen Verfassungsbegriffs „Demokratie“ deutlich größer als die ihrer Kollegen. Dabei geht es letztlich nicht nur um Methodenfragen, sondern auch um die Stellung und die Legitimation der jeweiligen Richter und Gerichte.
II. Die Bedeutung der Rechtsbegriffe „Demokratie“ und „Volkssouveränität“ für das politische System 1. Zum politischen System als solchem Mit Blick auf das politische System machen beide Verfassungsgerichte das Demokratieprinzip fruchtbar. Konkret sind die freie politische Willensbildung im Rahmen von Wahlen sowie die Parteienfinanzierung zu nennen. Zum ersten Punkt hat das BVerfG der Regierung Grenzen bei der Öffentlichkeitsarbeit gerade in Wahlkampfzeiten gezogen.18 In Frankreich ist nun zwar schon aus prozessualen Gründen – insbesondere gibt es keinen Organstreit – kaum vorstellbar, dass sich wie in Deutschland die Regierung19 oder gar der Staatspräsident20 vor Gericht für seine öffentlichen Äußerungen rechtfertigen muss.21 Verwaltungsgerichtlicher Kontrolle zugänglich ist hingegen die Überwachung der Aufteilung der Sendezeiten der Parteien im öffentlich-rechtlichen Rundfunk durch die zuständige Aufsichtsbehörde. In diesem Rahmen hat der Conseil d‘État unter Berücksichtigung auch von Meinungsfreiheit und Demokratie differenziert die Frage beantwortet, ob dabei auch Äußerungen des deutlich jedenfalls BVerfGE 83, 37 (50 ff.) – Ausländerwahlrecht Schleswig-Holstein [1990], offener aber BVerfGE 123, 267 (341) – Lissabon [2009]. 17 CC, 2004-505 DC vom 19.11.2004, Rn. 29; 2007-560 DC vom 20.12.2007, Rn. 20; dazu J. Ziller, European Union Law in the Jurisprudence of French Courts, European Public Law 2015, 765 (772) sowie noch bei Fn. 172 f. 18 BVerfGE 44, 125 (144) – Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung [1977]. 19 BVerfGE 138, 102 – Äußerungsbefugnis Bundesministerin Schwesig [2014]. 20 BVerfGE 136, 323 – „Spinner“ [2014]. 21 Zur Stellung des französischen Staatspräsidenten Art. 68 CF und dazu CC, 98–408 DC vom 22.1.1999, Rn. 16; ferner zu dessen Gehalt 2012-654 DC vom 9.8.2010, Rn. 81 ff. und dazu sehr kritisch O. Beaud, Le Conseil constitutionnel et le traitement du président de la république: une hérésie constitutionnelle (A propos de la décision du 9 août 2012), Jus politicum Nr. 9 (2013).
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Staatspräsidenten zu berücksichtigen sind.22 Ergänzend sind die aus deutscher Sicht recht rigiden französischen Regelungen zur Wahlkampffinanzierung zu erwähnen,23 die hier vielleicht ein funktionales Äquivalent darstellen. Schließlich begründet der Verfassungsrat mit dem Demokratiegebot ein Verbot des Staates, die Gleichheit zwischen den Kandidaten zu beeinträchtigen.24 Konkret wurde auch die von manchen als Hürde empfundene und zwischenzeitlich aufgehobene Pflicht, die Namen der für eine Nominierung als Präsidentschaftskandidat erforderlichen Unterstützer zu veröffentlichen, an diesem Maßstab gemessen, aber für zulässig erklärt.25 In beiden Staaten werden aus dem Demokratiegebot ferner Grenzen für die staatliche Parteienfinanzierung abgeleitet. Dabei postulierte der Verfassungsrat in zwei Entscheidungen aus dem Jahre 1989 und 2014 jeweils nur, dass eine solche Finanzierung die Parteien nicht vom Staat abhängig machen dürfe.26 Gleiches ist auch in Deutschland anerkannt. Bei den Konsequenzen war das BVerfG aber zunächst rigider und hat aus dem genannten Grund im Jahre 1966 ein grundsätzliches Verbot staatlicher Parteienfinanzierung angenommen, das nur mit Blick auf die Unterstützung der von Staats wegen erforderlichen Wahlkämpfe eine Ausnahme kannte.27 1992 ist es dann von dieser rigiden Haltung abgerückt. Zugleich aber hat es für die staatliche Parteienfinanzierung in Frankreich so nicht bekannte und vor allem sehr konkrete Obergrenzen gezogen. Beiden Entscheidungen gemeinsam ist ein Punkt, der auch in anderen Zusammenhängen zu beobachten und daher später noch anzusprechen ist: die deutlich größere Bereitschaft des BVerfG, auch einen so offenen Begriff wie den der Demokratie mit sehr konkreten Konsequenzen zu verbinden. Und anders als 1966 hat das Gericht sogar Art. 20 GG in diesem Kontext gar nicht mehr bemüht, sondern sich nur noch auf Art. 21 Abs. 1 GG bezogen.28 In beiden Ländern spielt das Demokratieprinzip außerdem im Kontext des Parlamentsrechts eine Rolle. Das BVerfG hat im Jahre 1977 zwar die Notwendigkeit demokratischer Legitimation parlamentarischer Beschlüsse betont, zugleich aber Forderungen zurückgewiesen, aus diesem Prinzip konkrete Vorgaben für die Beschlussfähigkeit des Bundestages abzuleiten, weil die Schlussabstimmung nur ein Element der parlamentarischen Willensbildung sei. Vorherige Beratungen in Ausschüssen und Fraktionen seien mit zu berücksichtigen, weswegen auch bei geringer Präsenz bei der Schlussabstimmung diese noch demokratischen Erfordernissen entsprechen könne.29 Sein Urteil zur Notwendigkeit parlamentarischer Beratung zur Höhe der Diäten stützt es auf das demokratische Gebot der Transparenzsicherung.30 In Frankreich wiederum wurde 2003 einmal die Notwendigkeit demokratischer Debatte im Parla CE, 311136 vom 8.4.2009, RFDA 2009, 362 (mit Schlussanträgen de Salins, ebd., 351 ff.). Beispielhaft CC, 2013-156 PDR vom 4.7.2013 (zur Überschreitung des vorgegebenen Rahmens durch N. Sarkozy bei den Präsidentschaftswahlen 2012). 24 CC, 2004-490 DC vom 12.2.2004, Rn. 84; 2007-559 DC vom 6.12.2007, Rn. 12. 25 CC, 2012-233 QPC vom 22.2.2012, Rn. 5; die Auf hebung erfolgte 2016. Siehe ferner zum Wahlrecht noch 2013-673 DC vom 18.7.2013, Rn. 5, im Kontext der Kommunikation mit Auslandsfranzosen. 26 CC, 89–271 DC vom 11.1.1990, Rn. 12; 2014-407 QPC vom 18.7.2014, Rn. 12. 27 BVerfGE 20, 56 (96 ff.) – Parteifinanzierung [1966]. 28 BVerfGE 85, 264 (283 ff.; zu den Obergrenzen 289 ff.) – Parteifinanzierung [1992]. 29 BVerfGE 44, 308 (315 ff.) – Beschlussfähigkeit des Bundestages [1977]. 30 BVerfGE 40, 296 (397) – Diätenurteil [1975]. Dazu A. Gaillet, Transparence et démocratie dans 22
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ment mit der Konsequenz insbesondere auch der Möglichkeit, Änderungsanträge zu stellen, betont 31 – letzteres ein in Frankreich intensiv32, in Deutschland kaum diskutiertes Thema 33. Allerdings hat der Verfassungsrat wenig später seine Begründung variiert und für ähnliche Überlegungen Art. 3 CF herangezogen. Aus dieser Norm in Verbindung mit Art. 6 D 1789 hat er ein Gebot der Klarheit und Offenheit (clarté et sincérité) parlamentarischer Diskussionen abgeleitet.34 Als konkrete Konsequenz hat er rigiden Regelungen zur Disziplinierung des Parlamentsbetriebes – etwa bei Begrenzungen von Redezeiten, Beendigung von Debatten und Fristen bei Anträgen – gewisse Grenzen gesetzt.35 In Deutschland würde man solche Bestimmungen eher an einer etwas konkreteren Norm messen, nämlich Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, nach der die Abgeordneten des Deutschen Bundestages Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Diese in vergleichbar umfassender Form in Frankreich nicht bekannte Bestimmung bildet die Grundlage aller Abgeordnetenrechte, insbesondere eben auch des freien Rede- und ggf. auch Antragsrechts.36 Und den Hinweis auf die öffentliche Debatte hat das BVerfG im Kontext des als solches noch später anzusprechenden Europaverfassungsrechts herangezogen, um parlamentarische Mitwirkungsrechte einzufordern.37 In diesem Lichte ist die erwähnte Judikatur zur Beschlussfähigkeit des Bundestages aus dem Jahre 1977 allerdings fraglich geworden, denn die dort zur Rechtfertigung der geringen Präsenz bei der Schlussabstimmung angeführten vorherigen Beratungen in Fraktionen und Ausschüssen finden regelmäßig nicht öffentlich statt. Allerdings kann das Demokratieprinzip, wie das BVerfG erst kürzlich festgestellt hat,38 nicht als Meta prinzip positives Verfassungsrecht verdrängen. Und schließlich fällt auf: Die für eine Demokratie in der Tat zentrale öffentliche Debatte wird in Frankreich als Argument genutzt, um Vorgaben für das parlamentarische Verfahren zu begründen, in Deutschland hingegen vor allem, um die Kompetenzen des Parlaments im Verhältnis zu anderen Verfassungsorganen zu stärken, aber auch, insoweit die Wahrnehmung von inhaltlicher Verantwortung einzufordern. la jurisprudence de la Cour constitutionnelle allemande, in: N. Droin/E. Forey (Hrsg.), La transparence en politique, 2014, S. 137 (149 ff.). 31 CC, 2003-468 DC vom 3.4.2003, Rn. 3. 32 Siehe die Darstellung bei Renoux/Villiers/Magnon (Fn. 13) zu Art. 4 4. Siehe ferner aus der Rechtsprechung CC, 85–191 DC vom 10.7.1985, Rn. 2 ; 98–402 DC vom 25.6.1998, Rn. 2 ff.; 2001-445 DC vom 19.6.2001, Rn. 48 f.; 2001-450 DC vom 11.7.2001, Rn. 28 ff.; jüngst 2016-736 DC vom 4.8.2016, Rn. 45 f. 33 Relevanz entfaltet es soweit ersichtlich nur im Kontext der Befugnisse des Vermittlungsausschusses; dazu BVerfGE 101, 297 (306 ff.) – häusliches Arbeitszimmer [1999]; 120, 56 (73 ff.) – Unternehmenssteuerreform [2008]. 34 Aufgestellt zunächst ohne Herleitung in CC, 2005-512 DC vom 21.4.2005, Rn. 4. Zur Zuordnung zu Art. 6 D 1789 und Art. 3 CF siehe CC, 2009-581 DC und 2009-582 DC, beide vom 25.6.2009, jeweils Rn. 3. 35 Siehe etwa CC, 2009-581 DC vom 25.6.2009, Rn. 20, 25 bzw. 29 bzw. 44; 2015-712 DC vom 11.6.2015, Rn. 12, 21, 26 ff., 32, 38. 36 Dazu etwa BVerfGE 120, 56 (75) – Vermittlungsausschuss [2008]. 37 BVerfGE 130, 318 (344) – Stabilisierungsmechanismusgesetz [2012]; vgl. auch schon 123, 267 (361) – Vertrag von Lissabon [2009]; 129, 124 (178) – Euro-Rettungsschirm [2011]. 38 BVerfG, Urteil vom 3.5.2016, 2 BvE 4/14, Rn. 86 ff. – Oppositionsrechte.
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2. Parlamentsvorbehalte In einer parlamentarischen Demokratie sind regelmäßig wichtige Entscheidungen dem Parlament vorbehalten,39 das nach deutschem Verfassungsverständnis „das Zentralorgan der Demokratie“ 40 bildet bzw. „in der Mitte der Demokratie“41 steht. Zentral sind in diesem Kontext etwa Grundrechtseinschränkungen. Diese unterliegen in Deutschland schon seit dem 19. Jahrhundert einem Vorbehalt des Gesetzes in dem Sinne, dass ihre Zulässigkeit eine formellgesetzliche Ermächtigung voraussetzt. Bei der Begründung dieses „Gesetzesvorbehalts“ standen ursprünglich rechtsstaatliche Gesichtspunkte im Vordergrund. Das Demokratieprinzip war allerdings auch schon damals von Bedeutung, denn mit dem Gesetzesvorbehalt sollte die Tätigkeit der der allein monarchisch legitimierten Regierung zugeordneten Verwaltung parlamentarisch rückgebunden werden.42 Dieser Gesetzesvorbehalt hat in der Judikatur des BVerfG mit Beginn der siebziger Jahre eine erhebliche Bedeutung gewonnen. Danach sind „in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen dem Gesetzgeber zu überlassen. Dabei betrifft die Normierungspflicht nicht nur die Frage, ob ein bestimmter Gegenstand überhaupt gesetzlich geregelt sein muss, sondern auch, wie weit diese Regelungen im Einzelnen zu gehen haben.“43 Dieser bald mit dem Stichwort „Wesentlichkeitstheorie“44 umschriebene Ansatz wird eben auf rechtsstaatliche und demokratische Gesichtspunkte zurückgeführt,45 die so bei der Interpretation der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte herangezogen werden. Im Kontext des Datenschutzes hat das BVerfG jüngst sogar betont, dass Transparenz bei Datenerhebung und -verarbeitung Vertrauen und Rechtssicherheit entstehen lassen kann, weil der Umgang mit Daten in einen demokratischen Diskurs eingebunden bleibt, und so zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit beiträgt.46
39 Zur „Dominanz“ des Gesetzgebers im demokratischen Verfassungsstaat siehe etwa H. Dreier, Hierarchische Verwaltung, 1991, S. 160 ff. (m.w.N). 40 M. Morlok/C. Hientzsch, Das Parlament als Zentralorgan der Demokratie, JuS 2011, 1. 41 So W. Kluth, Parlamentarische Gesetzgebung im postnationalen Zeitalter, 2013, S. 27; ähnlich, im Kontext der Integrationsverantwortung, U. Hufeld, in: A. v. Arnauld/U. Hufeld (Hrsg.), Systematischer Kommentar zu den Lissabon-Begleitgesetzen, 2011, Rn. 10: Das Parlament steht „in der Mitte der Staatsorganisation“. 42 Zu dieser Entwicklung M. Kloepfer, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, JZ 1984, 685 ff.; A. Gaillet, L’individu contre l’État, 2012, Rn. 107 ff. 43 So etwa BVerfGE 101, 1 (34) – Hennenhaltungsverordnung [1999]. Siehe zur Entwicklung insbesondere BVerfGE 33, 1 (10 f.) – Strafvollzug [1972]; 33, 303 (337) – numerus clausus I [1972]; 34, 165 (192 ff.) – Förderstufe [1972]. 44 Zurückgehend wohl auf T. Oppermann, Nach welchen rechtlichen Grundsätzen sind das öffentliche Schulwesen und die Stellung der an ihm Beteiligten zu ordnen, DJT-Gutachten 1976 C, S. 48 ff. 45 Dazu, nicht zuletzt zur „Erkenntnis auch seiner demokratischen Komponente“ etwa BVerfGE 49, 89 (126) – Schneller Brüter [1978]. Aus jüngerer Zeit etwa BVerfGE 120, 274 (407 ff.) – Online-Durchsuchung [2008]. 46 BVerfG, Urteil vom 20.4.2016, 1 BvR 966/09 und 1140/09, Rn. 134 f., 142 f. – BKA-Gesetz; vgl. auch schon BVerfGE 125, 260 (334) – Vorratsdatenspeicherung [2010]; 133, 277 Rn. 206, 221 f. – Antiterrordatei [2013].
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In Frankreich wies die traditionelle Vorstellung des Gesetzes als Ausdruck der volonté générale ganz sicher materiell einen Bezug zur Demokratie auf. Damit wurde dem Parlament sogar eine Art Blankovollmacht gegeben – allerdings auch mit der Befugnis, in weitem Umfang die Regierung zu exekutiver Normsetzung zu ermächtigen.47 Mit diesem Gedanken parlamentarischer Souveränität aber hat die Verfassung von 1958 mit ihrer vor allem in Art. 34 CF enthaltenen positiven Aufzählung der vom Gesetzgeber zu verantwortenden Bereiche zunächst bewusst gebrochen. So sollte das zuvor „souveräne“ Parlament in gewisse Schranken gewiesen, seine Tätigkeit „rationalisiert“48 und zugleich die Exekutive, der Präsident und „seine“ Regierung gestärkt werden. Später hat der Verfassungsrat dann allerdings nicht nur betont, dass Gesetze jenseits von Art. 34 CF nicht verfassungswidrig seien.49 Weitergehend hat er sogar die Norm als Verpflichtung verstanden, die dort aufgeführten Materien – nicht zuletzt die Ausgestaltung der Grundrechte – auch tatsächlich selbst zu regeln, also nicht der Verwaltung oder der Rechtsprechung zu überlassen50 und so diese Norm zur Grundlage für einen auch vor 1958 kaum anerkannten51 Gesetzesvorbehalt umgedeutet. In jüngerer Zeit haben sich allerdings verschiedene Präsidenten des Conseil mit Hinweis auf die Qualität des Gesetzes für den Gedanken stark gemacht, das Parlament auf die in Art. 34 CF genannten Bereiche zu beschränken, also auch eine „Unwesentlichkeitstheorie“ zu entwickeln in dem Sinne, dass das Gesetz nur die jeweils zentralen Fragen regeln solle und die Regelung unwichtiger Details der Verordnung überlassen werden soll.52 In der Judikatur hat sich das aber noch nicht niedergeschlagen. Ein Hinweis auf Staatsstrukturprinzipien findet sich in diesem Kontext jedoch nicht nur nicht in der wie üblich nur knapp argumentierenden, alle überflüssigen theoretischen Grundlegungen vermeidenden Judikatur, sondern auch nicht in der einschlägigen Literatur. Immerhin kommt diese einhellig zum Schluss, dass die Verfassungsrechtsprechung Art. 34 CF eher großzügig interpretiert.53 Während etwa im Bereich des Prozessrechts die Verfassung selbst explizit nur das Strafverfahren erwähnt, werden in der Praxis mit Hinweis auf die Grundrechtsrelevanz auch für grundlegende Garantien in den übrigen Prozessordnungen gesetzliche Regelungen verlangt.54 Hintergrund dürfte nicht zuletzt die Entwicklung eines Grundrechts auf
47 J. Trémeau, La réserve de la loi, 1997, S. 211 ff. Entscheidend war die Bindung an das Gesetz, nicht der Gesetzesvorbehalt; dazu Gaillet (Fn. 42), Rn. 429 ff. 48 Zu diesem „parlementarisme rationalisée“ etwa Favoreu u.a. (Fn. 12), Rn. 520. 49 CC, 82–143 DC vom 30.7.1982, Rn. 11. 50 Zu Grundrechten etwa CC, 84–173 DC vom 26.7.1984, Rn. 4 ; 86–217 DC vom 18.9.1986, Rn. 4 ; 91–304 DC vom 15.1.1992, Rn. 8 ff., ferner Fn. 48 f. und 51 sowie Trémeau (Fn. 47), S. 258 ff. Aus jüngerer Zeit zum in Art. 34 CF auch erwähnten Sozialversicherungsrecht etwa CC, 2015-727 DC vom 21.1.2016, Rn. 47 f. Ein Hinweis auf die Wesentlichkeit findet sich bei Gicquel/Gicquel (Fn. 12), Rn. 1495 („importance“) und 1499 („règles essentielles“). 51 J. Trémeau (Fn. 47), S. 211 ff. 52 Zuletzt L. Fabius in einem Interview mit „Le Monde“, vom 18.4.2016. 53 Gicquel/Gicquel (Fn. 12), Rn. 1499 ff.; G. Lebreton, Libertés publiques et droits de l’homme, 8. Aufl. 2009, S. 148 ff.; Favoreu u.a. (Fn. 12), Rn. 1190. 54 CC, 80–119 L vom 2.12.1980, Rn. 6 ; dazu B. Genevois, La jurisprudence du Conseil constitu tionnel, 1988, Rn. 172.
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effektiven Rechtsschutz sein,55 das 1958 zwar im Verwaltungsrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz,56 aber damit eben noch nicht in Verfassungsrang anerkannt war. Trotzdem dürften auch weiterhin in der Praxis nicht unerhebliche Unterschiede bestehen. Liest man etwa vergleichend die zu den in letzter Zeit in beiden Ländern beschlossenen Antiterrorgesetzen ergangenen Entscheidungen, gewinnt man den Eindruck, dass in Deutschland höhere Anforderungen an die Gesetzesbestimmtheit gestellt werden als in Frankreich, auch wenn die Fälle jeweils unmittelbar nicht miteinander zu vergleichen sind.57 Dass schließlich die Zuerkennung von Rechten an das nationale Parlament durch das Unionsrecht – nur – in Frankreich eine Verfassungsänderung erfordert hat,58 während das BVerfG im gleichen Kontext im Gegenteil sogar noch zusätzliche Parlamentsrechte begründet hat,59 belegt gleichfalls die Unterschiede im Verständnis von der Rolle der nationalen Parlamente bei der Legitimation von Politik; im Rahmen der Untersuchung des Europarechts ist darauf zurückzukommen.
3. Kontrollbefugnisse des Conseil constitutionnel Schließlich hat der Conseil constitutionnel die Volkssouveränität, also Art. 3 CF, angeführt, um seine Entscheidungsgewalt einzugrenzen. Es ging um die Auslegung seiner Kompetenz nach Art. 61 CF, konkret um die Frage, ob auch per Volksentscheidung angenommene Gesetze von ihm zu kontrollieren seien.60 Bei seiner ablehnenden Antwort verweist der Rat zwar zunächst auf seine nach der Konzeption der Verfassung stark begrenzten Befugnisse. Zugleich aber betonte er eben auch, dass per Volksabstimmung angenommene Gesetze direkter Ausdruck der nationalen Souveränität seien.61 O. Jouanjan spricht in diesem Kontext von einer seit der französischen Revolution gepflegten Mythologie der Volkssouveränität.62 Möglicherweise in ähnlichem Lichte ist die nur mit Hinweis auf die begrenzten Zuständigkeiten des Verfassungsrates begründete Ablehnung der Kontrolle der einer Verfassungsänderung durch Art. 89 Abs. 5 CF mit Hinweis auf das Prinzip der Republik gezogenen Gren55 CC, 224–86 DC vom 23.1.1987, Rn. 22; 99–416 DC vom 28.7.1999, Rn. 38 ff.; dazu G. Schmitter, Étendue et limites du droit au recours juridictionnel, RFDC 2015, S. 935 ff. 56 CE Ass. vom 17.2.1950, Dame Lamotte. 57 Siehe etwa einerseits für Deutschland BVerfGE 120, 378 (407 ff.); 125, 260 (325 ff., 355); 130, 212 (203); andererseits für Frankreich CC, 2015-713 DC vom 23.7.2015, Rn. 8 ff. und kritisch dazu die Anmerkung von A. Roblot-Troizier, RFDA 2015, 1195 ff.; 2015-527 QPC vom 22.12.2015, Rn. 8 ff.; zu beiden kritisch A. Gaillet, Des libertés publiques aux droits fondamentaux?, in: Société de Législation Comparée (Hrsg.), Soixante ans d’influences juridiques réciproques franco-allemandes, 2016, S. 163 (180). Siehe ferner zur – problematischen – Polizeigewalt der Verwaltung Trémeau (Fn. 47), S. 379 ff.; zum Rechtsschutz für Strafgefangene aber jüngst CC, 2016-543 QPC vom 24.5.2016. 58 CC, 2007-560 DC vom 20.12.2007, Rn. 32. 59 BVerfGE 123, 267 (434 ff.) – Lissabon [2009]. 60 Zur Verfassungswidrigkeit des konkreten Gesetzes siehe O. Jouanjan, Frankreich, in: v. Bogdandy u.a. (Fn. 2 ), § 2 Rn. 30, 43. 61 CC, 62–20 DC vom 6.11.1962, Rn. 2 ; bestätigt etwa in 2014-392 QPC vom 25.4.2014, Rn. 7. Zum Zusammenhang mit der Demokratie siehe Jouanjan (Fn. 60), Rn. 100. 62 Jouanjan (Fn. 60), Rn. 4 4.
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zen zu sehen.63 In Deutschland besteht hier schon auf Bundesebene mangels Volksentscheiden keine Parallele; zudem hat das Bundesverfassungsgericht keine Hemmungen, auch verfassungsändernde Gesetze zu kontrollieren.64 Und soweit eine Zuständigkeit besteht, ist es zwar für beide Gerichte selbstverständlich, dem demokratisch gewählten Parlament einen gewissen Einschätzungsspielraum einzuräumen. Während aber das BVerfG diesen Zusammenhang explizit herstellt,65 betont der Verfassungsrat schlicht, ohne weitere Begründung, dass ihm nicht die gleiche Beurteilungskompetenz zustehe wie dem Parlament.66
III. Zur demokratischen Legitimation von Verwaltung und Rechtsprechung Zeigen sich mit Blick auf das politische Systeme vielfältige Gemeinsamkeiten, werden mit Blick auf Verwaltung und Rechtsprechung vor allem Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich deutlich. Zwar tragen in beiden Staaten die Bindung an die demokratisch beschlossenen Gesetze bei Verwaltung und Rechtsprechung zur demokratischen Legitimation bei, doch nicht zuletzt angesichts der Offenheit vieler Gesetze wird dies jedenfalls in Deutschland nicht als ausreichend angesehen. Daher werden aus dem Demokratieprinzip auch recht konkrete Konsequenzen für die Organisation von Verwaltung und Justiz gezogen, um so die Legitimation dieser Institutionen sicherzustellen. In Frankreich werden die damit verbundenen Fragen dagegen überhaupt nur teilweise aufgeworfen. Ein Beispiel für die Praxis des BVerfG bildet die bereits erwähnte Judikatur zu Personalvertretungen,67 für die es allerdings in Frankreich keine Parallele gibt.
1. Zur Legitimation der Verwaltung a) Unabhängige Verwaltungsbehörden Symptomatisch belegt die Unterschiede der Umgang mit unabhängigen Verwaltungsbehörden,68 wie sie in vielen Ländern zur Erledigung bestimmter Aufgaben bestehen, gar zunehmend unionsrechtlich vorgeschrieben werden. Sie sind aus der Verwaltungshierarchie ausgeklammert und damit auch nicht in die damit verbundene parlamentarische Verantwortlichkeit eingebunden. In Deutschland ist viel Energie auf den Nachweis verwendet worden, dass diese aus diesem Grund im Regelfall nicht mit dem Demokratieprinzip des Art. 20 GG CC, 2003-469 DC vom 26.3.2003. BVerfGE 30, 1 – Abhör-Urteil [1970]; 96, 44 (49) – Durchsuchungsanordnung [1997]; 96, 100 (115) – Strafvollstreckungsüberstellung auf eigenen Wunsch [1997]. 65 BVerfGE 33, 125 (159) – Facharzt [1972]; 85, 386 (403 f.) – Fangschaltung [1992]. 66 CC, 75–54 DC vom 15.1.1875, Rn. 1; 86–218 DC vom 18.11.1986, Rn. 10. 67 Fn. 8. 68 Zum deutsch-französischen Rechtsvergleich J. Masing/G. Marcou (Hrsg.), Unabhängige Regulierungsbehörden, 2010. Zum erwähnten Unterschied Vilain (Fn. 10), § 3 Rn. 59. 63
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vereinbar seien. Demokratische Verwaltung bedeute grundsätzlich hierarchische Ministerialverwaltung.69 Nach der traditionellen Rechtsprechung des BVerfG besitzt die Verwaltung die geforderte sachliche und personelle Legitimation nämlich nur, wenn „die Amtsträger im Auftrag und nach Weisung der Regierung – ohne Bindung an die Willensentschließung einer außerhalb parlamentarischer Verantwortung stehenden Stelle – handeln können und die Regierung damit in die Lage versetzen, die Sachverantwortung gegenüber Volk und Parlament zu übernehmen.“70 Als Ausnahme anerkannt ist im Grundsatz allein die funktionelle Selbstverwaltung, weil hier die Mitwirkung der Betroffenen legitimierend wirkt.71 Unabhängige Behörden gibt es in Deutschland daher nur wenige, vor allem nicht jenseits unionsrechtlicher Vorgaben. Und wenn sie bestehen, werden enges Mandat und strikte Kontrolle gefordert, wie es das BVerfG jüngst erneut mit Blick auf die unabhängige Zentralbank – in diesem Fall auf europäischer Ebene – deutlich gemacht hat.72 In Frankreich hingegen ist die Lage grundsätzlich anders. Hier wurden – beginnend mit der 1978 geschaffenen Datenschutzkommission CNIL73 – mittlerweile eine ganze Reihe solcher Behörden vorgesehen.74 Viele sind mit wirtschaftsrechtlichen Aufgaben befasst. Hier soll die Unabhängigkeit der Behörden Interessenkonflikte zwischen dem Staat als Hoheitsträger und, traditionell sehr bedeutsam, als Unternehmenseigner vermeiden helfen.75 Bei anderen geht es um Grundrechtsschutz, etwa den soeben schon erwähnten Datenschutz oder die Sicherung von Medienpluralismus.76 In beiden Fällen liegt dem die Annahme zugrunde, dass die klassische Staats Siehe insbesondere Dreier (Fn. 39), insbesondere S. 129 ff.; Jestaedt (Fn. 7 ), S. 314 ff.; Böckenförde, Demokratie (Fn. 7 ), Rn. 24. 70 BVerfGE 93, 37 (67) – Einigungsstelle Schleswig-Holstein [1995]; ebenso, wenn auch ohne den Einschub, BVerfGE 107, 59 (88) – Wasserverband Lippe [2002]. 71 Zu Wasserverbänden explizit mit Blick auf die demokratische Legitimation BVerfGE 107, 59 (92); siehe ferner zu Ärztekammern implizit BVerfGE 33, 125 (156 f.) – Facharzt [1972]. Ausgesprochen heikel sind die Strukturen der Sozialverwaltung (angesprochen, aber nicht entschieden in BVerfG (K), Beschluss vom 10.11.2015 – 1 BvR 2056/12, Rn. 23 – Gemeinsamer Bundesausschuss, mit Anmerkung von J. Lege, JZ 2016, 464 f.). Allerdings muss der Gesetzgeber für einen sachgerechten Zuschnitt der Aufgaben, insbesondere soweit es um Rechte Dritter geht, und für eine entsprechende Ausgestaltung der inneren Strukturen sorgen (dazu BVerfGE 33, 125 [158 ff.] – Facharzt [1972]). 72 BVerfG, Urteil vom 21.6.2016, 2 BvR 2728/13 u. a., Rn. 187 ff. – OMT-Endurteil; vorgängig BVerfGE 89, 155 (207 ff.) – Vertrag von Maastricht [1993]; 134, 366 Rn. 59 – OMT-Vorlagebeschluss [2014]. Dazu noch bei Fn. 166 ff. 73 Zu dieser etwa C. Debbasch/F. Colin, Droit administratif, 11. Aufl. 2014, S. 161 ff. Heute sind europarechtliche Vorgaben einschlägig; siehe dazu noch bei Fn. 9 0. 74 Zum Teil wird zwischen unabhängigen Verwaltungsbehörden und – allein – rechtsfähigen unabhängigen Behörden unterschieden; insgesamt dazu G. Marcou, Verwaltungsbehörden und die Einflussnahme der öffentlichen Hand auf die Wirtschaft, in: Masing/Marcou (Fn. 68), S. 99 ff. 75 Dazu G. Marcou, Kommentar, in: Masing/Marcou (Fn. 68), S. 87 (89); M. Lombard, Warum bedient man sich im Bereich der Wirtschaft unabhängiger Behörden?, ebd., S. 143 (151 ff.), ferner ebd. zu weiteren Gesichtspunkten im Bereich der Wirtschaftsaufsicht wie der Sicherung der Marktneutralität und der Möglichkeit langfristiger Politik. 76 Als Garantie für die Ausübung eines Grundrechts („liberté publique“) wird die entsprechende Behörde vom CC bezeichnet; 84–173 DC vom 26.7.1984, Rn. 4 ; ähnlich 84–181 DC vom 11.10.1984, Rn. 16. Das bedeutet aber nicht, dass sie verfassungsrechtlich vorgegeben ist. Zu den Gestaltungsbefugnissen des Gesetzgebers einschließlich der zur Abschaffung einer solchen Behörde siehe CC, 86–210 DC vom 29.7.2986, Rn. 2 und 17; 86–217 DC vom 18.9.1986, Rn. 4 f. Dazu auch Teitgen-Coly (Fn. 14), S. 162 ff., 234 f. 69
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verwaltung eine bestimmte Aufgabe weniger überzeugend als eine unabhängige Verwaltungsbehörde wahrnehmen könne – und so im Sinne einer out-put-Legitimation zur Demokratie beigetragen wird. Diese Unterschiede setzen sich in der verfassungsrechtlichen Beurteilung fort. So gibt es zwar in Frankreich eine umfangreiche Rechtsprechung zu unabhängigen Behörden. Diese bezieht sich aber nur in einem Fall auf die Unabhängigkeit als solche. Dabei ging es um die französische Zentralbank, deren Unabhängigkeit durch den Vertrag von Maastricht im Kontext der Regelungen zur Währungsunion vorgegeben war (heute Art. 130 AEUV). Diese wurde in Frankreich bereits kurz vor Inkrafttreten dieses Vertrages und damit auch vor Inkrafttreten der dessen Abschluss gestattenden Verfassungsbestimmung (Art. 88–2 CF i.d.F. des Jahres 1992) verwirklicht. Dies erklärte der Verfassungsrat für unzulässig und verwies zur Begründung auf Art. 20 CF, wonach die Regierung über die Verwaltung verfügt, sowie auf die dem Premierminister nach Art. 21 CF vorbehaltene Verordnungsbefugnis.77 Immerhin lässt sich hier indirekt auch ein Bezug zu Art. 3 CF herstellen, denn in seiner Entscheidung zum Vertrag von Maastricht selbst hatte der Rat bereits die Regelungen zur Wirtschafts- und Währungsunion ab Eintritt in deren dritte Stufe als Beeinträchtigung der „wesentlichen Befugnisse der Ausübung der staatlichen Souveränität“ angesehen und deswegen für die Ratifikation die erwähnte Verfassungsänderung gefordert.78 Im Übrigen wurden bei unabhängigen Behörden verfassungsrechtlich nur deren Befugnisse einschließlich deren gerichtlicher Kontrolle hinterfragt, und zwar, soweit es um eine Normsetzung geht, mit Blick auf den Gesetzesvorbehalt nach Art. 34 CF oder die Verordnungsbefugnis des Premierministers nach Art. 21 CF. Nur gelegentlich wurden dabei einzelne Bestimmungen wegen ihrer zu großen Reichweite als unzulässig angesehen.79 Im Übrigen gibt es eine umfangreiche Diskussion zu einem in Deutschland nie problematisierten Punkt, nämlich mit Blick auf die unabhängigen Verwaltungsbehörden zustehenden Sanktionsbefugnisse.80 Die an Normen wie CC, 93–324 DC vom 3.8.1993, Rn. 7 und 9. CC, 92–308 DC vom 9.4.1992, Rn. 4 4. 79 Siehe im Bereich der Medienfreiheit zu Art. 34 CF CC, 84–173 DC vom 26.7.1984, Rn. 3 ; zu Art. 21 CF 86–217 DC vom 18.9.1986, Rn. 60; 88–248 DC vom 17.1.1989, Rn. 16. Für zulässig erklärt wurden die Befugnisse in den Entscheidungen 84–181 DC vom 11.10.1984, Rn. 4 und 16 und 96–378 DC vom 23.7.1996, Rn. 8 ff., ferner ohne Problematisierung implizit 81–141 DC vom 27.7.1981 und 2000–43 DC vom 27.7.2000. Zum Wirtschaftsrecht siehe, jeweils ohne Feststellung einer Verletzung, zu Art. 34 CF CC, 83–167 DC vom 24.1.1984, Rn. 26 sowie zu Art. 21 CF CC, 89–260 DC vom 28.7.1989, Rn. 6; siehe ferner die impliziten Zulässigkeitsentscheidungen in CC, 86–224 DC vom 22.1.1987 sowie 87–240 DC vom 19.1.1988; ferner zu beiden Verfassungsbestimmungen, ohne Feststellung eines Verstoßes, zur Hohen Behörde für die Verbreitung von Werken und zur Sicherung des Rechtsschutzes im Internet 2009-580 DC vom 10.6.2009, Rn. 33. In der Entscheidung 89–260 DC vom 28.7.1989 wird allerdings ein Aufsichtsrecht des zuständigen Ministers angesprochen (Rn. 31). Siehe ferner zu Art. 34 CF in diesem Kontext Teitgen-Coly (Fn. 14), S. 164 ff., zu Art 21 CF ebd., S. 170 ff. Zur Unzulässigkeit einer haushaltsrechtlichen Autonomie CC, 88–248 DC vom 17.1.1989, Rn. 4 f. und dazu Teitgen-Coly (Fn. 14), S. 241 f. 80 Dazu ausführlich etwa Teitgen-Coly (Fn. 14), S. 185 ff.; J.-D. Dreyfus, Die unabhängigen Regulierungsbehörden an der Schnittstelle des Verwaltungs-, Zivil- und Strafrechts, in: Masing/Marcou (Fn. 68), S. 301 (324 ff.); J.-Ph. Feldmann, Les „autorités administratives indépendantes“ sont-elles légitimes?, D. 2010, 2853 (2855). Hintergrund dürfte der Umstand sein, dass Art. 6 EMRK auch auf Verwaltungsunrecht Anwendung findet, aber an sich nicht nur eine gerichtliche Kontrolle von Sanktions77 78
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Art. 1 und 3 CF,81 aber auch Art. 20 CF82 zu messende grundsätzliche Zulässigkeit oder auch die Frage nach der in Art. 15 D 1789 und seit 2008, nicht zuletzt angesichts der zunehmenden Zahl unabhängiger Verwaltungsbehörden, auch in Art. 24 CF ausdrücklich normierten parlamentarische Kontrolle der Exekutive83 spielen kaum eine Rolle.84 In personeller Hinsicht bestehen Ernennungsrechte des Parlaments.85 Diese dürfen sogar an eine zustimmende Stellungnahme der betreffenden Behörde geknüpft werden.86 Grenzen hat der Verfassungsrat allerdings mit Hinweis auf das Gewaltenteilungsprinzip insoweit gezogen, als Ernennungsrechte anderer Stellen als der Vorsitzenden einer Parlamentskammer an eine Mitwirkung des Parlaments geknüpft werden sollten.87 In der Sache argumentiert der Verfassungsrat ähnlich wie das Bundesverfassungsgericht zur Selbstverwaltung. Er verweist auf die Begrenztheit der Befugnisse und betont die Bindung an die Gesetze einschließlich einer entsprechenden Kontrolle. entscheidungen fordert, sondern bereits die Primärentscheidung zur Verhängung von Sanktionen dem Richter vorbehält. Dieses, durch die Einbeziehung des Verwaltungsunrechts in den Anwendungsbereich von Art. 6 entstandene Problem hat der EGMR allerdings vor wenigen Jahren dadurch bewältigt, dass er eine richterliche Primärentscheidung nur für das eigentliche Strafrecht verlangt (EGMR, Urteil vom 27.9.2011 – 43509; Menarini/Italien). In Deutschland hat es zu dieser Frage nie eine größere Diskussion gegeben (Kommentare von Möllers, S. 293 (297) und Ruffert, S. 355, jeweils in: Masing/Marcou (Fn. 68)). Verfassungsrechtlich werfen die Sanktionsbefugnisse hingegen kein prinzipielles Problem auf; siehe CC, 89–260 DC vom 28.7.1989, Rn. 6 ; 96–378 DC vom 23.7.1996, Rn. 13 ff.; 2006-535 DC vom 30.3.2006, Rn. 50; anders aber früher 84–181 DC vom 11.10.1984, Rn. 80 ff. Zu im konkreten Fall unzulässigen Sanktionen siehe CC, 2009-580 DC vom 10.6.2009, Rn. 18. 81 Dazu Teitgen-Coly (Fn. 14), S. 160 ff. sowie 225 mit Hinweis auf die Souveränität und S. 221 ff. mit Hinweis auf die Demokratie; kritisch unter Hinweis auf das Demokratieprinzip Petot (Fn. 9 ), S. 664, doch wird hier ersichtlich nicht der Verfassungsbegriff fruchtbar gemacht. Einen intensiveren Rückgriff auf diesen etwa im Kontext der Übertragung von Hoheitsrechten (dazu unter IV.) regelmäßig genutzten Ansatz vermisst in der Verfassungsrechtsprechung Y. Vilain, Demokratische Legitimität und Verfassungsmäßigkeit unabhängiger Regulierungsbehörden, in: Masing/Marcou (Fn. 68), S. 9 (16), denn das Demokratieprinzip in Frankreich sei „blass“ (ebd., S. 13). 82 Dazu aber Teitgen-Coly (Fn. 14), S. 214 ff., speziell zum Zusammenhang mit der Demokratie S. 215, zur parlamentarischen Kontrolle S. 216; kritisch zur Übergehung der Norm S. 248 mit dem Hinweis, hierbei handele es sich um eine „formule générale sans portée juridique“. 83 Dazu und zur Praxis P. Dautry, Les autorités administratives indépendantes: un nouvel objet d’évaluation parlementaire, RFDA 2010, 884 ff.; ferner J.-L. Autin, Le devenir des autorités administratives indépendantes, RFDA 2010, S. 875 (883). Allgemein zur parlamentarischen Kontrolle nach der genannten Verfassungsänderung P. Türk, Le contrôle parlementaire en France, 2011; X. Magnon/R. Ghevontian/M. Stéfanini (Hrsg.), Pouvoir exécutif et Parlement – de nouveaux équilibres?, 2012. 84 Dazu aber Teitgen-Coly (Fn. 14), S. 218; kritisch J.-B. Auby, Droit administratif et démocratie, in: M. Lombard (Hrsg.), Régulation économique et démocratie, 2006, S. 13 (20); Feldmann (Fn. 80), S. 2854; Jacques Chevalier, Réflexions sur l’institution des autorités administratives indépendantes, La semaine juridique 1986, Doctrine, Nr. 3254 Rn. 19. 85 Siehe etwa zu Frankreich im Bereich der Telekommunikation zum siebenköpfigen Aufsichtsgremium der Behörde Art. L 130 Code des postes et des télécommunications électroniques (drei Mitglieder werden von der Regierung ernannt, je zwei von den Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern), zur mit je sieben Parlamentariern aus beiden Kammern sowie zur aus drei von der Regierung ernannten Mitgliedern bestehenden Höheren Kommission Art. L 125 dieses Code. Dazu G. Marcou, Verwaltung zwischen parlamentarischer Kontrolle und Partizipation Privater, EuGRZ 2006, S. 362 (368). Zu Ernennungsbefugnissen und parlamentarischer Einwirkung ferner Vilain (Fn. 81), S. 21; Teitgen-Coly (Fn. 14), S. 227, sowie EuGH, Rs. C-518/07 (Kommission/Deutschland), Slg. 2010, I-1885, Rn. 4 4. 86 CC, 2009-577 DC vom 3.3.2009, Rn. 9 (im Bereich der Rundfunkfreiheit). 87 CC, 2012-658 DC vom 13.12.2012, Rn. 39; 2015-718 DC vom 13.6.2015, Rn. 65 f.
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Diese Kontrolle müsse allerdings, wie der Conseil bemerkenswerterweise mit Hinweis auf deren parlamentarische Verantwortung unterstreicht, auch von der Regierung eingeleitet werden können.88 Unmittelbare Aufsichtsrechte der Regierung sind damit jedoch nicht gefordert. Wie der Verfassungsrat schon 1983 zur ersten Dezen tralisierungsgesetzgebung mit Blick auf die hinsichtlich der Gemeinden sogar ausdrücklich in der Verfassung verankerte Rechtsaufsicht durch die Präfekten (Art. 72 Abs. 6 CF) entschieden hat,89 wird der erwähnten Anforderung auch durch die Befugnis zur Anrufung der Verwaltungsgerichte ausreichend Rechnung getragen. Die vorgenannten deutsch-französischen Unterschiede spiegeln sich auch bei der Einschätzung einschlägiger unionsrechtlicher Vorgaben wider. Art. 28 der europäischen Datenschutzrichtlinie 95/46 gibt vor, dass die nationalen Datenschutzbehörden ihre Aufgaben „in völliger Unabhängigkeit“ wahrnehmen können müssten. Trotzdem hat die deutsche Gesetzgebung den zuständigen Ministerien in klassischer deutscher Tradition rechts-, zum Teil sogar fachaufsichtliche Befugnisse gegenüber den Datenschutzbeauftragten zugestanden. Dagegen ist die Europäische Kommission bekanntlich mit Erfolg vor dem EuGH vorgegangen.90 Vergeblich hatte Deutschland zur Rechtfertigung seiner Praxis auf das Demokratieprinzip hingewiesen. Dabei hatte die Bundesregierung allerdings nur Art. 2 EUV angeführt; in der Literatur ist sogar die Frage nach der Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland aufgeworfen worden.91 Demgegenüber schreiben französische Kommentatoren dazu: „Ohne große Schwierigkeiten hat der EuGH den unabhängigen Verwaltungsbehörden demokratische Qualität zuerkannt.“92 Dabei argumentiert der EuGH ebenso, wie dies in Frankreich akzeptiert ist: die Sicherung der Rechtsbindung sowie die Möglichkeit einer parlamentarischen Kontrolle sind unverzichtbar, können aber eben auch ohne Zwischenschaltung der Regierung realisiert werden.93 Eine Kontrolle der Rechtsbindung kann etwa über ein Recht der Regierung zur Anrufung von Gerichten realisiert werden. Das wäre zwar 88 CC, 86–217 DC vom 18.9.1986, Rn. 23; vgl. auch 86–224 DC vom 23.1.1987, Rn. 15; zustimmend Vilain (Fn. 81), S. 36; zum Rechtsschutz zustimmend Teitgen-Coly (Fn. 14), S. 229 f.; M. Collet, Contrôle juridictionnel des actes des Autorités administratives indépendantes, 2003, S. 310 ff. 89 CC, 82–137 DC vom 25.2.1982, Rn. 5 f., wenn auch mit der Einschränkung, dass eine Klage aufschiebende Wirkung haben müsse; zur Parallelität Teitgen-Coly (Fn. 14), S. 250. 90 Rs. C-518/07 (Kommission/Deutschland), Slg. 2010, I-1885. Zur Grundrechtsrelevanz dieser Unabhängigkeit Rn. 22 ff. 91 Vgl. H.-P. Bull, Die „völlig unabhängige“ Aufsichtsbehörde, EuZW 2010, 488 (489); W. Durner, Verfassungsbindung deutscher Europapolitik, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 5), Band X, 3. Aufl. 2012, § 216, Rn. 3, 19; zum Regulierungsrecht K.-F. Gärditz, Europäisches Regulierungsrecht auf Abwegen, AöR 135 (2010), 251 (283 ff.). Siehe aber auch BVerfGE 65, 1 (46) – Volkszählung [1983] mit Hinweis auf die Unabhängigkeit des nationalen Datenschutzbeauftragten; dazu noch bei Fn. 108. – In der Diskussion um die von der VO 2015/579 vorgegebene Unabhängigkeit der nationalen Statistikbehörden hatte Deutschland als einziger EU-Mitgliedstaat Kritik mit Hinweis auf das Demokratieprinzip vorgebracht; dazu M. Kröger/A. Pilniok, Verwaltungsorganisation unter Europäisierungsdruck, DÖV 2015, 917 (925). 92 M. Aubert/E. Broussy/F. Donat, Chronique de jurisprudence européenne, AJDA 2010, 937 (939); ähnlich Autin (Fn. 83), S. 878: „logique implacable“. 93 Zur parlamentarischen Kontrolle EuGH, Rs. C-518/07 (Kommission/Deutschland), Slg. 2010, I-1885, Rn. 41 ff., zur Gesetzesbindung Rn. 4 4. Zum Rechtsschutz später noch EuGH, Rs. C-362/14, Urteil vom 6.10.2015 (Maximilian Schrems), Rn. 64.
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aus der Perspektive des deutschen Individualrechtsschutzkonzepts gewöhnungsbedürftig,94 findet aber doch auch im deutschen Recht Vorbilder.95 Beim Vergleich der verfassungsrechtlichen Argumente erstaunt, dass unabhängige Verwaltungsbehörden in Frankreich als zulässig angesehen werden, obwohl Art. 20 CF der Regierung das Recht zur Gestaltung der Politik der Nation zugesteht, vor allem aber ihr die Verwaltung zuweist.96 Demgegenüber wird in Deutschland zur Sicherung demokratischer Legitimation eine Regierungsaufsicht gefordert, obwohl es an einer entsprechenden Bestimmung fehlt; der Schluss vom Erfordernis parlamentarischer Kontrolle auf die Notwendigkeit einer Verantwortung der Regierung wird kaum begründet.97 Der insoweit gelegentlich herangezogene Art. 65 GG führt dabei nicht weiter, denn er begründet zwar eine Zuständigkeit des Ministers in dessen Verantwortungsbereich, sagt aber zur Lage jenseits dessen Grenzen eben nichts aus.98 Vergleicht man die Diskussionen in der Sache, wird zur Verteidigung der Unabhängigkeit die klare Ausrichtung auf die sachgerechte Erfüllung der Aufgabe auf der Grundlage persönlicher Leistungsfähigkeit99 angeführt, wie sie für die europäische Verwaltung mittlerweile sogar ausdrücklich anerkannt ist (Art. 298 AEUV). Im deutschen Recht wie weltweit ist dieser Grundsatz ganz selbstverständlich zentrales Strukturprinzip im Bereich der Justiz.100 Einer Übertragung dieses Gedankens auf die Verwaltung wird zwar die strikte Ausrichtung der Justiz auf die Anwendung der Gesetze entgegengehalten.101 Diesem Argument sind jedoch die Offenheit vieler ge Kritisch daher Bull (Fn. 91), S. 490. Zu Beispielen Classen (Fn. 8 ), S. 56. 96 Dazu J. Masing, Kommentar, in: ders./Marcou (Fn. 68), S. 174. 97 Zur Rechtsprechung siehe die Nachweise in Fn. 70. Aus der Literatur speziell dazu aber Jestaedt (Fn. 7 ), S. 312 ff. Zu den Grenzen der Legitimationswirkung parlamentarischer Regierungskontrolle T. Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, 1999, S. 184 ff. Bemerkenswert: In BVerfGE 130, 76 (123) – Privatisierung Maßregelvollzug [2012] wird dieser Zusammenhang nicht mehr als zwingend angesehen, sondern nur allgemein von der Verantwortung für amtliches Handeln mit Entscheidungscharakter gegenüber dem Parlament gesprochen. Später (S. 125 ff.) wird allerdings die Bedeutung der Regierungsaufsicht hervorgehoben. 98 R. Wiedemann, Unabhängige Verwaltungsbehörden und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur demokratischen Legitimation, in: Masing/Marcou (Fn. 68), S. 39 (48); anders aber Jestaedt (Fn. 7 ), S. 317 ff.; Dreier, DB, VVDStRL 75 (2016), S. 280. 99 Dazu P. Rosanvallon, Demokratische Legitimität, 2010, S. 108 ff.; aus deutscher Sicht J. Masing, Unabhängige Behörden und ihr Aufgabenprofil, in: ders./Marcou (Fn. 68), S. 181 ff., passim; aus rechtsvergleichender Sicht András Sajo, Les autorités indépendantes, in: Troper/Chagnollaud (Fn. 16), Band 2 , 2012, S. 321 (343, 349, 352) mit Hinweis auf die Wirksamkeit der Aufgabenwahrnehmung. Ein Beispiel in Deutschland bildet die Auseinandersetzung um die Weisungsunterworfenheit des Bundeskartellamtes unter das Wirtschaftsministerium; dazu Masing, a.a.O., S. 190 ff. Die in Frankreich im Bereich der Wirtschaftsaufsicht wegen des starken staatlichen Engagements in der Wirtschaft so zen trale Sicherung der Neutralität der Intervention (Fn. 75) spielt in Deutschland keine Rolle, weil der Staatseinfluss auf die Wirtschaft generell geringer ist und sich zudem an der föderalen Vielfalt bricht; dazu Masing, a.a.O., S. 198. Aus deutscher Perspektive zu solchen Gründen Classen (Fn. 8 ), S. 54 ff.; speziell im Kontext des Jugendschutzes und der Medienfreiheit siehe auch BVerfGE 83, 130 (154) – Josephine Mutzenbacher [1990]; 135, 155 (227) – Filmförderung [2014]. 100 Masing (Fn. 99), S. 211; Classen (Fn. 8 ), S. 55 f.; Rosanvallon (Fn. 99), S. 118. Zur im hier relevanten Kontext bestehenden Nähe von Verwaltung und Rechtsprechung siehe aus französischer Sicht Lombard (Fn. 75), S. 146; aus deutscher Sicht Masing, Kommentar (Fn. 96), S. 176; Classen (Fn. 8 ), S. 19 ff. 101 So Jestaedt (Fn. 7 ), S. 295. 94 95
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setzlicher Normen, die in Deutschland sogar begrifflich spezifisch ausgeformte Befugnis zur Rechtsfortbildung102 und die der besonders intensiv in Rechte des Bürgers eingreifenden Strafjustiz eingeräumten Spielräume bei der Strafzumessung entgegenzuhalten. Und umgekehrt sind die Befugnisse der unabhängigen Behörden regelmäßig nicht auf umfassende Sozialgestaltung, sondern auf Verwirklichung eines spezifischen, regelmäßig gesetzlich definierten Ziels ausgerichtet mit der Folge, dass diese bei ihren Entscheidungen zwar über erhebliche Beurteilungsspielräume verfügen, aber nicht im eigentlichen Sinne über Ermessensbefugnisse. Allerdings ist auch in Deutschland die einschlägige Verfassungsrechtsprechung Wandlungen unterworfen. Ende der fünfziger Jahre ging es nur um „wesentliche Kompetenzen“, um Regierungsaufgaben von „politischer Tragweite“.103 Erst in der Amtszeit des auch als Wissenschaftler gerade in dieser Frage einflussreichen Verfassungsrichters E.-W. Böckenförde (1983–1996) wurde das Konzept vom Zweiten Senat des BVerfG als grundsätzlich verpflichtend angesehen.104 In jüngeren Entscheidungen ist das Gericht dann wieder flexibler. Das gilt zunächst für den Wasserverbandsbeschluss aus dem Jahre 2002,105 vor allem aber die Entscheidung zur unabhängig gestellten Filmförderungsanstalt aus dem Jahre 2014. Letztere hat das BVerfG allein mit dem Hinweis für zulässig erklärt, dass eine „nicht Einzelinteressen begünstigende, sondern gemeinwohlorientierte und von Gleichachtung der Betroffenen geprägte Aufgabenwahrnehmung“ ermöglicht und gewährleistet wird;106 ohne Fallrelevanz hat es allerdings ein gutes Jahr später wieder „die grundsätzliche Weisungsgebundenheit der Verwaltung gegenüber der Regierung“ betont.107 Und der erste Senat hat ohnehin regelmäßig andere Akzente gesetzt und etwa im Kontext des Grundrechtsschutzes die Bedeutung eines unabhängigen Datenschutzbeauftragten108 und der Unabhängigkeit der Bundesprüfstelle in Sachen Jugendschutz109 hervorgehoben, also unabhängige Verwaltungsstellen nicht nur hingenommen, sondern sogar – ohne Erwähnung der Judikatur des Zweiten Senats – gefordert. Fazit: Die französische Praxis und die Judikatur des EuGH zeigen: Wenn nach (ggf. auch korrigierbarer110 ) Einschätzung des nationalen – oder auch des europäi102 Ausdrücklich anerkannt in §§ 132 Abs. 4 GVG, 511 Abs. 4 Nr. 2 sowie 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, 45 Abs. 4 ArbGG, 11 Abs. 4 VwGO, 11 Abs. 4 FGO, 41 Abs. 4 SGG; ferner dazu BVerfGE 34, 269 (287 f.) – Soraya [1973]; 49, 304 (318) – Sachverständigenhaftung [1978]; 65, 182 (190) – Sozialplanabfindung im Konkurs [1983]; 111, 54 (82) – Rechnungslegung von Parteien [2004]; zum Europarecht BVerfGE 75, 223 (242) – Kloppenburg [1987]. In Frankreich wird diese als Sonderform der Auslegung begriffen („interprétation neutralisante“, „interprétation constructive“ etc.). 103 BVerfGE 9, 268 (280, 282) – Bremer Personalvertretung [1959]. 104 Siehe die ersten beiden in Fn. 7 genannten Entscheidungen sowie zur wissenschaftlichen Position Böckenfördes die Nachweise ebd. 105 BVerfGE 107, 59 (87 ff.). 106 BVerfGE 135, 155 (223) – Filmabgabe [2014]. 107 BVerfGE 139, 321 (363) – Zweitanerkennung der Zeugen Jehovas als Körperschaft des öffentlichen Rechts [2015]. 108 BVerfGE 65, 1 (46) – Volkszählung [1983]; zur Problematik bereits bei Fn. 9 0 ff. 109 BVerfGE 83, 130 (154, zur Zulässigkeit 149 ff.) – Josephine Mutzenbacher [1990]. 110 So wurde in Frankreich die 2004 geschaffene Antidiskriminierungsbehörde HALDE 2011 wieder abgeschafft; ihre Aufgaben wurden auf den „Défenseur des droits“ übergeleitet. Allgemein zur Korrigierbarkeit Lombard (Fn. 75), S. 166.
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schen – Gesetzgebers111 eine bestimmte Aufgabe am überzeugendsten über weisungsfrei gestellte Behörden verwirklicht wird, ist das auch in einer parlamentarischen Demokratie verfassungsrechtlich nicht zu bestanden, solange die Gerichte die Beachtung der gesetzlichen Vorgaben kontrollieren können, eine Rechenschaftspflicht gegenüber dem Parlament besteht und auch personell ein Einfluss demokratisch legitimierter Instanzen gewährleistet wird. Die in Deutschland angenommenen Grundprämissen demokratischer Legitimation werden dadurch nicht beeinträchtigt. Dem Parlament kann also deutlich mehr Spielraum bei der Ausgestaltung demokratischer Legitimation – nicht beim Verzicht auf dieselbe112 – zugestanden werden, als dies in Deutschland gemeinhin angenommen wird.113 Ob und inwieweit man dann von dieser Option Gebrauch machen sollte, ist eine andere, politisch zu diskutierende Frage; die in der Folge bestehende Notwendigkeit parlamentarischer Kontrolle vieler Institutionen – und nicht nur einer Ministerialverwaltung – kann sich auch als problematisch erweisen.
b) Sonstige Legitimationsfragen Unabhängige Behörden stellen nicht das einzige Problem dar, das zur Überprüfung verwaltungsorganisatorischer Entscheidung am Maßstab von Demokratie- bzw. Souveränitätsprinzip geführt hat. So wurde in Deutschland die Legitimation des formell privatisierten (hessischen) Strafvollzugs am Funktionsvorbehalt nach Art. 33 Abs. 4 GG sowie an Art. 20 Abs. 2 GG gemessen.114 Im Ergebnis wurde kein Verstoß angenommen – mit Blick auf Art. 33 Abs. 4 GG, weil insoweit eine zulässige Ausnahme gemacht worden sei. Mit Blick auf Art. 20 Abs. 2 GG war, da es nur um eine Organisationsprivatisierung ging, die personelle Legitimation ohnehin gewährleistet. Im Übrigen hat das Gericht die Notwendigkeit parlamentarischer Kontrolle und wirksamer Regierungsaufsicht unterstrichen.115 Ganz ähnlich hat der CC im Kontext von Privatisierungen Art. 3 CF in einer dem erwähnten deutschen Funktionsvorbehalt entsprechenden Weise fruchtbar gemacht. Dabei ließ der Verfassungsrat für die insoweit relevanten Aufgaben im Sicherheitsbereich – er sprach von „missions de souveraineté“ – keine Ausnahme erkennen. Da diese aber ohnehin dem Staat vorbehalten blieben, bestand insoweit kein verfassungsrechtliches Problem.116 Lombard (Fn. 75), S. 145 ff., 166; Teitgen-Coly (Fn. 14), S. 155. Zur Rolle gerade des französischen Parlaments bei der Schaffung solcher Behörden Autin (Fn. 77), S. 875. Europäische Vorgaben können allerdings dazu führen, dass die Tätigkeit unabhängiger Behörden auch dem Zugriff des nationalen Gesetzgebers entzogen ist; dazu EuGH, Rs. C-424/07 (Kommission/Deutschland), Slg. 2009, I-11431, Rn. 78 f.; dazu J. Ziller, Les autorités administratives indépendantes entre droit interne et droit de l’Union européenne, RFDA 2010, 901 ff.; kritisch K.-F. Gärditz, Anmerkung, JZ 2010, 198 ff. 112 Zu dessen Unzulässigkeit Jestaedt (Fn. 7 ), S. 350 ff. gegen E. Klein, Die verfassungsrechtliche Problematik des ministerialfreien Raumes, 1974, S. 190 ff. 113 So auch schon früher zum deutschen Recht Groß (Fn. 97), S. 194 ff., aber vor allem 233 ff.; Classen (Fn. 8 ), S. 42 ff. 114 BVerfGE 130, 76 – Privatisierung Maßregelvollzug [2012]. 115 BVerfGE 130, 76 (123 ff.) – Privatisierung Maßregelvollzug [2012]. 116 CC, 2002-461 DC vom 29.8.2002, Rn. 8 und 87; 2003-484 DC vom 20.11.2003, Rn. 89; 2012651 DC vom 22.3.2012, Rn. 6 ; weiterhin 2011-625 DC vom 10.3.2011, Rn. 17 ff. im Kontext der Ko111
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Und schließlich hat der Verfassungsrat sogar einmal die personelle Legitimation einer Stelle der Verwaltung mit Blick auf Art. 3 CF darauf hin überprüft, ob die Ausübung der „wesentlichen Befugnisse der Ausübung der staatlichen Souveränität“ beeinträchtigt seien. Diese betrifft das früher für die Flüchtlingsanerkennung zuständige Gericht, die sog. „commission des réfugiés“, 2007 ersetzt durch die Cour nationale du droit d’asile, und damit ein besonderes Verwaltungsgericht, dessen Entscheidungen der Revision durch den Conseil d’État unterliegen. Die Entscheidung ist hier, also nicht erst im Kontext der Gerichtsbarkeit anzusprechen, denn nach dem „französischen Verständnis von Gewaltenteilung“ ist die Verwaltungsgerichtsbarkeit Teil der Verwaltung, nicht der Justiz.117 Von den drei Richtern dieses Gerichts wird nun – damals wie heute – einer vom Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen bestellt. Bei seiner Schaffung 1952 war dieses Gericht nur für Anträge auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention zuständig. Die verfassungsgerichtliche Überprüfung erfolgte aus Anlass der 1998 beschlossenen Ausweitung der Zuständigkeit dieses Gerichts auf Anträge auf Zuerkennung des Asylrechts nach französischem Verfassungsrecht. Der Verfassungsrat hielt die Regelung für zulässig. Zwar stelle die Mitwirkung eines international legitimierten Richters grundsätzlich ein Problem dar. Sie beschränke sich jedoch vorliegend auf ein Drittel. Zudem bestünden besondere sachliche Gründe für diese Regelung. Ursprünglich habe diese der gerichtlichen Kontrolle einer von Frankreich übernommenen internationalen Verpflichtung gedient, konkret aus der Genfer Konvention. Die Erstreckung der Zuständigkeit dieses Gerichts auch auf nach rein nationalem Recht zu beurteilende Asylanträge sei angesichts des Sachzusammenhangs dieser beiden Instrumente zur ordnungsgemäßen Verwaltung der Gerichtsbarkeit gleichfalls angemessen. Ausschlaggebend für die Zulässigkeit der Regelung sind also ihre begrenzte Bedeutung und ihre besonderen Rahmenbedingungen.118 Dass sich der Verfassungsrat zu dieser Prüfung entschlossen hat, war aber wohl entscheidend dem Umstand zu verdanken, dass hier eine ausländische Stelle tätig wurde. Mit anderen Worten: Es ging nicht um die Wahrung der inneren, sondern der äußeren Souveränität;119 darauf ist zurückzukommen.
difizierung von Rechtstexten. Siehe ferner Haquet (Fn. 14) zu Grenzen der Dezentralisierung (S. 142 ff.), doch greift dieser nur Argumente auf, die im politischen Raum diskutiert wurden wie Justiz, Verteidigung, Währung, Grundrechtssicherung und Außenbeziehungen (zu Neukaledonien siehe S. 107, 151; ferner in anderen Zusammenhängen zu ähnlichen Fragen S. 154), lehnt solche Grenzen aber ausgehend von der These, dass das Konzept der Souveränität ein Ende findet, wo die nationale Rechtsordnung anfängt (S. 142), selbst ab. Die jeweils einschlägige Verfassungsrechtsprechung (82–137 DC vom 25.2.1982 zur allgemeinen Dezentralisierung sowie 85–196 DC vom 8.8.1985 zu Neukaledonien) enthält insoweit keine Aussage. Das mag allerdings auch daran liegen, dass die konkreten Gesetze bereits ausreichende Vorbehalte enthielten. Ähnlich Verpeaux (Fn. 12), Rn. 10; Hamon/Troper (Fn. 9 ), Rn. 493 ff. 117 CC, 86–224 DC vom 23.1.1987, Rn. 15. 118 CC, 98–399 DC vom 5.5.1998, Rn. 14 ff. Siehe ferner zur Besetzung öffentlicher Ämter durch Unionsbürger 91–293 DC vom 23.7.1991, Rn. 9 ff. 119 Siehe den amtlichen Kommentar zur Entscheidung, Cahiers du Conseil constitutionnel, Nr. 5 (1998), S. 15 (16).
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2. Zur Legitimation von Justiz und Justizverwaltung Angesicht der Probleme der Deutschen mit unabhängigen Verwaltungsbehörden verwundert es nicht, dass es auch im Kontext der Justiz unterschiedliche Zugänge zum Thema demokratische Legitimation gibt. Die insoweit zentrale Gesetzesbindung wird bekanntlich durch die bereits erwähnte, formal in Deutschland als solche gesondert ausgewiesene, in der Sache aber auch in Frankreich anerkannte Befugnis zur Rechtsfortbildung relativiert; diese aber wirft eben nicht nur Methoden-, sondern zentral auch Zuständigkeits- und damit Legitimationsfragen auf.120 Damit ist von grundlegender Bedeutung, wer konkret über Auslegung und Anwendung der Gesetze entscheidet, mit anderen Worten: der personellen Legitimation kommt gleichfalls eine wichtige Rolle zu. Das Statusrecht der hierfür zuständigen Personen, der Richter, unterliegt dies- wie jenseits des Rheins strikten Grenzen: Einstellung und Beförderung werden durch das verfassungsmäßig vorgegebene Leistungsprinzip bestimmt (Art. 33 Abs. 2 GG sowie Art. 6 D 1789). Außerdem werden Richter durch die rechtsstaatlichen Garantien der Unabhängigkeit und der Unversetzbarkeit (Art. 97 Abs. 1 und 2 GG sowie Art. 64 Abs. 1 und 4 CF) geschützt. Umso wichtiger ist, wer über den Zugang zu Richterstellen – bei der Ersteinstellung ebenso wie bei Beförderungen – entscheidet. Hier gibt es ähnliche Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich, wie sie soeben für die Verwaltung als solche dargestellt wurden. Der Verweis auf das vorgegebene Leistungsprinzip macht die Frage nicht überflüssig,121 stellt sich doch die zentrale Frage, wer über die Leistungskriterien und ihre Anwendung – nicht zuletzt bei im Vorfeld von Beförderungen zentralen Beurteilungen – entscheidet.122 In Deutschland spielt an dieser Stelle der Justizminister eine zentrale Rolle. Zwar sieht das Grundgesetz optional für die Landes- und obligatorisch für die Bundesebene Richterwahlausschüsse vor (für erstere Art. 98 Abs. 4 GG, für letztere Art. 95 Abs. 2 GG). Verbreitet wird jedoch angenommen, dass diesen nur begrenzte Kompetenzen zustehen dürfen, da von Verfassungs wegen die Personalverwaltung in der Hand des parlamentarisch verantwortlichen Ministers liegen müsse.123 Außerdem wird mit noch größerer Anerkennung angenommen, dass auch ein solcher Richterwahlausschuss eine demokratische Legitimation besitzen müsse. Konkret heißt dies, dass er zumindest mehrheitlich parlamentarisch legitimiert, also gewählt sein muss.124 Dies ist rechtsvergleichend insofern bemerkenswert, weil Deutschland mit den sich 120 C. D. Classen, Gesetzesvorbehalt und Dritte Gewalt. Zur demokratischen Legitimation der Rechtsprechung, JZ 2003, S. 693 ff.; G. Hermes, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), 115 (137 ff.); C. Hillgruber, „Neue Methodik“ – Ein Beitrag zur Geschichte der richterlichen Rechtsfortbildung, JZ 2008, S. 745 ff. 121 Tendenziell in diesem Sinne aber Petot (Fn. 9 ), S. 666; ähnlich Teitgen-Coly (Fn. 14), S. 225; F. Hourquebie, L’émergence du contre-pouvoir juridictionnel, 2004, S. 355 ff., 496 ff.; J. Krynen, Position du problème et actualités de la question, in: ders./J. Raibant (Hrsg.), La légitimité du juge, 2003, S. 19 (24). 122 Siehe auch A. v. Bogdandy/C. Krenn, Zur demokratischen Legitimation von Europas Richtern, JZ 2014, 529 (530 ff.). 123 D. Ehlers, Verfassungsfragen der Richterwahl, 1998, S. 35; kritisch C. D. Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, III, 6. Aufl. 2010, Art. 98 Rn. 13 f. 124 Zur Diskussion etwa Böckenförde, Demokratie (Fn. 7 ), Rn. 17 ff.
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daraus ergebenden Grenzen richterlicher Selbstverwaltung im Rechtsvergleich recht isoliert dasteht. Richterliche Selbstverwaltung hat nicht nur, worauf noch einzugehen ist, in Südeuropa eine große Tradition. Auch in Osteuropa hat sie sich nach der Wende schnell etabliert, und nördliche Staaten Europas wie Großbritannien und Dänemark haben diese in den letzten Jahren ebenfalls aufgebaut.125 Der Europarat fordert ebenfalls in verschiedenen Zusammenhängen eine Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz durch Elemente der Selbstverwaltung.126 In Frankreich gibt es nun eine solche, wenn auch zunächst nur begrenzte richterliche Selbstverwaltung in der Form des Conseil supérieur de la magistrature (CSM). Dieser wurde 1883 geschaffen, 1946 erstmals mit der Befugnis zur Mitwirkung bei der Personalauswahl der Justiz betraut127 und zugleich in der Verfassung verankert und dann in veränderter Form 1958 in der Verfassung fortgeführt. Nach dem damals geschaffenen Modell wurde er vom Staatspräsidenten geleitet und bestand nach der einfachgesetzlichen Konkretisierung im Übrigen aus von diesem auf der Grundlage von Vorschlägen aus der Justiz ernannten richterlichen Mitgliedern.128 1993 und vor allem 2008 wurde der CSM in seiner Zusammensetzung und auch in seinen Aufgaben deutlich reformiert. Heute gibt es zwei Abteilungen, eine für Richter und eine für Staatsanwälte, wobei hier nur erstere erwähnt wird, weil letztere nur spiegelbildlich zu ersterer zusammengesetzt ist. Die Abteilung für Richter besteht aus dem Präsidenten der Cour de cassation als Vorsitzendem, fünf weiteren Richtern, einem Staatsanwalt, einem Mitglied des Conseil d‘État sowie sechs externen Personen, von denen jeweils zwei vom Staatspräsidenten, vom Präsidenten der Nationalversammlung und vom Präsidenten des Senats ernannt werden. Bei diesen Ernennungen hat der zuständige Parlamentsausschuss ein mit 3/5-Mehrheit auszuübendes Vetorecht gemäß Art. 13 Abs. 5 CF. Dieser CSM macht Vorschläge für die höchsten Richterpositionen; im Übrigen sind Richterernennungen mit seiner Zustimmung vorzunehmen.129 Im Bereich der Staatsanwaltschaft hat er nur ein Recht zur Stellungnahme. Bei der Analyse und Bewertung ist es bemerkenswert, dass der Verfassungsrat bei der obligatorischen Prüfung der entsprechenden verfassungsausführenden Gesetze („lois organiques“) als verfassungsrechtlichen Maßstab für die Ausgestaltung des CSM die Gewaltenteilung und die Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit benannt,130 aber keine Frage nach Demokratie, Souveränität oder Ähnlichem aufgeworfen hat.131 Soweit in französischen Darstellungen die Zusammensetzung proble125 Knapper Überblick bei C. D. Classen, Nationales Verfassungsrecht in der Europäischen Union, 2013, Rn. 659 ff. 126 Dazu etwa M. Minkner, Die Gerichtsverwaltung in Deutschland und Italien, 2015, S. 32 ff. 127 Zunächst war er nur für Disziplinarfragen zuständig. Heute bilden Richterauswahl und -karriere den Schwerpunkt der Tätigkeit; dazu etwa M. Le Pogam, Le Conseil de la magistrature, 2014, Rn. 10, 87. 128 Siehe zu Einzelheiten Art. 1 der ordonnance 58–1271 vom 22.12.1958 „portant loi organique sur le Conseil Supérieur de la magistrature“. 129 Näher Le Pogam (Fn. 127), Rn. 98 ff. 130 CC, 2010-611 DC vom 19.7.2010, Rn. 2bis 4 sowie 12; siehe ferner 93–337 DC vom 27.1.1994, Rn. 6 und 8 sowie jüngst 2016-732 DC vom 28.7.2016, wo nur die Integrität der Richter (Rn. 49) und deren Unabhängigkeit (Rn. 73 f.) thematisiert werden. 131 Angedeutet wird dieses Problem jedoch bei Teitgen-Coly (Fn. 14), S. 225.
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matisiert wird, wird hervorgehoben, dass sich die richterlichen Mitglieder in der Minderheit befinden. Die aus deutscher Perspektive zentrale Frage, wer für die Ernennung der Mitglieder verantwortlich ist, wird dagegen nur am Rande angesprochen und nicht näher problematisiert.132 Zu erwähnen ist noch, dass sich die Zuständigkeit des CSM nur auf die ordentliche Gerichtsbarkeit erstreckt. Die davon strikt getrennt zu sehende Verwaltungsgerichtsbarkeit folgt eigenen Regeln. Für die Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte gibt es einen eigenen Conseil supérieur des tribunaux administratif.133 Beim Conseil d’État erfolgen Neueinstellungen nach einem Wettbewerb, und für Beförderungen innerhalb desselben ist der Justizminister zuständig (Art. L 133 ff. CJA). Die Frage, wie sich diese Struktur zum verfassungsrechtlichen Demokratieprinzip verhält, hat angesichts deren ausdrücklicher Verankerung in der Verfassung sicher nur einen begrenzten Wert134 und wird deswegen auch kaum diskutiert.135 Immerhin hat es in Italien, wo es eine ähnliche, noch stärker ausgebaute richterliche Selbstverwaltung gibt, mit einem Richterrat, der zu 2/3 aus Richtern und zu 1/3 aus vom Parlament gewählten Juristen besteht (Art. 104 der italienischen Verfassung), trotzdem eine intensive Diskussion gegeben.136 Konkret wird dort zentral auf die Aspekte der institutionellen Legitimation durch die Verfassung sowie auf die sachliche Legitimation durch die Gesetzesbindung der Richter hingewiesen. Diese ist in Italien sogar stärker ausgeprägt als in Deutschland, weil es dort auch das Instrument der – im Regelfall zulässigerweise rückwirkenden – gesetzesinterpretierenden Gesetze gibt,137 denen das Bundesverfassungsgericht in Deutschland gerade wohl zu weitgehende Schranken gesetzt hat.138 Zugleich kennt, soweit ersichtlich, die Fähigkeit zur Entwicklung und Handhabung klarer Leistungskriterien, wie sie im Kontext gerade von Beförderungsentscheidungen zentral sind, in der selbstverwalteten italienischen Justiz offenbar deutliche Grenzen.139 Rechtsvergleichend ist noch zu erwähnen, dass in etlichen Staaten das entsprechende Selbstverwaltungsgremium seine Legitimation mehrheitlich aus der Politik empfängt.140 Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass die 132 Siehe Villiers/Renoux/Magnon (Fn. 13), Art. 65 Anm. 2 ; R. Perrot, Institutions judiciaires, 15. Aufl. 2012, Rn. 51; S. Guinchard/A. Varinard/T. Debard, Institutions juridictionnelles, 13. Aufl. 2015, Rn. 130 ff.; Le Pogam (Fn. 127), Rn. 91, 171 ff.; vgl. auch T. Renoux (Hrsg.), Les Conseils supérieurs de la magistrature en Europe, 1999. 133 Gesetz 86–14 vom 6.1.1986. 134 So auch Teitgen-Coly (Fn. 14), S. 225; Hourquebie (Fn. 121), S. 355. 135 Siehe aber A. Garapon, Les juges – un pouvoir irresponsable?, 2003 sowie bei Fn. 142 ff. Keine Problematisierung etwa bei C. Guaneri, La configuration institutionnelle du pouvoir judiciare, in: Troper/Chagnollaud (Fn. 16), Band 2 , 2012, S. 287 ff. 136 Nachgewiesen bei Minkner (Fn. 126), S. 4 42 ff. Eine Problematisierung zu Portugal findet sich bei M. Miranda, in: Renoux (Fn. 132), S. 33 (S. 35: Der CSM als Brücke zwischen Volk und Richter), ferner ders., S. 64 zur Frage der demokratischen Legitimation. 137 Dazu Minkner (Fn. 126), S. 460 ff. 138 BVerfGE 135, 1 ff. – KAGG [2013] mit überzeugendem Sondervotum Masing; siehe ferner zur Kritik O. Lepsius, Zur Neubegründung des Rückwirkungsverbots aus der Gewaltenteilung, JZ 2014, 488 ff. sowie dens., Brauchen wir einen Schutz des abstrakten Vertrauens in die Geltung der Gesetze? JZ 2015, 435 ff.; dazu ferner L. Michael, Das Verbot echter Rückwirkung als Schutz des abstrakten Vertrauens in die Geltung von Gesetzen und eines Kernbereichs der Judikative, JZ 2015, 425 ff. 139 Dazu Minkner (Fn. 126), S. 605 ff., 729 ff. 140 Einzelnachweise bei Classen (Fn. 125), Rn. 659 mit Fn. 53.
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Diskussionen um die Haftung und das Disziplinarrecht der Richter in Italien – und auch in Frankreich – eine deutlich größere Rolle spielen als in Deutschland.141 Nun kann man mit Blick auf Frankreich die Frage nach dem notwendigen Ausmaß der demokratischen Legitimation der Justiz stellen, stellt die Rechtsprechung nach der Verfassung der französischen Republik doch kein „pouvoir“, keine Gewalt, sondern nur eine „autorité“, eine Autorität dar.142 Zu Recht hat der Verfassungsrat aber in seiner bereits erwähnten Entscheidung zum flüchtlingsrechtlichen Verwaltungsgericht deutlich betont, dass auch die Ausübung richterlicher Befugnisse zur Souveränität im Sinne von Art. 3 CF gehöre.143 Es wird sogar über die Legitimität des Richters in einer Demokratie diskutiert. Im Mittelpunkt stehen dann aber eine Direktwahl des CSM144 oder gar der Richter, wie sie bei Jurys ja verwirklicht ist.145 Manche Stimmen betonen auch schlicht gerade mit Blick auf die Demokratie die Notwendigkeit der Sicherung eines Gegengewichts146 und die Legitimation durch Verfahren147. Die Tatsache, dass – anders im Übrigen als in Italien – die Exekutive, also Staatspräsident bzw. Justizminister, in jedem Fall richterlicher Personalpolitik mit eigener Entscheidungsgewalt beteiligt ist148 und damit auch aus deutscher Sicht an sich demokratische Legitimation gesichert ist, wird praktisch gar nicht erwähnt.149 Umgekehrt sei zur deutschen Diskussion angemerkt, dass nach hier vertretener Ansicht eine zentrale Rolle des Justizministers verzichtbar ist, wenn stattdessen die für die Personalpolitik zuständige Stelle, etwa auch ein Richterwahlausschuss, parlamentarisch hinreichend legitimiert ist.150 Und zum Legitimationsniveau sei schließ Siehe zu Italien Minkner (Fn. 126), S. 473 ff.; zu Frankreich Hourquebie (Fn. 121), S. 524 ff.; Le Pogam (Fn. 127), Rn. 11 ff. In Deutschland gibt es ein außer im Fall der Untätigkeit eine Haftung nahezu ausschließendes, im Rechtsvergleich ausgesprochen stark begrenzend wirkendes Spruchrichterprivileg nach § 839 Abs. 2 BGB, dessen Legitimation umstritten ist: Geht es um Schutz der richterlichen Unabhängigkeit (so BGHZ 187, 286 Rn. 11 ff.) oder der Rechtskraft (so überzeugend BVerfG, Beschluss vom 22.8.2013, 1 BvR 1067/13, Rn. 36; F. Ossenbühl/M. Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Aufl. 2013, S. 102)? 142 Zur Diskussion Guinchard u.a. (Fn. 132), Rn. 137 ff.; Hourquebie (Fn. 121), S. 21 ff. 143 Fn. 118, Rn. 15. Anders aber Hourquebie (Fn. 121), S. 25. 144 Keine Problematisierung der demokratischen Legitimation auch bei C. Guaneri, La configuration institutionnelle du pouvoir judiciare, in: Troper/Chagnollaud (Fn. 16), Band 2 , 2012, S. 287 ff. 145 Siehe zur Diskussion Hourquebie (Fn. 121), S. 355 ff.; J.-M. Varaut, Faut-il avoir peur des juges?, 2000, S. 86 ff.; J. F. Burgelin/P. Lombard, Le procès de la justice, 2003, S. 140 ff. Zur Wahl von Laienrichtern J. Pourmarède, Faut-il élire les juges?, in: Krynen/Raibant (Fn. 121), S. 213 ff.; zu Jurys G. Roujou de Goubée, De la légitimité des jurys de Cour d’assises, ebd., S. 37 ff.; J.-P. Pech, La legitimité de jury de Cour d’assises, ebd., S. 41 ff. Eine Wahl aller Richter war sogar in der Verfassung von 1791 vorgesehen (Kap. 5 Art. 2 ). Dazu Rosanvallon (Fn. 99), S. 192 ff.; J. Krynen (Hrsg.), L’élection des juges, 1999. 146 Hourquebie (Fn. 121), insbes. S. 48 ff., 89 ff., vgl. auch S. 415 ff. zur demokratischen Notwendigkeit der Unabhängigkeit. 147 Hourquebie (Fn. 121), S. 474 ff.; zur Transparenz ebd., S. 489 ff. Zu Deutschland K. Rennert, Legitimation und Legitimität des Richters, JZ 2015, 529 (532 ff.); K. F. Gärditz, Funktionswandel der Verwaltungsgerichtsbarkeit unter dem Einfluss des Europarechts?, DJT-Gutachten, 2016, S. D 33 ff. 148 Nach Angaben von Le Pogam (Fn. 127), Rn. 245, werden nur 2–3 % der Vorschläge des Justizministers vom CSM abgelehnt, und insoweit gibt es auch noch eine verwaltungsrichterliche Kontrolle: CE, 346569 vom 29.10.2013. 149 Siehe zwar den Hinweis von J.-P. Théron, De la légitimité du juge administratif, in: Krynen/ Raibant (Fn. 121), S. 97, auf seine Ernennung durch den zuständigen Minister, doch ging es hier um die früher allein vom Innenministerium verwaltete Verwaltungsgerichtsbarkeit. 150 Dazu näher C. D. Classen, Richterliche Selbstverwaltung, in: Betrifft Justiz 2008, 333 ff. 141
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lich noch erwähnt, dass angesichts der von deutschen zivilrechtlichen Kollegen gemachten Beobachtung, dass man sich in Frankreich im Umgang mit Generalklauseln manchmal schwerer tut als in Deutschland,151 der Gesetzesbindung vielleicht in Frankreich tatsächlich eine stärkere Bedeutung bei der Legitimation von Richtern zukommt als in Deutschland.
IV. Europäische Integration und demokratische Legitimation Abschließend sind die Konsequenzen anzusprechen, die sich aus dem Demokratieprinzip für die europäische Integration ergeben. Beide Verfassungsgerichte leiten aus diesem Grundsatz bzw. der Souveränität der Nation insoweit Vorgaben und Schranken ab.152 Dabei wird zunächst niemanden überraschen, dass zwar beide die Verfassungsidentität als Grenze des Vorrangs benennen, in Frankreich dieses Stichwort aber nie konkretisiert wurde oder gar zu praktischen Konsequenzen geführt hat.153 Demgegenüber ist für Deutschland in beiden Fällen das Gegenteil zu beobachten: Nach entsprechenden allgemeinen Andeutungen im Maastricht-Urteil154 hat das BVerfG im Lissabon-Urteil mit Hinweis auf das Demokratieprinzip detailreiche Konkretisierungen vorgenommen,155 die allerdings im OMT-Endurteil nur teilweise aufgegriffen wurden,156 und unabhängig von der sogleich anzusprechenden Rückkoppelung europäischer Entscheidungen später daraus praktische Konsequenzen vor allem mit Blick auf das Strafprozessrecht gezogen.157 Immerhin fragen beide Gerichte im Ansatz übereinstimmend nach der soeben schon erwähnten Rückkoppelung der europäischen Entscheidungen. Unterschiede zeigen sich dann aber bei der Frage, ob neben dem äußeren Aspekt der Souveränität auch, wie an sich der französische Verfassungstext nahelegt,158 der innere Aspekt gesehen wird.159 Im Einzelnen ist zudem zwischen den Konsequenzen für die institutionelle Struktur Europas und dem Schutz des nationalen Verfassungs151 H.-J. Sonnenberger, Treu und Glauben – ein supranationaler Grundsatz?, in: FS Odersky, 1996, S. 703 ff.; P. Jung, Die Generalklausel im deutschen und französischen Vertragsrecht, in: C. Baldus/ P.-C. Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht, 2006, S. 37 ff. 152 Zentral für Deutschland BVerfGE 89, 155 (182 ff.) – Vertrag von Maastricht [1993]; 123, 267 (339 ff.) – Vertrag von Lissabon [2009], für Frankreich CC, 92–308 DC vom 9.4.1992, Rn. 13 f. Siehe ferner zur Übertragung von Hoheitsrechten auf ausländische juristische Personen CC, 94–358 DC vom 26.1.1995, Rn. 52; zur Rechtshilfe BVerfGE 63, 343 (zum Steuerrecht) sowie CC, 80–116 DC vom 17.7.1980, Rn. 4 (zum Strafrecht). Rechtsvergleichend zur Parallelität von Demokratie und Souveränität in diesem Kontext P. M. Huber, Vergleich, in: v. Bogdandy u.a. (Fn. 2 ), Band 2 , 2008, § 26 Rn. 4 0 ff. 153 CC, 2006-543 DC vom 30.11.2006, Rn. 6 ; 2015-727 DC vom 21.1.2016, Rn. 5. 154 BVerfGE 89, 155 (186) – Vertrag von Maastricht [1993]. 155 BVerfGE 123, 267 (340 ff., 360 ff.) – Vertrag von Lissabon [2009]. 156 BVerfG, Urteil vom 21.6.2016, 2 BvR 2728/13 u.a., Rn. 134 mit Hinweis allein auf Wehr- und Budgetrecht. 157 BVerfG, Beschluss vom 15.12.2015, 2 BvR 2735/14 – Europäischer Haftbefehl II; vom 6.5.2016 (e.A.), 2 BvR 890/16 – Europäischer Haftbefehl III. 158 Dazu M. Fromont, Souveränität und Europa: Ein Vergleich der deutschen und französischen Verfassungsrechtsprechung, DÖV 2012, S. 457. 159 Zur Unterscheidung für Frankreich Carré de Malberg (Fn. 9 ), S. 70 f.; Hauriou (Fn. 9 ), S. 117; für Deutschland A. Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 7 ), § 17 Rn. 23 ff. Zur Notwendigkeit der äußeren für die innere Souveränität siehe Grimm (Fn. 16), S. 592.
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systems zu differenzieren. Im Ausgangspunkt betont das BVerfG in seinem Maastricht-Urteil, dass „eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflussnahme auch innerhalb eines Staatenverbundes gesichert“ sein müsse.160 Zugleich unterstreicht es die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Europäischen Parlaments und fordert deswegen eine angemessene Rückbindung europäischer Entscheidungen an das nationale Parlament.161 Der Bürger soll davor geschützt werden, „dass die durch die Wahl bewirkte Legitimation von Staatsgewalt und die Einflussnahme auf deren Ausübung durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Deutschen Bundestages auf die europäische Ebene so entleert wird, dass das Demokratieprinzip verletzt wird.“162 Zugleich soll der Bundestag darüber wachen, dass die Integration in den vorgesehenen Bahnen verläuft – „Integrationsverantwortung“.163 Konkrete Konsequenzen hat das Gericht vor allem mit Blick auf die parlamentarische Mitwirkung bei finanzrelevanten Entscheidungen gezogen.164 Im Übrigen betont es ganz generell die Bedeutung der Rückkoppelung des Ministerrats an das nationale Parlament. Es hat daher auch jenseits des Budgetrechts die Stellung des Bundestages im europäischen Kontext immer wieder gestärkt.165 Rein formal hat es zudem mit Hinweis auf das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 2 GG das ohnehin komplexe System des Art. 23 GG durch mehrere dort nicht vorgesehene Optionen erweitert.166 Jüngst hat es aus dem Demokratieprinzip die Forderung abgeleitet, dass das Mandat der EZB auf das zur Geldpolitik „unbedingt Erforderliche“ begrenzt und zudem strikt richterlich kontrolliert werden müsse, und verbindet dies mit dem Hinweis, dass der EuGH hier auf deutsches Demokratieverständnis hätte Rücksicht nehmen müssen.167 Dies allerdings irritiert, geht es doch bei der Bestimmung des Mandats der EZB und ihrer gerichtlichen Kontrolle um eine logisch einheitlich und damit mit Rücksicht auf die Traditionen aller Mitgliedstaaten zu entscheidende Frage.168 Art. 23 Abs. 1 GG greift dieses Problem auch auf, indem dort zwischen Anforderungen an die Union in S. 1 und den allein einen Vorrang des Unionsrecht begrenzenden Verweis auf Art. 79 Abs. 3 GG in S. 3169 unterschieden wird. Und auch wenn wie 160 BVerfGE 89, 155 (184) – Vertrag von Maastricht [1993]; ähnlich auch BVerfGE 123, 267 (347 f.) – Vertrag von Lissabon [2009]. 161 BVerfGE 89, 155 (185 ff.) – Vertrag von Maastricht [1993]; 123, 267 (353 ff.) – Vertrag von Lissabon [2009]. 162 BVerfG, Urteil vom 21.6.2016, 2 BvR 2728/13 u.a., Rn. 81 – OMT-Endurteil; siehe auch BVerfGE 89, 155 (172) – Vertrag von Maastricht [1993]; 123, 267 (172) – Vertrag von Lissabon [2009]; 134, 366 (396) – OMT-Vorlagebeschluss [2014]. 163 BVerfGE 123, 267 (351 ff., 435) – Vertrag von Lissabon [2009]; 129, 124 (180 f.) – Euro-Rettungsschirm [2011]; 135, 317 Rn. 159 ff. – Fiskalpakt [2014]; BVerfG, Urteil vom 21.6.2016, 2 BvR 2728/13 u.a, Rn. 163 ff. – OMT-Endurteil. 164 BVerfGE 129, 124 (177 ff.) – Euro-Rettungsschirm [2011]; 132, 195 Rn. 108 ff. – Fiskalpakt [2012]; 135, 317 Rn. 161 ff. – Fiskalpakt [2014]. Zu Frankreich siehe CC, 80–126 DC vom 30.12.1980. 165 BVerfGE 123, 267 (387, 391 f., 414 f., 432 ff.) – Vertrag von Lissabon [2009]. 166 Siehe zu Beschlussrechten statt Gesetz BVerfGE 123, 267 (391 zu Brückenklauseln) – Vertrag von Lissabon [2009]; zu Weisungsrechten im Rahmen des Notbremsemechanismus ebd., S. 414 und 436; zur Entscheidung durch Ausschuss statt Plenum BVerfGE 130, 318 (353, 359 ff.) – Stabilisierungsmechanismusgesetz [2012]. 167 BVerfG, Urteil vom 21.6.2016, 2 BvR 2728/13 u. a., Rn. 187 ff. – OMT-Endurteil. 168 C. D. Classen, Europäische Rechtsgemeinschaft à l’allemande?, EuR 2016, 529 (537). 169 BVerfGE 134, 366 Rn. 27 – OMT-Vorlagebeschluss [2014]; Urteil vom 21.6.2016, 2 BvR 2738/13 u.a., Rn. 136 ff. – OMT-Endurteil.
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erwähnt die Unabhängigkeit der Notenbank in Frankreich ebenfalls ein demokratisches Problem aufgeworfen hat, stünde es im Widerspruch zu allen französischen Traditionen, daraus die Notwendigkeit einer besonders strengen gerichtlichen Kontrolle herzuleiten.170 Der CC fragt wegen des – auch in Deutschland anerkannten – Grundsatzes, dass Souveränität allein nationalen Charakter hat, im Grundsatz nur nach einer Beeinträchtigung der französischen Verfassungsordnung.171 1976 hat der Verfassungsrat sogar betont, dass an der Ausübung der Souveränität nur die im Rahmen der Institutionen der Republik gewählten Repräsentanten des französischen Volkes Teil haben könnten172 und so den Gedanken personeller Legitimation angesprochen. Institutionelle Regelungen zu Europa werden von ihm aber nur geprüft, soweit sie wie die Ersetzung des Einstimmigkeits- durch das Mehrheitsprinzip oder die Stärkung des Europäischen Parlaments die Stellung Frankreichs im Institutionengefüge der EU beeinträchtigen173 oder auf französischen Gesetzen beruhen.174 Bereits erwähnt wurde die in Frankreich gesehene Notwendigkeit, für die Wahrnehmung der unionsrechtlich den nationalen Parlamenten zugestandenen Rechte die Verfassung zu ändern.175 Insgesamt steht für den Verfassungsrat, wie schon die Judikatur zu den Flüchtlingsgerichten gezeigt hat, die nationale, nicht die demokratische Perspektive im Vordergrund. Wer wie die Souveränität im Namen Frankreichs ausübt, wird also nicht problematisiert. Demgegenüber akzeptiert das BVerfG die Mitwirkung an einer Organisation, die einen verbindlichen Willen bilden kann, „unabhängig davon, ob sich diese Ergebnisse gerade auf die eigene Beteiligung zurückführen lassen oder nicht“, und sieht Grenzen nur im Gebot der Rücksichtnahme auf Verfassungsprinzipien und elementare Interessen der Mitgliedstaaten.176 Ob man von Demokratie oder Souveränität spricht, ist also nicht nur eine Begriffsfrage. Bei der Bewertung ist zweierlei zu bedenken. In der Sache führt die nach französischer Auffassung so wichtige Einstimmigkeit zwar dazu, dass kein Beschluss gegen den Willen eines Staates gefasst werden kann. Ebenso kann aber auch ein einmal gefasster Beschluss nicht gegen den Willen eines anderen Staates geändert werden, wie dies gerade in einer nur Macht auf Zeit gewährenden Demokratie geboten ist.177 Die Nichtberücksichtigung dieses Problems zeigt sich auch daran, dass in Frankreich 170 Zur Kritik am OMT-Vorlagebeschluss siehe die Stellungnahme der Mitglieder des Staatsrates S. Dahan/O. Fuchs/M.-L. Lavus, Whatever it takes? A propos de la décision OMT de la Cour constitutionnelle fédérale d’Allemagne, AJDA 2014, S. 1311 ff. 171 CC, 76–71 DC vom 30.12.1976, Rn. 4 ff.; siehe ferner CC, 92–308 DC vom 9.4.1992, Rn. 32 ff., sowie 2003-468 DC vom 3.4.2003, Rn. 35 ff. 172 CC, 76–71 DC vom 30.12.1976, Rn. 6. 173 CC, 92–308 DC vom 9.4.1992, Rn. 34, 38, 49; 97–394 DC vom 31.12.1997, Rn. 20, 24 f., 28; mittlerweile mit wohl abschließender Formulierung CC, 2004-505 DC vom 19.11.2004, Rn. 29; 2007-560 DC vom 20.12.2007, Rn. 20. Im erstgenannten Verfahren wurde sogar – vergeblich – eine Missachtung von Parlamentskompetenzen angeführt. 174 CC, 2003-468 DC vom 3.4.2003, Rn. 35 ff. zum national festgelegten Wahlrecht zum Europäischen Parlament. 175 Siehe oben bei Fn. 58. 176 BVerfGE 89, 155 (183 f.) – Vertrag von Maastricht [1993]. 177 Zur demokratisch gebotenen Möglichkeit der Änderung von Gesetzen jüngst BVerfG, Beschluss vom 15.12.2015, 2 BvL 2/12, Rn. 53 – DBA Türkei.
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das Fehlen eines Kündigungsrechts bei einem Vertrag kein Souveränitätsproblem auslöst.178 Daher fragt man sich unwillkürlich mit Blick auf die französische Rechtsprechung, ob nicht bei Auslegung und Anwendung des Souveränitätsprinzips der demokratische Gedanke der Macht auf Zeit eine größere Rolle spielen sollte. Und formal geht es in Frankreich immer nur um die Frage, ob die für die Übertragung von Hoheitsrechten – in Deutschland nach Art. 23 GG sowieso immer geforderte – verfassungsändernde Mehrheit notwendig ist oder die einfache Mehrheit ausreicht;179 in Deutschland geht es um nicht zu übersteigende Hürden.180
V. Abschließende Grundsatzbemerkungen Zusammenfassend kann man zunächst festhalten, dass es nicht unerhebliche Unterschiede im Demokratieverständnis zwischen Deutschland und Frankreich gibt.
1. Die Rolle offener Begriffe bei der Interpretation anderer Verfassungsnormen In grundsätzlicher Hinsicht fällt auf, dass das BVerfG das Demokratieprinzip häufig nicht nur isoliert heranzieht, sondern vielfach auch im Kontext anderer Verfassungsnormen. Für dieses gilt, was das BVerfG vor kurzem bezogen auf das Rechtsstaats prinzip formuliert hat: „Das Verfassungsrecht besteht nicht nur aus einzelnen Sätzen der geschriebenen Verfassung, sondern darüber hinaus aus gewissen sie verbindenden, innerlich zusammenhaltenden allgemeinen Grundsätzen und Leitideen.“181 Positives Verfassungsrecht verdrängen kann dieses Metaprinzip allerdings nicht, wie das BVerfG ebenfalls erst kürzlich festgestellt hat.182 In Frankreich hingegen wird zwar durchaus gesehen, dass verschiedene Verfassungsnormen das Demokratieprinzip ausformen, etwa das Wahlrecht. Ganz überwiegend wird aber auch insoweit dieses Prinzip wie das der Souveränität nicht wie in Deutschland als Auslegungshilfe für andere Normen genutzt; diese werden regelmäßig für sich genommen interpretiert. Mit Blick auf die Legitimation von Verwaltung und Rechtsprechung spielt das Prinzip daher kaum eine Rolle. Die von Brecht einmal salopp gestellte Frage: Die Staatsgewalt geht vom Volke aus, wo geht sie hin? wird in Frankreich so nicht gestellt. Daher werden bei der Auslegung des Art. 34 CF zu entnehmenden Gesetzesvorbehalts Demokratie oder Souveränität soweit ersichtlich nicht problematisiert, und mit Blick auf Verwaltung und Rechtsprechung wird regelmäßig die Gesetzesbindung als ausreichend angesehen zur Sicherung der demokratischen Legitimation.183 Die glei CC, 91–294 DC vom 25.7.1991. Tendenziell anders BVerfGE 123, 267 (350) – Vertrag von Lissabon [2009]; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 15.12.2015, 2 BvL 2/12, Rn. 53, 89 – DBA Türkei. 179 Ziller (Fn. 17), S. 771. 180 BVerfGE 123, 267 (343, 354) – Vertrag von Lissabon [2009]; BVerfG, Beschluss vom 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, Rn. 41 ff. – Europäischer Haftbefehl II. 181 BVerfG, Beschluss vom 15.12.2015, 2 BvL 1/12, Rn. 78 – DBA Türkei. 182 BVerfG, Urteil vom 3.5.2016, 2 BvE 4/14, Rn. 86 ff. – Oppositionsrechte. Dazu schon bei Fn. 38. 183 Haquet (Fn. 14) problematisiert bei seiner ausführlichen Untersuchung der Souveränität insoweit nur Grenzen der Dezentralisierung (S. 142 ff.). Dazu bereits oben in Fn. 116. 178
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chen Unterschiede lassen sich auch im europäischen Kontext erkennen. Mit Blick auf Deutschland wiederum fällt, soweit es um die eben angesprochenen Fragen der Verwaltungs- und Justizlegitimation geht, die zweifelhafte Fokussierung auf die Regierung auf – ein Gedanke, der allein in Frankreich plausibel wäre,184 denn nur hier gibt es in Art. 20 CF die verfassungsmäßige Festlegung, dass die Politik der Nation von der Regierung bestimmt wird.
2. Zur Konkretisierung offener Begriffe Insgesamt ist das verfassungsrechtliche Konzept von Demokratie und Volkssouveränität in Deutschland sehr, in manchen Aspekten zu detailreich ausgebildet, das dann auch zu recht konkreten Schlussfolgerungen führt. Dies ist umso zweifelhafter, als eine Verankerung bestimmter Antworten in Art. 20 GG als Konsequenz nahelegt, dass eine Änderung wegen Art. 79 Abs. 3 GG auch durch den verfassungsändernden Gesetzgeber ausgeschlossen ist. Zwar ist bezogen auf die dort genannten Grundsätze deren „Berührung“ im Sinne von deren Beeinträchtigung, aber nicht deren systemkonforme Modifikation untersagt.185 Die damit verbundenen Spielräume hat das BVerfG gerade im Kontext des Demokratieprinzips mehrfach betont.186 Trotzdem wäre „weniger“ (an Konkretisierung) wohl „mehr“ (nämlich überzeugender). In Frankreich sind zwar die verschiedenen Bausteine der deutschen Dogmatik, etwa Gesetzesbindung und parlamentarische Kontrolle als Elemente der sachlichen Legitimation oder, wenn auch selten, die Frage nach der personellen Legitimation, durchaus bekannt. Sie werden jedoch nur vereinzelt und nicht in einem systematischen Zusammenhang stehend eingesetzt. Vor allem die Frage, wie diejenigen, die Macht ausüben, auch personell legitimiert werden, wird kaum thematisiert. Insgesamt bleiben die Konzepte von Demokratie, aber auch von Volkssouveränität so eher blass. Dies entspricht aber wohl einer allgemein in Frankreich zu beobachtenden Zurückhaltung, juristische Definitionen und Konzepte umfassend auszuarbeiten.187 Sofern Demokratie und Volkssouveränität daher überhaupt zum Tragen kommen, werden sie recht flexibel gehandhabt.188 Die Frage nach der Legitimation der Amtsträger wird als solche praktisch nicht diskutiert. Dies ist Anlass zur letzten Bemerkung. Für das Verfassungsrecht gilt ähnlich wie schon im Zivilrecht, dass deutsche Verfassungsrichter aus allgemeinen Begriffen – bei allen im Einzelnen zu beobachtenden Schwankungen189 – offenbar regelmäßig mehr Masing, Kommentar (Fn. 96), S. 174. BVerfGE 30, 1 (24) – Abhör-Urteil [1970]; 109, 279 (310) – großer Lauschangriff [2004]; 137, 108 Rn. 84 – Optionskommunen [2014]. 186 BVerfGE 83, 37 (59) – Ausländerwahlrecht Schleswig-Holstein [1990] zum kommunalen Ausländerwahlrecht sowie BVerfGE 137, 108 Rn. 80 ff. – Optionskommunen [2014] im Kontext der durch Art. 91e GG tendenziell entgegen BVerfGE 119, 331 (366) – Arbeitslosengeld II [2007] legitimierten Mischverwaltung bei der Verwaltung der Grundsicherung für Arbeitssuchende. 187 Dazu U. Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 6 Rn. 139. 188 Von einer „lecture assouplie“ spricht im Kontext der Anwendung von Art. 21 CF auf unabhängige Verwaltungsbehörden Teitgen-Coly (Fn. 14), S. 172. 189 Dazu insbesondere bei Fn. 103 ff. 184 185
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abzuleiten bereit sind als ihre französischen Kollegen.190 Der deutsche Ansatz entspricht dabei zwar im Ausgangspunkt der im juristischen Syllogismus bestehenden dogmatischen Notwendigkeit, Rechtsbegriffe, unter die subsumiert werden soll, zunächst so klar und auch so konkret zu definieren, dass dies möglich ist. Allerdings geht gerade das BVerfG nicht selten über die sich daraus ergebenden Notwendigkeiten hinaus und nutzt dieses Definitionsgebot zu weit ausgreifenden, zur Lösung des Falles nicht erforderlichen abstrakten Ausführungen.191 Demgegenüber ist in Frankreich zwar der juristische Syllogismus als solcher durchaus bekannt.192 Mit abstrakten juristischen Definitionen hält man sich trotzdem zurück.193 Die Frage, wieviel ein Verfassungsrichter aus einem so allgemeinen Begriff wie dem der Demokratie oder auch der Volkssouveränität ableiten kann, hängt aber auch von seiner Stellung, seinen Kompetenzen und damit von seiner Legitimation ab. Die Anwendung des Rechts durch den Richter ist nicht nur eine Frage juristischer Methodik. Vielmehr ist der Richter auch Bestandteil der Gewaltenteilung und leitet daraus seinen Auftrag ab. Was das konkret heißt, wäre aber Stoff für weitere Überlegungen. Vorliegend soll der Hinweis ausreichen, dass Deutschland geprägt ist von einem überaus machtvollen Richterbild, Frankreich eher von einem zurückhaltenden Verständnis, bei dem insbesondere auch die Grenzen dieses Auftrages eine deutlich größere Rolle spielen als in Deutschland. Beide Haltungen spiegeln historische Erfahrungen wider.194 Im europäischen Rechtsraum müssen diese irgendwie zusammenfinden, denn die Demokratie ist nicht nur ein nationaler, sondern auch ein europäischer Verfassungsbegriff (Art. 2 sowie 9 ff. EUV). Der Vergleich hat zudem gezeigt, dass in beiden Staaten verfassungsrechtlich vielleicht unterschiedlich ausgeprägte, im Kern aber doch ähnliche Demokratiekonzepte bestehen. Und mit Blick auf die Frage, wie stark diese selbst konkretisierungsfähig sind, liegt die Wahrheit vielleicht auch hier wie sonst nicht so selten in der Mitte. Auch in den anderen Staaten der Europäischen Union gibt es eine so ausgefeilte Dogmatik zum Demokratiebegriff nicht.195 Deswegen ist es insbesondere irritierend, dass das BVerfG mit Blick auf das Handeln der EZB und dessen gerichtliche Kontrolle wie erwähnt Maßstäbe des deutschen Rechts eingefordert hat.196 Während demokratische Legitimation sicher durchweg gegeben 190 Vergleichend Vilain (Fn. 10), § 3 Rn. 55 bzw. 59; siehe ferner ebd. zum Sozialstaatsprinzip Rn. 161 ff.; ähnlich auch Heuschling (Fn. 10), S. 42; allgemein zum Verfassungsrecht auch C. Schönberger, Der Aufstieg der Verfassung, in: T. Vesting/S. Korioth (Hrsg.), Der Eigenwert der Verfassung, 2007, S. 7 ff. Zum Zivilrecht siehe bereits die Nachweise in Fn. 151. 191 Berechtigte Kritik bei O. Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: M. Jestaedt/O. Lepsius/C. Möllers/C. Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 ff. 192 M. Fabre-Magnan, Introduction générale au droit, 2009, S. 45 ff.; Kischel (Fn. 187), § 6 Rn. 137 f. 193 Kischel (Fn. 187), § 6 Rn. 138. 194 Dazu C. D. Classen, Der EuGH und die Herausbildung eines europäischen Verwaltungsrechts, in: J. Schenke/J. Suerbaum (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsbarkeit in Europa, 2016, S. 11 (15 ff.). Siehe ferner parallel zu den unterschiedlichen Richterverständnissen im Zivilrecht Jung (Fn. 151), S. 46 ff. 195 P. M. Huber, Bewahrung und Veränderung rechtsstaatlicher und demokratischer Verfassungsstrukturen in internationalen Gemeinschaften – nach 50 Jahren, in: AöR 141 (2016), 117 (129 f.); siehe auch die Länderberichte in: Bauer/Huber/Sommermann (Fn. 10). Zum Demokratieprinzip in der Judikatur des EuGH K.F. Gärditz, Demokratie in der Rechtsprechung des EuGH, FS 200 Jahre Heymanns Verlag, 2015, S. 3 ff. 196 Siehe oben bei Fn. 167 ff.
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sein muss, sollte die deutsche Dogmatik dem Parlament mehr Freiheit geben bei der Frage, wie diese hergestellt werden kann. Umgekehrt könnte ein Aufgreifen mancher Argumente aus der deutschen Diskussion in Frankreich dazu beitragen, die gelegentlich zu hörende Aussage, dass die ganze Verfassung auf Verwirklichung der Demokratie ausgerichtet sei,197 inhaltlich mit etwas mehr Leben zu erfüllen. Und schließlich wird sich mancher über die Bedeutung des Demokratieprinzips im deutschen Verfassungsrecht wundern, weil an sich im politischen System Frankreichs die Demokratie eine vergleichsweise große Rolle spielt, während in Deutschland dem zum Demokratieprinzip vielfach eher in gegenläufiger Beziehung stehenden Rechtsstaatsprinzip eine wichtigere Bedeutung zukommt.198 Die vorstehenden Ausführungen sollen das auch nicht in Frage stellen. Der Unterschied besteht nur darin, dass in Deutschland auch das Demokratieprinzip stark verrechtlicht wurde. Im Kontext der Europaverfassungsrechtsprechung des BVerfG ist deswegen schon von einer „verordneten Demokratie“ gesprochen worden.199 Demgegenüber tritt das Demokratieprinzip in Frankreich eher in naturbelassener Form auf, als Recht der vom Volk legitimierten Repräsentanten zur politischen Entscheidung.
Siehe oben Fn. 13. M. Fromont, R.F.A.: L’État de droit, RDP 1984, 1203 (1225); Gaillet (Fn. 57). 199 J. Schwarze, Die verordnete Demokratie, EuR 2010, 108 ff. 197
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Verfassung und Verfassungsrecht im Zeichen der Globalisierung – zwischen nationaler Entgrenzung und transnationaler Entfaltung von
Prof. Dr. Dr.h.c. Hans-Peter Schneider, Universität Hannover* Inhalt I. Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 II. Globale Einwirkungen auf das Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 1. Globaler Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 2. Globale Finanzmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 3. Globaler Informationsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 4. Globaler Migrationsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 III. Globale Auswirkungen des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 1. Weltweite Präsenz des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 2. Das Grundgesetz als Beispiel (Südafrika) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 3. Das Grundgesetz als Vorbild („offene Staatlichkeit“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 IV. Chancen und Risiken einer Globalisierung des Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 1. Chancen „globalen“ Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 2. Risiken „globalen“ Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 V. Ansätze zu einem globalen Konstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 1. Weltbezüge im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 2. Globale Verfassungsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 3. Transnationale Teilverfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 VI. Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
* Der Beitrag enthält eine überarbeitete Version der „lectio aurea“, die der Verfasser aus Anlass seines 50-jährigen Doktorjubiläums am 11. Dezember 2015 in der Universität Freiburg gehalten hat.
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I. Vorrede Bei einer „lectio aurea“ zur Feier des Goldenen Doktorjubiläums liegt es nahe, mit einer Reminiszenz an das Rigorosum vor 50 Jahren zu beginnen. Im öffentlichen Recht wurde ich aufgefordert, gedanklich den Freiburger Münsterturm zu besteigen. Die erste Frage, nach Westen in Richtung Vogesen schauend, war mit „Staatsgebiet“, die zweite Frage, nach unten das Marktgeschehen beobachtend, mit „Staatsvolk“ und die dritte Frage, nach hinten einen Verkehrspolizisten erblickend, mit „Staatsgewalt“ zu beantworten. So einfach ließ sich damals der Begriff des Staates mit der „Drei-Elementen-Lehre“ Georg Jellineks beschreiben.1 Es war weder von offener Staatlichkeit noch gar von supra- oder internationalen, geschweige denn globalen Einflüssen auf Verfassung und Verfassungsrecht die Rede. Heute ist keines dieser drei Merkmale mehr unbestritten. Wie noch im Einzelnen darzulegen sein wird, ist das Staatsgebiet nicht mehr identisch mit dem Wirkungsbereich des Grundgesetzes, das Staatsvolk nicht mehr deckungsgleich mit der Gesamtheit aller Wahlberechtigten und die öffentliche Gewalt nicht mehr auf den Staat beschränkt. Im Folgenden wird versucht, sich der Problematik globaler Verfassungsentwicklungen zwischen nationaler „Entgrenzung“ und transnationaler „Entfaltung“ in vier Schritten zu nähern: 1. mit einer Binnenperspektive, d.h. aus der Sicht von Einwirkungen der Globalisierung auf das Grundgesetz; 2. mit einer Außenperspektive, d.h. in Hinsicht auf globale Auswirkungen des Grundgesetzes selbst; 3. mit der Frage nach den Chancen und Grenzen einer Globalisierung des Verfassungsrechts und 4. mit einem Ausblick auf die beginnende Herausbildung eines globalen Konstitutionalismus. Dabei verstehe ich unter „Globalisierung“ eine tendenziell anarchische, transnationale Erscheinung, die weltweite Kommunikation und Interaktion im digitalen Zeitalter nahezu unbegrenzt ermöglicht und zunehmend alle Lebensbereiche erfasst. Damit unterscheidet sie sich sowohl von nationalen als auch von internationalen Strukturen, die beide von der Bestimmung des Staates und seiner Grenzen abhängen.
II. Globale Einwirkungen auf das Grundgesetz Dass globale Entwicklungen das Grundgesetz nicht unberührt lassen, ist inzwischen kaum noch zu übersehen. Es verliert zunehmend an normativer Kraft. Der „Wille zur Verfassung“, mit dem mein verehrter Lehrer Konrad Hesse in seiner Freiburger Antrittsvorlesung dieser Erosion entgegenzuwirken empfahl,2 reicht nicht mehr. Wesentliche Teile des Grundgesetzes werden zum Spielball globaler Märkte. Ich möchte diesen Vorgang an vier Beispielen erläutern: an der Globalisierung der Arbeitsmärkte, der Finanzmärkte, der Informationsmärkte und der Migrationsmärkte. Dabei ist offensichtlich, dass diese Märkte funktionell zusammenhängen, weltweit miteinander verflochten sind und sich wechselseitig verstärken. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Berlin 1914, 394–434. Konrad Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, Tübingen 1959, 9 ff. Vgl. auch ders., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1999, Rn. 4 4. 1 2
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1. Globaler Arbeitsmarkt Vor einigen Jahren hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) über die Verfassungsmäßigkeit des sog. Zweiten Schiffsregisters3 zu entscheiden. Es ging dabei um das Bemühen, die Ausflaggung deutscher Handelsschiffe zu verhindern und den Reedern ähnliche Heuerkonditionen zu bieten, wie sie unter einer „Billigflagge“ üblich waren. Das Gericht wies die Normenkontrollanträge Bremens und Schleswig-Holsteins, die ich vertreten hatte, und weitere Verfassungsbeschwerden von Gewerkschaften mit der Begründung zurück, dass die Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers bei Regelungen zur Ausübung der Koalitionsfreiheit, die zwangsläufig die Rechtsordnung anderer Staaten berühre, welche vom deutschen Recht nicht mit alleinigem Gültigkeitsanspruch beherrscht werde, größer sei als bei Regelungen von Rechtsbeziehungen mit inländischem Schwerpunkt. Auch die Berufsfreiheit der deutschen Seeleute werde nicht dadurch verletzt, dass der Gesetzgeber auf deutschen Handelsschiffen, die in das Internationale Seeschifffahrtsregister eingetragen sind, den Abschluss von arbeitsrechtlichen Vereinbarungen nach Maßgabe ausländischen Rechts erleichtert zulasse. Schließlich verstoße es nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, dass nach § 21 Abs. 4 des Flaggenrechtsgesetzes (FlRG) ausländische Seeleute auf deutschen Handelsschiffen zu Heimatheuern beschäftigt werden könnten.4 Die Globalisierung der Arbeitsmärkte hatte den nationalen Arbeits- und Tarifvertragsschutz überspielt und ihren ersten verfassungsrechtlichen Tribut gefordert.
2. Globale Finanzmärkte Zur Stabilisierung der Finanzmärkte hatte der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) Mario Draghi vor einiger Zeit angekündigt, Anleihen von überschuldeten Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion in unbegrenzter Höhe aufkaufen zu wollen (OMT-Programm).5 Auf mehrere Verfassungsbeschwerden und eine Organklage hin hat das BVerfG festgestellt, dass solche Ankäufe nicht vom Mandat der EZB gedeckt sein dürften, weil es sich dabei nicht mehr um währungspolitische, sondern überwiegend um wirtschaftspolitische Maßnahmen handele und insoweit ein Verstoß gegen Art. 119 und Art. 127 Abs. 1 und 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) vorliege. Außerdem hielt das Gericht die Modalitäten des Programms mit dem in Art. 123 AEUV verankerten Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung für unvereinbar.6 Auf Vorlage hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) indes entschieden, dass die europarechtlichen Bedenken des Bundesverfassungsgerichts unbegründet seien. Art. 119 AEUV, Art. 123 Abs. 1 AEUV und Art. 127 Abs. 1 und 2 AEUV sowie die Art. 17 bis 24 des Protokolls über 3 Gesetz zur Einführung eines zusätzlichen Registers für Seeschiffe unter der Bundesflagge im internationalen Verkehr vom 23. März 1989 (BGBl I S. 550). 4 BVerfGE 92, 26 [1995]. Dieter Grimm hat einmal im privaten Gespräch bemerkt, dies sei für ihn die schwierigste Entscheidung während seiner Tätigkeit als Richter des BVerfG gewesen. 5 Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 über „Technical features of Outright Monetary Transactions“. 6 BVerfGE 134, 366 (379 ff.) [2014].
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das ESZB und die EZB seien dahin auszulegen, dass sie das ESZB dazu ermächtigten, ein Programm für den Ankauf von Staatsanleihen an den Sekundärmärkten wie das in der Pressemitteilung vom 6. September 2015 angekündigte, zu beschließen.7 Um einen offenen Konflikt mit dem EuGH zu vermeiden, hat das BVerfG kapituliert und sich in seinem Urteil vom 21. Juni 2016 der Auslegung jener Vorschriften des AEUV durch den EuGH angeschlossen.8 Ihm blieb auch kaum etwas Anderes übrig, wenn man von einem Anwendungsvorrang des Unionsrechts ausgeht.9 Allerdings dürfe sich die Deutsche Bundesbank an einer künftigen Durchführung des OMT-Programms nur beteiligen, wenn und soweit die vom EuGH aufgestellten Maßgaben erfüllt seien, das heiße, wenn 1. Ankäufe nicht angekündigt würden, 2. das Volumen der Ankäufe im Voraus begrenzt sei, 3. zwischen der Emission eines Schuldtitels und seinem Ankauf durch das ESZB eine im Voraus festgelegte Mindestfrist liege, die verhindere, dass die Emissionsbedingungen verfälscht würden, 4. nur Schuldtitel von Mitgliedstaaten erworben würden, die einen ihre Finanzierung ermöglichenden Zugang zum Anleihemarkt hätten, 5. die erworbenen Schuldtitel nur ausnahmsweise bis zur Endfälligkeit gehalten würden und 6. die Ankäufe begrenzt oder eingestellt und erworbene Schuldtitel wieder dem Markt zugeführt würden, wenn eine Fortsetzung der Intervention nicht erforderlich sei. Selbst dieses Urteil des BVerfG kann aber die mit dem OMT-Programm verbundenen Grundrechtseingriffe und Einbußen an parlamentarischer Budgethoheit nicht verhindern. Gegen Einwirkungen von Turbulenzen auf den globalen Finanzmärkten ist das Grundgesetz machtlos.
3. Globaler Informationsmarkt Noch gravierender ist der Verlust an Verfassungseffektivität auf dem Gebiet der globalen Informationsmärkte. Es ist noch keine 32 Jahre her, seit das BVerfG aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG zum Schutz personenbezogener Daten das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ abgeleitet hat. Mit diesem Recht wären – so hieß es im Volkszählungsurteil10 – eine Gesellschafts- und Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen könnten, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Angesichts heutiger Informationstechniken kann man all diese hehren Worte schlicht vergessen.11 Personendaten sind zu wertvollen, weltweit gehandelten Gütern geworden. Unter den Regimen von Google, Amazon, Ebay, Mikrosoft, Facebook, YouTube, Twitter und ähnlicher „sozialer Netzwerke“ EuGH, Urteil vom 16. Juni 2015 – Rs. C 62/14, NJW 2015, 2013–2021. BVerfG, Urteil vom 21. Juni 2016, 2 BvR 2728/13 u.a., NJW 2016, 2473–2489. 9 Zur Rechtsprechung des EuGH, den Anwendungsvorrang des EU-Rechts auch auf die EMRK und die Europäische Grundrechte-Charta zu erstrecken, kritisch Rupert Scholz, Nationale und euro päische Grundrechte: Umgekehrte „Solange“-Regel? in: DVBl. 2014, 197 ff. Vgl. zum Ganzen Sophie Méndez Escobar, Komplementärer Grundrechtsschutz im internationalen Mehrebenensystem. Die Unionsgerichte als Hüter des unionalen und internationalen Verfassungsrechts, Berlin 2016. 10 BVerfGE 65, 1 (38 ff.) [1983]. 11 Dazu Alexander Roßnagel/Peter Wette/Volker Hammer/Ulrich Pordesch, Digitalisierung der Grundrechte? Zur Verfassungsverträglichkeit der Informations- und Kommunikationstechniken, Opladen 1990. 7 8
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wissen zumindest diese Internetgiganten nahezu alles über jeden von uns und leiten oder besser: verkaufen diese Daten zu Werbezwecken völlig ungehindert und unkontrolliert an Meistbietende weiter.12 Abgeschöpft werden der Aufenthaltsort, die Wohngegend, das persönliche Konsumverhalten, die Familienbeziehungen, die Reise- und Urlaubsgewohnheiten, der Gesundheitszustand, die Kreditwürdigkeit, ja sogar die Telefongespräche und Kurzmitteilungen, SMS genannt. Für eine informationelle Selbstbestimmung nach Maßgabe des Grundgesetzes bleibt da wenig übrig. Mit Hilfe von Rasterprogrammen lassen sich inzwischen komplette Persönlichkeitsund Bewegungsprofile erstellen. Der Satz des BVerfG lässt sich inzwischen geradezu umkehren: Google erkennt, wer was wann und bei welcher Gelegenheit von jemandem weiß. Und Amazon bietet ungefragt Waren an, die einer früheren Bestellung ähneln. Nicht mehr nur der „gläserne Mensch“, die „gläserne Menschheit“ ist längst traurige Realität geworden.13 Und keine Verfassung der Welt kann den Einzelnen oder die Gemeinschaft davor schützen.
4. Globaler Migrationsmarkt Schlepperbanden, oft als „Reisebüros“ getarnt, sorgen zurzeit dafür, dass zahllose Menschen unter Lebensgefahr mit falschen Versprechungen für viel Geld aus Krisengebieten nach Europa und vorzugswiese nach Deutschland geschleust werden und sich dort als Asylbewerber melden. Das Dublin-Abkommen, wonach für die Registrierung aller Personen, die internationalen Schutz nachsuchen, und für die Durchführung von Asylverfahren derjenige EU-Mitgliedsstaat zuständig ist, dessen Boden die Flüchtlinge zuerst betreten, war aufgrund der Massenzuwanderung durch die Bundesregierung zeitweise faktisch außer Kraft gesetzt worden. Die Politik steht dieser Entwicklung ziemlich hilf- und planlos gegenüber. In der Großen Koalition streitet man sich über Begriffe wie Transitzonen, Einreisezentren oder Registriereinrichtungen. Längst sind Verschärfungen des Asylrechts kein Tabu mehr. Asylverfahren sollen beschleunigt, die Freizügigkeit von Asylbewerbern beschränkt und Rückführungen abgelehnter Antragsteller erleichtert werden.14 Vereinzelt ist sogar bereits zu hören, dass selbst anerkannte Asylbewerber notfalls auf sichere Drittstaaten verwiesen werden müssten, wo sie ähnlichen Schutz vor politischer Verfolgung genössen wie hierzulande. Sollen etwa auch die Maghreb-Staaten Algerien, Tunesien und Marokko dazugehören, wo Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden? Dem Asylrecht, immerhin ein universales Menschenrecht, korrespondiert eine ebenfalls aus Art. 16a GG abgeleitete Asylpflicht des Staates, der seine Fähigkeit erhalten muss, innerhalb der eigenen Grenzen wirksam Asyl zu gewähren. Angesichts der Debatte über Kontingente und Obergrenzen sieht es gegenwärtig nicht so 12 Evgeny Morozov, Hypermoderner Feudalismus. Warum wir verhindern müssen, dass Google, Facebook und Co. die Infrastrukturen unserer Welt kontrollieren, in: FAZ Nr. 101 vom 2.5.2016, S. 9. 13 Vgl. Udo Di Fabio, Die algorithmische Person, in: FAZ Nr. 124 vom 31.5.2016, S. 13; dort heißt es: „Netzkonzerne verändern nicht nur die Art, wie wir kommunizieren, sondern unsere Wertordnung. Sie schränken Grundrechte ein, ohne zu fragen. Dem darf die Politik nicht tatenlos zusehen“. 14 Vgl. den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD am 16.2.2016 eingebrachten „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren“ (BT-Drucks. 18/7538).
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aus, dass Deutschland diesen Anforderungen des Grundgesetzes gerecht werden kann – mit der Folge einer schleichenden Aushöhlung der Verfassung auch auf diesem Gebiet. Weitere Beispielsfälle ließen sich hinzufügen. Die Wissenschaftsfreiheit endet in Deutschland vor den Toren des Embryonenschutzes und erzwingt eine Abwanderung der Stammzellenforschung ins liberalere Ausland. Das von der Berufsfreiheit geschützte gewerbliche Geldspiel wird so stark reglementiert, dass ein Ausweichen auf illegale Online-Angebote im weltweiten Internet ohne jeden Spieler- und Jugendschutz die zwangsläufige Folge ist. Das absolute Diskriminierungsverbot wegen religiöser Anschauungen hindert eine bestimmte politische Partei nicht daran zu fordern, mit Vorrang Zuwanderer aus dem „christlich-abendländischen Kulturkreis“ bei uns aufzunehmen.15 Der globale Klimawandel erschwert in vieler Hinsicht die Verwirklichung des Staatsziels Umweltschutz in Art. 20a GG. Die demographische Entwicklung bedroht allerorts zunehmend die Stabilität von Rentensystemen, dessen Anwartschaften in Deutschland sogar durch die Eigentumsgarantie verbürgt sind.16 Im Ergebnis ist nicht zu bestreiten, dass globale Vorgänge und Entwicklungen die normative Kraft des Grundgesetzes schwächen, ohne dass dagegen mit verfassungsrechtlichen Mitteln eingeschritten werden könnte. Man braucht dabei gar nicht so weit zu gehen, wie Georges Burdeau, der einst die Verfassung mit einem Tempel verglichen hat, in dem nur noch Schatten wohnen.17 Das Grund-gesetz lebt nicht nur von Bedingungen, die es selbst nicht gewährleisten kann,18 sondern ist auf einzelnen Gebieten, namentlich beim Schutz von Grundrechten, der Globalisierung auch macht- und wehrlos ausgeliefert.
III. Globale Auswirkungen des Grundgesetzes Auf der anderen Seite sind aber zugleich Auswirkungen des Grundgesetzes zu beobachten, die in globale Dimensionen führen. Dass sein Geltungsbereich nicht an den deutschen Grenzen endet, ist – wenn man an das Wahlrecht von Auslandsdeutschen denkt – selbstverständlich. Weniger bekannt ist indes der Umstand, dass zunehmend mehr Länder sich für unsere Verfassung nicht nur interessieren, sondern auch daran orientieren, zumal wenn deren Gerichte sich unmittelbar auf das Grundgesetz beziehen oder Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zitieren. Überdies häufen sich die Fälle, bei denen Staaten, die sich neue Verfassungen geben, einzelne Elemente oder Institutionen des Grundgesetzes übernehmen oder zumindest als Vorbilder betrachten. Schließlich sind dem Modell der „offenen Staatlichkeit“, wie es in Art. 24 Abs. 1 GG angelegt ist, inzwischen zahlreiche europäische Länder gefolgt – bis hin 15 So ein Papier für die Vorstandsklausur der CSU am 9./10.9.2016 unter dem Titel „Klarer Kurs bei der Zuwanderung – Humanität, Ordnung, Begrenzung“. 16 Hanns W. Maul (Von den Schwierigkeiten des Regierens in Zeiten der Globalisierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 65. Jg., 31–32/2015, S. 34 ff. (38), spricht hierbei von „Überlastungssymptomen“. Vgl. auch Michael Zürn, Globalisierung und Global Governance, in: Informationen zur politischen Bildung Nr. 325, 1/2015, S. 4 ff. 17 Georges Burdeau, Zur Auflösung des Verfassungsbegriffs, in: Der Staat 1 (1962), 389–404. 18 So in Bezug auf den „Staat“ Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 60.
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zu Staaten, die das gesamte Völkerrecht zum Bestandteil ihrer Verfassungen erklärt haben, teils sogar mit dynamischer Verweisung.
1. Weltweite Präsenz des Grundgesetzes Wie Stichproben höchstrichterlicher Entscheidungen zeigen, ist das Grundgesetz mittlerweile in allen Verfassungsordnungen demokratischer Staaten präsent.19 Die Skala reicht von Nord- und Südamerika über das südliche Afrika bis hin zu Indien und Südkorea. Die Kriterien für die Verteilung der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen nach Art. 72 Abs. 2 GG haben den kanadischen Supreme Court bei seiner Entscheidung über ein Sicherheitsgesetz inspiriert.20 Für das südafrikanische Verfassungsgericht war die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG richtungweisend.21 Der indische Supreme Court hat sich sogar mit späteren Verfassungsänderungen, namentlich mit dem Umweltschutzstaatsziel des Art. 20a GG beschäftigt22. Auch das BVerfG wird in der Welt oberster Gerichte anderer Länder zunehmend wahrgenommen. Der kanadische Supreme Court orientierte sich in einer Entscheidung zur Meinungsfreiheit vom 17. Februar 2011 an zwei Beschlüssen des BVerfG.23 Das südafrikanische Verfassungsgericht bezog sich im Falle der Nichtigerklärung eines Gesetzes als Beispiel für die Herstellung einer verfassungskonformen Übergangszeit auf die Vollstreckungsanordnung nach § 35 BVerfGG im zweiten Abtreibungsurteil.24 Der amerikanische Supreme Court zitiert in einem Fall von Kindesentführung sogar einen unveröffentlichten Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts.25 Kein Zweifel: Man kann feststellen, dass das Grundgesetz in den oberen Etagen des globalen Hauses demokratischer Verfassungsstaaten nicht nur längst angekommen, sondern sowohl für die Staatspraxis als auch für Obergerichte anderer Länder zu einer wichtigen Orientierungshilfe und Erkenntnisquelle geworden ist. Mehr noch: Durch die wechselseitigen Besuche der Verfassungsgerichte auf bilateraler Ebene und die Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte ist inzwischen ein Netzwerk entstanden, in dem es nicht nur zu einem lebhaften Gedankenaustausch, sondern auch zu manch praktischen Anregungen für die Lösung konkreter Probleme und Fälle kommt. 19 Bisher ist zumeist der umgekehrte Versuch unternommen worden herauszufinden, ob, wann, wie oft und in welchem Kontext das BVerfG auf ausländische oder internationale (Verfassungs-)Texte Bezug nimmt. Vgl. statt anderer: Susanne Baer, Zum Potenzial der Rechtsvergleichung für den Konstitutionalismus, in: JöR NF 63 (2015), 389–400 (m.w.N.). Nimmt man ihr begrüßenswertes Plädoyer für eine Verstärkung der Verfassungsrechtsprechungsvergleichung als unverzichtbaren Beitrag zu einem globalen Konstitutionalismus ernst, erscheint die Suche nach Belegen für die Rezeption der Judikatur des BVerfG in Entscheidungen ausländischer Verfassungsgerichte als lohnendes Forschungsziel und ein weiterhin unerfülltes Desiderat der Verfassungsrechtswissenschaft. 20 Cf. 2011 SCC 66 (Reference re Securities Act), Rn. 49. 21 Cf. 1994 CCT 3 (The State v. T Makwanyane and M Mchunu), 106 f. 22 Cf. 2014 Civil Appeal No. 5387 (Animal Welfare Board of India), 86 f. 23 Vgl. 2011 SCC 9 (Bou Malhab v. Diffusion Métromédia CMR Inc.), (20) unter Hinweis auf BVerfGE 82, 272 – Stern/ Strauß [1990] und BVerfGE 93, 266 – Soldaten sind Mörder [1995]. 24 Cf. 2002 CCT 8 (Minister of Health et alt. v. Treatment Action Campaign et. Alt.), 67 f. 25 Cf. 560 U.S. 1 (2010) Abbot v. Abbot, 13 unter Hinweis auf den Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG vom 18.7.1997 – 2 BvR 1126/97.
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2. Das Grundgesetz als Beispiel (Südafrika) Als sich viele Staaten (vor allem aus Osteuropa) in den vergangenen Jahrzehnten nach bitteren Erfahrungen mit autoritären oder diktatorischen Regimen neue Verfassungen gaben, entstand vielfältiger externer Beratungsbedarf, der sich verstärkt auf Deutschland bezog. Als Magnet wirkte dabei weniger das Grundgesetz, das manche gar nicht kannten, als vielmehr der wirtschaftliche Erfolg seit dem Zusammenbruch nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich hatte Gelegenheit, an zahlreichen solcher Beratungsmissionen teilzunehmen, schon 1976 in Spanien nach Francos Tod und vor allem in Südafrika nach dem Ende der Apartheid.26 Im Zentrum dortiger Kontroversen stand die Frage der Binnengliederung des Landes. Der ANC war (ähnlich wie die SPD 1948/49) zur Steuerung des Veränderungsprozesses an einem möglichst zentralistischen Auf bau interessiert – für ein Land von der Größe Mitteleuropas mit elf Amtssprachen eine schiere Unmöglichkeit. Nachdem man sich mühsam auf neun Provinzen verständigt hatte, stellte sich für den ANC das Problem, sie unter Kontrolle zu bekommen. Meine Antwort war: Man muss sie in nationale Verantwortung nehmen und an der zentralen Politik beteiligen. Als ich auf Art. 31 GG verwies, wonach Bundesrecht Landesrecht bricht, und das Beispiel des Bundesrates ins Gespräch brachte, war ein Durchbruch erzielt. Es wurde der „National Council of Provinces (NCOP)“ geschaffen, mit ähnlichen Einspruchs- bzw. Zustimmungsbefugnissen wie der Bundesrat und besetzt mit je 10 Delegierten von jeder Provinz, bestehend aus vier Mitgliedern einer Provinzregierung sowie sechs von den Provinzparlamenten nach Proporz entsandten permanenten Vertretern.27 Heftiger Streit bestand auch in einer anderen Frage. Im „Constitutional Committee (CC)“, das wie einst der Parlamentarische Rat den Verfassungsentwurf auszuarbeiten hatte, beharrten die Abgeordneten der National Party aus der vorigen Apartheidregierung im Grundrechtsteil auf einer Verankerung der klassischen Handelsund Gewerbefreiheit, während der ANC ein Recht auf Arbeit forderte. Nach meinem Hinweis, dass im Grundgesetz dieses Problem durch Gewährleistung der Berufsfreiheit gelöst worden sei, die für alle Erwerbstätigen, also für selbstständig wie abhängig Beschäftigte, gelte, einigte man sich darauf, Art. 12 GG Abs. 1 GG unter der Überschrift „Freedom of Trade, Occupation und Profession“ als Artikel 22 nahezu wörtlich in die neue südafrikanische Verfassung zu übernehmen. In diesem Zusammenhang ist freilich daran zu erinnern, dass solche Glücksfälle einer Verfassungsadaption auch ihre Schattenseiten haben und Gefahren bergen. Man muss sich stets der Tatsache bewusst bleiben, dass ein Berater im Unterschied zu den politischen Akteuren niemandem verantwortlich ist und deshalb in allem, was er empfiehlt, äußerste Zu Ausführlich dazu Hans-Peter Schneider, Verfassungszeit. Ortstermine von Jena bis Tripolis, Jena/ Quedlinburg 2012, 75 ff., 225 ff. 27 Vgl. Hans-Peter Schneider/Jutta Kramer, Das Fundament des Regenbogens. Ein Zeugnis der Verständigung – die Verfassung des neuen Südafrika, in: Mitteilungen des Deutschen Instituts für Föderalismusforschung, Heft 6, Juli 1996, 28 ff.; Robert v. Lucius, Beraten und Ermüden – Südafrikas Wege zur Verfassungsreform, in: Verfassungen. Zwischen Recht und Politik. Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans-Peter Schneider, Baden-Baden 2008, 513 ff.; Lourens M. du Plessis, German Verfassungsrecht under the Southern Cross. Observations on South African-German Interaction in Constitutional Scholarship in Recent History, in: ebd., 524 ff. 26
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rückhaltung zu wahren und mit viel Feingefühl vorzugehen hat, um den Eindruck zu vermeiden, als Besserwisser aufzutreten und anderen Patentlösungen aufdrängen zu wollen. Das Grundgesetz ist entgegen mancher unbedachter Äußerungen gerade kein „Exportschlager“, sondern allenfalls ein Beispiel dafür, wie vergleichbare Probleme, die andere haben mögen, hierzulande gelöst worden sind.
3. Das Grundgesetz als Vorbild („offene Staatlichkeit“) In einem Punkt kommt dem Grundgesetz allerdings wirklich eine Vorreiterrolle zu. Mit Art. 24 Abs. 1 GG, wonach der Bund Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen kann, hat der Parlamentarische Rat einst mit Blick auf die europäische Integration in weitsichtiger Vorwegnahme späterer Entwicklungen tatsächlich Neuland betreten. Für das darin zum Ausdruck gekommene Prinzip der „offenen Staatlichkeit“ gab es weder in der deutschen Verfassungsgeschichte noch sonst irgendwo ein Vorbild. Die Verfassungsmütter und -väter sind mit diesem „Wechsel auf die Zukunft“ ein Wagnis eingegangen, das sich mittlerweile in Gestalt des Prinzips der „begrenzten Einzelermächtigung“ als Grundlage des gesamten europäischen Kompetenzgefüges erfolgreich durchgesetzt hat. Dem Vorbild des Grundgesetzes sind inzwischen acht weitere europäischen Staaten gefolgt, nämlich die Niederlande, Italien, Belgien, Luxemburg, Norwegen, Dänemark, Schweden und zuletzt 2008 auch Österreich.28 In den meisten Fällen ist die Entstehung dieser Verfassungsnormen zwar auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union zurückzuführen. Sie erschöpft sich darin aber nicht, sondern greift mit dem Modell der „offenen Staatlichkeit“ einer Entwicklung vor, die als ein national entgrenzender und sich transnational entfaltender Prozess der Verfassungsintegration beschreiben werden kann und die Peter Häberle bewogen hat, das Grundgesetz als eine „europäische Teilverfassung“ zu verstehen.29 Die Konturen zwischen Verfassungsrecht und Völkerrecht verschwimmen, die Unterschiede verschwinden und die Trennwände zwischen beiden Disziplinen werden immer durchlässiger. Fast könnte man von einem Völkerverfassungsrecht sprechen, dessen Kern die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (UNCh) darstellt.30
28 Vgl. Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich vom 4. Jänner 2008, S. 1 ff. Dazu Christoph H. Schreuer, Der neue Art. 9 Abs. 2 der Österreichischen Bundesverfassung: Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale und ausländische Organe, in: ZaöRV 42 (1982), 93 ff. 29 Peter Häberle, Das Grundgesetz als Teilverfassung im Kontext der EU/EG – eine Problemskizze, in: Die Macht des Geistes. Festschrift für Hartmut Schiedermair, Heidelberg 2001, 81 ff.; ders., Integrationskraft der Verfassung (§ 15), in: Leitgedanken des Rechts. Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hanno Kube u.a., Band I, Heidelberg 2013, Rn. 11 ff. (S. 166 ff.). 30 So Méndez Escobar (Fn. 9 ), 171 ff.
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IV. Chancen und Risiken einer Globalisierung des Verfassungsrechts Zunächst ist allerdings zu klären, ob Verfassung und Verfassungsrecht überhaupt geeignet sind, auf eine transnationale Stufe gehoben und in einem globalen Kontext verstanden zu werden. Viele bezweifeln das, weil die gegenwärtige internationale Ordnung keinen konstitutionsfähigen Gegenstand für eine Verfasstheit nach bisherigen Vorstellungen bilden könne, die Übertragung des Verfassungsbegriffs auf weltweit tätige gesellschaftliche Akteure seinen Sinngehalt bis zur Unkenntlichkeit ausdünne und es dem globalen Konstitutionalismus vor allem an einer demokratischen Legitimationsquelle fehle.31 Selbst wenn man diese Einwände ernst nimmt, stellt sich gleichwohl die Frage nach den Möglichkeiten einer Beschränkung oder zumindest „Einhegung“ über- oder nichtstaatlich ausgeübter öffentlicher Gewalt. Auf diese Frage gibt es bisher noch keine überzeugenden Antworten. Andererseits ist ebenfalls zutreffend, dass der Staat, auch wenn er nicht mehr über das Gewaltmonopol verfügt, seine Verfassungsidentität nicht preisgeben darf, weil sein Bedeutungsverlust nicht durch die Herstellung einer neuen Art von Staatlichkeit auf globaler Ebene ausgeglichen werden kann. Eine „Globalisierung“ des Verfassungsrechts birgt also Chancen und Risiken.
1. Chancen „globalen“ Verfassungsrechts In der Verfassungsrechtswissenschaft besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass öffentliche Gewalt heute nicht mehr allein vom Staat, sondern auch von einer Vielzahl supra- und internationaler Organisationen, ja sogar von global vernetzten privaten Akteuren ausgeübt wird. Die Unterscheidung von „öffentlich“ und „privat“ ist ebenso fließend geworden wie die Trennung von Staat und Gesellschaft. Im Verhältnis von Bürger und Staat wird das vertikale System der Über- und Unterordnung zunehmend durch ein horizontales Modell des Aushandelns, der Anreize, der vertraglichen Einigung sowie der Selbstbeschränkung und Selbstkontrolle ersetzt. Das Verfassungsrecht kann und darf an dieser Entwicklung nicht blind vorübergehen. Wenn die Kernfunktion von Verfassungen darin besteht, öffentliche Gewalt zu bändigen, dann gilt das erst recht für die Ausübung von Herrschaft, die in globalen Dimensionen wirksam wird.32 Diese Feststellung führt zu der Erkenntnis, dass auch für jene transnationale Ebene ein Konzept entwickelt werden muss, dass sowohl formell als auch materiell die Bezeichnung „Verfassung“ verdient. Dabei geht es nicht um „Verfassunggebung“ im 31 Vgl. Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung II. Auswirkungen von Europäisierung und Globalisierung, Berlin 2012, 329 ff. 32 So zu Recht Grimm (Fn. 31), 338 f. Er stellt fest, dass die heutige internationale Ordnung „eher der vorstaatlichen mittelalterlichen Ordnung mit ihren zahlreichen voneinander unabhängigen Trägern vereinzelter Hoheitsrechte“ ähnele, und fährt fort: „Wie diese Ordnung bildet die internationale Ordnung derzeit keinen möglichen Gegenstand einer zusammenhängenden und umfassenden rechtlichen Ordnung nach Art der Verfassung“; in der Tat: „derzeit“, was allerdings wenig über die Zukunft der Verfassung aussagt.
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herkömmlichen Verständnis durch Schaffung eines allgemein gültigen, rechtsverbindlichen und mit Vorrang ausgestatteten Textdokuments – wer sollte es auch durchsetzen? –, sondern um Verfasstheit, d.h. um die Herstellung von Bedingungen, unter denen globale öffentliche Gewalt beschränkt und kontrolliert werden kann. Dazu taugen auch Teilverfassungen, welche sich ähnlich wie die heutiger Staaten nur auf einen Ausschnitt oder Sektor globalen Handelns beziehen. Jede internationale Organisation und jeder globale Akteur – sei es ein Unternehmen, eine NGO oder ein Staatenverbund – verfügen über interne Regeln, nach denen Strukturen, Funktionen, Kompetenzen und Verfahrensabläufe bestimmt und nach außen gerichtete Entscheidungen getroffen werden. Was hindert daran, diese Regeln mit dem Oberbegriff „Verfassung“ zu belegen? Wenn staatliche Grundordnungen als Teilverfassungen betrachtet werden, dann steht auch bei internationalen Organisationen oder globalen Akteuren einer solchen Bezeichnung für ihre Statuten nichts im Wege. Bekanntlich wird im anglo-amerikanischen Sprachraum jede Vereinssatzung „constitution“ genannt. Dort versteht man auch den Begriff „Konstitutionalismus“ im weiteren Sinn, wie Gerhard Casper zu Recht bemerkt: „Constitutionalism does not refer to having a constitution but to structural and substantive limitations on government.“33 Als Minimum an normativem Regelungsgehalt einer solchen globalen Teilverfassung sind zu verlangen: 1. Sicherung ihres Primats vor übrigem Recht; 2. Festlegung von Bezeichnung, Auf bau und Gliederung der Organe, 3. Bestimmung ihrer Aufgaben, Funktionen und Zuständigkeiten, 4. Vorschriften über das Verfahren der (politischen) Willensbildung und Entscheidungsfindung, 5. Vorgaben für die Einrichtung, Ausübung und Begrenzung öffentlicher Gewalt, und 6. Instrumente oder Mechanismen zur Überwachung und Kontrolle der Ordnungsmäßigkeit des Handelns. Letztere müssen vor allem den davon Betroffenen zugänglich sein. Man mag einwenden, dass dabei das demokratische Element von Verfassungen, genauer: der Legitimationszusammenhang zwischen Herrschenden und Beherrschten verloren gehe.34 Dem ist entgegenzuhalten, dass auch internationale Organisationen oder globale Akteure im zivilen Bereich aus Mitgliedern, Gesellschaftern, Destinatären oder Teilhabern bestehen, die an die Stelle des Volkes in Staatsverfassungen treten können. Dass es im globalen Maßstab weder Weltbürger (im Sinne Kants) noch gar ein „Weltvolk“ geben kann, sondern nur Völker, die als Handlungs- und Wir33 Gerhard Casper, Constitutionalism, in: University of Chicago Law Occasional Paper No. 22, 1987, 16. Die Behauptung, dass dieses Verständnis, bezogen auf internationale Organisationen, nur “wenig mit der Errungenschaft des Konstitutionalismus gemein“ habe und „von einem sehr verdünnten Verfassungsbegriff “ ausgehe (so aber Grimm [Fn. 31], 339), zeugt von einem Verfassungsbegriff, der sich noch nicht hinreichend von seiner engen Verknüpfung mit dem Staat gelöst hat, obwohl der Niedergang des Nationalstaates und seiner Souveränität durchaus zutreffend beschrieben wird (vgl. Grimm [Fn. 31], 329 ff.). Wer die Verfassung nur als „Staatsverfassung“ zu begreifen vermag, weil sie demokratischer Legitimation bedürfe, verkennt erstens, dass Verfassungen bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts nicht auf dem Volkswillen beruhten, und lässt zweitens außer Acht, dass die Hauptfunktion einer Verfassung in der Beschränkung politischer Herrschaft besteht. 34 So etwa Grimm (Fn. 31), 342: „Keine so genannte Verfassung auf der internationalen oder transnationalen Ebene ist derzeit im Stande, auch nur minimale demokratische Erwartungen zu erfüllen“. Wer an Verfassungen „demokratische Erwartungen“ knüpft und diese somit zu einem unverzichtbaren Begriffsmerkmal von Verfassungen erhebt, verkennt die historischen Zusammenhänge. Danach dürften weder die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 noch die Reichsverfassung von 1871 als „Verfassungen“ verstanden werden.
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kungseinheit ohne nationale Verfassungen nicht organisierbar sind, steht auf einem anderen Blatt. Hier geht es um Einrichtungen, die weltweit agieren und intern über ein Regelwerk verfügen, welche das globale Handeln begründet und begrenzt. Das Konzept eines Verständnisses der Statuten, Satzungen oder Grundordnungen globaler Akteure als sektorale, trans- oder internationale Teilverfassungen im Sinne oberster Richt- und Leitnormen für ihr Handeln hat den Vorzug, dass damit erstens das Problem des Gegenstandes von Verfasstheit geklärt ist, weil er sich aus den Funktionen und Aufgaben des jeweiligen Akteurs ergibt, dass zweitens die Frage offenbleiben kann, ob es sich hier um eine Form des völkerrechtlichen oder gesellschaftlichen Konstitutionalismus handelt, weil bei dieser Herangehensweise beide Arten von Teilverfasstheit untrennbar und ununterscheidbar miteinander verbunden sind, und dass drittens ein Prozess der Integration beschrieben wird, der ein hohes Maß an Dynamik, Flexibilität und Entwicklungspotential aufweist.35 Es ist zu erwarten, dass die so beschriebenen Teilverfassungen auf Dauer nicht vereinzelt und isoliert bleiben werden, sondern zu immer größeren, höheren und umfassenderen Einheiten zusammenwachsen und damit ein weltweiter transnationaler Entfaltungs- und Integrationsvorgang initiiert oder vorangetrieben wird, den man auch „Verfassungsglobalisierung“ nennen könnte. Im Grunde folgt dieses Konzept im Ansatz der Integrationslehre Rudolf Smends, wenn man sie auf die globale Ebene projiziert. Weltweit agierende teilverfasste Organisationseinheiten beziehen sich aufeinander, gleichen sich einander an und bilden allmählich Strukturen aus, die unverkennbar verfassungsähnlichen Charakter annehmen. Ein Beispiel: Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der zurzeit 34 Staaten angehören, führt im Rahmen ihrer „Strategie für globale Beziehungen“ weltweite Kooperationsprogramme mit und für Nichtmitglieder durch. Im Zentrum ihrer Bemühungen stehen die sogenannten „Globalen Foren“, die in zehn Fachbereichen internationale Führungspersönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft zusammenbringen, um den globalen Dialog zu stärken. Auf diese Weise entsteht das, was man gemeinhin „Global Governance“ nennt, nämlich ein Zusammenwirken von Regierungen, inter- oder supranationalen Institutionen sowie ökonomischen oder sonstigen Nichtregierungsorganisationen in einem Geflecht von regulierten Netzwerken oder formellen und informellen Beziehungen.36
2. Risiken „globalen“ Verfassungsrechts Auf der anderen Seite – und darin liegt kein Widerspruch – kann ein solch globaler Integrationsprozess nur gelingen, wenn zugleich verhindert wird, dass die Staaten 35 Im Einzelnen dazu Ulrich Sieber, Rechtliche Ordnung in einer globalen Welt. Die Entwicklung zu einem fragmentierten System von nationalen, internationalen und privaten Nomen, in: Rechtstheorie 41 (2010), 151–198. 36 Dazu Thomas Hale/David Held (ed.), Handbook of Transnational Governance. Institutions and Innovations, Cambridge 2011; Florian Pfeil, Globale Verrechtlichung. Global Governance und die Konstitutionalisierung des internationalen Rechts, Baden-Baden 2001; Marianne Beisheim/Lars Brozus, Neue Formen des globalen Regierens, in: Informationen zur politischen Bildung (izpb) (Fn. 16), 17 ff.
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und deren Verfassungen ihre Identität verlieren. Noch sind sie bei allem Verlust an Wirkungskraft durch Einflüsse transnationaler oder globaler Akteure die einzig effektiven und verlässlichen Garanten individueller Freiheit und Gleichheit. Die beschriebenen Erosionserscheinungen dürfen deshalb nicht so weit gehen, dass sie an den Kern demokratischer Verfassungsstaatlichkeit rühren. Mag sich auch die Verfassung vom Staat gelöst, das Verfassungsrecht vom Staatsrecht emanzipiert haben: die Grundprinzipien, auf denen unsere Verfassungskultur beruht, gilt es zu bewahren und gegen supranationale, internationale oder globale An- und Eingriffe zu verteidigen. Mit Recht hat kürzlich der Europäische Gerichtshof die Entscheidung der Kommission, dass die USA bei der Übermittlung personenbezogener Daten ein angemessenes Schutzniveau gewährleisteten, für ungültig erklärt und ihnen angesichts des NSA-Skandals die Qualität eines „safe harbor“ abgesprochen.37 Ebenso war es richtig, nach der Wiedervereinigung zu einer Zeit, als die europäische Integration mit der Osterweiterung und der Schaffung einer Währungsunion neue Triebkraft erhielt, auf Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission im Jahre 1992 in Gestalt des Art. 23 Abs. 1 GG eine „Struktursicherungsklausel“ in das Grundgesetz aufzunehmen, die von Rupert Scholz und mir als Berater Hans-Jochen Vogels konzipiert worden war.38 Danach wird die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union an die Bedingung geknüpft, dass die EU „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einem diesem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“. Was einige vorschnell bereits als Selbstverständlichkeit abgetan hatten, gewann mit dem Lissabon-Urteil des BVerfG von 200939 und einigen darauffolgenden Entscheidungen40 als zentraler Prüfungsmaßstab für die sog. Identitätskontrolle ausschlaggebende Bedeutung. Zuvor hatte das Gericht bereits 1986 klargestellt, dass die Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 24 Abs. 1 GG nicht dazu ermächtige, „die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen, aufzugeben“.41 Damit wird indirekt auf Art. 79 Abs. 3 GG verwiesen, der die bundesstaatliche Ordnung und die Grundsätze der Art. 1 und 20 GG für unantastbar erklärt. Daraus folgt: Globale Entwicklungen, die jene Strukturprinzipien gefährden oder in Mitleidenschaft ziehen, sind einer Mitwirkung oder Förderung durch staatliche Organe entzogen. Deutschland darf sich daran nicht beteiligen. Das gilt auch für völkerrechtliche Verträge, den Beitritt zu internationalen Organisationen oder die Unterstützung 37 EuGH, Urteil vom 6.10.2015 – Rs. C-362/14 (Maximilian Schrems v. Data Protection Commissioner); vgl auch die Pressemitteilung Nr. 117/15. 38 Vgl. Hans-Peter Schneider, Rupert Scholz als Initiator und Innovator im konstitutionellen Modernisierungsprozess des vereinigten Deutschland, in: Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik, Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag, Berlin 2007, 109 ff. 39 BVerfGE 123, 267 (356 ff.). Danach prüft das Gericht, „ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist“ (Leitsatz 4). 40 Vgl. BVerfGE 134, 366 (384 ff.) [2014]; 136, 1 (5) [2014]; 140, 317 [2015] sowie das Urteil vom 21.6.2016, 2 BvR 2728/13 u.a., NJW 2016, 2473–2489. 41 BVerfGE 73, 339 (375 f.) [1986].
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globaler Akteure, die jene Verfassungsstrukturen ablehnen, bedrohen oder sogar bekämpfen. Dazu ein aktuelles Beispiel: Der Entwurf des transatlantischen Handelsabkommens zwischen der EU und den USA (TTIP) sieht für Streitfälle ein Schiedsgerichtsverfahren vor, mit dessen Hilfe ausländische Investoren die Bundesrepublik Deutschland auf Schadensersatz in Anspruch nehmen könnten, wenn deren Gewinnerwartungen etwa durch höhere Umwelt- oder Verbraucherschutzstandards, die als Handelshemmnisse gelten, geschmälert würden, ohne dass ein staatliches Gericht angerufen werden kann. Inzwischen ist auf vielfachen öffentlichen Protest für das Freihandelsabkommen mit Kanada (CETA) ein neues „Investment Court System“ (ICS) vereinbart worden, das unabhängige Sondergerichte mit Berufsrichtern und einer zweiten Instanz vorsieht. Wenn man auch diese Form der außergerichtlichen Streitbeilegung, die weiterhin Schadensersatzklagen von Unternehmen gegen Staaten, die durch höhere Schutzstandards ihre Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen, als Verletzung der Rechtsschutzgarantie in Art. 19 Abs. 4 GG und damit als Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip wertet, dürfte der Bundestag dem Vertrag nicht zustimmen.42 Weitere Risiken – gleichsam als „vergiftete Frucht“ des Globalisierungstrends – ergeben sich aus dem Umstand, dass Organisation und Entscheidungsverfahren globaler Akteure vielfach dem Erfordernis demokratischer Legitimation nicht genügen.43 In diesem Fall darf die Bundesrepublik zwar mit ihnen kooperieren, aber weder Hoheitsrechte auf sie übertragen, noch bei ihnen Mitglied werden, solange keine vom deutschen Volk ausgehende Legitimation des Handelns der inter- oder transnationalen Organisation und der Einflussnahme auf ihre Entscheidungen gesichert ist. Dem Bundesverfassungsgericht stellte sich im Hinblick auf die EU sogar die Frage, ob zunächst die exekutiven Grundlagen und Verfahren eines Staatenverbunds geschaffen werden müsssten, um danach – vielleicht erst nach Jahren – die demokratisch-legitimatorischen Grundlagen zu schaffen. Die Antwort des Gerichts bestand in einem klaren „Nein“. Demokratie und Effizienz seien nicht zu trennen. „Entscheidend ist, dass die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt“.44 Für die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an Handlungen und Entscheidungen internationaler Organisationen oder globaler Akteure folgt daraus, dass eine fortschreitende Integration von einer zunehmenden Demokratisierung dieser Träger begleitet sein muss.
42 Dazu Sebastian Wuschka, Investitionsschiedsverfahren: Individualrechtsschutz oder „anti-demokratische Herrschaft der Konzerne“? in: Sinthiou Buszewski, Stefan Martini, Hannes Rathke (Hrsg.), Freihandel vs. Demokratie. Grundsätze transnationaler Legitimation: Partizipation, Reversibilität, Transparenz, Baden-Baden 2016, 15–38. 43 So zutreffend Grimm (Fn. 31), 342. Diese Feststellung hindert jedoch nicht, deren Organisationsstatute als (Teil-)Verfassungen zu begreifen (vgl. oben Fn. 34). 44 BVerfGE 89, 155 (186) [1993].
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V. Ansätze zu einem globalen Konstitutionalismus Auch diejenigen Stimmen in der Literatur, denen die Herausbildung eines globalen Konstitutionalismus illusorisch erscheint,45 können nicht leugnen, dass das Grundgesetz selbst mehrere Vorschriften enthält, aus denen eine Art „Globalisierungsauftrag“ herausgelesen werden könnte. Außerdem lässt sich zeigen, dass sich unter den geltenden Staatsverfassungen durch Vergleichung und Beratung eine globale Verfassungskultur gebildet hat, die weltweit zu Parallelentwicklungen sowohl im Verfahren der Verfassunggebung als auch in Auf bau und Inhalt von Verfassungen führt. Schließlich soll erneut auf das Konzept der sektoralen Teilverfassungen globaler Akteure hingewiesen und an Beispielen illustriert werden.
1. Weltbezüge im Grundgesetz Schon in der Präambel des Grundgesetzes bekundet das Deutsche Volk, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Diese Friedenspflicht spiegelt sich zum einen im Verbot des Angriffskrieges (Art. 26 GG) wider und wird zum anderen mit der Befugnis des Bundes aufgegriffen, in Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einzuwilligen, „die eine friedliche und dauerhafte Ordnung … zwischen den Völkern der Welt herbeizuführen und zu sichern“ (Art. 24 Abs. 2 GG) geeignet sind. In Art. 1 Abs. 2 GG bekennt sich das Deutsche Volk zu den Menschenrechten“ als Grundlage … des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“.46 Vereinigungen, die sich „gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten“ (Art. 9 Abs. 2 GG). Nicht zuletzt zeugt das Asylrecht (Art. 16a GG) von einer Rücksichtnahme des Grundgesetzes auf politische Verfolgung in aller Welt. Wolfgang Schäuble nannte die jetzigen Flüchtlingsströme treffend ein „Rendezvous unserer Gesellschaft mit der Globalisierung“.47 Wie jene Beispiele zeigen, ist das Grundgesetz der Globalisierung gegenüber also keineswegs „blind“, sondern nimmt dank des Weitblicks der Verfassungsmütter und -väter von 1948/49 Entwicklungen vorweg, die uns erst heute und künftig sogar verstärkt zu Bewusstsein kommen. In dieser Beziehung hat das Grundgesetz seine Zukunft noch vor sich.
2. Globale Verfassungsvergleichung Darüber hinaus nehmen Verfassung und Verfassungsrecht auch im Weltmaßstab globale Züge an. Die Verfassungsvergleichung hat in den letzten Jahrzehnten einen bisher nie gekannten Aufschwung genommen.48 Zahlreiche Aufsätze und Dokumen45 Vgl. statt anderer Ulrich Haltern, Internationales Verfassungsrecht? Anmerkungen zu einer kopernikanischen Wende, in: AöR 128 (2003), 511–557. 46 Vgl. Hans-Peter Schneider, Das Grundgesetz als Verfassung des Völkerfriedens, in: RuP 21 (1985), 138–145. 47 Zacharias Zacharakis, Schäubles Rendezvous mit der Globalisierung, in: ZEIT-ONLINE vom 23.3.2016. 48 Statt anderer vor allem: Peter Häberle, Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher
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tationen im Jahrbuch des öffentlichen Rechts legen davon beredtes Zeugnis ab.49 Zugenommen hat auch das weltweite Interesse an Verfassungsberatung. Es gibt seit Mitte der siebziger Jahre kaum eine neue Verfassung, an der ausländische Experten nicht mitgewirkt hätten. Selbst die Verfahren der Verfassunggebung gleichen sich einander an. Die Fälle, bei denen sich Nationalversammlungen auf fertige externe Entwürfe stützen können, werden seltener; meist sind mit deren Erarbeitung kleinere Verfassungskommissionen betraut. Weltweit üblich geworden ist vor der Verabschiedung einer Verfassung eine Phase der Öffentlichkeitsbeteiligung, in der während dieses Moratoriums der Entwurf der Bevölkerung bekannt gemacht wird und Änderungen oder Ergänzungen vorgeschlagen werden können. Große Ähnlichkeiten weisen schließlich auch die Gliederungen neuer Verfassungen auf, wie die beiden zuletzt in Kraft getretenen Verfassungen Tunesiens vom 26. Januar 201450 und Nepals vom 16. September 201551 zeigen. Beginnend mit allgemeinen Verfassungsprinzipien und Staatsgrundsätzen, folgt das Kapitel über die Grund- und Menschenrechte, an die sich zunächst Staatszielbestimmungen, dann Regelungen über die drei Funktionen des Staates und seine Organe sowie letztlich die Binnengliederung mit der Verteilung von Kompetenzen anschließen. Am Ende stehen meist Abschnitte über unabhängige staatliche Kommissionen, Kontrolleinrichtungen oder Beauftragte, über die Kommunalverwaltung und über die Haushalts- oder Finanzverfassung. In diesem Punkt hat das Grundgesetz ebenfalls eine Pionierrolle gespielt.
3. Transnationale Teilverfassungen Schließlich findet der globale Integrationsprozess auch im Bereich der Teilverfassungen inter- oder transnationaler Akteure eine Entsprechung. Es häufen sich Zusammenschlüsse, wechselseitige Mitgliedschaften oder Verflechtungen untereinander bei internationalen Organisationen, von denen viele Geschöpfe der Vereinten Nationen sind. Die Europäische Union ist zum Beispiel eigenständiges Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) sowie der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO). Seit dem Vertrag von Lissabon wurde die Zusammenarbeit der EU mit internationalen Organisationen intensiviert. Nach Art. 220 Abs. 1 AEUV betrifft dies außer den Vereinten Nationen und ihren Sonderorganisationen auch den Europarat und die OSZE sowie vor allem die OECD, bei der die Absicht. Späte Schriften, Berlin 2009; Susanne Baer, Verfassungsvergleichung und reflexive Methode: Interkulturelle und intersubjektive Kompetenz, ZaöRV 64 (2004), 735 ff.; Rainer Wahl, Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung. in: ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, Frankfurt a.M. 2003, 96 ff.; Bernd Wieser, Vergleichendes Verfassungsrecht, Wien 2005. 49 Jährlich werden unter den Rubriken „Entwicklungen des Verfassungsrechts“ (im europäischen und außereuropäischen Raum) Artikel hochrangiger Autoren und Dokumentationen neuer Verfassungstexte publiziert. 50 Dazu Achim Rüdiger Börner, Die neue Verfassung der Republik Tunesien. Eine Einführung, in: Gesellschaft für Arabisches und Islamisches Recht, Februar 2014. 51 Die neue Verfassung Nepals ist bisher nur in Form einer inoffiziellen englischen Übersetzung des Sekretariats der Verfassunggebenden Versammlung (Singha Durbar) verfügbar. URL: http://www. deutsch-nepal.de/download/nepal_constitution_2015.pdf.
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EU, deren Kommission regelmäßig an ihrer Arbeit teilnimmt, den Status einer „assoziierten Mitgliedschaft“ hat. In vergleichbarer Weise entstehen in Gestalt von Teilverfassungen auch Regeln für globale Akteure aus dem gesellschaftlichen Bereich (NGOs, Unternehmen, Hilfsorganisationen).52 Auf wirtschaftlichem Gebiet ist nicht nur an die WTO und unter ihrem Schirm an das GATT zu denken, sondern namentlich auch an die verschiedenen „Corporate Governance“-Kodizes, die für mehr Transparenz, öffentliche Rechenschaft und Verantwortung bei der Bilanzprüfung und beim Qualitätsmanagement sorgen sollen.53 Das Corporate-Governance-System umfasst die Gesamtheit aller internationalen und nationalen Regeln, Vorschriften, Werte und Grundsätze, relevanten Gesetze, Betriebsanweisungen, Richtlinien, Absichtserklärungen, Konventionen, Usancen und Gewohnheiten der Unternehmensleitung und -überwachung. Es geht auf eine schon in den dreißiger Jahren geführte Diskussion über Differenzen zwischen Aktionärsinteressen und Unternehmensführung zurück und bildet heute den rechtlichen und faktischen Ordnungsrahmen für die Leitung eines Großunternehmens. Sein Ziel besteht vornehmlich in einem Interessenausgleich zwischen allen von einem Unternehmen direkt oder indirekt Betroffenen, den Eigentümern (Aktionären), Vorständen, Kunden, Produzenten, Gewerkschaften und Investoren. Die Grundsätze guter Unternehmensführung haben in verschiedenen Versionen und angepasst an die nationalen Rechtsordnungen weltweit Geltung. Die Sanktionen bei Verstößen gegen „Corporate Governance“-Regeln reichen von Maßnahmen der Binnenrevision über erweiterte Transparenz- und Publizitätspflichten bis hin zu Haftungsrisiken und Schadensersatzforderungen. Sie können als eine Art globaler Unternehmensordnung verstanden werden54 und stellen damit eine „Teilverfassung“ für weltweit agierende Wirtschaftsbetriebe dar.
VI. Nachwort Ich komme zum Schluss. Wir leben in einer Zeit, in der – um mit Kant zu sprechen –“Übel und Gewalttätigkeit an einem Orte unseres Globs an allen gefühlet wird“. Dieser geradezu prophetische Satz aus dem dritten Abschnitt des Zweiten Teils seiner „Metaphysik der Sitten“ über das „Weltbürgerrecht“55 sollte uns eine Mahnung und Ermutigung zugleich sein. Er möge uns daran erinnern, dass nur noch globale Lö52 Zum „gesellschaftlichen Konstitutionalismus“ vgl. Gunther Teubner, Verfassungsfragmente. Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung, Berlin 2012; kritisch Grimm (Fn. 31), 340 ff. 53 Vgl. Agnes Arlt/Cécile Bervoets/Kristoffel Grechenig/Susanne Kalss, Die europäische Corporate Governance-Bewegung, in: GesRZ Sonderheft 2002, 64–80; Gerhard Schewe, Unternehmensverfassung. Corporate Governance im Spannungsfeld von Leitung, Kontrolle und Interessenvertretung, Berlin 2005; Klaus J. Hopt/Gunther Teubner (Hrsg.), Corporate Governance and Director‘s Liabilities. Legal, Economic and Sociological Analyses on Corporate Social Responsability, Berlin 1985; Klaus Hopt/ Axel von Werder, Handbuch Corporate Governance - Leitung und Überwachung börsennotierter Unternehmen in der Rechts- und Wirtschaftspraxis, Stuttgart 2016; Willi Schoppen (Hrsg.), Corporate Governance. Geschichte – Best Practice – Herausforderungen, Frankfurt a.M./ New York 2015. 54 Dazu aus strafrechtlicher Sicht Sieber (Fn. 35), 164 ff. 55 Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Abteilung 1 (Werke), Band VI, Berlin 1907, Metaphysik der Sitten, 353.
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sungen die Menschheit aus ihrer selbst gewählten lokalen Unmündigkeit befreien und aus ihren regionalen Egoismen herausführen können. Er sollte uns aber auch anspornen, auf dem Weg hin zur „universalen Weltgemeinschaft der Verfassungsstaaten und ihrer Bürger“ fortzuschreiten.56 Dazu müssen auch Verfassungen und das Verfassungsrecht sowie nicht zuletzt die Verfassungsrechtswissenschaft ihre Beiträge leisten, wenn sie auf Dauer überleben und nicht im Mausoleum der Vergangenheit begraben werden wollen, in dem nur noch Geister wohnen.
56 Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl., Baden-Baden 2011, 28. Vgl. auch Andreas Voßkuhle/Thomas Wischmeyer, Der Jurist im Kontext. Peter Häberle zum 80. Geburtstag, in: JöR NF 63 (2015), 407.
An Russland kann man nur glauben Eine soziologische, kulturwissenschaftliche und rechtliche Analyse Russlands* von
Prof. Dr. Alexander Blankenagel, Humboldt-Universität zu Berlin Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 II. Eine kleine Charakterisierung der UdSSR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 III. Die Gesetzmäßigkeit der Verfassung und die Geschmeidigkeit der Gesetze und ihrer Anwender . . . . 317 IV. Die Einstellungen der Bevölkerung und die Konstruktion der russischen gesellschaftlichen Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 1. Die Einstellungen der Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 2. Russische Alltagsmythen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 3. Die Selbstdarstellung der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 4. Die Spiegelung des Systems im Witz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 V. Der informale Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 1. Informelle Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 2. Die Russische Föderation: Verbleiben in der vertrauten Gemütlichkeit der Informalität . . . . . . . 335 VI. Sistema – Russlands Powernetzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 VII. Zurück zu Tjucˇev . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
I. Einleitung Der Titel meines Beitrags nimmt ein Zitat auf. Es stammt aus dem 19. Jahrhundert von dem russischen Dichter Fjodor Tjucˇev; es gibt wenige Unterhaltungen über Russland mit Russen, in denen nicht irgendwann ein russischer Gesprächspartner mit einer Mischung von Liebe, Stolz und Verzweiflung die folgende nicht vollstän In der Vortragsform wurde diese Abschiedsvorlesung mit einer Reihe von Karikaturen illustriert. Aus urheberrechtlichen Gründen konnten die Karikaturen nicht mit veröffentlicht werden. Der Vortragstext mit Karikaturen kann auf meiner homepage eingesehen werden: http://blankenagel.rewi. hu-berlin.de/. *
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dige Variante1 dieses Zitates bringt, wonach Russland mit dem Verstand nicht zu verstehen sei: An Russland könne man nur glauben. Mein Beitrag wird versuchen, an Russland nicht nur zu glauben, ein Russland, das in der Wahrnehmung durch die westliche Öffentlichkeit wieder ein Ort der Finsternis ist. Die Änderungen und Reformen in der UdSSR und in Russland in den 80er und 90er Jahren waren seinerzeit Grund für große Hoffnungen, in Russland ebenso wie bei uns; die Entwicklungen, die, wie wir es sehen, mit der ersten Präsidentschaft Putins begannen, haben diese Hoffnungen zerstört. Wieder aufgelebt ist die klischeehafte Wahrnehmung Russlands als eines autoritären, aggressiven und rücksichtslos seine imperialen Interessen durchsetzenden Staates und die Wahrnehmung der Russen als eines ebenso leidensfähigen wie demokratieunfähigen Volkes. Das Rechtssystem und seine Institutionen haben, so scheinen viele Beispiele zu belegen, wieder in ihren traditionellen 2 Status eines Nichtrechtssystems, wenn nicht gar Unrechtssystems zurückgefunden.3 Wie wird mein Versuch, an Russland nicht nur zu glauben, wie wird die Suche nach Gründen für die Nichterfüllung der Hoffnungen der 90er Jahre aussehen? Ich werde mich nur auf einige mögliche Gründe konzentrieren. Externe Faktoren – konkret vor allem die unglückliche Politik des Westens und zuvörderst der USA gegenüber Russland seit den 90er Jahren – werde ich ausblenden. In einem ersten Schritt werde ich noch einmal einen schnellen Blick auf die UdSSR werfen: vielleicht hat man in den 80er und 90er Jahren einige wesentliche Dinge übersehen, die beim Versuch der Einführung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hätten beachtet werden müssen. In einem zweiten Schritt werde ich einen Blick auf einige Mechanismen werfen, die das Rechtssystem in die alten Gleise zurückgeworfen haben: das wird es dann aber auch schon sein mit dem Recht in diesem Beitrag. Ich werde dann etwas empirisch werden und Ihnen einige Beispiele der oft wunderlichen Einstellungen der Russen zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geben. Im nächsten, vierten Schritt werde ich versuchen, Ihnen aus unterschiedlichen Perspektiven eine Vorstellung vom Funktionieren des russischen Staates und der russischen Gesellschaft zu geben. Mein Fokus werden hier die Mythen des Alltags, die Selbstdarstellung der Staatsmacht und die Wiederauferstehung des aus der UdSSR berühmten politischen Witzes sein. Ein fünfter Schritt wird dann versuchen, dieses 1 Hier die vollständige Variante: Mit dem Verstand ist Russland nicht zu verstehen, Умом Россию не понять, nicht zu ermessen mit allgemeinem Maß аршином общим не измерить, so ganz besonders ist seine Gestalt у нее особенная стать, an Russland kann man nur glauben. в Россию только можно верить 2 Hinter „traditionell“ verbirgt sich bei genauerer Betrachtung mehr als Nichtbefolgung von Gesetzen durch Staat und Gesellschaft oder abhängige und willkürliche Urteile aussprechende Gerichte: S. dazu die Darstellung des aus dem 15. und 16. Jahrhundert stammenden und erst im Jahre 2006 formell, wenn auch nicht unbedingt in der Sache abgeschafften Systems der kollektiven Verantwortlichkeit (krugovaja poruka) bei A. Ledeneva, How Russia Really Works. The Informal Practices That Shaped Post-Soviet Business and Politics, 2006, 91 ff., mit den Implikationen für das Rechtssystem, insbesondere die Erosion der Gleichheit vor dem Gesetz, 94, 97. 3 S. dazu V. Gel’man, The Unrule of Law in the Making: The Politics of Informal Institution Build ing in Russia, in Europe-Asia Studies 56 (2004), 1021 ff.; s. auch J. Kahn, The Rule-of-Law Factor, in: J. Newton/W. Tompson (Hrsg.), Institutions, Ideas and Leadership in Russian Politics, 2010, 159, bes. 170 ff.
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System etwas theoretischer zu erfassen. Ich werde mit Ihnen einen Blick auf die Funktionsweise von formellen und vor allem informellen Institutionen werfen. Daran anknüpfend werde ich durch dieses theoretische Raster das russische politische System und dann die die informellen Institutionen tragenden personalen Netzwerke betrachten. Am Schluß werde ich zu Tjucˇev zurückkehren: Ich werde Tjucˇev Aussage als Frage verstehen und versuchen, diese zu beantworten.
II. Eine kleine Charakterisierung der UdSSR Wie war sie nun, die UdSSR, die – bzw. die Russische Föderation als ihre HauptNachfolgerin – man, beginnend Ende der 80er Jahre, zu einer rechtsstaatlichen Demokratie mit einem privatwirtschaftlichen System machen wollte? Die erste Erinnerung ist sicherlich die an einen zu Zeiten diktatorischen, zu (aufgeklärteren) Zeiten „nur“ sehr autoritären Staat, in dem alle drei Elemente – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und privatwirtschaftliches System – fehlten. Prägend in zweierlei Hinsicht war die stalinistische Vergangenheit.4 Zum einen war und ist da das Trauma des stalinistischen Terrors und der Repressionen: Ohne jeden Grund und unvorhersehbar konnte jeder jederzeit in die Repressionsmaschine geraten: Verhöre, Folter, Zerstörung der Existenz, Lagerhaft, Tod. Zum anderen war und ist da aber die glückhafte Erinnerung an die paradiesischen Großmachtzeiten: Sieg im zweiten Weltkrieg, der Stolz, Europa vom Faschismus befreit zu haben, die größte territoriale Ausdehnung des russischen Staates in der Geschichte, Mittelosteuropa als abhängige Sicherheitszone, eine von zwei Weltmächten mit Atomwaffen und einem Weltraumprogramm: 5 „Großmacht sein“ (державность) ist ein Element russischer kollektiver Identität; 6 das russische kollektive Gedächtnis kann sich an Russland seit Peter dem Großen nur als Großmacht erinnern und in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg war dieses „Großmacht-Sein“ besonders strahlend und unangefochten!7 Das Wirtschaftssystem war eine planwirtschaftliche Staatswirtschaft. Hinter dieser Charakterisierung verbergen sich eine riesige wirtschaftslenkende Bürokratie mit allen bürokratiespezifischen Schrecklichkeiten, ein kontinuierliches Defizit an Rohstoffen und Waren, die Produzenten und Konsumenten zu ständigen Verletzungen 4 Wichtig ist, wie auch aus dem folgenden klar wird, sich zu vergegenwärtigen, daß Stalinismus nicht nur ein politisches System war, sondern, so S. Boym, eine Mentalität, ein „way of life“ und ein großes, totalitäres Schauspiel, das wieder und wieder erneut inszeniert werden mußte, s. dies., Commonplaces: Mythologies of Everyday Life in Russia, 1994, 110. 5 So auch S. Fitzpatrick, Introduction: Soviet Union in Retrospect – Ten Years After, in: W. Slater/A. Wilson (Hrsg.), The Legacy of the Soviet Union, 2004, 1/2 ff. 6 S. dazu etwa A. Clunan, The Social Construction of Russia’s Resurgence: Aspirations, Identity, and Security Interests, 2009, 54 ff.; A. Stent, The Limits of Partnership: US-Russian Relations in the Twenty-First Century, 2014, 79. 7 Die nach dem Zusammenbruch der UdSSR übriggebliebene Russische Föderation hatte denn auch keine Identität, in der sich die Gesellschaft hätte wiederfinden (oder finden) können, weswegen die bisherigen Präsidenten auch nach einer nationalen Vision, einer nationalen Idee immer wieder gesucht haben bzw. haben suchen lassen; s. dazu die kompakte Darstellung bei V. Tolz, A Future Russia: A Nation-state or a Multi-national Federation, in: W. Slater/A. Wilson (Hrsg.), The Legacy of the Soviet Union, 2004, 17/20 ff.
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der Planregeln zwangen, sowie eine jämmerliche Produktqualität als Resultat des fehlenden Wettbewerbs und des Anbieter-dominierten Marktes. Kennzeichen dieses Staates und dieser Gesellschaft war ein institutionelles Vielebenensystem, gebildet aus offiziellen und inoffiziellen – in anderer Terminologie: aus formellen und informellen – Institutionen. Parallel zu den staatlichen Institutionen existierten die Parteiinstitutionen; die Planwirtschaft wurde ergänzt durch die Schattenwirtschaft und den Import-Schwarzmarkt; die Konsumenten erhielten die benötigten Konsumgüter nicht nur im Einzelhandel und auf den Kolchosmärkten, sondern auch auf dem Schwarzmarkt, der wiederum von der Schattenwirtschaft beliefert wurde, oder über informale Versorgungsnetzwerke; in den Straf kolonien überließ die Lagerleitung einen Teil ihrer Funktionen den kriminellen Netzwerken und ihren Bossen. Formelle Institutionen verkümmerten zu einer ornamentalen, mal weniger, mal mehr durchsichtigen Oberfläche über den das System konstituierenden informellen Institutionen.8 In dem Nebeneinander von formellen und informellen Institutionen fanden sich die sie tragenden personalen Netzwerke.9 Zum Teil waren sie offiziell oder quasi-offiziell wie die Nomenklatura, also all jene Personen, die in Partei, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Führungspositionen innehatten.10 Zum Teil waren sie institutionenspezifisch wie etwa alle Geheimdienstmitarbeiter (ich zitiere Putin: „Einmal ein Cˇekist (also Geheimdienstler), immer ein Cˇekist.“11). Zum größeren Teil waren sie aber inoffiziell wie das unübersehbare und unsichtbare Netzwerk der wechselseitigen Hilfe bei der Bewältigung der Warenknappheiten und sonstigen Defizite des Alltags, durch einen Anruf des Bekannten beim Bekannten, der vielleicht jemanden kannte, da, wo die Knappheit behoben werden konnte. „Blat“ hieß diese „economy of favours“ auf russisch.12 Noch inoffizieller waren die Netzwerke der Paralegalen und Illegalen, der Produzenten und Anbieter sonstiger Leistungen in der Schattenwirtschaft, der Schwarzmarkthändler und, mit diesen zum Teil verwoben, der kriminellen Vereinigungen. Daß in diesen informellen Institutionen und Netzwerken nach allgemein bekannten, aber nirgendwo niedergelegten Tarifsystemen Geschenke ge J. Wheatley, Informal and Formal Institutions in the Former Soviet Union, in: C. Giordano/N. Hayoz (Hrsg.), Informality in Eastern Europe, 2013, 319/320 ff., der vier belastende Vermächtnisse der UdSSR identifiziert: Den Erpresserstaat, den rechtlichen Dschungel, Klientelismus und die, wie er sich ausdrückt, „informelle Falle des Präsidentialismus“. 9 G. M. Easter, Reconstructing the State: Personal Networks and Elite Identity in Soviet Russia, 2000, 173 f., zustimmend zitiert von Ledeneva (Fn. 2 ), 104. 10 Erinnert sei an die frühe Aussage von J. Berliner, Factory and Manager in the USSR, 1957, aus den 50er Jahren, der Schlüssel zum Erfolg in einer Planwirtschaft seien „znakomstvo i svjazi“ (Kenntnis der richtigen Leute und Haben der richtigen Verbindungen), zitiert nach Stent (Fn. 6 ), 187. 11 Wobei die Karriere Putins im KGB in den 70er und 80er Jahren nicht besonders erfolgreich war, so zumindest F. Hill/C. G. Gaddy, Mr. Putin: Operative in the Kremlin, 2013, 106 ff.; erst mit der politischen Entscheidung des Jahres 1998, ihn zum Leiter des FSB (der Nachfolge-Organisation des KGB) zu machen, änderte sich das. 12 S. dazu die wunderbare Studie von A. Ledeneva, Russia’s Economy of Favours: Blat, Networking and Informal Exchange, 1998; in kompakterer Form finden sich ihre Analysen und Ergebnisse in dies., Blat Lessons – Networks, Institutions, Unwritten Rules, in: W. Slater/A. Wilson (Hrsg.), The Legacy of the Soviet Union, 2004, 122 ff. – Die kleine Hilfe bei der Bewältigung des Alltags findet sich auch in der Kunst: Ein Beispiel ist das Lied „Kabinety moich druzej“ (Die Diensträume meiner Freunde) des oppositionellen Dichters und Chansonniers Bulat Okudžava, des sowjetischen Georges Brassens. 8
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tauscht und Entgelte bezahlt wurden, bei denen wir von Vorteilsgewährung oder Korruption sprechen würden, brauche ich nicht besonders zu erwähnen. Wenn wir uns vor dem Hintergrund dieser kurzen Beschreibung der UdSSR die Richtung der Reformen der 90er Jahre vergegenwärtigen, so müssen wir eine partielle Blindheit oder ein bewußtes Wegsehen bei den Reformpolitikern konstatieren, den russischen ebenso wie den westlichen. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Privatwirtschaft an Stelle von Planwirtschaft, das alles war im Fokus; die Reform der Wirtschaft stand dabei im Vordergrund. Die Veränderung des eigentlichen Funk tionsmodus des Systems, seine institutionelle Mehr-Ebenen-Struktur mit ihren Netzwerken, blieb unberücksichtigt.13 Übersehen wurden im Reformeifer auch die paradiesischen Aspekte der zur Abschaffung anstehenden UdSSR.
III. Die Gesetzmäßigkeit der Verfassung und die Geschmeidigkeit der Gesetze und ihrer Anwender Betrachten wir ganz kurz die Rechtsordnung bzw. das, was aus ihr geworden ist: Die russische Verfassung von 1993 hat einen starken und, abgesehen von diesen und jenen Besonderheiten, überzeugenden Grundrechtsteil; auch mit dem ersten Kapitel, den Grundlagen der Verfassung, kann man im Wesentlichen gut leben, ebenso wie mit dem Kapitel über das Gerichtssystem und die Rechtsprechung. Wenig gelungen sind die Kapitel über das politische System mit seiner Schaffung eines Superpräsidentialismus und das Kapitel über das föderale System: die Kompetenzverteilung ist sehr unklar und andere wichtige Fragen wie etwa die Finanzen oder die Repräsentation der Gliedstaaten auf der gesamtstaatlichen Ebene sind gar nicht oder nur rudimentär geregelt. Das Problem der russischen Verfassung ist ihre Konkretisierung durch den Gesetzgeber und ihre Anwendung durch die Exekutive und die Gerichte, bis hin zum russischen Verfassungsgericht. Bei dieser Konkretisierung ist die Steuerungseffektivität der Verfassung mittlerweile äußerst gering; das war nicht immer so. Die Konkretisierung durch den Gesetzgeber geschieht nach dem Motto: Was kümmert mich als Gesetzgeber, was in der Verfassung steht! In Abwandlung eines der russischen Alltagsmythen über Gesetze: Die Verfassung ist wie eine Deichsel: Wohin man sie wendet, da geht sie auch hin.14 Argumentiert wird dabei gerne mit anderen Ländern: Warum sollte dem russischen Gesetzgeber nicht erlaubt sein, was die Gesetzgeber in anderen Ländern gemacht haben: Shopping im globalen Supermarkt rechtlicher Kuriositäten! Einige Beispiele: Der Föderalismus wurde durch das Gesetz „Über die allgemeinen Prinzipien der Organisation der gesetzgebenden und exekutiven Organe der 13 S. die Wiedergabe der Aussage von J. Barber in einem persönlichen Gespräch bei Ledeneva, Blat Lessons (Fn. 12), 122: „If we had not underestimated blat, we would have been able to predict the collapse of the Soviet Union.“ 14 S. die Originalversion bei A. Ledeneva, Can Russia Modernise. Sistema, Power Networks and Informal Governance, 2013, 161; s. auch ebda. eine weitere „sprichwörtliche“ Beschreibung des Rechtssystems im zaristischen Russland, der UdSSR und der Russischen Föderation: „Wozu brauche ich Gesetze, wenn ich den Richter kenne.“
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Staatsgewalt der Subjekte der Russischen Föderation“ unter der föderalen Oberfläche faktisch abgeschafft.15 Wahl- und Parteiengesetzgebung zeichnen sich durch strategische Unklarheiten und Unterlassungen aus, die ein weites Spielfeld für die exekutive Steuerung der Wahlen – der Zulassung zur Wahl, des Verfahrens der Wahl und der Wahlergebnisse – eröffnen:16 „Anwendung administrativer Ressourcen“ nennt man das.17 Ich muß hier freilich anmerken, daß auch die effizientesten administrativen Ressourcen keine verfassungsändernden Mehrheiten für eine Partei im Parlament schaffen können, wie sie die Partei „Einiges Russland“ hatte und wie sie faktisch auch jetzt noch existiert. Da bedarf es auch einer besonderen Wählerschaft; ich werde darauf zurückkommen. Die Grundrechte: Das die Religions- und Gewissensfreiheit konkretisierende Gesetz „Über die Gewissensfreiheit und die religiösen Vereinigungen“ privilegiert unbekümmert die russisch-orthodoxe Kirche gegenüber anderen, vor allem christlichen Religionsgemeinschaften und erneuert so die historische, seit dem 16. Jahrhundert existierende Verschränkung zwischen russischem Staat und orthodoxer Kirche.18 Die nach den Massendemonstrationen des Jahres 2011 und 2012 erfolgten Änderungen des schon damals restriktiven Versammlungsgesetzes machen Demonstrationen und Versammlungen faktisch erlaubnispflichtig; der harsche Strafrahmen sowie die Anwendung des Gesetzes wirken auf die Absicht der Organisation von Demonstrationen oder Teilnahme an ihnen tendenziell strangulierend.19 Die Vereinigungsfreiheit ist durch das Gesetz über die gesellschaftlichen Vereinigungen, das Gesetz über die Registrierung als ausländischer Agent sowie das Gesetz über die unerwünschten Organisationen zu einem Grundrecht auf Gründung von patriotischen und Freizeitvereinen verkommen.20 Dies mag als Illustration genügen: Der Gesetzgeber hat sich der Verfassung bemächtigt und sie auf eine ornamentale Funktion reduziert.21 Von der Rechtsanwendung durch die Gerichte ist nicht besseres zu berichten. Die Aussage ist allerdings zu präzisieren: Die Mehrzahl der Verfahren besitzen keinerlei 15 Flankiert bzw. vorbereitet wurde dies durch andere Maßnahmen wie etwa die gesetzliche Neuregelung der Zusammensetzung des Föderationsrates – die Verfassung überläßt diese Frage dem Gesetzgeber – oder die Begründung der ursprünglich 7, heute 8 Föderalen Kreise; eine sehr kompakte Darstellung s. bei G. Sharafutdinova, Political Consequences of Crony Capitalism inside Russia, 2010, 148 f. 16 S. etwa S. Fish, Democracy Derailed in Russia, 2005, insbes. 30 ff.; Gel’man (Fn. 3 ), 1030 ff.; G. Michaleva, New Forms of Civic Activism and Informal Parties, in: C. Giordano/N. Hayoz (Hrsg.), Informality in Eastern Europe: Structures, Political Cultures and Social Practices, 2013, 337/348 ff.; Sharafutdinova (Fn. 15), 37. 17 S. auch Ledeneva (Fn. 2 ), 47 ff., als Teil der Darstellung der Verwendung von „cˇernyj piar“ (schwarzer public relations; das Wort „piar“ ist die russifizierte Variante der amerikanischen Abkürzung für public relations (pr)). 18 Einiges Anschauungsmaterial zur Verfilzung von Staat und Kirche s. bei A. Arantunyan, The Putin Mystique. Inside Russia’s Power Cult, 2014, 251 ff. 19 S. dazu A. Blankenagel/I. Levin, Postanovlenie Konstitucionnogo Suda Rossijskoj Federacii ot 14.2.2014 No. 4 – P: Ostatki svobody sobranij pered konstitucionnym sudom (Die Entscheidung des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation vom 14.2.2014 No. 4 – P: Die Reste der Versammlungsfreiheit vor dem Verfassungsgericht), in: Sravnitel’noe konstitucionnoe obozrenie 5/96 (2013), 106– 113. Zur zunehmenden Pönalisierung abweichender Meinungsäußerung s. den Artikel von A. Verchovskij, Tjur’ma za slovo (Gefängnis für das Wort), Vedomosti vom 21.9.2015. 20 S. die Darstellung vor allem auch der praktischen Umsetzung der Gesetze und der mannigfachen Schikanen des Alltags seitens der zuständigen Behörden bei Michaleva (Fn. 16), 339 ff. 21 Weitere, sehr kompakt aufgezählte Beispiele bei Stent (Fn. 6 ), 253.
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politische Signifikanz, weswegen hier die Gerichte ihre Entscheidungen frei von politischer Einflußnahme fällen. Schrecklichkeiten sind insoweit Gerichtssystem-endogen. Für die hohen Verurteilungsraten und harten Urteile etwa brauchen die Strafrichter keinen politischen Einfluß; das machen sie aus eigener Überzeugung. Politischer Einfluß fehlt in der Regel auch im Wirtschaftsrecht (hier ist das Problem der Einfluß der Prozeßparteien). Soweit Verfahren aber politische Signifikanz haben – in der Regel sind das strafgerichtliche, manchmal wirtschaftsgerichtliche, nämlich Steuerverfahren und natürlich auch die verfassungsgerichtlichen Verfahren –, sind die Entscheidungen prognostizierbar.22 Dies zeigen im Strafrecht die Verfahren gegen M. Chodorkovkij,23 A. Naval’nyj24 und S. Udal’cov oder etwa im Verfassungsrecht die Entscheidungen zum neuen Versammlungsrecht25, zur NGO-Gesetzgebung26 oder zur Verfassungsmäßigkeit der Eingliederung der Krim.27 Beim Verfassungsgericht muß man freilich den Gerichtspräsidenten V. Zor’kin auch nicht zum Jagen tragen.28 Auch die externe Stützmauer des russischen Rechtssystems, d.h. die Mitgliedschaft im Europarat und die Judikatur des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, des EGMR, wird neuerdings geschliffen. Bis vor kurzem wurden die Entscheidungen des EGMR durch russische Gerichte in der Regel fraglos rezipiert und auf jeden Fall im Endeffekt immer umgesetzt.29 Dies galt auch dort, wo unterschiedliche Grundvorstellungen aufeinanderprallten, z.B. beim Konflikt zwischen der Rechtssicherheit und dem Grundsatz der richtigen Entscheidung. Höhepunkt dieser Einigkeit war die Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts, mit der dieses die Todesstrafe wegen der Vorwirkungen des von der RF trotz Verpflichtung nie unterzeichneten 6. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention faktisch abschaffte.30 Dies wird in Kontinuität zur UdSSR mit dem anschaulichen Terminus „Telephonrecht“ beschrieben, s. die Darstellung bei Ledeneva (Fn. 14), 150 ff. sowie 159 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen und wörtlichen Auszügen aus Interviews. 23 Zu den Hintergründen der Inhaftierung von Chodorkovskij – Nichtbeachtung ungeschriebener Regeln, etwa des mit der Präsidialverwaltung/dem Präsidenten nicht abgestimmten Finanzierens politischer Parteien – s. Aruntanyan (Fn. 18), 197 ff.; Arantunyan stützt sich unter anderem auf Aussagen des damaligen Ministerpräsidenten M. Kasjanov. 24 Zu den Hintergründen der Aktionen und Sanktionen gegen Navalnyj s. wiederum Aaratunyan (Fn. 18), 238 ff. 25 S. die Entscheidung des VerfG RF vom 14.2.2014 No. 4 – P. 26 S. die Entscheidung des VerfG RF vom 8.4.2014 No. 10 – P; Beschluß des VerfG RF vom 13.5.2014 No. 971 – O. 27 S. noch einmal den Artikel „тюрьма за слово“ (Gefängnis für das Wort) in Vedomosti vom 22.9.2015 mit Nachweisen zu weiteren Verurteilungen für Meinungsäußerungen etwa im Zusammenhang mit der Annexion der Krim; Vehikel der Verurteilung ist die Gesetzgebung gegen Extremismus. 28 Schon in den 90er Jahren wurde Zor’kin Mitglied der „Einigkeit im Namen Russlands“ (soglasie vo imja Rossii) zusammen mit S. Glaz’ev, N. Michalkov, A. Ruckoj, A. Tsipko und S. Govoruchin, s. Hill/Gaddy (Fn. 11), 43. Zor’kin schreibt regelmäßig konservative-nationalistische Artikel in der russischen Tagespresse, vor allem in der regierungsdominierten Rossijskaja Gazeta, s. z.B. seinen Artikel „Der heutige Staat in der Epoche der ethnosozialen Vielfalt“ vom 7.9.2011, www.rg.ru/2011/09/07/ zorkin-site (zuletzt aufgerufen am 22.8.2016). 29 S. etwa, für den Bereich des Art. 6 EMRK, M. Pietrowicz, Die Umsetzung der zu Art. 6 Abs. 1 EMRK ergangenen Urteile des EGMR in der Russischen Föderation, 2010. 30 S. die Entscheidung vom 19.11.2009 No. 1344 – O – P; die Vollstreckbarkeit der Todesstrafe war 22
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Drei Entscheidungen haben diese Eintracht ge-, wenn nicht gar zerstört. Eigentlich lächerlich war die Entscheidung im Fall K. Markin; ein männlicher Armeeangehöriger hatte das nur weiblichen Armeeangehörigen zustehende Recht auf einen dreijährigen Erziehungsurlaub beansprucht. Die der Beschwerde stattgebende Entscheidung des europäischen Gerichtshofs wurde in der RF als Angriff auf die Souveränität Russlands angesehen.31 Ähnlich ist es mit der Ancˇugov/Gladkov-Entscheidung zum aktiven Wahlrecht für Strafgefangene32 und der Entscheidung zur Entschädigung der JUKOS-Aktionäre in Höhe von 1,9 Mrd. Euro; Chodorkovskij selbst hatte nicht geklagt.33 Nach diesen drei Entscheidungen steht die Begründung einer eventuellen Nichtbefolgung von Entscheidungen des EGMR auf der Tagesordnung. Eine Gruppe von Duma-Abgeordneten hat dem Verfassungsgericht zu diesem Zweck eine Steilvorlage in Form eines Normenkontrollantrags gegen das Ratifikationsgesetz der Europäischen Menschenrechtskonvention und andere mit deren Geltung verbundene Gesetze gegeben. In seiner Entscheidung hat das russische Verfassungsgericht – unter genüßlichem Verweis u.a. auf die Görgülü-Entscheidung des BVerfG – sich zum Brückenwärter gegen das unziemliche Eindringen der EGMR-Rechtsprechung in das russische Rechtssystem gemacht und den EGMR darauf hingewiesen, daß die Europäische Menschenrechtskonvention im Rang der russischen Verfassung nachgehe und der Gerichtshof doch bitte ein wenig Achtung vor den Besonderheiten der russischen kollektiven Identität haben möge.34 Mit einem Wort: Von Verfassung und ihrer Steuerungskraft, Rechtsstaatlichkeit und richterlicher Unabhängigkeit ist dort, wo diese den in jedem politischen System schon im Jahre 1999 ausgesetzt worden, weil nur Geschworenengerichte das Recht haben, zum Tode zu verurteilen, damals aber nur in wenigen Gliedstaaten Geschworenengerichte existierten, was das russische Verfassungsgericht als gleichheitswidrig erachtete, s. die Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts vom 2.2.1999 No. 3 – P. 31 Application no. 30078/06, Konstantin Markin v. Russia, Judgment of 22 March 2012, http:// hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-109868 (zuletzt aufgerufen am 22.8.2016). 32 Applications nos. 11157/04, 15162/05, Anchugov and Gladkov v. Russia, Judgment of 4 July 2013, http://hudoc.echr.coe.int/sites/eng/pages/search.aspx?i=001-122260 (zuletzt aufgerufen am 22.8.2016). 33 Application no. 14902/04, OAO Neftyanaya Kompaniya Yukos v. Russia, Judgment of 20 September 2011, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-106308 (zuletzt aufgerufen am 22.8.2016). 34 Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts vom 15.7.2015 No. 21 – P; s. dazu A. Blankenagel/I. Levin, V principe nel’zja, no možno: Konstitucionnyj sud Rossii i delo ob objazatel’nosti rešenij Evropejskogo Suda po Pravam Cˇeloveka (Im Prinzip nein, aber es geht: Das russische Verfassungsgericht und das Verfahren zur Verbindlichkeit der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte), in: Sravnitel’noe konstitucionnoe obozrenie 108 (2015), Nr. 5, 152 ff. – In der Ancˇugov und Gladkov-Entscheidung ist zum ersten Mal von der im Dezember 2015 eingeführten Änderung des VerfGG RF Gebrauch gemacht worden, wonach das VerfG die Ausführbarkeit von EGMR-Urteilen im Hinblick auf deren Vereinbarkeit mit der russischen Verfassung überprüfen kann; diese Änderung erfolgte im Hinblick auf die oben zitierte Verfassungsgerichtsentscheidung zur Befolgung von EGMR-Entscheidungen vom 14.7.2015 No. 21 – P. Die Entscheidung zur Umsetzbarkeit von Ancˇugov und Gladkov auf Antrag des Justizministeriums und des Beauftragten der RF beim EGMR erging am 19.4.2016 (No. 12 – P; mit drei Sondervoten von Kazancev, Jaroslavcev und Aranovskij) und hält eine generelle Einräumung des Wahlrechts an Strafgefangene wegen Art. 32 Abs. 3 Verf RF für verfassungswidrig und daher unmöglich, wohl aber eine differenzierende Regelung z.B. nach der Schwere der Tat für möglich. Ein Wahlrecht für die Beschwerdeführer Ancˇugov und Gladkov lehnt das VerfGRF wegen der Schwere der begangenen Verbrechen (Mord) ab.
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vorkommenden Bewährungsproben unterworfen werden, kaum eine Spur: Die Exe kutive bestimmt die Regeln und ihre Auslegung. Das alles ist ohne eine Änderung der Verfassung geschehen: Vor dem Bühnenbild der demokratischen und rechtstaatlichen Verfassung wird ein ganz anderes, das falsche Stück gespielt.
IV. Die Einstellungen der Bevölkerung und die Konstruktion der russischen gesellschaftlichen Wirklichkeit 1. Die Einstellungen der Bevölkerung Autoritäre politische Systeme beziehen jeweils nur einen kleinen Teil ihrer Akzeptanz aus Unterdrückung und Drohung mit Sanktionierung; der größere Teil beruht in der Regel auf einer wie auch immer austarierten Konvergenz der kollektiven Wertsysteme der Gesellschaft mit dem Handeln der systemtragenden Eliten. Werfen wir auf der Suche nach einer solchen Konvergenz einen kurzen Blick auf die Einstellungen der russischen Gesellschaft zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und zu ihren Institutionen und Eliten.35 Dieser Blick wird dadurch ermöglicht, daß die Einstellungen der russischen Gesellschaft seit den 90er Jahren kontinuierlich erforscht werden, vor allem durch das eher systemkritische Levada- und das eher systemnahe VCIOMMeinungsforschungsinstitut.36 Demokratie, Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit der Gerichte, Unbestechlichkeit der Verwaltung und der Gerichte sind Dinge, die sich die überwiegende Mehrzahl der russischen Bevölkerung wünscht.37 Der Seufzer der Erleichterung, der manchem hier entfahren mag, ist allerdings verfrüht:38 Die Inhalte, die mit diesen Begriffen verbunden werden, sind dann doch zum Teil eher speziell. Demokratie wird kombiniert mit einem starken Präsidenten und einer starken Exekutive, 35 S. dazu den Versuch der Einschätzung des generellen Systemvertrauens und seiner Konsequenzen bei W. Mishler/R. Rose, What are the Political Consequences of Trust. A Test of Cultural and Institutional Theories in Russia, Comparative Political Studies XX, X. month (2005), 1 ff., bes. 15 ff. 36 Genauer gesagt fand eine feindliche Übernahme des VCIOM durch V. Surkov statt, worauf hin dann Ju. Levada das VCIOM verließ und sein Levada-Institut gründete, s. dazu M. Sygar, Endspiel. Die Metamorphosen des V. Putin, 2015, 123 f. – Des Weiteren werden noch einige größere Untersuchungen des INDEM-Instituts von G. Satarov verwertet. Westliche Erfassung russischer Empirie s. etwa bei R. Rose/W. Mishler/N. Munro, Russia Transformed. Developing Popular Support for a New Regime, 2006; sowie, allerdings nicht auf die Einstellungen der Bevölkerung, sondern die Systemgrundlagen bezogen P. Sutela, The Political Economy of Putin’s Russia, 2012. 37 S. Levada, Obšcˇestvennoe mnenie 2015, 50; etwa die Levada-Unfrage vom 20.1.2016: 62 % waren der Meinung, daß Russland zumindest teilweise demokratisch sei. 38 Besonders illustrativ die Levada-Umfrage vom 29.4.2015: Vom Februar 1998 bis zum März 2015 waren in insgesamt elf Umfragen jeweils zwischen 60 % und 70 % der Meinung, Ordnung sei wichtiger als Demokratie, und vorzugswürdig auch dann, wenn deswegen demokratische Prinzipien und Grundrechte verletzt würden; s. weiter Levada vom 6.4.2015 zum vorzugswürdigen politischen und Wirtschaftssystem: Für die sowjetische Demokratie waren 34 % für das aktuelle System, 29 %, für die westliche Demokratie 11 % und 8 % für etwas anderes: Die Umfrage vergleicht die Ergebnisse von Umfrage bis zurück in den Februar 1996 und nur einmal, im Februar 2008, war die sowjetische Demokratie nicht die attraktivste. Ähnlich die Umfrage zum Wirtschaftssystem, mit einem noch klareren Plus für das planwirtschaftliche System.
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die im Zweifel alles soll bestimmen können.39 Neben dem Präsidenten genießen Armee, Kirche und Sicherheitsorgane großes, Regierung, Parlament, Polizei, Gerichte, Staatsanwaltschaft und Presse geringes institutionelles Vertrauen.40 Rechtsstaatlichkeit wird vor allem als Strenge des Gesetzes und seiner Anwender verstanden.41 Die Gerichte sollen unabhängig sein; aber gleichzeitig soll die Exekutive im Zweifel den Gerichten sagen können, was sie zu tun haben.42 Die Grundrechte genießen hohes Ansehen, aber: Es sind die aus der sozialistischen Vergangenheit vertrauten sozialen Grundrechte, denen die größte Bedeutung zugemessen wird.43 Die klassischen Abwehrrechte wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit befinden sich alle im unteren Drittel
39 S. die Levada-Umfrage vom 28.10.2014: 62 % der Befragten befürworteten eine Demokratie für Russland, 24 % waren dagegen; nur 13 % der Befragten wollten allerdings eine Demokratie westlichen Typs, 55 % eine ganz besondere, für Russland passende Demokratie und 16 % eine Demokratie wie in der UdSSR; 39 % sahen erheblichen Anpassungsbedarf des westlichen Demokratiemodells bei seiner Einführung in Russland, während 45 % davon ausgingen, daß das westliche Demokratiemodell für Russland überhaupt nicht paßt und es zerstört. 40 Levada-Centr, Umfrage „institucional’noe doverie“ (institutionelles Vertrauen) vom 7.10.2015; Levada, Obšcˇestvennoe mnenie 2015, 112; s. hier dann auch in den jeweiligen Kapiteln das Vertrauen zu den konkreten Institutionen, so etwa zur Kirche 176 mit 75 % völligem oder überwiegendem Vertrauen; s. ebda. etwa das Vertrauen zu den Geheimdiensten 135 f., zur Armee S.13 f. – s. weiter die Levada-Umfrage vom 19.8.2015 zur Verläßlichkeit und Ehrlichkeit der Machthaber und offiziellen Statistik und zu Ängsten bzw. Angstfreiheit bei Äußerungen über Putin und die Regierung: immerhin fast die Hälfte, so die Umfrage, äußern sich ganz oder im Wesentlichen offen; zur positiven Sicht der Geheimdienste s. auch die Umfrage vom 27.1.2015; zur negativen Sicht der Regierung s. die Levada-Umfrage vom 31.5.2010 (zu einer Zeit, als Putin Ministerpräsident war); zu gestiegenen, aber immer noch geringem Vertrauen in die Massenmedien s. die Umfrage vom 23.10.2015. 41 S. etwa Levada vom 29.4.2015 zum Verhältnis von Demokratie und Ordnung; s. weiter die wegen ihrer Symbolik sehr aussagekräftige Umfrage von Levada zur Wiedererrichtung des Denkmals für F. Dzeržinskij, den ersten Geheimdienstchef und Begründer des „roten Terrors“, vor dem FSB-Gebäude an der Lubjanka vom 10.8.2015: Jeweils knapp über 50 % waren dafür, weniger als 25 % dagegen. Sehr aussagekräftig schließlich die immer noch insgesamt positive Einstellung gegenüber Stalin, s. Levada, Obšcˇestvennoe mnenie 2015, 299 ff. 42 Hier sind zwei inhaltliche Varianten zu unterscheiden: Die eine ist die Konstatierung der empirischen Abhängigkeit der Judikative von der Exekutive; s. dazu etwa A. K. Gorbuz/M. A. Krasnov/E. A. Mišina/G. A. Satarov, Transformacija sudebnoj sistemy, Opyt kompleksnogo analiza (Die Transformation des Gerichtssystems: Die Ergebnisse einer komplexen Analyse), 2010, 382 ff., bes. 385, 386; s. weiter die Bewertungen des Zustandes des Gerichtssystems in der empirischen Untersuchung von V. L. Rimskij, Obzor sociologicˇeskich issledovanij sudebnoj sistemy Rossii, vypolnennych v period s konca 1991 g po nastojašcˇ ij moment (Übersicht über die soziologischen Untersuchungen des Gerichtssystems Russlands von Ende 1991 bis heute), 2009, 36 ff. sowie 46 ff. die Bewertung der Effizienz des Gerichtssystems im Hinblick auf die Korruption. Das andere ist die Meinung, daß im Zweifel und letztlich die Exekutive entscheiden sollte und eben nicht die Judikative, s. etwa Gorbuz/Krasnov/Mišina/Satarov, a.a.O. 403, 404; zur weiteren Bestätigung s. http://forumyuristov.ru/showthread.php?t=19437 (zuletzt aufgerufen am 20.8.2016). 43 Sehr aufschlußreich die Aufschlüsselung der Verfassungsbeschwerden nach Grundrechten durch den Gerichtsvorsitzenden Zor’kin in einer Rede im Mai 2016: Im Zeitraum 2012 bis 2015 gingen 45700 Verfassungsbeschwerden beim Verfassungsgericht ein: mehr als 18000 richteten sich gegen Strafrechtsnormen, 8800 gegen Zivilrechtsnormen, mehr als 12100 betrafen unterschiedliche soziale Grundrechte und nur 1200 betrafen politische Rechte; Zor’kin spricht in diesem Zusammenhang von „Fragen der Organisation der öffentlichen Gewalt“, s. den Artikel von A. Kornja in den Vedomosti vom 17.5.2016.
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der Wichtigkeitsskala.44 Noch schlechter steht es um Presse- und Medienfreiheit.45 Einschränkungen müßten die sonst zügellose Freiheit der amoralischen Massenmedien bändigen; die staatliche Beeinflussung und Kontrolle46 der großen Fernsehsender ruft daher wenig Widerspruch hervor. Die Einstellungen zum Westen schließlich, um einen Blick auf die auch für das eigene Land aussagekräftige Wahrnehmung der „Welt der Anderen“ zu werfen, sind seit einigen Jahren katastrophal.47 Besonders beeindruckend, ja verwirrend ist die Widersprüchlichkeit der kombinierten Antworten; ein Beispiel: Der starke Präsident soll die Regierung führen. Mit der Regierungsarbeit ist man sehr unzufrieden; mit der des Präsidenten, der ja als starker Präsident die Regierung führt, mit der man so unzufrieden ist, ist man andererseits sehr zufrieden.48 Das Vertrauen zum Präsidenten ist hoch, das zur Regierung S. Levada, Obšcˇestvennoe mnenie 2015, 164. S. etwa Levada, Obšcˇestvennoe mnenie 2015, 166; eine Umfrage, die eine erhebliche Reserve gegenüber den Informationen der staatlich kontrollierten Funkmedien zeigt, s. ebda., 167 ff. Ein weiterer Grund für die niedrige Bewertung der Bedeutung von Presse und Rundfunk mag die Käuflichkeit der Presse sein, s. dazu im Rahmen der Darstellung der Produktion und Verwendung von Kompromat Ledeneva (Fn. 2 ), 72 ff. 46 Zur Zensur s. Levada, Obšcˇestvennoe mnenie 2015, 169: insgesamt 79 % befürworteten in dieser oder jener Weise staatliche Zensur und Kontrolle. Dazu paßt Levada vom 10.8.2012: Bei der Alternative Menschenrechte bzw. Ordnung sprachen sich 42 % für die Menschenrechte, aber 53 % für die Ordnung aus. Zu den Vorstellungen, wie die Massenmedien auszusehen hätten, s. etwa Levada vom 7.12.2012 sowie Levada vom 28.2.2014. – Zum Wiederaufleben bzw. Weiterleben der Zensur auch nach 1991 s. M. Dewhirst, Censorship and Restrictions on Freedom of Speech in Russia 1986–1991– 2001, in: W. Slater/A. Wilson (Hrsg.), The Legacy of the Soviet Union, 2004, 186, bes. dann 200 ff., 202 ff. 47 Die Zahl derjenigen, die sich wirklich freundschaftliche Beziehungen vorstellen können, ist mittlerweile auf 26 % gesunken; von immer schlechten, von Mißtrauen geprägten Beziehungen gehen 64 % aus (1999: 52 %/38 %; 2005: 44 %/42 %; 2008: 34 %/52 %; Levada vom 28.10.2014; s. weiter Levada vom 2.11.2015, wonach jeweils 70–75 % der Befragten die Reaktionen des Westens auf die russische Politik und die Sanktionen Motiven wie Neid und Feindlichkeit sowie dem Wunsch, Russland zu schwächen und klein zu halten, zuschrieben. Weitere Informationen in Levada, Obšcˇestvennoe mnenie 2015, 243 ff. und 247 ff. unter der Überschrift „Freunde – Feinde“. Aufschlußreich auch die Reaktion auf das Ausländische-Agenten-Gesetz, s. Levada vom 17.12.2015: Fast die Hälfte der Befragten halten die Regelung für völlig gerechtfertigt; 25 % ordnen es als Propaganda ein. – Man darf allerdings nicht vergessen, daß der Westen bzw. konkret Obama durchaus auch die rhetorischen Späne fliegen läßt: erinnert sei an seine Aussage, es gäbe drei Bedrohungen für die Sicherheit der USA: Ebola, den Islamischen Staat sowie Russland, zitiert nach Stent (Fn. 6 ), 305; der Nachweis zur Internet-Quelle der Washington Post ebda., Fn. 87. 48 S. Levada, Obšcˇestvennoe mnenie 2015, 114; s. weiter etwa Levada vom 20.2.2015; zum Wunsch nach einem starken Präsidenten s. Levada, Obšcˇestvennoe mnenie 2015, 114 und konkret zu Putin S. 115 ff.; geradezu bizarr muten dann freilich Umfragen in anderem Zusammenhang an: so waren 34 % der Meinung, Putin sei voll für die Korruption in der Führungsebene des Staates verantwortlich; 43 % gaben ihm ein erhebliches Maß an Verantwortung und 14 % zumindest eine teilweise Verantwortung; nur 3 % sprachen ihn von jeder Verantwortung frei, s. Levada, Obšcˇestvennoe mnenie 2015, 160. – Zur schlechten Bewertung der Arbeit der Regierung s. ebda., 127 und bes. auch 131, 132; bei konkreten Politikbereichen sieht die Bewertung der Regierung dann allerdings nicht so schlecht aus, s. ebda., 128 ff.; zur schlechten Bewertung der Regierung s. weiter etwa Levada vom 11.12.2012; bis Mai 2012 hieß der Ministerpräsident immerhin V. Putin. – Noch einmal anders und überwiegend negativ, ohne Differenzierung zwischen Präsident und Regierung, ist dann die Bewertung der Machthaber und ihrer Motive, s. Levada vom 28.8.2012: 30 % der Befragten waren der Meinung, die Machthaber seien am Gedeihen des Landes interessiert; 58 % waren der Meinung, es ginge nur um den Erhalt der eigenen Macht. 44 45
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niedrig: als handele es sich um politische Konkurrenten! Die Widersprüchlichkeit zeigt sich auch im persönlichen Verhalten. Korruption und Vetternwirtschaft wird als schwerwiegendes, immer schlimmer werdendes Problem gesehen.49 Freilich: im Zweifel würden und in der Realität haben viele Befragte selbst schon Schmiergelder gezahlt oder würden selbstverständlich versuchen, einem Freund, guten Bekannten oder Verwandten zu einer Stelle oder sozialen Leistung oder Vergünstigung zu verhelfen.50 An weiteren Beispielen fehlt es nicht.51 Mit einem Wort: Wenn wir uns die Empirie der Einstellungen in der russischen Gesellschaft ansehen, erahnen wir eine gewisse Konvergenz zwischen dem eben betrachteten politischen und Rechtssystem und den ihm zugehörigen Menschen. Wichtiger noch erscheint mir etwas anderes, was uns die Empirie zeigt: Die Befragten orientieren sich je situativ an unterschiedlichen, einander widersprechenden Normensystemen und votieren im Zweifel für die nicht schriftlich fixierten Normensysteme; dies gemahnt an die multiple Identität des homo sovieticus.
2. Russische Alltagsmythen Ich komme zu dem Teil dieses Beitrags, den ich als Summe von 42 Jahren Gesprächen mit Russen allenfalls mit einem großzügigen Verständnis der Methode der teilnehmenden Beobachtung noch als wissenschaftlich einordnen kann.52 Die Fragestellung lautet: Was erzählen uns die russischen Alltagsmythen53 über Russland? 49 S. die Umfrage von Levada vom 28.4.2014 zum Wuchern von Bürokratie und Korruption mit zehn Befragungen zwischen dem September 2004 und dem März 2014, wonach beides in der Wahrnehmung der Befragten ständig zunimmt, etwa Bürokratie März 2014: 32 % mehr, 53 % genau so viel und 7 % weniger; Korruption: 33 % mehr, 48 % genau so viel und 1 % weniger; der entscheidende Anstieg ist jeweils im Jahre 2010 zu verzeichnen. 50 S. dazu etwa Levada vom 18.11.2014 mit einer umfassenden Umfrage zur Wahrnehmung der Bestechlichkeit unterschiedlicher Institutionen; s. weiter die Umfrageergebnisse bei Ledeneva (Fn. 14), 218; ein sehr anschauliches Beispiel für Korruption und auch für den Konflikt zwischen grundsätzlicher Ablehnung der Korruption und Bestechung im Einzelfall ist der Hochschulbereich; s. dazu die sehr informative Studie von E. Leontyeva, Corruption Networks in the Sphere of Higher Education, in: C. Giordano/N. Hayoz (Hrsg.), Informality in Eastern Europe: Structures, Political Cultures and Social Practices, 2013, 357 ff.; besonders anschaulich die Erklärungsmuster, s. etwa 367, 372. 51 Ein Beispiel, an dem die Gespaltenheit und die Widersprüchlichkeit besonders deutlich wird, ist die Einordnung Stalins, s. dazu L. Gudkov, Derealizacija prošlogo: funkcii stalinskogo mifa (Die Derealisierung der Vergangenheit: die Funktion des Stalin-Mythos), in Pro et Contra t. 16 (2012), 108 ff.; s. etwa die bei Arantunyan (Fn. 18), 224 zitierte Umfrage, wonach 68 % Stalin für einen blutigen Tyrannen halten, 50 % für einen weisen Herrscher, unter dem das Land blühte; ähnlich die bei G. Feifer, Russians: The People behind the Power, 2014, 219 zitierte Levada-Umfrage von 2013, wonach mehr als 70 % der Befragten angaben, sie würden nicht an Protesten gegen einen fallenden Lebensstandard oder für den Schutz ihrer Rechte teilnehmen. S. weiter W. Slater, Conclusion: Stalin’s Death 50 Years On, in: dies./A. Wilson (Hrsg.), The Legacy of the Soviet Union, 2004, 254 ff. 52 Die Ergebnisse dieser teilnehmenden Beobachtung werden allerdings, wie ich dann später herausfand, etwa durch die anthropologische Studie von D. Pesman, Russia and Soul. An Exploration, 2000, bestätigt; zu den Mythen und der russischen Geschichte s. auch A. Lukin/P. Lukin, Myths about Russian Political Culture and the Study of Russian History, in: S. Whitefield (Hrsg.), Political Culture and Post-Communism, 2005, 15 ff. 53 Es sind nicht unbedingt die Mythen gemeint, die offiziell oder von Einzelnen als solche identifiziert werden; s. für die Russische Föderation etwa V. Medinskij, O russkom vorovste, osobom puti i
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Alltagsmythen sind die kleinen, stillen, immer wieder und meist beiläufig formulierten Selbstverständlichkeiten, die von allen als gemeinsames Wissen geteilt werden und die den Schlüssel zu grundlegenden gesellschaftlichen Deutungsmustern und gesellschaftlichen Codes enthalten; sie sind grundlegende Klammern gesellschaftlicher Integration. Alltagsmythen werden nur selten in Frage gestellt, denn sie in Frage zu stellen, hieße sich selbst und alles in Frage zu stellen.54 Ich beginne mit dem Rurik- bzw. Waräger-Mythos. Wie wahrscheinlich vielen von Ihnen bekannt, wurde das erste russische Großreich, die „Kiewer Rus’“, von Wikingern/Warägern gegründet. Dazu gibt es den folgenden, immer wieder anläßlich der Konstatierung des gesellschaftlichen Chaos in Russland erzählten und auch in Tolstojs Anna Karenina erwähnten Mythos: Die in Russland lebenden Slawen seien einfach nicht dazu in der Lage gewesen, in ihrer Gesellschaft Recht und Ordnung, vor allem Ordnung zu schaffen. Also hätten sie Rurik, den Waräger, darum gebeten, nach Russland zu kommen: „Komme zu uns, herrsche und schaffe Ordnung“ soll die Bitte gelautet haben.55 Wie wünscht man sich diese Ordnung? Es soll eine „strengste Ordnung“ sein, von der aber auch keinen Millimeter abgewichen werden darf; die Gesetze müssen die „strengsten Gesetze“, der Staat muß ein strenger Staat und der Herrscher ein strenger Herrscher sein.56 Hinter diesem Wunschbild einer „strengsten Rechtsordnung“ lebt freilich das andere Russland unbekümmert vor sich hin.57 Schon bei den „strengsten Gesetzen“ heißt es augenzwinkernd: Die Strenge der russischen Gesetze wird nur erträglich durch die Lückenhaftigkeit ihrer Anwendung. Ordnungs- und Regellosigkeit verdichtet sich zum „Russland, dem Land der Diebe“.58 Die Machthaber stehdolgoterpenii (Vom russischen Klauen, dem besonderen Weg und der Leidensfähigkeit), 2008; ders., O russkoj grjazi i vekovoj technicˇeskoj otstalosti (Vom russischen Schmutz und der jahrhundertelangen technischen Rückständigkeit), 2010 (auch wenn die Mythen, die dort als solche identifiziert werden, mit denen zusammenfallen, die ich als solche glaube, identifizieren zu können); s. etwa auch für Deutschland H. Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, 2009. 54 S. die Erörterung des theoretischen Konzepts mit zahlreichen Nachweisen bei A. Blankenagel, Tradition und Verfassung, 1986, 334 ff.; einen frühen Versuch aus einem ganz anderen, aber auch relevanten Blickwinkel s. bei A. Zijderveld, On Clichés: The Supersedure of Meaning by Function in Modernity, 1979. – Eine etwas andere Perspektive der kulturellen Rekonstruktion von tragenden Elementen des Alltagslebens, die sich mit der Perspektive hier zum Teil überlappen, s. bei Boym (Fn. 4 ). 55 S. Feifer (Fn. 51), 235 f.; s. weiter Arantunyan (Fn. 18), 288, die diesen Mythos ins Moderne transferiert und davon spricht, daß der Mythos beschreibe, wie man sich ein protection racket geholt habe; Boym (Fn. 4 ), 178, zur Aufnahme des Rurik-Mythos in der Literatur. 56 S. die in Fn. 38 zum Verhältnis von Freiheit und Ordnung zitierte Umfrage von Levada vom 29.4.2015. 57 Zu diesem Mythos der Ordnung und der dazu parallelen Besessenheit mit dem Chaos s. Feifer (Fn. 51), 260; s. auch Boym (Fn. 4 ), 288 f.: Russisches Leben bestehe darin, Überlebensstrategien zu finden, mit denen man sich gegen Strukturen (also vor allem gegen das Recht) wehren könne. 58 S. etwa Pesman (Fn. 52), 204; diese Selbstwahrnehmung spiegelt sich in dem russischen Witz über die Heimkehr des berühmten Opernsängers F. Šaljapin nach Moskau wieder: Šaljapin steigt aus, stellt seinen Koffer auf den Bahnsteig, streckt beide Arme nach oben und sagt: „Oh Russland, geliebte Heimat“, schaut nach unten und sieht, daß der Koffer verschwunden ist, und fährt fort: „Ich erkenne Dich wieder!“ In einer etwas abgewandelten Version findet sich der Witz auch bei S. Graham, Resonant Dissonance. The Russian Joke in Cultural Context, 2009, 97. – S. auch die Erwähnung im Titel bei V. Medinskij, O russkom vorovste, osobom puti i dolgoterpenii (Über das russische Klauen, den besonderen Weg und die Leidensfähigkeit), 2008.
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len, der Dieb ist der Prototyp des Verbrechers, der Diebstahl der Prototyp des Verbrechens: man denke an Putins berüchtigte Einmischung in das zweite Verfahren gegen M. Chodorkovskij, als er vor dem Urteil öffentlich davon sprach,59 „ein Dieb müsse sitzen“. Damit zitierte er als Trittbrettfahrer im Übrigen einen jedem Russen bekannten Ausspruch des ungemein beliebten und verehrten Sängers, Schauspielers und sowjetischen enfant trerrible V. Vysockij aus einem sowjetischen Kultfilm.60 Man denke schließlich an die aus der Zeit der UdSSR stammende Benennung der – zumeist einsitzenden – Führer der kriminellen Gruppierungen als „Diebe im Gesetz“ (вор в законе ): Kriminelle Autoritäten, die nach einem strengen Ehrenkodex lebten. Es macht nachdenklich, daß gerade in Russland, dem Land, dem von Ökonomen und Juristen schlecht definierte Eigentumsrechte bescheinigt und vorgeworfen werden,61 die Gegenwelt durch den Dieb symbolisiert wird. Ich komme zur Selbstwahrnehmung als weiterem Feld von Alltagsmythen. In unterschiedlicher Weise wird das Thema „wir und die anderen“ formuliert. In der zurückhaltenden Variante geht es nur um die Abgrenzung: Wer sind „wir“ und wer die „anderen“, die „fremden“. Ich erinnere an die wunderbare Beschreibung des Teufels – sein Name ist Voland – im ersten Kapitel von Bulgakovs „Der Meister und Margarita“, wo er dessen sehr merkwürdiges Aussehen beschreibt, um dann abschließend zu sagen: „Mit einem Wort: Ein Ausländer!“ Immer wieder wird „der Fremde“ am Beispiel der Erklärung des vermeintlichen Ursprungs des Wortes für Deutsche erläutert: „Die, die nicht wir sind“.62 In anderen Varianten thematisiert die Selbstwahrnehmung Stolz, Verzweiflung oder gar Hass auf das kollektive Selbst: „Früher haben uns alle gefürchtet und geachtet“; „Russland als ganz besondere und einzigartige Kultur“, die „einen ganz besonderen Weg nehme und nehmen müsse“; die russische Seele – „ душа“ – als eine besondere tiefe Innerlichkeit, die dem rationalen Europäer fremd und nicht zugänglich ist.63 Soweit der Stolz. Andererseits die Verzweiflung wegen des immerwährenden Sitzens zwischen den Stühlen, so auch dem europäischen und dem asiatischen: immer wieder wurde mir das berühmte Gedicht von
Putin nahm damit übrigens ein Verhaltensmuster von Stalin auf, der sich vor politischen Musterprozessen schon zur notwendigen Verurteilung der Angeklagten äußerte. 60 „Место встречи изменить нельзя“ (Der Ort des Treffens kann nicht geändert werden) von S. Govuruchin (1979). Das Zitat ist abgesehen von Putins Trittbrettfahren auch noch aus einem anderen Grund interessant: Die Figur, die Vysockij spielt, ist ein Polizeiermittler: diese hatten im wesentlichen die Funktion, Verdächtige ohne großes Federlesen hinter Gitter zu bringen, aber keine tiefergehende juristische Ausbildung. – Zur allgemeinen Verehrung von V. Vysockij s. Levada vom 3.8.2015: Nur 1 % der Befragten kannten Vysocki nicht. 61 S. weiter z.B. P. Pomerantsev, Nothing is True and Everything is Possible: The Surreal Heart of the New Russia, 2014, 204: Funktionales Äquivalent der property rights sei die Variation in der Nähe zum Kreml, dazu noch unterschiedliche Rituale der Bestechung und eine beiläufige Gewalttätigkeit. 62 Dies ist die eine volkstümliche Etymologie des Wortes; die andere (wahrscheinlichere) Variante ist die Erklärung als Abwandlung des Wortes stumm („nemoj“). Dies wiederum soll dann darauf zurückgehen, daß die in Moskau lebenden Deutschen kompakt in einem Viertel gelebt hätten und deswegen in der Regel kein russisch gesprochen hätten; s. dazu Boym (Fn. 4 ), 75. Der Artikel „nemec etimologija“ in der russischen wikipedia geht auch eher in diese Richtung, ist aber nicht ganz eindeutig. 63 S. dazu die ausführliche anthropologische Analyse von Pesman (Fn. 52), passim; s. weiter Boym (Fn. 4 ), 84: Die „russische Seele“, die Betonung des „inneren Lebens“, als Gegenmodell zur westlichen Intimsphäre. 59
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Aleksandr Blok „Die Skythen“ zitiert: 64 „Ja Skythen sind wir! Ja, Asiaten sind wir, mit geschlitzten und gierigen Augen!“65 Vier weitere Alltagsmythen. Der erste ist der Mythos vom „großen Land“: Das Land sei einfach zu groß, um zu funktionieren.66 Der zweite Mythos: Immer wieder und in allen möglichen Zusammenhängen wird eine tief empfundene Unsicherheit hinsichtlich der Stabilität und Geregeltheit der Gesellschaft formuliert: „Bei uns kann jederzeit alles passieren!“ In der Umkehrung der dritte Mythos: „So etwas kann es nur bei uns geben!“ Russland, das Land der Narren,67 aber auch Russland, das Land der Wunder.68 Und schließlich, ein Grundtrauma, das immer wieder – fast im buchstäblichen Sinne – in den Unterhaltungen von und mit Betrunkenen hochgespült wird, wenn der eine Betrunkene den anderen ebenso drohend wie verzweifelt fragt: „Achtest Du mich?“ (Ты меня уважаешь ?).69 Die Botschaft der Alltagsmythen ist klar: Sie thematisieren unterschiedliche, parallel existierende und einander widersprechende Ordnungssysteme – Ordnung und Chaos, die strengste Ordnung vs. die Welt der Diebe, die aber auch die eigene ist –, die Zerrissenheit zwischen diesen unterschiedlichen Welten70, dem „wir“ und den „anderen“ und schließlich die Sehnsucht nach Achtung in der so unachtsamen russischen Welt.
3. Die Selbstdarstellung der Macht Die Selbstdarstellung der Macht bedient sich einerseits einer ganz originären Symbolik und geht andererseits tief in die kollektive Erinnerung.71 64 Verzweiflung ist allerdings nur eine Reaktion auf dieses „Dazwischen-Sein“: politisch ist Eurasianismus ein ideologisches-philosophisches Konzept, das in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts von Emigranten entwickelt wurde und das Russland nicht als europäischen Staat, sondern als jenen Staat definiert, dessen natürlich-schicksalhafter Ort die Territorien und Steppen der zentralen europäisch-asiatischen Landmasse sind, in Abgrenzung zu Europa einerseits und den asiatischen Staaten andererseits, s. dazu M. Laruelle, Russian Eurasianism. An Ideology of Empire, 2008, bes. 16 ff. zur Entstehung in den 20er Jahren und 202 ff.: zu Blok als Poeten dieses Eurasianismus s. 84. 65 Diese „Belegenheit“ zwischen Europa und Asien wird auch an anderen Dingen deutlich, so etwa an dem Satz, der auch oft zu hören ist: Wenn Du an einem Russen etwas kratzt, kommt darunter der Tatar zum Vorschein; s. Pesman (Fn. 52), 282. 66 S. die Nachweise bei Pesman (Fn. 52), 283 f. 67 Pesman (Fn. 52), 287: Der Mythos des „Landes der Narren“ stamme aus der Zeit der Reformen von Peter dem Großen; zur Figur Ivans, des Narren, als alltagsuntauglichen Helden, in dem man sich wiederfindet, s. auch Boym (Fn. 4 ), 40. 68 Dazu gehört letztlich auch die Institution des „heiligen Narren“ als – im Sinne einer vom weltlichen abstrahierten Gleichgewichtigkeit – Gegengewichts gegen den absoluten Herrscher, s. Arantunyan (Fn. 18), 263 ff.; als Aktion des heiligen Narren wurde etwa von vielen der Auftritt von Pussy Riot in der Christ-Erlöser-Kathedrale verstanden. 69 Die Beobachtung bestätigt Pesman (Fn. 52), 271; s. auch ebda., 185, zu Nutzung dieser Standardfrage von Betrunkenen durch den berühmten russischen Komödianten Raikin. 70 Sehr illustrativ die bei Pesman (Fn. 52), 268 zitierte Passage aus dem berühmten Kultbuch von V. Erofeev Moskva – Petuški, wo die Hauptfigur des Buchs Venicˇka versucht, Franzosen sein russisch-Sein parodierend zu erklären: „Ich sterbe an meinen inneren Widersprüchen!“ 71 Eine Analyse der Versuche der Konstruktion einer post-sowjetischen kollektiven Identität und der Anknüpfung an unterschiedliche historische Schlüsselereignisse s. etwa bei P. Casula, Hegemonie
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Nehmen wir als erstes Beispiel dieser originären Symbolik die von V. Surkov72 konzipierte „souveräne Demokratie“: diese ist im Westen vielen als eher wunderlicher Begriff bekannt. Die Konzeption wurde zu einem ideologischen Eckstein des neuen Russlands, das mit der Jahrtausendwende begann, Gestalt anzunehmen. Gemeint ist ein Staat, der einerseits in allen Bereichen leistungs- und international konkurrenzfähig und andererseits (unter anderem deswegen) autark und auf niemandes Hilfe angewiesen ist.73 Aus schierem Patriotismus, so die Erwartung, sollen die Bürger bei der Verwirklichung dieser souveränen Demokratie begeistert mitmachen. Eingebettet ist diese „souveräne Demokratie“ in den Mythos der Einzigartigkeit Russlands und, daraus folgend, seines besonderen, nur von ihm beschreitbaren Weges. Die „souveräne Demokratie“ ist die heutige Variante der berühmten axiomatischen Charakterisierung des zaristischen Staates durch Graf S. S. Uvarov „Orthodoxie, Autokratie, Volkstum“ (православие, самодержавие, народность).74 Es geht um Souveränität und Autarkie, keineswegs aber um Demokratie; die unbekümmerte Kombination zweier Begriffe aus unterschiedlichen Welten75 erinnert ebenso an die UdSSR und wie an „newspeech“ in „1984“ von G. Orwell. Diese deja vue’s haben wir auch bei anderen Beispielen von Symbolverwendung. Denken wir etwa an die „Machtvertikale“ und ihre Stärkung,76 die Putin von Beginn an zum zentralen Ziel seines politischen Programms gemacht hat und die in spezifisch überfokussierter Form die Konzeption der bürokratischen Herrschaft von Max Weber mißversteht. Ich erwähne weiter die „Diktatur der Gesetze“ als Putins russischer Variante des Rechtsstaats77 (auch dies ein Unbehagen verursachendes Beiund Populismus in Putins Russland. Eine Analyse des russischen politischen Diskurses, 2012, bes. 205 ff., 263 ff.; s. weiter etwa J. Scherrer, The „cultural/civilizational turn“ in post-Soviet identity building, in: P.-A. Bodin/S. Hedlund/E. Namli (Hrsg.), Power and Legitimacy – Challenges from Russia, 2013, 153 ff., bes. 157, 160 ff. 72 S. den Originaltext der Rede von V. Surkov vom 22.2.2006 auf der Homepage der Partei „Edinaja rossija“ (Einiges Russland), http://www.edinros.ru/news.html?id=111148 (zuletzt aufgerufen am 24.4.2016). – Surkov galt lange als der Chefideologe oder auch als der „graue Kardinal“ im Hintergrund. Zu Surkov s. Pomerantsev (Fn. 61), 74: ständige Metamorphose vom Engel zum Dämonen; s. weiter die kurzen Artikel von H.-H. Schröder, Wladislaw Jurjewitsch Surkow – der große Puppenspieler, in: Russland-Analysen Nr. 114 vom 20.10.2006, 5; s. weiter die Darstellung des Intrigenspiels von Surkov bei der Präsidentschaftskandidatur des Milliardärs M. Prochorov in Arantunyan (Fn. 18), 183 ff.; ebda., 183, auch die Bezeichnung als „grauer Kardinal“ in der Nachfolge von B. Berezovskij. 73 S. dazu etwa N. Hayoz, Russian „Sovereign Democracy“: A Powerful Ideological Discourse in a Quasi-Authoritarian Regime, in: P. Casula/J. Perovic (Hrsg.), Identities and Politics during the Putin Presidency, 2009, 112 ff.; V. Hudson, Sovereign Democracy as a Discourse of Russian Identity, ebda., 176 ff.; V. Morozov, Sovereignty and Democracy in Contemporary Russia: A Modern Subject Faces the Post-Modern World, ebda., 198 ff. 74 So auch Hill/Gaddy (Fn. 11), 68. 75 S. Pomerantsev (Fn. 61), 42: Russland sei eine postmoderne Diktatur, die die Sprache und Institutionen des demokratischen Kapitalismus für autoritäre Zwecke nutze (am Beispiel des berühmten Zitats des Oligarchen O. Deripaska, zu besten Zeiten 30 Mrd. US $ schwer: „Alles, was ich habe, gehört dem Staat!“). 76 Der Gedanke der „Machtvertikale“ und ihrer Stärkung findet übrigens, nicht überraschend, in der Bevölkerung breite Zustimmung: 42 % der Befragten hielten deren Stärkung für eher nützlich, 27 % für eher schädlich und 31 % waren indifferent, s. Levada, Obšcˇestvennoe mnenie 2014, 50. 77 Laut Hill/Gaddy (Fn. 11), 53, ist dies eine Vorstellung, die Putin schon in den 90er Jahren äußerte und mit der Vereinigung „Einigkeit im Namen Russlands“ ( согласие во имя России ) und hier vor allem mit S. Glaz’ev und V. Zor’kin, dem Präsidenten des russischen Verfassungsgerichts äußerte und
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spiel von newspeech). In ähnliche Richtung geht das Schweizer Uhrwerk als Gleichnis und Wunschvorstellung des Funktionierens des Staates:78 Reibungsloses und präzises Ineinandergreifen unzähliger Räder, Wellen und Hebel nach einem Konstruktionsplan, dessen Urheber ebenso im Dunkeln bleibt wie die Funktion der Konstruktion. Daß dieses Bild des Schweizer Uhrwerks nicht auf den demokratischen Rechtsstaat, so wie wir ihn verstehen, paßt und schon gar nicht auf den russischen Staat und das russische Recht, bedarf nicht der Erwähnung. Wirtschaftlich präsentiert man Russland, im untrennbaren Miteinander von staatlichen Eigentumsrechten und staatlichem Führungspersonal in privaten Konzernen, als Mega-Konzern, als Russia Incorporated.79 Die Eliten leiten den Komplex Staat/Wirtschaft und sind gleichzeitig seine Eigentümer: eine ganz besondere public-private partnership.80 Schauen wir nun auf einige Beispiele der auf die kollektive Erinnerung zielenden Selbstinszenierung der Macht. Schon die frühe Phase der Präsidentschaft Putins nach der Jahrtausendwende und der damals sich einstellende Aufschwung wird entsprechend bedeutungsschwer symbolisch verdichtet: Die 90er Jahre werden zur (neuen, zweiten) „Zeit der Wirrungen“81 (смутное время, 1598–1613: eine Zeit der Polenkriege, Schwedenkriege, der Thronanmaßung unterschiedlicher Prätendenten nach der Beendigung der Dynastie der Rurikiden und von anderem Chaos, die damals mit der glückhaften Wiederherstellung russischer Staatlichkeit in Gestalt der Wahl von Michail Fjodorovicˇ Romanov zum neuen Zaren beendet wurde).82 Diesmal findet die Zeit der Wirrungen im Jahre 2000 mit der Wahl Putins zum neuen Präsidenten ihr Ende.83 Mit der Annexion der Krim sah sich Putin – ganz öffentlich – in der Rolle von Ivan I, genannt Ivan Kalita, Sammler russischer Erde.84 Die Selbstinszenierungen des russischen Präsidenten V. Putin sind allgemein bekannt,85 werden von den westlichen Medien auch gerne wiedergegeben: Ich erinnere an Putin als Amphorentaucher, als Judoka und Inhaber des schwarzen Gürtels, als Reiter oder als Angler mit nacktem Oberkörper, als Kopilot in einem Feuerlöschflugzeug, als Pilot eines Leichtflugzeugs, mit dem er Kraniche auf ihren Wanderunteilte; Zor’kin hatte mit diesem Argument auch den Abschluß föderaler Verträge durch den Präsidenten kritisiert, s. ebda. 53 Fn. 46; s. weiter dazu Gel’man (Fn. 3 ), 1036. 78 Hill/Gaddy (Fn. 11), 210. 79 S. die Beschreibung bei Hill/Gaddy (Fn. 11), 203 ff. 80 S. V. Kononenko, Introduction, in: ders./A. Moshes (Hrsg.), Russia As A Network State: What Works in Russia, When State Institutions Do Not, 2011, 6. 81 Hill/Gaddy (Fn. 11), 23. 82 Hill/Gaddy (Fn. 11), 23 und auch 57. 83 Sie findet auch, so Hill/Gaddy, in dem Sinn ihr Ende, daß Putin einfach alle klassischen russischen Widersprüche – also etwa Weiße gegen Rote, Slavophile gegen westorientierte Eurasier, Unterdrücker gegen Unterdrückte, KGB gegen normale Russen usw. – beiseite schiebt und sich als Projektionsfläche russischer Einheit anbietet, s. Hill/Gaddy (Fn. 11), 102 f. 84 In seiner Rede vor der Duma am 18. März 2014, s. U. Schmid, Technologien der Seele: Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur, 2015, 27; s. auch ebda. die Darstellung der weiteren Inszenierungen. Das ist selbstverständlich nicht das einzige Beispiel der Aneignung von Geschichte: Besonders prominent ist die Aneignung des „großen vaterländischen Krieges“ (des 2. Weltkrieges) und hier insbesondere der Schlacht um Stalingrad, s. dazu zum ersten I. Mijnssen, An Old Myth for a New Society, in: P. Casula/J. Perovic (Hrsg.), Identity and Politics during the Putin Presidency, 2009. 270/279 ff., sowie zum zweiten I. Kurilla, The Symbolic Politics of the Putin Administration, ebda., S. 255 ff., insbes. 259 ff. 85 S. dazu etwa Pomerantsev (Fn. 61), 233 sowie konkret zu den Nachtwölfen 88.
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gen begleitet bzw. – was sonst – ihnen den Weg weist, als Biker mit den Nachtwölfen (der russischen Motoradgang) 86, als Retter des vom Aussterben bedrohten AmurTigers, indem er einer betäubten Amur-Tigerin ein GPS-Halsband anzieht, und als Kenner weiblicher Anatomie anläßlich einer Femen-Demonstration.87 Die Beratungstreffen, in denen Putin an der Stirnseite eines langen Tisches mit seinen Beratern oder der Regierung sitzt, erinnern, so Pomerantsev, an das Treffen von Marlon Brando mit den Führern der Mafia-Clans im Paten oder an Kill Bill von Q. Tarantino, wenn Lucy Liu die Yakuza trifft.88 Mit diesen und anderen Aktionen bedient und reproduziert Putin nicht nur das allgemeine Klischee des Supermanns an der Spitze des Staates in der Nachfolge des Zaren und von Lenin und Stalin. Er re-inszeniert auch allgemein bekannte, als Mythen verwurzelte Ereignisse aus der Vergangenheit oder knüpft an historisch bekannte Muster an. Einige Beispiele, das erste etwas ausführlicher und anschaulicher: Die Pikalëvo-Affaire. Während der Wirtschaftskrise 2008 und 2009 hatten die Beschäftigten eines Komplexes dreier produktionstechnisch aufeinander bezogener Fabriken, die die wirtschaftliche Grundlage des Ortes Pikalëvo waren, längere Zeit keine Bezahlung erhalten; mindestens zwei O. Deripaska gehörende Fabriken sollten geschlossen werden. Die Beschäftigten blockierten die Hauptverbindungsstraße zwischen Vologda und Staraja Ladoga bzw. St. Petersburg; es entstand ein gigantischer Stau. Putin, seinerzeit Premierminister, flog ein; er zwang Deripaska, bei einem Treffen mit den Eigentümern, der Fabrikleitung und den Vertretern der Arbeitnehmer, das für die protestierenden Beschäftigten übertragen wurde, eine Vereinbarung zu unterzeichnen – mit Putins Kugelschreiber –, wonach die geplante Schließung der Fabrik und die sonstigen, den integrierten Produktionskomplex gefährdenden Maßnahmen rückgängig gemacht wurden und Deripaska sich zur Lohnzahlung verpflichtete. Putin saß; Deripaska, der relativ groß ist, stand; zum Unterzeichnen mußte er sich tief zum Tisch und damit vor Putin beugen. Höhepunkt der Erniedrigung Deripaskas war Putins nicht laute und gerade dadurch so scharfe Aufforderung an ihn, er möge ihm seinen Kugelschreiber zurückgeben.89 Die ganze Szene, vor allem auch die Rede, die Putin hielt, ist die Re-Inszenierung des im kollektiven Gedächtnis verankerten Grundmythos vom guten, unwissenden und ärgerlichen Zaren, der von seinen Adligen, den Bojaren getäuscht worden ist, der sich selbst zum Ort des Geschehens bemüht und dort Ordnung schaffen muß, schafft und als einziger auch schaffen kann.90 86 Zu dieser Verbindung und zur Förderung des Chefs der Nachtwölfe, A. Saldostanov durch Putin bzw. die Präsidialadministration s. Schmid (Fn. 84), 208 f. 87 Die Amur-Tigerin soll im Übrigen vorher mit Beruhigungsmittel sediert worden sein, und zwar so intensiv, daß sie danach starb, so zumindest Sygar (Fn. 36), 195. – Laut einer Levada-Unfrage vom 5.3.2015 bejahen insgesamt 50 % der Befragten so oder so die Existenz eines Personenkults um Putin: 19 % bejahten einen Personenkult, 31 % sahen sich mehrende Anzeichen eines Personenkults; 40 % sahen dies nicht und 10 % wußten keine Antwort. In der gleichen Umfrage war allerdings kaum jemand gewillt, Putin-Devotionalien wie T-Shirts etc. zu erwerben. 88 Pomerantsev (Fn. 61), 31. 89 S. die Darstellung der Ereignisse mit Hintergründen bei Hill/Gaddy (Fn. 11), 177 ff. 90 Aratunyan (Fn. 18), 78; weitere Beispiele s. etwa 195; zur generellen Wiederbelebung von alten Mustern unter und durch Putin s. Feifer (Fn. 51), 171 f., sowie konkret zum Muster „guter Zar/schlech-
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Einige weitere Beispiele. In einem Fernsehinterview zu der Band Pussy Riot bestand Putin darauf, daß der Interviewer den ersten Teil des Namens der Band ins russische übersetzen sollte (was nur auf sehr grobe Weise möglich ist) und re-inszenierte so ein berühmtes Gespräch des Zaren vom Ende des 19. Jahrhunderts.91 Die Rochade mit Medvedev zum Ministerpräsidenten bzw. Präsidenten wiederholt die kurzzeitige Abdankung von Ivan dem Schrecklichen zugunsten von Simeon Bekbulatovicˇ.92 Das Nebeneinander vor repressiver und wirtschaftlicher Tätigkeit der Geheimdienste bzw. der Siloviki erinnert an die Opricˇ ina, die Geheimpolizei Ivans des Schrecklichen, die parallel zu ihren Repressionen bzw. durch ihre Repressionen auch wirtschaftlich zu einer neuen Elite wurde.93 Der persönliche Bund mit dem tschetschenischen Präsidenten R. Kadyrov, dem er als lokalem Warlord im Austausch für persönliche Loyalität freie Hand in seiner Region läßt, nimmt Handlungsmuster aus den Tscherkessen-Kriegen im 19. Jahrhundert wieder auf.94 Mit der Aussage „Wir brauchen keinen Umbruch, wir brauchen ein großes Russland“ zitiert Putin den großen konservativen Reformer und Premierminister Stolypin, freilich unter Abwandlung des Originalzitats,95 mit dem Ausspruch „Russland hat nur zwei Freunde – die Armee und die Flotte“ den autoritären Zar Alexander III.96 Ich halte fest: Die symbolgesättigte Selbstinszenierung der Macht bedient sich unbekümmert demokratischer Begrifflichkeiten zur Beschreibung einer ganz anderen, autoritären Großmacht-Staatlichkeit. Sie nimmt unter der demokratischen Oberfläche klassische, autoritäre Narrative des 19. Jahrhunderts wieder auf und verwirrt so die Gesellschaft mit dem Angebot mehrerer zueinander nicht passender Welten. Selbst die eigentlich hochmoderne Moskauer Architektur inszeniert Geschichte: Das Triumph Pallas, ein Gotham Skyscraper, gesellt sich den sieben Schwestern Stalins zu – seinen sieben Hochhäuser –, die, so sagen manche, die sieben Hügel Roms zitieren.97
te Bojaren 277; K. Cˇistov, Der gute Zar und das ferne Land. Russische sozial-utopische Volkslegenden des 17. bis 19. Jahrhunderts, 1998. 91 S. die Darstellung bei Arantunyan (Fn. 18), 14; bei dem re-inszenierten Gespräch handelt es sich um ein Gespräch zwischen Nikolaj I und dem Dichter A. Poležaev. 92 Arantunyan (Fn. 18), 204. 93 Ledeneva (Fn. 14), 179 ff. s. die Darstellung der Drei-Wale-Affaire 182 ff., bei der es um die Verdeckung der wirtschaftlichen Aktivitäten von Geheimdienst- und Machtstrukturen-Mitarbeitern – Werwölfe in Epauletten – ging, mit einer in Russland eher ungewöhnlichen „Flucht an die Öffentlichkeit“ des Putin-Freundes V. Cˇerkesov; s dazu weiter auch Arantunyan (Fn. 18), 96 ff. 94 S. Hill/Gaddy (Fn. 11), 94 ff., mit ausführlicher Darstellung der Inhalte des deals; s. weiter ebda., 218 mit einem Kadyrov-Zitat in Fn. 82, wonach er, Kadyrov, lieber 20 Mal sterben als Putin im Stich lassen würde. 95 Hill/Gaddy (Fn. 11), 71; das Originalzitat lautet: „Sie, meine Herren, benötigen einen großen Aufstand; wir benötigen ein großes Russland!“; ein weiteres Beispiel der Adaption von Stolypin-Zitaten s. 74. 96 Schmid (Fn. 84), 28, unter Verweis auf Roj Medvedev, Fn. 28. 97 Pomerantsev (Fn. 61), 105; er verweist als weiteres Beispiel der Autoritarisierung in der Architektur auch auf das berühmte Hotel Moskva zwischen dem Beginn der Tverskaja-Straße und dem Eingang zum Roten Platz, das abgerissen und dann als Kopie seiner selbst wiedererrichtet worden sei.
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4. Die Spiegelung des Systems im Witz Sprechen wir etwas über den politischen Witz und seine Wiederauferstehung. Die UdSSR war, vor allem in der Nach-Stalin-Zeit, berühmt für ihren politischen Witz.98 In dem zu Zeiten totalitärem, zu Zeiten autoritärem System hatte der politische Witz ganz unterschiedliche Funktionen:99 Er war eine Art Zeitung, er erzählte die offiziellen Mythen in entlarvender und subversiver Weise nach, er formulierte das Profane, das Absurde, das in stummer Sichtbarkeit zwischen den Zeilen der offiziellen hölzernen Statements herumlungerte, er faßte in ungemein verdichteter und absurd-lächerlicher Weise das Typische der jeweiligen politischen Epoche und Programmatik in kleine Geschichten, er war Ausdruck des gemeinsamen stillen Wissens aller100 und ihrer Verachtung für einen Staat, der ihnen dieses Dasein, im hohlen Pomp des Sozialismus und mit mehreren Identitäten101, abverlangte. Zwei Beispiele sowjetischer politischer Witze, da ich die Hoffnung auf etwas Auflockerung nicht enttäuschen möchte; das erste Beispiel spielt wunderbar mit der pompösen offiziellen Sprache: Ivanov, ein Funktionär, schickt im Jahre 1965 ein Telegramm nach Moskau, adressiert an den Genossen Lenin, mit der Bitte um materielle Hilfe beim Bau einer Fabrik. Er wird zum KGB vorgeladen und gefragt, ob er verrückt geworden sei: Lenin sei doch schon lange tot. Sagt Ivanov: „Das ist mal wieder typisch für Euch. Wenn ihr Lenin braucht, lebt er ewig; wenn ich ihn mal brauche, ist er tot!“102
Der zweite Witz ist ein Crash-Kurs in sowjetischer Geschichte: er nimmt die offizielle Metapher der Lokomotive auf, die den Zug UdSSR unauf haltsam zum Sozialismus zieht: Die Lokomotive stoppt; die Gleise sind geborsten. Wie werden unsere Führer das Problem lösen? Lenin: Jeder arbeitet einen Tag freiwillig und ohne Bezahlung, um die Gleise zu reparieren. Stalin: Erschießt alle im ersten Waggon und am nächsten Tag alle im zweiten Waggon, wenn die Gleise bis dahin nicht repariert sind. Chrucˇšev: Reißt die Gleise hinter dem Zug raus und baut sie vor dem Zug wieder ein. Brežnev: Zieht die Vorhänge zu, rüttelt den Zug so, als würde er fahren, und sagt die Stationen an.103
Mit Beginn der 90er Jahre verschwand der politische Witz.104 Es blieben Witze über die neuen Russen. Eine gewisse, nicht zu lange Zeit nach dem Beginn der ersten Präsidentschaft von Putin kam plötzlich der politische Witz zurück und nahm alle 98 Ort des Austausches des politischen Witzes war die Küche, wo man auf diese und andere Weise das gemeinsame Entkommen aus der Routine des sowjetischen Alltags beging, s. Boym (Fn. 4 ), 148. 99 S. zu dem folgenden Graham (Fn. 58), bes. 7 ff., 49 f., 57 f., 73 und passim; s. weiter A. Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, 2005, 238 ff., bes. 273 ff. 100 S. etwa das Beispiel bei Boym (Fn. 4 ), 283 f.; in dem nicht mehr der Witz erzählt wird, sondern nur noch seine Nummer gesagt wird. 101 Diese „Doppelidentität“ des homo sovieticus ist ein in der Literatur unter unterschiedlicher Ausflaggung diskutiertes Thema, s. die zahlreichen Nachweise bei Pesman (Fn. 52), 250 sowie 266 Fn. 1, 282 102 Graham (Fn. 58), 59 f. 103 Graham (Fn. 58), 67. 104 Boym (Fn. 4 ), 284; Graham (Fn. 58), 121 ff.
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unterschiedlichen strukturellen Varianten des sowjetischen Witzes wieder auf; die Gesellschaft hatte verstanden. Ich gebe nur ein ganz kurzes Beispiel, das freilich ohne zwei Vorinformationen nicht verständlich ist. Erste Information: In seiner Rede zur neuen Verfassung im Jahre 1936 nahm Stalin im Hinblick auf einige Neuerungen eine russische Redensart auf: „Sollen wir vor den Wölfen Angst haben und nicht in den Wald gehen?“ In einer Rede im Jahre 1999 drohte Putin, ein Meister des drastischen Wortes,105 den Terroristen, er „werde sie im Plumpsklo ertränken!“ Dies wurde zu einer wunderbaren Kombination: Ja wie? Soll man vor Putin Angst haben und nicht aufs Plumpsklo gehen!106 Ich fasse das Ergebnis meiner kulturellen Umschau zusammen: Die Gesellschaft irrt durch das Labyrinth der Institutionen und ihrer sich widersprechenden Vorstellungen und Wünsche. Die Eliten, die als Mitglieder der Gesellschaft diese Vorstellungen und Wünsche teilen, aktivieren diejenigen Vorstellungen, die für ihre Herrschaftsinteressen nützlich sind. Die Gesellschaft verdichtet dies in absurd-lächerlicher Weise im wieder lebensfähigen politischen Witz.
V. Der informale Staat Ich möchte jetzt etwas theoretischer werden. Machen wir uns zunächst einmal die westliche Wahrnehmung Russlands in vereinfachender Weise klar: In Russland funktioniert nichts.107 Deswegen sucht man immer wieder nach und findet immer wieder Dinge, die nicht funktionieren. Das war zu Zeiten des Sozialismus so, als man – nicht ohne Grund – dessen Nichtfunktionieren konstatierte und das war und ist jetzt nach der Transformation so, wenn man nicht ohne Grund das Nichtfunktionieren der transplantierten westlichen Institutionen in Russland konstatiert. Auch ich habe das eben bei meiner Bestandsaufnahme des Rechtssystems nichts anders gemacht. Allerdings verschließt man sich dabei dem, was ich und auch andere das russische Rätsel nennen: Dinge in Russland sind nie so gut oder so schlecht, wie sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Insofern möchte ich in Anlehnung an Alena Ledeneva eine andere Fragestellung vorschlagen: Was funktioniert denn eigentlich, und wie und warum? Und, vielleicht noch interessanter: Wie funktioniert das, was nicht zu funktionieren scheint?108
S. dazu die weitere Darstellung bei Hill/Gaddy (Fn. 11), 127. Graham (Fn. 58), 94. 107 Als ein Beispiel s. etwa die Zusammenstellung unterschiedlicher US-amerikanischer Pressestimmen bei Pesman (Fn. 52), 327. 108 In diese Richtung auch Kononenko (Fn. 80), 4: Konzentration auf die funktionalen Leistungen des russischen Chaos; er weist zu Recht auf das Rätsel hin, wie es sein könne, daß ein Chaos-Staat wie Russland die Krisen der letzten 25 Jahre relativ unbeschadet überstanden habe; Ledeneva (Fn. 2 ), 11 ff., die immer wieder die Gleichzeitigkeit der Funktionalität des Informellen und die Erosion der Funk tionenerfüllung der formellen Institutionen betont. 105
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1. Informelle Institutionen Ausgangspunkt der Beantwortung dieser Fragen ist das vernachlässigte Vermächtnis der UdSSR, das Nebeneinander einer offiziellen und vieler inoffizieller Welten, mit anderen Worten formeller und informeller Institutionen,109 das auf individueller Ebene zur multiplen Identität des homo sovieticus geführt hatte. Was sind formelle, was informelle Institutionen? Formelle Institutionen können wir als kodifizierte Regeln, Gesetze und Verfahren definieren, die durch Kanäle geschaffen, kommuniziert und durchgesetzt werden, die allgemein als offiziell akzeptiert werden. Informelle Institutionen sind sozial getragene und üblicherweise allgemein akzeptierte, fast immer ungeschriebene Regeln, die außerhalb der offiziellen, d.h. staatlichen Kanäle geschaffen, kommuniziert und durchgesetzt werden.110 Ich möchte das an einem kleinen Beispiel aus Russland verdeutlichen: Ein Beamter in einer Behörde bekommt vom Behördenleiter eine schriftliche Weisung, eine bestimmte Angelegenheit auf bestimmte Weise zu entscheiden. Nachdem er dies gemacht hat, wird er zum Behördenleiter gerufen, der ihn deswegen „zusammenfaltet“; zum Abschluß sagt der Behördenleiter; „Wenn ich gewollt hätte, daß sie etwas machen, dann hätte ich sie doch angerufen!“111
Das Beispiel illustriert eine Konstellation des Verhältnisses von formellen und informellen Institutionen: formell ist die schriftliche Weisung entscheidend, informell die Weisung in der persönlichen Kontaktaufnahme. Das Beispiel zeigt eine Variante dieses Verhältnisses. Analytisch können wir die vier folgenden Varianten unterscheiden:112 – Komplementäre informelle Institutionen, die mit den formellen Institutionen koexistieren und mit diesen kompatible Ziele enthalten oder produzieren. – Sich anpassende informelle Institutionen, die mit effektiven formellen Institutionen koexistieren, aber mit diesen konfligierende Ziele enthalten (accommodating informal institutions). 109 Zu den unterschiedlichen Verständnisansätzen für informelle Institutionen in der Russischen Föderation bzw. im portsowjetischen Raum – kultureller, historischer oder neuer Institutionalismus – s. Sharafutdinova (Fn. 15), 27 ff. 110 Die Differenzierung zwischen formellen und informellen Institutionen verdanken wir D. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1990, 4 ff.; zum Institutionenbegriff in der Anwendung auf die Russischen Föderation s. weiter etwa Gel’man (Fn. 3 ), 1021 f. 111 Ledeneva (Fn. 14), 31: Sie zitiert ein Beispiel, das ihr in einer Diskussion von T. Colton gegeben wurde, s. den Nachweis in Fn. 7; sie weist zu Recht darauf hin, daß das Beispiel zeigt, wie wichtig die Fähigkeit ist, die Muster von Formalität und Informalität richtig zu interpretieren. 112 G. Helmke/S. Levitsky, Informal Institutions and Comparative Politics: A Research Agenda, in: Perspectives on Politics 2 (2004), 725/727; Helmke/Levitsky führen als weitere Differenzierung noch die Frage ein, ob die informellen Institutionen sich endogen aus den formellen Institutionen entwickelt haben oder unabhängig von den formellen institutionellen Strukturen, 730; die Kategorisierung wird aufgenommen und angewendet von J. Wheatley (Fn. 8 ), 319/319 f.; in der Sache, freilich ohne eine so klare Kategorisierung, auch Ledeneva (Fn. 2 ), 14 ff.: Ledeneva betont noch besonders die Eigenständigkeit der „informal practices“, die sie als „outcome of players’ creative handling of formal rules and informal norms – players’ improvisation on the enabling aspects of these constraints“ versteht (20): aus juristischer Sicht ist diese Trennung von Norm und Anwendung nicht unbedingt nötig.
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– Ersetzende informelle Institutionen, die ineffektive formelle Institutionen ersetzen und mit diesen kompatible Ziele enthalten. – Konkurrierende informelle Institutionen, die ineffektive formelle Institutionen ersetzen und mit diesen nicht kompatible Ziele enthalten. Welche Rolle spielen informelle Institutionen nun bei sozialem Wandel? Dieser wird ja häufig (unter anderem) durch eine Änderung der formellen Institutionen vollzogen bzw. soll so vollzogen werden, so auch im Fall der Russischen Föderation durch die Schaffung einer neuen Verfassung und eines neuen Rechtssystems. Informelle Institutionen kann man nicht einfach ändern, weil sie eben nicht als geschriebene Normen greif bar sind;113 wir können mit gutem Grund vermuten, daß informelle Institutionen gegen sozialen und politischen Wandel Widerstand leisten.114 Ich hatte eingangs die UdSSR als einen vielschichtigen Urwald informeller Institutionen unter den Wipfeln der formellen Institutionen beschrieben. Für den Transformationsprozeß und sein Ergebnis möchte ich die Fragestellung folgendermaßen formulieren: Führte nun die Veränderung formeller Institutionen auch zu einer Veränderung der informellen Institutionen in der Weise, daß die (alten) informellen Institutionen mit den (neuen) formellen Institutionen kompatibel wurden? Oder aber, wurden die (neuen) formellen Institutionen so geformt – mit Absicht oder auch nur durch die Entwicklung –, daß sie mit den (alten) informellen Institutionen kompatibel waren und sind?
2. Die Russische Föderation: Verbleiben in der vertrauten Gemütlichkeit der Informalität Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Die neuen formellen Institutionen wurden durch Erosion mit den alten informellen Institutionen kompatibel gemacht.115 Ob dies mit Absicht durch ein entsprechendes Design der formellen Institutionen oder durch die Entwicklung geschah, möchte ich heute dahingestellt sein lassen. Wir können in der Entwicklung des russischen Rechtssystems, mit anderen Worten der formellen Institutionen, nach dem Zerfall der UdSSR und der Übernahme durch die Russische Föderation zwei Phasen unterscheiden: Das Rechtssystem war zunächst ein intransparentes Durcheinander von alten Gesetzen, neuen Gesetzen und mit diesen beiden konkurrierenden untergesetzlichen Normen (von Parlament, Präsident und Exekutive), durchzogen von vielen Rechtslücken und zusätzlich vernebelt durch eine nicht prognostizierbare Anwendung durch Verwaltung und Gerichte. Das Rechtssystem wurde dann in einem allmählichen Wandlungsprozess ein intransparenter Klumpen von neuen, unverständlichen (etwa monströs langen), häufig mitei113 Gerade aber die Änderung der informellen Institutionen ist von zentraler Bedeutung; die Änderung der formellen Institutionen ist ungenügend, s. Ledeneva (Fn. 2 ), 22. 114 So ansatzweise Helmke/Levitsky (Fn. 112), 732; D. North (Fn. 110), 6, 37, bezeichnet informelle Institutionen im Prozeß gesellschaftlichen Wandels als „sticky“; Wheatley (Fn. 8 ), 330, geht davon aus, daß im Laufe der Zeit sich die formellen Institutionen den informellen anpassen können: Die Schaffung formeller Institutionen seien nichts anderes als „window-dressing“. 115 In die zweite Richtung eines institutionellen Designs, das die Kompatibilität mit den existierenden informellen Institutionen sichern sollte, geht etwa Wheatley (Fn. 8 ), 328.
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nander konkurrierenden Gesetzen und wiederum mit diesen konkurrierenden oder auch deren Verständlichkeit weiter reduzierenden untergesetzlichen Rechtsakten, zusätzlich vernebelt durch eine wiederum kaum prognostizierbare Anwendung durch Verwaltung und Gerichte – mit der Ausnahme politisch signifikanter Verfahren.116 Der Effekt, wenn nicht gar das Ziel dieses komplizierten und vielschichtigen Regelsystems war eine Unterlaufung jenes gesellschaftlichen Wandels, den das neue Recht bewirken sollte.117 Die Intransparenz des Rechtssystems bewirkte eine Weiterführung des in der UdSSR schon eingeschliffenen Rekurses auf informelle Institutionen und die Weiterexistenz von diese informellen Institutionen schaffenden und nutzenden personalen Power-Netzwerken;118 ich erinnere, soweit es um die föderale Ebene geht, für die UdSSR an das Dnjepropetrovsk-Netzwerk unter Brežnev, an dessen Stelle in den 90er Jahren Jelzins „Familie“ und dann ab 2000 Putins „sistema“ trat.119 Für die Regionen können wir im Wesentlichen analoge informelle Strukturen und Netzwerke konstatieren.120 Das veränderte Wirtschaftssystem erforderte gewisse Anpassungen.121 Die Netzwerke strebten nicht mehr nach Privilegien wie in der UdSSR, sondern nach Reichtum.122 Die Intransparenz und Nichtvorhersagbarkeit zwangen die vom Staat getrennten wirtschaftlichen Akteure, sich im Staatsapparat einen Patron – neue postso116 Wheatley (Fn. 8), 323 ff., konstatiert diese Intransparenz des Rechtssystems sowohl für die UdSSR wie auch für alle Nachfolgestaaten. 117 Aus historischer Sicht ist interessant, daß das politische System in Russland immer wieder gegenüber Wandel und Entwicklungstendenzen Stabilität und Risikovermeidung vorgezogen hat, s. den klassischen Aufsatz von G. Keenan, Muscovite Political Folkways, in: The Russian Review 45 (1986), 115/z.B. 158; zum Teil kritisch gegenüber Keenan Lukin/Lukin (Fn. 52), etwa 24 zum Einfluß von Byzanz auf das zaristische Russland. 118 Nun existieren in jeder Gesellschaft und jedem politischen System Netzwerke; nicht die Tatsache der Netzwerke, sondern ihr besonderer Funktionsmodus in der Russischen Föderation ist das besondere und spezifische. Die Unterschiede der russischen von den „normalen“ Netzwerken – was immer diese Normalität sei – versucht Ledeneva aufzulisten; sie stellt in sehr aufschlußreicher Weise zum einen Netzwerke in einer „economy of favours“ den Netzwerken in einer, wie sie es nennt, Netzwerk-Gesellschaft gegenüber und zum anderen die Rolle von Netzwerken in einer „command economy“ der Rolle von Netzwerken in einer „market economy“ gegenüber, s. Ledenva, Blat Lessons (Fn. 12), 12 f. und 132. 119 Das bedeutet natürlich nicht eine Identität der jeweiligen Systeme; s. z.B. Sharafutdinova (Fn. 15), 139, wonach der „crony capitalism“ unter Jelzin kompetitiv gewesen sei, nämlich die Wahlergebnisse unklar gewesen seien, während unter Putin das System nicht kompetitiv sei. 120 Verwiesen sei nochmals auf Sharafutdinova (Fn. 15), bes. 46 ff., 69 ff.; eine regionale Fallstudie zu den Pharma-Märkten s. bei A. Vacroux, Regulation and Corruption in Transition: The Case of the Russian Pharmaceutical Markets, in: J. Kornai/S. Rose-Ackerman (Hrsg.), Building a Trustworthy State in Post-Socialist Transition, 2004, 133; bes. 136 ff., 142 ff. – Diese „Informalisierung“ betrifft im Übrigen auch das gesamte föderale System, s. dazu A. Dost, Das russische Verfassungsrecht auf dem Weg zum Föderalismus und zurück, 2012, bes. 77 ff. mit der Darstellung unterschiedlicher Ansätze zur Analyse informeller Strukturen und dann jeweils konkret themenbezogen die Analyse des Informellen, z.B. 180 ff. – verfassungsrechtliche Struktur des Föderalismus –, 255 – Kompetenzen und Informalität –, 296 ff. – Föderationsrat und Informalität. 121 Dies vor allem dort, wo die alten und neuen Muster nicht nebeneinander weiterexistieren konnten, s. dazu Ledeneva (Fn. 2 ), 112. 122 Ledeneva (Fn. 14), 248; dieser Reichtum ist allerdings dadurch besonders, daß er nicht auf durchsetzbaren Rechten beruht, sondern auf Privilegien, s. dazu Sharafutdinova (Fn. 15), 4 sowie 30.
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wjetische, der kriminellen Welt entlehnte Terminologie: Dach (крыша) – zu suchen und versichernde Strukturen aufzubauen. Die Grenzen zwischen „erlaubt“ und „verboten“ waren unklar.123 Es entstanden überschaubare, vertrauenswürdige und nach außen abgegrenzte Kreise von „Kumpeln“, die alle bis zu einem gewissen Grad vom „Patron“ abhängig waren, mit anderen Worten klientelistische Netzwerke. Die englischsprachige politische Wissenschaft spricht hier von „crony capitalism“.124 Mit Modernität sind solche personalen Kumpel-Netzwerke (außerhalb des höchstpersönlichen Bereichs) schwer kompatibel; sie kompensieren aber die durch das Nichtfunktionieren der formellen Institutionen verursachte Unterentwicklung der unpersönlichen Formen von gesellschaftlichem Vertrauen.125 Bleiben wir beim föderalen Zentrum: Die reale Machthierarchie nahm die sowjetische Doppelstruktur von Partei und Staat in der Präsidialverwaltung einerseits, der Exekutive andererseits wieder auf. Das eigentliche Machtzentrum ist die in der Verfassung nur beiläufig erwähnte Präsidialverwaltung, die sei es als Eigentümer, sei es personal mit den großen Konzernen – Gazprom, Rosneft, Rosatom, Rosoboroneksport, VAZ, um nur einige zu nennen – eine staatlich-wirtschaftliche „powerbank“ bildet.126 Regierung und Ministerien dagegen, die nach der formellen Struktur das Machtzentrum sein sollten, sind auf die Funktion von Ausführorganen reduziert. Die formellen Institutionen bilden die ornamentale Oberfläche des unter ihr befindlichen Machtkomplexes.127 Weitere Beispiele sind nicht schwer zu finden.128 123 Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, daß die fast apokalyptischen Warnungen vor der russischen Maffia mit Ende der 90er Jahre plötzlich versiegten, was nicht zuletzt an deren partieller Legalisierung liegt; s. dazu V. Volkov, Violent Entrepreneurs. The Use of Force in the Making of Russian Capitalism, 2002, bes. 108 ff.; s. weiter F. Varese, The Russian Mafia. Private Protection in a New Market Economy, 2001; sowie jetzt S. Stephenson, Gangs of Russia. From the Streets to the Corridors of Power, 2015; der Fokus von Stephenson sind, im Unterschied zu Varese und Volkov, die street gangs von Jugendlichen. 124 Sharafutdinova (Fn. 15), bes. 22 ff.; Hill/Gaddy (Fn. 11), 212 ff. 125 Ledeneva (Fn. 2 ), 114, 191. 126 S. dazu die Analyse bei K. Dawisha, Putin’s Kleptocracy: Who Owns Russia, 2014, 267 ff.; im Kontext der maffiösen Strukturen etwa Feifer (Fn. 51), 263: Der Kreml als die Haupt-Maffia. – Von dieser staatlich-wirtschaftlichen Powerbank ist die Übernahme von Unternehmen durch Beamte, in der Regel Angehörige der „Machtstrukturen“, also z.B. des FSB, des Innenministeriums, der Prokuratur, der Untersuchungskommission, mit dem Ziel der persönlichen Bereicherung zu unterscheiden; die Russen nennen diese feindlichen Übernahmen „rejderstvo“, s. dazu M. Rochlitz, Corporate Raiding and the Role of the State in Russia, in: Post-Soviet Affairs 30 (2014), 89 ff., mit viel empirischem Material; Ledeneva (Fn. 14), 188 ff.: „Werwölfe in Epauletten“ ( оборотни в погонах), 194 ff.; sowie L. Shelley, Crime, Organised Crime and Corruption, in: S. K. Wegren (Hrsg.), Return to Putin’s Russia, 2013, 189 (196 f.). Beispiele sind etwa M. Guceriev und Rusneft’, das dann an O. Deripaska/Bazovyj E˙lement verkauft wurde; E. Cˇikvarkin und Evroset’, das an A. Mamut verkauft wurde, wobei der Erlös dann an das Innenministerium weitergeleitet worden sein soll, oder auch V. Evtušenkov/Bašneft’ oder D. Kamenšcˇ ik/Flughafen Domodedovo. 127 Dies entspricht eingeschliffenen historischen Mustern, s. Keenan (Fn. 117), passim, z.B. 161, 164, 168, 170; s. weiter als konkretes Beispiel V. Pastuchov, Mutnye instituty (Trübe Institutionen) vor allem zur Unterwanderung von Polizei und Innenministerium durch den FSB, s. polit.ru vom 10.2.2010 (zuletzt aufgerufen am 22.4.2016). 128 So etwa das Auseinanderfallen von formeller und inhaltlicher Eigentümerstellung in der Landwirtschaft der Schwarzerde-Gebiete sowohl in Russland wie auch in der Ukraine, s. dazu die Studie von J. Allina-Pisano, The Post-Soviet Potemkin Village. Politics and Property Rights in the Black Earth, 2008; zum Parteiensystem, das außen pluralistisch und innen im Wesentlichen Kreml-monis-
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Und die Gesellschaft? Staat und Eliten hatten ihr Äußeres verändert; unter dieser Oberfläche existierten die bekannten und vertrauten, vielschichtigen Normen- und Orientierungssysteme weiter. Alles war anders; aber nichts hatte sich verändert! Ich fasse in zunächst zwei Thesen zusammen: 1. Das System funktioniert nach ungeschriebenen Regeln, die den Vorrang vor den formellen und mit diesen kompatiblen informellen Regeln haben. Die sichtbaren Institutionen wurden durch unsichtbare Institutionen ersetzt, die hinter der Fassade der sichtbaren Institutionen funktionieren. 2. Das System mit seinen unsichtbaren informellen Institutionen wird durch personale Power-Netzwerke gebildet, die die Ressourcen kontrollieren und Personen mobilisieren. Diese personalen Power-Netzwerke haben sich auch der formellen Institutionen bemächtigt.129 Ich möchte mit Ihnen daher zum Abschluß einen Blick auf diese personalen Powernetzwerke werfen, die in der russischen und westlichen Politologie „sistema“ genannt werden;130 ich werde mich dabei wieder auf das föderale Zentrum konzentrieren.131
VI. Sistema – Russlands Powernetzwerk Sistema ist ein vertikal und horizontal organisiertes Netzwerk.132 Sistema und die Oberfläche der formellen Institutionen existieren nebeneinander.133 Je nach Notwendigkeit können die formellen Institutionen zur Durchsetzung von sistema-Zielen tisch ist, s. O. Wilson, Virtual Politics. Faking Democracy in the Post-Soviet World, 2005; zu den Wahlen s. St. Fish, Democracy Derailed in Russia. The Failure of Open Politics, 2005; zur Ersetzung des Geldes durch Waren und Tausch s. D. Woodruff, Money Unmade. Barter and the Fate of Russian Capitalism, 2000; weitere Beispiel bei Ledeneva (Fn. 2 ). Das neueste Beispiel ist im Übrigen der Doping-Skandal um die russischen Sportler, wo unter der Oberfläche der Doping-Kontrollinstitutionen systematisch gedopt wurde. 129 S. Kononenko (Fn. 80), 8, 9; s. auch 13: Politische Macht werde durch (by) Netzwerke mit Hilfe von (through) Institutionen verwirklicht, während Regieren durch Institutionen mit Hilfe von Netzwerken verwirklicht werde. 130 S. die sehr eingehende Beschreibung bei Ledeneva (Fn. 14), 19 ff.; Sharafutdinova (Fn. 15), 43. – Die Betrachtung als Netzwerk ist eine Perspektive; damit überlappt sich die eher „klassische“ Analyse von Eliten; s. unter diesem Blickwinkel L. Grigoriev, Elites: The Choice for Modernisation, in: P. Dutkiewicz/D. Trenin (Hrsg.), Russia: The Challenges of Modernisation, 2011, 191 ff., bes. 192, 193 und 196 mit einem vergleichenden Schema zur Orientierung der unterschiedlichen Eliten, sowie 218 zur Position der Eliten zur Modernisierung Russlands. 131 Zu den Regionen s. etwa die das Gebiet Nižnyj Novgorod und die Republik Tatarstan untersuchende Studie von Sharafutdinova (Fn. 15), bes. 46 ff. (Nižnyj Novgorod) und 69 ff. (Tatarstan); s. weiter V. Gel’man/S. Ryzhenkov/M. Brie, Making and Breaking Democratic Transitions. The Comparative Politics of Russia’s Regions, 2004, mit einer Analyse der Regionen Saratov, Nižnij Novgorod, Volgograd, Rjazan, Ul’janovsk und Tver’. 132 Das unterscheidet sistema von den nur vertikal organisierten Clanstrukturen; s dazu die Fallstudie zu Kazachstan von E. Schatz, Modern Clan Politics. The Power of „Blood“ in Kazachstan and Beyond, 2004. 133 S. Hill/Gaddy (Fn. 11), 193: Bewahrung der formellen Struktur der Institutionen, während ihr Funktionsmodus nach 2000 geändert wurde; s. auch 197.
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aktiviert werden, zum Beispiel die Strafjustiz oder die Steuerpolizei, wie das Beispiel der Verurteilung von Chodorkovskij und der kalten Verstaatlichung von JUKOS zeigt.134 Das Nebeneinander der formellen Institutionen mit sistema kreiert Ambivalenzen und Doppelstandards. Im Falle von Widersprüchen werden die ungeschriebenen Regeln befolgt: persönliche Loyalität verdrängt die formelle Hierarchie.135 Dies verleiht der Unterscheidung zwischen denen, die dazu gehören ( свои), und denen, die außen vor bleiben (чужие ), zentrale Bedeutung.136 Wie und wo werden also die sistema-Mitglieder rekrutiert und was gewährleistet ihren Zusammenhalt? Wie werden die Mitglieder von sistema rekrutiert? Grundlage sind Freundschaft, Loyalität, Gehorsam, die Eigenschaft, ein „Kumpel“, ein „корпоративный человек“ zu sein und (eventuell auch) fachliche Qualitäten.137 Grundlage der Rekrutierung ist andererseits das Fehlen von Eigenschaften, die gefährlich für sistema sind, wie etwa Unabhängigkeit als Persönlichkeit sowie im Hinblick auf Ressourcen. An die Mitglieder richtet sich die Erwartung, daß sie in der Lage sind, die ungeschriebenen Regeln von sistema zu identifizieren, zu verstehen und nach ihnen zu handeln. Im Austausch dafür profitieren die Mitglieder von den von sistema zum Schaden des Gemeinwesens verteilten und ihnen zugeteilten Gütern: der Möglichkeit der Einnahme von Bestechungsgeldern,138 von Boni, von schwarzen Gehaltslisten und kickbacks,139 der Erteilung von Staatsaufträgen,140 vom vergünstigten Erwerb von Eigen134 S. generell zu der Möglichkeit der Aktivierung der formellen Institutionen Ledeneva (Fn. 2 ), 170 ff.; s. die Aufstellung der Nutzung unterschiedlicher Sanktionstypen ebda., 172. Zum Fall Chodorkovskij konkret s. ebda. die bekannte These, daß Chodorkovskij durch seine politischen Aktivitäten, seine Unterstützung unterschiedlicher Parteien (ohne Absprache mit der Verwaltung des Präsidenten) und seine offen erklärten politischen Absichten die ungeschriebene Regel der „gleichen Entfernung aller Oligarchen von Staat“ („равноудаленность“) nicht beachtet habe, die Putin im Juni 2000 bei einem Treffen mit den Oligarchen verkündet hatte, s. ebda., 194. 135 Das hat spezifische Konsequenzen: Der Herrscher ist in einer solchen Governance-Struktur zwar gegenüber anderen Individuen sehr mächtig, nicht aber gegenüber dem System, das in seiner eigenen Abhängigkeit von den ungeschriebenen Regeln, ihrer Intransparenz und der Selektivität der Rechtsdurchsetzung gefangen ist, s. dazu Ledeneva (Fn. 2 ), 195; aus einer etwas anderen Perspektive St. Holmes, How Faking Autocracy Legitimates Putin’s Hold on Power, in: P. A. Bodin/S. Hedlund/E. Namli (Hrsg.), Power and Legitimacy – Challenges from Russia, 2014, 28 ff. mit der These, Putin spiele seine Autokratie und Macht nur vor. Dies ist im Übrigen eine Wiederholung historischer Muster aus dem 14.–16. Jahrhundert, s. den Klassiker von Keenan (Fn. 117), z.B. 158. 136 S. die unterschiedlichen Ansätze, „svoi“ und „cˇužie“ zu beschreiben, bei Ledeneva (Fn. 14), 102 f. – Mit der Bedeutung dieser Differenzierung wird übrigens nahtlos an sowjetische Muster von Netzwerk-Integration angeknüpft, s. dazu die sehr sensible und plastische Darstellung bei Yurchak (Fn. 99), 2005, 108 ff. 137 Ledeneva (Fn. 14), 93 ff. mit einer ganzen Reihe von persönlichen Berichten von sistema-Mitgliedern; die fachliche Qualifikation, so Ledeneva, kann von Bedeutung sein oder auch nicht, 94; s. aber ebda. 110 f. die „Preisliste“ für eine Reihe von Positionen im politischen System bzw. in den obersten Etagen der Bürokratie; Hill/Gaddy (Fn. 11), 207, 216 ff. 138 Bestechungsgelder können wiederum in den unterschiedlichsten Formen auftreten und auch ganz unterschiedliche Funktionen haben, s. dazu die Studie von R. Karklins, The System Made Me Do It. Corruption in Post-Communist Societies, 2005. 139 Eine eingehende Darstellung des Systems der kickbacks, s. bei Ledeneva (Fn. 14), 98 ff.; zu den drei unterschiedlichen Varianten der Korruption – Teilung von Einkünften („распил“), kickbacks („откат“) sowie Bestechungsgeldern („занос“) s. ebda., 248. 140 Hierbei ist die russische Lesart, daß die Erteilung von Staatsaufträgen an Freunde – so etwa an die Gebrüder Rotenberg, die auf diese Weise von staatlichen Großaufträgen in Socˇ i und anderswo
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tum und sonstigen Privilegien.141 Gewährleistet wird das Funktionieren von sistema darüber hinaus durch Druck, etwa Kompromat.142 Ein Austritt aus sistema ist nicht vorgesehen;143 eine Ausstoßung kann stattfinden, wenn jemand nicht mehr „richtig“ ist, nicht mehr „einer von uns“ – „свой человек“. Seltene Beispiele sind V. Cˇerkesov (Sicherheitsorgane/Drei Wale Affaire)144, M. Guceriev (Slavneft’)145; Jevtušenkov (Bašneft)146 und neuerdings wohl V. Jakunin (Geheimdienst und Dacˇenkooperative/ RŽD)147; bei Guceriev kam es allerdings zu einer unerwarteten Wiederaufnahme in sistema. Die unter Putin Führungspositionen in der Russischen Föderation bekleidenden Personen148 rekrutieren sich im Wesentlichen aus vier sozialen Zusammenhängen. Alle vier Zusammenhänge sind mit Putins Biographie verwoben: Dem Sicherheitsapparat,149 insbesondere dem Leningrader KGB und auch den Freunden und Bekannten aus der Dresdner Zeit, der Leningrader Stadtverwaltung der 90er Jahre – Putin war Vizebürgermeister unter Sobcˇak –, einer Kooperative zum Bau einer Dacˇensiedlung an einem der zahllosen Seen im Norden von St. Petersburg mit dem Namen „Der See/ozero“ – Putin war Mitglied dieser Kooperative – und dem persönlichen Bereich, womit etwa Familie oder Putins Judo-Klub Yavara-Neva gemeint ist.150 Kinder, Verwandte und Freunde der den vier Zusammenhängen zuzuordnenden besonders profitiert haben, so lange eigentlich nicht anrüchig ist, wie die Aufträge vernünftig ausgeführt werden, s. Hill/Gaddy (Fn. 11), 213 f. mit Fn. 65. 141 Hill/Gaddy (Fn. 11), 213 ff. 142 S. die noch umfangreichere Aufzählung bei Ledeneva (Fn. 14), 225; s. weiter Hill/Gaddy (Fn. 11), 215. – Damit wurde eine schon in der UdSSR eingeführte Praxis fortgesetzt, s. Wheatley (Fn. 8 ), 322 f. 143 Ledeneva (Fn. 14), 112 ff. 144 Eine detaillierte Darstellung der „Drei-Wale-Affaire“ s. bei Ledeneva (Fn. 14), 182 ff.; zu den spezifischen „Sünden“ von V. Cˇerkesov s. ebda., S. 186 ff.; seinen Artikel „Es darf nicht zugelassen werden, daß sich die Krieger in Händler verwandeln“ ( Нельзя допустить, чтобы воины превратились в торговцы ), in dem er die Kommerzialisierung des FSB kritisiert, s. in Kommersant vom 9.10.2007, http://kommersant.ru/doc/812840 (zuletzt aufgerufen am 22.8.2016). 145 Eine Darstellung des Falls Guceriev inklusive eines Auszugs aus einem Interview von Guceriev in der Zeitung Vedomosti vom 19.5.2010 s. bei Ledeneva (Fn. 14), 206 ff. 146 Zu der Bašneft’-Affaire s. ausführlich Sygar (Fn. 36), 365 ff. 147 Zu dem überraschenden Rücktritt von V. Jakunin s. etwa L. Ragozin, The Putin Adoration Society, Politico.EU vom 12.10.2015, www.politico.eu/article/the-putin-adoration-society/(zuletzt aufgerufen am 22.8.2016); Ragozin stellt als mögliche Gründe mannigfache Korruptionsvorwürfe gegen Jakunin sowie die Tatsache dar, daß Jakunins Sohn mittlerweile britischer Staatsbürger ist. Nach Sygar (Fn. 36), 363, hätte Jakunins Abberufung schon 2014 nach der Einverleibung der Krim angestanden: da jedoch Jakunin unter die westlichen Sanktionen gefallen sei, habe man ihn damals nicht fallen lassen wollen. 148 Die Besetzung von Führungspositionen durch Vertraute Putins begann schon im ersten Jahr seiner Präsidentschaft; die Zeitung „Vedomosti“ verlieh im Jahre 2001 – in Zeiten noch relativ weitgehender Freiheit – den Titel „Politiker des Jahres“ dem „Kollektiv Putin“; dazu und zur ersten Welle der Besetzung von Führungspositionen in Staat und Wirtschaft s. Ledeneva (Fn. 2 ), 109; zu dem Elitenwechsel unter Putin s. etwa D. Treisman, Putin’s Silovarchs, in: Orbis 51/1 (2007), 141 ff., bes. 145 mit der Gegenüberstellungstabelle von Oligarchen und Silovarchen. 149 Zur „Rückkehr“ der Sicherheitsorgane s. – eher reißerisch – A. Soldatov/I. Borogan, The New Nobility. The Restoration of Russia’s Security State and the Enduring Legacy of the KGB, 2010; sowie etwas solider, J. Fedor, Russia and the Cult of State Security, 2011, insbes. 160 ff. 150 Eine ausführliche Beschreibung der unterschiedlichen Netzwerke, ihrer Entstehung und ihrer Mitglieder s. bei Dawisha (Fn. 126), 39 ff. (KGB Dresden), 57 ff., 71 ff. (KGB Leningrad), 80 ff. (Stadtverwaltung Leningrad), 92 ff. ( Judo-Klub) sowie 94 ff. (Dacˇenkooperative).
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Netzwerkmitglieder werde ich bei der folgenden kleinen Stichprobe den Vertretern des persönlichen Bereichs zuordnen.151 In der Regierung, der Putin als Ministerpräsident vorstand, waren elf Mitglieder aus dem Sicherheitsapparat (siloviki), vier Mitglieder aus der Stadtverwaltung St. Petersburg, zwei aus dem persönlichen Bereich sowie einer aus der Dacˇenkooperative. In der Führung der Präsidialadministration ist im Augenblick nur der Leiter ein Vertreter der Sicherheitsorgane; es gibt allerdings verdächtig viele Vertreter des Auswärtigen Dienstes.152 Im Augenblick sind von den acht Bevollmächtigten Vertretern des Präsidenten in den Föderalen Kreisen fünf aus dem Sicherheitsapparat und einer aus der Stadtverwaltung von St. Petersburg. Von den bis heute 31 Bevollmächtigten Vertretern hatten 15 einen Hintergrund in den Sicherheitsorganen und sechs einen St. Petersburger Hintergrund.153 Im staatlich dominierten Banken- und Finanzsektor finden wir drei Vertreter des Sicherheitsapparates, 16 Vertreter aus dem persönlichen Bereich, davon zwei Mitglieder des Judoklubs, die Gebrüder Rotenberg, und 14 seien es Verwandte von Putin, seien es Kinder oder Verwandte von Netzwerkmitgliedern. In der staatlich dominierten Öl- und Gasindustrie sind es vier Vertreter des Sicherheitsapparates, drei Vertreter der Stadtverwaltung (bzw. in einem Fall der Juristischen Fakultät der St.PGU), ein Vertreter der Dacˇenkooperative und sechs Vertreter des persönlichen Bereichs. Eine ganze Reihe von Personen haben mehrere Funktionen in unterschiedlichen Bereichen.154 Natürlich gibt es auch Ausnahmen wie den Ersten Stellvertretenden Ministerpräsident I. I. Šuvalov, einen ehemaligen Moskauer Anwalt;155 das Grundmuster wird dadurch jedoch nicht in Frage gestellt. 151 Das betrifft auch die Familie des Präsidenten selbst; s. dazu SZ vom 12.11.2015, S. 4, zu den Positionen und zur Vernetzung der Tochter von Putin, Ekaterina Putina, sowie zum plötzlichen Reichtum von Putins Schwiegersohn Kirill Šalamov in der SZ vom 19./20.12.2015, 8; dazu gehört dann auch der erst durch die Veröffentlichung der Panama-Papers plötzlich ins Rampenlicht gerückte Cellist S. Roldugin, s. SZ vom 4.4.2016, 11 f.; zur bisherigen Schattenexistenz Roldugins s. das Interview mit A. Navalnyj in der SZ vom 15.4.2016, 7. 152 Verdächtig deswegen, weil den Absolventen des MGIMO eine gewisse Nähe zur Auslandsaufklärung SVR nachgesagt wird, s. dazu den Artikel von A. Knight, New York Times Review of Books, Putin’s Propaganda Man“, www.nybooks.com/blogs/nyrblog/2012/may/31/putins-propaganda-man/ ?printpage=true (zuletzt aufgerufen am 21.8.2016); s. weiter Feifer (Fn. 51), 122. 153 Damit sind natürlich nur einige Positionen angesprochen: eine sehr ins Detail gehende und deswegen besonders interessante Analyse der Vergabe weiterer Positionen im Staatsapparat unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Machtgruppen und Personen s. bei V. Pribylovsky, Clans are Marching, opendemocracy.net/od-russia/vladimir-pribylovsky/clans-are-marching (zuletzt aufgerufen am 21.8. 2016), mit, beginnend 1999, wunderbaren kleinen Zeichnungen zu den unterschiedlichen und miteinander kämpfenden Machtgruppen, jeweils mit Putin sei es im Zentrum, sei es an der Peripherie des jeweiligen Schlachtfeldes; s. weiter Ledeneva (Fn. 14), 51 sowie 57, 58 zum Hintergrund des Führungspersonals 2011 in der Regierung, im Rohstoff bereich und im Bankenbereich unter Verwendung von Materialien der New York Times vom 25.10.2011; eine konkrete eigene Analyse der vier das Netzwerk konstituierenden Gruppen und Personen s. 72 ff. 154 Die Kombination von Positionen im Staat und in der Wirtschaft wird auch inoffiziell mit dem Begriff „vertical of wealth“ bezeichnet, s. dazu Ledeneva (Fn. 14), 63. 155 Eine kleine Geschichte zeigt dann auch, daß es im Netzwerk gewaltige interne Differenzierungen gibt. Šuvalov und Secˇ in – einer der engsten Vertrauten von Putin, Vize-Ministerpräsident und Vorstandsvorsitzender von Rossneft’ – haben den gleichen Vor- und Vatersnamen (Igor’ Ivanovicˇ ); die Russen rufen einander mit Vor- und Vatersnamen. Putin ließ Igor’ Ivanovicˇ zu sich rufen; es kam die Gegenfrage: Welchen? Putins Antwort: Den echten! ( настоящего ), nach Hill/Gaddy (Fn. 11), 222 Fn. 97; die Geschichte wurde, so die Autoren, ihnen von mehreren Seiten bestätigt. Die gleiche Ge-
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VII. Zurück zu Tjucˇev Diese grobe Analyse einiger Aspekte von sistema mag an dieser Stelle genügen. Ein Blick auf die innere Differenzierung von sistema in unterschiedliche Gruppen, deren Aufgaben, Funktion- und Integrationsmodus156 sowie ihre interne Struktur, und ein Blick auf regionale Netzwerke sowie deren Verbindung mit dem föderalen Netzwerk würde hier zu weit führen. Auch die Frage, ob Putin alles oder nichts kontrolliert, möchte ich offen lassen.157 Ich möchte zum „russischen Rätsel“ zurückzukehren: Was funktioniert denn eigentlich, und wie und warum? Wie funktioniert das, was nicht zu funktionieren scheint? Ich hoffe, es ist mir gelungen, Ihnen zu zeigen, daß es Antworten auf diese Fragen gibt, vor allem auf die, wie das funktioniert, was nicht zu funktionieren scheint, und daß ein wichtiger Schlüssel die von allen Gesellschaftsmitgliedern geteilte formell-informelle Vielschichtigkeit ist.158 Problem und einen möglichen Lösungsweg, sollte sich das Fenster der Geschichte wieder einmal öffnen, möchte ich in der folgenden dritten These ansprechen: 3. Sistema sichert einerseits die Existenz und das Funktionieren Russlands,159 verhindert aber andererseits ein Funktionieren der formellen Institutionen und die Geltung der geschriebenen und mit diesen kompatiblen ungeschriebenen Regeln. Die Aufgabe und die Lösung, soll Russland sich modernisieren, besteht (mit A. Ledeneva160 ) darin, die unsichtbaren Netzwerke/Institutionen/das System zu modernisieren und damit ihre dysfunktionalen Effekte zu neutralisieren, ohne ihre funktionalen Leistungen dabei zu verlieren. Dies erfordert einen „institutional design“, der zum Teil sehr von dem abweicht, was uns vertraut ist und was wir zum Teil für unverzichtbar halten.161 schichte erzählt auch Sygar (Fn. 36), 214, mit dem Zusatz, daß seitdem Secˇ in nur den Spitznamen „der Echte“ trägt. 156 S. dazu sehr detailliert Ledeneva (Fn. 14), 53 ff., 64 ff., mit einer idealtypischen Darstellung von Power-Netzwerken (auf der Grundlage von Parsons und seiner Matrix des sozialen Handelns, s. 230 Fn. 20) sowie dann konkret 214 ff., bes. 222; die Tatsache, daß Ledeneva die Gruppen mit Termini belegt, die aus dem russischen kriminellen Slang stammen, macht ihre Darstellung besonders anschaulich. 157 S. zu den unterschiedlichen Gruppen etwa Ledeneva (Fn. 14), 53 ff., 65 sowie 214 ff.; verwiesen sei noch einmal auf V. Pribylovsky, Clans are Marching, opendemocracy.net/od-russia/vladimir-pribylovsky/clans-are-marching (zuletzt aufgerufen am 21.8.2016). – Daß der Autokrat nur ein nomineller, nach außen sichtbarer und politisch schwacher Autokrat ist und die Führung in der Sache kollektiv ist, ist, wie Keenan gezeigt hat, ein historisches Muster, das seit dem 14./15. Jahrhundert existierte, s. Keenan (Fn. 117), 118, 128 ff., bes. 135 sowie auch 147. 158 Gel’man (Fn. 3 ), 1036: long-term principal feature of the Russian political system. 159 S. Ledeneva (Fn. 14), 214: Schaffung effektiver, aber illegitimer „Stichwege“, die die Effektivität und Legitimität von formellen Institutionen untergraben; s. auch Fitzpatrick (Fn.5), 1/12. 160 So auch Ledeneva, Blat Lessons (Fn. 12), 134 ff., freilich dann bei den konkreten Vorschlägen, wie man die „unwritten rules“ ändern könnte, noch so abstrakt und unspezifisch, daß dies für einen juristischen approach noch nicht taugt. 161 Wheatley (Fn. 8 ), 334, geht davon aus, daß der Impuls für Wandel eher von außerhalb der politischen herrschenden Eliten kommt; in Anbetracht dessen, wie sehr sich die institutionelle Vielschichtigkeit nicht nur in die Eliten, sondern ebenso in die Gesellschaft eingefressen hat, ist das aus meiner Sicht kein wesentlicher Aspekt. Ein Beispiel für ein auf spezifische Situationen und Probleme zugeschnittenes
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Ich komme nun, wie versprochen, zurück zu Tjucˇev. Ich bin davon überzeugt, daß man an Russland mehr als nur glauben kann, sollte und muß. Ich halte es daher eher mit der neurussischen, wohl vom Regisseur des Taganka-Theaters Ju. Ljubimov stammenden Variante des Tjucˇev-Zitats162 und möchte damit meinen Beitrag über dieses Land, das ein Teil meines Lebens ist und dem ich zutiefst verbunden bin, beenden. Das russische Original dieser Abwandlung ist nicht ganz stubenrein; bei der deutschen Variante habe ich mich an einem Knüttelvers versucht: Давно пора, ебена мать, умом Россию понимать !
oder, auf Deutsch: Schon lange ist es Zeit, verdammt, mit dem Verstand zu verstehen das Russenland!
Design im Bereich des Wahlrechts gibt D. Chapman, Can Civil Wars be Avoided. Electoral and Constitutional Models for Ethnically Divided Countries, 1991: das so konzipierte Wahlrecht entspricht dann freilich nicht den herkömmlichen verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätzen, wie wir sie in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG finden. 162 So zumindest Persman (Fn. 52), 200; Ljubimov soll das im Jahre 1994 gesagt haben.
Sprachliche Bedingungen einer Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts (1977)* von
Prof. Dr. jur., Dr. phil. Adalbert Podlech, Darmstadt Nemo autem vereri debet ne characterum contemplatio nos a rebus abducat, imo contra ad intima rerum ducet. Niemand soll befürchten, daß die Betrachtung der Zeichen uns von den Dingen wegführt, im Gegenteil, sie führt uns ins Innerste der Dinge. Gottfried Wilhelm von Leibniz in einem Brief an Graf Tschirnhaus vom Mai 1678
Inhalt 1. 2. 3. 4. 5.
Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Bedingungen der formalen Stufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Bedingungen der rechtstheoretischen Stufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Bedingungen der dogmatischen Stufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Die Dogmatik des Staatsrechts als Bedingung der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . 355
1. Einleitende Bemerkungen Um den Titel des Referats nicht zu überlasten, wurde „Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts“ in der der deutschen Grammatik eigentümlichen Unbestimmtheit zwischen Genetivus objectivus und Genetivus subjectivus belassen. Zur Diskussion stehen also die sprachlichen Bedingungen, die notwendige Bedingungen einer Kon Der Text stammt aus dem Jahr 1977. Er wurde auf dem Festseminar zum 75. Geburtstag von Bundesverfassungsrichter a.D. Prof. Dr. Friesenhahn in Maria Laach am 8. Januar 1977 vorgelegt und diskutiert. Der Text wurde seinerzeit nicht veröffentlicht, weil der Jubilar auf der Nichtveröffentlichung aller Beiträge der Veranstaltung bestand. *
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trolle anderer Organe der Bundesrepublik Deutschland durch das Bundesverfassungsgericht sind, und zugleich diejenigen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, soll die Öffentlichkeit die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts kontrollieren können. Meine erste Hypothese, daß die beiden Mengen sprachlicher Bedingungen weitgehend identisch sein dürften, möchte ich hier nur andeuten, nicht auch noch begründen.1 Üblicherweise teilt man sprachliche Probleme ein in syntaktische, semantische und pragmatische Probleme.2 Die Syntax behandelt die formale Korrektheit von sprachlichen Zeichen und Texten, wobei neben den Regeln der korrekten Bildung von Ausdrücken die logischen Regeln die wichtigsten syntaktischen Regeln sind. Die Semantik behandelt sprachliche Probleme unter Einbeziehung der Bedeutung von Ausdrücken. Rechtswissenschaftlich relevante Sprachprobleme sind fast immer auch semantische Probleme. Schließlich behandelt die Pragmatik sprachliche Probleme unter Einschluß des Umstandes, daß Sprache im sozialen Kontakt gesprochen und verstanden werden muß, soll sie ihre Funktion erfüllen. Normative Sprachen enthalten immer einen nicht zu vernachlässigenden Anteil pragmatischer Probleme. Die vorstehende Einteilung, die von der Semiotik geliefert wird, ist zur Behandlung rechtswissenschaftlich relevanter Sprachprobleme verhältnismäßig sachfern, obwohl sich alle solche Sprachprobleme auf einer der genannten Ebenen diskutieren lassen. Zugreifender ist folgende Einteilung, die in einer hier nicht zu erörternden Weise auf die semiotische Einteilung zurückgeführt werden kann. Ihre Aufstellung, Explikation und Begründung ist Aufgabe der Rechtstheorie.3 Die erste Stufe ist die formale Stufe. Die Regeln dieser Stufe sind die syntaktischen Regeln der Linguistik und der Logik. Die formale Stufe ist weitgehend identisch mit der semiotischen Syntax. Die zweite Stufe ist die rechtstheoretische Stufe. Die Regeln dieser Stufe gestatten die Formulierung einer Sprache, die so reich ist, daß rechtliche Probleme in ihr formuliert werden können, deren Ausdrücke in ihrem Gehalt aber nicht abhängen von der Geltung einzelner positiver Rechtsregeln.4 Es läßt sich daher formulieren: Eine Rechtstheorie ist eine Sprache, die mindestens folgenden Bedingungen genügt: 1. Die Sprache ist so korrekt, daß logische Operationen auf ihr sinnvoll sind. 2. Die Sprache ist so reich, daß die Rechtsprobleme, über denen eine Dogmatik formuliert werden soll, in dieser Sprache formuliert werden können. 3. Die Sprache enthält alle Ausdrücke, die zur Beschreibung der Konstruktion und der Strukturen von Dogmatiken erforderlich sind. Die dritte Stufe ist die dogmatische Stufe. Die Regeln dieser Stufe gestatten die Formulierung einer Sprache, die hinreichend reich ist, Dogmatiken zu formulieren, wo1 Zu den Bedingungen möglicher Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts durch die Öffentlichkeit gehören natürlich nicht nur die im Folgenden zu erörternden sprachlichen Bedingungen, sondern ebenso die wissenschaftstheoretischen Bedingungen, unter denen auch der folgende Text steht. 2 Die Unterscheidung geht zurück auf Ch. W. Morris, Foundations of the Theory of Signs, 1938; deutsch: Grundlagen der Zeichentheorie, übers. von R. Posner, 1972. 3 Zum Folgenden vgl. A. Podlech, Entwurf einer Rechtstheorie als Strukturtheorie positiver, dogmatisch gefaßter Rechtsordnungen, 4. Abschnitt, in: ders. (Hrsg.), Rechnen und Entscheiden. Mathematische Modelle juristischen Argumentierens, 1977; ders., Zur Theorie einer juristischen Dogmatik, 8. Abschnitt, in: ebd. 4 Rechtstheoretisch im angegebenen Sinn ist eingeführt der Ausdruck „Vertrag“ in: A. Podlech, Gehalt und Funktion des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, 1971, 260.
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bei ich hier zunächst an das intuitive Verständnis appellieren muß, das jeder Jurist von der Dogmatik mitbringt.
2. Bedingungen der formalen Stufe Als erstes Beispiel eines Fehlers der formalen Stufe werde ein Prämissen-Mangel in der Zulässigkeitsbegründung der Numerus-clausus-Entscheidung5 angeführt. 1. Fall – BVerfGE 33, 303 Wortgebrauchsregelung. Regelungsgehalt des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG werde das „Bestimmtheitsgebot“ genannt. Das Bestimmtheitsgebot kann Gegenstand landes- und bundesverfassungsrechtlicher Bestimmungen sein. Argumentation der Bayerischen Staatsregierung. Da das bundesverfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot unmittelbar nur für Bundesgesetze gelte, sei die Bundesverfassung nur verletzt, wenn ein Bundesgesetz ihm nicht entspreche. Da zur Überprüfung ein Landesgesetz stehe, sei das Bundesverfassungsgericht nicht zuständig, da es nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG nur zur Entscheidung über die Verletzung von Bundesverfassungsrecht zuständig sei. Argumentation des Bundesverfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht ist zur Entscheidung über die Verletzung von Bundesverfassungsrecht auch dann berufen, wenn ein Landesverfassungsgericht zur Entscheidung über gleichlautendes Landesverfassungsrecht berufen ist. Diskussion. Diese Argumentation trifft den Kern der Argumentation der Bayerischen Staatsregierung nicht. Es fehlt zur Widerlegung der Argumentation der Bayerischen Staatsregierung die Behauptung und Begründung der These, daß das bundesverfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot auch durch Landesgesetze verletzt werden kann. Es liegt also der syntaktische Fehler des Prämissen-Mangels vor. Die Argumentation hätte korrekterweise beispielsweise lauten können: Rektifizierte Argumentation des Bundesverfassungsgerichts. Landesgesetze, die dem Bestimmtheitsgebot nicht entsprechen, verletzen neben einem etwaigen landesverfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot auch das bundesverfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot und zur Entscheidung über diese Verletzung ist das Bundesverfassungsgericht auch dann berufen, wenn ein Landesverfassungsgericht zur Entscheidung über gleichlautendes Landesverfassungsrecht berufen ist. Eine Verletzung von Bundesverfassungsrecht liegt dabei deswegen vor, weil die landesverfassunsgsrechtlichen Bestimmtheitsgebote Konkretisierungen des bundesverfassungsrechtlich gewährleisteten Rechtsstaatsprinzips sind und eine Verletzung ihrer immer auch eine Verletzung des letzteren sind.
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BVerfGE 33, 303 (325 ff.).
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Dieser Fehler ist wohl nur ein Flüchtigkeitsfehler und, wie die rektifizierte Argumentation zeigt, behebbar. Schwerwiegender als ein solcher reparabler Prämissenmangel sind logische Widersprüche. Geht sowohl eine dogmatische These wie ihr Gegenteil unauswechselbar in eine Argumentation des Bundesverfassungsgerichts ein, so ist der Fehler irreparabel und die Entscheidung auch im Ergebnis schon aus logischen Gründen irreparabel falsch. Ein solcher Fall dürfte in der Abtreibungsreform-Entscheidung 6 vorliegen. 2. Fall – BVerfGE 39, 1 Wortgebrauchsregelung. „Singularität eines Grundrechtsschutzes“ werde der Umstand genannt, daß unter den Grundrechtsschutz jeder konkrete Fall des grundrechtlich geschützten Rechtsgutes fällt und infolgedessen eine rechtliche Abwägung zwischen der Schutzwürdigkeit verschiedener konkreter Rechtsgüter unzulässig ist. Erste Argumentation des Bundesverfassungsgerichts. Die Singularität des Grundrechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gilt für Embryonen, da jeder Embryo gleich wertvoll ist wie ein anderer und daher keiner unterschiedlichen rechtlichen Bewertung hinsichtlich seiner Existenz unterworfen werden darf.7 Zweite Argumentation des Bundesverfassungsgerichts. Die Singularität des Grundrechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gilt für Embryonen nicht, da bei der Unzumutbarkeit der Fortsetzung der Schwangerschaft für eine Schwangere der Grundrechtsschutz des betroffenen Embryos gegenüber der Rechtsposition der Schwangeren zurücktreten muß, also ein Embryo, der von der Schwangeren getragen wird, für die die Fortsetzung der Schwangerschaft unzumutbar ist, hinsichtlich seiner Existenz anders bewertet wird, als ein Embryo, der von einer Schwangeren getragen wird, für die die Fortsetzung der Schwangerschaft zumutbar ist, wobei eine rechtliche Vermutung zugunsten der Zumutbarkeit besteht.8 Diskussion. Der logische Widerspruch zwischen beiden Argumentationen, auf den schon das Sondervotum hingewiesen hat,9 ist sowohl hinsichtlich des Tenors der Entscheidung unauswechselbar konstitutiv, als bei Fallenlassen der ersten Argumentation die Verfassungswidrigkeit des § 218a StGB in der Fassung des 5. StrRG nicht mehr begründet werden kann, und bei Fallenlassen der zweiten Argumentation die Verfassungsgemäßheit des § 218b StGB in der Fassung des 5. StRG nicht mehr begründet werden kann.10
3. Bedingungen der rechtstheoretischen Stufe Zur rechtstheoretischen Stufe im oben eingeführten Sinn gehören auch die über rein logische Regeln hinausgehenden Argumentationsregeln, die es gestatten, rechtliche BVerfGE 39,1. BVerfGE 39, 1 (58 f.). 8 BVerfGE 39, 1 (49). 9 BVerfGE 39, 68 (78 f.). 10 Dazu BVerfGE 39, 1 (68). 6 7
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Prämissen zu finden oder aus Prämissen eine rechtlich vertretbare Entscheidung zu finden, die nicht durch rein logische Folgerungen aus den Prämissen zu gewinnen ist. Als Beispiel für eine unter den Gesichtspunkten einer juristischen Argumentationstheorie problematischen Entscheidungen sei die Numerus-clausus-Entscheidung11 angeführt. Die im vorliegenden Zusammenhang interessierenden Leitsätze12 lauten: 3. Fall – BVerfGE 33, 303 Leitsätze. 2. Aus dem in Artikel 12 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Recht auf freie Wahl des Berufes und der Ausbildungsstätte in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip folgt ein Recht auf Zulassung zum Hochschulstudium. […] 3. Absolute Zulassungsbeschränkungen für Studienanfänger einer bestimmten Fachrichtung sind nur verfassungsmäßig, a) wenn sie in den Grenzen des unbedingt Erforderlichen unter erschöpfender Nutzung der vorhandenen Ausbildungskapazitäten angeordnet werden und b) wenn Auswahl und Verteilung der Bewerber nach sachgerechten Kriterien mit einer Chance für jeden an sich hochschulreifen Bewerber und unter möglichster Berücksichtigung der individuellen Wahl des Ausbildungsortes erfolgen. Zur Begründung der Leitsätze und der sie tragenden Interpretation des Art. 12 Abs. 1 GG hat das Gericht die liberale (bürgerlich-rechtsstaatliche) Grundrechtstheorie13, deren Schlüssel-Topos das Abwehrrecht ist14, durch eine sozialstaatliche Grundrechtstheorie ergänzt, deren Schlüssel-Topos die Teilhabe an staatlichen Leistungen ist.15 Untersucht man die – im Vergleich zur Hochschul-Entscheidung16, zur Abtreibungsreform-Entscheidung17 oder zur Radikalen-Entscheidung18 – verhältnismäßig klare und knappe Begründung, so fällt auf, daß der Wechsel der Grundrechtstheorie zur Begründung des Ergebnisses nicht erforderlich war. Es dürfte keine Schwierigkeit machen, mit Hilfe einer Art. 12 Abs. 1 GG in der Interpretation der liberalen Grundrechtstheorie, den allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz und das Sozialstaatsprinzip benützenden Argumentation die oben angeführten Leitsätze und somit die Entscheidung zu begründen.
BVerfGE 33, 303. Zu dem Ausdruck vgl. A. Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, 1971, 98. (Die Problematik des Leitsatzes in gerichtlichen Entscheidungen ist dann genauer behandelt bei A. Podlech, Die Entscheidungssequenz – rechtstheoretischer Begriff und soziale Funktion, in: J. Harenburg/A. Podlech/B. Schlink (Hrsg.), Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung. Beiträge zu einer Entscheidungstheorie der richterlichen Innovation, 1980, 225–243). 13 Zu den im Folgenden zur Kennzeichnung von Grundrechtstheorien verwendeten Ausdrücken vgl. E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, 1529–1538. 14 BVerfGE 33, 303 (329). 15 BVerfGE 33, 303 (330). 16 BVerfGE 35, 79. 17 BVerfGE 39, 1. 18 BVerfGE 39, 334. 11
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Adalbert Podlech
Gleichheitssatz
Sozialstaats prinzip
Art. 12 in der sozialstaatlichen Interpretation
zu prüfende Rechtsvorschrift
zu prüfende Rechtsvorschrift
Tenor
Ein Teil der tragenden Gründe einer Entscheidung, der durch andere Gründe ersetzbar ist, ohne daß die Entscheidung im Tenor geändert werden müßte, werde „ersetzbarer Begründungsteil“ genannt. Mit Hilfe dieses Ausdrucks werde formuliert folgende 1. These. Ersetzbare Begründungsteile nehmen an der Bindungswirkung der tragenden Gründe der Entscheidung19 nicht teil. Besondere Schwierigkeiten treten auf, wenn eine zu prüfende Vorschrift20 in einem ersetzbaren Begründungsteil ausgelegt wird. Dies ist vermutlich in der Numerus-clausus-Entscheidung nicht der Fall. In der sehr viel komplizierter aufgebauten Hochschul-Entscheidung21 und der Radikalen-Entscheidung22 ist dies aber nicht ausgeschlossen. Eine wissenschaftstheoretisch korrekte Rekonstruktion der Entscheidungsgründe und damit die Feststellung der Bindungswirkung der tragenden Gründe werden aber unmöglich, wenn der Tenor der Entscheidung die Kopplungsklausel enthält.23 Bereits früher habe ich darauf hingewiesen, daß die Kopplungsklausel dazu Vgl. dazu BVerfGE 40,88 (93). Zum Folgenden vgl. A. Podlech, Logische und hermeneutische Probleme einer neueren Tenorierungspraxis des Bundesverfassungsgerichts, DÖV 1974, 337–340; D. Wilke/G. H. Koch, Außenpolitik nach Anweisung des Bundesverfassungsgerichts? Bemerkungen zur Bindungswirkung des Grundvertrags-Urteils, JZ 1975, 233–240. 21 BVerGE 35, 78. In dieser Entscheidung gehört die die Interpretation von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG leistende soziallstaatliche Grundrechtstheorie vermutlich nicht zu den ersetzbaren Begründungsteilen. Vgl. dazu BVerfGE 35, 79 (114 f., 120 f., 128). 22 BVerfGE 35, 334. 23 Die vorläufig problematischste Fassung der Kopplungsklausel enthält der Tenor der Abtreibungsreform-Entscheidung: „§ 218a StGB […] ist mit Art. 1 Abs. 1 GG insoweit unvereinbar und nichtig, als er den Schwangerschaftsabbruch auch dann von der Straf barkeit ausnimmt, wenn keine Gründe vorliegen, die – im Sinne der Entscheidungsgründe – vor der Wertordnung des Grundgesetzes Bestand haben.“ 19
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führt, daß der Tenor einer Entscheidung logisch nicht mehr von den Entscheidungsgründen separiert und diese nicht mehr in tragende und nicht tragende Gründe zerlegt werden können.24 Konsequent hat denn auch der entscheidende Senat in der Grundvertrags-Entscheidung alle Ausführungen der Urteilsbegründung zu einem (unechten) Teil der die Entscheidung tragenden Gründe erklärt.25 Da bei hinreichend kompliziert aufgebauten Entscheidungsbegründungen der Umfang der Bindungswirkung bei dieser Sachlage nur durch Interpretation und somit nie abschließend festgestellt werden kann, halte ich diese Praxis für rechtsstaatswidrig. Es werde daher formuliert die 2. These. Die Verwendung der Kopplungsklausel ist prozeßrechtlich nur korrekt, wenn der Textteil der Gründe, dessen Gehalt durch die Kopplungsklausel zum Gehalt des Tenors erklärt wird, aufgrund logischer Verfahren oder durch die äußere Gestalt des Textteils von dem übrigen Text unterscheidbar ist.
4. Bedingungen der dogmatischen Stufe Die Sprache der dogmatischen Stufe – kurz die dogmatische Sprache – ist dadurch ausgezeichnet, daß die Bedeutung ihrer Ausdrücke durch die geltende Rechtsordnung festgelegt ist. Da eine geltende Rechtsordnung nur durch sprachliche Texte zugänglich ist, kann auch so formuliert werden, daß die Festlegung des sprachlichen Gehalts der Ausdrücke der dogmatischen Sprache die Rechtsordnung in ihrem jeweiligen Regelungsgehalt definiert. Die Leistung (Funktion) von Gerichten über die Entscheidung eines konkreten Rechtsstreites hinaus liegt vornehmlich in dieser Definition des Regelungsgehaltes unserer Rechtsordnung. Diese Leistung ist an die Erfüllung bestimmter sprachlicher Bedingungen gebunden, soll die Leistung nicht disfunktional werden. Diese Problematik soll anhand der Verwendung des Ausdrucks „Staat“ in der Radikalen-Entscheidung26 behandelt werden. Der hierzu ergangene Leitsatz lautet: 4. Fall – BVerfGE 39, 334 Leitsatz. 1. Es ist ein hergebrachter und zu beachtender Grundsatz des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG), daß den Beamten eine besondere Treuepflicht gegenüber dem Staat und seiner Verfassung obliegt. Diskussion. Entsprechend der Unbestimmtheit der Grammatik der deutschen Sprache ist die logische Bedeutung des Junktors „und“ in dem Ausdruck „Staat und Verfassung“ nicht eindeutig. Es gibt eine extensionale und eine intensionale Interpretation dieses Ausdrucks.
24 A. Podlech, Logische und hermeneutische Probleme einer neueren Tenorierungspraxis des Bundesverfassungsgerichts, DÖV 1974, 337, Anm. 3. 25 BVerfGE 36,1(36). Vgl. dazu D. Wilke/G. H. Koch, Außenpolitik nach Anweisung des Bundesverfassungsgerichts?, JZ 1975, 239. 26 BVerfGE 39, 334 (347 f.).
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Extensionale Interpretation: „Es ist ein hergebrachter und zu beachtender Grundsatz des Berufsbeamtentums, daß allen Beamten eine besondere Treuepflicht gegenüber dem Staat und daß den Beamten eine besondere Treuepflicht gegenüber der Verfassung obliegt.“ Intensionale Interpretation: „Es ist ein hergebrachter und zu beachtender Grundsatz des Berufsbeamtentums, daß allen Beamten eine besondere Treuepflicht gegenüber dem Staat in seiner (jeweiligen) Verfassung obliegt.“ Da das Problem des Verhältnisses von „Staat“ und „Verfassung“ als Problem des Wortgebrauchs des Ausdrucks „Staat“ aufgefaßt werden kann, dieses Problem des Wortgebrauchs im Folgenden im Vordergrund steht, bleibe der Textteil des Leitsatzes „und seiner Verfassung“ zuerst einmal unberücksichtigt. Die Bedeutung des Satzes, der eine Treuepflicht einer Person gegenüber dem Staat behauptet, kann nur festgestellt werden, wenn die Bedeutung des Ausdrucks „Staat“ festgestellt ist,27 und ein solcher Satz kann eine effektiv regelnde Leistung nur erbringen, wenn den Adressaten der durch ihn ausgedrückten Pflicht diese Bedeutung bekannt ist. Nun ist der Ausdruck „Staat“ – abgesehen von emotionalen Aspekten, die sich daraus ergeben, daß mit dem Verblassen der öffentlichen Bedeutung Gottes 28 der Staat in zahlreichen Kontexten an seine Stelle rückte – mit einer doppelten Äquivokations-Problematik belastet. Als Ausdruck der deutschen Sprache 29 trat er in der Aneignung tradierter Texte an die Stelle sehr bedeutungsverschiedener Ausdrücke wie πόλις, res publica,30 civitas,31 regnum, imperium, status, stato,32 état oder common wealth. Dies führt zu einer höchstens im Einzelfall einer Textinterpretation zu entwirrenden Äquivokation. Noch komplizierter wird die Sachlage dadurch, daß die Elemente der Bedeutungsfelder all dieser äquivoken Bedeutungen einer fortwährenden geschichtlichen Veränderung unterliegen. Selbst wenn es gelungen ist, ein Designat des Ausdrucks „Staat“ zu identifizieren, ändert sich dieses Designat und somit die Bedeutung seines Designandums in der Zeit wenigstens dann, wenn die Änderung strukturell oder systemverändernd ist.33 Die hieraus resultierende Unsicherheit 27 Logisch liegt ein Fall ungebundener und semantisch unbewerteter Variablen vor, die das sie enthaltende Satzschema semantisch mit „wahr – falsch“ oder „geltend – nicht geltend“ unbewertbar machen. 28 Zu dem in diesem Satz vorausgesetzten Begriff der Öffentlichkeit vgl. A. Dempf, Imperium Sacrum. Geschichts- und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance (1929), 1954, 21–32. Diese Vergottung des Staates setzt bereits mit dem Beginn der bürgerlichen Staatstheorie ein. Vgl. dazu J. Bodin, Les six Livres de la République (1576), 1583, Nachdruck 1961, 211 f. 29 Vgl. dazu P. L. Weinacht, Staat. Studien zur Wortgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert, 1968. 30 Zum Verhältnis von πόλις und res publica vgl. E. Meyer, Vom griechischen und römischen Staatsdenken, in: R. Klein (Hrsg.), Das Staatsdenken der Römer, 1966, 65–86. 31 Dazu, daß man civitas nicht mit „Stadt“ übersetzen darf, vgl. F. Vercanteren, Die spätantike civitas im frühen Mittelalter, in: C. Haase (Hrsg.), Die Stadt im Mittelalter, 1. Bd., 1975, 122–128. 32 Zur Interpretation des Ausdrucks stato bei Machiavelli vgl. D. Sternberger, Machiavelli’s „Prin cipe“ und der Begriff des Politischen, 1974, 41 f., mit weiteren Nachweisen, besonders der italienischen Literatur 70–74. 33 Zu den Ausdrücken vgl. A. Podlech, Was heißt „kritisch“?, Rechtstheorie 4 (1973), 71 f. Zur Sache vgl. die Darstellung des Übergangs von Gesellschaften mit diffuser Machtverteilung zu Gesellschaften mit staatlicher Regelung, also des Übergangs von der Feudalgesellschaft zur frühbürgerlichen Gesellschaft bei O. Brunner, Land und Herrschaft, 3. Aufl. 1943, 124 ff. Eine ähnliche strukturelle Verände-
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hinsichtlich der Bedeutung des Ausdrucks „Staat“ führt in der Regel bei der Auslegung normativer Texte, die diesen Ausdruck enthalten, zu keinen besonderen Schwierigkeiten. Wenn es zum Beispiel in § 118 EGBGB heißt: „Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften, welche […] eine Hypothek, […], die dem Staat […] wegen einer zur Verbesserung des belasteten Grundstücks gewährten Darlehens zusteht, den Vorrang vor anderen Belastungen des Grundstücks einräumen“, so gestattet es die logische Grammatik der Ausdrücke dieses Textes, die Bedeutung des Ausdrucks „Staat“ mit einer für die Anwendung der Rechtsvorschrift hinreichenden Genauigkeit festzulegen. Die logische Grammatik der Ausdrücke des Textes „Besondere Treuepflicht gegenüber dem Staat“ ist jedoch so unbestimmt, daß eine solche Festlegung für diesen Text nicht möglich ist. Die Frage „Was muß als Staat und als Treue gedacht werden, daß ein Mensch einem Staat treu sein kann?“ ist, was ich hier nicht weiter ausführen kann, aus logischen, sachlichen und moralischen Gründen nicht eindeutig beantwortbar. Es lassen sich in grober Einteilung mindestens drei derzeitig verwendete Bedeutungen des Ausdrucks „Staat“ feststellen. „Staat“ kann einmal bedeuten eine Gesamtheit von Menschen, denen noch ein oder mehrere auszeichnende Merkmale zukommen. Ich habe früher einmal vorgeschlagen, Staat in diesem Sinn Gemeinwesen zu nennen.34 Treue gegenüber der dieses Gemeinwesen bildenden Personen-Gesamtheit kann kaum Inhalt der durch den Leitsatz festgestellten Rechtspflicht sein. Ein solches Gemeinwesen kann kaum als solches gedacht werden, das sinnvollerweise Gegenstand der Aussage sein kann, es könne sich selber aufgeben.35 Auf ein solches Gemeinwesen trifft die funktionale Analyse36 nicht zu. Die Bedeutung, die in der Verwendung des Ausdrucks „Staat“ am häufigsten vorkommt, dürfte diejenige sein, die den Staatsapparat intendiert. Staat bedeutet dann dasjenige Subsystem der Gesellschaft, das prätendiert, soziale Konflikte der Gesellschaft durch für alle Mitglieder der Gesellschaft verbindliche Entscheidungen zu lösen.37 Gegenüber dem Staat in diesem Sinne Treue in einem noch präzisierbaren Sinne zu verlangen, halte ich moralisch für kaum begründbar. Was ein Staat in diesem Sinne maximal verlangen kann, ist loyales Verhalten derjenigen Personen, deren Verhalten ihm zurechenbar ist.38 Die weiteren Wortbedeutungen vom Staat als jurisrung vollzog sich beim Übergang von der absoluten Monarchie zum Staat mit gebundener Kompetenzordnung. 34 A. Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, 1969, 78 f. In der Theorie hat im Anschluß an M. T. Cicero, De re publica, c.39, Au. Augustinus, De civitate Dei, 15,8, diese Konzeption vertreten: Civitas, quae nihil est quam hominum multitudo aliquo societatis vinculo conligata. Zu Cicero und seiner Abhängigkeit von Aristoteles vgl. R. Stark, Ciceros Staatsdefinition, in: R. Klein (Hrsg.), Das Staatsdenken der Römer, 1966, 332–347. 35 BVerfGE 39, 334 (370). 36 Ebd. 37 Vgl. dazu N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, 14 ff. In dieser Auffassung ist noch zu differenzieren zwischen dem Staat als funktionalem System und dem Staat als konkretem Handlungssystem. Wenn ich persönlich von „Staat“ ohne Zusatz spreche, meine ich damit den Staat als funktionales Subsystem der Gesellschaft. 38 Dem Verfasser der Urteilsgründe schwebte wohl eine eigenartige Verbindung der beiden ersten Wortgebräuche vor, wenn er den Staat als „verfassungsmäßige Regierung und die Bürger“ versteht. Staat wäre dann das Gemeinwesen zusammen mit dem „Regierung“ genannten Teilsystem des Handlungssystems Staat. Inwiefern gerade dieses Mischgebilde Treue soll rechtlich verlangen können, wird nicht begründet. Strukturell ähnelt diese Wortverwendung der der konstitutionellen Monarchie. Staat
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tischer Person, die Subjekt öffentlich-rechtlicher oder zivilrechtlicher Rechtsverhältnisse sein kann, und vom Staat als Völkerrechtssubjekt können hier außer Betracht bleiben. Schließlich kann man unter „Staat“ die rechtlich definierte Entscheidungsstruktur verstehen, gemäß der für alle verbindliche Entscheidungen produziert werden. Diese Struktur ist die Verfassung im materiellen Sinn. Verfassung ist dann die Struktur des Staates als dem funktionalen Subsystem der Gesellschaft, das prätendiert, durch für jedermann verbindliche Entscheidungen soziale Probleme zu lösen. Allein diese Struktur, also unsere Verfassung, ist dasjenige, von dem wir der Auffassung sind, sie verleihe sowohl unserem Gemeinwesen wie unserem Staat dasjenige, was beide moralisch akzeptabel macht. Ich kann an dieser Stelle die Analyse des Wortgebrauchs des Ausdrucks „Staat“ in der Radikalen-Entscheidung abbrechen, da die im vorliegenden Zusammenhang wichtige Folgerung bereits gezogen werden kann: Die logische Grammatik des Ausdrucks „Staat“ im Kontext der Entscheidungsgründe gestattet es nicht, Gegenstand und Inhalt der durch den ersten Leitsatz konstatierten besonderen Treuepflicht der Beamten gegenüber dem Staat und seiner Verfassung festzustellen. Dies führt zu der abschließenden Frage, welche Bedingungen denn nun ein Wortgebrauch in Tenor und tragenden Gründen erfüllen muß, soll die betreffende Entscheidung ihre Leistung (Funktion) erbringen, Organe der Bundesrepublik Deutschland zu kontrollieren. Für Ausdrücke mit empirischem Gehalt sind dies die allgemeinen Bedingungen der Wissenschaftstheorie: Es muß ein intersubjektiv vermittelbares Verfahren angebbar sein, das es festzustellen gestattet, ob ein Satz, der den betreffenden Ausdruck enthält, wahr oder falsch ist.39 Dogmatische Ausdrücke, das heißt für solche, deren Gehalt eine Funktion der positiven, geltenden Rechtsordnung ist, ist dieser Weg einer empirischen Überprüfung nicht gangbar.40 Dogmatische Ausdrücke sind korrekt nur verwendbar, wenn es eine korrekte, das heißt den Regeln der Wissenschaftstheorie entsprechende Dogmatik gibt. Ehe dies näher erläutert wird, werde formuliert die 3. These. Ein Text, durch den das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung und deren Begründung formuliert, besitzt eine Bindungswirkung nur in dem Umfang, in dem überprüf bar ist 1. der deskriptive Anteil des Textes durch empirische, möglichst operationalisierte Verfahren und 2. der dogmatische Anteil des Textes aufgrund der Dogmatik der einschlägigen Teilrechtsordnung.
war nach dieser das durch den Monarchen repräsentierte Gemeinwesen. Vgl. dazu Tit. II, § 1 der Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26. Mai 1818. Warum auf dieser Ebene kein korrekter Staatsbegriff konstruiert werden konnte, kann hier nicht ausgeführt werden. 39 Dazu, daß hier besondere Probleme auftauchen können, vgl. B. Schlink, Abwägungen im Verfassungsrecht, 1976, 64 ff. 40 Unbeschadet, ob Wertungsausdrücke dogmatische Ausdrücke sind oder nicht, mögen sie hier unerörtert bleiben. Einzelne der Probleme sind angedeutet oder behandelt bei A. Podlech, Wertentscheidung und Konsens, in: G. Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, 1976, 9–28; B. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, passim; W. Popp/B. Schlink, Präferenztheoretische Bedingungen einer sozialen Wertordnung; dies., Rechts- und staatstheoretische Implikationen einer sozialen Präferenztheorie, beides in: A. Podlech (Hrsg.), Rechnen und Entscheiden, 1977.
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5. Die Dogmatik des Staatsrechts als Bedingung der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts Es gibt derzeit keine Dogmatik des Staatsrechts, die es gestatten würde, die Bedeutung der in ihr enthaltenen dogmatischen Ausdrücke intersubjektiv mit einer für die Begründungspraxis des Bundesverfassungsgerichts hinreichenden Genauigkeit festzustellen. Die wichtigste Leistung der Dogmatik ist dabei die Selektion der rechtlich relevanten Gründe und Folgen einer Entscheidung aus der Menge der möglichen Gründe und Folgen, die meist „politisch“ genannt werden und in der Regel nur soziologisch zu erheben sind.41 Leistet die Dogmatik diese Selektion nicht mehr, so sind politische von Rechtsgründen nicht mehr unterscheidbar und eine Rechtskontrolle dem Anspruch nach nicht mehr aufrechtzuerhalten.42 Dieser methodische Mangel kommt implizit oder ausdrücklich in einigen Sondervoten zum Ausdruck.43 Der Vorgang hat einen wissenschaftsgeschichtlichen Grund in der ungenügenden Ablösung traditioneller juristischer Methoden durch strukturelle Methoden. Das Beibehalten der tradierten rechtswissenschaftlichen Arbeitsweise hat zur Folge, daß dogmatische Arbeit angesichts der immer unübersehbar werdenden und sich in der Zeit immer rascher verändernden Gesamtrechtsordnung immer weniger übergeordneten Regeln folgt. Bildlich gesprochen wächst nicht nur die Masse positiv angeordneter Rechtsregeln quallenartig, sondern auch die Masse dogmatischer Texte. Der Stellenwert eines dogmatischen Arguments in einer dogmatischen Problemsituation ist selten nach übergeordneten Regeln angebbar und die Übertragbarkeit auf andere Problemsituationen nicht kontrollierbar. Der damit verbundene immer größer werdende Anteil subjektiver Einstellungen – methodisch als „Vorverständnis“ verklärt 44 – führt zur Unverbindlichkeit dogmatischer Argumente. Die Menge der dogmatischen Literatur, die weder jemals eine Chance besitzt, noch es daher überhaupt prätendiert, 41 Vgl. dazu B. Schlink, Zwischen Identifikation und Distanz. Zur Stellung der Beamten im Staat und zur Gestaltung des Beamtenrechts durch das Staatsrecht, Der Staat 15 (1976), 348: „In der Rechtswissenschaft ist häufig eine Skepsis gegenüber Soziologisierungen, ebenso häufig aber auch die Tendenz anzutreffen, Rechtsprobleme so zu fassen, daß ihre Lösung die Beantwortung soziologischer Fragen voraussetzt. Soll die Ablehnung von Soziologisierungen überzeugen, muß sie mit der Vermeidung von soziologieträchtigen Problemfassungen einhergehen.“ 42 Die Reihe der umstrittenen Entscheidungen – Numerus-clausus-Entscheidung (1972), Hochschul-Entscheidung (1973), Grundlagenvertrags-Entscheidung (1973), Abtreibungsreform-Entscheidung (1975), Radikalen-Entscheidung (1975) – leidet genau unter diesem Mangel. Umstrittene Entscheidungen des Gerichts hat es immer gegeben und wird es immer wieder geben. An den angeführten Entscheidungen wird jedoch deutlich, daß die Begründungen sich von einer von wissenschaftlich-methodischem Konsens getragenen rechtswissenschaftlichen Dogmatik gelöst haben und damit – möglicherweise – politische Wertungen der Richter wissenschaftlich unvermittelt die Entscheidungen mitbestimmten, oder – jedenfalls – in der Überprüfung der Entscheidungen durch die Öffentlichkeit die wissenschaftliche Korrektheit der Entscheidungen nicht mehr dargestellt werden kann. 43 Vgl. dazu etwa BVerfGE 35, 148 (154 f.); 39, 68 (71 ff.). Dabei fällt auf, daß die dissentierenden Richter die „Erarbeitung eines geeigneten […] Instrumentariums“ zu den „Hauptaufgaben der Rechtsprechung in den nächsten Jahrzehnten“ rechnen, die Wissenschaft in diesem Zusammenhang aber keine Erwähnung findet. Ist die Skepsis gegen deren Brauchbarkeit schon so groß? 44 Diese negative Bewertung gilt natürlich nicht für J. Esser, der diesen Topos in die juristische Methodenlehre eingeführt hat. Daß die Explikation dieses Topos die korrekte Handhabung juristischen Werkzeuges nicht entbehrlich macht, dazu ders., Bemerkungen zur Unentbehrlichkeit des juristischen Handwerkzeuges, JZ 1975, 555 ff.
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einen Einfluß auf die Rechtspraxis zu haben, wird immer größer und die Geneigtheit der Rechtspraxis, sich von Rechtswissenschaft regelhaft leiten zu lassen, wird immer geringer. Eine Lösung dieser hier nur anskizzierten rechtswissenschaftlichen Fundamentalproblematik kann darin liegen, daß die strukturelle Komponente sowohl der Rechtsordnung, der Rechtsordnungen beschreibenden Texte und der rechtswissenschaftlichen Argumente herausgearbeitet wird. Beschriebene und in der Überprüfung bewährte Strukturen sind in der Lage, den Stellenwert inhaltlicher dogmatischer Argumente in ihrer Übertragbarkeit zu kontrollieren. Wissenschaften, die inhaltlich zu verfließen drohen, können systematische Einheit nur durch strukturelle Forschung bewahren. Die Rechtswissenschaft, die unter dem Gebot öffentlich kontrollierbarer Richtigkeit steht,45 hat den Zustand bereits weit hinter sich gelassen, in dem ihr unkontrollierbares Wachstum noch sozial erträglich ist. Nur eine Rechtstheorie als strukturelle Grundlagendisziplin dogmatischer Arbeit kann die Kontrollierbarkeit wiederherstellen. Verfassungsgerichtsbarkeit ist Gerichtsbarkeit und damit politisch tragbar nur dann, wenn ihre Kontrolle durch eine korrekte Dogmatik möglich ist.
45 Vgl. dazu A. Podlech, Die juristische Fachsprache und die Umgangssprache, in: J. S. Petöfi/A. Podlech/Ei. v. Savigny (Hrsg.), Fachsprache – Umgangssprache, 1975, 180.
Sechzig Jahre Konkordatsurteil des Bundesverfassungsgerichts Bausteine zur Rekonstruktion des Kontextes und seine Folgewirkungen von
Prof. Dr. Ansgar Hense Institut für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands, Bonn
Inhalt A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 B. Erinnerung an kirchliche Interessenkonstellationen im Kontext der Reichskonkordats-Kontroversen . . . 360 I. Elternrecht – Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 1. Kirchliche Doktrin – und ihr Wandel im kurzen Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 2. Staatliche Bildungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 II. Das Konkordat und seine Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 III. Das Reichskonkordat als Schutzwall kirchlicher Positionen und Lösung „offener Fragen“ Weimarer Schulpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 IV. Akteure kirchlicher Interessenwahrnehmung: Wilhelm Böhler und Adolf Süsterhenn . . . . . . . . . 367 C. Die Vorgeschichte des Konkordatsprozesses: Das Reichskonkordat als „gesamtdeutsche Klammer“ – und ein bisschen Parteipolitik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 I. Hinweise zu den Kontroversen über die Fortgeltung des Reichskonkordats und der Aufhebung des Problems in Art. 123 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 II. Das staatliche Interesse: das Reichskonkordat als „gesamtdeutsche Klammer“ . . . . . . . . . . . . . . 369 III. Die unmittelbaren Klagevorbereitungen – und die mündliche Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . 370 1. Konvergenzen kirchlicher und politischer Anliegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 2. Antragstellung und mündliche Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 D. Das Konkordatsurteil: salomonische Entscheidung oder inkonsistent begründetes Urteil? . . . . . . . . . . 372 I. Das Urteil als Mehrheitsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 1. Fortgeltung des Reichskonkordats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 2. Verpflichtung der Länder zur Einhaltung der schulrechtlichen Bestimmungen des Reichskonkordats? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 II. Der verfassungsgerichtliche Kontrapunkt: Das Sondervotum der Richter Federer, Friesenhahn und Geiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 III. Das Konkordatsurteil im Spiegel der Tagespresse und zeitnaher Urteilsanmerkungen . . . . . . . . . 378
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IV. Das Konkordatsurteil als Zäsur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 E. Fortwirken und Fortleben des Konkordatsurteils in der „alten“ Bundesrepublik seit den 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 I. Das Abflauen rechtswissenschaftlicher Kontroversen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 II. Politisch-rechtspraktische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 1. Das Niedersachsenkonkordat 1965 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 2. Christliche Gemeinschaftsschule Baden-Württemberg – aus einer Konkordatsfrage wird kein Konkordatsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 3. Außenpolitik – Deutschland als Ganzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 III. Der Konkordatsprozess als Anstoß geschichtswissenschaftlicher Aufarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . 387 F. Konsensual-föderale Aufhebung der Konkordatsproblematik und Gegenwartsbedeutung des Reichskonkordats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 I. Das Reichskonkordat nach der Wiedervereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 II. Die Folgen des Konkordatsurteils und die Gegenwärtigkeit des Reichskonkordats in der Zukunft . 391
A. Einleitung Als vor sechzig Jahren am 26. März 1957 das von neun Richtern des Bundesverfassungsgerichts unterzeichnete Konkordatsurteil1 verkündet wurde, fand in der Genealogie der politischen und verfassungsrechtlichen Konflikte, die für das Feld des „Bildungsverfassungsrechts“ nicht untypisch sind,2 eine Streitigkeit ihr juristisch vorläufiges Ende,3 die auch als eine cause célèbre4 in die Juristische Zeitgeschichte der Bundesrepublik Deutschland eingegangen ist.5 Der Freiburger Völker- und Staatsrechtler Joseph H. Kaiser begann seine nachgerade klassische Urteilsbesprechung mit der Feststellung: „concordatum mater rixarum“.6 Es stellt sich die Frage, welche Bedeutung und Folgewirkung dieser Entscheidung des damals noch jungen Bundesverfassungsgerichts zugemessen werden kann. Sind mit dem – hart kritisierten7 – Kon1 BVerfGE 6, 309 – Reichskonkordat (1957). Eine retrospektive Betrachtung dieses Urteils erfolgt etwa durch Katharina Pabel, in: J. Menzel/R. Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2011, S. 96–103. Eine umfassende Gesamtbehandlung nimmt auch Antonius Hamers, Die Rezeption des Reichskonkordates in der Bundesrepublik Deutschland, 2010, vor. 2 In diesem Sinn Ingo Richter, Der Bildungsauftrag des Grundgesetzes und der Zustand des deutschen Bildungswesens, in: S. Koch/R. Fisch (Hrsg.), Schulen für die Zukunft. Neue Steuerung im Bildungswesen, 2004, S. 75–92. Ähnlich Heinz-Elmar Tenorth, Die pädagogische Dimension des Grundgesetzes, in: RdJB 2009, 422 (423 f. und passim). 3 Zum Konkordatsurteil als „wichtigem Zwischenstück“, aber keineswegs als Abschluss einer Diskussion siehe Hermann Mosler, Wer ist aus dem Reichskonkordat verpflichtet?, in: H. Conrad u.a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift Hans Peters, 1967, S. 350. 4 So die Titulierung bei Joseph Listl, Die Fortgeltung und gegenwärtige staatskirchenrechtliche Bedeutung des Reichskonkordats vom 20. Juli 1933, in: Morsak/Escher (Hrsg.), Festschrift für Louis Carlen zum 60. Geburtstag, 1989, S. 309 (310). 5 Wertvoll die Prozess-Dokumentation von F. Giese/F. A. von der Heydte (Hrsg.), Der Konkordats prozess (Veröffentlichungen des Instituts für Staatslehre und Politik, Bd. VII), 4 Bde., 1957–1959. 6 Joseph H. Kaiser, Die Erfüllung der völkerrechtlichen Verträge des Bundes durch die Länder, in: ZaöVR 18 (1957/58), 526. Zur Herkunft der sprichwörtlichen Sentenz siehe Julia Lutz-Bachmann, Mater rixarum? Verträge des Staates mit jüdischen und muslimischen Religionsgemeinschaften, 2015, S. 1. 7 Vgl. Wilhelm Böhler, Elternrecht, Schulfragen und Reichskonkordat im Parlamentarischen Rat und in der deutschen Bundesrepublik und ihrer Länder, in: H. Seidel (Hrsg.), Festschrift zum 70. Geburtstag von Dr. Hans Ehard, 1957, S. 178 (186).
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kordatsurteil staatskirchenrechtliche Zäsuren verbunden gewesen oder wurden lediglich Kontinuitätslinien bestätigt? Setzte das Urteil dem Streit bzw. dem Kampf um die Fortgeltung des Reichskonkordats vom 20. Juli 1933 wirklich ein (formal-) juristisches Ende? Welche Faktoren, Interessenkonstellationen gaben dem Streit um und über das Reichskonkordat derartiges Gewicht, so dass über dessen Fortgeltung und Inhalt derart heftig gestritten werden konnte? Was waren die Beweggründe der katholischen Kirche? Gab es eventuell sogar eigene staatliche Interessen der jungen, noch nicht vollständig souveränen Bundesrepublik Deutschland, sich nachdrücklich für das Reichskonkordat einzusetzen, die nicht das Resultat einer engen Verbindung von Staat und Kirche sind? Lag die Brisanz der Auseinandersetzung möglicherweise in der Konvergenz kirchlicher und staatlicher – oder: parteipolitischer – Interessenkonstellationen? Wie weit reicht überhaupt die von Alexander Hollerbach so treffend apostrophierte „genetische Last“ des Reichskonkordats,8 das der FDP-Politiker und zeitweilige Bundesinnenminister Thomas Dehler als „verbrecherisch“ titulierte und damit an eine Wendung anknüpfte,9 die der FDP-Politiker und spätere erste Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hermann Höpker-Aschoff bereits im Parlamentarischen Rat verwandte, als er darauf hinwies, dass das Konkordat mit einer „Verbrecherbande“ geschlossen worden sei.10 Die Erinnerungsarbeit zu dem Konkordatsurteil und seine Verortung im zeithistorischen Kontext sowie seine Bedeutung für die heutige religionsverfassungsrechtliche Lage unter dem Grundgesetz will dabei keine Geschichte des Reichskonkordats schreiben, die trotz der immensen Forschungsarbeiten11 und Quelleneditionen12 gerade zu diesem Vertragswerk nach wie vor ein Desiderat ist.13 Es werden auch nicht alle angedeuteten Fragen beantwortet werden können. Wenn demnach eine umfassende Entschlüsselung und Analyse des entstehungsgeschichtlichen Kontextes und Alexander Hollerbach, Die vertraglichen Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HdbStKirchR Bd. 1, 2. Aufl. 1994, S. 253 (256); ders., Artikel ‚Reichskonkordat (II.)‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. IV, 1988, Sp. 789 (791). 9 Zu diesem Vorfall siehe nur Mark Edward Ruff, ‚Katholische Kirche im Dritten Reich‘ – Kritik und Kritiker in der Adenauer-Ära, in: Wilhelm Damberg/Karl-Joseph Hummel (Hrsg.), Katholizismus in Deutschland. Zeitgeschichte und Gegenwart, 2015, S. 25 (32). Die Bemerkung Dehlers ist in einer Sondersitzung des Bundeskabinetts am 7. März 1956 außerhalb der Tagesordnung ausdrücklich missbilligt worden. Vgl. Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 9 – 1956, bearb. von U. Hüllbusch, 1998, S. 239 f. 10 22. Sitzung des Hauptausschusses am 8. Dezember 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948– 1949. Akten und Protokolle. Bd.14/I, 2009, S. 656. 11 Pars pro toto Ludwig Volk, Das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933. Von den Ansätzen in der Weimarer Republik bis zur Ratifizierung am 10. September 1933, 1972; siehe ferner ders., Katholische Kirche und Nationalsozialismus. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von D. Albrecht, 1987. 12 Aus der umfangreichen (Editions-)Tätigkeit der Kommission für Zeitgeschichte (Bonn) seien hier nur genannt: Alfons Kupper (Bearb.), Staatliche Akten über die Reichskonkordatsverhandlungen 1933, (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A: Quellen, Bd. 2), 1969; Ludwig Volk (Bearb.), Kirchliche Akten über die Reichskonkordatsverhandlungen 1933, (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A: Quellen, Bd. 11), 1969. Weiterhin siehe auch: Michael F. Feldkamp (Hrsg.), Die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zum Heiligen Stuhl 1949–1966. Aus den Vatikanakten des Auswärtigen Amts, 2000. 13 Dem Vernehmen nach wollte der Bonner Historiker Konrad Repgen, der sich gerade um die historische Erforschung des Reichskonkordats verdient gemacht und die Diskussion mit eigenen Stellungnahmen beeinflusst hat, eine solche umfassende Geschichte verfassen. 8
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der Fortwirkungszusammenhänge des Reichskonkordats nachfolgend nicht geboten werden kann, soll doch der sechzigste Jahrestag des Konkordatsurteils Anlass sein, einige Hintergründe zu erschließen, die die Heftigkeit der seinerzeit öffentlich, auch in der Tagespresse geführten Debatten erklären und die Bedeutung dieser bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung, die als „unglückliche und widersprüchliche Entscheidung“ apostrophiert wurde, für den Entwicklungsgang des Verhältnisses von Staat und Kirche in Deutschland beleuchten. In der Reihe der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Religionsverfassungsrecht ist das Konkordatsurteil vielleicht auch eher ein Solitär, da es streitgegenständlich weniger um staatskirchenrechtliche Fragen im engeren als vielmehr insbesondere um bundesstaatliche Rechtsfragen geht, die auch staatskirchenrechtliche Relevanz haben bzw. sich in dem Verhältnis von Staat und Kirche (unmittelbar) auswirken. Die Geschichtsbezogenheit und geschichtliche Bedingtheit des Staat-Kirche-Verhältnisses lässt es angezeigt sein, vor allem die kirchlichen Interessen zu rekonstruieren, wobei den kirchlichen Schulanliegen, die den Anlass für die Konkordatsstreitigkeit gegeben haben, besonderes Augenmerk zu widmen ist (B. I.). Diesem materiell-inhaltlichen Aspekt an die Seite zu stellen ist die formalrechtliche Erschließung der Bedeutung und Funktion von Staatskirchenverträgen/Konkordaten, die ihren Ausgangspunkt in der Zeit unter der Weimarer Verfassung nimmt und dann im Abschluss des Reichskonkordats ihr vorläufiges Ende findet (B.II. und III.). Dieser Kontext stellt gleichsam die Vor-Vorgeschichte des Konkordatsstreits dar und mündet in einer Erinnerung daran, dass die Interessenswahrnehmung sich gerade in diesem Punkt mit Personen verbinden lässt (B.IV.). Die im engeren Sinne Vorgeschichte des verfassungsgerichtlichen Verfahrens schließt sich daran an; sie findet einen Ausgangspunkt in der Diskussion im Parlamentarischen Rat und der Norm des Art. 123 Abs. 3 GG und mündet in den unmittelbaren Prozessvorbereitung (C. I. und II). Gerade in diesem Zusammenhang treten auch die besonderen staatlichen Interessen deutlicher zutage, sich derart nachdrücklich für die Fortgeltung des Reichskonkordats einzusetzen. Vor diesem Hintergrund hat der Beitrag die Grundlinien der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung herauszuarbeiten (D. I.) und zu kontrastieren mit dem seinerzeit nicht publizierten Votum dreier dissentierender Richter des Bundesverfassungsgerichts (D. II.). In einem vorletzten Abschnitt sind dann – mehrperspektivisch – die Konsequenzen des Konkordatsurteils zu eruieren und andeutend darzustellen (E.), bevor im letzten Teil die Gegenwartsbedeutung des Reichskonkordats zu skizzieren ist (F.).
B. Erinnerung an kirchliche Interessenkonstellationen im Kontext der Reichskonkordats-Kontroversen Anlass und Gegenstand des Konkordatsprozesses waren Auseinandersetzungen über das niedersächsische Schulwesen, insbesondere die Bedeutung und Relevanz der Bekenntnisschule und des Elternrechts. Hiermit waren zentrale „weltanschauliche“ Streitpunkte berührt, die seit dem 19. Jahrhundert Gegenstand religionspolitischer, staatskirchenrechtlicher und bildungsverfassungsrechtlicher Kontroversen waren. Diese Konflikte wurden stark durch konfessionelle Hintergründe dirigiert und de-
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terminiert. Dieses fremde, mitunter als „unmodern“ empfundene Themenfeld soll ausgehend von dem katholischen Verständnis des Elternrechts und seiner Auswirkungen auf das Schulwesen, dann überleitend auf das kirchliche Interesse an Konkordaten überhaupt und der Rolle des Reichskonkordats von 1933 im Speziellen erschlossen werden. Ohne diesen Hintergrund lässt sich das Kämpferische des Konkordatsstreits und die Vehemenz, mit der diese Schulkonflikte ausgetragen wurden, nicht (mehr) nachvollziehen.14
I. Elternrecht – Schule 1. Kirchliche Doktrin – und ihr Wandel im kurzen Rückblick In dem Gegenüber von Kirche und Staat nehmen die Politikbereiche Ehe und Familie sowie – damit über das sog. Elternrecht verkoppelt – das Schulwesen insgesamt eine herausragende Stellung ein. Dieser Dreiklang markiert einen Kernbereich christlich-katholischer Identität.15 In der Konfliktgeschichte des Bildungsverfassungsrechts zeigte sich im Kampf um die Bekenntnisschule in hohem Maße eine katholische Kampagnenfähigkeit. Die Bischöfe konnten ihre Gläubigen für Demonstrationen, Volksabstimmungen u.a. wirkungsvoll mobilisieren. Diözesane Publikationsreihen wie die der Erzdiözese Köln mit dem Reihentitel „Mit Kelle und Schwert“ lieferten „Beiträge zum Auf bau und zur Verteidigung des katholischen Erziehungswesens“ und flankierten die streitigen Auseinandersetzungen mit inhaltlichen Positionierungen.16 Publikationen anderer engagierter katholischer Autoren traten dem an die Seite.17 Der Kampf um die Bekenntnisschule wurde gerade in den 1950er Jahren nicht selten mit dem „Bollwerk“-Motiv verknüpft.18 Im Kontext des Kalten Krieges wurde die Bekenntnisschule als existentielle Überlebensfrage auch der Nation aufgefasst.19 Und mit einer Simultanschule (christlichen Gemeinschaftsschule) drohe – so eine katholische Befürchtung – im günstigsten Fall nur ein Indifferentismus.20 14 Aufschlussreich zu diesem Feld Wilhelm Damberg, Die Säkularisierung des Schulwesens am Beispiel der Bekenntnisschule in Westfalen 1906–1968, in: Frese/Prinz (Hrsg.), Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert, 1996, S. 631 und passim. 15 Christoph Kösters/Antonius Liedhegener/Wolfgang Tischner, Religion, Politik und Demokratie. Deutscher Katholizismus und Bürgergesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Historisches Jahrbuch 127 (2007), S. 353 (370 f.). 16 In dieser von der Bischöflichen Arbeitsstelle für Schule und Erziehung herausgegebenen Reihe erschienen Druckschriften wie: „Stellungnahme Roms und des deutschen Episkopats zu den Schulfragen in der Zeit vor 1933“ (Heft 1, 1949); „Elternrecht und Schule“ (Heft 2, 1949); „Die katholische Kirche und ihr Schul- und Erziehungsideal“ (Heft 3, 1949); „Stimmen des deutschen Eipiskopates zur Schulfrage in der Zeit des ‚Dritten Reiches‘“ (Heft 4, 1949). 17 Pars pro toto nur die Schrift des Münchener Weihbischofs und Kirchenrechtlers Anton Scharnagl, Das Recht der Bekenntnisschule in Bayern, 1954 (es handelt sich um die Zusammenfassung von Beiträgen, die ursprünglich als Juristische Beilage zum ‚Klerusblatt‘ publiziert worden waren). 18 Sehr aufschlussreich dazu und zu anderem Wilhelm Damberg, Abschied vom Milieu? Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden 1945–1980, 1997, S. 423–450. 19 Damberg, Abschied? (Fn. 18), S. 4 40. 20 Damberg, ebda.
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Die herausgehobene Stellung des Elternrechts auch und gerade hinsichtlich des Schulwesens als katholischer Identitätsmarker ist das Produkt einer naturrechtlichen Herleitung und Bestätigung in der kirchlichen Lehrtradition.21 Sie wurde ausdrücklich im universalkirchlichen Gesetzbuch von 1917 normiert. Nach c. 1374 CIC/1917 durften katholische Kinder grundsätzlich keine akatholischen Schulen, religionslosen Schulen oder Simultanschulen besuchen; Ausnahmen waren an strikte Vorgaben gebunden. C. 1374 CIC/1917 war damit die positivrechtliche Grundlage des Kirchenrechts für die Forderung nach katholischen Bekenntnisschulen.22 Die nachkodikarische Enzyklika „Divini illius magistri“ vom 31. Dezember 1929 schärfte das katholische Selbstverständnis und die damit verbundenen Idealvorstellungen nochmals ein.23 An dieser Enzyklika lässt sich ablesen, wie dezidiert die katholische Doktrin einem Staatsschulmonopol eine Absage erteilte. Die lehramtliche Haltung war derart vom Nachrang staatlicher Schulen geprägt, das staatliche Schulen letztlich nur für Behörden und Heer als legitim angesehen wurden. Eine derart rigide schulpolitische Haltung, die ein säkulares staatliches Schulwesen geradezu als unrechtmäßige Enteignung kirchlicher Positionen empfinden musste, brach sich an den realen Begebenheiten. Katholisch-pragmatisch verfuhr man so wie es Paul Mikat treffend beschrieben hat: „Ideal blieb Ideal, verblasste in der politischen Realität immer mehr, an die Stelle trat die staatliche Konfessionsschule, getreu dem Satz: Das Mögliche ist das Meiste!“24 Nicht begnügen wollte man sich auf der katholischen Seite mit der Option einer privaten Bekenntnisschule. Dem staatlichen Schulwesen sollte soweit wie möglich das Konfessionssiegel aufgedrückt werden. Ein auf konfessionellen Trägerpluralismus hin angelegter Schulsektor, in dem staatliche wie nichtstaatliche Schulen ein öffentlicher Charakter zugemessen werden konnte, ohne dass dies dem Charakter als privater Schule zuwiderlaufen musste, lag (noch) außerhalb des juristischen wie politischen Vorstellungsvermögens. Eine Wende dürfte sich letztlich erst seit den 1960er Jahren angebahnt haben.25 Hinzu trat Folgendes: Das katholische Verständnis des Verhältnisses von Staat und Kirche ging bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts von der Gleichordnung zweier souveräner Entitäten aus.26 Gerade nach 1945 und in den 1950er Jahren herrschte im Staatskirchenrecht eine sog. Koordinationslehre vor, die die Stellung der Kirchen
21 Josef Isensee, Artikel „Elternrecht, elterliches Sorgerecht“, in: Görres-Hesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. II, 7. Aufl. 1986, Sp. 222 (223 ff.). 22 Vgl. Klaus Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts aufgrund des Codex Iuris Canonici, Bd. II, 12. Aufl. 1967, S. 425 f. 23 Teilabdruck in: Denzinger/Hünermann (Hrsg.), Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, 39. Aufl. 2001, Tz. 3685–3698 (= S. 999–1007). 24 Paul Mikat, Verfassungsziele der Kirchen unter besonderer Berücksichtigung des Grundgesetzes, in: ders./K. Repgen, (Hrsg.), Christen und Grundgesetz, 1989, S. 33 (62 f.). 25 Zu dem Modethema „des Öffentlichen“ in dieser Zeit siehe etwa Peter Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 2. Aufl. 2006. Aus dem Schrifttum weiterhin Ulrich K. Preuss, Zum staatsrechtlichen Begriff des Öffentlichen: Untersucht am Beispiel des verfassungsrechtlichen Status kultureller Organisationen, 1969. 26 Vgl. dazu näher Ansgar Hense, Das Verhältnis von Staat und Kirche nach der Lehre der katholischen Kirche (§ 3 ), in: Pirson/Rüfner/Germann/Muckel (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts, 3. Aufl. i.E.
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noch nicht so einzuordnen und zu verorten wusste, dass es Freiheit und Eigenständigkeit auch unter dem Dach des staatlichen Rechts geben kann.27 Ihre schul- und bildungsrechtliche Brisanz verdankt das kirchliche Selbstverständnis dem Umstand, dass die modifizierte katholische Idealvorstellung entweder von bekenntnishomogenen (staatlichen) Schulen ausging oder zumindest die Separierung der katholischen Schülerschaft innerhalb eines schulischen Zusammenhangs intendierte,28 um den katholischen Leitvorstellungen gerecht zu werden. Das Recht und die Pflicht der Eltern, ihre Kinder im katholischen Glauben und nach katholischen Grundsätzen großzuziehen, fand demnach seine entsprechende Fortsetzung im nunmehr staatlichen Bildungswesen. Die Eltern haben das Recht und die Verpflichtung nur solche Schulen für ihre Kinder zu wählen, in denen diese in Übereinstimmung mit den katholischen Leitideen erzogen werden (können). Grundsätzlich war demnach eine Konfessionalitätstrias einzuhalten, die nicht nur die konfessionelle Homogenität der Schülerschaft, sondern auch die Konfessionsangehörigkeit der Lehrkräfte betraf und sich zudem auf die spezifische Berücksichtigung katholischer Anschauungen hinsichtlich der Lehrinhalte erstreckte. Das Maß der Rigidität und Nachhaltigkeit bei der Verfolgung spezifischer katholischer Vorstellungen hinsichtlich Elternrechte und Schule konnten in den deutschen Ländern unterschiedlich ausgeprägt sein. Die Schulpolitik in Preußen, die zentraler Gegenstand kulturkämpferischer Auseinandersetzungen gewesen war, dürfte die „gesellschaftliche Lagermentalität des Katholizismus“ befördert haben.29 Wenngleich das Eintreten für die katholische Bekenntnisschule durchaus deutschlandweit erfolgte, so lassen sich gleichwohl – je nach regionalem Kontext – unterschiedliche Intensitätsgrade ausmachen, mit denen dieses Ziel verfolgt wurde bzw. eine Simultanschule hingenommen werden konnte. Exemplarisch steht hierfür sicherlich die Entwicklung in Südwestdeutschland (insbesondere das badische Modell der Simultanschule). Die baden-württembergische Schulpolitik steht dabei durchaus mit dem niedersächsischen Konkordatsstreit der 1950er Jahre in Beziehung.30 Die 1960er Jahre sind eine Wendezeit. Nachdem schon vorher das Diktum von einer Schleifung der Bastionen (Hans Urs von Balthasar) auf kam, markiert das Zweite Vatikanische Konzil eine tiefe Zäsur und den Umstand der „nachholenden Selbstmodernisierung“ der katholischen Kirche.31 Volkskirchliche Erosionsprozesse und Wandlungen des katholischen Feldes ließen letztlich das katholische Milieu abbröckeln und entzogen damit das Fundament dafür, sich für das katholische Ideal Bekenntnisschule zu (ver-)kämpfen und die entsprechenden Gläubigen zu mobilisieren. Die Zeitumstände und die Lehrentwicklung ließen dieses nicht mehr als unumstöß27 Konzise Michael Germann, Artikel ‚Koordinationslehre‘, in: RGG, Bd. 4, 4. Aufl. 2001, Sp. 1668; siehe auch Peter Unruh, Religionsverfassungsrecht, 3. Aufl. 2015, Rdn. 44 f. 28 Z.B. in gesonderten Klassenverbänden. 29 Vgl. Heinz-Elmar Tenorth, Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung, 5. Aufl. 2010, S. 240 f. 30 Siehe zu diesem Zusammenhang unten E.II.1. 31 Friedrich Wilhelm Graf, Die nachholende Selbstmodernisierung des Katholizismus? Kritische Anmerkungen zu Karl Gabriels Vorschlag einer interdisziplinären Hermeneutik des II. Vatikanums, in: Hünermann (Hrsg.): Das II. Vatikanum. Christlicher Glaube im Horizont globaler Modernisierung. Einleitungsfragen, 1998, S. 49–69. Siehe auch Georg Essen, Nachholende Selbstmodernisierung? Katholische Kirche und politische Öffentlichkeit, Theologie der Gegenwart 56 (2013), 208–220.
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liches und unverrückbares Schulideal erscheinen, ohne dass dies zur völligen Aufgabe katholischer Bildungsleitideen führt.32 Mit dem neuen universalen Kirchengesetzbuch von 1983 ist das zwingende Ideal der Konfessionsschule auch kirchenrechtlich nahezu völlig entfallen. Kirchlicherseits erfolgte eine gewisse Versöhnung mit dem staatlichen Schulmonopol bzw. -vorrang bei Beanspruchung des Rechts, private katholische Schulen errichten und betreiben zu dürfen.33 Zwischen 1890 und Ende der 1950er Jahre ist aber von einer ziemlich ehernen katholischen Forderung nach einer Bekenntnisschule – als Regelschule – auszugehen,34 die sich unter der Perspektive der Eltern und ihrer Rechte sogar zu einer Gewissensfrage hochstilisieren ließ.35 Der „beständige Kampf um ein konfessionalisiertes Schulwesen hat sicherlich zur Aufrechterhaltung des geschlossenen katholischen Sozialmilieus beigetragen“.36 Im Einsatz für das Bekenntnisschulwesen liegt eine Abschottungsstrategie zum Zwecke des Milieuzusammenhalts.37 Die Milieu-Gebundenheit und -Bezogenheit katholischer Schulforderungen zeigte sich unter der Bedingung einer (weitgehenden) Diasporasituation wie im Bundesland Niedersachsen noch einmal in größerer Nachdrücklichkeit als in Bundesländern bzw. Ländern mit überwiegend katholischer Bevölkerung, in denen sich die Konfessionalitätsanforderungen leichter realisieren ließen. Die Vehemenz der Auseinandersetzung ist zudem durch den Einsatz für die Bekenntnisschule in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur geprägt, so dass man unter den Vorzeichen eines freiheitlichen Gemeinwesens nicht einfach davon abrücken wollte und konnte.38
2. Staatliche Bildungspolitik In katholischen Grundvorstellungen nahm das Erziehungs- und Schulwesen seit jeher eine besondere Rolle ein. Staatlichen Säkularisierungstendenzen wurde gerade in diesem Sektor mit größtem Misstrauen begegnet. Die Schulfragen waren Zukunftsfragen. Das Feld der Schulorganisation wurde schnell ein „Schlachtfeld“ (Papst Leo XIII.) um die sachgerechte Ordnung und ein parteipolitisches Betätigungsfeld, 32 Siehe auch das Konzilsdokument Gravissimum educationis vom 28. Oktober 1965, abgedruckt bei Hünermann (Fn. 31). 33 Dazu nur Ansgar Hense, Rechtliche Verantwortungszuschreibungen – kirchenrechtliche und staatskirchenrechtliche Perspektiven, in: Heimbach-Steins/Kruip (Hrsg.), Kooperative Bildungsverantwortung. Sozialethische und pädagogische Perspektiven auf „Educational Governance“, 2011, S. 89 (92 f. und passim). 34 Näher Friedemann Pitzer, Die Bekenntnisschule des Reichskonkordats, 1967, S. 11 ff. 35 Der Gewissensaspekt war dabei keine Freiheitsoption in individueller Beliebigkeit, sondern stand nach kirchlichem Verständnis – natürlich – unter der Obhut und dem Dirigat des kirchlichen Lehramts, also insbesondere der Bischöfe. 36 M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft (1966), in: ders., Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen, 1993, S. 25 (40). 37 Näher exemplarisch Damberg, Abschied? (Fn. 18), S. 441 ff. Das Konfessionalitätsanliegen ging soweit, dass das – letztlich gescheiterte – Ziel verfolgt wurde, gesetzlich die Errichtung von Schulen für konfessionelle Minderheiten zu verankern, um die konfessionelle Homogenität sicherstellen zu können. 38 Vgl. Damberg, Abschied? (Fn. 18), S. 4 41.
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so dass die Thematik Konfessionsschule für die Zentrumspartei von konstitutiver Bedeutung war.39 Die schon deutlich im 19. Jahrhundert sich zeigende konfrontative Stellung zwischen Kirche und Staat, manifestierte sich besonders intensiv und deutlich bei den Beratungen der schulverfassungsrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung. Dieser Teil der Verfassungsberatungen gehörte zu den strittigsten.40 Nach überwiegender Auffassung lag der Weimarer Verfassung das Leitbild von der Gemeinschaftsschule zugrunde. Bis zur einfachgesetzlichen Lösung der Schulfrage Bekenntnis-/Gemeinschaftsschule billigte die Verfassung den Bekenntnisschulen eine Bestandsgarantie zu (Art. 174 Satz 1 WRV); die Norm wirkte demnach als Sperrklausel.41 Verschiedene Anläufe zur Verabschiedung eines Reichschulgesetzes scheiterten. Da eine Umwandlung von Bekenntnisschulen in Gemeinschaftsschulen ebenso unzulässig war wie umgekehrt, blieben die Schulverhältnisse zementiert, was letztlich faktisch darauf hinauslief, dass die Bekenntnisschulen die Regelschulen waren.
II. Das Konkordat und seine Funktionen Während die heutige Dogmatik des Staatskirchenvertragsrechts ein differenziertes Tableau sehr unterschiedlicher Vertragsfunktionen entwickelt hat, wurden Konkordate nach katholischer Doktrin früher meistens geschlossen, um Wunden der Kirche zu heilen und neuen Gefahrenlagen prophylaktisch zu begegnen.42 Sie als genuines Mittel eines kooperativen Verfassungsstaats anzusehen, um das Verhältnis und den Sachbereich von Staat und Religion adäquat auszutarieren und zu regeln, war weniger im Blick. Gleichwohl ist es bemerkenswert, dass das Kirchenrecht von dem Grundsatz Konkordat vor Kodex (c. 3 CIC/1917 und CIC/1983) ausging (und ausgeht), weshalb konkordatären Absprachen – unter bestimmten Voraussetzungen – Vorrang vor kodikarischen Regelungen zukommen kann. Konkordate sind demnach auch Flexibilisierunginstrumente, die kirchenrechtliche Vorgaben auf situative Regelungserfordernisse hin adaptieren können, um etwa regionalen Besonderheiten zu entsprechen.
39 Instruktiv Ulrich von Hehl, Wilhelm Marx 1863–1946. Eine politische Biographie, 1987, S. 58 ff. Aufschlussreich ist an der Person des späteren Reichskanzlers nicht nur, dass er immer wieder um die Verabschiedung eines Reichsschulgesetzes bemüht war, sondern dass er auch zu den Förderern und Freunden des später für die Beratungen im Parlamentarischen Rat und den Konkordatsprozess so bedeutsamen Prälaten Wilhelm Böhler gehörte. 40 Zur Orientierung siehe nur Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 331 ff. Umfassend siehe Ludwig Richter, Kirche und Schulen in den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung, 1995. 41 Dazu und zum Folgenden Gusy, Reichsverfassung (Fn. 4 0), S. 334. 42 Berühmt: Alphridus Ottaviani, Institutiones Iuris Publici Ecclesiastici, Vol. II: Ecclesia et Status. Editio Quarta, 1960, Tz. 370 (= S. 267): „Ex dictis evidenter constat Concordate plerumque ad vulnera Ecclesiae medenda, gravioraque mala vitanda inita fuise: historia Concordatorum, historia dolorum Ecclesiae.“
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III. Das Reichskonkordat als Schutzwall kirchlicher Positionen und Lösung „offener Fragen“ Weimarer Schulpolitik Ungeachtet des Umstands, dass es bereits in der Weimarer Zeit Bestrebungen gab, ein Reichskonkordat als Rahmen- bzw. Dachkonkordat zu vereinbaren,43 ist das Reichskonkordat in der gewissen katholischen Dialektik von „concordatum amicitiae“ und „concordatum defensionis“ dem Vertragstyp zugeordnet, der Gefahrenlagen für die katholische Kirche prophylaktisch zu begegnen sucht.44 Letztlich sollte das Reichskonkordat auch ein historisches Desiderat gesamtstaatlich einlösen, dessen Regelung durch den erfolglosen Kampf um eine Reichsschulgesetzgebung vor 1933 juristisch versperrt war.45 Damit sollte eine offene Frage aus der Zeit der Weimarer Schulpolitik der Lösung zugeführt werden. Dabei ist rückblickend „die Einbahnstraße zum Reichskonkordat“46 natürlich mit genetischen Lasten belegt, sowohl als Vertragswerk insgesamt als auch bei bestimmten Einzelregelungen, die aber auch seit den 1960er Jahren intensiv historisch diskutiert werden. Ungeachtet dieser nicht zu verleugnenden Anfragen wird man staatskirchenvertragsrechtlich konstatieren können, dass nach katholischem Verständnis dem Reichskonkordat – später vielfach enttäuschte – Schutzfunktion zumindest nicht apriorisch abgesprochen werden kann. Wenn man so möchte, war das Leitbild der konkordatsgesicherten katholischen Kirche derart wirkmächtig, dass der Kairos des Konkordatsschlusses vor allem nach den vergeblichen Versuchen in den Jahren vorher nicht ungenutzt vorüber ziehen sollte. Dass gerade die „politischen Klauseln“ der Art. 30 bis 32 des Reichskonkordats eine oder sogar die genetische Gesamtlast dieses Vertragswerkes konstituieren, lässt sich nicht prinzipiell in Abrede stellen.47 Die genetische Last findet schließlich einen ihrer Hauptangriffspunkte in dem Umstand, dass die Transformation des Reichskonkordats ohne parlamentarische Beteiligung und in Form eines durch die Reichsregierung erlassenen Gesetzes erfolgte. Dieser formale Weg wurde durch das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 ermöglicht. Die Illegitimität des Ermächtigungsgesetzes infiziert (möglicherweise) das Reichskonkordat. An dem Streit über das formale Inkraftsetzen des Reichskonkordats entzündet sich die Frage, nach welchen Maßstäben die Legalität dieses Ermächtigungsgesetzes zu beantworten ist.48 Die Legalität des Ermächtigungsgesetzes war eine der maßgeblichen Rechtsfragen, die durch das Konkordatsurteil dann entschieden wurden.49
Volk, Reichskonkordat (Fn. 11), S. 32 ff. Listl (Fn. 4 ), S. 309 (311); Hollerbach (Fn. 8 ), S. 253 (256). 45 Näher Volk, Reichskonkordat (Fn. 11), S. 35 ff. und passim (etwa S. 213 f.). 46 So die Kapitelüberschrift Volk, Reichskonkordat (Fn. 11), S. 212 ff. 47 Winfried Becker, Das Reichskonkordat von 1933 und die Entpolitisierung der deutschen Katholiken: Verhandlungen, Motive, Interpretationen, in: Af kKR 177 (2008), 353–393. 48 Zum Problemkreis eingehend Christoph Möllers, Ernst Rudolf Hubers letzte Fußnote, in: Zeitschrift für Ideengeschichte Heft X/2, Sommer 2016, S. 47 (60 ff.). 49 Vgl. BVerfGE 9, 306 (331). 43
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IV. Akteure kirchlicher Interessenwahrnehmung: Wilhelm Böhler und Adolf Süsterhenn In frühen Jahren der Bundesrepublik Deutschland, die mitunter als „klerikales Jahrzehnt“ aufgefasst wurden,50 war insbesondere ein Gesicht auffällig, das mit sämtlichen der Auseinandersetzungen um und über das Reichskonkordat, dem Elternrecht und der Schulfrage verbunden war: Prälat Wilhelm Böhler (1891–1958).51 Böhlers Lebensthema war seit der Weimarer Zeit die Schulpolitik und das Elternrecht. Wenngleich wohl kein Fanatiker, war Böhler ein Kirchenpolitiker dezidierter Überzeugungen und Urteilskraft, der in der Person Adolf Süsterhenns – das zweite prägende Gesicht im Kontext von Reichskonkordat und Konkordatsurteil – einen Mitstreiter fand.52 Sie beide waren im Vorfeld und nach der Entscheidungsverkündung die hervorstechendsten Akteure.
C. Die Vorgeschichte des Konkordatsprozesses: Das Reichskonkordat als „gesamtdeutsche Klammer“ – und ein bisschen Parteipolitik? I. Hinweise zu den Kontroversen über die Fortgeltung des Reichskonkordats und der Aufhebung des Problems in Art. 123 Abs. 2 GG Der Neuauf bau des westdeutschen Staates und die Problematik der Rechtslage „Deutschlands als Ganzes“ ließ Unsicherheiten und Zweifel an der Fortgeltung des Reichskonkordats, aber auch der Länderkonkordate auf kommen. Die Fragen sind früh – schon in den Jahren 1946–1948/953 und später immer wieder54 – rechtswissenschaftlich problematisiert worden. Der sich anbahnende Konkordatsstreit mit dem 50 Aufschlussreich die vergleichende Analyse von Kristian Buchna, Ein klerikales Jahrzehnt? Kirche, Konfession und Politik in der Bundesrepublik während der 1950er Jahre, 2014. 51 Zu ihm etwa Burkhard van Schewick, Wilhelm Böhler (1891–1958), in: Aretz u.a. (Hrsg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 4, 1980, S. 197–207, 277 f.; Kristian Buchna, Wilhelm Böhler (1891–1958), katholischer Geistlicher und Kirchenpolitiker [www.rheinische-geschichte.lvr.de, Zugriff: 15.11.2016]; ders., Jahrzehnt (Fn. 50). 52 Zum korrelativen Verhältnis der beiden etwa Buchna, Jahrzehnt (Fn. 50), S. 156. Umfassend Christoph von Hehl, Adolf Süsterhenn (1905–1974). Verfassungsvater, Weltanschauungspolitiker, Föderalist, 2012. 53 Adalbert Erler, Die Konkordatslage in Deutschland, SJZ 1946, 197–200; Franz T(ibor). Hollós, Die gegenwärtige Rechtsstellung der katholischen Kirche in Deutschland auf Grund des Reichskonkordates und der Länder-Konkordate, 1948; Werner Weber, Die Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften, 1948, S. 25 ff.; Joseph H. Kaiser, Die Politische Klausel der Konkordate, 1949, S. 9 0 ff. 54 Zu nennen ist insbesondere die Behandlung der Konkordatsproblematik auf der Staatsrechtslehrertagung: insbesondere Hans Peters, Die Gegenwartlage des Staatskirchenrechts, in: VVDStRL 11 (1954), S. 177 (195 ff.). Aus dem weiteren Schrifttum siehe Herbert Groppe, Das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933. Eine Studie zur staats- und völkerrechtlichen Bedeutung dieses Vertrages für die Bundesrepublik Deutschland, 1956; Lothar Schöppe, Die gegenwärtige Lage der vertraglichen Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und Deutschland in rechtlicher und politischer Sicht unter besonderer Berücksichtigung der Frage nach der Gültigkeit des Reichskonkordats von 1933, Diss. iur. Kiel 1956; Hans-Joachim Becker, Zur Problematik des Reichskonkordats, 2. Aufl. 1956.
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Bundesland Niedersachsen beförderte zudem die Behandlung in der Tagespresse55 und in historischen Untersuchungen.56 Die rechtswissenschaftliche Behandlung beförderte das Klarstellungsinteresse.57 Bemerkenswert ist, dass die Fortgeltung des Reichskonkordats in den anfänglichen Diskussionen als normatives Vehikel genommen werden sollte, die Fortgeltung der Länderkonkordate unbeschadet des Fortbestandes der jeweiligen staatlichen Vertragspartner normativ-konstruktiv sicherzustellen. Soweit die Fortgeltungsproblematik des Reichskonkordats mit dem rechtlichen Schicksal des Deutschen Reiches als Vertragspartner des Heiligen Stuhls verknüpft werden sollte, war man wissenschaftlich bemüht, dessen Bedeutung in jedem Fall dadurch zu sichern, dass dem Reichskonkordat eine normativ-praktische Wirkung als „Richtlinie“ zugeschrieben werden sollte. Die Fortgeltungsproblematik der Länderkonkordate konnte teilweise durch spezielle Staatskirchenvertragsklauseln wie Art. 182 BayVerf verfassungskonstitutiv gelöst werden. Hinsichtlich des Reichskonkordats wurde zwar für die Zeit vor dem Zusammentreten des Parlamentarischen Rates eine konsolidierte allgemeine Rechtsauffassung konstatiert, die von der Fortgeltung des Reichskonkordats ausging. Die Auffassungen der auctori probates waren aber scheinbar kaum in der Lage, das Interesse und das Bedürfnis nach einer expliziten verfassungsrechtlichen Entscheidung zu kompensieren, so dass es zu Initiativen kam, die Fortgeltungsproblematik der Staatskirchenverträge allgemein im Parlamentarischen Rat zu behandeln. Während der der katholischen Kirche und kirchlichen Interessen verbundene Adolf Süsterhenn eher juristisch formal argumentierte, lässt sich bei den Gegnern der Fortgeltung des Reichskonkordats anfangs eine gegenläufige Argumentationstendenz feststellen. Sie hoben den genetischen Defekt gerade des Reichskonkordats hervor, dass der Heilige Stuhl mit dem verbrecherischen und illegitimen Regime eine entsprechende vertragliche Abmachung geschlossen habe. Damit sind früh die Argumentationspole zwischen einer moralisch, inhaltlichen und einer eher formal-juristischen Bewertung des Reichskonkordats markiert. Der Fortgang der Beratungen im Parlamentarischen Rat zeigte aber eine Rückkehr zu stärkerer juristischer Bewertung. Allzu moralische Bewertungsansätze unterblieben zukünftig. Zudem lässt sich die deutliche Tendenz feststellen, das Reichskonkordat auszuklammern und bei der Frage der Fortgeltung von (Landes-) Staatskirchenverträgen davon auszugehen, dass die Fortgeltungsanordnung nicht von oben, d.h. der bundesstaatlichen Warte aus Adolf Süsterhenn, Konkordat – kein Fetzen Papier: Am Prinzip der Vertragstreue muss festgehalten werden, in: Echo der Zeit vom 12. Juli 1953; ders., Reichskonkordat und Elternrecht. Das niedersächsische Schulgesetz entfesselt den Kulturkampf, in: Rheinischer Merkur – Nr. 49 – vom 3. Dezember 1954, S. 4 ; Schorn, Ist das Reichskonkordat noch gültig?, in: Kölnische Rundschau vom 19. März 1954, S. 1 f.; Godehard Josef Ebers, Sind die deutschen Konkordate in Kraft?, in: Rheinischer Merkur – Nr. 33 – vom 13. August 1954, S. 3 ; ders., Gilt das Reichskonkordat noch?, in: Rheinischer Merkur vom 6. April 1956, S. 3. 56 Ernst Deuerlein, Das Reichskonkordat. Beiträge zu Vorgeschichte, Abschluss und Vollzug des Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich vom 20. Juli 1933, 1956. Siehe dazu die kritische Würdigung von Rudolf Morsey, in: Theologische Revue 53 (1957), Sp. 19–23; siehe auch ders., Zur Problematik und Geschichte des Reichskonkordats, in: Neue Politische Literatur 5 (1960), Sp. 2 –30. 57 Das Nachfolgende eine kondensierte Anlehnung an Ansgar Hense, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 176. Akt. Dezember 2015, Art. 123 Rdn. 14–25. 55
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getroffen werden könne. Demzufolge ist der Art. 123 Abs. 2 GG als das normative Endprodukt des verfassungsgebenden Akteurs zum einen eine Entscheidung dar über, die Fortgeltung des Reichskonkordats implizit offen zu lassen, da man davon ausging, dass die Frage der völkerrechtlichen oder innerstaatlichen Weitergeltung dem vom Deutschen Reich abgeschlossenen Verträge außerhalb der Zuständigkeit des Parlamentarischen Rats lag. Zum anderen neutralisierte diese Bestimmung des Art. 123 Abs. 2 GG, die zumindest indirekt wohl doch die Problematik des Reichskonkordats behandelte, den Streit, weil ihr letzten Endes eine schwebende Dialektik eigen ist, die die Fortgeltung des Reichskonkordats ebenso wenig apriorisch ausschloss wie dessen Nichtfortgeltung. Kirchlicherseits wurde die verklausulierte Form des Art. 123 Abs. 2 GG als das kleinere Übel im Vergleich zu einem völligen Regelungsverzicht angesehen, zumal selbst eine Mehrheit der CDU und der CSU sich nicht mehr für eine ausdrückliche Anerkennung der Konkordatsweitergeltung verwenden wollte. Nach einem Wort Carlo Schmids begrub der Art. 123 Abs. 2 GG die leidige Reichskonkordatsproblematik in einer allgemein formulierten Norm im Schlussteil des Grundgesetzes.58 Gleichwohl wurde das Problem in den Folgejahren bis zum Konkordatsurteil immer wieder ausgegraben.
II. Das staatliche Interesse: das Reichskonkordat als „gesamtdeutsche Klammer“ Der Rechtslage Deutschlands als Ganzes geschuldet ist der Umstand, dass dem Reichskonkordat eine engere über kirchliche Zusammenhänge hinausreichende Bedeutung untergeschoben bzw. damit verbunden werden konnte. Das Reichskonkordat fungierte als ein gesamtdeutsches „Rechtsdenkmal“ an dessen normativer Vitalität nicht nur die Kirche, sondern auch der Gesamtstaat der Bundesrepublik Deutschland ein Interesse hatte, da sich die Bundesrepublik als identisch mit dem Deutschen Reich verstand und sich darauf auch die Wiedervereinigung als Staatsziel bezog. Das Reichskonkordat fungierte – etwas martialisch gesprochen – etwa „als Waffe gegen die polnischen Gebietsansprüche“ und der Heilige Stuhl war als Vertragspartner und völkerrechtlicher Akteur in die Verantwortung genommen, die Teile der auf polnischen Boden befindlichen (ehemaligen) deutschen Bistümer als „Bistümer in Deutschland“ zu behandeln.59 Die gesamtdeutsche Klammerfunktion des Reichskonkordats wurde nicht nur in dem Konkordatsprozess als Argument angeführt,60 sondern war auch noch lange nach dem Konkordatsurteil von durchaus praktischer Relevanz, wenngleich eher im diskreten Bereich als – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – in der öffentlichen Diskussion.
Carlo Schmid, Erinnerungen, 1979, S. 386. Formulierungen bei Schmid, Erinnerungen (Fn. 58), S. 386 f. 60 Der Konkordatsprozess (Fn. 5 ), etwa S. 1279 u.ö. 58 59
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III. Die unmittelbaren Klagevorbereitungen – und die mündliche Verhandlung 1. Konvergenzen kirchlicher und politischer Anliegen Eine Besonderheit des Konkordatsprozesses liegt darin, dass in dieser Konstellation nicht etwa die Opposition des Bundestages ein verfassungsgerichtliches Verfahren nutzte, um auf diesem Wege Oppositionspolitik zu betreiben, sondern die Bundesregierung gegen ein Bundesland anderer politischer Couleur – und in einem gewissen zeitlichen Zusammenhang zu Landtagswahlen – einen konkordatsrechtlichen Streit eröffnete. Konrad Repgen hat in einem eindrucksvollen, informationsgesättigten Beitrag nahezu sämtliche historische Aspekte des Konkordatsprozesses untersucht.61 Dem niedersächsischen Konkordatsstreit ging dabei einer mit dem 1952 konstituierten Bundesland Baden-Württemberg voraus. Im Falle Baden-Württembergs wurde verschiedentlich seitens des Heiligen Stuhls beanstandet, dass die neuen Verfassungsentwürfe jeweils nicht den Schulbestimmungen des Reichskonkordats Rechnung tragen.62 Die politischen Interaktionen zwischen Bonn und Stuttgart blieben letzten Endes ohne Auswirkungen, da Bundeskanzler und Außenminister Adenauer nicht gegen einen Ministerpräsidenten der CDU vorgehen wollte. Der Bundesregierung, die stets die Geltung des Reichskonkordats bestätigte, spielte der Umstand in die Hände, dass sich im Bundesland Niedersachsen eine schulrechtliche Lage abzeichnete, die ebenfalls Anlass für eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht bot und sich gegen eine Landesregierung richtete, an deren Spitze ein SPD-Ministerpräsident stand.63 Die Exspektanz auf das Verfahren gegen das Bundesland Niedersachsen, führte zu einem Stillhalten des Heiligen Stuhls. Vieles weitere ist dem Faktor Zeit und Vermutungen über das Abstimmungsverhalten der beiden Senate geschuldet. Die nicht fristgebundene abstrakte Normenkontrolle schied damals aus, weil sie in die Zuständigkeit des Ersten Senat gefallen wäre, der als „roter Senat“ angesehen wurde. Im Zweiten Senat galten sieben der (damals noch) zwölf Verfassungsrichter als CDUnah. Adolf Süsterhenn schrieb an Prälat Böhler, dass die meisten dieser sieben Richter katholisch seien und – was für die Elternrechtsproblematik von Relevanz ist – sich „auch in ihren Rechtsauffassungen […] von der Naturrechtslehre leiten ließen“64. Ungeachtet des Umstands, dass diese Vermutungen Süsterhenns Verfassungsrichtern wie Ernst Friesenhahn nicht gerecht wurden, kam nur der Zweite Senat in Betracht und damit eine Bund-Länder-Klage. Für diese lief die Frist am 14. März 1955 ab. Die Entscheidung zur Klageerhebung entschied Adenauer erst spät definitiv (im Februar 1955); katholische Kreise waren nach der Verabschiedung des niedersächsischen Schulgesetzes keineswegs sicher, dass er für das Reichskonkordat kämpfen wollte.65
61 Konrad Repgen, Der Konkordatsstreit der fünfziger Jahre. Von Bonn nach Karlsruhe, in: Kirchliche Zeitgeschichte 3 (1990), 201–245. 62 Näher mit Nachweisen und Zitaten Repgen ebda., 201 (231 ff.). 63 Nachgerade spannend die Darstellung bei Repgen ebda., 201 (234 ff.). 64 Zitiert nach Repgen ebda., 201 (238). 65 Zu den Umständen, auch zu Warnungen aus der niedersächsischen CDU, die antikatholische, konfessionsverschärfende Konflikte wegen der drohenden Klagerhebung und den bevorstehenden Landtagswahlen hegten, Repgen ebda., 201 (239–242).
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Während das katholische Interesse die Konkordatswidrigkeit der Teilauf hebung der Bekenntnisschulen im Wege schulischer Umstrukturierungen in Niedersachsen und im Übrigen die Herabstufung der Bekenntnisschule zur Ausnahmeschule befürchtete, war das Anliegen der christdemokratischen Bundesregierung vorrangig die Demonstration völkerrechtlicher Vertragstreue mit einem herausragenden Völkerrechtssubjekt und nach innen wohl eine indirekte Chance die Kulturhoheit der Länder in einem nicht unwichtigen Teilsegment des öffentlichen Bildungswesen zentralstaatlich zu relativieren. Beide Interessensstränge begegneten sich in der Reichskonkordatsproblematik, deren Unentschiedenheit durch Art. 123 Abs. 2 GG und wissenschaftliche wie politische Strittigkeit die Bundesregierung nicht ohne Grund zum Verfahrensanlass nehmen konnte. Und parteipolitische Implikationen zwischen der Kirchenpolitik von CDU und SPD waren sicherlich auch ein Movens.
2. Antragstellung und mündliche Verhandlung Der Antrag der Bundesregierung umfasste zwei Punkte: Zum einen die Feststellung der Gültigkeit des Reichskonkordats und der Verstoß konkreter Bestimmungen des niedersächsischen Schulgesetzes gegen bestimmte Regelungen desselben.66 Während das Land Niedersachsen bewusst die Geltungsproblematik des Reichskonkordats ausklammerte und immer wieder argumentierte, dass die niedersächsischen Regelungen sich im Normbereich der konkordatären Regelungen bewegten, nahmen die beiden Bundesländer Bremen und Hessen die Gültigkeit des Reichskonkordats vor dem Hintergrund seiner Entstehung bewusst ins Visier. Die Position des Landes Hessen zum Reichskonkordat hat eine gewisse, damals junge Tradition.67 Das Bundesland Bremen befürchtete gerade schulpolitisch um seine durch Art. 141 GG abgesicherte Sondersituation. Das Bundesverfassungsgericht verhandelte in einem aufwendigen Verfahren von fünf Tagen die mit dem Reichskonkordat verbundenen Fragen, deren Untersuchung hier im Einzelnen ausgeklammert bleiben soll. Über den Verlauf der mündlichen Verhandlung wurde in der Presse in der Regel ausgiebig berichtet. Als besonders „üble Beispiele schlechten Stils im Verhältnis der Bundesregierung zum BVerfG“ galten die Berichte im Bulletin der Bundesregierung, die die Darlegungen der Verfahrensbeteiligten – zu einem Großteil Rechtslehrer – schulmäßig benoteten.68 Dem Prozess vorausgegangen waren gutachterliche Stellungnahmen, die sich mit vielfältigsten Aspekten der Problematik des Reichskonkordats auseinandersetzten.69 Aus dem Gutachtentableau ragte die Untersuchung des noch jungen, erst kurz zuvor mit einem wissenschaftlichen Jahrhundertwerk zum Ende der Weimarer Republik hervorgetretenen zukünftigen Nestors der Zeitgeschichtsforschung Karl-Dietrich Giese/v.d. Heydte (Hrsg.), Der Konkordatsprozess (Fn. 5 ), S. 20–29. Dazu umfassend Gisela Lenz, Die Rechtsbeziehungen zwischen dem Land Hessen und der katholischen Kirche unter besonderer Berücksichtigung der Bistumsverträge vom 9. März 1963 und 29. März 1974, 1987. 68 Heinz Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, S. 476. 69 Diese finden sich in: Giese/v.d. Heydte (Hrsg.), Der Konkordatsprozess (Fn. 5 ); sind regelmäßig aber auch separat veröffentlicht worden. 66 67
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Brachers heraus, der sich aus „nachbarwissenschaftlicher“ Perspektive mit dem Zustandekommen des Reichskonkordats auseinandersetzte.70 Dies war der Prozessstrategie des hessischen Prozessvertreters und SPD-Politikers Adolf Arndt geschuldet, der als gläubiger Protestant eine nahezu katholische complexio oppositorum zu verwirklichen suchte, indem er einerseits den Entstehungszusammenhang des Reichskonkordats kritisch angriff, andererseits das diplomatische Meisterstück vollzog, den Abschluss seitens der katholischen Kirche nicht (!) zu diffamieren oder moralisch zu verurteilen, sondern statt dessen immer wieder das Verständnis für das vatikanische Verhalten signalisierte.71 Die subtile Strategie Arndts mündete in einem Beweisantrag, dass die Bundesregierung ihren Schriftwechsel mit dem Heiligen Stuhl vorlege, um nachzuweisen, dass der Bund die Länderinteressen gegenüber dem Heiligen Stuhl vernachlässigt habe.72 Der Bundesregierung sollte damit das Angriffsinstrument der Bundestreue aus der Hand geschlagen werden, wobei sich Arndt die Gegenseitigkeitsstruktur dieses Verfassungsgrundsatzes zwischen den Polen Bund-Land zunutze machte.73 Der Verpflichtung zur Vorlage diplomatischer Schriftstücke wollte die Bundesregierung nicht nachkommen.74 Wenngleich die Bundesregierung von ihrer Verweigerungshaltung abrückte, wird doch in ihrem Verhalten nicht ohne Grund eine Brüskierung des Bundesverfassungsgerichts gesehen, die auf einer „Noch-nicht-Anerkennung“ dieses Gerichts als Gleichberechtigtes Verfassungsorgan beruhte,75 während der Rechtsanwalt Arndt sich als „Verteidiger der Gerichtsautorität“ profilieren konnte.76
D. Das Konkordatsurteil: salomonische Entscheidung oder inkonsistent begründetes Urteil? Mit seinem Urteil vom 26. März 1957 wies der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts den Antrag der Bundesregierung zurück. Es soll sich um eine denkbar knappe Entscheidung im Verhältnis 5:4 gehandelt haben; drei Richter waren 1956 ausgeschieden. Dieser Umstand zirkulierte ziemlich schnell in der Öffentlichkeit, während das Sondervotum dreier Richter erst später publiziert wurde, nachdem es bereits vorher in ca. 100 Exemplaren zirkulierte, aber von den Empfängern zurückgefordert wurde.77
70 Auch separat publiziert Karl Dietrich Bracher, Nationalsozialistische Machtergreifung und Reichskonkordat. Ein Gutachten zur Frage des geschichtlichen Zusammenhangs und der politischen Verknüpfung von Reichskonkordat und nationalsozialistischer Revolution, 1956. 71 Konzise dargestellt bei Dieter Gosewinkel, Adolf Arndt. Die Wiederbegründung des Rechtsstaats aus dem Geist der Sozialdemokratie (1945–1961), 1991, S. 480 ff. 72 Siehe Giese/v.d. Heydte (Hrsg.), Der Konkordatsprozess (Fn. 5 ), S. 1222, 1226. 73 Gosewinkel, Adolf Arndt (Fn. 71), S. 485. 74 Siehe auch die Behandlung dieser Thematik in der 138. Kabinettssitzung am 8. Juni 1956, abgedruckt in: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 9 – 1956, bearb. von U. Hüllbusch, 1998, S. 4 06 f. 75 Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 68), 477. 76 Gosewinkel, Adolf Arndt (Fn. 71), S. 485. 77 Bemerkenswert die Darstellung all dieser Umstände bei Repgen (Fn. 61), 201 (203 f. mit Fn. 12).
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I. Das Urteil als Mehrheitsentscheidung Während sich die Entscheidungsformel nur auf den ursprünglich zweiten Teil des Antrags der Bundesregierung bezieht, gehen die Entscheidungsgründe darüber hinaus auf die ursprünglich beantragte,78 dann im weiteren Verhandlungsverlauf zur „Anregung“ an das Gericht herabgestuften Frage der Fortgeltung des Reichskonkordats ein.
1. Fortgeltung des Reichskonkordats Das Bundesverfassungsgericht behandelte als erstes die Fortgeltung des Reichskonkordats, ohne die innerstaatliche Geltung des Reichskonkordats als entscheidungserhebliche Vorfrage in die Urteilsformel aufzunehmen. Bei seinen Ausführungen zur Geltungsfrage des Reichskonkordats entkoppelte das Gericht die rechtlichen Aspekte von historisch-moralischen Beurteilungen und Bewertungen ohne zu verkennen, wie die tatsächliche Lage beim Zustandekommen des Ermächtigungsgesetzes war. Nach dem Verzicht der Bundesregierung auf den förmlichen Feststellungsantrag in dieser Sache,79 waren Ausführungen zu dieser Rechtsproblematik streng genommen „argumentationslogisch“ nicht notwendig.80 Es verwundert demnach nicht, dass es über die Bindungswirkung dieses Urteils später zu Meinungsdifferenzen kam.81 Das Gericht geht davon aus, dass das Reichskonkordat gültig zustande gekommen ist und seine Geltung auch nicht verloren habe.82 Für das gültige Zustandekommen ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die einfache Publikation im Reichsgesetzblatt ausreichend gewesen, da es nach dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 keines gesetzlichen Transformationsaktes i.S. des Art. 45 Abs. 3 WRV mehr bedurfte.83 Das Reichskonkordat habe darüber hinaus während des nationalsozialistischen Regimes seine Geltung bewahrt, selbst wenn das nationalsozialistische Regime wiederholt gegen die Konkordatsbestimmungen verstoßen hat.84 Gleichwohl haben das Deutsche Reich als auch der Heilige Stuhl an dem Konkordat festgehalten.85 Letztlich habe das Reichskonkordat nach der bedingungslosen Kapitulation und dem Zusammenbruch des totalitären nationalsozialistischen Regimes auch beim Wiederauf bau einer neuen staatlichen Organisation für das Gebiet der westlichen Besatzungsmächte seine Geltung nicht eingebüßt.86 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist infolge der rechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich das Reichskonkordat für die Bundesrepublik Deutschland verbindlich.87 Vgl. BVerfGE 6, 309 (319). BVerfGE 6, 309 (319 f.). 80 Pabel, Reichskonkordat (Fn. 1), S. 96 (99). 81 Siehe nur Mosler (Fn. 3 ). 82 BVerfGE 6, 309 (330 ff.). 83 BVerfGE 6, 309 (332 f.). 84 BVerfGE 6, 309 (334 ff.). 85 BVerfGE 6, 309 (334 f.). 86 BVerfGE 6, 309 (336 ff.). 87 BVerfGE 6, 309 (338). 78
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2. Verpflichtung der Länder zur Einhaltung der schulrechtlichen Bestimmungen des Reichskonkordats? Vertragspartner und damit (vorrangiges) Verpflichtungssubjekt des Reichskonkordats ist nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ungeachtet der Umbauten der innerstaatlichen Kompetenzordnung durch das Grundgesetz der Bund und nicht möglicherweise ein einzelnes Bundesland.88 Die nach der grundgesetzlichen Ordnung nunmehr bei den Ländern ressortierende Schulhoheit als Haus- und Hofgut ihrer Kulturkompetenzen lässt sie nicht zu Vertragspartnern werden. Gegenläufigen Ansichten, die etwa im Wege der Funktionsnachfolge die einzelnen Bundesländer beim Übergang vom nationalsozialistischen „Einheitsstaat“ zu einer bundesstaatlichen Ordnung zu Vertragspartnern des Heiligen Stuhls „aufwerten“ wollten, hat das Bundesverfassungsgericht mit dieser Feststellung wohl den Boden entzogen. Der Umstand, dass das Grundgesetz die Schulgesetzgebungskompetenz den Bundesländern zuspricht, macht sie nicht bezüglich der Schulbestimmungen des Reichskonkordats zu Vertragspartnern des Heiligen Stuhls.89 Das Bundesverfassungsgericht wendet sich dann in den nächsten Argumentationsschritten der Frage zu, ob der Bund von den Bundesländern die Beachtung der Schulbestimmungen des Reichskonkordats verlangen könne; dies sei dann der Fall, wenn den Ländern eine verfassungsrechtliche Pflicht gegenüber dem Bund zukäme, die Schulbestimmungen des Reichskonkordats bei der Gestaltung ihres Schulrecht einzuhalten.90 Eine solche Verpflichtung, die die Länder gegenüber dem Bund zu erfüllen hätten, leitet das Gericht weder aus Art. 123 Abs. 2 GG noch aus allgemeinen Prinzipien des Verfassungsrechts wie dem Grundsatz der Bundestreue oder der sog. Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ab. Die ambivalent schillernde Norm des Art. 123 Abs. 2 GG, deren Hauptreferenz während der Beratungen im Parlamentarischen Rat das Reichskonkordat war,91 wird in dem Konkordatsurteil in ihrem Regelungsgehalt höchst restriktiv interpretiert.92 Das Gericht fasst Art. 123 Abs. 2 GG nicht als Fortgeltungsanordnung einer völkerrechtlichen Verpflichtung auf,93 sondern sieht in ihr nur die Regelung, dass der innerstaatliche (gesetzliche) Transformationsakt fortgelten soll.94 Damit verbunden ist nur eine „Fortgeltung schlechthin“ nicht die Fortgeltung als Bundesrecht.95 Die Schulrechtsbestimmungen des Reichskonkordats gelten demnach als Landesrecht fort, ohne dass die nunmehr ausschließlich zuständigen Landesgesetzgeber über Art. 123 Abs. 2 strikt an die Schulbestimmungen des Reichskonkordats gebunden sind.96 Demnach steht die Rechtsmaterie Schulrecht durchaus zur Disposition des jeweiligen Landes. Das „Auseinanderfallen von Vertragspartnerschaft und Gesetzge BVerfGE 6, 309 (338 f.). BVerfGE 6, 309 (339). 90 BVerfGE 6, 309 (340). 91 Vgl. Kaiser (Fn. 6 ), 526 (551). 92 BVerfGE 6, 309 (340–353). 93 Dazu, dass der völkerrechtliche Bestand der entsprechenden Verträge von Art. 123 Abs. 2 GG vorausgesetzt wird, näher BVerfGE 6, 309 (345 f.). 94 BVerfGE 6, 309 (341). 95 BVerfGE 6, 309 (342). 96 BVerfGE 6, 309 (344). 88 89
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bungshoheit“97 kompensiert Art. 123 Abs. 2 GG auch nicht durch eine darüber hinausgehende Bindung des Landesgesetzgebers, da dies einen „Einbruch in die Kulturhoheit“ der Länder zur Folge hätte.98 Aus dem „Inkraftbleiben“ resultiert keine verfassungsrechtliche Bindung des Landesgesetzgebers, vertragswidriges Gesetzesrecht zu unterlassen oder aufzuheben.99 Ebenso verneint es das Bundesverfassungsgericht, den Art. 123 Abs. 2 GG als aufschiebend bedingtes Vehikel zur Bindung der Landesgesetzgebung an die Schulbestimmungen des Reichskonkordats zu lesen, bis neue Länderkonkordate geschlossen seien.100 Das Bundesverfassungsgericht lehnt es mit Blick auf die bildungsföderale Zuständigkeitsverteilung und die Funktion der bundesverfassungsrechtlichen Schulvorgaben in Art. 7 GG, den Bundesländern „Freiheit“ zu ermöglichen und übermäßige Bindungen zu vermeiden,101 auch ab, den Ländern allgemein eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Einhaltung der völkerrechtlich bindenden Verträge des Bundes aufzuerlegen, soweit es die Schulbestimmungen des Reichskonkordats betrifft.102 Ein derartiger Ansatz liefe der „inneren Harmonie des Verfassungswerks“103 und dessen verfassungsgestaltenden Grundentscheidungen zuwider. Eine Pflicht zur Einhaltung der Schulbestimmungen des Reichskonkordats will das Bundesverfassungsgericht zudem nicht dem (Verfassungs-) Grundsatz der Bundestreue entnehmen. Zum einen widerspreche dies wiederum den bildungsverfassungsrechtlichen Vorgaben, zum anderen unterfielen Konkordate nicht Art. 32 bzw. Art. 59 GG, so dass die Länder ihre konkordatären Beziehungen innerhalb ihrer (ausschließlichen) Gesetzgebungszuständigkeiten „ohne Ingerenz des Bundes gestalten“ könnten.104 Schließlich konstatiert das Gericht, dass sich aus der in Art. 25 GG ergebenden Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes keine abweichende Beurteilung ergibt,105 da sich die rechtlichen Folgen aus einem dem Bundesstaat verpflichtenden völkerrechtlichen Vertrag für die Gliedstaaten ausschließlich aus dem Verfassungsrecht ergeben.106 In diesem Zusammenhang relativiert das Bundesverfassungsgericht die Pflichtigkeiten, indem es zwischen übernommenen und überkommenen unterscheidet.107 Vor diesem Hintergrund hielt das Bundesverfassungsgericht den Antrag der Bundesregierung für unbegründet. „Wenn das niedersächsische Schulgesetz gegen die Schulbestimmungen des Reichskonkordats verstoßen sollte, wäre der Bund in seinen Rechten gegenüber dem Land nicht verletzt. Damit erübrigt sich eine Nachprüfung
BVerfGE 6, 309 (345). BVerfGE 6, 309 (346). 99 BVerfGE 6, 309 (350). 100 BVerfGE 6, 309 (352 f.). 101 BVerfGE 6, 309 (357). 102 BVerfGE 6, 309 (353 ff.). 103 BVerfGE 6, 309 (361). 104 BVerfGE 6, 309 (362 f.). 105 Näher BVerfGE 6, 309 (362 ff.). 106 BVerfGE 6, 309 (366). 107 BVerfGE 6, 309 (366). 97
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der sachlichen Vereinbarkeit des niedersächsischen Schulgesetzes mit den Bestimmungen des Reichskonkordats.“108
II. Der verfassungsgerichtliche Kontrapunkt: Das Sondervotum der Richter Federer, Friesenhahn und Geiger Vom Mehrheitsvotum des Zweiten Senats wichen 1957 die Richter des Bundesverfassungsgerichts Julius Federer, Ernst Friesenhahn und Willi Geiger und wohl ein nicht identifizierter vierter Richter ab.109 Die beiden Letztgenannten publizierten ihre abweichende Meinung in den Jahren 1979110 bzw. 1989111, nachdem 1970 § 30 Abs. 2 BVerfGG das öffentliche Sondervotum ermöglichte. Nicht ohne Pikanterie ist die bereits angedeutete Tatsache, dass schon unmittelbar nach der Verkündung des Konkordatsurteils wohl 100 vervielfältigte Exemplare des Sondervotums zirkulierten, die aber wieder „eingesammelt“ werden mussten. Im Gegensatz zur Senatsmehrheit gehen die dissentierenden Richter davon aus, dass das Land Niedersachsen eine dem Bund gegenüber obliegende verfassungsrechtliche Pflicht verletzt haben könnte, wenn die landesgesetzlichen Schulbestimmungen dem Reichskonkordat widersprächen. Vor diesem Hintergrund hätte vor einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den Antrag der Bundesregierung geprüft werden müssen, ob das niedersächsische Schulgesetz konkordatskonform sei oder nicht.112 Während über die im ersten Teil der Entscheidungsgründe konstatierte Fortgeltung des Reichskonkordats Konsens herrscht, wird die „Folgepflicht der Länder“113 anders als im Konkordatsurteil beurteilt. Die drei Richter gehen von einer „zwingenden Notwendigkeit“ aus, dass die Bundesländer kraft Bundesverfassungsrecht dem Bund gegenüber verpflichtet sind, die konkordatären Schulbestimmungen einzuhalten, da die innerstaatliche Durchführung völkerrechtlicher Verträge eine Pflicht ist, die den Ländern dem Bund gegenüber obliegt.114 Die Begründung des Sondervotums basiert auf einer diametral entgegengesetzten Interpretation sowohl der Verfassungsbestimmung des Art. 123 Abs. 2 GG als auch des Grundsatzes vom „bundesfreundlichen Verhalten“115. Die im wörtlichen Sinne „föderale“ Struktur des Bun BVerfGE 6, 309 (367). Es wird darüber spekuliert, ob es sich bei dem vierten Richter um Egon Schunck oder Gerhard Leibholz handelte. Dazu Repgen (Fn. 61), 201 (205 f. mit Fn. 20). Für Leibholz könnte (!) sprechen, dass er zusammen mit Werner Weber und Hans Peter Ipsen „zur Reorganisation der konfessionellen Verhältnisse im Volksschulwesen Nürnbergs“ in einem Rechtsstreit im Dezember 1949 gegutachtet hat (Hinweis bei Kaiser [Fn. 6 ], 526 [553 Fn. 126 b]). 110 Ernst Friesenhahn, Zur völkerrechtlichen und innerstaatlichen Geltung des Reichskonkordats, in: Kleinheyer/Mikat (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsgeschichte- Gedächtnisschrift für Hermann Conrad, 1979, S. 151–180. 111 Willi Geiger, Abweichende Meinungen zu Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 1989, S. 75–112. 112 Friesenhahn (Fn. 110), S. 151 (180) = Geiger (Fn. 111), S. 75 (111 f.). 113 Friesenhahn (Fn. 110), S. 151 (153) = Geiger (Fn. 111), S. 75 (77). 114 Friesenhahn (Fn. 110), S. 151 (152) = Geiger (Fn. 111), S. 75 (77). 115 Friesenhahn (Fn. 110), S. 151 (155) = Geiger (Fn. 111), S. 75 (79). 108 109
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desstaates als „Bündnis“ führt die drei Richter dazu, dass sich Bund und Länder gemeinsam davor hüten müssten, international als „vertragsbrüchige Partner bloßgestellt“ zu werden, da Erfüllung oder Nichterfüllung eines völkerrechtlichen Vertrages keine „innerstaatlich gleichgültige Angelegenheit“ sei.116 Die verfassungsrechtlich geforderte völkerrechtliche Vertragstreue als grundgesetzliches Prinzip117 erfordert es, dass den den Bundesstaat repräsentierenden Bundesorganen die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen müssen, „das völkerrechtsgemäße Verhalten in allen Teilordnungen des Bundesstaates zu sichern“.118 Diese grundgesetzliche Verklammerung von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht für Verträge, die für die Bundesrepublik Deutschland als Ganzes verbindlich sind, begründet auch ohne ausdrückliche Regelung eine grundgesetzliche Folgepflicht der Bundesländer gegenüber dem Bund. Vor diesem Hintergrund legen die drei Verfassungsrichter auch die Norm des Art. 123 Abs. 2 GG anders aus und sehen in dieser Norm eine spezielle Regelung zur „Vertragstreue und Vertragskontinuität“.119 Anders als die Mehrheitsentscheidung hebt das Sondervotum zudem den Aspekt hervor, dass Art. 123 Abs. 2 GG nicht ein bloßes Fortgelten betreffe, sondern das „Inkraftbleiben“ der speziellen altrechtlichen Völkerrechtsverträge anordne120 und damit auch ausdrücklich zum Reichskonkordat Stellung genommen habe.121 Die vom Grundgesetz vorgefundenen und nach der Minderheiten-Meinung insbesondere durch Art. 123 Abs. 2 GG geschützten vorgefundenen Reichsverträge erfahren durch diese Verfassungsnorm keinerlei verfassungsrechtliche Bestandsgarantie.122 Dem Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens als Ausdruck eines Gegenseitigkeitsverhältnisses entnehmen die drei Richter sogar eine Verpflichtung des Bundes, sich im Einvernehmen mit dem Heiligen Stuhl für eine länderfreundliche Lösung einzusetzen.123 Die Richter Federer, Friesenhahn und Geiger sehen die Frage nach Freiheit oder Bindung der Landesschulgesetzgebung anders als die Senatsmehrheit „nicht nur unter dem föderalistischen Blickpunkt der Kulturhoheit der Länder“, sondern „auch unter dem gesamtstaatlichen Blickpunkt der völkerrechtlichen Vertragstreue der Bundesrepublik Deutschland“.124 Sie sehen in der Bindung an die konkordatären Schulbestimmungen keine die Existenz der Bundesländer als eigenständige Gebilde bedrohenden Vertragsverpflichtungen, zumal eine Norm wie Art. 23 Reichskonkordat Gestaltungsspielräume offenlasse, die letztlich auch das Bundesland Niedersachsen im Verfahren immer wieder hervorgehoben habe.125 Schließlich legen die dissentierenden Richter noch dar, dass eine abweichende Länderpraxis zwischen 1945–1949 oder die verfassungsrechtliche Ausnahmeregelung des Art. 141 GG der Friesenhahn (Fn. 110), S. 151 (156) = Geiger (Fn. 111), S. 75 (80). Friesenhahn (Fn. 110), S. 151 (157) = Geiger (Fn. 111), S. 75 (81). 118 Friesenhahn (Fn. 110), S. 151 (159) = Geiger (Fn. 111), S. 75 (84). 119 Siehe Friesenhahn (Fn. 110), S. 151 (161) = Geiger (Fn. 111), S. 75 (87). 120 Friesenhahn (Fn. 110), S. 151 (160 ff.) = Geiger (Fn. 111), S. 75 (86 ff.). 121 Friesenhahn (Fn. 110), S. 151 (165 ff.) = Geiger (Fn. 111), S. 75 (92 ff.). 122 Friesenhahn (Fn. 110), S. 151 (169) = Geiger (Fn. 111), S. 75 (97). 123 Friesenhahn (Fn. 110), S. 151 (171) = Geiger (Fn. 111), S. 75 (99). 124 Friesenhahn (Fn. 110), S. 151 (173) = Geiger (Fn. 111), S. 75 (102). 125 Friesenhahn (Fn. 110), S. 151 (174 f.) = Geiger (Fn. 111), S. 75 (104 f.). 116 117
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Verpflichtung der Länder dem Bund gegenüber, das Reichskonkordat einzuhalten, nicht entgegenstehe.126 Die dissentierenden drei Richter enthalten sich wie das eigentliche Konkordatsurteil aber einer Beurteilung darüber, ob das niedersächsische Schulgesetz den konkordatären Anforderungen entspricht oder nicht. Wenn Süsterhenn im Vorfeld der Klage der Bundesregierung über die naturrechtliche Affinität der katholischen Richter des Zweiten Senats spekulierte, stellt sich die Frage, ob er mit der inhaltlichen Positionierung des „zwischen früher NS-Karriere und katholischem Naturrecht schillernden Justizjuristen“ Willi Geiger127 oder der Katholiken Friesenhahn und Federer so zufrieden sein konnte. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die naturrechtliche Grundierung des Elternrechts in dieser Entscheidung keine Rolle spielt, sondern Mehrheits- wie Minderheitenvotum bemüht sind, die Rechtsfragen doch möglichst weltanschauungsfern zu entscheiden und hierbei durchaus die politische Handhabbarkeit und Ausgleichsfähigkeit widerstreitender Interesse im Auge gehabt haben.
III. Das Konkordatsurteil im Spiegel der Tagespresse und zeitnaher Urteilsanmerkungen Das Konkordatsurteil des Bundesverfassungsgerichts fand in der Tagespresse nachhaltige Resonanz; es wurde teilweise sehr detailliert über die Entscheidungsgründe berichtet. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung titelte auf der ersten Seite „Kulturhoheit der Länder trotz Konkordat“128 und der Kommentator der Süddeutschen Zeitung bezeichnete das Urteil des Bundesverfassungsgerichts als im wahrsten Sinne „salomonisch“.129 Umgehend wurde angesichts der „Unzulänglichkeit“ des Reichskonkordats aber auch über die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit eines „Rahmenkonkordats“ des Bundes spekuliert.130 In dem Konzert der Urteilsinterpreten finden sich natürlich auch umgehend würdigende Stellungnahmen Prälat Böhlers131 und von Adolf Süsterhenn, deren Urteilsauslegungen wiederum in anderen Publikationsorganen widersprochen wurde. Süsterhenn moniert, dass das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil „eine Kluft zwischen dem föderalistischen Verfassungssystem und dem internationalen Vertragssystem, zwischen Staatsrecht und Völkerrecht“ aufreiße.132 Süsterhenn vermisst „Rechtslogik und Rechtsethik“ in der Entscheidung, da durch sie eine „eigenartige Lage“ geschaffen worden sei.133 Die katholischen Friesenhahn (Fn. 110), S. 151 (176 ff.) = Geiger (Fn. 111), S. 75 (106 ff.). So die vielzitierte Charakterisierung von Christoph Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, in: M. Jestaedt u.a., Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundsverfassungsgericht, 2011, S. 9 (29). Zur Person Geiger jetzt auch Manfred Görtemaker/Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, 2016, S. 291–296. 128 FAZ vom 27. März 1956. 129 Hans Schuster, Konsequenzen eines Urteils, Süddeutsche Zeitung vom 29. März 1957. 130 Hansjakob Stehle, Das Schicksal des Reichskonkordats, FAZ vom 28. März 1957. 131 Neben Artikeln in Zeitungen siehe auch Böhler (Fn. 7 ), S. 178 (insbes. 185 ff.). 132 Adolf Süsterhenn, Ungelöster Widerspruch. Föderalismus und Völkerrecht im Karlsruher Konkordatsurteil, Rheinischer Merkur – Nr. 21 – vom 24. Mai 1957, S. 4. 133 Süsterhenn schreibt: „Man könnte diese reichlich verworrene Situation bildhaft etwa wie folgt 126 127
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Vertreter sahen sich in der misslichen Lage, dass sie den ersten Teil der Entscheidungsbegründung, die die Fortgeltung des Reichskonkordats betrifft, stärker in den Vordergrund rücken mussten, um den zweiten Teil, der die Option zur Durchsetzung dieser Rechtsposition letztlich „amputiert“, kompensieren zu können. Es verwundert insofern nicht, dass Prälat Böhler nach dem Konkordatsurteil eine „ernste Situation“ erkennt, die die katholische Bevölkerung aufgefordert sein lässt, weiter um ihr Recht zu kämpfen.134 Böhler kritisiert wie Süsterhenn u.a. den „schwer verständlichen Gedankensprung“ in der Entscheidungsbegründung,135 der Bund und Länder vor neue Probleme und Aufgaben stelle. Hierbei argumentiert Böhler mit einem gewissen Pathos, um die Pflichtigkeit der Länder metajuristisch zu unterstreichen.136 Böhler akzentuierte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die ihm als „unmöglich“ erschien, im Weiteren eher politisch, um die Verbindlichkeit der Reichskonkordats hervorzuheben.137 Insgesamt zeigte Böhler letztlich damit auch seinen Pragmatismus, der ihn bei aller Beharrlichkeit und Entschiedenheit bei seinen Lebensthemen Reichskonkordat, Elternrecht, Schulwesen im Allgemeinen wie Bekenntnisschule im Besonderen seit seiner politischen Tätigkeit in Bonn auch immer wieder ausgezeichnet hat.138 Es verwundert nicht, dass die Diskussion um und über das Reichskonkordat und die damit möglicherweise verbundenen schulpolitischen Strukturentscheidungen eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Besprechungen des Konkordatsurteils auslösen mussten.139 Nicht verwunderlich ist die Behandlung des Konkordatsurteils speziumschreiben: Das Bundesverfassungsgericht hat dem seinerseits zur Vertragserfüllung und den Ländern gegenüber zur Vertragsdurchsetzung bereiten Bund die innerstaatliche Berechtigung abgesprochen, sozusagen als Gerichtsvollzieher aus einem rechtskräftigen, in materieller und formeller Hinsicht als voll gültig in Ordnung befundenen Schuldtitel gegen die Länder als die durch das Konkordat verpflichteten Mitschuldner oder Erfüllungsgehilfen die Vollstreckung zu betreiben. Ein anderer Gerichtsvollzieher als der Bund dürfte aber schwer zu finden sein. Auch das Bundesverfassungsgericht nennt keine andere Vollstreckungsinstanz. Wenn aber ein Gericht dem einzig in Betracht kommenden Gerichtsvollzieher das Tätigwerden verbietet, verhindert es damit nicht praktisch selbst die Verwirklichung des von ihm ausdrücklich anerkannten Rechts? Ist eine solche Haltung nicht höchst unbillig und praktisch unbefriedigend? Wie lässt sich ein solches Ergebnis mit den Forderungen der Rechtslogik und Rechtsethik in Einklang bringen?“ 134 Insbesondere den Beitrag Wilhelm Böhler, Zur Karlsruher Entscheidung über das Reichskonkordat, Echo der Zeit – Nr. 14 – vom 7. April 1957, S. 7. 135 Bund und Länder vor einer neuen Aufgabe: Prälat Böhler zum Konkordatsurteil – Arbeitstagung des Kölner Diözesanführungskreises, KNA – Nr. 106 – vom 6. Mai 1957, S. 3 (= KNA/PD – 57/V/37). 136 So schreibt Böhler (Fn. 134): „Wenn die Länder für die Durchführung der Schulbestimmungen maßgebend sein sollen, dann übernehmen sie damit vor der deutschen Öffentlichkeit und vor der Welt die Verantwortung für die Vertragstreue. Und diese Verantwortung fällt zusammen mit der zweiten, ob sie das Elternrecht anerkennen und den katholischen Staatsbürgern das ihnen zukommende Recht in der weltanschaulichen Gestaltung des deutschen Schulwesens zusprechen wollen.“ 137 Böhler (Fn. 7 ), S. 178 (186): „Politisch aber ist das Schwergewicht der Gründe des Bundesverfassungsgerichts für die Gültigkeit des Konkordates so gewaltig, dass ein Politiker daran nicht vorbeikommen kann.“ 138 Exemplarisch lässt sich in diesem Sinn sein Beitrag in der FS Ehard (1957) lesen. 139 Hans-Joachim Becker, Zum Konkordatsurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: NJW 1957, 694– 697; ders., Die verfassungs- und schulrechtliche Bedeutung des Karlruher Konkordatsurteils, in: Katholischer Erzieher Aug./Sept. 1957, 404–409; ders., Ist das Reichskonkordat für die Länder nicht mehr verbindlich?, Kommunalpolitische Blätter 1957, 335–336; Rene Marcic, Das Karlsruher Konkordatsurteil, in: ÖJZ 1957, 254–258. Ferner Hermann Jahrreiß, Völkerrecht und Bonner Grundgesetz. Zur Argu-
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ell in katholischen Publikationsorganen wie der Zeitschrift Herder-Korrespondenz u.a.140 Unter der Vielzahl der rechtswissenschaftlichen Urteilbesprechungen ragt die kritische Würdigung des Freiburger Völker- und Staatsrechtlers Joseph H. Kaiser heraus.141 Sie bildet gleichsam, sicherlich nicht nur dem Umstand des Erscheinens in einer renommierten Zeitschrift geschuldet, den Schlusspunkt der zeitnahen, d.h. in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Urteilsverkündung stehenden Würdigungen dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Nach diesem Aufsatz, der sich zu einer der maßgeblichen Kritik-Referenzen entwickelte, wurde das Konkordatsurteil lediglich noch ab und an in wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten behandelt.142 Die Urteilsbesprechungen sind nahezu durchweg kritisch und beanstanden den inneren Bruch der Entscheidungsbegründung. Bemerkenswert sind die Distanzierungen, die die Richter Friesenhahn und Geiger vorgenommen haben. Friesenhahn distanzierte sich im Rahmen eines öffentlichen, später auch hektographiert verteilten Manuskripts von der widerspruchsvollen und unklaren Begründung des Gerichts,143 während Geiger es en passant als „schlimmste Deutung“ des Urteils apostrophiert, wenn man das Konkordatsurteil folgendermaßen lesen würde: Das Gericht „habe zunächst den Vätern des GG unredliche Doppelzüngigkeit unterschoben, weil sie die Frage der Verbindlichkeit des Konkordats ausdrücklich offen ließen (Art. 123 Abs. 2 GG) und gleichzeitig unausgesprochen mit Art. 7 GG die Verbindlichkeit der Schulbestimmungen eben desselben Konkordats beseitigten, und dann habe es selbst das Konkordat als gültig festgestellt und gleichzeitig den Ländern die Freiheit zugestanden, es als nicht existierend zu behandeln“.144 Die Meinungsdivergenzen innerhalb des Zweiten Senats blieben nicht nur unbemerkt, sondern mündeten teilweise auch in ein Plädoyer für die Publikation der abweichenden Meinungen.145 Am Konkordatsurteil lässt sich in Ansätzen auch ablesen, dass das Bundesverfassungsgericht sich institutionell in einem Spannungsfeld befindet und es in mehrfamentation des Bundesverfassungsgerichts im ‚Konkordats-Urteil‘, in: T. Maunz u.a. (Hrsg.), Staat und Bürger. Festschrift für Willibalt Apelt zum 80. Geburtstag, 1958, S. 159–170. 140 Anonym, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die völkerrechtliche und staatsrechtliche Geltung des Reichskonkordats, in: Herder-Korrespondenz 11 (1956/57), 389–399. Bei dem Verfasser handelt es sich, wie Konrad Repgen herausgefunden hat (Fn. 61, 201 [205 f. in Fn. 20]), um einen gewissen Karlheinz Schmidthüs, der mit Prälat Böhler gut bekannt gewesen zu sein schien. Weiterhin Günther Kraus, Zum Konkordatsurteil, in: Stimmen der Zeit 160 (1956/57), 343–352; Friedrich-August von der Heydte, Das Karlsruher Konkordatsurteil, in: Wort und Wahrheit 12 (1957), 341–348. 141 Kaiser (Fn. 6 ), 526–558. 142 Friedemann Pitzer, Die Weitergeltung des Reichskonkordats nach dem Bonner Grundgesetz, 1958; ferner Hellmut Friedrich Kruse, Das Verhältnis der rechtsetzenden Verträge des Völkerrechts zur inneren Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland und die Besonderheiten der Verträge zwischen Staat und Kirche. Eine kritische Betrachtung zum Konkordatsurteil des Bundesverfassungsgerichts, Diss. iur. Würzburg 1963. 143 Ernst Friesenhahn, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem Grundgesetz. Referat auf der Tagung der Görres-Gesellschaft in Salzburg am 30. September 1958, S. 20 ff. und passim. 144 Willi Geiger, Das Bund-Länder-Verhältnis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (II), in: BayVBl 1957, 337 (340). 145 Insbesondere i.d.S. Kaiser (Fn. 6 ), 526 (555 f.). Vgl. ferner Anonym (= Schmidthüs) (Fn. 140), 389 (390).
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cher Hinsicht ein Doppelantlitz trägt.146 Das Bundesverfassungsgericht ist verschiedensten institutionellen Logiken ausgesetzt: natürlich der Logik der Rechtsprechung, aber auch der Logik der Politik und des institutionellen Verhältnisses im Konzert der Verfassungsorgane und schließlich auch des föderalen Staatsauf baus.147 Diese Janusköpfigkeit lässt sich je nach Standpunkt als Stärke und als Schwäche interpretieren. Während einige Kommentatoren das Konkordatsurteil in einem positiven Sinne als „salomonisch“ qualifizierten, monierten andere, dass an die Stelle einer klaren und überzeugenden juristischen Entscheidung ein „juristisch verbrämter politischer Kompromiss“ bzw. ein „Jein“ gesetzt worden sei.148 An diesem Kompromiss ist durchaus in einem politischen Sinne bemängelt worden, dass er einseitig zu Lasten der kirchlichen Seite ausgefallen sei.149 Über die rechtsdogmatischen Probleme des Konkordatsurteils – etwa die Annahme eines dreigliedrigen Bundesstaatsbegriffs150 oder die Differenzierung zwischen überkommenen und übernommenen Verpflichtungen151 – lässt sich ebenso trefflich streiten wie über die Interpretation des Art. 123 Abs. 2 GG oder die Bedeutung des Grundsatzes der Bundestreue, wobei auffällt, dass die rechtmäßige Transformation des Reichskonkordats in innerstaatliches Recht so gut wie kaum problematisiert worden ist. Die juristisch-formale Argumentation wird im Gegensatz zur aktuellen verfassungsgeschichtlichen Behandlung des Ermächtigungsgesetzes und dessen Auswirkungen auf die Kontinuität von Rechtsbestimmungen in den Urteilsanmerkungen so gut wie kaum beanstandet. Auffällig an den ganzen Diskussionen über die Fortgeltung und das Inkraftbleiben des Reichskonkordats ist, wie sehr dies in einem gesamtstaatlich wahrgenommenen außenpolitischen Verpflichtungszusammenhang gesehen wird: Reputation und Verlässlichkeit der noch jungen Bundesrepublik Deutschland werden geradezu paradigmatisch an dieser staatskirchenvertraglichen Abmachung des mit der Bundesrepublik identischen Deutschen Reiches und des Heiligen Stuhls festgemacht. Hohe Symbolkraft wurde gerade dem Reichskonkordat im Kontext der deutschen Teilung zugemessen und dies nicht zuletzt auch hinsichtlich von Gebietsanteilen jenseits der Oder-Neiße-Linie. Diese mit dem Reichskonkordat verbundene Qualifizierung als „gesamtdeutsche Klammer“ sollte sich – was noch anzudeuten ist – in den Jahren der Entspannungspolitik als Diskussionspunkt herauskristallisieren, ohne dass dies aber in einem vergleichbaren Maße wie bei der Schulfrage zu öffentlichen Konflikten geführt hätte.
Dazu allgemein Schönberger, Anmerkungen (Fn. 127), S. 9 (50 ff.). Näher Schönberger, Anmerkungen (Fn. 127), S. 9 (51). 148 So von der Heydte (Fn. 140), 341 (344); ders., Die katholische Kirche in Deutschland und das Konkordatsurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeitschrift für Politik 4 (1957), 203, sieht darin ein „Abstellen auf totes Gleis“. 149 Anonym (= Schmidthüs) (Fn. 140), 389 (395 f.): „Im ganzen wird man mit gutem Recht bezweifeln können, ob der Kompromiss, als der die Entscheidung angesprochen wird, wirklich ‚weise‘ und ‚begrüßenswert‘ ist. Die Opfer, die bei einem Kompromiss von beiden Partnern gebracht werden müssen, sind doch wohl sehr einseitig einem Partner, nämlich dem Heiligen Stuhl (und damit den deutschen Katholiken), aufgelastet.“ (Ebda., 395). 150 Ausführlich Kaiser (Fn. 6 ), 526 (529 ff.). 151 Marcic (Fn. 139), 254 (257 f.). 146 147
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IV. Das Konkordatsurteil als Zäsur Mit dem Konkordatsurteil des Bundesverfassungsgerichts endete in gewissem Sinn die Weimarer Konkordatsära. Damit begann aber noch nicht unmittelbar die „zweite Phase“ des katholischen Konkordatsrechts, nachdem vorher die zweite Generation des Staatskirchenvertragsrechts152 auf der evangelischen Seite bereits 1955 mit dem wegweisenden Loccumer Vertrag eingeläutet worden war. Aber es war der Keim zu einer gewissen Reföderalisierung des katholischen Staatskirchenvertragsrechts gelegt, wie das ganze Verfahren als ein „Prozess zur Effektuierung des grundgesetzlichen Föderalismus“ gesehen wurde.153 Die Beendigung der Weimarer Vertragsära führte über das Reichskonkordat wieder zurück zum Weimarer Weg der Länderkonkordate, ohne aber das Reichskonkordat in eine normative Bedeutungslosigkeit zu verbannen. Im staatskirchenrechtlichen Sinne konnte und sollte – auch unter veränderten Zuständigkeitsregelungen des Grundgesetzes – die Wechselbezüglichkeit von katholischem Bundes- und Landesstaatskirchenvertragsrecht fortgesetzt werden, wie sie in dem Reichskonkordat in Art. 2 zum Ausdruck gelangt. Dies führt dann, da das Konkordatsurteil die Fortgeltung des Reichskonkordats bejaht hat, dazu, dass diesem Vertragsinstrument eine dreifache Klammerfunktion zugeschrieben werden kann: Es gilt für die Materien der ausschließlichen Bundeszuständigkeit unmittelbar, für die Bundesländer, die über keine staatskirchenvertragsrechtliche Abmachung verfügen, kompensiert das Reichskonkordat diese Lücke und schließlich kommt ihm – gleichsam als Normreserve – subsidiäre Rechtswirkung zu für die Bundesländer, in denen ein katholischer Staatskirchenvertrag besteht.154
E. Fortwirken und Fortleben des Konkordatsurteils in der „alten“ Bundesrepublik seit den 1960er Jahren Die dem Konkordatsurteil – wohlwollend formuliert – inhärente Dialektik dürfte letzten Endes doch zur Abspannung der geradezu erhitzt geführten Diskussionen geführt haben. Wenn auch der „Spagat zwischen grundsätzlicher Fortgeltung und Anwendung im Konkreten“155 die perplexe Situation nur auf hob, aber nicht das Problem löste, so trat doch mit wohl eher wenigen Anlässen zu Irritationen eine Beruhigung ein. Wenn auch gut zwanzig Jahre später die argumentative Spannung der verfassungsgerichtlichen Argumentation eher als ein Schönheitsfehler betrachtet wurde,156 der sich durch neue Staatskirchenverträge/Konkordate weitestgehend kompensieren ließ, dürfte eine wirkliche Befriedung und kontinuitätsrechtliche Versöhnung mit dem Reichskonkordat erst in der Zeit nach der Wiedervereinigung 152 Zu der Generationentypik Michael Germann, Die Staatskirchenverträge der Neuen Bundesländer: Eine dritte Generation im Vertragsstaatskirchenrecht, in: Mückl (Hrsg.), Das Recht der Staatskirchenverträge, 2007, S. 91–114. 153 In diesem Sinn Gosewinkel, Adolf Arndt (Fn. 71), S. 487. 154 Peter Unruh, Religionsverfassungsrecht, 3. Aufl. 2015, Rn. 334. 155 Hamers, Die Rezeption des Reichskonkordates (Fn. 1), S. 24. 156 Rudolf Jestaedt, Fortwirkende Probleme des Reichskonkordates von 1933, in: Zieger (Hrsg.), Die Rechtsstellung der Kirchen im geteilten Deutschland. Symposium 1./3. Oktober 1987, 1989, S. 73 (79).
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eingetreten sein. Die Zeitläufte der 1960er bis 1980er Jahre waren durch Wandlungen geprägt, die zu einer veränderten Wahrnehmung und Handhabung der Konkordatsproblematik führten. Ohne Konflikte und streitige Auseinandersetzungen ging dies nicht. Mit dem plötzlichen Tod des politischen Präzeptors des Reichskonkordats Prälat Böhler im Jahr 1958 und wohl auch einem nicht unerheblichen Rückgang des Einflusses von Adolf Süsterhenn verlor der Schulkampf in einem gewissen Maße auch die Gesichter, die den Einsatz für Elternrecht und Bekenntnisschule repräsentierten. Aber auch der Stellenwert des katholischen Schulideals wurde heruntergestuft. Und es kam, da dürfte das Konkordatsurteil ein maßgeblicher Anstoß gewesen sein, zu Konvergenzen zwischen den Lagern: den strikten Bekenntnisschulforderern und denen, die einer strikt konfessionsfreien Staatsschule als Regelschule das Wort redeten. Einen kleinen Schubser gab das Bundesverfassungsgericht dabei vielleicht dadurch, dass es die Bekenntnisschule für nicht grundrechtswidrig qualifizierte.157
I. Das Abflauen rechtswissenschaftlicher Kontroversen Die rechtswissenschaftliche Behandlung des Reichskonkordats gerät nach dem Konkordatsurteil in weitgehend ruhigere Bahnen. Die Behandlung des Staatskirchenvertragsrechts – insbesondere der Konkordate mit dem Heiligen Stuhl – wird in größere und übergreifendere Kontexte gestellt. Hierfür steht insbesondere die Freiburger Habilitationsschrift von Alexander Hollerbach.158 Das Recht der Bekenntnisschule wird zwar weiterhin traktiert, aber die Hochzeit der wissenschaftlichen Behandlung dieses Themas war vorbei. Reformbestrebungen des öffentlichen Schulwesens Ende der 1960er Jahre und die damit verbundenen Änderungen des Konfessionsschulwesens fanden ihren Widerhall etwa in umfangreicheren, publizierten Gutachten159 oder einem größeren Festschriftenbeitrag eines ehemaligen Prozessbeteiligten.160 Die mit den schulrechtlichen Bestimmungen des Reichskonkordats verbundene Bekenntnisschulthematik wurde – vielleicht ganz im Sinn des Konkordatsurteils – der Rubrik politisch-pragmatische Lösungen überantwortet.
II. Politisch-rechtspraktische Konsequenzen Derartige politisch-pragmatische Lösungen erwiesen sich aber keineswegs als einfach zu beschreitende Verständigungswege. Die 1960er Jahre waren nicht nur ein Schauplatz gesamtgesellschaftlicher Veränderungen, sondern erforderten angesichts der BVerfGE 6, 309 (339 f.). Alexander Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, 1965. 159 Friedrich Müller, Schulgesetzgebung und Reichskonkordat, 1966; Werner Weber, Die Reichweite der Bekenntnisschulgarantie in Artikel 23 des Reichskonkordats (1968), in: ders., Staat und Kirche in der Gegenwart 1978, S. 287–310. 160 Mosler, (Fn. 3 ). 157
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Wandlungen im religiösen Feld auch Neuordnungen im Bereich des Staatskirchenrechts.161
1. Das Niedersachsenkonkordat 1965 Der Abschluss des Niedersachsenkonkordats fällt in die Schlussphase des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965). Die als inkonsistent kritisierte Entscheidungslogik des Konkordatsurteils, die dem Bund keine Möglichkeit gab, gegenüber den Ländern die Einhaltung der konkordatären Schulbestimmungen einzufordern, veranlasste die beiden zuständigen Kontrahenten Heiliger Stuhl und Bundesland Niedersachsen dazu, Vertragsverhandlungen aufzunehmen.
a) Schulfrage und prinzipielles Verhältnis von Staat und Kirche in Niedersachsen Das Niedersachsenkonkordat intendierte nicht bloß eine schiedlich-friedliche Lösung der Schulfrage, sondern eine vertragsrechtliche Neuumschreibung des Verhältnisses von Staat und Kirche in einem Bundesland.162 Nachdem das Land bereits mit dem Loccumer Vertrag 1955 neue Wege des Staatskirchenvertragsrechts beschritten hatte, drängte sich ein ähnlicher Weg – auch aus Gründen der Parität – mit der katholischen Kirche geradezu auf. So konfliktreich das Zustandekommen des Niedersachsenkonkordats – mit nicht wenigen dramatischen Wendepunkten wie z.B. einem Koalitionsbruch – gewesen war und die Landesregierung veranlasste, Werbekampagnen zu starten, um den Gegendemonstrationen politisch und argumentativ Paroli zu bieten,163 so harmonisch konnte vor zwei Jahren das „goldene Jubiläum“ begangen werden.164 Letztlich konnte die Bekenntnisschulfrage, die gut zehn Jahre vorher zu dem Konkordatsprozess führte, zu einem Ausgleich geführt werden, der entweder den Bestand gewährleistete oder die Neueinrichtung an die Willensbildung in der Elternschaft band und sich letztlich durchaus in den bereits durch Art. 23 Reichskonkordat vorgespurten Pfaden bewegte. Dieser Ausgleich wurde ermöglicht, weil der Heilige Stuhl veranlasst werden konnte, nicht rigide kirchliche Positionen einzufordern, sondern sich flexibel den regionalen Bedingungen anzupassen.165 Zum schleichenden Obsoletwerden der Koordinationslehre instruktiv wissenschaftsgeschichtlich Hans Michael Heinig, Die Göttinger Wissenschaft vom Staatskirchenrecht 1945–1969: Von der Koordinationslehre zu freien Kirchen unter dem Grundgesetz, in: ders., Die Verfassung der Religion, 2014, S. 425–455. 162 Grundlegend nach wie vor Ernst Gottfried Mahrenholz, Das Niedersächsische Konkordat und der Ergänzungsvertrag zum Loccumer Vertrag, in: ZevKR 12 (1966/67), 217–282. Ferner ebenfalls mit Beteiligtenkenntnis Johannes Niemeyer, Kirche und Staat nach dem Konkordat in Niedersachsen, in: Ordo Socialis, Heft 5/6 1965. 163 Einen Eindruck von der Stimmungslage vermitteln die in der Publikation Material- und Nachrichtendienst der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Kampf um das Konkordat in Niedersachsen 1965, 15. Jg., Nr. 118 (1966), zusammengestellten Unterlagen. 164 Katholisches Büro Niedersachsen (Hrsg.), Staat und Kirche in Niedersachsen. 50 Jahre Niedersachsenkonkordat, 2015. 165 Besonders eindrucksvoll der kleine Bericht als Zeitzeuge und Beteiligter von Ernst Gottfried Mah161
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Dass dieses Entgegenkommen der katholischen Kirche schwer gefallen ist, lässt sich an einem Brief des damaligen Nuntius an den Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz nach Konkordatsabschluss ablesen, der hervorhob, dass das Niedersachsenkonkordat kein Modell, sondern eine Ausnahme sei.166 Ungeachtet dessen befriedete das Niedersachsenkonkordat die Fortgeltungsproblematik des Reichskonkordats derart, dass sie vertragsrechtlich festgeschrieben worden ist. Damit war ein Weg für vergleichbare vertragliche Fortgeltungsanerkenntnisse vorgezeichnet, die bis in die jüngste Vergangenheit hinein Modell einer Problemlösung geworden sind.
b) Niedersachsenkonkordat, Parteien und katholische Kirche Angedeutet sei noch kurz ein anderer Aspekt: Der Beginn der Vertragsverhandlungen 1961 und der Abschluss des Niedersachsenkonkordats 1965 besitzen eine parteipolitische Komponente, die das Verhältnis von katholischer Kirche zur SPD im Sinne einer „Annäherung“ betrifft.167 Auch hier spielt die Person Adolf Arndt eine nicht unwesentliche Rolle, die den Weg zum Godesberger Programm und der Destruktion der sozialdemokratischen Gegnerschaft zur Bekenntnisschule als Parteidoktrin den Weg bahnte.168 Der Aspekt „Wandel durch Annäherung“ manifestierte sich in diesem Themenbereich, indem auf beiden Seiten gewisse ideologische Spitzen abgeschliffen wurden, oder genauer gesagt: damit begonnen wurde, diese abzuschleifen. Das katholische Unwohlsein selbst nach Konkordatsschluss war sicherlich dem Verstricktsein in überkommenen Ordnungs- und Idealvorstellungen geschuldet. Die Annäherung war ein Prozess, aber dieser Prozess ist durch das Niedersachsenkonkordat in Gang gesetzt worden. Zu Hilfe kamen dabei sicherlich auch veränderte Zeitläufe und innerkirchliche Wandlungen, für die exemplarisch wie paradigmatisch das Zweite Vatikanische Konzil steht.
2. Christliche Gemeinschaftsschule Baden-Württemberg – aus einer Konkordatsfrage wird kein Konkordatsfall Die Schulreform des Bundeslandes Baden-Württemberg im Jahr 1967 intendierte einen grundlegenden Umbau des Schulwesens in diesem Bundesland und betraf auch evangelische und katholische Bekenntnisschulen.169 Dieses Gesetzesvorhaben, das nach Auffassung des Heiligen Stuhls, eine „schwerwiegende und offenkundige Verletzung“ des Reichskonkordats bedeutete, veranlasste den Apostolischen Nuntius renholz, „Dass wir uns da nicht vertun“. Einige Erinnerungen an die Entstehung des Konkordats, in: Katholisches Büro Niedersachsen (Fn. 164), S. 75–79. 166 Publiziert ist das Schreiben von Nuntius Erzbischof Bafile an Kardinal Frings vom 4. Oktober 1965 in: KNA-Dokumentation Nr. 30/9. Oktober 1965. 167 Dazu etwa Rainer Hering, Die Kirchen als Schlüssel zur politischen Macht? Katholizismus, Protestantismus und Sozialdemokratie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte 51 (2001), 237–266 (insbes. 249). 168 Umfassend Gosewinkel, Adolf Arndt (Fn. 71), S. 557–579. 169 Nähere Darstellung bei Paul Feuchte, in: ders. (Hrsg.), Verfassung des Landes Baden-Württemberg, 1987, Art. 15 Rdn. 1–10.
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Erzbischof Bafile bei dem Bundesminister des Auswärtigen Willy Brandt zu intervenieren.170 Die Vertreter wiesen darauf hin, dass der baden-württembergische Gesetzentwurf „viel konkordatswidriger“ sei als der niedersächsische Gesetzentwurf von 1954.171 Der Nuntius hob hervor, dass die Schulbestimmungen und die Regelungen zur Lehrerausbildung für die Kirche die „wichtigsten“ Bestimmungen seien, gegenüber denen, die anderen Konkordatsregelungen von nachrangiger Bedeutung seien.172 Der Nuntius verknüpfte bei diesem Gespräch die konkrete Schulfrage mit der Beachtung des Konkordats als „gesamtdeutscher Klammer“, die den Vatikan bis dato auch davon abhielt, territoriale Veränderungen durchzuführen oder Personalernennungen vorzunehmen. Der Außenminister nahm diesen Protest zur Kenntnis und erwiderte zum einen, dass er keinen Zusammenhang zwischen dem Problem der Ostgebiete und der Schulfrage in Baden-Württemberg sehe, zum anderen, dass ihm keine juristischen Druckmittel zu Gebote stehen, das Land zur Einhaltung der Konkordatsbestimmungen zu verpflichten. Der Außenminister sicherte zu und veranlasste, dass auf die Einhaltung des Konkordatsrechts hingewiesen wurde.173 Der große, vom Landtag mit überwältigender Mehrheit beschlossene Schulkompromiss vom 8. Februar 1967 veränderte die Landesverfassung und normierte in Art. 15 Abs. 1 LVerf BaWü, dass die öffentlichen Volksschulen die Schulform der christlichen Gemeinschaftsschule nach dem Modell der Badischen Simultanschule haben. In diesem Schulkompromiss kam demnach eine „bedeutsame Mitgift Badens“ für das Landesschulverfassungsrecht zur Geltung.174 Die Reichskonkordatskompatibilität sollte seinerzeit dadurch sichergestellt werden, dass die bestehenden staatlichen Bekenntnisschulen in Südwürttemberg-Hohenzollern in staatsfinanzierte private Bekenntnisschulen umgewandelt werden durften (Art. 15 Abs. 2 LVerf BaWü).175 Im Übrigen blieben wissenschaftliche Rechtsmeinungen zur (unmittelbaren) Verpflichtung des Landes gegenüber dem Heiligen Stuhl praktisch und politisch wirkungslos.176 Die Schulreform in Baden-Württemberg im Jahr 1967, zehn Jahre nach dem Konkordatsurteil, belegt einerseits, dass der Bund durchaus die Vertragstreue halten wollte und auf das Land zurückhaltend und die Kulturhoheit achtend formal einzuwirken suchte. Das ehedem kritisierte Konkordatsurteil fungierte nunmehr als Handlungsmaßstab dafür, dass es Politikfelder gebe, in denen die Bundestreue nicht eingefordert werden könne.177 Andererseits wird deutlich, dass sich in dem zurückliegenden Zeitraum Wesentliches geändert hat. Dass aus der Konkordatsfrage letztlich kein großer Instruktiv die Aufzeichnungen des Ministerialdirigenten Truckenbrodt über dieses Gespräch am 17. Januar 1967, abgedruckt in: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1967, Bd. I (1998), S. 129–133. 171 Ebda., S. 130 f. 172 Ebda., S. 132 f. 173 Ebda., S. 133 mit näherer Darstellung in Fn. 17. 174 Alexander Hollerbach, Fragen zum Schulrecht in Baden-Württemberg, in: Rill (Hrsg.), Im Dienst der Sache. Liber amicorum für Joachim Gaertner, 2003, S. 327 (328). 175 Feuchte (Fn. 169), Art. 15 Rdn. 25. 176 Dazu und zur Wirkungslosigkeit des Art. 8 LVerf BaWü bei der Änderung des Art. 15 näher Alexander Hollerbach, in: Feuchte (Fn. 169), Art. 8 Rdn. 10 f. 177 Exemplarisch der umfassende Zeitungsartikel von Ernst Müller-Meiningen jr., Bundestreue – einmal nicht erforderlich. Das Konkordatsurteil des Bundesverfassungsgericht aus dem Jahr 1957 wird zu wenig beachtet, in: Süddeutsche Zeitung – Nr. 102 – vom 29./30. April/1. Mai 1967, S. 8. 170
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Konkordatsstreit wurde, wird vielleicht auch daran gelegen haben, dass sich die kirchliche Seite angesichts sozial-religiöser Veränderungen, aber auch der angedeuteten Lehrmodifikationen durch das Zweite Vatikanische Konzil (s.o. unter B.I.1.) damit arrangierte, dass das katholische Bildungs- und Schulleitbild seine Erfüllung nicht allein in der staatlichen Bekenntnisschule finden muss.
3. Außenpolitik – Deutschland als Ganzes Die Bedeutung und die Funktion des Reichskonkordats als „gesamtdeutsche Klammer“ blieb auch dann noch von subtiler, nicht sonderlich öffentlich diskutierter Relevanz, als die Schulfragen schon entspannter gesehen wurden. Der Rekurs auf das Reichskonkordat lag demnach nicht nur im bloß kircheneigenen Interesse. Staatlicherseits war die Fortgeltung des Reichskonkordats ein Rechtssymbol auch für deutschlandpolitische Argumentationen, die Deutschland „als Ganzes“ betrafen. Das Reichskonkordat fungierte gleichsam als gesamtdeutsches „Rechtsdenkmal“. Diese Funktion wurde diskutabel, als es sowohl auf staatlicher als auch auf vatikanischer Seite zu Änderungen in der Ostpolitik kam.178 Die mittlerweile publizierten „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“ gewähren einen Einblick in die Zusammenhänge, in denen das Reichskonkordat unterhalb der Schweller öffentlicher Wahrnehmbarkeit eine Rolle spielte. Die Themenkreise betreffen Kirchenverwaltungsfragen in den „polnisch besetzten Gebieten“179 oder dem DDR-Gebiet180. Eine nähere Auswertung dieser Dokumente soll an dieser Stelle unterbleiben. Die Subjektsidentität der Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich181 und die durch das Konkordatsurteil festgestellte Geltung des Reichskonkordats erwies sich als eine bei Vertragsschluss nicht intendierte Vertragsfunktion, die zwar mit dem Staat-Kirche-Verhältnis verknüpft ist, aber doch auch eher nur eine Begleiterscheinung war, die nunmehr mit der Wiederherstellung der deutschen Einheit und der veränderten gesamteuropäischen Lage Geschichte ist.
III. Der Konkordatsprozess als Anstoß geschichtswissenschaftlicher Aufarbeitung Die größte Bedeutung dürfte dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 1957 – worauf zu Recht der amerikanische Historiker Mark Edward Ruff hinweist – hinsichtlich der historischen Aufarbeitung zukommen. Der Konkordatspro178 Siehe dazu Dieter Blumenwitz, Zur Bedeutung des Reichskonkordats für die Neuregelung der Diözesen in den Oder-Neiße-Gebieten durch den Hl. Stuhl, in: Just u.a. (Hrsg.), Recht und Rechtsbesinnung. Gedächtnisschrift für Günther Küchenhoff (1907–1983), 1987, S. 185–193; ferner Wilhelm A. Kewenig, Hat der Vatikan gegen Regeln des Völkerrechts verstoßen?, in: DIE WELT vom 21. Juli 1972 – Nr. 167 -, S. 8. Zum Kontext siehe weiterhin Hans Maier, Bemerkungen zur vatikanischen Ostpolitik 1958–1978, in: Kästner u.a. (Hrsg.), Festschrift für Martin Heckel zum siebzigsten Geburtstag, 1999, S. 151–157. Sowie Roland Cerny-Werner, Vatikanische Ostpolitik und die DDR, 2011. 179 Vgl. Akten zur Auswärtigen Politik 1967, Bd. I (1998), S. 325 ff. 496 ff.; Bd. II, 1998, S. 723 f., 773 ff. 180 Akten zur Auswärtigen Politik 1967, Bd. II, 1998, S. 760 ff. 181 BVerfGE 77, 137 (155).
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zess war die unbeabsichtigte Initialzündung für die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit von Kirche und Nationalsozialismus. Aus diesem juristischen Prozess resultieren wichtige Anstöße zur zeitgeschichtlichen Erforschung.182 Dies war nach der Feststellung sicherlich nicht final intendiert, zumal das Gericht gerade die Fortgeltung dieses Staatskirchenvertrags in den Urteilsgründen, wenn auch nicht im Tenor, festgestellt hatte. Im Vergleich mit der Vielzahl und dem Umfang geschichtswissenschaftlicher Untersuchungen oder Editionen von Dokumenten zur Geschichte des Reichskonkordats bzw. des Konkordatsurteils lässt ein Vergleich mit juristischen Abhandlungen diese als eher kümmerlich dastehen. Mit Hans Peters gab es sogar einen Staatsrechtler und am Konkordatsprozess Beteiligten, der ein Skeptiker kritischer zeitgeschichtlicher Aufarbeitung war.183 Der junge Historiker Konrad Repgen, der selbst durch eine Vielzahl von Veröffentlichungen gerade zur Geschichte des Reichskonkordats und auch des Konkordatsprozesses hervorgetreten ist, vertrat demgegenüber die unzweideutige Forderung: „Die Wahrheit will und muss ans Licht.“184 Es ist hier nicht der Ort, all die Editionsvorhaben, die von der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn betreut worden sind und entweder unmittelbar die Geschichte des Reichskonkordats betreffen oder zumindest mittelbar damit zusammenhängen, weil sie Material zur Geschichte des Katholizismus in Deutschland zusammentragen, welches die Regelungsmaterien des Reichskonkordats betreffen, aufzuzählen. An all diesen Dokumentationen, die den Zeitraum der 1940/50er Jahre betreffen, ließe sich der zentrale Stellenwert des Konkordats gerade in den Bildungsfragen ablesen. Die durch den Konkordatsprozess und das Konkordatsurteil mit ausgelösten historischen Kontroversen betreffen weniger staatskirchenvertragsrechtliche Fragestellungen im engeren Sinn als die „genetische Last“185 dieses Vertragsinstruments. Hierbei erfolgt eine gewisse Konzentration auf Kausalitäten oder Bedingungszusammenhänge zwischen Reichskonkordat und Ermächtigungsgesetz.186 Andere Ansätze versuchen die Spielräume oder auch Zwangslagen vatikanischer Politik auszuloten.187 Die Protagonisten einer der Hauptkontroversen, die als eine der spannendsten Historikerstreite der Nachkriegszeit gilt und mittlerweile selbst historisiert wird, waren der evangelische Kirchenhistoriker Klaus Scholder und der katholische Historiker Kon182 Ruff, ‚Katholische Kirche im Dritten Reich‘ (Fn. 9 ), S. 25 (insbes. S. 34–36, 38). Ferner ders., Claryfying Present and Past: the Reichskonkordat and Drawing Lines between Church and State in the Adenauer Era, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 106 (2012), 257–279. 183 Vgl. Ruff, ‚Katholische Kirche im Dritten Reich‘ (Fn. 9 ), S. 25 (28). 184 Dazu Ruff, ‚Katholische Kirche im Dritten Reich‘ (Fn. 9 ), S. 25 (26). 185 Hollerbach (Fn. 8 ). 186 Überwiegend wird ein derartiger Zusammenhang – in juristischen Publikationen – als nicht nachweisbar angenommen, vgl. Heinrich de Wall/Stefan Muckel, Kirchenrecht, 4. Aufl. 2014, § 19 Rdn. 44; a.A. aber Johannes Wasmuth, Zum Engagement des Vatikans für das Zustandekommen des Reichskonkordats mit dem NS-Regime und seine Folgen für die Ansprüche der römisch-katholischen Kirche auf vermögensrechtliche Wiedergutmachung, in: Märker/Otto (Hrsg.), Festschrift für Weddig Fricke zum 70. Geburtstag, 2000, S. 202 ff. 187 Siehe aus dem neueren Schrifttum nur Thies Schulze, Spielräume und Zwangslagen vatikanischer Politik. Zum Reichskonkordat 80 Jahre nach der Unterzeichnung, in: Stimmen der Zeit 231 (2013), 457–468. Eher selten sind die Detailanalysen von einzelnen Konkordatsbestimmungen, speziell zu Art. 31 und 32 siehe aber – aus Sicht des Historikers – Becker (Fn. 47), 353–393.
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rad Repgen.188 Die sog. Scholder-Repgen-Kontroverse sowie andere Erklärungsansätze – wie die angebliche Affinität des Katholischen zu autoritären Regimen – sollen hier im Einzelnen nicht referiert und reflektiert werden. Dass der Abschluss des Reichskonkordats kritisiert werden kann, ist unbenommen.189 Ebenso ist das Diktum Konrad Repgens diskutabel, ob das Reichskonkordat eine „vertragsrechtliche Form der Nichtanpassung der katholischen Kirche an das Dritte Reich“190 war oder nicht.191 Sämtliche historische Kontroversen sind „gerichtete Wahrnehmungen“ (Ludwik Fleck). Sichtungen und Analysen des Aktenmaterials werden zu unterschiedlich kritischen und differenzierten historischen Beurteilungen führen, so dass geschichtswissenschaftlich Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit sich letzten Endes nur auf heben lässt in einer Pluralität der Deutungsansätze.192 Der nicht bestrittene Prestigeerfolg des Konkordatsschlusses für das nationalsozialistische Regime muss aber nicht zwangsläufig das gesamte Vertragswerk diskreditieren.
F. Konsensual-föderale Auf hebung der Konkordatsproblematik und Gegenwartsbedeutung des Reichskonkordats I. Das Reichskonkordat nach der Wiedervereinigung Schon zur Zeit der „alten Bundesrepublik“ bahnte sich das Modell des vertraglich vereinbarten Fortgeltungsanerkenntnisses an. Die Unentschiedenheit des Grundgesetzes und die möglichen aus dem Konkordatsurteil resultierenden Auslegungsprobleme wurden durch neue Verträge und deren Bezugnahme auf das Reichskonkordat kompensiert. Die Wiederherstellung der deutschen Einheit gab nicht nur den Anstoß für eine „dritte Generation“ von Staatskirchenverträgen, sondern ließ auch noch einmal die Fortgeltungsproblematik alter Staatskirchenverträge auf kommen. Für die 1990 dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beigetretenen östlichen Bundesländer war die Geltung des Reichskonkordats angesichts der unklaren Lage zu DDR-Zeiten193 keineswegs von Anfang an zweifelsfrei. Nach Art. 11 Einigungsvertrag hat die Bundesrepublik Deutschland alle völkerrechtlichen Verträge der bisherigen Bundesrepublik Deutschland für Gesamtdeutschland verbindlich erklärt. Da durch das Konkordatsurteil nicht nur die völkerrechtliche Qualität des Reichskonkordats festge Hubert Wolf, Reichskonkordat für Ermächtigungsgesetz? Zur Historisierung der Scholder-Repgen-Kontroverse über das Verhältnis des Vatikans zum Nationalsozialismus, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), 169–200. 189 Eine ebenso knappe wie konzise Zusammenfassung solcher Kritikpunkte findet sich bei Matthias Stickler, Kollaboration oder weltanschauliche Distanz? Katholische Kirche und NS-Staat, in: Hummel/ Kißener (Hrsg.), Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, 2009, S. 83 (90– 93). 190 Konrad Repgen, Über die Entstehung der Reichskonkordats-Offerte im Frühjahr 1933 und die Bedeutung des Reichskonkordats. Kritische Bemerkungen zu einem neuen Buch, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 26 (1978), 499 (533). 191 Siehe das differenzierte, aber Repgen im Ergebnis bestätigende Résumé bei Stickler, Kollaboration (Fn. 189), 83 (99). 192 So Wolf (Fn. 188), 169 (200). 193 Dazu nur Hamers, Die Rezeption des Reichskonkordates (Fn. 1), S. 39 ff. 188
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stellt worden war, sondern auch seine Geltung als staatskirchenvertragsrechtliche Gesamtregelung, ist das Reichskonkordat eindeutig unter den Art. 11 Einigungsvertrag zu subsumieren,194 so dass der völkerrechtliche Grundsatz der beweglichen Vertragsgrenzen oder andere rechtskonstruktive Ansätze195 nicht zwingend bemüht werden mussten.196 Der Bund war in dieser Hinsicht auch zur Wahrnehmung derjenigen Angelegenheiten befugt, die Ländersache sind.197 Im Übrigen wurde der bereits durch die bundesrepublikanische Praxis vor 1989 vorgespurte Weg des kontraktuellen Fortgeltungsanerkenntnisses mit einigen Unterschieden und Nuancierungen weiter verfolgt. Während einige Katholische Kirchenverträge eher vorsichtig waren und die Formel „unter Berücksichtigung des in Geltung stehenden Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich vom 20. Juli 1933“, soweit es die Länder bzw. das Bundesland bindet, wählten198, sprachen andere in der Präambel dezidiert von „der Anerkennung der Fortgeltung“199.
194 Wolfgang Rüfner, Deutsche Einheit im Staatskirchenrecht, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 26 (1992), 60 (63); ders., Geltung des Reichskonkordats, des Preußischen Konkordats und des Preußischen Kirchenvertrags im Beitrittsgebiet in: Becker u.a. (Hrsg.) Festschrift für Werner Thieme zum 70. Geburtstag, 1993, S. 343 (346 f.). 195 Z.B., dass das Reichskonkordat für das Gebiet der ehemaligen DDR gar nicht förmlich außer Kraft gesetzt, sondern allenfalls nicht angewendet worden ist und mit der Wiederherstellung der Deutschen Einheit diese Phase des rechtlichen Ruhens beendet sei. Vgl. Hollerbach (Fn. 8 ), in: HdbStKirchR Bd. I, 1994, S. 253 (264). Zur Diskussion der verschiedenen Aspekte siehe die Darstellung bei Christian Halm, Die Errichtung des Erzbistums und der Kirchenprovinz Hamburg durch Vertrag vom 22. September 1994, 2000, S. 81–83. 196 Vgl. zu den Diskussionen Johannes Depenbrock, NVwZ 1992, 736 ff.; Stefan Korta, Der Katholische Kirchenvertrag Sachsen, 2001, S. 85–89; Gabriele M. Ehrlich, Der Vertrag des Apostolischen Stuhls mit dem Land Sachsen-Anhalt, S. 108–112. 197 Siehe Depenbrock (Fn. 196), 736 (737); Rüfner (Fn. 194), 60 (63). Sehr kritisch demgegenüber Ludwig Renck, Die neuen Bundesländer und das Reichskonkordat, NVwZ 1994, 770 f. 198 Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und den Ländern Sachsen-Anhalt, Brandenburg und dem Freistaat Sachsen über die Errichtung des Bistums Magdeburg vom 13. April 1994 (GVBl. Brandenburg I 1994, S. 203; AAS 87 [1995], S. 129); Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Brandenburg sowie dem Freistaat Sachsen über die Errichtung des Bistums Görlitz vom 4. Mai 1994 (GVBl. Brandenburg I 1994, S. 215; AAS 87 [1995], S. 138); Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Brandenburg vom 12. November 2003 (GVBl. Brandenburg I 2004, S. 224; AAS 96 [2004], S. 625); Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Freien Hansestadt Bremen vom 21. November 2003 (GBl. Bremen 2003, S. 152; AAS 96 [2003], S. 45); Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Sachsen vom 2. Juli 1996 (SächsGVBl. 1997, S. 18; AAS 89 [1997], S. 613); Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Sachsen-Anhalt vom 15. Januar 1998 (GVBl. LSA 1998, S. 161; AAS 90 [1998], S. 470); Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Thüringen über die Errichtung des Bistums Erfurt vom 14. Juni 1994 (GVBl. Thüringen 1994, S. 791; AAS 87 [1995], S. 145); Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Thüringen v. 11.6.1997 (GVBl. Thüringen 1997, S. 266; AAS 89 [1997], S. 756). 199 Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Freien und Hansestadt Hamburg, dem Land Mecklenburg-Vorpommern und dem Land Schleswig Holstein über die Errichtung von Erzbistum und Kirchenprovinz Hamburg vom 22. September 1994 geschlossen (HmbGVBl. I 1994, S. 31; AAS 87 [1995], S. 154). Ebenso der Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Mecklenburg-Vorpommern vom 15. November 1997 (GVBl. M-V 1998, S. 3 ; AAS 90 [1998], S. 98) und der Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Freien und Hansestadt Hamburg vom 29. November 2005 (HmbGVBl. 2006, S. 436; AAS 98 [2006], S. 825).
Sechzig Jahre Konkordatsurteil des Bundesverfassungsgerichts
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II. Die Folgen des Konkordatsurteils und die Gegenwärtigkeit des Reichskonkordats in der Zukunft Wenn das Konkordatsurteil heute vor allem immer wieder in Publikationen thematisiert wird, die sich dem grundgesetzlichen Bundesstaatsprinzip oder dem Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens zuwenden,200 dann zeigt sich daran, dass das Konkordatsurteil eine allgemein-föderale Stoßrichtung besitzt und speziell auch ins Bewußtsein gehoben hat, dass die grundgesetzliche Ordnung von Staat und Kirche, an die verfassungsrechtliche Zuständigkeits- und Kompetenzordnung gekoppelt ist, die mitunter zentral ist (z.B. bei Angelegenheiten, die in der Zuständigkeit des Bundes liegen, wie etwa die Militärseelsorge), aber eben auch durch föderale Dezentralität geprägt ist, wie gerade die Auseinandersetzungen über Reichskonkordat und Schulkampf gezeigt haben. Die List des Konkordatsurteils liegt darin, die kompetenzielle Abschichtung deutlich gemacht zu haben. Gerade in der Reföderalisierung bestimmter Sachgebiete wie des Schulwesens hat das Konkordatsurteil auf lange Sicht beruhigend gewirkt. Diese Wirkung konnte es vor allem deshalb entfalten, weil sich synchron dazu das religiöse Feld des Katholischen wandelte und altüberkommene Bastionen geschliffen wurden. Die Konfessionalität des staatlichen Schulwesens war nicht mehr der Konfessionsmarker und das maßgebliche Distinktionsmerkmal. Dies entlastete das Reichskonkordat insgesamt. Soweit die Fortgeltung des Reichskonkordats zur Würdigung ansteht, wird man unschwer in Rechnung stellen müssen, dass die Regelungsmaterien im Einzelnen heterogen und einiges sehr zeitgebunden ist. Das Reichskonkordat nimmt aber mit der Bestimmung des Art. 18 Bezug auch auf noch unerledigte verfassungsrechtliche Gebote wie die Ablösungsproblematik nach Art. 140 GG/138 Abs. 1 WRV.201 Das Reichskonkordat ist letztlich ein gemischter Vertrag, der sich nicht einfach der einen oder anderen Seite kompetenzrechtlich zuordnen lässt,202 dessen Regelungsaktualität mitunter unterschiedlich ausfällt und immer auch noch eine Referenz als Norm reserve darstellt, etwa wenn ein Bundesland keine staatskirchenvertragliche Ab machung mit der katholischen Kirche unterhält oder die Sachfrage nicht geregelt wurde. 200 Etwa Hartmut Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 104, 144, 180. Ferner Stefan Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 217 ff. 201 Zur Regelungskonzeption eines bundesgesetzlichen „Vorspurens“ und des konkordatären Einvernehmens siehe Jens Reisgies, „Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf “ – Zum Grundsätzegesetz gem. Art. 140 GG i.V.m. Art. 138 Abs. 1 S. 2 WRV, in: ZevKR 58 (2013) 280–302; die Regelung des Art. 18 Reichskonkordat erstreckt sich aus Paritätsgründen auch auf die evangelische Kirche. 202 Siehe – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Gegenwartbedeutung die eingehende Analyse sämtlicher Vorschriften bei Listl (Fn. 4 ), S. 309 (316 ff.); siehe auch Hamers, Rezeption des Reichskonkordates (Fn. 1), S. 73 ff. Eine interessante Analyse ist die Unterscheidung der Bestimmungen danach, ob es sich um staatliche oder kirchliche Zugeständnisse handelt, so Franz T(ibor) Hollós, Staatskirchenrecht, 1948, S. 85–122. In diesem Zusammenhang lässt sich auch die sehr eigenwillige Interpretation des Reichskonkordats aus der Sicht des Kanonisten Barion anführen, der den Abschluss des Reichskonkordats als Niederlage des nationalsozialistischen Staates gegenüber dem kurialen Verhandlungspartner ansah. Ausführlich dazu – unter Einschluss eines bis jetzt nicht publizierten Gutachtens von Hans Barion – Thomas Marschler, Kirchenrecht im Bannkreis Carl Schmitts. Hans Barion vor und nach 1945, 2004, S. 154 ff. (und ebda., S. 197 ff. der Text des Gutachtens „Das Reichskonkordat staatskirchenrechtlich und kirchenpolitisch betrachtet“, 1933).
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Die Eskalation der Schulfrage in dem Konkordatsstreit 1955–1957 basierte auf starken, milieubedingten Standpunkten. Diese Schulfrage war ein Vehikel für weltanschaulich geprägte, politische Auseinandersetzungen. Eine Pointe der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen dürfte wohl darin liegen, dass sich das Gericht nicht zum Vollstreckungsorgan einer Seite instrumentalisieren ließ, sondern die sachgeprägte Streitigkeit zur Lösung an die Kontrahenten zurückverwies. Was den Schulsektor anbelangt gibt es zwar bis in die jüngste Zeit immer wieder Auseinandersetzungen z.B. zu Bekenntnisschulen in Nordrhein-Westfalen (vgl. Art. 12 LVerf NRW),203 aber auch entsprechende, sich in gesetzgeberische Maßnahmen niederschlagende befriedende politische Einigungen. War in der Weimarer Zeit der Streit prägend, ob die Bekenntnisschule die Regel sein solle oder die Gemeinschaftsschule, lässt sich bis in die neueste Zeit nachweisen, dass das Verhältnis der Schularten untereinander beständiger Quell von Kontroversen sein kann.204 Das Konkordatsurteil hat zwar die Schulkontroversen nicht gelöst, aber den Anstoß zu schiedlich-friedlichen, kooperativ erarbeiteten Lösungen gegeben, bei denen die Akteure sich in einem gewissen Umfang als flexibel und anpassungsfähig zeigen mussten und sollten. Dem zu Hilfe kamen gesamtgesellschaftliche und kirchliche Veränderungsprozesse, die allzu große Starrheiten auch inhaltlich zu überwinden halfen. Wenn heute das Reichskonkordat gleichwohl beständiger Anlass zur Kritik ist, liegt dies an seiner genetischen Last. Aber diese kann durchaus produktiv gewendet werden. Tradition, Zeitgebundenheit und erforderliche Anpassungsflexibilität sind eine im Verhältnis von Staat und Kirche, Staat und Religion ständig präsente Herausforderung und Spannungseinheit. Es gibt Konflikte, diese lassen sich aber auch lösen. Dies staatskirchen(vertrags)rechtlich durchaus forciert zu haben und dabei die Qualität des deutschen Religionsverfassungsrecht als „Mehrebenrecht“ sichtbar gemacht zu haben,205 dürfte nicht die geringste Folge des Konkordatsurteils sein.
203 Dazu nur Jörg Ennuschat, in: Löwer/Tettinger (Hrsg.), Kommentar zur Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2002, Art. 12 Rdn. 24 ff. 204 In der Variante Vorrang staatlicher Schulen vor Privaten dazu etwa Hermann Avenarius, Die Herausforderung des öffentlichen Schulwesens durch private Schulen. Aktuelle Rechtsfragen in einer angespannten Beziehung. Gutachten für der Max-Traeger-Stiftung/GEW, Mai 2011. 205 Hinnerk Wißmann, Religionsverfassungsrecht im föderalen Mehrebenensystem, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd. III, 2012, § 60 Rdn. 1 ff.
„Finanzprivatsphäre“ in Deutschland Der verfassungsrechtliche Schutz persönlicher Informationen wirtschaftlicher und finanzieller Natur in der Bundesrepublik von
Rechtsanwalt Dr. Valentin M. Pfisterer, Frankfurt am Main Inhalt I. Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatheit – gilt er auch für deren wirtschaftliche und finanzielle Dimension? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 II. Konzeptionelle Erwägungen zur Idee einer „Finanzprivatsphäre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 1. Informationshoheit im Rechtsstaat: Individual- und Institutionenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 2. Bankgeheimnis: Individual- und Institutionenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 3. Persönliche Informationen wirtschaftlicher und finanzieller Natur als „ultimative persönliche Realität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 III. „Finanzprivatsphäre“ im Grundgesetz: Grund und Grenzen ihres verfassungsrechtlichen Schutzes . 401 1. Herleitung und Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 a) Der Schutz der Privatsphäre durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 b) Das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 c) Das Flick-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und der verfassungsrechtliche Schutz persönlicher Informationen wirtschaftlicher und finanzieller Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 2. Grenzen des verfassungsrechtlichen Schutzes der „Finanzprivatsphäre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 a) Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit der Person als Grenze des verfassungsrechtlichen Schutzes der „Finanzprivatsphäre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 b) Ambivalenzen im verfassungsgerichtlichen Schutz der (Finanz-)Privatsphäre . . . . . . . . . . . . 405 c) Der begrenzte verfassungsrechtliche Schutz des Bankgeheimnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 IV. Der (begrenzte) Schutz der „Finanzprivatsphäre“ durch das Bundesverfassungsgericht am Beispiel der automatisierten Kontoabfrage und des Ankaufs „gestohlener“ Steuer-CDs . . . . . . . . . . . . . . . . 407 1. Die automatisierte Abfrage von Kontoinformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 a) Entwicklungslinien der gesetzlichen Befugnis zur Kontoabfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 b) Das Bundesverfassungsgericht zur Kontoabfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 c) Die Kontoabfrage-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als Abkehr vom Volkszählungsurteil? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 2. Der Ankauf „gestohlener“ Steuer-CDs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 a) Rechtsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
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b) Das Bundesverfassungsgericht zur strafprozessualen Verwertbarkeit „gestohlener“ Steuer-CDs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 c) Die Steuer-CD-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als weitere Abkehr vom Volkszählungsurteil? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 V. „Finanzprivatsphäre“ – Quo vadis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
I. Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatheit – gilt er auch für deren wirtschaftliche und finanzielle Dimension? „Privacy is like obscenity: the Justices might not be able to say what privacy is, but they know it when they see it.“1 Dieser bei Rubenfeld gefundene Satz bringt pointiert auf den Punkt, was anders nur schwer zu beschreiben ist: Der Begriff der Privatheit ist vielschichtig, nur schwer greif bar und einer abschließenden Definition kaum oder gar nicht zugänglich.2 Angesichts dessen verwundert es nicht, dass das Theorieangebot zu Begriff und Konzept der Privatheit schon allein in der Rechtswissenschaft – besonders im US-amerikanischen Schrifttum – unüberschaubar ist.3 Begrifflich hat sich dabei zumindest in der deutschsprachigen Literatur eine Metaphorik des Raumes durchgesetzt: Sie kommt anhand von Konzeptionen zum Ausdruck, welche Privatheit mittels des Bildes eines Rückzugs- oder Entfaltungsraums4 beschreiben, oder – wohl am deutlichsten – anhand des verbreiteten Begriffes der Privatsphäre.5 Konzeptionell-inhaltlich haben sich Privatheitstheorien als besonders erfolgreich erwiesen, die mit der Privatsphäre einen Gegenstand, ein Schutzgut, beschreiben, das für die persönliche Entfaltung des Individuums besonders bedeutend, gleichsam konstitutiv, und daher besonders schützenswert ist.6 Allein über die Herleitung und Begründung, die Bestimmung und Umgrenzung dieses Gegenstands und Schutzguts – Privatheit und Privatsphäre – herrscht Uneinigkeit.7 Belange wie Sexualität und sexuelle Orientierung, religiöse oder weltanschauliche Überzeugung und politische Gesinnung sowie bestimmte Räume wie das eigene Haus oder die eigene Wohnung gelten jedoch typischerweise als vom Gegenstand und Schutzgut Privatheit umfasst, Rubenfeld, Harvard Law Review 102 (1989), 737, 751. Vgl. EGMR, Urteil vom 16. Dezember 1992 [Niemietz] – 13710/88 – Rn. 29: „The Court does not consider it possible […] to attempt an exhaustive definition of the notion of ‚private life‘.“ Ähnlich Nebel, ZD 2015, 517. 3 Siehe statt aller Warren/Brandeis, Harvard Law Review 4 (1890), 193 ff.; Prosser, California Law Review 48 (1960), 383 ff.; Bloustein, New York University Law Review 39 (1964), 962 ff.; Gavison, Yale Law Journal 89 (1980), 421 ff.; Inness, Privacy, Intimacy, and Isolation, 1992; Whitman, Yale Law Journal 113 (2004), 1151 ff.; Buitelaar, German Law Journal 13 (2012), 171 ff.; Solove, Understanding Privacy, 2008. Siehe schließlich für die Idee einer Privatsphäre von Unternehmen Pfisterer, Unternehmensprivatsphäre, 2014. 4 Hohmann-Dennhardt, NJW 2006, 545: „Freiräume“ und „Privatheit als Entfaltungsraum“; Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hg.), GG, Stand: 78. EL/September 2016, Art. 2 Rn. 149 f.: „sachlich und räumlich definierte Rückzugsräume“. 5 Siehe auch zur sog. Sphärentheorie des BVerfG unten III.1 und – ausführlich – Di Fabio (Fn. 4 ), Art. 2 Rn. 157 ff. 6 Siehe die Darstellung gängiger Privatheitskonzeptionen bei Solove, California Law Review 90 (2002), 1088, 1099–1124. 7 Siehe die Gegenüberstellung bei Solove (Fn. 6 ), 1088, 1099–1124. 1 2
„Finanzprivatsphäre“ in Deutschland
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und ihre Schutzwürdigkeit und Schutz unter dem Gesichtspunkt der Privatheit ist weithin anerkannt.8 Jenseits davon werden häufig auch bestimmte Aspekte der wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse von Individuen wie etwa ihre Gehaltsund Kontodaten als privat angesehen.9 Ungeachtet der jeweiligen Herleitung und Begründung von Privatheit und deren Schutzwürdigkeit und Schutz scheint jedoch ein Konsens dahingehend zu bestehen, dass das Private sich generell auf dem Rückzug befindet. Beispielhaft hierfür stehen Werke, die vor dem „Ende der Privatsphäre“10 warnen oder es bereits beklagen.11 Die tatsächlichen Entwicklungen, welche dieser Wahrnehmung zugrunde liegen, sind mannigfaltig. Dazu zählen aber jedenfalls traditionell der Themenkomplex hoheitlicher Überwachung zum Zwecke der Gefahrenprävention, der Strafverfolgung und der Terrorismusbekämpfung12 sowie als recht junges Phänomen die freiwillige Veröffentlichung weiter Bereiche ihres Privatlebens durch die Nutzer sog. sozialer Netzwerke wie Facebook, Instagram und Twitter.13 Insbesondere im zuerst genannten Kontext hat das Bundesverfassungsgericht den Schutz typischer Erscheinungsformen und Ausprägungen von Privatheit, allen voran bestimmte „sachlich und räumlich definierte Rückzugsräume“14 und die „engere persönliche Lebenssphäre“15, gegenüber hoheitlichen Maßnahmen zur Gewährleistung von Sicherheit immer wieder selbstbewusst zum Tragen gebracht: Es hat die sog. präventive Rasterfahndung nur unter der Bedingung als verfassungsgemäß anerkannt, dass „eine konkrete Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person gegeben ist. Im Vorfeld der Gefahrenabwehr scheidet eine solche Rasterfahndung aus.“16 Eine sog. Online-Durchsuchung setzt nach dem Bundesverfassungsgericht voraus, dass „tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen. Überragend wichtig sind Leib, Leben und Freiheit der Person oder solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der
Besonders plastisch bei den von Solove als Personhood- und Intimacy-basiert bezeichneten Privatheitskonzeptionen (ders. [Fn. 6 ], 1088, 1116 ff. und 1121 ff.), siehe statt aller Bloustein (Fn. 3 ), 962 ff., insb. 971 ff. („individuality“, „dignity“, „personality“); Rubenfeld (Fn. 1), 737 ff., insb. 770 („identity“) und Inness (Fn. 3 ), 56 („intimacy“). Ferner Warren/Brandeis (Fn. 3 ), 193, 205 („inviolate personality“). 9 Solove (Fn. 6 ), 1088, 1152: „[O]ur financial records are commonly understood as private matters“; siehe ferner Kleiman, North Western University Law Review 86 (1991), 1169, insb. 1176 ff.; Schultz, University of Cincinnati Law Review 67 (1998/99), 779, insb. 797 ff. 10 Schaar, Das Ende der Privatsphäre, 2007. 11 Rubenfeld, Stanford Law Review 61 (2008/09), 101 ff.; Solove, Scientific American 299 (2008), 100 ff.; Whitaker, The End of Privacy, 1999. 12 Dazu statt aller Whitaker (Fn. 11) sowie freilich der literarische Klassiker „Nineteen Eighty-Four“ von George Orwell (1949). 13 Dazu statt aller Hohmann-Dennhardt (Fn. 4 ), 545, 548–49; Solove (Fn. 11), 100 ff. sowie der Roman „The Circle“ von Dave Eggers (2013). 14 So bei Di Fabio (Fn. 4 ), Art. 2 Rn. 149 f. Siehe auch beispielhaft noch einmal die Raummetaphorik bei Hohmann-Dennhardt (Fn. 4 ), 545 ff. 15 Di Fabio (Fn. 4 ), Art. 2 Rn. 151 ff. 16 BVerfG, Beschluss vom 4. April 2006 [Rasterfahndung] – 1 BvR 518/02 – BVerfGE 115, 320 (1. Leitsatz). 8
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Menschen berührt.“17 Überdies ist sie „grundsätzlich unter den Vorbehalt richterlicher Anordnung zu stellen.“18 Auch die Abfrage und die Nutzung von Telekommunikationsdaten im Rahmen der sog. Vorratsdatenspeicherung sind laut Bundesverfassungsgericht nur dann mit dem Grundgesetz vereinbar, „wenn sie überragend wichtigen Aufgaben des Rechtsgüterschutzes dienen. Im Bereich der Strafverfolgung setzt dies einen durch bestimmte Tatsachen begründeten Verdacht einer schweren Straftat voraus. Für die Gefahrenabwehr und die Erfüllung der Aufgaben der Nachrichtendienste dürfen sie nur bei Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für eine gemeine Gefahr zugelassen werden.“19 Ferner hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Einrichtung und der Betrieb einer gemeinsamen Antiterrordatei von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten mit Blick auf den grundgesetzlichen Privatheitsschutz „gesteigerten verfassungsrechtlichen Anforderungen [unterliegt].“20 Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht auch die dem Bundeskriminalamt durch das Bundeskriminalamtsgesetz gewährten Eingriffsbefugnisse teilweise für grundgesetzwidrig erklärt: Danach müssen „Befugnisse, die tief in das Privatleben hineinreichen, […] auf den Schutz oder die Bewehrung hinreichend gewichtiger Rechtsgüter begrenzt sein, setzen voraus, dass eine Gefährdung dieser Rechtsgüter hinreichend konkret absehbar ist, dürfen sich nur unter eingeschränkten Bedingungen auf nichtverantwortliche Dritte aus dem Umfeld der Zielperson erstrecken, verlangen überwiegend besondere Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung sowie einen Schutz von Berufsgeheimnisträgern, unterliegen Anforderungen an Transparenz, individuellen Rechtsschutz und aufsichtliche Kontrolle und müssen mit Löschungspflichten bezüglich der erhobenen Daten flankiert sein.“21 Vor allen Dingen hat sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Bemühen um den Schutz der typischen Erscheinungsformen und Ausprägungen von Privatheit gegenüber hoheitlichen Maßnahmen zur Gewährleistung von Sicherheit häufig besonders originell und kreativ gezeigt: So hat es etwa unter (zurückhaltend ausgedrückt) loser Anknüpfung an den Verfassungstext entschieden, dass das Allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ 17 BVerfG, Urteil vom 27. Februar 2008 [Online-Durchsuchung] – 1 BvR 370/07 und 1 BvR 595/07 – BVerfGE 120, 274 (2. Leitsatz). 18 BVerfG, Urteil vom 27. Februar 2008 (Fn. 17) (3. Leitsatz). 19 BVerfG, Urteil vom 2. März 2010 [Vorratsdatenspeicherung] – 1 BvR 256/08 u.a. – BVerfGE 125, 260 (5. Leitsatz). Die Vorratsdatenspeicherung und ihre Vereinbarkeit mit dem Grundrecht auf Achtung der Privatsphäre hat auch eine Europäische Dimension: Der Europäische Gerichtshof hat die sog. Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie aus dem Jahre 2006 (Richtlinie 2006/24/EG) in einer Entscheidung aus dem Jahre 2014 wegen Verstoßes gegen das (Europäische) Grundrecht auf Achtung der Privatsphäre und auf den Schutz personenbezogener Daten für ungültig erklärt, EuGH, Urteil vom 8. April 2014 [Digital Rights Ireland] – C-293/12 und C‑594/12 – EuZW 2014, 459 ff. Siehe ferner jüngst EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2016 [Tele2 Sverige AB] – C-203/15 und C-698/15 (curia. europa.eu). 20 BVerfG, Urteil vom 24. April 2013 [Antiterrordatei] – 1 BvR 1215/07 – BVerfGE 133, 277 (2. Leitsatz). 21 BVerfG, Urteil vom 20. April 2016 [BKA-Gesetz] – 1 BvR 966/09 u.a. – NVwZ 2016, 839 (1. Leitsatz).
„Finanzprivatsphäre“ in Deutschland
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umfasst22 und dass aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein „informationelles Trennungsprinzip“ folgt, wonach Daten zwischen Polizeibehörden und Nachrichtendiensten grundsätzlich nicht ausgetauscht werden dürfen.23 Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob die eingangs erwähnte wirtschaftliche und finanzielle Dimension der Privatheit nicht ebenso schützenswert und vom Grundgesetz geschützt ist wie die typischen Erscheinungsformen und Ausprägungen von Privatheit. Weiter fragt sich, ob das Bundesverfassungsgericht die wirtschaftliche und finanzielle Dimension der Privatheit auch so engagiert verteidigt wie jene anderen Erscheinungsformen und Ausprägungen der Privatheit. Dieser Beitrag will im Rahmen einiger konzeptioneller Erwägungen zunächst er- und begründen, dass und weshalb die wirtschaftliche und finanzielle Dimension der Privatheit ebenso schützenswert ist wie andere, typische Erscheinungsformen und Ausprägungen von Privatheit (II.). Anschließend weist er nach, dass das Bundesverfassungsgericht den Grundstein für einen prinzipiellen verfassungsrechtlichen Schutz der wirtschaftlichen und finanziellen Dimension der Privatheit durchaus (und zwar schon früh) gelegt hat (III.). Schließlich zeigt der Beitrag auf, dass das Bundesverfassungsgericht dieses in seiner älteren Rechtsprechung angelegte Schutzpotenzial jedoch in entscheidenden Fällen seiner jüngeren gerichtlichen Praxis – seinen Entscheidungen zur automatisierten Kontoabfrage und zum Ankauf „gestohlener“ Steuer-CDs – nur unzureichend entfaltet hat (IV.).
II. Konzeptionelle Erwägungen zur Idee einer „Finanzprivatsphäre“ Die Idee einer wirtschaftlichen und finanziellen Dimension der Privatheit, ja einer „Finanzprivatsphäre“, die besonderen verfassungsrechtlichen Schutz verdient, ist kein rechtlich vordefiniertes Konzept und zumindest bislang keine tradierte verfassungsrechtliche Kategorie. Dennoch lassen sich zumindest drei Begründungsstränge anführen, die für eine solche besondere verfassungsrechtliche Schutzwürdigkeit persönlicher Informationen wirtschaftlicher und finanzieller Natur streiten.
1. Informationshoheit im Rechtsstaat: Individual- und Institutionenschutz Ein erster Grund, weshalb persönliche Informationen finanzieller und wirtschaftlicher Natur wie Konto- und Depotdaten, EC- und Kreditkartendaten oder Finanztransaktionsdaten (wie z.B. Informationen über Zahlungsvorgänge) prinzipiell schutzwürdig sind, knüpft an deren Bezug zum Individuum (Konto- und Depotinhaber, Karteninhaber etc.) an und folgt aus einer grundsätzlichen, staats- und verfassungstheoretischen Erwägung: Soweit nach überkommener Staats- und Verfassungstheorie in einem Rechtsstaat die staatliche und die gesellschaftliche Sphäre kategorisch voneinander unterschieden werden 24, genügt bereits besagter Bezug von Daten BVerfG, Urteil vom 27. Februar 2008 (Fn. 17) (1. Leitsatz). BVerfG, Urteil vom 24. April 2013 (Fn. 20) (2. Leitsatz). 24 Siehe statt aller Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesell22
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zum Individuum, um in deren Integrität den Grundsatz und im hoheitlichen Zugriff auf diese die rechtfertigungsbedürftige Ausnahme zu erblicken. Ein an dieser Maßgabe ausgerichtetes Informationsverhältnis zwischen Staat und Bürger zeichnet sich dadurch aus, „dass der Staat zwar die Informationen erhält, die er nun einmal braucht, um das Gemeinwesen ordentlich zu verwalten, aber auch nur diese, weil ihn die Daten seiner Bürger auch nur in diesem Umfang etwas angehen.“25 Die Rolle des verfassungsrechtlichen Privat- und Datenschutzes manifestiert sich dabei im „Bestehen auf […] Anerkennung des Umstandes, dass auch der gemeinschaftsgebundene Bürger dem Staat keine umfassende Auskunft über sich und seine Lebensverhältnisse schuldet.“26 Dies gilt prima facie auch für die finanziellen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Bürgers. In den Worten des Bundesverfassungsgerichts in seiner FlickEntscheidung aus dem Jahre 1984: Die Teilnahme des Bürgers am staatlichen Leben und das legitime Bestreben seitens des Staats, den Bürger an dessen Aufrechterhaltung finanziell in verhältnismäßig gleichem Umfang zu beteiligen, rechtfertigen den Erlass von Gesetzen, die den Bürger dazu verpflichten, bestimmte Angaben über seine wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse zu machen.27 „Zugleich ergeben sich hieraus prinzipielle Grenzen für die Verwendung und Weitergabe solcher Angaben: Das gegenwärtige gesetzliche Abgabenrecht verpflichtet den Betroffenen, allein zum Zwecke der Besteuerung Angaben zu machen; zu einer Erhebung, Speicherung, Verwendung oder Weitergabe individualisierter oder individualisierbarer Daten zu anderen Zwecken ermächtigen die Steuergesetze grundsätzlich nicht.“28 Diese staats- und verfassungstheoretisch begründete Betrachtungsweise eröffnet die Perspektive für eine mehrdimensionale Zielrichtung des verfassungsrechtlichen Privat- und Datenschutzes, einschließlich des Schutzes der „Finanzprivatsphäre“: Indem der Bürger diesen Schutz in Anspruch nimmt, verfolgt er ein eigenes Integritätsinteresse (Individualschutz) und fordert damit zugleich – gleichsam als Reflex – vom Staat Selbstbeherrschung und -beschränkung, kurz: Rechtsstaatlichkeit, ein (Institutionenschutz).29 Privat- und Datenschutz einschließlich des Schutzes der „Finanzprivatsphäre“ sind hiernach zugleich „grundsätzliche Machtbegrenzung einerseits und andererseits konkreter Schutz des Individuums“.30
2. Bankgeheimnis: Individual- und Institutionenschutz Soweit nach dem oben Ausgeführten schon staats- und verfassungstheoretische Erwägungen für die Schutzwürdigkeit von Informationen über die wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse einer Person streiten, lässt sich aus dem Konzept des schaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973; ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976. Andere, differenzierende Theorien freilich u.a. bei Ehmke, Hesse und Häberle. 25 Widmaier, WM 2006, 116, 121. 26 Ibid., 116, 121. 27 BVerfG, Urteil vom 17. Juli 1984 [Flick-Ausschuss] – 2 BvE 11/83, 2 BvE 15/83 – BVerfGE 67, 100, 143. 28 Ibid., 100, 143. 29 In der Sache ebenso bei Fisahn, CR 1995, 633, 634. 30 Ibid., 633, 634. Pointiert zugespitzt bei Rubenfeld: „[T]he right to privacy has everything to do with delineating the legitimate limits of governmental power“ (ders. [Fn. 1], 737).
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Bankgeheimnisses speziell mit Blick auf Informationen, die aus der Geschäftsbeziehung zwischen einer Bank und ihren Kunden entstehen, ein weiteres Argument für die prinzipielle Schutzwürdigkeit der „Finanzprivatsphäre“ herleiten. Obwohl das Konzept des Bankgeheimnisses in der jüngeren Vergangenheit weltweit zunehmend in Misskredit geraten ist, genießen Informationen über die Kunden von Kreditinstituten unter dem Begriff des Bankgeheimnisses in vielen Jurisdiktionen noch immer eine privilegierte Vertraulichkeit.31 In der Bundesrepublik ist das Bankgeheimnis nicht ausdrücklich gesetzlich oder gar grundgesetzlich geregelt, sondern folgt aus der (rechts-)geschäftlichen Beziehung zwischen der Bank und ihrem Kunden.32 Dabei ist im Einzelnen umstritten, ob die sich daraus ergebende besondere Pflichtenstellung der Bank in einer (ungeschriebenen) vertraglichen (Neben-) Pflicht, in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen, in einem gesetzlichen Schuldverhältnis oder in Gewohnheitsrecht wurzelt.33 Ungeachtet der genauen dogmatischen Herleitung ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs „[d]as Verhältnis von Kreditinstituten zu ihren Kunden […] durch eine besondere Vertrauensbeziehung geprägt, die Interessenwahrungs-, Schutz- und Loyalitätspflichten begründet. Die Verpflichtung zur Wahrung des Bankgeheimnisses ist […] eine besondere Ausprägung der allgemeinen Pflicht der Bank, die Vermögensinteressen des Vertragspartners zu schützen und nicht zu beeinträchtigen.“34 Und Nr. 2 der AGB-Banken besagt, dass die Bank „zur Verschwiegenheit über alle kundenbezogenen Tatsachen und Wertungen verpflichtet [ist], von denen sie Kenntnis erlangt (Bankgeheimnis). Informationen über den Kunden darf die Bank nur weitergeben, wenn gesetzliche Bestimmungen dies gebieten oder der Kunde eingewilligt hat oder die Bank zur Erteilung einer Bankauskunft befugt ist.“35 Diese traditionelle besondere Vertraulichkeit unter dem Begriff des Bankgeheimnisses besteht jedoch nicht um ihrer selbst willen; vielmehr verfolgt auch sie laut Cahn einen doppelten Schutzzweck: „Der Kunde wird der Bank nur dann den für die Abwicklung von Bankgeschäften notwendigen Einblick in seine Vermögensverhältnisse gewähren, wenn er sicher sein kann, dass die Informationen dort vor dem Zugriff Dritter, insbesondere staatlicher Stellen, ähnlich sicher sind wie bei ihm selbst. […] In seiner Ausprägung als Zugriffsverbot verlängert das Bankgeheimnis also den Grundrechtsschutz des Kunden in die 31 Siehe etwa in Österreich § 38 Abs. 1 S. 1 des Bankwesengesetzes (BWG) und in der Schweiz Art. 47 Abs. 1 a) des Bankgesetzes (BankG). Dazu und zur schweizerischen Volksinitiative „Ja zum Schutz der Privatsphäre“ siehe Pfisterer, EuR 2016, 553, 561–562. 32 Cahn, WM 2004, 2041, 2042. 33 Vgl. Canaris, Bankvertragsrecht, Band 1, 3. Aufl., 1988, Rn. 42; Koberstein-Windpassinger, WM 1999, 473, 474–75 m.w.N.; Böhm, BB 2004, 1641, 1642; Nobbe, WM 2005, 1537, 1538 m.w.N.; Krepold, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hg.), Bankrechts-Handbuch, Band 1, 4. Aufl., 2011, § 39 Rn. 7–9 m.w.N.; Merz, in: Kümpel/Wittig (Hg.), Bank- und Kapitalmarktrecht, 4. Aufl., 2011, Rn. 6.115–117 m.w.N. 34 BGH, Urteil vom 24. Januar 2006 [Kirch/Deutsche Bank u. Breuer] – XI ZR 384/03 – NJW 2006, 830, 833–34; ebenso BGH, Beschluss vom 17. Oktober 2013 – I ZR 51/12 – BeckRS 2013, 19226, Rn. 22; BGH, Urteil vom 27. Februar 2007 – XI ZR 195/05 – NJW 2007, 2106, 2108; Herleitung ausdrücklich offengelassen indes bei BGH, Urteil vom 27. Oktober 2009 – XI ZR 225/08 – NJW 2010, 361, 362. 35 Dazu Bunte, AGB-Banken, 3. Aufl., 2011, Nr. 2 . Siehe auch BGH, Urteil vom 24. Januar 2006 (Fn. 34), 830, 833.
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Bank und gewährleistet damit zugleich eine Funktionsbedingung des Bankwesens.“36 Hieran manifestiert sich erneut, diesmal konkret anhand des Bankgeheimnisses, die mehrdimensionale Zielrichtung des Schutzes der „Finanzprivatsphäre“: Individualschutz für den Bankkunden, Institutionenschutz für das Bankwesen.37
3. Persönliche Informationen wirtschaftlicher und finanzieller Natur als „ultimative persönliche Realität“ Ein dritter Grund für die prinzipielle, vielleicht sogar besondere Schutzwürdigkeit persönlicher Informationen wirtschaftlicher und finanzieller Natur liegt in der besonders hohen Aussagekraft solcher Informationen. Denn der Einblick in die wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse einer Person ermöglicht es, weitreichende Erkenntnisse über diese Person zu erlangen, und erlaubt Rückschlüsse auf zahlreiche Aspekte und Bereiche ihres Lebens. Dies betrifft zunächst ganz unmittelbar die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Person, das heißt die Inhaberschaft von Konten und Depots, Vermögen und dessen Zusammensetzung, Einkünfte und Ausgaben. Diese Informationen geben aber ihrerseits mittelbar Auskunft über zahlreiche andere Eigenschaften und Verhältnisse dieser Person, das heißt jenseits ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse. So lässt sich anhand von Barabhebungen feststellen, wo sich die Person zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgehalten hat. Zahlungsein- und -ausgänge geben Aufschluss darüber, welche Produkte die Person gekauft und welche Dienstleistungen sie in Anspruch genommen hat. Regelmäßige Abbuchungen erlauben Rückschlüsse auf Wohnverhältnisse (Eigentum oder Miete, großzügig oder bescheiden), Freizeitpräferenzen (Zeitschriften-Abonnements, PayTV, Fitnessstudio-Mitgliedschaft), soziale Kontakte (Vereinsmitgliedschaft), ja sogar charakterliche Eigenschaften wie etwa das individuelle Sicherheitsbedürfnis (Versicherungen). Weiter deutet eine Sportvereins- oder Fitnessstudio-Mitgliedschaft auf ein gewisses Körper- oder Gesundheitsbewusstsein, das Abonnement eines erotischen Magazins auf die sexuelle Orientierung und das Abonnement einer politisch eindeutig positionierten Tageszeitung oder Zeitschrift auf die politische Orientierung hin. Der Erwerb von Kontaktlinsen oder die, zumal regelmäßige, Begleichung von Arztrechnungen können Hinweise auf mögliche Gebrechen geben.38 Nach Lusser bilden die wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse einer Person deshalb deren „ultimative persönliche Realität“.39 Dementsprechend ermöglicht es die Einsichtnahme in jene Verhältnisse, ein Abbild dieser persönlichen Realität zu zeichnen und auf diesem Wege ein Wissen über den Betroffenen zu erlangen, das in entsprechende Macht über diesen umschlagen kann.40
Cahn (Fn. 32), 2041, 2043. Vgl. auch Petersen, Das Bankgeheimnis zwischen Individualschutz und Institutionsschutz, 2005. 38 Siehe Kleiman (Fn. 9 ), 1169, 1176–1178 („The Importance of Financial Privacy“); Schultz (Fn. 9 ), 779, 797–799 („The Importance of Financial Privacy“). 39 Lusser, Einspruch! Warum unser Geld Privatsphäre verdient, 2014, 7. 40 Vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Juli 1984 (Fn. 27), 100, 142–143. 36 37
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III. „Finanzprivatsphäre“ im Grundgesetz: Grund und Grenzen ihres verfassungsrechtlichen Schutzes Das Bundesverfassungsgericht hat die prinzipielle Schutzwürdigkeit von Privatheit und Privatsphäre, einschließlich der „Finanzprivatsphäre“, früh erkannt, entsprechende Schutzgüter definiert und das Grundgesetz gegen deren Gefährdung in Stellung gebracht. Zumindest hinsichtlich der „Finanzprivatsphäre“ erweist sich die Intensität des so gewährten Schutzes jedoch angesichts dessen relativ großer Offenheit für hoheitliche Eingriffe von vornherein als begrenzt.
1. Herleitung und Grundlegung Das Grundgesetz kennt keinen ausdrücklichen Schutz der Privatsphäre, nicht einmal in seinem Grundrechtsteil (Art. 1 bis 19 GG). Insbesondere findet sich dort kein Grundrecht auf Achtung der Privatsphäre wie es in anderen Europäischen und außereuropäischen Verfassungen sowie in Art. 8 EMRK und Art. 7 EuGrCh verbürgt ist.41 Im Grundgesetz wird der Begriff „privat“ vielmehr nur als Abgrenzung von privat- gegenüber staatswirtschaftlichen Unternehmungen verwandt.42
a) Der Schutz der Privatsphäre durch das Bundesverfassungsgericht Gleichwohl steht die Privatheit nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter dem Schutz des Grundgesetzes.43 Als normativer Anknüpfungspunkt hierfür dienen ihm neben ausdrücklichen Spezialverbürgungen wie dem Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) oder der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) in erster Linie das „Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ aus Art. 2 Abs. 1 GG (sog. Allgemeine Handlungsfreiheit) sowie das von der höchst- und verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung entwickelte Allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.44 Letzterem entnimmt das Bundesverfassungsgericht wiederum eine Reihe von Spezialverbürgungen, darunter das Recht auf den Schutz der Privatsphäre und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.45 Mit dem Recht auf den Schutz der Privatsphäre soll dem Einzelnen ein „abgeschirmter Bereich persönlicher Entfaltung zur Verfügung stehen, in dem er Intimität 41 Maus, Der grundrechtliche Schutz des Privaten im europäischen Recht, 2007, S. 83 ff.; Pfisterer (Fn. 31), 553, 555–557. 42 Vgl. z.B. Art. 7 Abs. 4 und 5, Art. 74 Abs. 1 Nr. 11, Art. 87e Abs. 3, Art. 87f Abs. 2 und Art. 143a Abs. 1 GG. 43 Siehe schon allein die unter I. oben erwähnten Entscheidungen (Fn. 16 bis 21). 44 Di Fabio (Fn. 4 ), Art. 2 Rn. 12 ff. (zur Allg. Handlungsfreiheit) und 127 ff. (zum Allg. Persönlichkeitsrecht); Murswiek, in: Sachs (Hg.), GG, 7. Aufl., 2014, Art. 2 Rn. 42 ff. (zur Allg. Handlungsfreiheit) und 59 ff. (zum Allg. Persönlichkeitsrecht); Jarass/Pieroth, GG, 13. Aufl., 2014, Art. 2 Rn. 2 ff. (zur Allg. Handlungsfreiheit) und 36 ff. (zum Allg. Persönlichkeitsrecht). 45 Di Fabio (Fn. 4 ), Art. 2 Rn. 149 ff. und 173 ff.; Jarass/Pieroth (Fn. 4 4), Art. 2 Rn. 39 ff.
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wahren, sich dem Einblick des Staates und Dritter entziehen kann und sich nicht öffentlicher Kontrolle unterwerfen muss und den er selbst gestalten kann.“46 Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht drei „Sphären der Persönlichkeitsentfaltung mit verschieden starker Eingriffsresistenz“ definiert (sog. Sphärentheorie).47 „Hiernach schützt Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG einen ‚Kernbereich privater Lebensgestaltung‘ (= ‚Intimsphäre‘) absolut als unantastbar. […] Die nachgelagerte ‚Privatoder Geheimsphäre‘, die sich von der Intimsphäre in ihrem Sozialbezug unterscheidet, umschreibt einen Bereich, in dem Eingriffe zwar nicht generell ausgeschlossen sind, ihre Rechtmäßigkeit, namentlich ihre Verhältnismäßigkeit sich aber nach besonders strengen Vorgaben richtet. […] Der folgende ‚Öffentlichkeitsbereich‘ umschreibt einen das Persönlichkeitsrecht allenfalls tangierenden Bereich, der ohnehin von der Umwelt nicht abgeschirmt werden kann. Maßnahmen, die diesen Bereich betreffen, weisen – wenn überhaupt – nur eine geringe Belastungsintensität auf. Hier bestehen unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten die geringsten Rechtfertigungsanforderungen.“48 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wiederum gewährt dem Einzelnen die Befugnis, „grundsätzlich selbst über Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen“49 und richtet sich gegen jede Form der „Erhebung, schlichter Kenntnisnahme, Speicherung, Verwendung, Weitergabe oder Veröffentlichung von persönlichen – d.h. individualisierten oder individualisierbaren – Informationen.“50
b) Das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung In seiner als „Volkszählungsurteil“ bekannt gewordenen Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1983 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass das Allgemeine Persönlichkeitsrecht „auch die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen [umfasst], grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden […]. Diese Befugnis bedarf unter den heutigen und künftigen Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung in besonderem Maße des Schutzes.“51 Sie sei vor allem deshalb besonders gefährdet, weil personenbezogene Informationen im Abgleich mit anderen Informationen und ohne Kenntnis des Betroffenen zu einem „teilweise oder 46 Murswiek (Fn. 4 4), Art. 2 Rn. 69; vgl. Jarass/Pieroth (Fn. 4 4), Art. 2 Rn. 47 ff. sowie Di Fabio (Fn. 4 ), Art. 2 Rn. 149: „Dem Einzelnen wird ein Innenbereich freier Persönlichkeitsentfaltung garantiert, in dem er ‚sich selbst besitzt‘ und in den er sich frei von jeder staatlichen Kontrolle und sonstiger Beeinträchtigung zurückziehen kann.“ 47 Murswiek (Fn. 4 4), Art. 2 Rn. 104; vgl. auch Jarass/Pieroth (Fn. 4 4), Art. 2 Rn. 48 f. und 65; ausführlich Di Fabio (Fn. 4 ), Art. 2 Rn. 157 ff.; ferner Nebel (Fn. 2 ), 517, 518. 48 Di Fabio (Fn. 4 ), Art. 2 Rn. 158–160. 49 Ibid., Art. 2 Rn. 175. 50 Ibid., Art. 2 Rn. 176. 51 BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 [Volkszählung] – 1 BvR 209/83 u.a. – BVerfGE 65, 1, 42. Die Verbindung zum literarischen Klassiker „Nineteen Eighty-Four“ (vgl. Fn. 12) stellt Hufen her, siehe Hufen, JZ 1984, 1072 ff. („Das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts und das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung – eine juristische Antwort auf „1984“?).
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weitgehend vollständigen Persönlichkeitsbild zusammengefügt werden“ können.52 „Damit haben sich in einer bisher unbekannten Weise die Möglichkeiten einer Einsichtnahme und Einflussnahme erweitert, welche auf das Verhalten des Einzelnen schon durch den psychischen Druck öffentlicher Anteilnahme einzuwirken vermögen.“53 Wer aber nicht überblicken könne, welche seine Person betreffenden Informationen den Menschen seiner Umgebung bekannt seien, könne in seiner Freiheit, selbstbestimmt zu planen und zu entscheiden, wesentlich gehemmt werden.54 „Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß.“55 Wer sich nicht sicher sei, ob seine Verhaltensweisen jederzeit aufgezeichnet und dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben würden, werde versuchen, nicht durch abweichende oder sonst ungewöhnliche Verhaltensweisen aufzufallen.56 „Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.“57 Das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts gilt bis heute (gar über die Landesgrenzen hinaus) 58 als Leitentscheidung hinsichtlich des Schutzes personenbezogener Informationen im Allgemeinen und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im Besonderen, und das darin zum Ausdruck kommende Verständnis von der Schutzbedürftigkeit und dem Schutz personenbezogener Daten bildet bis heute den entscheidenden Maßstab für den verfassungskonformen Umgang mit solchen Daten.59
c) Das Flick-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und der verfassungsrechtliche Schutz persönlicher Informationen wirtschaftlicher und finanzieller Natur Der so vom Bundesverfassungsgericht in Aussicht gestellte Schutz der Privatsphäre und der informationellen Selbstbestimmung bleibt auch nicht bei den typischen Erscheinungsformen und Ausprägungen von Privatheit60 stehen. Vielmehr sind davon prinzipiell auch finanzielle, geschäftliche und sonst wirtschaftliche Angelegenheiten umfasst. In seinem Urteil zum Flick-Untersuchungsausschuss aus dem Jahre 1984 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass „[d]ie Geheimhaltung bestimmter steuerlicher Angaben und Verhältnisse, deren Weitergabe einen Bezug auf den Steuerpflichtigen oder private Dritte erkennbar werden lässt, […] durch eine Reihe BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 (Fn. 51), 1, 42. Ibid., 1, 42. 54 Ibid., 1, 43. 55 Ibid., 1, 43. 56 Ibid., 1, 43. 57 Ibid., 1, 43. 58 Vgl. Spiecker/Eisenbarth, JZ 2011, 167 ff. 59 Vgl. statt aller Hörauf, NVwZ 2015, 181, 184. Zur zuletzt von den Maßstäben des Volkszählungsurteils abweichenden Rechtsprechungsentwicklung siehe freilich unten IV.1.c) und IV.2.c). 60 Siehe dazu noch einmal oben I. und Fn. 14 und 15. 52
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grundrechtlicher Verbürgungen, insbesondere durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 14 GG, […] geboten sein [kann].“61 Die von einer Person gegenüber einer Steuerbehörde zu machenden Angaben erlaubten „weitreichende Einblicke in die persönlichen Verhältnisse, die persönliche Lebensführung (bis hin beispielsweise zu gesundheitlichen Gebrechen, religiösen Bindungen, Ehe- und Familienverhältnissen oder politischen Verbindungen) und in die beruflichen, betrieblichen, unternehmerischen oder sonstigen wirtschaftlichen Verhältnisse.“62 Durch ihre Erfassung, Speicherung und Abruf barkeit, so das Bundesverfassungsgericht, „ermöglichen sie demjenigen, der über diese Daten verfügt, ein Wissen außerordentlichen Ausmaßes über die Betroffenen, das unter den gegenwärtigen Lebensverhältnissen in entsprechende Macht über die Betroffenen umschlagen kann.“63 Konsequent – und im Einklang mit dem im Jahr zuvor gefällten Volkszählungsurteil – stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass das Allgemeine Persönlichkeitsrecht seinen Trägern einen „Schutz gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung oder Weitergabe der auf sie bezogenen, individualisierten oder individualisierbaren Daten“ gewähre.64
2. Grenzen des verfassungsrechtlichen Schutzes der „Finanzprivatsphäre“ Obgleich das Bundesverfassungsgericht schon früh die Gefahren erkannt hat, die mit der Speicherung, Übermittlung, sonstigen Verarbeitung und Nutzung persönlicher Informationen einschließlich solcher wirtschaftlicher und finanzieller Natur verbunden sind, sind dem an sich gebotenen und vom Bundesverfassungsgericht in Aussicht gestellten65 weitreichenden Schutz der „Finanzprivatsphäre“ recht enge Grenzen gezogen.
a) Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit der Person als Grenze des verfassungsrechtlichen Schutzes der „Finanzprivatsphäre“ Zwar ist das Allgemeine Persönlichkeitsrecht „als die von Art. 2 Abs. 1 GG garantierte Grundfreiheit“ zu verstehen, „die sich […] auf Grund zunehmender Nähe zum (absolut geschützten) Bereich des Art. 1 GG verstärkt.“66 Jedoch betont das Bundesverfassungsgericht schon in seinem Volkszählungsurteil, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung „nicht schrankenlos gewährleistet“ ist.67 Der Einzelne habe nicht ein Recht im Sinne einer absoluten, uneinschränkbaren Herrschaft über BVerfG, Urteil vom 17. Juli 1984 (Fn. 27), 100, 142. Ibid., 100, 142. 63 Ibid., 100, 142–143. 64 Ibid., 100, 143. 65 Vgl. noch einmal BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 (Fn. 51), 67, 1, 42: „Diese Befugnis bedarf unter den heutigen und künftigen Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung in besonderem Maße des Schutzes“ (Herv. d. Verf.). 66 Di Fabio (Fn. 4), Art. 2 Rn. 130; vgl. auch Murswiek (Fn. 44), Art. 2 Rn. 62 und Jarass/Pieroth (Fn. 4 4), Art. 2 Rn. 36. 67 BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 (Fn. 51), 1, 43. 61
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„seine“ Daten; er sei vielmehr eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit.68 Personenbezogene Information „stellt ein Abbild sozialer Realität dar, das nicht ausschließlich dem Betroffenen allein zugeordnet werden kann.“69 Das Grundgesetz habe die Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit der Person entschieden.70 „Grundsätzlich muss daher der Einzelne Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen.“71 Diese Interpretation hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Flick-Untersuchungsausschuss im Hinblick auf persönliche Informationen wirtschaftlicher und finanzieller Natur bestätigt: Danach darf der verfassungsrechtlich gewährleistete Schutz der Vertraulichkeit der Steuerdaten „im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden; die Einschränkung darf [ jedoch] nicht weiter gehen als es zum Schutze öffentlicher Interessen unerlässlich ist.“72
b) Ambivalenzen im verfassungsgerichtlichen Schutz der (Finanz-)Privatsphäre Zwar mag sich hinsichtlich des Schutzes persönlicher Informationen unter dem Blickwinkel des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung mit der „Nähe zum (absolut geschützten) Bereich des Art. 1 GG“73 dogmatisch eine „Verstärkung des Schutzes“74 begründen lassen, die gegebenenfalls im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zum Ausdruck kommt. Auch mögen die in den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zur Volkszählung und zum Flick-Untersuchungsausschuss aufgestellten Hürden („überwiegendes Allgemeininteresse“, „Verhältnismäßigkeit“, „zum Schutze öffentlicher Interessen unerlässlich“ – siehe oben) auf den ersten Blick hoch erscheinen. Und auch mögen die eingangs angeführten Entscheidungen75 unter dem Blickwinkel eines engagierten verfassungsgerichtlichen Privatheitsschutzes ermutigend wirken. Jedoch kann sich das tatsächlich gewährte Schutzniveau im Einzelfall – zumal im Zusammenhang mit persönlichen Informationen wirtschaftlicher und finanzieller Natur76 – als durchaus begrenzt erweisen: Denn ein dem Individualinteresse entgegenstehendes Allgemeininteresse ist regelmäßig schnell bei der Hand. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genügt als ein Allgemeininteresse, das zur Einschränkung grundrechtlich geschützter Positionen legitimiert, „grund Ibid., 1, 43–44. Ibid., 1, 44. Siehe im Vergleich hierzu noch einmal die Nuancierung bei Lusser (Fn. 39), 7: wirtschaftliche und finanzielle Verhältnisse einer Person als deren „ultimative persönliche Realität“ (Herv. d. Verf.). 70 BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 (Fn. 51), 1, 44 m.w.N. 71 Ibid., 1, 44. 72 BVerfG, Urteil vom 17. Juli 1984 (Fn. 27), 100, 143. 73 Di Fabio (Fn. 4 ), Art. 2 Rn. 130. 74 Murswiek (Fn. 4 4), Art. 2 Rn. 62; vgl. auch und Jarass/Pieroth (Fn. 4 4), Art. 2 Rn. 36. 75 Siehe noch einmal oben I. und Fn. 16 bis 21. 76 Dazu ausführlich unten IV. 68 69
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sätzlich jedes öffentliche Interesse, das verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen ist.“77 Und im Rahmen der Verhältnismäßigkeit billigt die verfassungsgerichtliche Judikatur insbesondere dem Gesetzgeber, besonders im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik, einen erheblichen „Beurteilungs- und Prognosespielraum“ zu und reduziert die selbst ausgeübte Kontrolle auf eine „Evidenzkontrolle“.78
c) Der begrenzte verfassungsrechtliche Schutz des Bankgeheimnisses Auch der verfassungsrechtliche Schutz persönlicher Informationen wirtschaftlicher und finanzieller Natur unter dem Blickwinkel des Bankgeheimnisses geht in seiner Intensität nicht über das oben Skizzierte hinaus. Die verfassungsrechtliche Anknüpfung des Bankgeheimnisses aus der Perspektive des Bankkunden (Individualschutz) ist zwar umstritten: Einige Stimmen in der Literatur erkennen darin eine Ausprägung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung.79 Danach ist der staatliche Zugriff auf Bankkundendaten nach Maßgabe der oben beschriebenen Anforderungen und Voraussetzungen zulässig.80 Vielfach wird das Bankgeheimnis jedoch als einfache Ausprägung der Allgemeinen Handlungsfreiheit angesehen mit der Folge, dass staatliche Eingriffe unter den Voraussetzungen der sog. Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG (Rechte anderer, verfassungsmäßige Ordnung, Sittengesetz; Verhältnismäßigkeit) zulässig sind, ohne dass der Bankkunde zusätzlichen Schutz durch Art. 1 Abs. 1 GG erführe.81 Dass das Bankgeheimnis neben dem Schutz des Bankkunden auch dem Schutz des Bankwesens dient (Institutionenschutz) und auch von Kreditinstituten mit der Berufsfreiheit nach Art. 12 GG subjektiv-rechtlich geltend gemacht werden kann82, ändert hieran nichts. Denn gemessen an der sog. Drei-Stufen-Theorie, die das Bundesverfassungsgericht im Anwendungsbereich des Art. 12 GG in ständiger Rechtspre77 BVerfG, Beschluss vom 4. November 2009 [Volksverhetzung] – 1 BvR 2150/08 – NJW 2010, 47, 52; siehe ferner Jarass/Pieroth (Fn. 4 4), Art. 20 Rn. 83a; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hg.), GG, Band 1, 6. Aufl., 2010, Art. 1 Rn. 276. 78 Sachs, in: Sachs (Hg.), GG, 7. Aufl., 2014, Art. 20 Rn. 153; Jarass/Pieroth (Fn. 4 4), Art. 20 Rn. 87 ff.; v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 77), Art. 1 Rn. 279–281. 79 Siehe z.B. Sichtermann, MDR 1965, 697 ff.; Weber, in: FS für Winfried Werner, 1984, 955, 961; Koberstein-Windpassinger, (Fn. 33), 473, 475–476. Der Europäische Gerichtshof scheint das Bankgeheimnis auf Europäischer Ebene im Recht auf Achtung der Privatsphäre (Art. 7 EuGrCh) und im Recht auf den Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 EuGrCh) zu verorten, siehe EuGH, Urteil vom 16. Juli 2015 (Coty) – C-580/13 – GRUR 2015, 894, 895 und 896. 80 Koberstein-Windpassinger (Fn. 33), 473, 475. 81 LG Kiel, Urteil vom 30. Juni 1982 – 10 O 72/82 – Iprax 1984, 146, 147; Canaris (Fn. 33), Rn. 36– 37 und 39; Cahn (Fn. 32), 2041, 2042 m.w.N. Uneinheitlich Nobbe (Fn. 33), 1537, 1538–39 („aus dem in Art. 2 Abs. 1 GG verbürgten Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und informationelle Selbstbestimmung“) und Krepold (Fn. 33), § 39 Rn. 5 –6 („Das in Art. 2 Abs. 1 GG verbürgte Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit umfasst danach auch einen verfassungsrechtlichen Schutz des Bankgeheimnisses. Darüber hinaus ist das Bankgeheimnis auch durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützt“); ähnlich unklar Fisahn (Fn. 29), 633, 634. 82 Nobbe (Fn. 33), 1537, 1539; Krepold (Fn. 33), § 39 Rn. 6 ; Canaris (Fn. 33), Rn. 38–39. Siehe jüngst zur Entsprechung auf Europäischer Ebene BGH, Urteil vom 21. Oktober 2015 [Coty] – I ZR 51/12 – NJW 2016, 2190, 2191: „Dabei ist in die Abwägung zu Gunsten der Bekl. [Bank] auch deren Recht auf Berufsfreiheit nach Art. 15 GRCh einzubeziehen.“
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chung zur Anwendung bringt, handelt es sich bei Eingriffen in das Bankgeheimnis aus der Perspektive der Kreditinstitute um Regelungen betreffend die Berufsausübung („Berufsausübungsregeln“ – im Gegensatz etwa zu „Berufszulassungsschranken“).83 Solche sind nach der Drei-Stufen-Theorie aber bereits zulässig, „soweit vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls es zweckmäßig erscheinen lassen; der Grundrechtsschutz beschränkt sich auf die Abwehr in sich verfassungswidriger, weil etwa übermäßig belastender und nicht zumutbarer Auflagen.“84 In der Folge sind, wie Canaris schon im Jahre 1988 beobachtet hat, „Eingriffe in das Bankgeheimnis […] grundsätzlich in verhältnismäßig weitem Umfang möglich.“85
IV. Der (begrenzte) Schutz der „Finanzprivatsphäre“ durch das Bundesverfassungsgericht am Beispiel der automatisierten Kontoabfrage und des Ankaufs „gestohlener“ Steuer-CDs Soweit nach alledem Grund und Reichweite, vor allen Dingen aber auch die Grenzen des verfassungsrechtlichen Schutzes der „Finanzprivatsphäre“ in abstracto deutlich geworden sind, soll dieser vorläufige Befund anhand zweier Episoden aus der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts der jüngeren Vergangenheit – der staatlichen Abfrage privater Bankkontendaten und des Ankaufs „gestohlener“ Bankkundendaten durch Finanzbehörden – plausibilisiert werden.
1. Die automatisierte Abfrage von Kontoinformationen Die Möglichkeit der automatisierten Abfrage von Kontoinformationen schuf der Gesetzgeber im Jahre 2003 durch das sog. Vierte Finanzmarktförderungsgesetz in Gestalt des § 24c des Kreditwesengesetzes (KWG).86 Nach der Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung sollte es ein „auf Konten und Depots bezogenes automatisiertes Abrufverfahren“ der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) ermöglichen, „die Geldwäsche, das illegale Schattenbankenwesen und das unerlaubte Betreiben von Bank- und Finanzdienstleistungsgeschäften besser durch zentral durchgeführte Recherchearbeiten zu bekämpfen.“87 Ferner sei eine solche Die Drei-Stufen-Theorie erstmals bei BVerfG, Urteil vom 11. Juni 1958 [Apothekenurteil] – 1 BvR 596/56 – BVerfGE 7, 377 ff.; ausführlich dazu Ipsen, Jus 1990, 634 ff.; Scholz, in: Maunz/Dürig (Hg.), GG, Stand: 78. EL/September 2016, Art. 12 Rn. 335 ff.; Mann, in: Sachs (Hg.), GG, 7. Aufl., 2014, Art. 12 Rn. 77 ff. und 125 ff.; Jarass/Pieroth (Fn. 4 4), Art. 12 Rn. 33 ff. und 40 ff.; Mansen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hg.), GG, Band 1, 6. Aufl., 2010, Art. 12 Rn. 125 ff. 84 BVerfG, Urteil vom 11. Juni 1958 (Fn. 83), 377, 378. Seither ständige Rechtsprechung des BVerfG, siehe statt aller BVerfG, Urteil vom 30. Juli 2008 [Rauchverbot] – 1 BvR 3262/07 – NJW 2008, 2409, 2411 m.w.N. 85 Canaris (Fn. 33), Rn. 39. 86 Achtelik, in: Boos/Fischer/Schulte-Mattler (Hg.), KWG/CRR-VO, 5. Auflage, 2016, § 24c Rn. 1; zum Gesetzgebungsverfahren Zubrod, WM 2003, 1210–1211. 87 Entwurf eines Gesetzes zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland (Viertes Finanzmarktförderungsgesetz), 18. Januar 2002, BT-Drucks. 14/8017 („Gesetzentwurf 2002“), 122; zum technischen Ablauf des Abrufverfahrens siehe Zubrod (Fn. 86), 1211–1213. 83
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Befugnis erforderlich, um „Transaktionen im Zahlungsverkehr“ zu erkennen, „die der Logistik des Terrorismus dienen und damit Verbindungen zur Geldwäsche aufweisen“.88 Seither müssen Kreditinstitute unter anderem die Konto- oder Depotnummer, den Tag der Errichtung bzw. Auflösung sowie den Namen und das Geburtsdatum des Inhabers und Verfügungsberechtigten (sog. Kontostammdaten) 89 in einer gesonderten Datenbank für mögliche Abfragen durch die BaFin bereithalten (§ 24c Abs. 1 S. 1 KWG).90 Diese wiederum darf gemäß § 24c Abs. 2 und 3 KWG zu eigenen, bankaufsichtsrechtlichen Zwecken und, auf Ersuchen der zuständigen (Strafverfolgungs-)Behörden, zur Verfolgung und Ahndung von Straftaten auf die gespeicherten Informationen zugreifen.91 Ausgehend von diesen Informationen kann die BaFin das konto- bzw. depotführende Kreditinstitut gemäß § 44 KWG um ergänzende Auskünfte, etwa zu einzelnen Umsätzen und Transaktionen, ersuchen bzw. Strafverfolgungsbehörden können weitere Ermittlungsmaßnahmen nach Maßgabe der Strafprozessordnung (StPO) einleiten.
a) Entwicklungslinien der gesetzlichen Befugnis zur Kontoabfrage Die Entwicklung der gesetzlichen Befugnis zur automatisierten Kontoabfrage zeichnet sich durch drei Konstanten aus: Erstens erweiterte der Gesetzgeber sukzessiv den Kreis der gesetzlich bestimmten Eingriffsgründe.92 Obwohl die Möglichkeit der Kontoabfrage ursprünglich in erster Linie der Terrorismusbekämpfung dienen sollte93, kam eine derartig begrenzte Zwecksetzung schon in der (ersten) endgültigen Fassung der Norm nicht zum Ausdruck. Vielmehr waren darin von vornherein mehrere Eingriffszwecke vorgesehen (siehe oben). Ferner machte der Gesetzgeber die Befugnis zur Kontoabfrage mit dem Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit nur ein Jahr später auch für „steuerliche und soziale Zwecke“ verfügbar.94 Ausweislich der Gesetzesbegründung gilt seither, „dass die Kreditinstitute diese Datei künftig auch für steuerliche Zwecke führen müssen“ (vgl. § 93b Abs. 1 AO).95 Diese Erweiterung der materiellen Eingriffsmöglichkeiten stellt gesetzeshistorisch die „Kehrseite“96 der straf befreienden Erklärung nach der befristeten Steueramnestie des Steuerehrlichkeitsgesetzes dar, das als weiterer Teil des Gesetzes zur Förderung der Steuerehrlichkeit verabschiedet wurde.97 Im Gesetzentwurf 2002 (Fn. 87), 122. Zu den bereitzuhaltenden Informationen im Detail Achtelik (Fn. 86), § 24c Rn. 4 ff. 90 Achtelik (Fn. 86), § 24c Rn. 2 . 91 Ibid., § 24c Rn. 9 und Rn. 10 ff. 92 Vgl. ibid., § 24c Rn. 11 ff. 93 Vgl. ibid., § 24c Rn. 1 m.V.a. das Maßnahmenpaket der Bundesregierung „Finanzierungsströme des Terrorismus austrocknen – Stabilität der Finanzmärkte sichern“ vom 5. Oktober 2001. 94 Ibid., § 24c Rn. 11: „Grundsicherung für Arbeitssuchende, Sozialhilfe, Ausbildungsförderung, Wohngeld“; Reimer, in: Luz/Neus/Schaber/Schneider/Wagner/Weber (Hg.), KWG und CRR, 3. Aufl., 2015, § 24c Rn. 3. 95 Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Steuerehrlichkeit, 8. September 2003, BT-Drucks. 15/1309 („Gesetzentwurf 2003“), 15. 96 Widmaier (Fn. 25), 116, 117. 97 Siehe zur befristeten Steueramnestie Pfisterer, ZStrR 2013, 360, 380–381. 88 89
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Jahre 2012 wurde mittels des Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes das Instrument der Kontoabfrage auch zur Verfolgung nachrichtendienstlicher Ziele verfügbar gemacht (§ 8a Abs. 2a BVerfSchG, § 2a BNDG, § 4a MADG).98 Und im Jahre 2013 öffnete der Gesetzgeber die Möglichkeit der Kontoabfrage mit dem Gesetz zur Reform der Sachauf klärung in der Zwangsvollstreckung schließlich sogar für Zwecke des Zwangsvollstreckungsverfahrens (§ 802l ZPO).99 Seither besteht ausweislich der Gesetzesbegründung in diesem Rahmen die Möglichkeit, „über die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht auf diese Daten zuzugreifen und damit auch bislang unbekannte Konten bzw. Depots des Schuldners zu ermitteln.“100 Infolge der sog. Panama Papers-Affäre wurde – kaum überraschend – als „Sofortmaßnahme“ bald die Ausweitung der Abfragemöglichkeit auf Trusts, Stiftungen und andere rechtliche Konstrukte (sog. Brief kastenfirmen) ins Spiel gebracht.101 Mit der sukzessiven Erweiterung der materiellen Eingriffsmöglichkeiten ging zweitens auch eine Erweiterung des Kreises der Behörden einher, die zum Zugriff auf die betreffenden Daten befugt sind.102 Während ursprünglich nur der BaFin die Zugriffsmöglichkeit unmittelbar offenstand, verschaffte der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit auch dem Bundesamt für Finanzen und, durch dieses vermittelt, auch den Steuerbehörden sowie den Behörden der Arbeitsund Sozialverwaltung Zugriff auf die bei den Kreditinstituten gespeicherten Kontostammdaten.103 Im Jahre 2012 wurden sodann mit dem Gesetz zur Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes das Bundesamt für Verfassungsschutz, der Bundesnachrichtendienst und das Amt für den militärischen Abschirmdienst in den Kreis der mittelbar zugriffsbefugten Institutionen aufgenommen.104 Im Jahre 2013 schließlich ergänzte der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Reform der Sachauf klärung in der Zwangsvollstreckung den Kreis der mittelbar Befugten um den Gerichtsvollzieher.105 Eine dritte Konstante der Gesetzesentwicklung ist die Vehemenz und Hartnäckigkeit, mit der die Vereinbarkeit der automatisierten Kontoabfrage mit dem Grund gesetz in Frage gestellt oder bestritten wurde und wird.106 In der Begründung des Vierten Finanzmarktförderungsgesetzes begegnete die Bundesregierung privat- und datenschutzrechtlichen Bedenken, indem sie betonte, dass „[s]onstige Behörden und Stellen, darunter die Finanzbehörden, […] nicht dem Kreis der Auskunftsberechtigten [unterfallen].“107 Auch für Steuerstrafverfahren solle die Auskunftserteilung ur98 Siehe Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes, 6. September 2011, BT-Drucks. 17/6925 („Gesetzentwurf 2011“); dazu Achtelik (Fn. 86), § 24c Rn. 13. 99 Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Sachauf klärung in der Zwangsvollstreckung, 30. Juli 2008, BT-Drucks. 16/10069 („Gesetzentwurf 2008“); dazu Reichling, DuD 2008, 670 ff.; Achtelik (Fn. 86), § 24c Rn. 12. 100 Gesetzentwurf 2008 (Fn. 99), 32. Dazu Würdinger, JZ 2011, 177 („Sprung vom 19. ins 21. Jahrhundert“); Mroß, AnwBl. 2013, 16 ff., insb. 21. 101 Frankfurter Allgemeine Zeitung, Brief kastenfirmen im Visier, 28. April 2016, S. 18. 102 Vgl. Achtelik (Fn. 86), § 24c Rn. 10 ff. 103 Dazu Widmaier (Fn. 25), 116, 117–118: „im Ergebnis wohl […] die gesamte öffentliche Verwaltung“. 104 Achtelik (Fn. 86), § 24c Rn. 13. 105 Zum Gesetzentwurf 2008 (Fn. 99) Reichling (Fn. 99), 670 ff. 106 Vgl. Achtelik (Fn. 86), § 24c Rn. 16; Reichling (Fn. 99), 670, 672. 107 Gesetzentwurf 2002 (Fn. 87), 123–124.
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sprünglich nicht zur Verfügung stehen.108 Diese Einschränkung fand jedoch nicht den Weg in das Gesetz.109 Im Gegenteil wurde die Bandbreite der materiellen Eingriffsmöglichkeiten und der Kreis der Zugriffsbefugten später noch mehrfach erweitert (siehe oben). Ebenso wenig wurden die Zweifel des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren berücksichtigt. Dieser hatte in einer Stellungnahme „Bedenken“ im Hinblick auf die Vereinbarkeit der Regelung mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung der betroffenen Bankkunden geäußert.110 Gleichermaßen vergeblich hatte er den Einwand erhoben, „ob nicht insbesondere aus rechtsstaatlichen Gründen eine neutrale Kontrollinstanz vergleichbar dem Richtervorbehalt in der Strafprozessordnung (StPO) der Datenabfrage vorgeschaltet sein sollte“.111 In der Literatur wurde vorgebracht, die Eingriffsbefugnis verstoße gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das Recht auf effektiven Rechtsschutz.112 Unter anderem wurde argumentiert, bei der Kontoabfrage handle es sich um einen gravierenden Eingriff in ein besonders wertvolles Schutzgut: Der Eingriff sei besonders schwerwiegend, da er „flächendeckend“ und „heimlich“ erfolge.113 Und die abgefragten Informationen seien „Daten in dem sensiblen Bereich der Vertrauensbeziehung zwischen Bank und Anlegern“114 und außerdem „besonders vertrauliche Daten“, nämlich „personenbezogene, nicht anonymisierte Daten aus der engen Privatsphäre aller Steuerpflichtigen.“115 Das Gesetz, so wurde weiter argumentiert, enthalte zu niedrige formale und materielle Eingriffsschwellen und eine justizielle Überprüfung sei weder vor noch nach der Kontenabfrage vorgesehen und möglich.116 Zuletzt stieß die jüngste Weiterung der Eingriffsbefugnis durch das Gesetz zur Reform der Sachauf klärung in der Zwangsvollstreckung auf Kritik: Zunächst sei „[i]nsbesondere die Zugriffsmöglichkeit aller Vollstreckungsbehörden auf die sensiblen Bankkunden-Daten, um Forderungen ab 600 Euro durchzusetzen […] unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten problematisch.“117 Als noch problematischer als der eigentliche Inhalt der Neuregelung wird allerdings „das grundsätzliche Vorgehen des Gesetzgebers“ empfunden.118 Denn hierin werde erkennbar, dass und wie die ursprünglich mit der Terrorismusbekämpfung begründete Zugriffsmöglichkeit für die BaFin sukzessiv immer weiteren Behörden eröffnet werde.119 Auch die Bundes Ibid., 123–124. Zubrod (Fn. 86), 1210, 1211; Widmaier (Fn. 25), 116, 117. 110 Gesetzentwurf 2002 (Fn. 87), Anlage 2 (Stellungnahme des Bundesrates), 168. 111 Ibid., 168. Der Einwand ist berechtigt: Denn wollen Ermittlungsbehörden in der Privatwohnung einer Person nach Kontoinformationen suchen, benötigen sie dazu einen richterlichen Beschluss (§ 105 StPO). Mit Blick hierauf plädiert Lusser plakativ für die „Gleichbehandlung von Konto und Matratze“ (ders. [Fn. 39], 21 ff.). 112 Siehe statt aller Hamacher, DStR 2006, 633 ff.; Cöster/Intemann, DStR 2005, 1249, 1251–1252; Göres, NJW 2005, 253, 256–257; Zubrod (Fn. 86), 1210, 1216–1217. 113 Zubrod (Fn. 86), 1210, 1215. 114 Ibid., 1210, 1215. 115 Ibid., 1210, 1216. 116 Widmaier (Fn. 25), 116, 119–120; kritisch zum Fehlen einer Überprüfungsmöglichkeit durch eine neutrale Stelle auch Achtelik (Fn. 86), § 24c Rn. 15. 117 Reichling (Fn. 99), 670, 672. 118 Ibid., 670, 672. 119 Vgl. ibid., 670, 672. Reichling prognostiziert, dass die mit § 802I ZPO geschaffene Weiterung nicht die letzte bleiben wird. 108 109
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datenschutzbeauftragte rügt die permanente Erweiterung des Kreises der Abruf befugten und der Zahl der getätigten Anfragen (dazu sogleich).120 „Dies steht mit der ursprünglichen Absicht des [historischen] Gesetzgebers nicht in Einklang.“121 Der Gesetzgeber teilt diese Kritik freilich nicht: Laut der Begründung des Gesetzes zur Reform der Sachauf klärung in der Zwangsvollstreckung werden „[d]ie von der Verfassung gezogenen Grenzen […] gewahrt“.122 Für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Abfragemöglichkeit sei entscheidend, „dass sie dem Gebot der Normenklarheit und -bestimmheit gerecht wird.“123 Ferner werde „[e]ine verfassungsrechtlich bedenkliche Rasterabfrage oder eine Abfrage ‚ins Blaue hinein‘ […] nicht eröffnet.“124 Die Kontenabfrage sei „zur Durchsetzung legitimer Zwecke zulässig […], so auch zur Durchsetzung privater Vollstreckungsansprüche.“125 Dabei genüge die Regelung den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips […].“126 Jenseits des Diskurses um die Vereinbarkeit der automatisierten Kontoabfrage mit dem Grundgesetz scheint die Kontoabfrage inzwischen zum festen Bestandteil des Ermittlungsinstrumentariums der befugten Behörden geworden zu sein. Laut dem Jahresbericht der BaFin hat die Behörde im Jahr 2015 in knapp 134.000 Fällen Kontoabfragen gemäß § 24c KWG vorgenommen.127 Das bedeutet einen Anstieg von rund 250 % gegenüber dem ersten vollen Jahr des Bestehens dieser Möglichkeit (2004: 39.000 Kontoabfragen).128 Die Öffnung der Kontoabfrage für das Zwangsvollstreckungsverfahren und Gerichtsvollzieher sowie womöglich zukünftig im Hinblick auf sog. Brief kastenfirmen dürfte die weitere Entwicklung vorschattieren.
b) Das Bundesverfassungsgericht zur Kontoabfrage Das Bundesverfassungsgericht teilte die in der Literatur geäußerten Bedenken – zumindest zum Zeitpunkt seiner Entscheidung im Jahre 2007 – nicht. Auf eine Verfassungsbeschwerde eines Bankkunden gegen die automatisierte Kontoabfrage hin hat es in seiner Entscheidung zwar einen Teil des Gesetzes mangels Bestimmtheit für grundgesetzwidrig erklärt; im Wesentlichen hat es die automatisierte Kontoabfrage – insbesondere unter dem Blickwinkel des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung – jedoch gebilligt.129 Eingangs stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass 120 Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, Kontenabrufverfahren – Staatliche Überwachung von privaten Konten (http://www.bfdi.bund.de/DE/Datenschutz/Themen/ Finanzen_Versicherungen/FinanzenArtikel/KontenabrufverfahrenVonPrivatenKonten.html, zuletzt abgerufen am 29. Dezember 2016). 121 Ibid. 122 Gesetzentwurf 2008 (Fn. 99), 32. 123 Ibid., 32. 124 Ibid., 32. 125 Ibid., 32. 126 Ibid., 32. Ähnliche Argumentationstopoi im Gesetzentwurf 2011 (Fn. 98), 13 f. 127 Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, Jahresbericht 2015, S. 160. 128 Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, Jahresbericht 2004, S. 87. 129 BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2007 [Kontoabfrage] – 1 BvR 1550/03 u.a. – BVerfGE 118, 168 ff. Dem Hauptsacheverfahren war ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vorangegangen, siehe BVerfG, Beschluss vom 22. März 2005 [Kontoabfrage] – 1 BvR 2357/04, 1 BvQ 2/05 – BVerfGE
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die Kontoabfrage selbst zwar keine Einblicke in Kontoinhalte und -bewegungen erlaube.130 Stelle sich aber mit ihrer Hilfe heraus, dass der Betroffene über bislang unbekannte Konten und Depots verfügt, könne die zuständige Behörde auf der Grundlage anderer Ermächtigungsnormen Informationen über deren Inhalt erheben.131 Diese anschließend erhebbaren Informationen über Kontoinhalte könnten, so das Bundesverfassungsgericht, „für den Persönlichkeitsschutz des Betroffenen bedeutsam“ sein.132 Nach den gegenwärtigen Gepflogenheiten würden Zahlungsvorgänge jenseits von Bargeschäften des täglichen Lebens typischerweise über Konten abgewickelt.133 „Werden Informationen über die Inhalte der Konten einer bestimmten Person gezielt zusammengetragen, ermöglicht dies einen Einblick in die Vermögensverhältnisse und die sozialen Kontakte des Betroffenen, soweit diese – etwa durch Mitgliedsbeiträge oder Unterhaltsleistungen – eine finanzielle Dimension aufweisen. Manche Konteninhaltsdaten, etwa die Höhe von Zahlungen im Rahmen verbrauchsabhängiger Dauerschuldverhältnisse, können auch weitere Rückschlüsse auf das Verhalten des Betroffenen ermöglichen.“134 Kontoabfragen könnten deshalb „Grundrechtseingriffe von großem Gewicht“ nach sich ziehen.135 Dennoch gelangt das Bundesverfassungsgericht zu dem Schluss, dass die angegriffenen Vorschriften dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen.136 So argumentiert es unter anderem, die Kontostammdaten hätten „bei isolierter Betrachtung keine besondere Persönlichkeitsrelevanz.“137 Die in ihnen erhaltenen Informationen hätten „für sich genommen noch kein besonderes Gewicht für Privatheit oder Entscheidungsfreiheit des Betroffenen.“138 Der abfragenden Behörde werde zwar ermöglicht, vom Bestehen wirtschaftlicher Kontakte des Betroffenen mit deutschen Kreditinstituten zu erfahren.139 „Inhaltliche Informationen über Art und Umfang dieser Kontakte erhält sie hingegen nicht.“140
c) Die Kontoabfrage-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als Abkehr vom Volkszählungsurteil? Vor dem Hintergrund des zur Schutzwürdigkeit der „Finanzprivatsphäre“ und zum Volkszählungsurteil Ausgeführten überrascht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: In seinem Volkszählungsurteil hatte das Gericht noch hervorgehoben, dass im Zusammenhang mit „Eingriffe[n], durch welche der Staat die Angabe per112, 284 ff. Dazu Widmaier (Fn. 25), 116, 119–121. Widmaier agierte als Parteivertreter der Beschwerdeführer in beiden Verfahren. 130 BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2007 (Fn. 129), 168, 185. 131 Ibid., 168, 185. 132 Ibid., 168, 185. 133 Ibid., 168, 185. 134 Ibid., 168, 185–186. 135 Ibid., 168, 186. 136 Ibid., 168, 193. 137 Ibid., 168, 198. 138 Ibid., 168, 198. 139 Ibid., 168, 198 140 Ibid., 168, 198.
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sonenbezogener Daten vom Bürger verlangt“ nicht auf die „Art der Angaben“ abgestellt werden könne.141 „Entscheidend sind ihre Nutzbarkeit und Verwendungsmöglichkeit.“142 Diese aber hängen, so das Bundesverfassungsgericht damals, vom Erhebungszweck und von den „der Informationstechnologie eigenen Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten“ ab.143 „Dadurch kann ein für sich gesehen belangloses Datum einen neuen Stellenwert bekommen; insoweit gibt es unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung kein ‚belangloses‘ Datum mehr.“144 Von diesem Diktum scheint das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur automatisierten Kontoabfrage abgerückt zu sein. Zwar erkennt das Gericht an, dass Kontoabfragen „das Risiko weiterer Ermittlungsmaßnahmen […] begründen“145 und damit „Grundrechtseingriffe von großem Gewicht“ nach sich ziehen können.146 Dann zieht es jedoch eine recht formaljuristisch anmutende Trennlinie: Denn diese schwereren Grundrechtseingriffe seien allenfalls „Folgemaßnahmen des Stammdatenabrufs“ und gingen als solche von „eigenständigen Ermächtigungsgrundlagen [aus], die nicht Gegenstand der vorliegenden Verfassungsbeschwerden sind.“147 Doch das Bundesverfassungsgericht spielt nicht nur die für diese „Folgemaßnahmen“ entscheidende Rolle der Kontoabfrage herunter, sondern auch die diesbezügliche Bedeutung der durch die Kontoabfrage gewonnenen Informationen: Diese hätten „keine besondere Persönlichkeitsrelevanz“ und „kein besonderes Gewicht für Privatheit oder Entscheidungsfreiheit des Betroffenen“.148 Um zu dieser Feststellung zu gelangen, muss das Gericht eine „isolierte Betrachtung“ anlegen und die Daten „für sich genommen“ in den Blick nehmen.149 Gerade eine solche Vorgehensweise jedoch hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Volkszählungsurteil mit dem Diktum, dass nicht auf die „Art der Angaben“ abgestellt werden könne, dass es entscheidend auf deren „Nutzbarkeit und Verwendungsmöglichkeit“ ankomme und es daher heute „kein ‚belangloses‘ Datum mehr“ gebe150, deutlich zurückgewiesen. Die Originalität, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Volkszählungsurteil und in zahlreichen späteren Entscheidungen zum grundrechtlichen Privatheitsschutz an den Tag gelegt hat151, sucht man hier vergebens. Wenngleich die Entscheidung unter dem Blickwinkel der Dikta des Volkszählungsurteils inkonsistent und unbefriedigend erscheint, hat das Bunderverfassungsgericht ihr dennoch ein wichtiges caveat hinzugefügt: Die Automatisierung des Abrufverfahrens könne „das Risiko zahlloser und, wenn sie ohne hinreichende Verdachtsmomente erfolgen, rechtswidriger Routineabrufe begründen.“152 Um dies auszuschließen, „sind die in den angegriffenen Normen enthaltenen Sicherungen so BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 (Fn. 51), 1, 45. Ibid., 1, 45. 143 Ibid., 1, 45. 144 Ibid., 1, 45 (Herv. d. Verf.). 145 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2007 (Fn. 129), 168, 199. 146 Ibid., 168, 186. 147 Ibid., 168, 205. 148 Ibid., 168, 198. 149 Vgl. Ibid., 168, 198. 150 Vgl. BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 (Fn. 51), 1, 45. 151 Siehe oben I. und Fn. 22 und 23. 152 BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2007 (Fn. 129), 168, 201 (Herv. d. Verf.). 141
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auszulegen und anzuwenden, dass ein derartiger routinemäßiger, anlassloser Einsatz der Abfragen verhindert wird und Möglichkeiten bestehen, dass Missbräuche im Nachhinein aufgedeckt werden können.“153 Angesichts von zuletzt weit über 130.000 Zugriffen im Jahr (siehe oben) stellt sich unweigerlich die Frage, ob diese Voraussetzungen nicht längst erfüllt sind und sich die automatisierte Kontoabfrage zu einem solchen Instrument rechtswidriger Routineabrufe entwickelt hat.
2. Der Ankauf „gestohlener“ Steuer-CDs Seit dem Jahr 2007 oder 2008 betreiben die Finanzbehörden der Länder, vereinzelt mit Hilfe des Bundesnachrichtendienstes (BND), den Ankauf von im Ausland „gestohlenen“ Bankkundendaten. Hierbei erwerben deutsche Beamte von Angestellten ausländischer (zumeist schweizerischer oder liechtensteinischer) Banken gegen Entgelt in Millionenhöhe Datenträger, deren Inhalte diese unbefugt von ihrem Arbeitgeber beschafft haben. Darauf finden sich bisweilen Informationen über in der Bundesrepublik steuerpflichtige Personen, aus denen hervorgeht, dass die betreffenden Personen dem deutschen Fiskus mit bei der betreffenden Bank lagerndem Vermögen erwirtschaftete Erträge verschwiegen und diesem die hierauf fällige Steuer vorenthalten haben. Ausgehend von diesen Informationen leiten deutsche Ermittlungsbehörden sodann steuerstrafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen die betreffenden Personen ein (typischerweise kommt es in diesem Zusammenhang zu weiteren Ermittlungsmaßnahmen wie z.B. Hausdurchsuchungen) und erheben gegebenenfalls Anklage wegen Steuerhinterziehung gemäß § 370 der Abgabenordnung.154 Inzwischen scheint der Ankauf „gestohlener“ Steuer-CDs zum festen Handlungsinstrumentarium deutscher Finanzbehörden zu zählen.155 Allein das Land Nordrhein-Westfalen hatte laut Medienberichten bis zum Frühjahr 2016 schon in elf Fällen solche Datenträger erworben.156
a) Rechtsfragen Dieses ungewöhnliche Vorgehen der deutschen Finanzbehörden wirft gleich mehrere Rechtsfragen auf. Dass sich der ausländische Informant durch sein Verhalten nach ausländischem wie auch deutschem Recht (dessen Anwendbarkeit vorausgesetzt) Ibid., 168, 201 (Herv. d. Verf.). Siehe zu den tatsächlichen Fallgestaltungen Trüg, StV 2011, 111; Ignor/Jahn, JuS 2010, 390; Kelnhofer/Krug, StV 2008, 660, 661 f.; Göres/Kleinert, NJW 2008, 1353; Sieber, NJW 2008, 881 ff.; Trüg/ Habetha, NStZ 2008, 481, 489 f.; dies., NJW 2008, 887; Kölbel, NStZ 2008, 243 f. 155 Nordrhein-Westfalen kauft neue Steuer-CD, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Dezember 2014 (www.faz.net); NRW kauft erneut eine Steuer-CD, Handelsblatt, 21. Dezember 2014 (www. handelsblatt.de); Neue Steuer-CD – Es geht um unzählige Milliarden, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Oktober 2015 (www.faz.net); NRW kauft Daten: Neue Steuer-CD enthält Deals im Wert von 70 Milliarden Euro, Der Spiegel, 31. Oktober 2015 (www.spiegel.de). 156 Verdacht der Hinterziehung – NRW gibt Steuerdaten weiter, Der Spiegel, 14. April 2016 (www. spiegel.de). 153
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straf bar macht, kann zwar als gesichert gelten.157 Nicht höchstrichterlich entschieden ist jedoch bis heute, ob auch das Verhalten des deutschen Beamten, der den Ankauf des Datenträgers in persona vollzieht, strafrechtlich relevant ist.158 Besonders umstritten ist in der Literatur schließlich die Frage, ob durch auf diesem Wege erlangte Informationen als Beweise im Steuerstrafverfahren verwertbar sind oder ob dem ein Beweisverwertungsverbot entgegensteht.159 Für die Beantwortung dieser Frage ist unter anderem bedeutsam, ob der Ankauf als solcher eine Straftat darstellt (siehe oben), ob die jeweilige Behörde sich mit dem Ankauf innerhalb der ihr gesetzlich zugewiesenen Befugnisse bewegt und ob eine etwaige behördliche Zusammenarbeit (z.B. zwischen den Finanzbehörden der Länder und dem BND) gesetzlichen160 und verfassungsrechtlichen161 Vorgaben genügt.162 In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob und wie sich der Umstand auswirkt, dass das Vorgehen der Behörden in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des betreffenden Bankkunden eingreift.
b) Das Bundesverfassungsgericht zur strafprozessualen Verwertbarkeit „gestohlener“ Steuer-CDs Hierzu hat das Landgericht Düsseldorf im Jahre 2010 knapp erklärt, dass der Betroffene durch Ankauf und Auswertung des Datenträgers „nicht in seiner absolut geschützten Intimsphäre verletzt“ sei.163 „Lediglich seine allgemeine persönliche Ge157 Siehe aus der Presseberichterstattung Ritter, Fünf Jahre Haft für Datendieb, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. November 2015 (www.faz.net). Zur Straf barkeit nach schweizerischem Recht Stratenwerth/Wohlers, ZStrR 2010, 429, 438; Delnon/Niggli, Jusletter, 8. November 2010 (www.jusletter.ch); Eicker, Jusletter, 30. August 2010 (www.jusletter.ch). Zur Straf barkeit nach deutschen Recht ausführlich Sonn, Straf barkeit des privaten Entwendens und staatlichen Ankaufs inkriminierender Kundendaten, 2014, 25–194. 158 Siehe einerseits LG Düsseldorf, Beschluss vom 11. Oktober 2010 – 4 Qs 50/10 – NStZ-RR 2011, 84, 84–85 (keine Straf barkeit), andererseits LG Bochum, Entscheidung vom 22. April 2008 – 2 Qs 10/08 – HRRS 2009 Nr. 1111, 2. Leitsatz und Rn. 48 sowie LG Bochum, Entscheidung vom 7. August 2009 – 2 Qs 2/09 – HRRS 2009 Nr. 1112, 2. Leitsatz und Rn. 10 (Straf barkeit zu Argumentationszwecken unterstellt). Für eine Übersicht der in der Literatur vertretenen Auffassungen siehe Pfisterer, German Law Journal 14 (2013), 926, 931–32, insb. Fn. 18 und 25; ders. (Fn. 97), 360, 366. Ausführlich Sonn (Fn. 157), 195–284. 159 Für einen Überblick über die in der Literatur vertretenen Meinungen siehe Pfisterer (Fn. 158), 926, 930–932, insb. Fn. 17; ders. (Fn. 97), 360, 370–373. Ferner Sonn (Fn. 157), 285 ff. Die Rechtsprechung hat sich bisher soweit ersichtlich durchweg für die Verwertbarkeit ausgesprochen, siehe LG Bochum, Entscheidung vom 22. April 2008 (Fn. 158), Nr. 1111; LG Bochum, Entscheidung vom 7. August 2009 (Fn. 158), Nr. 1112; LG Düsseldorf, Beschluss vom 11. Oktober 2010 (Fn. 158); BVerfG, Beschluss vom 9. November 2010 [Steuer-CD]− 2 BvR 2101/09 – BVerfGK 18, 193 = NJW 2011, 2417; RhPfVerfGH, Urteil vom 24. Februar 2014 [Steuer-CD] – VGH B 26/13 – NJW 2014, 1434. 160 Siehe die Aufgabenzuweisung des BND in § 1 Abs. 2 BNDG: „Der Bundesnachrichtendienst sammelt zur Gewinnung von Erkenntnissen über das Ausland, die von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland sind, die erforderlichen Informationen und wertet sie aus.“ 161 Siehe etwa zum sog. „informationellen Trennungsprinzip“ oben I. und Fn. 23. 162 Stellungnahmen der Literatur und Rechtsprechung zu diesen (Vor-)Fragen in unterschiedlicher Tiefe und Nuancierung bei den in Fn. 154 und 159 angegebenen Fundstellen. 163 LG Düsseldorf, Beschluss vom 11. Oktober 2010 (Fn. 158), 84, 85.
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heimnissphäre ist von der Beweiserhebung betroffen, wobei die angekauften Daten lediglich einen Ausschnitt der wirtschaftlichen Gesamtsituation des Beschuldigten betreffen.“164 Zwei Jahre zuvor hatte das Landgericht Bochum ebenso knapp festgestellt, „dass die Verwertung der durch die Daten eröffneten Erkenntnisse nicht den schlechthin unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung, sondern [lediglich] den geschäftlichen Bereich des Beschuldigten berührt.“165 Im sich hieran anschließenden Verfassungsbeschwerdeverfahren hat das Bundesverfassungsgericht diese Feststellung in ebenso schlanken Ausführungen gebilligt.166 Das Landgericht weise zu Recht darauf hin, dass die Verwendung der betreffenden Daten zu dem Zwecke, einen Anfangsverdacht zu begründen, „nicht den absoluten Kernbereich privater Lebensgestaltung“ berührt.167 „Es handelt sich vielmehr um Daten über geschäftliche Kontakte der Beschwerdeführer mit Kreditinstituten.“168 Allein der Verfassungsgerichtshof des Landes Rheinland-Pfalz hat diesem Fragenkomplex etwas umfangreichere und tiefgreifende Ausführungen gewidmet.169 Danach greife der Erwerb der Steuerdaten zwar in das Recht des Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung ein.170 „Hierbei handelt es sich jedoch nicht um einen erheblichen Eingriff.“171 Denn der „absolute Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung“ sei nicht betroffen.172 Zu diesem gehören laut Verfassungsgerichtshof etwa „Äußerungen innerster Gefühle“ oder „Ausdrucksformen der Sexualität“.173 Vor diesem Hintergrund komme eine „Verletzung des absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung nicht in Betracht.“174 Bei den auf dem Datenträger befindlichen Daten handle es sich „nicht um Informationen höchstpersönlichen Inhalts, die über eine derartige Sensibilität verfügen, dass sie mit den zweifelsfrei zum Kernbereich zählenden Vorgängen qualitativ vergleichbar wären.“175 Und auch beträfen die Daten „nicht den engen persönlichen Lebensbereich“.176 „Vielmehr geht es lediglich um die wirtschaftliche Sphäre des Bf. und seine geschäftlichen Kontakte zu einem Bankinstitut […].“177 Schließlich schmälerten die erweiterten Offenbarungs- und Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen bezüglich Steuersachverhalten mit Auslandsbezug den durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewährten Ibid., 84, 85. LG Bochum, Entscheidung vom 22. April 2008 (Fn. 158), Nr. 1111 Rn. 47. 166 BVerfG, Beschluss vom 9. November 2010 (Fn. 159), 193 ff.; ausführlich zu dieser Entscheidung Pfisterer (Fn. 158), 926, 933–941 („Karlsruhe’s Blessing“). 167 BVerfG, Beschluss vom 9. November 2010 (Fn. 159), 193, 207. 168 Ibid., 193, 207. Inzwischen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Vereinbarkeit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (und die vorangegangenen Entscheidungen der Instanzgerichte) mit der Europäischen Menschenrechtskonvention bestätigt, siehe EGMR, Urteil vom 6. Oktober 2016 – Nr. 33696/11. 169 RhPf VerfGH, Urteil vom 24. Februar 2014 (Fn. 159), 1434, 1437–1438; ausführlich zu dieser Entscheidung Pfisterer, JR 2015, 314 ff. 170 RhPf VerfGH, Urteil vom 24. Februar 2014 (Fn. 159), 1434, 1437. 171 Ibid., 1434, 1437. 172 Ibid., 1434, 1437. 173 Ibid., 1434, 1437. 174 Ibid., 1434, 1437. 175 Ibid., 1434, 1437. 176 Ibid., 1434, 1437. 177 Ibid., 1434, 1437. 164 165
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Schutz.178 „Der Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht“, so der Verfassungsgerichtshof abschließend, „stellt sich daher nicht als intensiv dar.“179 In allen erwähnten Entscheidungen befanden die Gerichte die strafprozessuale Verwertung der „gestohlenen“ Kontodaten für zulässig.180
c) Die Steuer-CD-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als weitere Abkehr vom Volkszählungsurteil? Wie schon das Bundesverfassungsgericht bei seinem Urteil zur Kontoabfrage haben die Gerichte bei ihren Entscheidungen zu den Steuer-CDs die Chance nicht genutzt, der „Finanzprivatsphäre“ verfassungsrechtliche Konturen zu verleihen und ihr Geltung zu verschaffen. In ihren Entscheidungen haben die Landgerichte Bochum und Düsseldorf, der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz sowie das Bundesverfassungsgericht den Ankauf der Steuer-CDs daran gemessen, ob dadurch der „schlechthin unantastbare Bereich privater Lebensgestaltung“181, die „absolut geschützte Intimsphäre“182, der „absolute Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung“183 oder „der absolute Kernbereich privater Lebensgestaltung“184 betroffen sei. Dabei bedienen sie sich ersichtlich der überkommenen Sphärentheorie des Bundesverfassungsgerichts.185 Vor diesem Hintergrund leiden die genannten Entscheidungen jedoch gleich an mehreren Unzulänglichkeiten. Erstens ist die Sphärentheorie und mit ihr der vermeintlich absolute Schutz der Intimsphäre nicht ohne Widersprüche. Denn danach soll zwar ein „absoluter Kernbereich privater Lebensgestaltung“ gewährleistet werden, der der staatlichen Gewalt vollständig entzogen ist.186 In dieser Intimsphäre sollen in den Worten des Bundesverfassungsgerichts „[s]elbst überwiegende Interessen der Allgemeinheit […] einen Eingriff in den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht rechtfertigen [können]; eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes findet nicht statt.“187 Jedoch hat das Bundesverfassungsgericht die Stringenz dieser Regel selbst erodieren lassen, als es etwa die Eintragungen in einem privaten Tagebuch nicht uneingeschränkt diesem Kernbereich zugerechnet und dessen Inhalte teilweise für die strafprozessuale Verwertung geöffnet hat.188 Ibid., 1434, 1437. Ibid., 1434, 1438. 180 RhPf VerfGH, Urteil vom 24. Februar 2014 (Fn. 159), 1434; BVerfG, Beschluss vom 9. November 2010 (Fn. 159), 193; LG Düsseldorf, Beschluss vom 11. Oktober 2010 (Fn. 158), 84; LG Bochum, Entscheidung vom 7. August 2009 (Fn. 158), Nr. 1112; LG Bochum, Entscheidung vom 22. April 2008 (Fn. 158), Nr. 1111. Auch EGMR, Urteil vom 6. Oktober 2016 (Fn. 168). 181 LG Bochum, Entscheidung vom 22. April 2008 (Fn. 158), Nr. 1111 Rn. 47. 182 LG Düsseldorf, Beschluss vom 11. Oktober 2010 (Fn. 158), 84, 85. 183 RhPf VerfGH, Urteil vom 24. Februar 2014 (Fn. 159), 1434, 1437. 184 BVerfG, Beschluss vom 9. November 2010 (Fn. 159), 193, 207. 185 Siehe noch einmal oben III.1.a). 186 Vgl. noch einmal Di Fabio (Fn. 4 ), Art. 2 Rn. 158: „absolut (…) unantastbar“. 187 BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 1973 [Tonbandaufnahme] – 2 BvR 454/71 – BVerfGE 34, 258 = NJW 1990, 891, 892; Beschluss vom 7. Dezember 2011 [Wohnraumüberwachung] – 2 BvR 2500/09 u.a. – BVerfGE 130, 1 = NJW 2012, 907, 908. 188 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. September 1989 [Tagebuch] – 2 BvR 1062/87 – BVerfGE 80, 178
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Zweitens stellt sich die Frage, ob die Sphärentheorie im Anwendungsbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung überhaupt sinnvoll anwendbar ist. In der Literatur wird vertreten, das Bundesverfassungsgericht habe für diesen Bereich von der Sphärentheorie Abstand genommen.189 Denn wenn es, wie im Volkszählungsurteil ausgeführt, kein belangloses Datum mehr gebe, sei auch ohne Bedeutung, „ob Daten einer ‚äußeren‘ oder ‚inneren Sphäre‘ zuzurechnen sind“.190 Entscheidend sei vielmehr, „ob unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Wirkungen des Eingriffs und der vorgesehenen Schutzvorkehrungen gegen Missbrauch die mögliche Belastung des Einzelnen mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip vereinbar ist.“191 Hieran gemessen haben die oben genannten Gerichte einschließlich des Bundesverfassungsgerichts in ihren Entscheidungen mit der Sphärentheorie den falschen Maßstab herangezogen. Wieso haben sie, insbesondere das Bundesverfassungsgericht, sich von den Dikta und der Logik des Volkszählungsurteils abgewandt? Soweit es indes auf die „Wirkungen des Eingriffs“ und die „vorgesehenen Schutzvorkehrungen gegen Missbrauch“ ankommt192, sei daran erinnert, dass der Ankauf der Steuer-CD für die Betroffenen häufig Steuerstrafverfahren mit Ermittlungsmaßnahmen von hoher Eingriffsintensität wie z.B. Hausdurchsuchungen nach sich zieht und dass mangels gesonderter gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage193 keine besonderen Schutzvorkehrungen gegen Missbrauch wie z.B. ein Richtervorbehalt existieren.194 Drittens schließlich überzeugt nicht, in welcher Weise die Landgerichte Bochum und Düsseldorf und das Bundesverfassungsgericht den mit dem Ankauf der Steuer-CDs verbundenen Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht argumentativ ausschließlich mit der absolut geschützten Intimsphäre konfrontieren und kontrastieren.195 Zwar mag ein Eingriff in die Intimsphäre per se nicht zu rechtfertigen sein und daraus allein deshalb ein unmittelbar aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht erwachsendes Beweisverwertungsverbot folgen. Jedoch können grundsätzlich auch die Ergebnisse von Ermittlungsmaßnahmen, die in die Privat- oder Geheimsphäre oder die Sozialsphäre eingreifen, unverwertbar sein. In diesen Fällen ist die Verwertbarkeit im Rahmen einer „Abwägung zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht einerseits und den Belangen der Strafrechtspflege andererseits“196 zu bestimmen (sog. 367 ff. = NJW 1990, 563 ff.; kritisch dazu Murswiek (Fn. 4 4), Art. 2 Rn. 105. Der Versuch einer Harmonisierung bei Nebel (Fn. 2 ), 517, 519. 189 Nebel (Fn. 2 ), 517, 519: „Damit gilt die Sphärentheorie mit dem Volkszählungsurteil als aufgegeben.“ 190 Murswiek (Fn. 4 4), Art. 2 Rn. 106. 191 Ibid., Rn. 106; ganz ähnlich Nebel (Fn. 2 ), 517, 519. 192 Vgl. ibid., Rn. 106. 193 Der Ankauf wird regelmäßig auf die allgemeine Ermittlungsgeneralklausel (§ 161 Abs. 1 i.V.m. § 163 Abs. 1 StPO) gestützt. 194 Siehe noch einmal zur Anregung des Bundesrates im Zusammenhang mit der automatisierten Kontoabfrage, einen Richtervorbehalt einzuführen, und zu Lussers Plädoyer für eine „Gleichbehandlung von Konto und Matratze“ oben IV.1.a) und Fn. 111. 195 Vgl. LG Bochum, Entscheidung vom 22. April 2008 (Fn. 158), Nr. 1111 Rn. 47; LG Düsseldorf, Beschluss vom 11. Oktober 2010 (Fn. 158), 84, 85; BVerfG, Beschluss vom 9. November 2010 (Fn. 159), 193, 207. 196 Siehe BGH, Urteil vom 9. Juli 1987 [Tagebuch] – 4 StR 223/87 – BGHSt 34, 397 = NJW 1988, 1037, 1038; Beschluss vom 30. März 1994 [Tagebuch] – StB 2/94 – NJW 1994, 1970.
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Abwägungslehre).197 In eine solche Abwägung wären auch Aspekte wie die Straf barkeit des Informanten, die mögliche strafrechtliche Relevanz des Handelns des beteiligten Beamten, die wenig belastbare Befugnislage der am Ankauf beteiligten Behörden und der insgesamt rechtsstaatlich bedenkliche Charakter des staatlichen Ankaufs von Steuer-CDs198 sowie die aufgrund der Regelmäßigkeit von Ankäufen inzwischen immer stärker werdende Anreizwirkung zum „Datendiebstahl“199 einzustellen.200 Die oben genannten Gerichte einschließlich des Bundesverfassungsgerichts sind jedoch nach der Feststellung, dass die betroffenen Daten nicht der Intimsphäre zuzurechnen sind, in eine solche Abwägung gar nicht mehr eingetreten. Dem rheinland-pfälzischen Verfassungsgerichtshof ist demgegenüber eine höhere Sensibilität für die Achtung der „Finanzprivatsphäre“ zu attestieren.201 Zwar bedient auch er sich der Sphärentheorie, deren Anwendbarkeit im Bereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung angesichts der Dikta des Volkszählungsurteils fragwürdig erscheint (siehe oben), und auch beginnt er damit, die betreffenden Bankkundendaten mit der Intimsphäre zu konfrontieren und kontrastieren.202 Jedoch geschieht dies nicht derart apodiktisch wie in den anderen genannten Entscheidungen, sondern argumentativ unterfüttert mit Assoziationen und Vergleichen.203 Außerdem bleibt der Gerichtshof nicht dort stehen, sondern widmet sich anschließend – anders als die anderen Gerichte – der Frage, ob die Bankkundendaten dem „engen persönlichen Lebensbereich“204, das heißt der Geheim- oder Privatsphäre, zuzurechnen sind.205 Dies verneint er mit dem Hinweis, es handle sich lediglich um die „wirtschaftliche Sphäre“ des Beschwerdeführers und seine „geschäftlichen Kontakte zu einem Bankinstitut“.206 Damit greift der Verfassungsgerichtshof freilich zu kurz. Denn erstens ist nicht ersichtlich, weshalb Informationen bloß deshalb, weil sie mit einem Kreditinstitut einen Dritten mitbetreffen, per se als nicht schützenswert gelten sollten. Es gibt keinen Rechtssatz oder sonstige Regel, wonach Daten, die über den Betroffenen hinaus noch eine andere Personen betreffen, nicht privat sein könnten.207 Dazu Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt (Hg.), StPO, 59. Aufl., 2016, Einl. Rn. 55a. Vgl. statt aller Steltzner, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Februar 2008 (www.faz.net): „Niederlage für den Rechtsstaat“; Schünemann, NStZ 2008, 305 ff. 199 Dazu die Ausführungen bei RhPf VerfGH (Fn. 159) 1434, 1439. 200 Siehe zu alledem noch einmal oben IV.2.a) und Fn. 157 bis 162. 201 Pfisterer (Fn. 169), 314, 320. 202 Vgl. RhPf VerfGH, Urteil vom 24. Februar 2014 (Fn. 159), 1434, 1437. Kritisch dazu Pfisterer (Fn. 169), 314, 321. 203 Vgl. RhPf VerfGH, Urteil vom 24. Februar 2014 (Fn. 159), 1434, 1437 („Äußerungen innerster Gefühle“, „Ausdrucksformen der Sexualität“ – Bankdaten nicht „mit den zweifelsfrei zum Kernbereich zählenden Vorgängen qualitativ vergleichbar“). 204 Vgl. ibid., 1434, 1437. 205 Vgl. ibid., 1434, 1437: „Da nicht ein Zugriff der öffentlichen Gewalt auf den absolut geschützten Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung in Frage steht […], ist die Verwertung allerdings zulässig, wenn sie sich durch ein überwiegendes Interesse der Allgemeinheit rechtfertigen ließe.“ 206 Ibid., 1434, 1437. 207 Vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Juli 1984 (Fn. 27), 100, 142 („einen Bezug auf den Steuerpflichtigen oder private Dritte“, Herv. d. Verf.). Siehe auch EGMR, Urteil vom 16. Dezember 1992 (Fn. 2 ), Rn. 29: „It would be too restrictive to limit the notion [of ‚private life‘] to an ‚inner circle‘ in which the individual may live his own personal life as he chooses and to exclude therefrom entirely the outside world not encompassed within that circle. Respect for private life must also comprise to a certain degree the right to establish and develop relationships with other human beings.“ 197
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Im Gegenteil gelten gerade Informationen, welche – wie im vorliegenden Fall – die Geschäftsbeziehung zwischen einer Bank und ihrem Kunden betreffen als unter dem Blickwinkel des Bankgeheimnisses besonders schutzwürdig.208 Zweitens schließt die wirtschaftliche und finanzielle Natur der Daten nicht per se aus, dass diese privat sein könnten.209 Vielmehr können auch und gerade solche Informationen aufgrund ihrer hohen Aussagekraft über die persönlichen Verhältnisse und die persönliche Lebensführung des Betroffenen besonders sensibel sein.210 Dementsprechend überzeugt es auch nicht, dass der Verfassungsgerichtshof schließlich ohne Weiteres annimmt, dass der durch den Ankauf der Steuer-CD bewirkte Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht erheblich bzw. intensiv sei.211 Denn dieser Bewertung liegt wieder jene „isolierte Betrachtung“212 der einzelnen Ermittlungsmaßnahme und der durch sie gewonnenen Daten zugrunde, die nach dem Volkszählungsurteil gerade nicht angezeigt ist.213 Wenngleich die genannten Entscheidungen einschließlich der des Bundesverfassungsgerichts den Dikta des Volkszählungsurteils zu widersprechen scheinen, hat der rheinlandpfälzische Verfassungsgerichtshof seinem Urteil ein bemerkenswertes obiter dictum hinzugefügt.214 So sei nicht ausgemacht, dass in der Zukunft jegliche Verwertung von durch rechtswidriges oder straf bares Verhalten eines privaten Dritten erlangten ausländischen Bankdaten mit der Landesverfassung vereinbar sei.215 „Dies gilt jedenfalls solange, wie der Gesetzgeber den Ankauf solcher in rechtswidriger oder gar straf barer Weise erlangten Daten nicht ausdrücklich legitimiert, sondern Finanz- und Strafverfolgungsbehörden auf einer zumindest unklaren rechtlichen Grundlage operieren.“216 Behörden, so der Verfassungsgerichtshof, dürften nicht jedes eigeninitiativ unternommene, unrechtmäßige Einwirken privater Dritter auf private Schutzgüter bewusst ausnutzen.217 „Sollte es daher etwa zu einer verstärkten Involvierung staatlicher Behörden in das Procedere bezüglich der Datenbeschaffung oder zu einer planmäßigen Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen staatlichen Behörden und privaten Informanten kommen, wird die Frage der Zurechnung des privaten Handelns zum Staat und damit die Frage eines möglichen Verwertungsverbots solcher Daten neu aufgeworfen.“218 Man wird sehen, ob sich das Bundesverfassungsgericht diese Interpretation des rheinlandpfälzischen Verfassungsgerichtshofs in einer potentiellen weiteren Entscheidung219 zu eigen macht und ob es in der inzwi Siehe Cahn (Fn. 32), 2041, 2043 und oben II.2. BVerfG, Urteil vom 17. Juli 1984 (Fn. 27), 100, 142 („steuerliche Angaben und Verhältnisse“). Siehe auch EGMR, Urteil vom 16. Dezember 1992 (Fn. 2 ), Rn. 29: „There appears […] to be no reason of principle why this understanding of the notion of ‚private life‘ should be taken to exclude activities of a professional or business nature […].“ 210 Siehe noch einmal oben II.3. und Lusser (Fn. 39), 7: Wirtschaftliche und finanzielle Verhältnisse einer Person als deren „ultimative persönliche Realität“. 211 Vgl. RhPf VerfGH, Urteil vom 24. Februar 2014 (Fn. 159), 1434, 1437 bzw. 1438. 212 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2007 (Fn. 129), 168, 198. 213 Vgl. BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 (Fn. 51), 1, 45. 214 Dazu ausführlich Pfisterer (Fn. 169), 314, 322–323. 215 RhPf VerfGH, Urteil vom 24. Februar 2014 (Fn. 159), 1434, 1439. 216 Ibid., 1434, 1439. 217 Ibid., 1434, 1439. 218 Ibid., 1434, 1439. 219 So wurde etwa die Frage, ob die Daten auf „gestohlenen“ Steuer-CDs auch im Strafverfahren 208 209
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schen etablierten Ankaufpraxis der deutschen Behörden (siehe oben) das dort beschriebene Niveau bereits als erreicht betrachtet.
V. „Finanzprivatsphäre“ – Quo vadis? Das Bundesverfassungsgericht nimmt den Schutz der typischen Erscheinungsformen und Ausprägungen von Privatheit wie Sexualität und sexuelle Orientierung, religiöse oder weltanschauliche Überzeugung und politische Gesinnung ausgesprochen ernst. Jedoch sprechen gute Gründe dafür, darüber hinaus auch die wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse von Individuen als im besten Wortsinne privat und deshalb als besonders schützenswert zu betrachten („Finanzprivatsphäre“). Denn in den wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnissen einer Person offenbart sich ihre „ultimative persönliche Realität“.220 Einblicke in diese Verhältnisse können bei Dritten ein „Wissen außerordentlichen Ausmaßes“ generieren, das „in entsprechende Macht über die die Betroffenen“ umschlagen kann.221 Das Bundesverfassungsgericht hat diese Gefährdungslage schon früh erkannt und lässt personenbezogene Informationen wirtschaftlicher und finanzieller Natur prinzipiell am grundrechtlichen Schutz durch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht auf Achtung der Privatsphäre oder informationelle Selbstbestimmung teilhaben.222 Dieses Grundrecht hatte es angesichts des zunehmenden Schutzbedürfnisses bezüglich personenbezogener Informationen in seinem Volkszählungsurteil aus dem Jahre 1983 entwickelt.223 In dieser Entscheidung war das Bundesverfassungsgericht zu der Erkenntnis gelangt, dass das Recht, grundsätzlich selbst über die Verwendung personenbezogener Daten zu bestimmen, unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung „in besonderem Maße“ schutzbedürftig ist.224 Das später vom Bundesverfassungsgericht tatsächlich gewährte Schutzniveau ist jedoch was die „Finanzprivatsphäre“ angeht hinter den eindrucksvollen Dikta des Volkszählungsurteils zurückgeblieben. In seinen Entscheidungen zur automatisierten Kontoabfrage im Jahre 2007 und zum Ankauf „gestohlener“ Steuer-CDs im Jahre 2010 hat das Bundesverfassungsgericht methodisch vom Volkszählungsurteil Abstand genommen und sowohl die automatisierte Kontoabfrage als auch den Ankauf „gestohlener“ Steuer-CDs ohne nennenswerte Einschränkungen gebilligt.225 Im Anschluss hieran hat der Gesetzgeber bei der automatisierten Kontenabfrage die Bandbreite der materiellen Eingriffsmöglichkeiten und den Kreis der Eingriffsbefugten noch erheblich zur Feststellung der Schuldfrage verwertbar sind (und nicht lediglich zur Begründung eines strafprozessualen Anfangsverdachts), vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung ausdrücklich offengelassen, siehe BVerfG, Beschluss vom 9. November 2010 (Fn. 159), 193, 202. Dazu Demuth, Legal Tribune Online, 28. Dezember 2010 und Pfisterer (Fn. 158), 926, 948. 220 Lusser (Fn. 39), 7. 221 BVerfG, Urteil vom 17. Juli 1984 (Fn. 27), 100, 143. 222 Vgl. ibid., 100, 142. 223 BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 (Fn. 51), 1 ff. 224 Ibid., 1, 42 (Herv. d. Verf.). 225 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2007 (Fn. 129), 168 ff.; Beschluss vom 9. November 2010 (Fn. 159), 193 ff.
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erweitert226 und die Nutzungszahlen dieses Ermittlungsinstruments haben längst den sechsstelligen Bereich erreicht.227 Derweil setzen deutsche Finanzbehörden den Ankauf „gestohlener“ Steuer-CDs unvermindert fort.228 Interessanterweise scheint sich parallel zu dieser Entwicklung in Deutschland auf Europäischer Ebene, zumindest in der Judikatur der Unionsgerichte, ein gegenläufiger Trend abzuzeichnen: So hat sich der Europäische Gerichtshof in den letzten Jahren mit eindrucksvollen Entscheidungen als vehementer Verfechter des Schutzes personenbezogener Daten und der Privatsphäre profiliert229 – und zwar einschließlich der „Finanzprivatsphäre“.230 Es bleibt abzuwarten, ob das Bundesverfassungsgericht der „Finanzprivatsphäre“ unter dem Eindruck der tatsächlichen Entwicklungen, die sich nach seinen Entscheidungen in 2007 und 2010 ereignet haben, und unter dem Eindruck der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zukünftig einen höheren Stellenwert zubilligen wird und welchen Pfad der verfassungsgerichtliche Schutz der „Finanzprivatsphäre“ in Deutschland und Europa in Zukunft einschlagen wird. „Finanzprivatsphäre“ – quo vadis?
Insb. Gesetzentwurf 2008 (Fn. 99), siehe noch einmal Fn. 99 und 100. Siehe einmal Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Fn. 127), S. 160. 228 Siehe noch einmal Fn. 155 und 156. 229 EuGH, Urteil vom 8. April 2014 (Fn. 19); EuGH, Urteil vom 13. Mai 2014 [Google] –C-131/12 – EuZW 2014, 514 ff.; jüngst EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2015 [Schrems] – C-362/14 – EuZW 2015, 881; EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2016 [Tele2 Sverige AB] – C-203/15 und C-698/15 (curia. europa.eu). 230 Vgl. EuGH, Urteil vom 20. Mai 2003 [ORF] – C-465/00, C-138/01 und C-139/01 – EuR 2004, 276 ff.; EuGH, Urteil vom 9. November 2010 [Schecke] – C-92/09 und C-93/09 – EuZW 2010, 939 ff. Dazu ausführlich Pfisterer (Fn. 3 ), S. 286 ff. m.w.N. und ders. (Fn. 31). Im Kontrast dazu freilich EGMR, Urteil vom 6. Oktober 2016 (Fn. 168). 226 227
Debatte: Die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft – eine vorläufige Bilanz
Genese und ursprüngliche Intention einer steuerungswissenschaftlich konzipierten Wissenschaft vom Verwaltungsrecht Anmerkungen eines Nicht-Juristen* von
Prof. em. Dr. Hubert Treiber, Universität Hannover Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 II. Zur Unzeitgemäßheit der Juristischen Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 III. Die Vorbildfunktion des Mayntzschen Steuerungsmodells von 1987 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 IV. Warum das unzeitgemäße Steuerungsmodell von 1987 dennoch heuristischen Wert besitzt . . . . . . . 429 V. Die Ermittlung von Wirkungszusammenhängen und Wirksamkeit – eine Herausforderung nicht nur für die Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438
I. Einleitung Die Konzeptualisierung des Verwaltungsrechts als Steuerungswissenschaft, zugleich ein ambitioniertes Vorhaben, das Verwaltungsrecht aus einer „dienenden“ Zulieferer-Funktion für die Rechtsanwendung zu befreien1 und es zu einer Wissenschaft zu machen,2 ist ein spannender und faszinierender Vorgang, bei dem es sich lohnt, sich * Ich danke Thomas Groß (Osnabrück) für die kritische Durchsicht des Manuskripts und für den Hinweis auf die Arbeit von Jan Philipp Schaefer, Die Umgestaltung des Verwaltungsrechts: Kontroversen reformorientierter Verwaltungsrechtswissenschaft, 2016. Christoph Schönberger (Konstanz) sei für Kritik und Zustimmung ebenfalls gedankt. In meinen Dank schließe ich Frau Gerber mit ein für ihre sorgfältige Bearbeitung resp. Formatierung des Textes. 1 Ivo Appel, Das Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischen Verständnis und steuerungswissenschaftlichem Anspruch, VVDStRL 67 (2008), 226–285 (234, 240). 2 Eberhard Schmidt-Aßmann betont den Wissenschaftsanspruch auf indirekte Weise, indem er die Reform als ein „wissenschaftliches Unternehmen“ bezeichnet; vgl. Eberhard Schmidt-Aßmann, Grundfragen der Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts. Zur Reform des Allgemeinen Verwaltungs-
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der Anfänge dieses Projekts zu vergegenwärtigen, weil dort mit den ursprünglichen Intentionen verbundene Widersprüche erkennbar werden. Das Anliegen, das Verwaltungsrecht als Steuerungswissenschaft zu konzeptualisieren, erschließt sich, indem zunächst die Unzulänglichkeiten des traditionellen Verwaltungsrechts knapp skizziert werden, wofür das Kürzel „Juristische Methode“ steht. Die in den einschlägigen Veröffentlichungen vorgenommene Kritik der Juristischen Methode macht auf indirekte Weise anschaulich, worauf die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft aus ist. An die skizzenhafte Darstellung der Kritik der Juristischen Methode schließt sich die Frage an, warum das von Renate Mayntz 1987 vorgelegte Steuerungsmodell für die Reformer des Verwaltungsrechts so attraktiv war, was zugleich eine nähere Befassung mit diesem Modell impliziert. Dabei zeigt sich eine erste Paradoxie, die darin zum Ausdruck kommt, dass einem sich durch Perspektivenverzerrung auszeichnenden überkommenen Verwaltungsmodell – das Schmidt-Aßmann mit dem Schlagwort der „dogmatischen Normalsituation“ charakterisiert 3 – ausgerechnet mit Hilfe eines Steuerungsmodells zu einer Perspek tivenerweiterung verholfen werden soll, dem Scharpf in der Festschrift für Renate Mayntz eine Perspektivenverengung bescheinigt.4 Die intendierte Perspektivenerweiterung lässt sich fürs Erste beschreiben als das Erkennen von Wirkungszusammenhängen sowie durch die Absicht, mit Recht Wirkung, Wirksamkeit zu erzielen (Schlagwort vom „Bewirken von Wirkungen“). Die spannende Frage, warum eine aus Sicht der Herkunftsdisziplin unzulängliche Rezeption dennoch kreativ sein kann, verweist – und dies ist eine weitere Paradoxie – auf mit dem Steuerungsmodell verbundene Übertragungseffekte des metaphorischen Explanans (Steuerung), wodurch im „Zielbereich“ Assoziationen erzielt werden, die wenige, nur ganz bestimmte Aspekte „auf blitzen“ lassen. Unter ihnen die beiden Aspekte des Wirkungszusammenhangs und der Wirkungsorientierung, also die mit Recht zu erzielende Wirksamkeit,5 auch wenn auf Seiten der Sozialwissenschaften inzwischen eine Ernüchterung hinsichtlich der Wirksamkeit „steuernder Eingriffe“ eingetreten ist und sich gerade Renate Mayntz „mehr und mehr der Begrenztheit steuernder Eingriffe bewußt“ geworden war.6 In diesem Zusammenhang sind auch die den sog. (interdisrechts: Reformbedarf und Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, 2011, 1–70 (7), abruf bar unter: http:// www.dpicuantico.com/wp-content/uploads/2014/04/2_VAcap12ed.com. 3 Schmidt-Aßmann (Fn. 2 ), 8. 4 Fritz W. Scharpf, Politiknetzwerke als Steuerungssubjekte, in: Systemrationalität und Partialinteresse. Festschrift für Renate Mayntz, 1994, 381–407 (381). 5 Es ist zu vermuten, dass der Begriff der Governance diese Assoziationen nicht ausgelöst hätte. Überhaupt stellt die Governance Theorie keine bloße Fortentwicklung der Steuerungstheorie dar, vielmehr hat sich mit dem Konzept des kooperativen Staates, mit dem die „klare Unterscheidbarkeit von Steuerungsobjekt und Steuerungssubjekt verschwindet,“ eine Perspektivenverschiebung ergeben, die den Akzent auf vorhandene Regelungsstrukturen setzt und damit „die Governance-Perspektive in eine institutionalistische Denkweise“ überführt. Zum Ganzen vgl. Renate Mayntz, Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie?, MPIfG Working Paper No. 1 (2004), 11 Seiten, 3, 4. Insofern wäre die Äußerung Schupperts, „(a)lles, was früher Steuerung hieß, heißt heute Governance,“ zu kritisieren; vgl. Aussprache und Schlussworte, VVDStRL 67 (2008), 334–364 (336). Siehe auch Mayntz, Governance im modernen Staat, in: Benz/Dose (Hrsg.), Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen. Eine Einführung, 2010, 37–48 (38 ff.). 6 Uta Gerhardt/Hans-Ulrich Derlien/Fritz Scharpf, Werkgeschichte Renate Mayntz, in: Systemrationalität und Partialinteresse (Fn. 4 ), 15–56 (34 f.).
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ziplinären) Schlüssel-, Verbund- oder Brückenbegriffen zugeschriebenen Funktionen kritisch zu betrachten, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des missglückten Versuchs Max Webers, den soziologischen Anstaltsbegriff nach dem Vorbild des juristischen Anstaltsbegriffs zu konstruieren. Wie es scheint, vermag vor allem der Schlüsselbegriff der Steuerung infolge der durch ihn geweckten metaphorischen Übertragungen einige der diesen sog. interdisziplinären „Brückenbegriffen“ generell zugeschriebenen Funktionen zu erfüllen. Anhand einer gründlichen Fallstudie zum „Grundstückserwerb durch Ausländer in der Schweiz“, die selektiv vorgestellt wird, wird der Versuch unternommen, einige der diskutierten Perspektivenerweiterungen, die Beachtung von Wirkungszusammenhängen, die mit Recht zu erzielende Wirksamkeit sowie die Eigenständigkeit der Verwaltung,7 näher zu betrachten. Dabei drängt sich zum einen die Frage auf, ob eine als Steuerungswissenschaft konzeptualisierte Wissenschaft vom Verwaltungsrecht sich mit den beiden zuerst genannten Reformzielen möglicherweise überfordert. Zum andern soll gefragt werden, ob sich die Aktivitäten der kantonalen Verwaltungen mit dem Begriff der „gesetzes-dirigierten Verwaltung“ erfassen und dogmatisch bändigen lassen.
II. Zur Unzeitgemäßheit der Juristischen Methode Wer sich für die Anfänge der als Steuerungswissenschaft konzeptualisierten Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft interessiert, hat zunächst knapp auf das verbreitete Unbehagen mit der sog. Juristischen Methode einzugehen. Sie erscheint in höchstem Maße als unzeitgemäß, da angezweifelt wird, ob sie „die richtigen, d.h. für die heutige Verwaltungssituation charakteristischen Merkmale erfaßt.“8 Kritisiert wird die von „Otto Mayer nach französischem Vorbild mit Hilfe der aus dem Zivilrecht für das Staatsrecht entwickelte() juristische() Methode“9 vor allem wegen ihrer „rechtsaktbezogenen Perspektive“ und ihrer „justizzentrierten Sichtweise“.10 Dahinter steht ein Modell, das Schmidt-Aßmann die „dogmatische Normalsituation“ Vgl. z.B. Horst Dreier, Zur ‚Eigenständigkeit‘ der Verwaltung, Die Verwaltung 25 (1992), 137–156. Vgl. Aussprache und Schlussworte (Fn. 5 ), 340. 9 Ulrich Battis, Deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft in der Reform, BRJ 1/2011, 41–45 (41). Battis sieht die Vorzüge der juristischen Methode in der gelungenen Überwindung der „Fülle und Heterogenität“ des Verwaltungsrechts. Die Vorbildfunktion des Zivilrechts spricht auch Lepsius an (Aussprache und Schlussworte [Fn. 5], 349 f.) mit der Pointe, dass durch die Kontrastierung des „zivilrechtliche(n) Methodenverständnisses“ mit „einem öffentlich-rechtlichen“, dieses als „neu und modern“ ausgegeben werden kann. Zu den Vorzügen der juristischen Methode siehe auch Andreas Voßkuhle, § 1 Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts. Bd. I: Methoden, Maßstäbe, Aufgaben, Organisation, 2006, 1–61 (6). Zur juristischen Methode ferner Appel (Fn. 1), 235 ff. 10 Voßkuhle (Fn. 9 ), 5. Zu der mit der Justizzentriertheit verbundenen Verzerrung, die eine Berufung auf die „Erfahrungen der Praxis“ obsolet werden lässt, vgl. Erhard Blankenburg, Rechtssoziologie und Rechtswirksamkeitsforschung. Warum es so schwierig ist, die Wirksamkeit von Gesetzen zu erforschen, in: Konstanze Plett/Klaus A. Ziegert (Hrsg.), Empirische Rechtsforschung zwischen Wissenschaft und Politik. Zur Problemlage rechtssoziologischer Auftragsforschung, 1984, 45–68 (59 ff.), mit entsprechenden anschaulichen Beispielen aus der damaligen rechtssoziologischen Forschung. Zur Konzentration auf den Rechtsakt vgl. Appel (Fn. 1), 252. 7 8
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nennt,11 die sich durch eine spezifische Perspektivenverzerrung auszeichnet. In Frage gestellt werden insbesondere drei zentrale Annahmen der herkömmlichen Dogmatik: so die Annahme, die „Verwaltung sei als Einheit zu konzipieren, die das Gesetz in Subsumtionstechnik vollziehe und vollständiger gerichtlicher Kontrolle unterworfen sei.“12 Anzuführen wäre außerdem jene „einflußreiche() Leitvorstellung des Organisationsrechts“, die im „monokratisch-hierarchischen Auf bau der Verwaltung“ und in der mit Weisungsrecht ausgestatteten Hierarchie eine Garantie des strikten Vollzugs der vom Parlament verabschiedeten Gesetze sieht.13 Was Schmidt-Aßmann als „dogmatische Normalsituation“ beschreibt, hat Thomas Kuhn auf den Begriff der „normalen Wissenschaft“ gebracht,14 die aufgrund bewährter Leistungsfähigkeit innerhalb einer wissenschaftlichen Gemeinschaft Akzeptanz gefunden hat und in Lehrbüchern und von einer verbreiteten Ausbildungsliteratur festgeschrieben wird. Vor dem Hintergrund einer schon seit längerem konstatierten „Krise des sog. Ordnungsrechts“ (bzw. des „regulativen Rechts“) richtet sich der steuerungswissenschaftliche Ansatz gegen den Reduktionismus der „dogmatischen Normalsituation“, die „die Vielfalt der Erscheinungsformen von Verwaltung unter den Bedingungen der Europäisierung und Internationalisierung“ nicht zutreffend zu erfassen vermag.15 Insofern richtet sich der steuerungswissenschaftliche Ansatz gegen die in Lehrbüchern als leistungsfähig ausgewiesene „Normalwissenschaft“ und damit gegen eine „durch falsche oder überholte Selektionskriterien“ bestimmt(e) und insoweit überholte Dogmatik, die infolge der ihr eigenen Perspektivenverzerrungen die „Steuerungsleistungen des Rechts“ erheblich beeinträchtige.16 Insoweit kann durchaus von der Propagierung einer neuen Sehweise auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts gesprochen werden, so dass die von I. Bernhard Cohen idealtypisch konstruierten Stadien innovativer Reformprozesse anwendbar sind.17
III. Die Vorbildfunktion des Mayntzschen Steuerungsmodells von 1987 Steuerungsbegriff und Steuerungskonzept wurden den Reformbefürwortern durch G. F. Schuppert vermittelt, der auf einer Tagung Ende November 1991 in Hamburg die Umrisse einer als Steuerungswissenschaft zu konzipierenden Verwaltungsrechtswissenschaft präsentierte. Bei der Ausrichtung des Verwaltungsrechts im Lichte des Steuerungskonzepts berief sich Schuppert (wie auch später andere Reformbefürworter) auf einen von R. Mayntz 1987 im Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissen Schmidt-Aßmann (Fn. 2 ), 8 f. Aussprache und Schlussworte (Fn. 5 ), 340 (Schmidt-Aßmann). 13 Schmidt-Aßmann, Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, in: Schmidt-Aßmann/ Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1997, 9–63 (25 f.). 14 Thomas Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1973, 44 ff., 58 ff. 15 Aussprache und Schlussworte (Fn. 5 ), 340. 16 Aussprache und Schlussworte (Fn. 5 ), 340. 17 I. Bernhard Cohen, Revolutionen in der Naturwissenschaft, 1994. Vgl. Hubert Treiber, Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft – eine „Revolution auf dem Papier“?, KJ 40 (2007), 328–346 (333 ff.), Teil 1. 11
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schaft veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel „Politische Steuerung und gesellschaftliche Steuerungsprobleme – Anmerkungen zu einem theoretischen Paradigma“.18 In diesem Aufsatz präsentiert R. Mayntz ein Steuerungsmodell, das sie mit allgemein gehaltenen Hinweisen einführt, die u.a. darauf abstellen, dass der Steuerungsbegriff vornehmlich „in technischen Zusammenhängen“ gebraucht werde, dieser „nicht nur gezielte Beeinflussung“ bedeute, sondern auch dazu diene, den Vorgang zu erfassen, „ein System von einem Ort oder Zustand zu einem bestimmten anderen zu bringen.“ Das von R. Mayntz vorgestellte Steuerungsmodell zeichnet sich durch eine dem juristischen Denken vertraute „akteurbezogene() Perspektive“ aus,19 bei der Steuerungshandeln und Steuerungswirkung unterschieden werden.20 Das Steuerungshandeln wird einem Steuerungssubjekt [wie dem Staat oder „handlungsfähige(n) soziale(n) Kollektive(n)] zugerechnet, das gezielt auf ein autonomes Steuerungsobjekt einwirkt, um dieses zu veranlassen, sich auf ein Steuerungsziel hin zu „bewegen“. Mit Hilfe verschiedener Steuerungsinstrumente bzw. -modi, die das Steuerungssubjekt gezielt einzeln oder kombiniert einsetzt, soll dieses erreicht werden. Eingesetzt werden (können): bei „regulierende(r) Steuerung“: Gebote und Verbote, bei „finanzieller Steuerung“: Anreizsysteme und Subventionen, bei „prozessualer Steuerung“: Verhandlungssysteme bzw. Verfahren.21 Erforderlich sei ferner ein Steuerungswissen hinsichtlich der „Wirkungsbeziehungen zwischen Steuerungsaktivitäten und Steue18 In: Ellwein/Hesse/Mayntz/Scharpf (Hrsg.), Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft, 1987, Bd. 1, 89–110. Dieses Jahrbuch hatte Schuppert besprochen (Zur Neubelebung der Staatsdiskus sion: Entzauberung des Staates oder „Bringing the state back in“?, Der Staat 28 (1989), 91 ff.). In seiner Rezension weist Schuppert u.a. darauf hin, dass die Herausgeber des Jahrbuches „durchweg renommierte Sozialwissenschaftler (sind), die beeindruckend und bis in die Juristenzunft hinein folgenreich über Staat und Verwaltung publiziert haben“ (a.a.O., 92). Wohl auch ein diskreter Hinweis darauf, dass bei der Rezeption oft genug auch Reputation im Spiel ist. 1995 äußerte sich Mayntz erneut zur Steuerungsthematik: Politische Steuerung: Aufstieg, Niedergang und Transformation einer Theorie, in: Klaus von Beyme/Claus Offe (Hrsg.), Politische Theorien in der Ära der Transformation, PVS-Sonderheft 26 (1995), 148–168. 19 Für den akteurbezogenen Steuerungsbegriff ist vor allem die empirische Policy-Forschung verantwortlich zu machen, vgl. Mayntz (Fn. 5 ), 2. Wenn Schaefer (Fn. *, 97) als „Folie [der] frühen [politikwissenschaftlichen] Steuerungsdebatte“ den „akteurzentrierten Institutionalismus“ nennt, und diesen mit den Merkmalen „Steuerungssubjekte, -objekte, -ziele und -instrumente“ kennzeichnet, dann übersieht er, dass dieser von Mayntz und Scharpf entwickelte Ansatz „das Konzept der Institution auf Regelsysteme“ beschränkt, „die einer Gruppe von Akteuren offenstehende Handlungsverläufe strukturieren.“ Darunter fallen sowohl soziale Normen als auch durch Mitgliedschaftsregeln konstituierte Regelsysteme, vgl. Scharpf, Interaktionsformen. Akteurzentrierter Institutionalismus in der Politikforschung, 2006, 77. Diese Bedeutung von Institution/Institutionalismus wird oft übersehen. 20 D.h. bei diesem Ansatz meint „steuern (…) ein zielgerichtetes Handeln, das von der Wirkung des Handelns analytisch zu unterscheiden ist; Steuerungshandeln bemisst sich nicht am Steuerungserfolg“ (Mayntz [Fn. 5], 2). 21 Diese anschauliche Auflistung von Steuerungsinstrumenten ist entnommen aus: Stefan Lange/ Dietmar Braun, Politische Steuerung zwischen System und Akteur. Eine Einführung, 2000, 24. SchmidtAßmann (Fn. 2 ), 46, hebt hervor, dass sich „(d)ie verhandelnde Verwaltung (…) einer anderen Situation gegenüber (sieht) als die befehlende Verwaltung.“ Es sei jedoch daran erinnert, dass ein Effizienz- und Effektivitätssteigerndes Ergebnis erzielt werden kann durch eine Kombination von befehlender und verhandelnder Verwaltung, die Scharpf unter dem label „Verhandlungen im Schatten der Hierarchie“ erfasst bzw. analysiert hat, vgl. z.B. Scharpf, Die Handlungsfähigkeit des Staates am Ende des zwanzig sten Jahrhunderts, Politische Vierteljahresschrift 32 (1991), 621–634 (629 f.); ders., Einführung: Zur Theorie von Verhandlungssystemen, in: Benz/Scharpf/Zintl (Hrsg.), Horizontale Politikverflechtung. Zur Theorie von Verhandlungssystemen, 1992, 11–27 (25).
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rungsergebnissen“, um eine zweckrationale Wahl der Steuerungsinstrumente bzw. -maßnahmen vornehmen zu können.22 Bevor auf die durch das Mayntz’sche Steuerungsmodell bei den Reformbefürwortern geweckten Assoziationen näher eingegangen wird, sei knapp auf den Forschungskontext eingegangen, in dem dieses Steuerungsmodell steht. Hierzu erfährt man aus dem Einleitungsaufsatz zu der Renate Mayntz zugeeigneten Festschrift: „Auf theoretischer Ebene blieb ihr Interesse indessen trotz Erweiterung des Bezugsrahmens konstant: immer wieder befaßte Mayntz sich mit den Fragen der Steuerung. (…). [Es] zog sich wie ein roter Faden durch ihr Werk in der zweiten – empirisch-verwaltungssoziologischen – Phase ihres Schaffens die letztlich in Max Webers Herrschaftssoziologie verwurzelte Orientierung an Fragen der Steuerung (…). Im Verlauf der Arbeit an diesen verschiedenen Forschungsthemen wurde sich Mayntz mehr und mehr der Begrenztheit steuernder Eingriffe bewußt: (…).“23
Die in diesem Zitat angesprochene Konstanz in der Frage der politischen Steuerung verweist u.a. auf die seit den 1970er Jahren geführte „Diskussion um die Reform von Regierung und Verwaltung (des Bundes)“, die zunächst unter dem Schlagwort Planung,24 dann in Orientierung am Policy-Science-Ansatz geführt wurde.25 Zusammen mit den späteren Vollzugsstudien zum Umweltschutz und den ab Mitte der 1980er Jahren durchgeführten Untersuchungen zur „Gesundheitspolitik und Fragen der Großtechnik“26 trugen bereits diese Untersuchungen zur Ernüchterung hinsichtlich der politischen Steuerungsfähigkeit bei. Wie die in den 1970er Jahren geführte Diskussion zur Reform von Regierung und Verwaltung, so weist auch das Steuerungsmodell von 1987, das überdies der Systemtheorie eine den Reformbefürwor Mayntz (Fn. 18), 94. Gerhardt et al. (Fn. 6 ), 34 f. 24 Mayntz/Scharpf (Hrsg.), Planungsorganisation. Die Diskussion um die Reform von Regierung und Verwaltung des Bundes, 1973; Scharpf, Planung als politischer Prozess. Aufsätze zur Theorie der Planenden Demokratie, 1973. Siehe hierzu auch Mayntz/Streeck, Die Reformierbarkeit der Demokratie: Innovationen und Blockaden. Einleitung, in: Die Reformierbarkeit der Demokratie. Innovationen und Blockaden. Festschrift für Fritz W. Scharpf, 2003, 9–28, (13 ff., Steuerungstheorie). Vgl. auch Scharpf, Politische Planung zwischen Anspruch und Realität. Nachtrag zu einer Diskussion, in: Martin Lendi/ Wolf Linder (Hrsg.), Politische Planung in Theorie und Praxis. Bern, 1979, 21–30 (22): „Rückblickend wird allerdings deutlich, daß die politische Planung von Theorie und Praxis vor allem als Antwort auf drei Probleme verstanden wurde, die nach damals einhelliger Meinung die Qualität und die Wirksamkeit politischer Entscheidungsprozesse beeinträchtigten. Dabei ging es um die mangelnde Rationalität politischer Entscheidungen, die mangelnde längerfristige Orientierung politischer Entscheidungen; und die mangelnde Koordination oder Steuerung der Entscheidungen separater Akteure.“ 25 Erhard Blankenburg/Günther Schmid/Hubert Treiber, Von der reaktiven zur aktiven Politik? Darstellung und Kritik des Policy-Science-Ansatzes, in: Peter Grottian/Axel Murswieck (Hrsg.), Handlungsspielräume der Staatsadministration, 1974, 37–51. Der Policy-Science-Ansatz zeigt deutlich, dass politische Steuerung bzw. „aktive Politik“ einen Problemlösungsbias aufweisen, d.h. „eine selektive und verzerrende Perspektive“ einnehmen. Dies impliziert die Ausrichtung dieses Ansatzes auf staatliche Akteure und damit verbunden auf eine Gesetzgeberperspektive: staatliche Akteure ringen um die Lösung eines gesellschaftlichen Problems, die gefundene Lösung wird als Gesetz verabschiedet, dessen strikte Implementation der gefundenen Lösung zugutekommt. Dieser Problemlösungsbias blendet völlig aus, dass „ein konformer Gesetzesvollzug nicht eo ipso wünschenswert ist, sondern dass ganz im Gegenteil der Nicht-Vollzug unsinniger Gesetze sehr viel sinnvoller sein kann.“ Hierzu und zum Ganzen vgl. Mayntz (Fn. 5 ), 10, 7. 26 Gerhardt et al. (Fn. 6 ), 30 ff., 33 ff. 22
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tern wohl willkommene Absage erteilt, eine „staatszentrierte Ausrichtung“ auf. Die von der Systemtheorie vertretene Möglichkeit dezentraler Steuerung und Selbst steuerung wird dagegen entschieden zurückgewiesen.27 Das Konzept der politischen Steuerung selbst wird in dem bereits zitierten Einleitungsaufsatz der Mayntz’schen Festschrift wie folgt gewürdigt: „Der erste theoretische Zugriff (…) 1987 sollte das Konzept der ‚politischen Steuerung‘ im Rahmen eines handlungstheoretischen Ansatzes präzisieren. Im Ergebnis läuft dieser Definitionsversuch auf einen hierarchischen oder zumindest extrem asymmetrischen Steuerungsbegriff hinaus, der ein handlungsfähiges Steuerungssubjekt mit einer expliziten Steuerungsintention einem Steuerungsobjekt mit Systemeigenschaften gegenüberstellt, das zwar nicht selbst strategisch handeln, aber sich eigendynamisch verändern kann. Der Steuerungsbegriff ist also enger als der Begriff der Handlungskoordination (der auch marktförmige oder solidarische Koordinationsmechanismen einschließen würde), und er soll auch nicht auf Formen der adaptiven oder vereinbarten Selbstkoordination zwischen gleichberechtigten Akteuren angewandt werden.“28
Um eine weitere Paradoxie zu benennen: Es verwundert schon, dass trotz der ausgesprochenen Staatszentriertheit des Mayntz’schen Steuerungsmodells dieses gerade bei am Neuen Verwaltungsrecht interessierten Juristen Anklang fand, die ja der traditionellen Staatslehre ihre Ausrichtung auf den Staat stets vorgeworfen haben.29 Und es verwundert noch mehr, wenn Scharpf R. Mayntz mit dem Hinweis eine „Perspektivenverengung“ bescheinigt, sie habe „den Idealtypus der in ihren Zielen autonomen und hierarchisch implementierten ‚politischen Steuerung‘ erst zu einer Zeit theoretisch auf den Punkt gebracht (…), als die empirische Unwahrscheinlichkeit dieses Steuerungsmodells selbst in den ‚staatsnahen Sektoren‘ moderner Gesellschaften durch die von ihr selbst initiierten Untersuchungen unseres Instituts belegt wurde.“30
IV. Warum das unzeitgemäße Steuerungsmodell von 1987 dennoch heuristischen Wert besitzt Modellbildung beruht stets auf vereinfachten, selektiv herangezogenen Annahmen, die jedoch einen Realitätsbezug aufweisen sollten, um eine empirische Falsifikation zu ermöglichen. Und dennoch fragt man sich, warum ein der empirischen Unwahrscheinlichkeit bezichtigtes Steuerungsmodell jene Assoziationen wecken konnte, die für die Reformjuristen einen heuristischen Wert besaßen,31 also solche Assoziationen auslöste, die sich als geeignet erwiesen, die „rechtsaktbezogene durch eine wirkungs Mayntz (Fn. 18), 101, 93. Gerhardt et al. (Fn. 6 ), 42. Zum Konzept der Eigendynamik, ebenfalls aus dem Jahre 1987, vgl. Mayntz/Nedelmann, Eigendynamische soziale Prozesse. Anmerkungen zu einem analytischen Paradigma, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 39 (1987), 648–668. 29 Helmuth Schulze-Fielitz, Grundsatzkontroversen in der Deutschen Staatsrechtslehre nach 50 Jahren Grundgesetz – in der Beleuchtung des Handbuchs des Staatsrechts, Die Verwaltung 32 (1999), 241– 282. 30 Scharpf (Fn. 4 ), 381–407 (381). 31 Vgl. Martin Eifert, Das Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischen Verständnis und steuerungswissenschaftlichem Anspruch, VVDStRL (2008), 286–333. 27
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bezogene Perspektive“ zu ersetzen, allgemein: Recht (Verwaltungsrecht) als „Steuerungsmittel zu begreifen“.32 Möglich macht(e) dies, so gängige Metapherntheorien,33 der „metaphorische() Rückgriff auf konkretere, einfach strukturierte und sinnlich erfahrbare Ursprungsbereiche,“34 wie es das wenig komplexe Steuerungsmodell vor allem durch den Steuerungsbegriff selbst zur Verfügung stellt. Dieser lädt infolge seiner idealisierten Abstraktion von vertrauten und verständlichen Vorgängen von hoher Anschaulichkeit 35 zur metaphorischen Übertragung auf weitaus komplexere Ziel- resp. Gegenstandsbereiche geradezu ein, wobei durch assoziativ hergestellte Ähnlichkeiten im Entdeckungszusammenhang „neue“ Einsichten vermittelt werden. Die metaphorische Übertragung kann sich mit wenigen, äußerst selektiv zustande gekommenen Aspekten (Wirkungszusammenhang, Wirksamkeit) „begnügen“, die jedoch geeignet sind, systematisch weitere (Reform-)Überlegungen zu entwickeln.36 Nach Franzius bietet die assoziativ hervorgerufene selektive Betrachtungsweise auch die Chance, „die steuerungstheoretische ‚Forschungsheuristik‘ (Voßkuhle) nicht gegen die normative Perspektive [auszuspielen], für die die Unterscheidung zwischen Recht und Nicht-Recht konstitutiv ist.“37 Mit der damit angesprochenen „relative(n) Rechtswidrigkeit“ (Bumke),38 auf die auch der Vorschlag Siehe dazu Claudio Franzius, Funktionen des Verwaltungsrechts im „Steuerungsparadigma“ der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, 3, 7 (nach: http://userpage.fu-berlin.de/~europe/team/Fran ziusC/texts/Funktionen.pdf ). Hoffmann-Riem hat diesen Perspektivenwechsel wie folgt beschrieben: „Verwaltungsrecht ist ein Steuerungsmedium, einerseits, indem die Verwaltung selbst ‚gesteuert‘ wird, andererseits wirkt sie steuernd auf das Verhalten anderer ein: Ziel ist das Bewirken von Wirkungen [mit Hinweis auf den Aufsatz von R. Mayntz von 1987]. Die verschiedenen Steuerungsfaktoren – neben dem Steuerungsprogramm insbesondere die organisatorischen und verfahrensmäßigen Rahmenbedingungen, die beteiligten Personen und die verfügbaren sächlichen Ressourcen (etwa Finanzmittel) – müssen unter Beachtung ihrer jeweiligen Besonderheit und ihres Zusammenwirkens in den normativen Rahmen der Steuerungsprogramme, -modi und -instrumente im Sinne einer ganzheitlichen Durchdringung des Verwaltungshandelns integriert werden“, vgl. Hoffmann-Riem, Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts: Vorüberlegungen, DVBl. 1994, 1381–1390 (1383). 33 Ich verweise hier auf deren relativ ausführliche Darstellung in: Treiber, Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft, KJ 41 (2008), 48–70 (55 ff.), aber auch auf meine Ausführungen „Zum heuristischen Wert der reflektierenden Urteilskraft“ (a.a.O., 63 ff.). Bei dieser kommt die ursprüngliche Bedeutung von „Witz“ bzw. „Takt“ zum Ausdruck: beide zielen ab auf die schöpferische Fähigkeit zur Analogiebildung. Für von Jhering ist „Takt“ ein „schöpferisches Vermögen, das den Juristen erfinderisch macht hinsichtlich der treffsicheren Anwendung von Analogien.“ Vgl. Rudolph von Jhering, Der Zweck im Recht. Bd. 2 (1883), 1970, 36. 34 Olaf Jäckel, Wie Metaphern Wissen schaffen. Die kognitive Metapherntheorie und ihre Anwendung in Modell-Analysen der Diskursbereiche Geistestätigkeit, Wirtschaft, Wissenschaft und Religion, 2003, 28, 40. 35 Indem Mayntz beim Steuerungsbegriff an seine alltagssprachliche Verwendung sowie an die Jedermanns-Erfahrung „Steuerung des Fahrverhaltens eines Autos“ erinnert, spricht sie damit einen Bewegungsvorgang in Raum und Zeit an; diese beiden „Größen“ machen ja den Inbegriff von Anschaulichkeit aus! 36 Voßkuhle (Fn. 9 ), 24, spricht davon, dass „der Steuerungsansatz den Blick für neuartige Formen des Verwaltungshandelns (öffnet)“. Eine schlichte, konventionelle Übertragung, wie sie sich z.B. bei Schuppert, Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft. Zur Steuerung des Verwaltungshandelns durch Verwaltungsrecht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts. Grundfragen, 1993, 63–114 (69 f.), findet, vermag den besagten Blick nicht zu öffnen. 37 Franzius (Fn. 32), 8 f. 38 Christian Bumke, Relative Rechtswidrigkeit. Systembildung und Binnendifferenzierungen im 32
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abzielt, „den Steuerungsbegriff (…) als normativen Zurechnungs- und Rechtsfolgenzusammenhang [zu] rekonstruieren,“ ist eine äußerst schwierige Problematik benannt, die, wie mir scheint, trotz der gefundenen eleganten Formulierungen (wie „gesetzes-dirigierte Verwaltung“) nicht wirklich gelöst ist. Bestätigt wird die hier vertretene Auffassung eines durch metaphorische Übertragung hervorgerufenen heuristischen Werts des Steuerungsmodells von 1987 indirekt durch Ausführungen zu den sog. Schlüssel- oder Brückenbegriffen. Schüsselbegriffe, interdisziplinäre Verbundbegriffe (Trute) oder Brückenbegriffe (Hoffmann-Riem) sind auf den ersten Blick kreative Wortschöpfungen, denen vielfältige Funktionen zugeschrieben werden, ohne dies jedoch näher zu begründen. Exemplarisch sei hier auf Voßkuhle verwiesen: „Ihnen [‚Schlüsselbegriffe(n)‘] kommt die wichtige Funktion zu, gemeinsame Aufmerksamkeits- und Arbeitsfelder näher zu bezeichnen (Verständigungsfunktion). Gleichzeitig sollen sie übergreifende Ordnungsideen, Wirklichkeitsannahmen, Wirkungshypothesen u.ä. für unterschiedliche Argumentationszusammenhänge fruchtbar machen, indem sie eine Fülle von Informationen und Gedanken in einem Wortspeicher bündeln, strukturieren und begreif bar machen (Erklärungs- und Deutungsfunktion). Neue Schlüsselbegriffe (…) reduzieren auf der einen Seite Komplexität, dienen aber gleichzeitig als Inspirationsplattform, indem sie noch unausgegorenen Überlegungen ersten Halt geben, verschiedene Perspektiven zusammenführen (Vernetzungsfunktion) und Anleitung für die Zukunft bieten (Orientierungsfunktion). Schlüsselbegriffe sind folglich ganz besonders auf Konkretisierung angewiesen, sie geben keine eindeutige Antwort, sondern weisen dem Denken den Weg.“39
Lässt man die Vielfalt der angesprochenen Funktionen einmal beiseite, dann verweisen die Überlegungen Voßkuhles im Kern implizit auf die Bedeutung metaphorischer Übertragung und bestätigen somit, wenn auch ungewollt, meine Ausführungen zur kognitiven Funktion der Steuerungsmetapher.40 Insofern müsste die oben bemängelte, fehlende Begründung Anleihe nehmen bei modernen Metapherntheorien oder sich wenigstens auf Kants „reflektierende Urteilskraft“ beziehen.41 Ansonsten hat ein Brücken- oder Verbundbegriff eine ganz triviale Bedeutung: dass er zwar im Begriffsvorrat verschiedener Disziplinen (Rechts- und Sozialwissenschaften) vorkommt, doch in recht unterschiedliche Verwendungszusammenhänge (beschreibender, oft auch theoretischer Natur) eingebettet ist, aus denen der jeweilige Begriff nicht ohne weiteres herauszulösen ist. Um dies zu verdeutlichen, sei Max Weber als Kronzeuge herangezogen. Bei der Definition des soziologischen Anstaltsbegriffs bezieht sich Weber in den Soziologischen Grundbegriffen und im Kategorien-Aufsatz von 1913 auf den juristischen Anstaltsbegriff, so dass man auch hier an einen interdisziplinären „Verbundbegriff “ denken könnte. Damit löst er seine unter methodologischen Gesichtspunkten getroffene Ankündigung ein, für die „Betrachtung des überall stetige Uebergänge zwiÖffentlichen Recht, 2004, 264, zitiert nach Franzius (Fn. 32), 9, Fn. 48, unter Verwendung der von Bumke herangezogenen Formulierung „etwas zur Folge haben sollen“, eine Ausdrucksweise, die Waechter irritierte (Aussprache und Schlussworte [Fn. 5], 346). 39 Voßkuhle (Fn. 9 ), 35. 40 Hierfür spricht beispielsweise die zutreffende Formulierung „Schlüsselbegriffe (…) weisen dem Denken den Weg.“ 41 Treiber, KJ 41 (2008), 55 ff.
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schen den ‚typischen‘ Fällen zeigenden realen Handelns sehr oft die scharfen, weil auf syllogistischer Interpretation von Normen ruhenden, juristischen Ausdrücke“ zu verwenden, „um ihnen dann ihren eigenen, von dem juristischen der Wurzel nach verschiedenen, Sinn unterzuschieben.“42 Dies ist jedoch Weber nicht gelungen, auch wenn er vorgibt, mit dem soziologischen Anstaltsbegriff und seiner spezifischen Merkmalsausprägung einen universell anwendbaren, seiner juridischen Herkunft entkleideten Begriff geschaffen zu haben. Vielmehr weist auch der soziologische Anstaltsbegriff jene Merkmale auf, die den juristischen kennzeichnen: „Zwangsmitgliedschaft, rational gesatzte Ordnungen, bürokratische Anstaltsorgane mit satzungsregulierten Kompetenzen“, „fehlende Mitgliederrechte an der Verbandsverwaltung.“43 D.h. der soziologische Anstaltsbegriff ist demnach weitgehend bestimmt durch den juristischen44 und hat zudem im „Gepäck“ dessen Kontextabhängigkeit mit der „im wilhelminischen Deutschland so naheliegenden Identifikation des Staates mit der Bürokratie.“45 Schlüssel- oder Verbund- bzw. Brückenbegriffe können bestimmte, ihnen zugeschriebene Funktionen nur erfüllen, wenn es sich nicht um feststehende, präzise Begriffe,46 sondern um metaphorische Begriffe handelt. Vor allem wird Metaphern „kognitive Signifikanz dann zugesprochen, wenn sie als Analogien konzipiert sind oder sich so auffassen lassen.“47 Nur in ihrer „Eigenschaft“ als Metaphern können Schlüsselbegriffe disziplinäre Grenzen überschreiten,48 ob sie dabei alle der ihnen von Voßkuhle zugeschriebenen Funktionen erfüllen, mag indessen bezweifelt werden. Beschränkt man sich jedoch auf ihre wichtige, erkenntnisfördernde heuristische Funktion, was allerdings einer Begründung bedarf, dann bestätigen sie auf indirekte 42 Max Weber, Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. J. Winckelmann, 1988, 427–474 (440). 43 Sieg fried Hermes, Staatsbildung durch Rechtsbildung – Überlegungen zu Max Webers soziologischer Verbandstheorie, in: Andreas Anter/Stefan Breuer (Hrsg.), Max Webers Staatssoziologie. Positionen und Perspektiven, 2007, 81–101, 84 u. 95. 44 Hermes, Der Staat als „Anstalt“. Max Webers soziologische Begriffsbildung im Kontext der Rechts- und Sozialwissenschaften, in: Klaus Lichtblau (Hrsg.), Max Webers „Grundbegriffe“. Kate gorien der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung, 2006, 184–216 (212): Hermes verweist darauf, dass sich die „begriffskonstitutiven Merkmale“ des Weberschen Anstaltsbegriffs in der Anstaltstheorie Otto Mayers finden, so dass die Vermutung erhärtet werde, „daß Organisations- und Herrschaftszentriertheit der staatsrechtlichen Begriffsbildung die Sinnstruktur der soziologischen Parallelterminologie (!) maßgeblich determiniert.“ (Ausrufungszeichen von mir). 45 Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreiches (1871–1918), 1997, 315. 46 Allein schon die Politikwissenschaft und die Soziologie kennen unterschiedliche Steuerungsbegriffe, vgl. Mayntz (Fn. 5 ), 2. 47 Lutz Danneberg, Sinn und Unsinn einer Metapherngeschichte, in: Hans Erich Bödecker (Hrsg.), Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, 2002, 259–421 (305, 313). Lutz Danneberg sei an dieser Stelle nochmals ausdrücklich dafür gedankt, den in der Kritischen Justiz (2007, 2008) veröffentlichten Beitrag als ausgewiesener Metaphern-Spezialist kritisch durchgesehen zu haben. 48 Zur disziplinären Grenzüberschreitung gibt Gottfried Gabriel mit dem Hinweis auf Frege ein überzeugendes Beispiel, der „als Logiker ein harter Proportionalist, als philosophischer Autor aber ein begnadeter Metaphoriker war“, vgl. Gottfried Gabriel, Der Logiker als Metaphoriker. Freges philosophische Rhetorik, in: ders., Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, 1991, 65–88 (66). Ferner: ders., Begriff-Metapher-Katachrese. Zum Abschluss des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, in: Lutz Danneberg/Carlos Spoerhase/Dirk Werle (Hrsg.), Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, 2009, 11–22.
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Weise, dass das Steuerungsmodell von 1987 trotz seiner Unzeitgemäßheit eine heuristischen Funktion besaß, die dem Entwurf einer Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft zugutekam.
V. Die Ermittlung von Wirkungszusammenhängen und Wirksamkeit – eine Herausforderung nicht nur für die Dogmatik Der auf assoziative Weise durch metaphorische Übertragung gewonnene Begriff der Wirkung bzw. Wirksamkeit ist naturgemäß zunächst unscharf, was möglicherweise dazu verleitet, die Schwierigkeiten zu unterschätzen, wenn ermittelt werden soll, ob die vom „Steuerungssubjekt“ (Staat, kollektive Akteure) gesetzten Ziele erreicht wurden, also von Wirksamkeit gesprochen werden kann.49 Anhand einer besonders gründlichen und einen längeren Zeitraum umfassenden Fallstudie zum „Grundstückserwerb durch Ausländer in der Schweiz“ sollen typische Schwierigkeiten – einige von ihnen werden auch in den einschlägigen Publikationen der Reformjuristen durchaus benannt – angesprochen werden,50 wohl wissend, dass in der Schweiz ein am Senatsmodell ausgerichteter Föderalismus existiert und ein anderes (Verfassungs-) Recht Geltung hat.51 Doch lassen sich mit Hilfe dieser umfangreichen Studie einige Besonderheiten ansprechen, die nicht nur Fragen zur Ermittlung von Wirkungszusammenhängen und Wirksamkeit aufwerfen, sondern auch Fragen zu bedenken geben, wie bestimmte Befunde dieser Studie in die „Begriffswelt der Verwaltungsrechtswissenschaft“ zu integrieren wären, wie dies u.a. mit dem Begriff der „gesetzes-dirigierten Verwaltung“ vorgeschlagen wird. Die ausgewählte Fallstudie kann vor allem anschaulich vermitteln, wie komplex realiter Wirkungszusammenhänge 49 Zu den Problemen, die bei einer Ermittlung von Wirksamkeit von Recht (Gesetzen) auftreten, vgl. Hubert Rottleuthner/Margret Rottleuthner-Lutter, Effektivität von Recht. Der Beitrag der Rechtssoziologie, in: Gerhard Wagner (Hrsg.), Kraft Gesetz. Beiträge zur rechtssoziologischen Effektivitätsforschung, 2010, 13–34. Beide Autoren verstehen unter Wirksamkeit (Effektivität) von Gesetzen, „dass die Ziele des Gesetzgebers (!) tatsächlich erreicht werden. Die Wirksamkeit von Gesetzen (…) bemisst sich nicht nur daran, dass die Normen befolgt werden. Es kommt auch darauf an, dass die Befolgung von Gesetzen Wirkungen zeitigt, die erst zielführend sind. Man muss also von einer Kaskade von Wirkungszusammenhängen ausgehen: Setzung der Norm-Befolgung-Wirkung der Befolgung (= Zielerreichung?)“ (a.a.O., 13 f.). Selbst bei diesem vereinfachten Verständnis von Wirksamkeit („der“ Gesetzgeber) stellen sich solche Fragen, was Befolgen bedeutet und „in welchem Sinn konstitutive Rechtsnormen effektiv sind“ (a.a.O., 14, 21 ff.). Auch wenn der zitierte Beitrag u.a. Strafrechtsnormen im Blick hat und eine quantitative Analyse bevorzugt, wird unabhängig hiervon in einer Abbildung (a.a.O., 27) „die Grundstruktur der Rechtswirkungsforschung“ veranschaulicht, „in der es sowohl um die Befolgung von Rechtsnormen geht wie um die Wirkungen der Befolgung, die zu den erwünschten Zielen führen können – aber auch zu unerwünschten, beabsichtigten oder unbeabsichtigten, vielleicht auch in Kauf genommenen Nebenwirkungen“ (a.a.O., 25), aber auch eine Reihe weiterer Schwierigkeiten angesprochen werden, so z.B. die oftmals gegebene „Unklarheit der legislativen Zielvorgaben“. Siehe dazu auch Blankenburg, Über die Unwirksamkeit von Gesetzen, ARSP 63 (1977), 31–58 (39). 50 Jean-Daniel Delley/Richard Derivaz/Luzius Mader/Charles-Albert Morand/Daniel Schneider, Grundstückserwerb durch Ausländer in der Schweiz. Empirische Untersuchung des Vollzugs der Lex Furgler, 1984. 51 Zum Verhältnis von Parlament und Regierung (Bundesrat) vgl. Wolf Linder, Schweizerische Demokratie, 2012, 213 ff.
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sind, welche Bedeutung Verwaltungsstrukturen haben und welche Auswirkungen der „Eigensinn“ von Verwaltungen haben kann. Es bedarf in der Regel eines beträchtlichen Aufwands, um zu ermitteln, „welches die intendierten Wirkungen“ des Steuerungssubjekts (Gesetzgebers) sind, da Gesetze kontrovers verabschiedet werden und oftmals Kompromisse darstellen, bisweilen sogar symbolisch gemeint sind.52 Im Fall einer „symbolischen Bedeutung“ bedeutet dies die „bewusste Inkaufnahme faktischer Unwirksamkeit.“53 Es gibt auch Gesetze, die ausdrücklich keine Ziele nennen, so der 1961 in der Schweiz verabschiedete, zunächst auf 5 Jahre befristete dringliche Bundesbeschluss (lex von Moos) zur Regelung des „Grundstückserwerbs durch Ausländer in der Schweiz“.54 Dieser Bundesbeschluss sah vor, dass ein ausländischer Gesuchsteller zum Erwerb eines Grundstücks (Eigentums) den Nachweis eines „berechtigten Interesses“ zu erbringen hatte (ein unbestimmter Rechtsbegriff, der nach herrschender Lehre nur eine verbindliche Entscheidung zulässt). Die unterschiedlichen Interessen zwischen Bund und Kantonen (unter ihnen Touristenkantone) ließen sich so zunächst auf einen „gemeinsamen Nenner“ bringen, der von den den Bundesbeschluss anwendenden kantonalen Verwaltungen „verschieden verstanden werden konnte,“55 aber auf diese Weise das unliebsame Reizwort der „Bodenüberfremdung“ vermied.56 Ein überparteiliches Aktionskomitee hatte die Regierung unter Handlungszwang gesetzt mit der Drohung, eine Verfassungsinitiative gegen angebliche „Überfremdung des Bodens“ zu lancieren.57 1970 wurde der bestehende Bundesbeschluss revidiert, was dazu führte, dass die Zahl der erteilten Bewilligungen anstieg.58 Hierfür ist eine Bestimmung verant Blankenburg (Fn. 49), 41 ff. Blankenburg (Fn. 10), 64. Helmut Weidner/Peter Knoepfel geben in einem Beitrag, der auf ihrer, mehrere europäische Länder betreffenden, mehrbändigen Studie zur Luftreinhaltepolitik basiert, die auch der Frage nach dem Verhältnis von Aufwand und Ertrag nachging, hierzu ein anschauliches Beispiel: „So fiel in Italien auf, dass zwar auf Parlamentsebene relativ scharfe Grenzwerte festgelegt wurden, jedoch bei der an anderer Stelle geführten Budgetdebatte die zur Implementierung notwendigen Verwaltungsmittel blockiert wurden.“ Vgl. Weidner/Knoepfel, Innovation durch international vergleichende Politikanalyse dargestellt am Beispiel der Luftreinhaltepolitik, in: Mayntz (Hrsg.), Implementation politischer Programme II. Ansätze zur Theoriebildung, 1983, 221–255 (239). Siehe auch das von beiden Autoren mit Blick auf ihr Forschungsinteresse entworfene Konzept zur Programmstruktur mit den Dimensionen „Steuerungsniveaus“ (national, regional, lokal, bezogen auf drei Grundtypen: nationales Vollprogramm, nationales Teilprogramm, nationales Rumpfprogramm), „Steuerungsdimensionen“ (Immissionsnorm, Meßmethoden, -netze, Beurteilungskriterien, Emissions- und Produktnormen, Organisation, Finanzierung, Verwaltungsinstrumente, -verfahren), in Beziehung gesetzt zum „Programmkern“ sowie zu den „inneren“ und „äußeren Programmschalen“, vgl. Knoepfel/Weidner, Normbildung und Implementation, Interessenberücksichtigungsmuster in Programmstrukturen von Luftreinhaltepolitiken, in: Mayntz (Hrsg.), Implementation politischer Programme. Empirische Forschungsberichte, 1980, 89. 54 Vor 1999 handelte es sich bei einem dringlichen Bundesbeschluss um ein von der Bundesversammlung (Parlament) für dringende Fälle verabschiedetes, jedoch befristetes Gesetz von allgemeiner Bedeutung. 55 Delley et al. (Fn. 50), 208. 56 Das Ausmaß an Bodenüberfremdung lässt sich nicht direkt an der Zahl der erteilten Bewilligungen ablesen. 57 Zur Vielfalt der unterschiedlichen, ja konträren Interessen, zum Verzicht auf Zielangaben im Bundesbeschluss von 1961 vgl. Treiber, Zur Umsetzung von Rechtsnormen. Begrenztes Steuerungspotential von Gesetzen und Verordnungen, 1996, 11 ff. 58 Delley et al. (Fn. 50), 37 f. 52
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wortlich zu machen, die den „Erwerb einer Zweitwohnung“ rechtlich anerkannte, wenn sich die Lage des Grundstücks an einem Ort befand, „dessen Wirtschaft vom Fremdenverkehr abhängt (Fremdverkehrsorte) und der Ansiedlung von Gästen bedarf, um den Fremdenverkehr zu fördern (Eigenheimtourismus).“ Allerdings „vergaß“ der Bundesrat (Regierung) genau zu definieren, welche Orte unter diese beiden Vorgaben fallen. Diese Regelung galt einer Vereinheitlichung der Rechtsanwendung, sollte also die Geltungskomponente stärken, die von ihr ausgehende Wirkung brachte jedoch nicht die erstrebte erhöhte Wirksamkeit, sondern auferlegte vielmehr einer bislang wirksamen restriktiven Bewilligungspraxis, wie vom Kanton Luzern praktiziert, eine „Öffnung“. Zwischen Geltung und Wirksamkeit von Rechtsnormen besteht demnach nicht unbedingt ein kausaler Zusammenhang. Es trat damit auch eine Zielverschiebung hin zum Erwerb von Zweitwohnungen ein, so dass von einem gewissen Lenkungseffekt gesprochen werden kann. Die mit der lex celio von 1971 vorübergehend verhängte Bewilligungssperre59 wird übersprungen, auf die 1974 verabschiedete lex Furgler wird hingegen knapp eingegangen. Von besonderem Interesse ist die der lex Furgler beigegebene Durchführungsverordnung, die an der Bewilligungssperre für bereits „gesättigte“ Fremdenverkehrsorte festhält (genau betrachtet handelt es sich um eine Bewilligungssperre für Gesuche zum Erwerb einer Zweitwohnung). Angeblich verfolgte der Gesetzgeber damit einen restriktiveren Kurs, den er mit der Feststellung unterstrich, Fremdenverkehrsorte im Sinne des Bundesgesetzes zur Förderung des Hotel- und Kurortkredits seien zu ihrer wirtschaftlichen Entwicklung nicht unbedingt auf den Eigenheimtourismus angewiesen. Der Anhang 1 der Durchführungsverordnung führt all diejenigen Orte auf, deren wirtschaftliche Entwicklung vom Fremdenverkehr abhängig ist. Diese Liste ist jedoch weitgehend identisch mit jener, die der Art. 4 des erwähnten Bundesgesetzes aufzählt. Es werden somit beinahe alle in Frage kommenden Gemeinden genannt. Der Anhang 2 der Durchführungsverordnung führt all diejenigen Gemeinden auf, bei denen die Bewilligungssperre uneingeschränkt gilt (gelten soll), da dort ein gewisser Sättigungsgrad erreicht ist. Allerdings war es möglich, unter bestimmten Bedingungen (Stichwort Quotensystem) eine Ausnahmebewilligung (für Zweitwohnungen) zu erhalten. Die Ausnahmeregelung wurde jedoch vor allem von den Tourismuskantonen (wie dem Wallis) zur Regel gemacht, was den Bundesrat 1980 veranlasste, eine Kontingentierung einzuführen. Damit verbundene, nicht intendierte bzw. in Kauf genommene Nebenwirkungen (wie Zersiedelung der Landschaft) bleiben hier unberücksichtigt. Wenn das Steuerungssubjekt (hier: Bundesrat) mit detaillierten Durchführungsverordnungen kommt, steigt für die kantonalen Vollzugsverwaltungen die Chance, ihre Interessen und Zielvorstellungen eher geltend zu machen, weil sich der Gesetzgeber vom Informationsvorsprung der ausführenden Behörden abhängig macht. Schon jetzt wäre zu fragen, inwieweit der Forderung nach einer „Steuerung durch Recht“ Chancen eingeräumt werden können, wenn die Bedingungen für die Wirksamkeit von Recht weitgehend unbekannt sind oder aufwendig erforscht werden müssen und, sofern sie bekannt sind, doch als schwer beeinflussbar gelten (es sei hier 59 Delley et al. (Fn. 50), 38. Selbst die Bewilligungssperre konnte die Erteilung von Bewilligungen nicht verhindern, vgl. Treiber (Fn. 57), 22.
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nur an die lex Furgler erinnert).60 Bevor ich näher auf die nicht zu übersehende Eigenständigkeit der kantonalen Verwaltungen eingehe, soll am Beispiel zweier Kantone, die einerseits eine restriktive Genehmigungspraxis (Luzern), andererseits eine großzügige Genehmigungspraxis (Wallis) verfolgten, kurz angesprochen werden, wie diese beiden Kantone die vom Bund vorgegebene Verfahrensseite, die ein gewisses Desinteresse an gerichtlicher Kontrolle zum Ausdruck bringt, durch solche organisatorischen Maßnahmen absicherten, die ihrem jeweiligen Eigeninteresse entgegen kamen. Die lex von Moos hatte den Kantonen aufgegeben, eine (oder mehrere) Bewil ligungsbehörde(n), eine beschwerdeberechtigte Behörde sowie eine Beschwerde instanz einzurichten, bei der gegen Entscheide der erstinstanzlichen Bewilligungs behörde(n) Widerspruch eingelegt werden kann. Ferner wurde eine unabhängige Eidgenössische Rekurskommission eingerichtet, deren Kompetenzen 1969 dem Bundesgericht übertragen wurden. Bei dieser Rekurskommission konnten die Entscheide der kantonalen Beschwerdeinstanz von Gesuchstellern wie vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement bzw. Bundesamt für Justiz angefochten werden. Diese Konstruktion erfüllt die Voraussetzungen einer „passiven Institutionalisierung“: d.h. die Rekurskommission (später das Bundesgericht) hat keine Chancen, tätig zu werden, sofern die kantonale Ebene Konflikte vermeidet. Sie kann nur die „restriktive Praxis der erstinstanzlichen Behörden gegen zu großzügige Entscheide der kantonalen Beschwerdeinstanzen (…) schützen.“61 Der untersuchte Touristenkanton Wallis sicherte seine von der passiven Institutionalisierung begünstigte großzügige Bewilligungspraxis organisatorisch dadurch ab, dass er eine „zentralistisch-geschlossene“, hierarchisch ausgerichtete Implementationsstruktur auf baute, die tendenziell eine eher einheitliche Auslegung- und Bewilligungspraxis garantierte,62 wohingegen der an einer restriktiven Bewilligungspraxis interessierte Kanton Luzern eine „dezentral-geöffnete“ Implementierungsstruktur wählte, um sich seine erstinstanzlich restriktiven Entscheide, sollten sie von Gesuchstellern angegriffen werden, von der Rekurskommission bzw. vom Bundesgericht bestätigen zu lassen.63 Was angesichts unpräziser Ziele und zurückhaltendem Engagement des Gesetzgebers (Bundesrat, Parlament) Vollzugsdefizite bei den kantonalen Verwaltungen zu begünstigen schien, erscheint in einem anderen Licht, wenn man auf die Eigenständigkeit der kantonalen Vollzugsverwaltungen abstellt, die der Gesetzgeber, wenn Dies ist offensichtlich, wenn ökonomische bzw. finanzielle Interessen eine vom Gesetzgeber eingeräumte Wahlfreiheit bestimmen, wie dies beim StBauFG von 1971 zwischen „Bausubstanzsanierung“ und „Funktionsschwächesanierung“ der Fall war. Die von den Kommunen gestellten Anträge wurden „ausgesiebt“, wenn sie das vom Gesetz vorgegebene Kriterium der „zügigen Durchführung“ der vorgesehenen Sanierungsmaßnahme nicht erfüllten. Erfüllt wurde dieses Kriterium, wenn die Option der „Funktionsschwächesanierung“ gewählt wurde, da diese einerseits den (Ausdehnungs-)Interessen des „tertiären Sektors“ entgegenkam, andererseits dessen anlagebereitem Kapital eine „zügige Durchführung“ garantierte, vgl. Fritz W. Scharpf/Bernd Reissert/Fritz Schnabel, Politikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, 1976, 158–186, (169 ff.). Ferner Treiber, Wie wirkt Recht? Methodische Aspekte bei der Erforschung von Wirkungszusammenhängen, in: Wagner (Fn. 49), 119–144 (121 ff.). 61 Delley et al. (Fn. 50), 34. 62 Details bei Delley et al. (Fn. 50), 53; sowie Treiber (Fn. 57), 16, mit Fn. 28. 63 Details bei Delley et al. (Fn. 50), 87 f.; sowie Treiber (Fn. 57), 16, mit Fn. 29. 60
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auch verhalten, steuern wollte, die sich als Steuerungsobjekte jedoch selbst steuerten. Nach W. Linder hatten „(d)ie Kantone ihre Kompetenzen im Gesetz für ihre eigenen Ziele in ganz verschiedener Richtung genutzt und den Vollzug in noch unterschiedlicherer Weise gestaltet. Während Luzern die Begrenzung des Grundstückserwerbs mit einer sanften Tourismusentwicklung verband und ziemlich genau den Zielen des Bundes folgte, instrumentalisierten andere Kantone das Bundesgesetz für völlig andere Absichten („Ziele“, HT): Genf betrieb sozialen Wohnungsbau, das Wallis Tourismusentwicklung. Beide nutzten ein ähnliches Anreizsystem; die (von Ausländern) begehrte Bewilligung wurde an Bedingungen geknüpft, die indirekt zur Finanzierung des sozialen Wohnungsbaus bzw. der Tourismusprojekte beitrugen.“64
Insofern wird das „zentralstaatliche Programm“ (lex Furgler) des Steuerungssubjekts von den eigenständigen Steuerungsobjekten „mit einem reichen Arsenal politischer wie administrativer Eigenmittel [umgeformt] und selektiv aus-[genutzt], wie es den regionalen Sonderwünschen [selbst gesetzten Zielen, HT] entspricht.“65 Es sind demnach die eigenständigen kantonalen Verwaltungen, die diesem Gesetz (lex Furgler) einen Inhalt gaben. Eine ähnliche Sehweise vertreten auch T. Ellwein und P. Wollscheid, wenn sie darauf hinweisen, dass die Differenz zwischen dem, was der Verwaltung vom Steuerungssubjekt als Steuerungsziel vorgegeben wird, und dem, was sie schließlich daraus macht, nicht das „viel zitierte Vollzugsdefizit (ist), sondern eine der möglichen Verwirklichungen dessen, was [seitens der Verwaltung tatsächlich] gewollt wird.“66 Mit Blick auf die Wirksamkeit müsste man festhalten: Gemessen an den proklamierten Intentionen (Zielen) des Gesetzgebers (Steuerungssubjekts) ist von „selektiver Ineffektivität“ zu sprechen, wohingegen die gegebene Eigenständigkeit der kantonalen Verwaltungen diesen zu einer „selektiven Effektivität“ ihrer eigenen Zielvorstellungen im Sinne einer Selbststeuerung verhilft. Linder, Schweizerische Demokratie. Institutionen-Prozesse-Perspektiven, 2005, 182; ferner Linder (Fn. 51), 197 ff. Vgl. auch Treiber (Fn. 60), 119–144 (129 ff.). Linder hat auf der Basis einer überschaubaren Anzahl von Fallstudien im Sinne einer hypothetischen Generalisierung eine Vierfelder-Tafel konstruiert, bei der der „Grad des Konsensus‘ auf der Bundesebene und auf der kantonalen Ebene“ ausschlaggebend für den „Grad der Umsetzung von Bundesgesetzen“ in der Schweiz ist. Vgl. Dietmar Braun, Dezentraler und unitarischer Föderalismus. Die Schweiz und Deutschland im Vergleich, Swiss Political Science Review 9 (2003), 57–89 (72, vgl. insb. 71–81). Scharpf, Kontingente Generalisierung in der Politikforschung, in: Mayntz (Hrsg.), Akteure-Mechanismen-Modelle. Zur Theoriefähigkeit makro-sozialer Analysen, 2002, 213–235 (214, 221 ff.) hat unter Berufung auf Max Weber gezeigt, wie Wahrscheinlichkeitsurteile, die auf einer „generalisierenden Betrachtung des Einzelfalles“ (v. Kries) beruhen, unter Heranziehung nomologischen (Erfahrungsregeln) und ontologischen Wissens (zu sich verändernden Umständen) theoretisch zu rechtfertigen sind, ohne allerdings zu sehen, dass Weber sich dabei auf die Theorie der objektiven Möglichkeit von J. v. Kries stützt. Diese angesprochene Vorgehensweise ist angebracht, wenn „die politisch handelnden (korporativen) Akteure unter unterschiedlichen institutionellen Rahmenbedingungen auf unterschiedliche situative Herausforderungen mit unterschiedlichen kognitiven und normativen Handlungsorientierungen reagieren und (…) deshalb die erklärungsrelevanten Faktorenkonstellationen nicht oft in identischer Form auftreten“, was die ontologischen Bedingungen angeht. Siehe auch Treiber (Fn. 60), 130 ff. Zu von Kries vgl. Michael Heidelberger, From Mill via von Kries to Max Weber sowie Treiber, Max Weber, Johannes von Kries and the Kinetic Theory of Gases, Max Weber Studies 15 (2015), 13–45 u. 47–68 (Korrekturhinweis: im Zitat auf S. 55, 4. Zeile v. oben, muss es heißen: we only need to know). 65 Linder, Politische Entscheidung und Gesetzesvollzug in der Schweiz, 1987, 102. 66 Ellwein/Wollscheid, Die Vorschriften der Gewerbeaufsicht. Zugänge zu einer Analyse, Zeitschrift für Gesetzgebung 1 (1986), 315–337 (320). 64
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Auch wenn die gefundene Kompromissformel vom „berechtigten Interesse“ zu eigenständigem Verwaltungshandeln einlädt, so ist und bleibt doch eines der „Hauptziele“ des Steuerungssubjekts (hier Bundesrat) die Reduzierung der Bewilligungen, daran erkennbar, dass es mit Durchführungsverordnungen auf kantonale „Vollzugspraktiken“ reagiert, z.B. durch Kontingentierung. Die Eigenständigkeit der kantonalen Verwaltungen ist offensichtlich, sie erzielen mit Recht und administrativen Maßnahmen je nach den selbstgesetzten Zielen („Selbststeuerung“) Wirksamkeit. Zu den administrativen Maßnahmen gehört z.B. auch, dass die kantonalen Verwaltungen im Wallis und in Luzern die mit der „passiven Institutionalisierung“ gegebenen verfahrensrechtlichen Optionen jeweils nach ihren Zielvorstellungen durch organisatorische Maßnahmen absichern, die im Wallis die Chance zur gerichtlichen Kontrolle einschränken, um die Rechtsverwirklichung nach eigenen Inhalten nicht zu gefährden. Auch in der Schweiz besteht „das Verwaltungsrecht zu einem guten Teil aus Verfahrens- und Organisationsregeln, ist damit aber auch Recht, das die Erzeugung von Recht durch die Verwaltung organisiert.“67 Auf den ersten Blick besticht die Formel von der „gesetzes-dirigierten Verwaltung“, versucht sie doch, die auf Wirksamkeit angelegte Steuerung durch den Gesetzgeber mit der Eigenständigkeit von Verwaltung in Einklang zu bringen. Doch wie steht es dabei mit der rechtlich-dogmatischen „Bändigung“ der Verselbstständigungsgefahr der eigenständigen Bürokratie gegenüber dem Gesetzgeber (Steuerungssubjekt) und wie ist zu „garantieren“, dass mit dem vom Steuerungssubjekt vorgegebenen Recht dennoch Wirksamkeit erreicht wird, ohne dass die eingehende Formel „Alles Recht zielt auf Wirksamkeit“ die Qualität einer regulativen Idee besitzt. Und wie wären im konkreten Fall z.B. der lex Furgler die tatsächlichen Wirkungszusammenhänge zu ermitteln, die sich abstrakt leicht beschreiben lassen als „Wirkungszusammenhänge zwischen Steuerungssubjekten, – objekten, -medien und -instrumenten.“68 Die Frage nach den Wirkungszusammenhängen erweist sich auch deshalb als schwierig, weil ein logisch schlüssiger Wirkungszusammenhang mit einem empirisch nachgewiesenen nicht identisch ist und die intendierte „Wirkungsorientierung (…) Kenntnisse über die Wirklichkeit voraus(setzt), für die die Rechtswissenschaft keine eigenen Methoden bereithält.“69
VI. Fazit Nach Appel will die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft eine Methode entwickeln, „die es nicht nur erlaubt, die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns, sondern auch seine Wirksamkeit (…) zu beurteilen und zu fördern.“70 Mit diesem Anspruch will sie sich, so Appel, aus der „dienenden Rolle für die Rechtsanwendung“ befreien, denn solange sie „ihr methodisches Verständnis auf das eines ‚Zulieferers‘ der Rechts67 Christoph Möllers, § 3 Methoden, in: Hoffmann-Riem et al. (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 2006, Bd. 1, 121–175 (125). 68 Schmidt-Aßmann (Fn. 2 ), 13. 69 Eifert (Fn. 31), 296, Fn. 43. 70 Appel (Fn. 1), 244, Fn. 61.
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anwendung (verengt),“ rühre dies „an ihrem Charakter als Wissenschaft.“71 Solange jedoch die wichtige Frage nach der Wirksamkeit ausschließlich der herkömmlichen dogmatischen Jurisprudenz überantwortet wird, zeigt diese weder für diese Frage Interesse noch kann sie diese beantworten, weil sie „institutionell (…) in dem verankert(ist),72 was sie hindert, zur ‚Rechtswissenschaft‘“ zu werden“73 – in dem von den Reformern gemeinten Sinn. Insofern ist es nachvollziehbar, dass die Reformjuristen das Anliegen verfolgen, „Rechtswissenschaft nach eigenen Aufmerksamkeitskriterien zu betreiben und eine vom Anwendungs- und Falllösungsbezug losgelöste Per spektive des Verwaltungsrechts zu gewinnen,74 was auch die (Forschungs-)Aufgabe mit einschließt,75 vor allem „Arbeit an der Dogmatik, [und] nicht nur in der Dogmatik“ zu verrichten76 – eine Aufgabe, die, soweit ich dies zu beurteilen vermag, noch viel Arbeit vor sich hat. Es darf erlaubt sein, die Frage zu stellen, ob eine als Steuerungswissenschaft konzeptualisierte Wissenschaft vom Verwaltungsrecht mit ihren höchst ambitionierten Reformzielen77 sich möglicherweise überfordert und damit sich selbst um den gewünschten Erfolg bringt. Zum einen, weil sie die Schwierigkeiten, die mit der Erfassung von Wirkungszusammenhängen (und deren Beeinflussbarkeit) sowie der Ermittlung von Wirksamkeit verbunden sind, unterschätzt. Zum anderen, weil sie als Neue Verwaltungsrechtswissenschaft ihre Chancen, „sich einen Anteil an der Rechtserzeugung zu sichern und zu behaupten, [indem] ihre Aussagen über das geltende Recht eine rechtliche Geltung“ erlangen,78 überschätzt und ihr deshalb bei dem Unternehmen, das Verwaltungsrecht durch Verwissenschaftlichung zu reformieren, ein ausschließlich auf die Universität mehr oder weniger beschränkter Diskussionsraum zugewiesen wird, auch wenn die verwaltungsrechtliche Reformdiskussion ihren Anspruch, als ein „wissenschaftliches Unternehmen“ zu gelten, durch eindrucksvolle Publikationen in der Form dreier handbuchartiger umfangreicher Bände (in 1. und 2. Auflage) hinlänglich dokumentiert hat. Allerdings dokumentieren diese Publikationen zugleich, dass sich die Befürworter der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft bei ihrem Vorhaben, Rechtsetzung wissenschaftlich anzuleiten, weitgehend auf programmatische Ausführungen beschränken.79 In keinem der Handbücher findet sich ein Beitrag, der – in oft genug beschworener interdisziplinärer Zusammenarbeit – entweder anhand eines konstruierten oder konkreten (über Appel (Fn. 1), 234. Gemeint ist das institutionelle Gefüge vor allem der Gerichte, die den Argumentationshaushalt der Dogmatik verbindlich anwenden und weiter entwickeln. Vgl. Blankenburg (Fn. 11), 65 (abgewandelt). 73 Blankenburg (Fn. 10), 64 (leicht abgewandelt). 74 Appel (Fn. 1), 240. 75 Vgl. Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, 1983, 328 f.: „Die Möglichkeit (von Fortschritten in der Dogmatik) ist ein starkes Argument für den Wissenschaftscharakter der juristischen Dogmatik.“ 76 Schmidt-Aßmann (Fn. 2 ), 5. 77 Siehe die umfangreiche Übersicht bei Schaefer (Fn. *), 71 ff. 78 Oliver Lepsius, Kritik der Dogmatik, in: Gregor Kirchhof/Stefan Magen/Karsten/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? Was leistet und wie steuert die Dogmatik des Öffentlichen Rechts?, 2012, 39–62 (44). 79 Vgl. Schönberger, Der „German approach“: Die deutsche Staatsrechtslehre im Wissenschaftsvergleich, 2015, 45–47. 71
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schaubaren) Gesetzgebungsprozesses wenigstens im Ansatz zeigte, wie dieser durch die Erschließung von Wirkungszusammenhängen und zur Erzielung von Wirksamkeit mit Recht zu steuern wäre. Innovative Weiterentwicklungen der Dogmatik werden indessen nicht ausbleiben, sie werden als „Gemeinschaftsaufgabe“ von Wissenschaft und Praxis angestoßen und „erzwungen“ durch Veränderungen in bedeutsamen „Referenzgebieten“ auf europäischer und internationaler Ebene, die schon immer die „Dynamik der Verwaltungsrechtsdogmatik“ bestimmt haben.80
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Schaefer (Fn. *), 67 ff.
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Prof. Dr. Claudio Franzius, Universität Bremen Inhalt I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 II. Aus „alt“ mach „neu“ – die Steuerungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 III. Das „Neue“ im „Alten“ – Integration im System des Verwaltungsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 IV. „Altneuland“ – Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 V. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454
I. Einführung „Hey, alles glänzt, so schön neu. Hey, wenn’s dir nicht gefällt, mach neu (…). Die Welt mit Staub bedeckt, doch ich will sehn wo’s hingeht. Steig auf den Berg aus Dreck, weil oben frischer Wind weht. Hey, alles glänzt, so schön neu.“ So Peter Fox in seiner legendären Hommage auf Berlin.1 Ist die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft ein Produkt der Berliner Republik? Dafür spricht einiges, mögen ihre Vertreter auch noch überwiegend der Bonner Republik entstammen.2 „Zwei mal drei macht vier, widewidewitt und drei macht neune: Ich mach mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt.“3 Ist das die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft? Macht sie sich die Welt, wie sie ihr gefällt? Das wäre nicht unsymphatisch, ist aber ungeachtet der Kritik an einer vermeintlich ausgrenzenden Lagerbildung4 wissenschaftlich doch fragwürdig.5 https://www.youtube.com/watch?v=qdtLCf EcPL4. F. Ossenbühl, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 40 (2007), S. 125 sieht sich durch das „Neue“ eingeschüchtert. Zum Wandel Duve/Ruppert (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Berliner Republik, im Erscheinen. 3 https://de.wikipedia.org/wiki/Hey_Pippi_Langstrumpf. 4 So der immer wieder erhobene Vorwurf, vgl. J. Isensee, Staatsrechtslehre als Wissenschaft, JZ 2009, 949. Anders und richtig S. Augsberg, Die aktuelle Methodendiskussion: eine wissenschaftstheoretische Renaissance, in: Funke/Lüdemann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Wissenschaftstheorie, 2009, S. 145 (187), der vom „inklusiven Charakter“ spricht. 5 Zum emanzipatorischen Gehalt des Verwaltungsrechts für gesellschaftliche Reformen A. v. Bog1 2
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Die Ausrufung einer „Neuen“ Verwaltungsrechtswissenschaft traf von Anfang an auf Kritik.6 Das verwundert, gibt es doch auch eine Neue Institutionenökonomik mit namhaften Vertretern, die in der Volkswirtschaftslehre das neoklassische Erbe erfolgreich hinter sich gelassen haben.7 Dokumentiert die Scheu vor dem „Neuen“ eine Sehnsucht nach stabilen Ankern? Dass man die proklamatische Ausrufung einer Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft nicht als Bruch mit der Vergangenheit missverstehen darf, ergibt sich aus zwei Gründen. Zum einen soll mit der etablierten Methode nicht gebrochen werden.8 Zum anderen ist es nicht wirklich neu, wenn auf die Steuerung des Verwaltungshandelns9 abgestellt wird. Neu ist die Verknüpfung der Ansätze und Perspektiven, die nicht länger auf Teilgebiete des Besonderen Verwaltungsrechts beschränkt bleiben, sondern in das Allgemeine Verwaltungsrecht transportiert werden. Diese Systematisierung ist ein alter Ansatz, der von der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft unter Hervorhebung der Handlungsperspektive mit der Zurückstellung einer „Ausgrenzung“ von Nicht-Recht zum Thema gemacht wird. Das ist freilich nur die halbe Wahrheit, die es immerhin erlaubt, für die Einbettung des Ansatzes in tradierte Konzeptionen zu sorgen. So wäre es ein Irrtum zu meinen, die gerichtliche Kontrollperspektive spiele keine Rolle mehr.10 Neu ist aber, dass Kontrolle stärker ausdifferenziert wird.11 Neu ist auch, nicht mehr allein auf dogmatische Konzepte zu setzen, sondern Dogmatik zu reflektieren.12 Jeder Stein, so hieß es in den Workshops zum dreibändigen Handbuch der Grundlagen des Verwaltungsrechts, sollte aufgehoben, umgedreht und auf seine Tragfähigkeit befragt werden. Die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft will nicht mit dem methodischen Zugriff der Rechtswissenschaft brechen. In Frage gestellt wird jedoch die Juristische
dandy, Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum. Perspektiven einer Disziplin, in: ders./Cassese/ Huber (Hrsg.), Ius Publicum Europaeum, Bd. 4, 2011, § 57 Rn. 51, 63 f. 6 Zur Erläuterung der Begriffswahl A. Voßkuhle, Verwaltungsrecht & Verwaltungswissenschaft = Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, BayVBl 2010, 581 (582 mit Fn. 5 ). 7 Vgl. R. Richter/E. G. Furubotn, Neue Institutionenökonomik, 3. Aufl. 2003; C. Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, 1997. 8 A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 9 ff. 9 Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft (Fn. 8 ), § 1 Rn. 17; C. Franzius, Modalitäten und Wirkungsfaktoren der Steuerung durch Recht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I (Fn. 8 ), § 4. 10 Zur Unterscheidung zwischen Handlungs- und Kontrollnormen Franzius, Steuerung durch Recht (Fn. 9 ), § 4 Rn. 2 . Für den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gegenüber dem Gesetzgeber M. Je staedt, Verhältnismäßigkeit als Verhaltensmaß, in: ders./Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit. Zur Tragfähigkeit eines verfassungsrechtlichen Schlüsselkonzepts, 2015, S. 293 (295 ff.). 11 Vgl. W. Kahl, Begriff, Funktionen und Konzepte von Kontrolle, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßm ann/ Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 3, 2. Aufl. 2013, § 47. Das betrifft vor allem das internationale Verwaltungsrecht. Entziehen sich die politischen Organe einer Mediatisierung durch individualschützende Verwaltungsverfahren wie im Fall der targeted sanctions, gewinnt die Notwendigkeit gerichtlicher Kontrolle eine besondere Dringlichkeit: C. Möllers, Verwaltungsrecht und Politik, in: v. Bogdandy/Cassese/Huber (Hrsg.), Ius Publicum Europaeum, Bd. 5, 2014, § 93 Rn. 76. 12 Für den Erhalt der „rechtsdogmatischen Mitte“ H. Schulze-Fielitz, in: ders. (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 2013, S. 3 (30). Wäre dies richtig, gäbe es in den USA keine Rechtswissenschaft, vgl. A. Somek, Zwei Welten der Rechtslehre und die Philosophie des Rechts, JZ 2016, 481.
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Methode als allein selig machender Interpretationsmaxime.13 Der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft geht es zunächst einmal darum, die versteckten Hintergrundannahmen zu identifizieren und auf ihre Tauglichkeit zur Beschreibung des Rechts und seiner politisch bezweckten Steuerungsvorstellungen zu befragen. Das wird man als einen positiven Beitrag zur Verwaltungsrechtswissenschaft würdigen können.14
II. Aus „alt“ mach „neu“ – die Steuerungsperspektive Es ist ein Leichtes, der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft vorzuwerfen, nichts Neues zu propagieren. Und was heute neu sein mag, ist vielleicht schon morgen wieder kalter Kaffee. Warum sich mit der vermeintlich rechtsfremden Steuerungsper spektive in Europa beschäftigen? So schnell wie eine Mode kommt, wird sie auch wieder gehen. Also Ruhe bewahren, das Tradierte pflegen und warten, bis der Spuk ein Ende hat? So einfach ist es sicherlich nicht. Denn dass das alte nicht immer wirklich trägt, spüren auch andere. Und der Umstand, dass dem Recht in gewisser Weise die Bewirkungs- oder Steuerungsperspektive inhärent ist, wird auch von erklärten Gegnern der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft nicht bestritten.15 Worum also geht es wirklich? Dazu muss man wissen, woher die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft kommt. Zum einen thematisch und zum anderen generationell. Thematisch stammt der Kern des Konzepts aus dem Umweltrecht, wo „Steuerung“ seit Bestehen des Rechtsgebiets, also seit den 1970er Jahren eine Rolle spielt, aber schon zuvor der Sache nach prominent erörtert wurde.16 Steuerung, so wurde im Umweltrecht lange vor der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft herausgearbeitet, löst sich von dem binären Code von rechtmäßig und rechtswidrig, schafft mit dem erwünschten oder unerwünschten Verhalten eine neue Unterscheidung und erweitert damit das Aufmerksamkeitsfeld rechtswissenschaftlicher Analyse.17 Warum dies nicht verallgemeinern? Genau darum geht es der Steuerungsperspektive als dem Herzstück der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft. Der Zugriff erweist sich letztlich als durchaus konventionell, lässt sich doch auf Kompetenzen und Formen zurückgreifen, um sich gegen13 Zum bleibenden Wert C. Möllers, Methoden, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I (Fn. 8 ), § 3 Rn. 35. 14 Von einer „Ausblendung“ des Besonderen Verwaltungsrechts kann entgegen M. Kloepfer, NuR 2007, 438 keine Rede sein. Das zeigt bereits die Hervorhebung des Informationsrechts, das sich ungeachtet aller Zweifel an seinem „Rechtsgebietscharakter“ als ein modernes Referenzgebiet für das Verwaltungsrecht erweist. Unberechtigt ist auch der Vorwurf von F. Schoch, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Verwaltungsrechtslehre und Staatsrechtslehre, in: Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Die Verwaltung, Beiheft 7 (2007), S. 177 (204 f.), der eine „Abwendung“ von der Judikatur beklagt; dazu E. Schmidt-Aßmann, Die Integration von Reformanliegen in die Systematik des Verwaltungsrechts, in: Hoffmann-Riem, Offene Rechtswissenschaft, 2010, S. 1011 (1013). 15 Mit der Unterscheidung zwischen „reaktiv ordnendem Risikobezug“ und „prospektiv gestaltendem Chancenbezug“ etwa M. Kloepfer, Technik und Recht im wechselseitigen Werden, 2002, S. 86 ff. 16 Vgl. U. Scheuner, Die staatliche Intervention im Bereich der Wirtschaft, VVDStRL 11 (1952), S. 3 (26 ff.); P. Kirchhof, Verwalten durch mittelbares Einwirken, 1977. 17 C. Franzius, Die Herausbildung der Instrumente indirekter Verhaltenssteuerung im Umweltrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2000, S. 101 ff.; verallgemeinernd C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 260, 262, 266.
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über Governance-Ansätzen abzugrenzen.18 Auch unter einem anderen Aspekt ist der Zugriff alles andere als neu: So werden Beobachtungen aus Teilgebieten des Verwaltungsrechts systematisch darauf hin befragt, inwieweit sich eine allgemeine Struktur dahinter verbirgt. So hat man es in der Vergangenheit gemacht und so macht es auch die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft.19 Wer diesen systematischen Anspruch nicht teilt, hat nicht nur mit dem Steuerungsparadigma seine Probleme, sondern auch mit der Konzeption eines Allgemeinen Verwaltungsrechts.20 Als die „Väter“ des neuen Ansatzes gelten Wolfgang Hoffmann-Riem und Eberhard Schmidt-Aßmann, eine der bemerkenswertesten „Paarungen“ in der deutschen Rechtswissenschaft.21 Demgegenüber stammt die Bezeichnung des Reformansatzes als „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ von Andreas Voßkuhle, dem späteren Mitherausgeber des Handbuchs zu den Grundlagen des Verwaltungsrechts. Auf ihn geht auch die Forderung zurück, wonach die Verwaltungsrechtswissenschaft eine Schwerpunktverlagerung von der rechtsanwendungsbezogenen Interpretations- zu einer rechtssetzungsorientierten Entscheidungswissenschaft unter Einschluss der Gesetzgebungswissenschaft22 zu vollziehen habe.23 Was als Auf bruch in den 1980er Jahren 24 begann, aber zunächst nur punktuelle Verschiebungen des Aufmerksamkeitsinteresses in Teilgebieten des Verwaltungsrechts auslöste, wird heute als Umbruch in den allgemeinen Grundstrukturen des Verwaltungsrechts wahrgenommen. So lässt sich als zentrale Differenz der Neuausrichtung die Unterscheidung zwischen rechtsaktbezogener Methode und verhaltensbezogener Steuerungsperspektive ausmachen.25 Das Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft (Fn. 8 ), § 1 Rn. 70. Offener Franzius, Steuerung durch Recht (Fn. 10), § 4 Rn. 1; ders., Governance und Regelungsstrukturen, VerwArch 97 (2006), S. 186. 19 C. Franzius, Funktionen des Verwaltungsrechts im Steuerungsparadigma der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 39 (2006), S. 335 (338); krit. M. Pöcker, Das heutige Verhältnis dogmatischer Rechtswissenschaft zu rechtstheoretischer Innovationsforschung, Die Verwaltung 37 (2004), S. 509. Eine Beschreibung der Aufmerksamkeitsfelder der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft bei J. P. Schaefer, Die Umgestaltung des Verwaltungsrechts, 2016, S. 133 ff. 20 Vgl. O. Lepsius, Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik, 1999. Zur Skepsis über die Tragfähigkeit der Konzeption eines Allgemeinen Verwaltungsrechts ders., Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: Jestaedt/ders. (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 1 (40 ff.). Gute Bestandsaufnahme: Trute/Groß/Röhl/Möllers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008. 21 Den „Startschuss“ gab W. Hoffmann-Riem, Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts als Aufgabe, AöR 115 (1990), S. 4 00. Es folgten die legendären „Reformbände“ in der Herausgeberschaft der beiden, die den Grundstock für das Handbuch zu den „Grundlagen des Verwaltungsrechts“ legten. 22 Franzius, Steuerung durch Recht (Fn. 10), § 4 Rn. 103a ff. 23 A. Voßkuhle, Methode und Pragmatik im öffentlichen Recht, in: Bauer (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, S. 171 (179 ff.). Auf die Nähe zur progressiv ausgerichteten Verwaltungsrechtswissenschaft der London School of Economics and Political Sciences weist v. Bogdandy, Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum (Fn. 5 ), § 57 Rn. 63 f. hin. 24 Wegweisend W. Hoffmann-Riem, Selbstbindungen der Verwaltung, VVDStRL 40 (1981), S. 187 ff.; Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990. Zum „Erbe“ gehört freilich auch die Regensburger Staatsrechtslehrertagung mit den Referaten von O. Bachof und W. Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, VVDStRL 30 (1972), S. 193 ff., 245 ff. 25 E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 14 f. Zurückhaltend: W. Pauly, Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Deutschland, in: v. Bogdandy/Cassese/Huber (Hrsg.), IPE IV (Fn. 5 ), § 58 Rn. 18 ff. 18
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wirft freilich die Frage auf, ob es unter der auf Rechtsakte fokussierten „juristischen“ Methode nicht auch um das Erzielen von Steuerungswirkungen geht, was im Umkehrschluss dazu verleitet, die Verhaltenssteuerung durch Recht als „unjuristisch“ auszuweisen.26 Zwar behalten die Ausblendungsleistungen der Dogmatik ihren Wert, soweit es um die Interpretation von Rechtsnormen durch die Gerichte geht. Gesehen werden muss aber die Enge eines Konzepts von Rechtswissenschaft, das die Rechtserzeugungsdimension der Rechtsanwendung invisibilisiert. Es wäre nicht richtig, hier einen deutschen Sonderweg zu vermuten. Gewiss ist der materielle Systemanspruch 27 mit diesem Erbe und dieser Stoßrichtung28 anderswo kaum verbreitet. Das gilt auch für die ausgerufene Steuerungsperspektive, die, weil sie praktisch werden will, ganz bewusst nicht als „Theorie“ ausgeflaggt wird. Aber so wenig andere Rechtsordnungen ohne eine Systematisierung des Rechts auskommen, ließe sich ein Verzicht auf die Rubrizierung von Reformbemühungen unter das Steuerungsparadigma als Bekenntnis zu einem dogmatischen oder unpolitischen Modus der Verwaltungsrechtswissenschaft begreifen. Im Gegenteil: Neben die Kontrollperspektive tritt in anderen Rechtsordnungen häufig sehr viel stärker als hierzulande die Handlungsperspektive, unter der sich auch der Rechtsschutz thematisieren lässt.29 Es spricht vieles für die Annahme, dass gerade die Europäisierungsprozesse in der Steuerungsperspektive gut verarbeitet und unionsrechtskonform ausgestaltet werden können.30 Das setzt voraus, dass man auf Überhöhungen eines materiellen Systemanspruchs verzichtet, in den sich weder die demokratische Gesetzgebung noch deren steuerungswissenschaftliche Beschreibung einfügen muss.31 Hinter der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft verbirgt sich freilich eine Ambivalenz: Auf der einen Seite steht das Bemühen um eine Erdung des Rechts an den realen Begebenheiten, wohl wissend, dass der Rechtswissenschaft für die Beobachtung des „Realbereichs“ das Handwerkszeug fehlt, sie also auf die Hilfe anderer 26 Zu einfach macht es sich freilich S. Meyer, Erfordert der Zweck im Recht wirklich eine Neue Verwaltungsrechtswissenschaft?, VerwArch 101 (2010), S. 251 (265) mit der Behauptung, der Dogmatik sei eine Verhaltensperspektive immanent; zutreffend auf die Unterschiede hinweisend B. Grzeszick, Steuert die Dogmatik?, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, S. 97 (98 ff.). Jedenfalls ist Steuerung nicht gleichzusetzen mit Normativität, wie C. Starck, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft?, JZ 2010, 1170 (1171) meint. 27 Vgl. D. Ehlers, Verwaltung und Verwaltungsrecht im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, in: ders./Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2015, § 3 Rn. 103 mit dem Festhalten an Hans-Julius Wolffs Mahnung „Rechtswissenschaft ist systematisch oder sie ist nicht“. Kritik an der Systemperspektive ist in Deutschland selten, was dem Misstrauen in politische Prozesse geschuldet sein dürfte, nimmt aber zu: M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein …, 2006, S. 81 ff. 28 Den (nur begrenzt überzeugenden) Versuch einer Verteidigung unternimmt P. Hilbert, Systemdenken in Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft, 2015. 29 Instruktiv M. Kayser, Rechtsschutz und Kontrolle, in: v. Bogdandy/Cassese/Huber (Hrsg.), IPE V (Fn. 11), § 91 Rn. 11 f., 37, 142. 30 Zurückhaltender M. Ruffert, Die Methodik der Verwaltungsrechtswissenschaft in anderen Ländern der Europäischen Union, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 165 (166, 177, 182, 202). Eine Relativierung dieser Sicht verdeutlichen die Beiträge in v. Bogdandy/Cassese/Huber (Hrsg.), IPE V (Fn. 11) mit der Betrachtung der verwaltungsrechtlichen Institute unter der Steuerungsperspektive, wonach die Herausgeber explizit fragten. 31 Zur Uneinlösbarkeit eines idealistischen Systemanspruchs an das Recht R. Poscher, Am Fuße der Kathedrale, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie (Fn. 20), S. 105 (110 f.).
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Disziplinen angewiesen ist. Auf der anderen Seite geht es der Neuausrichtung nicht bloß um die Erneuerung eines Konsens über die Grundlagen des Zugriffs auf das Recht. Vielmehr scheint eine Sehnsucht nach streitiger Auseinandersetzung zum Ausdruck zu kommen, will man sich doch gerade nicht aus dem allgemeinen Diskurs verabschieden, sondern auf diesen Einfluss nehmen. Deshalb ist nicht ohne Grund von einer Neuauflage des Weimarer Methoden- und Richtungsstreits gesprochen worden.32 Wenn von einer neuen Rechtswissenschaft die Rede ist, bedeutet dies nun allerdings nicht, die „alte“ Rechtswissenschaft zu verabschieden. Es geht vielmehr darum, die alten Rechtsinstitute zu überprüfen, anders zu beschreiben und gegebenenfalls anzupassen. Kurz, es geht um eine Art der Selbstvergewisserung über die Tauglichkeit überkommener Denkgewohnheiten in einer sich verändernden Welt.33 Das führt zu keiner Verabschiedung, aber einer Relativierung der Bedeutung von Rechtsdogmatik, deren Wert praktisch unbestritten ist, aber wissenschaftstheoretisch doch kritische Reflexion verlangt.34 So ist die Einschätzung vieler, kein Praktiker nehme das dreibändige Handbuch zu den Grundlagen des Verwaltungsrechts „je zur Hand, weil er damit nichts anfangen“35 könne, nicht richtig, wie das Bundesverwaltungsgericht, um es an einem Beispiel zu dokumentieren, beweist. In einer dogmatisch wirklich entscheidenden Frage, nämlich der Frage nach dem Vorliegen des subjektiven öffentlichen Rechts, rekurriert der 7. Senat für die Verbandsklagebefugnis aus § 42 Abs. 2 Var. 2 VwGO ausdrücklich auf die Figur prokuratorischer Rechte, die Johannes Masing nicht allein, aber eben doch auch steuerungswissenschaftlich begründet.36 Dass der Steuerungsansatz in der Praxis bedeutungslos bleibe, lässt sich deshalb nicht sagen. Und dass die einen in der Theorie-, die anderen in der Praxiswerkstatt arbeiten, aber nicht wissen, was sie verbindet, ist so nicht zutreffend. Gerade in den dogmatisch umstrittenen Bereichen, wie der Reichweite des subjektiven öffentlichen Rechts zur Begründung der Klagebefugnis, greift die Rechtsprechung nicht bloß auf die eigene Rechtsprechung zurück, sondern ist mitunter bereit, spektakuläre Entscheidungen mit dogmatisch nur schwer begründbaren, steuerungswissenschaftlich aber plausiblen Rückgriffen auf Neuansätze der Verwaltungsrechtswissenschaft abzustützen. Dass sie hierfür nicht nur Zustimmung erfährt, liegt auf der Hand.37 Aber der Steuerungsansatz ist das Medium, die Überführung einer alten Rechtsfigur unter den erforderlichen Anpassungen in die neue Welt zu testen. Mit anderen Worten: Der Korridor, den C. Möllers, Braucht das öffentliche Recht einen neuen Methoden- und Richtungsstreit?, VerwArch 90 (1999), S. 187 (197 ff.). Seine Stärke bezog dieser Streit gerade durch den Verzicht auf Dogmatik. 33 So auch Augsberg, Methodendiskussion (Fn. 4 ), S. 188 f. 34 Bestandsaufnahme: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? (Fn. 26). 35 U. Volkmann, Das Recht und seine Grundlagen, in: Funke/Krüper/Lüdemann (Hrsg.), Konjunkturen in der öffentlich-rechtlichen Grundlagenforschung, 2015, S. 17 (34). 36 BVerwGE 147, 312 (325) Luftreinhalteplan Darmstadt im Anschluss an J. Masing, Der Rechtsstatus des Einzelnen im Verwaltungsrecht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I (Fn. 8 ), § 7 Rn. 91 ff., 98 ff., 112 ff. Zur „dogmatischen“ Verarbeitung Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik (Fn. 25), S. 109 ff. 37 Krit. K. F. Gärditz, Funktionswandel der Verwaltungsgerichtsbarkeit unter dem Einfluss des Unionsrechts?, Gutachten D zum 71. Deutschen Juristentag, 2016 (Manuskript), S. 31 f., 41 f. u. passim. Antikritik: C. Franzius, Modernisierung des subjektiven öffentlichen Rechts, UPR 2016, 281 ff. 32
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eine zu keiner Zeit statisch, sondern flexibel zu verstehende Dogmatik bereitstellt, wird steuerungswissenschaftlich ausgefüllt. Recht nicht nur als Grenze, sondern auch als Instrument von Politik zu verstehen, richtet sich gegen das Wertordnungsdenken der alten Bonner Republik, die in der Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts ihr Ideal fand.38 Die Gefahr der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft liegt darin, nicht-rechtliche Maßstäbe nicht bloß sichtbar zu machen, sondern zu verrechtlichen und eine ganzheitliche Sichtweise zu propagieren, die Fortschritte des analytischen Zugriffs mit einer Übernormativierung behördlicher Freiräume in Kauf zu nehmen scheint. Davor kann die Governance-Perspektive mit der Verknüpfung von rechtlichen und nicht-rechtlichen Maßstäben39 bewahren, was ihr nicht nur einen wissenschaftsstrategischen, sondern gegenüber der ganzheitlich ausgeflaggten Steuerungsperspektive auch einen wissenschaftstheoretischen Vorteil einbringt. Das übersieht, wer „Governance“ bloß als Variante des Steuerungsansatzes begreift. Denn Governance arbeitet mit Regelungsstrukturen und unterläuft die für Steuerung zentrale Unterscheidung zwischen Steuerungssubjekt und -objekt.40
III. Das „Neue“ im „Alten“ – Integration im System des Verwaltungsrechts? Freilich stellt sich eine Reihe an Fragen, auf die es noch keine restlos überzeugenden Antworten gibt. Sie lassen sich in der Frage zusammenfassen, inwieweit der neue, als neu ausgewiesene oder als neu wahrgenommene Ansatz im System des Verwaltungsrechts integriert werden kann. Es mag ja sein, dass die Blickrichtung auf die Rechtszeugungsdimension des Verwaltungshandelns positiv zu würdigen ist. Aber es gilt der von Eberhard Schmidt-Aßmann ähnlich formulierte Satz, dass jede neue Figur – und das gilt erst recht für eine neue Perspektive – umso größere Realisierungschancen in der Praxis hat, desto besser sie sich in die Entwicklungszusammenhänge der Gesamtrechtsordnung einfügt.41 Lässt sich das für die Steuerungsperspektive sagen? Anders gefragt: Tritt die Steuerungsperspektive neben die überkommenen Ansätze? Oder verändert „Steuerung“ den dogmatischen Zugriff auf die Rechtsfragen? Dass die zentrale Differenz nicht zur überkommenen Rechtsschutzperspektive liegt, wurde schon hervorgehoben. Ist aber „Steuerung“ nicht im Grunde ein politischer Modus, der mit seiner rechtlichen Formung notwendigerweise einen Perspektiven38 Krit. C. Schönberger, Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, in: Stolleis (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, 2006, S. 53 ff. Eine neue Sicht bei L. Michael, Verfassung im Allgemeinen Verwaltungsrecht – Bedeutungsverlust durch Europäisierung und Emanzipation?, VVDStRL 75 (2016), S. 131 (135 ff.). 39 Vgl. H.-H. Trute/A. Pilniok, Governance und Verwaltungsrechtswissenschaft, in: FS Bull, 2011, S. 849 ff. 40 R. Mayntz, Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie?, in: Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung, 2. Aufl. 2006, S. 11. Das wird von I. Appel, Das Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischen Verständnis und steuerungswissenschaftlichem Anspruch, VVDStRL 67 (2008), S. 226 (245 f.) richtig gesehen. 41 E. Schmidt-Aßmann, Konfliktmittlung in der Dogmatik des deutschen Verwaltungsrechts, in: Hoffmann-Riem/ders. (Hrsg.), Konfliktbewältigung durch Verhandlungen, 1990, S. 9 („Bewegungsgesetz“).
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wechsel verlangt? Nicht ohne Grund ist der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft ein ungeklärtes Verhältnis zur Politik vorgeworfen worden.42 Hier, wie es vor allem die Maßstabsfrage43 deutlich macht, liegt die Achillesferse des neuen Ansatzes. Wegen des ausgeprägten Systemdenkens in der Verwaltungsrechtswissenschaft dürfte es unwahrscheinlich sein, dass die Wahl der Perspektive ohne Auswirkungen auf die jeweils andere Perspektive bleibt.44 In dem Maße, wie die an den normativ gesteuerten Wirkungen ausgerichtete, damit aber nicht einfach als „politisch“ abzuwertende Gestaltungsperspektive die auf die gebundene Entscheidung fixierte Dogmatik unter Rechtfertigungszwang bringt, eröffnet sich ein (begrenzter) Raum für (erwünschte) Anpassungsleistungen und die Umstellung des Rechts auf die rechtswissenschaftliche Thematisierung seiner Steuerungswirkungen. So geht es in der Formung exekutiver Gestaltungsspielräume letztlich darum, das Recht in die Lage zu versetzen, diejenigen Leistungen zu erbringen, die zur Strukturierung einer komplexen Lebenswirklichkeit erwartet werden. Häufig wird gesagt, dass sich die Rechtswissenschaft mit ihrem methodischen Zugriff auf das Recht nicht einfach sozialwissenschaftlicher Beschreibungen bedienen darf. Das ist richtig, greift aber zu kurz. Vielmehr ist es der Wandel des Rechts selbst, der zu einem Wandel der Methode führt. So verlangt das Regulierungsrecht häufig mehr als die Subsumtion unter die Norm. Ohne ökonomische Grundkenntnisse wird man auf die Herstellung von Wettbewerb zielende Regulierung kaum verstehen. Die Herausforderung „liegt in einem informierten Schnittstellenmanagement, das Responsivität im Umgang mit der jeweiligen anderen Disziplin“ erfordert.45 So gesehen ist der von manchen beklagte Methodensynkretismus kein pathologischer Befund, sondern der Normalzustand eines beweglichen Systems, das schon deshalb nicht mehr allein auf einer geschlossenen Systemkonformität auf bauen kann, weil es den politischen Charakter kontingenten Rechts in Rechnung zu stellen hat.46 Das bedeutet keinen Abschied von der Dogmatik und der „Juristischen Methode“ als dem traditionellen Zugang zum Recht. Soll die Rechtsdogmatik aber weiterhin ihre Rolle erfüllen, zur Problemlösung am Maßstab des sich wandelnden positiven Rechts beizutragen, ist eine steuerungswissenschaftliche Öffnung unerlässlich. Das kann wiederum nur eine soziale Praxis bewirken, die sich der disziplinären Grenzen des dogmatischen Zugriffs bewusst ist, mit der Übernahme nachbarwissenschaftlicher Erkenntnisse aber eine voraussetzungsvolle Transformationsleistung erbringen muss, die weniger wegen eines vermeintlichen Selbstands des Rechts, wohl aber dem Ei42 R. Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 87 ff. Zu den unterschiedlichen Formen der Politisierung der Verwaltung Möllers, Verwaltungsrecht und Politik (Fn. 11), § 93 Rn. 24 ff. 43 Die Verwaltung kennt nicht nur das Recht als Maßstab, bedarf jedoch des Rechts zur Ordnung der Maßstabsbildung. Die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft unterläuft den Versuch, scharfe Grenzen zwischen (normativer) Verwaltungsrechtswissenschaft und (empirischer) Verwaltungswissenschaft zu ziehen, vgl. A. Voßkuhle (Fn. 6 ). 44 Zum Vorliegenden C. Franzius, Struktur und Inhalte eines verwaltungsrechtlichen Curriculums, ZDRW 2015, 93 (98 ff.). 45 A. v. Arnauld, Öffnung der öffentlich-rechtlichen Methode durch Internationalität und Interdisziplinarität: Erscheinungsformen, Chancen, Grenzen, VVDStRL 74 (2015), S. 39 (54). 46 v. Arnauld, Öffnung der öffentlich-rechtlichen Methode (Fn. 45), S. 64.
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gensinn rechtswissenschaftlicher Argumente entsprechend die Rezeptionsgrenzen fremder Norm- und Wissensbestände zu reflektieren hat.47 So wäre es verfehlt, der Rechtswissenschaft schlicht mehr „Empirie“ zu empfehlen, ist uns doch ein neutraler Beobachtungsstandpunkt, von dem aus die Wirklichkeit „erkannt“ werden könnte, abhandengekommen.48 Heute ist klar, dass es keine „Abbilder“ der Realität geben kann. Auch die Wirklichkeit, das lehren die Sozialwissenschaften, ist immer nur der Effekt eines Konstruktionsverfahrens, das in der jeweiligen Wissenschaft zur Beschreibung derselben entworfen wird. Gerade die Jurisprudenz ist gut beraten, sich von einer „naiven Alltagsontologie“49 zu befreien, soll der normative Anspruch der Rechtswissenschaft nicht vor vermeintlich objektiven Wirklichkeitsannahmen kapitulieren. Jede erst noch zu entwerfende50 Rezeptionstheorie sozialwissenschaftlicher Beschreibungen muss jenseits der zu simplen Dichotomie von Integrations- oder Trennungsmodell51 oder integrativer versus differenzierter Dogmatik52 in Rechnung stellen, dass sich mit der Transformation „fremder“ Wissensbestände und Beschreibungsangebote in den rechtswissenschaftlichen Argumentationshaushalt aufgrund dessen Filterfunktion die Aussage ändert und ändern muss, soll sie mit „eigenem“ Erklärungswert versehen werden. Mit einer schlichten Übersetzung ist es nicht getan. Gerade diese Einsicht müsste als Warnung vor „undisziplinierter“ Interdisziplinarität ernst genommen werden.53 Das könnte dann auch die „Gretchenfrage“ nach dem Verhältnis von rechtsaktbezogener und verhaltensbezogener Perspektive zu beantworten helfen. Zu Recht fragt Ivo Appel nach dem Raum für steuerungswissenschaftliche Argumente.54 Er sucht diesen Ort freilich weniger in der Integrationsperspektive, sondern in einer Verbindungsperspektive und geht von einem „Zusammenspiel“ mit dem tradierten Konzept der gesetzesgebundenen Rechtsgewinnung aus. Dafür schlägt er als Oberbegriff der nicht kategorial voneinander geschiedenen Rechtsanwendung und Rechtserzeugung den Begriff der Rechtsverwirklichung als arbeitsteilige Anwendung und Erzeugung von Recht durch unterschiedliche Akteure vor. Während der rechtsanwendende Teil der Rechtsverwirklichung an der rechtsaktbezogenen Perspektive ausgerichtet sei, öffne sich der rechtserzeugende Teil einer steuerungswissenschaftlich angeleiteten verhaltensbezogenen Betrachtungsweise. Das kann man so sehen und das Maß an Rechtserzeugungsanteilen jeder Verwaltungsentscheidung als eine Kompetenzfrage ausweisen.55 In Anschlag zu bringen sind graduelle Abschichtungen der Vgl. W. Hoffmann-Riem, Innovation und Recht – Recht und Innovation, 2016, S. 238 ff. I. Augsberg, Von einem neuerdings erhobenen empiristischen Ton in der Rechtswissenschaft, Der Staat 51 (2012), S. 117 ff. 49 C. Möllers, Philosophie – Recht – Kultur, in: Rustemeyer (Hrsg.), Symbolische Welten, 2002, S. 109 (128). 50 Ansätze: I. Augsberg, Multi-, inter-, transdisziplinär? Zum Erfordernis binnenjuristischer Metaregeln für den Umgang mit extrajuridischem Wissen im Verwaltungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Extrajuridisches Wissen im Verwaltungsrecht, 2013, S. 3 ff. 51 W. Krebs, Sozialwissenschaften im Verwaltungsrecht: Integration oder Multiperspektivität?, Die Verwaltung, Beiheft 2 (1999), S. 127. 52 M. Jestaedt, Wissenschaft im Recht, JZ 2014, 1 (10 f.). 53 Siehe auch Hoffmann-Riem, Innovation und Recht (Fn. 47), S. 77 f. 54 Appel, Verwaltungsrecht (Fn. 4 0), S. 255. 55 Appel, Verwaltungsrecht (Fn. 4 0), S. 260 hält die Reichweite der Gesetzesbindung für maßgeb47
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normativen Bindungsdichte mit variabel gehaltenen, wenngleich auf den Gesetzgeber zurückbezogenen Rechtserzeugungsspielräumen, um deren Ausfüllung es der steuerungswissenschaftlichen Perspektive geht. Hier gibt es nicht nur Rechtsbindung oder Gestaltungsfreiheit, sondern häufig unterschiedliche Optionen. Das vielleicht beste Beispiel für die Chancen, aber auch Gefahren des steuerungswissenschaftlichen Ansatzes der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft liefert das Ermessen, deren Ausübung sich in der Praxis an unterschiedlichen Zwecken orientiert, für die das positive Recht nicht allein mit der Vorgabe der Rechtmäßigkeit maßstäblich ist. Auch dort, wo der Ausfüllung von Zweckmäßigkeitserwägungen rechtliche Relevanz zugesprochen wird, kann die Lösung nicht stets in einer Verrechtlichung dieser Maßstäbe liegen. Spielräume können auch normativ gewollte Freiräume sein.56 Eben diese Freiräume droht die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft mit einer Verrechtlichung der Orientierungsmaßstäbe der Verwaltung zu nehmen.57 Insoweit behalten die „Ausblendungsleistungen“ der Dogmatik durchaus einen Sinn. Allerdings wird der Freiraum von der Verwaltung „tatsächlich“ ausgefüllt, was die Frage aufwirft, nach welchen Maßstäben das geschieht. Was das Recht nicht regelt, überlässt es anderen Maßstäben und damit auch anderen Rationalitätskriterien, etwa der Sachrichtigkeit oder Zweckmäßigkeit. Fraglich ist nur, ob das Recht auf den Rationalitätsanspruch gegenüber dem nicht-geregelten Bereich verzichten sollte. Wenn das Recht auf Regeln verzichtet, bedeutet dies nicht, dass es auf jegliche Steuerung verzichtet. Es steuert nur anders, etwa durch Prinzipien oder durch die Einräumung von Ermessen. Die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft macht das explizit. Ein weiteres Beispiel für Konsequenzen der stärkeren Ausrichtung an den Steuerungsfunktionen des Rechts sind Verfahren und Organisation.58 Ist die Verwaltungsrechtswissenschaft nicht nur Normwissenschaft, sondern auch Entscheidungswissenschaft, muss dem Verfahrensgedanken hinreichend Rechnung getragen werden, was durch die Europäisierung – mit der Relativierung der traditionellen Fokussierung auf das materielle Recht – untermauert wird. Gerade die „Prozeduralisierungsthese“ bildet eine Klammer dogmatischer und steuerungswissenschaftlicher Ansätze.59 Denn ausgehend von der Reichweite der Gesetzesbindung lassen sich Abschichtungen der normativen Bindungsdichte für den Anteil der Rechtserzeugung in Entscheidungen ausmachen. Gespiegelt wird das Rechtsverwirklichungsprogramm in einer Ausdifferenzierung an Strategien, Methoden und Maßstäben, aber zum Erhalt normativer Orientierungen auch im steuerungswissenschaftlichen Mehrwert bereitzustellender Verfahren. Diese sind ihrerseits in bestimmte, keineswegs immer optimale organisationsrechtliche Arrangements eingebettet. Das betrifft nicht nur das in Deutschland traditionell wenig Aufmerksamkeit findende Verfahren exekutiver lich, was jedoch zu einfach ist: Wenn es heißt, dass erst „jenseits der Gesetzesbindung“ steuerungsorientierte Überlegungen Platz greifen, droht übersehen zu werden, dass es gerade der Gesetzgeber ist, der mit seinen Programmen die Verwaltung steuert. 56 Möllers, Methoden (Fn. 13), § 3 Rn. 6. 57 Was durch schwächere Formulierungen wie normativer „Vorprägung“ oder „Umhegung“ kaschiert zu werden droht, für das Umweltrecht aber I. Appel, Eigenwert der Verfassung im Umweltrecht, in: Vesting/Korioth (Hrsg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, 2011, S. 289 (307 f.). 58 Hellsichtig zu Fragen der Kontrolle W. Schmidt, Einführung in die Probleme des Verwaltungsrechts, 1982, S. 23 ff. 59 Franzius, Steuerung durch Recht (Fn. 9 ), § 4 Rn. 54a.
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Normsetzung, sondern auch das Entscheidungsverfahren, mögen seine sachbereichsspezifischen Ausprägungen gegenüber Verallgemeinerungen auch Zurückhaltung gebieten. In dem Maße aber, wie materielle Maßstäbe fehlen, unsicher oder umstritten sind, erhalten Verfahren eine besondere Funktion zur Herstellung des materiellen Rechts.60 Die besondere Wertschätzung des Verfahrens kennzeichnet die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, die auf diese Weise auch besser zur Verarbeitung der europarechtlichen Vorgaben imstande sein dürfte. Kaum ein Rechtsgebiet ist stärker als das Allgemeine Verwaltungsrecht durch ein materielles Systemdenken geprägt, das in seinen Pfadabhängigkeiten61 an Grenzen stößt. Denn aus zwei Gründen ist der in Deutschland gepflegte Systemgedanke angreif bar: Erstens, weil dem Recht ein „inneres System“ unterlegt wird, das in eine Spannung zu den Verfahren demokratisch-voluntaristischer Rechtserzeugung tritt. Damit eng verbunden tritt zweitens die überkommene Vorstellung, dass sich die Rechtserzeugung mittels Rechtserkenntnis vollziehe, was der Rechtsdogmatik den Vorwurf der Selbstermächtigung zur Rechtsetzung einbringt.62 Eben deshalb ist der Status des Allgemeinen Verwaltungsrechts prekär.63 Nicht nur, dass es andere Rechtsordnungen kaum in vergleichbarer Weise kennen und die Europäisierung des nationalen Verwaltungsrechts typischerweise diese „Ebene“ überspringt. Dort, wo das „Allgemeine“ zur Strukturierung der sektoralen Rechtsbeziehungen erforderlich wäre, also vor allem im internationalen Verwaltungsrecht, fehlt es an solchen Ansätzen.64 Wo dagegen die allgemeinen Grundstrukturen von einer kodifikationsgläubigen Rechtswissenschaft gepflegt werden, scheinen sie neben den Rechtserzeugungsverfahren in den Teilgebieten des Besonderen Verwaltungsrechts bestenfalls überflüssig zu sein. Man wird deshalb die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft nicht sinnvoll vor dem Hintergrund der Einpassung ihrer Neuausrichtung am Steuerungsgedanken in das überkommene System dogmatischer Lehrsätze bewerten können. Ob der Akteure und Interessen zurückstellende Systembegriff heute noch trägt, kann durchaus bezweifelt werden.65 Das spricht aber nicht gegen ein Allgemeines Verwaltungsrecht, soweit es gelingt, unter der gebotenen Zurückstellung eines materiellen Systemanspruchs den hinter den jeweiligen Normgeboten stehenden politischen Willen im Wissen um die Kontingenz des Rechts über die Hinterfragung, Anpassung und
So auch Appel, Verwaltungsrecht (Fn. 4 0), S. 235, 272 mit Fn. 165. Affirmativ J. Kersten, Das Verwaltungsverfahrensgesetz im Spiegel der Rechtsprechung der Jahre 2004–2012, Die Verwaltung 46 (2013), S. 87 (88 f.). 62 Vgl. Jestaedt (Fn. 52). Anders Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik (Fn. 25), S. 4. 63 Möllers, Methoden (Fn. 13), § 3 Rn. 54 f. 64 C. Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht in einer doppelt gegliederten Rechtsordnung, in: FS Battis, 2014, S. 101 (115 f.). 65 Krit. O. Lepsius, Hat die Europäisierung des Verwaltungsrechts Methode? Oder: Die zwei Phasen der Europäisierung des Verwaltungsrechts, in: Axer u.a. (Hrsg.), Das europäische Verwaltungsrecht in der Konsolidierungsphase, Die Verwaltung, Beiheft 10 (2010), S. 179 (194 ff.); ders., Problemzugänge und Denktraditionen im Öffentlichen Recht, in: Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexionen der Rechtswissenschaft, 2014, S. 53 (65 f., 82 ff.) mit der Frage, ob das Systemdenken nicht für das Zivilrecht reserviert werden sollte; abgeschwächter C. Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? (Fn. 26), S. 17 (34 f.). 60 61
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Neuentwicklung allgemeiner Kategorien zur Durchsetzung zu verhelfen.66 Modifikationen, nicht aber die Preisgabe des „Rechtsgebietes“ sind das Gebot der Stunde, stellt man in Rechnung, dass die Mühlen in der Rechtswissenschaft unter den stabilisierenden Koordinaten des Verfassungsrechts langsam mahlen.
IV. „Altneuland“ – Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum Das Verwaltungsrecht steht heute vor zwei zentralen Herausforderungen: Zum einen geht es um das „Kleinarbeiten“ der beschriebenen Neuausrichtung am Steuerungsansatz, was in den Lehrbüchern zum Allgemeinen Verwaltungsrecht bislang allenfalls angesprochen, aber nicht konsequent umgesetzt worden ist.67 Zum anderen ist die Einsicht zu verarbeiten, dass das Verwaltungsrecht seine Wirkungen im europäischen Rechtsraum entfaltet. Beides lässt sich nicht einfach trennen, sondern muss in den Wechselwirkungen stärker reflektiert werden.68 Wäre es auch zu kurz gegriffen, die Dogmatik zu verabschieden, so wird der Systemanspruch der Dogmatik im europäischen Rechtsraum doch kaum aufrechterhalten werden können.69 Denn die Dogmatik empfindet konkurrierende Rechtserzeugung als ein Problem, nicht als Normalität. Eben das ist jedoch kennzeichnend für die europäische Konstellation.70 Dass die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft an Stelle herkömmlicher Dogmatik die europäischen Herausforderungen besser zu verarbeiten imstande ist, mag bezweifelt werden können. Auf den Weg zu bringen ist aber, so ließe sich sagen, ein Altneuland, das nicht das „Alte“ durch etwas „Neues“ ersetzt, sondern die unions- und verfassungsrechtlichen Wertungen aufgreift, um die tradierten Bestände des Verwaltungsrechts in eine neue Konstellation zu überführen.71 Das Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum braucht die dogmatische Perspektive nicht preiszugeben.72 So richtig es auch ist, andere Denkstile zu entwickeln, 66 Schärfer unter einer „kollisionsrechtlichen“ Ordnungsidee K.-H. Ladeur, Die Bedeutung eines Allgemeinen Verwaltungsrechts für ein Europäisches Verwaltungsrecht, in: Trute/Groß/Röhl/Möllers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht (Fn. 20), S. 795 (808 f., 815 ff.); dazu C. Franzius, Recht und Politik in der transnationalen Konstellation, 2014, S. 139 ff. 67 Verantwortlich dafür ist die Prüfungspraxis, die im Zeichen gerichtsorientierter Dogmatik steht. Studierende haben erfahrungsgemäß dort Probleme, wo es um Kategorien für das Handeln der Verwaltung geht, die wie das Ermessen eine steuerungswissenschaftliche Darstellung nahelegen. 68 Getrennte Darstellung: W. Kahl, Über einige Pfade und Tendenzen in Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 42 (2009), S. 463 (466 ff., 485 ff.). Dass wir mit der Analyse der Europäisierung viel über die Selbstwahrnehmung der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft lernen können, hebt Lepsius, Europäisierung (Fn. 65), S. 179 zu Recht hervor. 69 So auch Appel, Verwaltungsrecht (Fn. 4 0), S. 235, 274 ff. Zugespitzt, aber richtig Lepsius, Problemzugänge (Fn. 65), S. 87: „Die deutsche Rechtswissenschaft darf nicht in Gefahr geraten, in dogmatischer Schönheit europäisch zu sterben.“ 70 Zu den Beharrungskräften des „Denkstils“ Lepsius, Problemzugänge (Fn. 65), S. 61 ff. mit Kritik am materiellen Systemanspruch als einer dogmatischen Pfadabhängigkeit, die wohl erst durch die „Unausweichlichkeit des europäischen Rechtsraums“ überwunden werde. 71 Für das Verfassungsrecht Weiler/Eisgruber (Hrsg.), Altneuland: The EU Constitution in a Contextual Perspective, Jean Monnet Working Paper 2004. Der Begriff geht auf Theodor Herzl zurück. 72 Wohl auch aus strategischen Gründen v. Bogdandy, Verwaltungsrecht (Fn. 5 ), § 57 Rn. 52 ff.; an-
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dürfte es für die deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft wenig ratsam sein, die eigene Ausrichtung in Frage zu stellen. Das ist unschädlich, solange die dogmatisch gehärteten Figuren flexibel gehandhabt werden und darauf verzichtet wird, anderen ein weniger dogmatisch stringentes Vorgehen vorzuwerfen, sich also der eigenen Begrenztheit des rechtswissenschaftlichen Zugriffs bewusst zu werden. An die Stelle einer Sehnsucht nach „Konvergenz“ und „Integration“ muss die Ausarbeitung von Prinzipien und Figuren für ein arbeitsteiliges Zusammenwirken der Perspektiven unterschiedlicher Rechtsebenen treten, die sich weniger als supranational hierarchisiert, sondern eher als transnational „zusammengesetzt“ darstellen.73 Nicht ganz von der Hand zu weisen ist der Vorwurf, auch der verhaltensbezogene Steuerungsansatz der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft sei im Grunde sehr deutsch, passe aber nicht für die Beschreibung des Verwaltungsrechts im europäischen Rechtsraum. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Nimmt man das selbstkritische Potential der Neuausrichtung für die Überprüfung des dogmatischen Zugriffs in den Blick, wird eine Nähe zu den Perspektiven anderer Rechtsordnungen erkennbar. In diesen dürfte ungeachtet aller Pfadabhängigkeiten, mit denen jede Rechtsordnung zu leben hat, der Steuerungsansatz der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft weniger Abwehrreflexe auslösen als das Beharren auf den dogmatischen Grundannahmen einer noch immer weitgehend auf sich selbst bezogenen Verwaltungsrechtswissenschaft, deren basale Unterscheidungen als „Trennungen“ zwischen Staat und Gesellschaft oder zwischen (gutem) Recht und (schlechter) Politik im europäischen Rechtsraum nur schwer vermittelbar sind. Es wäre vermessen, die Entwicklung des europäischen Verwaltungsrechts heute allein aus einer dogmatischen Perspektive zu beschreiben. Sicherlich zielt die Neuausrichtung der Verwaltungsrechtswissenschaft nicht primär auf die Verarbeitung der europäischen Herausforderungen, die keiner eigenständigen Schicht eines Allgemeinen Verwaltungsrechts bedürfen. Um jedoch den unterschiedlich weit reichenden Anpassungsdruck in den Teilgebieten des Verwaltungsrechts zu verarbeiten, empfiehlt sich die Thematisierung politischer Steuerungsanliegen im Kontext des Allgemeinen Verwaltungsrechts. In dem Maße, wie es gelingt, die allgemeinen Strukturen des Verwaltungsrechts auf die Verarbeitung europäischer Steuerungsziele auszurichten, dürfte die Anpassung der besonderen Rechtsgebiete an die Vorgaben des Unionsrechts erleichtert werden. Sicherlich lassen sich auch deutsche Rechtsfiguren in das Unionsrecht einspeisen und es gilt darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht selbst in sehr dicht vergemeinschafteten Politikfeldern die überkommenen Figuren des deutschen Verwaltungsrechts keineswegs verwirft.74 Umgekehrt erlaubt es die ders O. Lepsius, Kritik der Dogmatik, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? (Fn. 26), S. 39 ff. 73 Zur Transnationalisierung des Europarechts C. Franzius, Transnationalisierung des Europarechts in: Calliess (Hrsg.), Transnationales Recht, 2014, S. 4 03 ff. Für C. Schönberger, Verwaltungsrechtsvergleichung, in: v. Bogdandy/Cassese/Huber (Hrsg.), IPE IV (Fn. 5 ), § 71 Rn. 51 sind die Verwaltungsrechtsordnungen der Mitgliedstaaten heute nur noch als „hybride Mischgebilde“ zu begreifen. Das schließt Kohärenz nicht aus, vgl. E. Schmidt-Aßmann, Einheit und Kohärenz der europäischen Mehrebenenrechtsordnung, EuGRZ 2016, 85 (86 ff.). 74 Zur geteilten Innovationsverantwortung im Mehrebenensystem C. Franzius, Regulierung und Innovation im Mehrebenensystem, Die Verwaltung 48 (2015), S. 175 (176 ff.) am Beispiel des Energieund Klimaschutzrechts.
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Konzeption des europäischen Rechtsraums aber, über neue Ansätze auch dort nachzudenken, wo es keine verpflichtenden Vorgaben des Unionsrechts gibt. Statt nur auf Verpflichtungen zu reagieren, ist die deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft gut beraten, sich den Veränderungen im Wege einer proaktiven, jedenfalls reflektierten Herangehensweise zu nähern. Auf diese Weise dürfte die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft mit dem Zugriff auf das Allgemeine Verwaltungsrecht ungeachtet der Skepsis am Festhalten einer zentralen Steuerung im europäischen Verwaltungsverbund75 in der Lage sein, die übergreifenden Strukturen des Verwaltungsrechts im europäischen Rechtsraum herauszuarbeiten.
V. Bewertung Für die Verwaltungsgerichte bleiben die Ausblendungsleistungen der Dogmatik von besonderem Wert. Die Verwaltungsrechtswissenschaft hat sich aber nicht nur der verwaltungsgerichtlichen Perspektive zu widmen. Zu den Verdiensten der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft gehört, die für die Verwaltung zentrale Handlungsperspektive in den Vordergrund gestellt zu haben. Denn die Verwaltung hat nicht nur die Frage zu beantworten, an welche Vorgaben sie gebunden ist, sondern muss unter anderen methodischen Vorzeichen auch der Frage nachgehen, welche „Entscheidung“ angesichts dieser Vorgaben zu treffen ist. Diese Frage verlangt, sich der Begrenztheit rechtlicher Aussagen bewusst zu werden und diese gewissermaßen selbstdiszipliniert zu pflegen. Andererseits wird erst dadurch klar, dass eine Entscheidung nicht immer allein nach Maßgabe subsumtionsfähiger Vorgaben getroffen werden kann, sondern, stellt man auf die behördliche Entscheidung ab, auch andere Vorgaben berücksichtigt, die andere Maßstäbe wie die „Zweckmäßigkeit“ in den Vordergrund treten lässt. Deren normative Steuerungswirkungen muss der Rechtsanwender erst einmal als solche identifizieren und reflektieren. Für die Verwaltungsrechtswissenschaft geht es darum, diese „Praxis“ nicht auszublenden, sondern unter einer disziplinierten Öffnung für gegebenenfalls andere, aber sachnähere Zugänge auf ihre Verwertbarkeit in der dogmatischen Behandlung zu prüfen. Es geht also nicht allein um ein Plädoyer für Perspektivenvielfalt mit einem bloßen Nebeneinander unterschiedlicher Zugänge, sondern darum, die exkludierende Sicht auf die Behandlung von Rechtsproblemen durch eine inkludierende Perspektive zu ergänzen, nicht zuletzt deshalb, um der Dogmatik die Rolle zuzuweisen, die sie bei der Hilfe für die Lösung von Rechtsfragen einnehmen kann und soll.76 Ein zurückgenommenes Verständnis von offener Dogmatik im europäischen Rechtsraum könnte dann auch manche Kritik an der Rechtsprechung des EuGH in ein milderes Licht rücken, steht doch außer Frage, dass dieser von deutschen Traditionsbeständen lernen, sie aber kaum eins zu eins übernehmen kann. Man wird angesichts der anhaltenden Widerstände gegenüber der 75 Zu anderen Bezeichnungen in der disziplinären Vermessung des Verwaltungsrechts v. Bogdandy, Verwaltungsrecht (Fn. 5 ), § 57 Rn. 2 . 76 Vgl. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik (Fn. 25), S. 6 ff. mit einem sehr weiten und entsprechend unscharfen Begriff von Dogmatik, die manchen als „Schrumpfform von Wissenschaft“ erscheint, vgl. U. Volkmann, Was ist Recht?, JöR 64 (2016), S. 281 (297).
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Neuausrichtung, die auch etwas mit besitzstandswahrenden Interessen der Jurisprudenz zu tun haben, nicht ganz falsch liegen, wenn zusammenfassend hervorgehoben wird, dass es wohl noch keinen vergleichbaren Versuch gegeben hat, unter den Vorgaben des Unions- und Verfassungsrechts für eine demokratische Verwaltung den Denkstil der Verwaltungsrechtswissenschaft zu verändern.77 Mag das „System“ eine Integration des steuerungswissenschaftlichen Ansatzes in das Allgemeine Verwaltungsrechts auch erschweren, so liegt der Vorteil der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft doch darin, die Aufgaben und Handlungsweisen der Verwaltung im europäischen Rechtsraum besser reflektieren zu können. Ob dies die Umstellung auf die Governance-Perspektive verlangt, ist eine offene Frage und als Herausforderung ernst zu nehmen. Vor diesem Hintergrund bleibt der auf „Steuerung“ setzende Neuansatz an tradierte Bestände des Verwaltungsrechtsdenkens zurückgebunden. Wird als Maßstab für eine vorläufige Bewertung der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft ihre Einfügbarkeit in die Entwicklungszusammenhänge des Verwaltungsrechts im europäischen Rechtsraum gewählt, fällt die Bilanz unter dem Strich positiv aus.
77 Siehe auch das Resümee von Pauly, Wissenschaft vom Verwaltungsrecht (Fn. 25), § 58 Rn. 27: „Grad und Tiefe der Methodenreflexion sind dabei in der deutschen Verwaltungsrechtsgeschichte ohne Vorbild.“ Zum unionsrechtlich angestoßenen Wandel im Verständnis des Bürgers, der im Rahmen der Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO nicht länger als bourgeois, sondern als citoyen zu begreifen ist: Franzius, Modernisierung (Fn. 37), S. 287 ff.
Transformation der Verwaltungsrechtswissenschaft – Neue Verwaltungsrechtswissenschaft von
Prof. Dr. Martin Eifert, Humboldt-Universität zu Berlin Inhalt A. Die „Reform des Verwaltungsrechts“ und ihre Prägekraft im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 I. Neue grundsätzliche Perspektive als übergreifender Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 II. Umweltrecht als Aufmerksamkeitsfokus und Referenzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 III. Anschlussfähige Paralleldiskurse in den Gesellschaftswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 IV. Besonderheit des Zusammentreffens der Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 B. Irritationen und Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 I. Erweiterungen für Begriffs- und Systembildung als methodische Irritationen . . . . . . . . . . . . . . . 462 II. Verwaltungsrechtsverständnis und demokratische Legitimation als normative Konfliktlinien . . . . 464 C. Nachhaltige Veränderung in der Verwaltungsrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 I. Erweiterung der Perspektiven und Themen verwaltungsrechtlicher Forschung . . . . . . . . . . . . . . 466 II. Wiedereintritt der Verwaltungsaufgabe ins System des Verwaltungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 III. Verwaltungsrechtswissenschaft jenseits des Dialogs mit den Gerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht durchlebte von Beginn der 1990er Jahre bis in die erste Dekade der 2000er Jahre eine Transformation. Ihr zentraler Treiber und Kristallisationspunkt war das Wissenschafts-Projekt einer „Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts“.1 Es hatte eine hohe Prägekraft und vermochte die fachwissenschaftlichen Diskurse im Verwaltungsrecht einschließlich seiner Verflechtung mit dem Verfassungs- und dann auch dem Europarecht zu rahmen und ihnen eine neue Dimension zu erschließen. Eine wichtige Bedingung für die erfolgreiche Initiierung und Verstetigung des Projekts war sicherlich die fachliche wie persönliche Ausstrahlung der Initiatoren, 1 Vgl. programmatisch W. Hoffmann-Riem, Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts als Aufgabe, AöR 115 (1990), S. 400 ff. und die von dems./G. F. Schuppert/E. Schmidt-Aßmann (Bd. 1) bzw. dems./E. Schmidt-Aßmann (ab Bd. 2) herausgegebenen zehn Bände der Schriften zur Reform des Verwaltungsrechts beim Nomos-Verlag, 1993–2004; zur Anlage bereits A. Voßkuhle, Die Reform des Verwaltungsrechts als Projekt der Wissenschaft, Die Verwaltung 32 (1999), S. 545 ff.
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namentlich von Wolfgang Hoffmann-Riem und von Eberhard Schmidt-Aßmann.2 Sie ergänzten sich persönlich und in hervorstechenden Eigenschaften ihrer Arbeitsweisen, nämlich der öffnenden Perspektivenentfaltung und der ordnenden Systembildung. Sie sahen die Notwendigkeit und teilten das Gespür für eine wirklichkeitsnähere Verwaltungsrechtswissenschaft.3 Der nachfolgende Beitrag will die sachliche Seite des Projekts skizzieren und umreißen, welche Faktoren zu dessen Prägekraft beitrugen (A.), welche Reaktionen es in der Verwaltungsrechtswissenschaft auslöste (B.) und welche nachhaltigen Veränderungen es bewirkte (C.). Verzichtet wird demgegenüber auf eine systematische Darstellung der Inhalte und Methoden dieses Reformansatzes. Solche Darstellungen liegen inzwischen in vielfältigen Formen und ganz unterschiedlichen Akzentuierungen vor.4
A. Die „Reform des Verwaltungsrechts“ und ihre Prägekraft im Kontext Die Prägekraft des Projekts einer Reform des Verwaltungsrechts speiste sich sachlich aus dem Zusammentreffen mehrerer Faktoren. Ein grundsätzlich neuer Ansatz traf auf ein verbindendes neues Rechtsgebiet und wurde unterlegt mit zeitgleichen Parallelentwicklungen in anderen Wissenschaftsdisziplinen.
I. Neue grundsätzliche Perspektive als übergreifender Ansatz Das Reformprojekt setzte fundamental an, war methodisch unabgeschlossen und im Wesentlichen durch eine spezifische Grundperspektive gekennzeichnet. Der Perspektivenwechsel von der Handlungsformen- und Rechtsschutzzentrierung zum Bewirkungsauftrag, vom Rechtsschutz der Bürger zur Verwirklichung der normativen 2 Ergänzend treten in verschiedenen Rollen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten weitere Personen hinzu, vor allem Gunnar Folke Schuppert (insbesondere als Mitherausgeber des ersten Bandes der Schriften zur Reform des Verwaltungsrechts) und Andreas Voßkuhle (insbesondere als Mitherausgeber der „Grundlagen des Verwaltungsrechts“, 3 Bände, 1. Aufl. 2006 ff.). Die nachfolgende Fokussierung auf die Rahmenbedingungen des Projektes und seine zentralen Ideen soll betonen, dass die Reform des Verwaltungsrechts letztlich als Projekt der Verwaltungsrechtswissenschaft zu verstehen ist, das sehr vielfältige Akteure und Ansätze umfasste und dem deshalb durch eine Fokussierung auf wenige Personen nicht angemessen Rechnung zu tragen ist. Die inhaltlichen Impulse der vielfältigen Schriften der Genannten und der institutionalisierten jährlichen „Reform-Tagungen“ sowie die umfassende Neuvermessung des Verwaltungsrechts in den „Grundlagen des Verwaltungsrechts“ können dabei als zentrale Elemente, Taktgeber und Meilenstein eingeordnet werden. 3 Zum Verständnis der Personen siehe nur A. Voßkuhle, Wie betreibt man offen(e) Rechtswissenschaft?, in: W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Offene Rechtswissenschaft, 2010, S. 153 ff. (zu W. Hoffmann-Riem) und für E. Schmidt-Aßmann exemplarisch seine Monografie: Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1. Aufl. 1998, und deren programmatischer Vorläufer: Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee und System, 1982. 4 Statt vieler nur A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: GVerwR I, 2. Aufl. 2012, § 1; I. Appel und M. Eifert, Das Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischen Verständnis und steuerungswissenschaftlichem Anspruch, VVDStRL 67 (2008), S. 226 ff. und 286 ff.; vgl. auch die monografischen Behandlungen bei R. Schröder, Verwaltungsrechtsdogmatik im Wandel, 2007, insbes. S. 169 ff. und jüngst J. P. Schaefer, Die Umgestaltung des Verwaltungsrechts, 2016.
Transformation der Verwaltungsrechtswissenschaft – Neue Verwaltungsrechtswissenschaft
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Ziele durch die Verwaltung und damit die Beachtung unterschiedlicher Folgedimensionen war gleichermaßen elementar wie entwicklungsoffen. Er erlaubte einen Blick auf vielfältige Themen und Rechtsbereiche und konnte so in der spezialisierten Verwaltungsrechtswissenschaft mit ihrer Fragmentierung in spezielle Interessengebiete und Sachbereiche in produktiver Weise einen gemeinsamen Diskurs organisieren.
II. Umweltrecht als Aufmerksamkeitsfokus und Referenzbereich Das Reformprojekt war in der beschriebenen Herangehensweise thematisch grundsätzlich offen angelegt. Es verfügte aber zugleich über ein zentrales Anwendungsfeld mit hohem Aufmerksamkeitswert in der Disziplin. Mit dem Umweltrecht war ein sich schnell entwickelndes und aufstrebendes Rechtsgebiet vorhanden, das sich besonders gut als Referenzgebiet und Kristallisationspunkt des Reformdiskurses eignete. Der legislative Erfindungsreichtum hinsichtlich der zum Einsatz gelangenden verwaltungsrechtlichen Instrumente und vor allem die Entwürfe eines Umweltgesetzbuchs brachten über mehrere Jahre eine hochaktive Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Gesetzgebung und Verwaltungspraxis mit sich. An dieser Schnittstelle erhielt der mit dem Reformprojekt einhergehende Perspektivenwechsel politische Relevanz und Aktualität.5 Darüber hinaus war das Umweltrecht in besonderem Maße Gegenstand europäischer Rechtsentwicklung, so dass es in exemplarischer Weise nicht nur die instrumentelle Ausdifferenzierung und zunehmend kooperative Orientierung, sondern auch die Europäisierung des Verwaltungsrechts abbilden konnte. Schließlich trat in den Risikodiskursen des Umweltrechts die Bedeutung von Information und Wissen als Voraussetzung und Gegenstand des Verwaltungshandelns markant zu Tage. Angestoßen wurde dadurch die tiefere Durchdringung des Verwaltungsrechts als Informations- und Kommunikationsordnung.6 Die meisten Verwaltungsrechtswissenschaftlerinnen und Verwaltungsrechtswissenschaftler hatten demzufolge zumindest partielle Forschungsinteressen im Umweltrecht oder beobachteten seine Entwicklungen schon auf Grund der vielfältigen Möglichkeiten einer Generalisierung oder Parallelisierung. Die Reformperspektive eröffnete dabei neue Themenfelder wie die Mediation oder das informelle Verwal5 Siehe als Meilensteine dieser fortlaufend begleitenden Entwicklung nur die Professorenentwürfe eines UGB (M. Kloepfer/E. Rehbinder/E. Schmidt-Aßmann/P. Kunig, Umweltgesetzbuch – Allgemeiner Teil, 1990; H. D. Jarass/M. Kloepfer/P. Kunig/H.-J. Papier/F.-J. Peine/E. Rehbinder/J. Salzwedel/E. Schmidt-Aßmann, Umweltgesetzbuch – Besonderer Teil, 1994) sowie den UGB-KommE (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Umweltgesetzbuch, 1998). 6 Vgl. für den Risikodiskurs und die zentrale Aufgabe der Wissensgenerierung bereits frühzeitig K.-H. Ladeur, Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft, 1995, S. 51 ff.; R. Wahl/I. Appel, Prävention und Vorsorge, in: R. Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge, 1995, S. 1 ff.: sowie aus späterer Zeit die (konträren) Staatsrechtslehrerreferate von A. Scherzberg und O. Lepsius (Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht, VVDStRL 63 (2004), S. 214 ff. bzw. 264 ff.). Für die wachsende Aufmerksamkeit für die Informationsordnung nur T. Vesting, Zur Entwicklung einer „Informationsordnung“, FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 219 ff.; M. Albers, Information als neue Dimension im Recht, Rechtstheorie, 2002, S. 61 ff.; G. F. Schuppert/A. Voßkuhle, Governance von und durch Wissen, 2008; H. C. Röhl (Hrsg.), Wissen – Zur kognitiven Dimension des Rechts, DV Beiheft 9, 2010; W. Hoffmann-Riem, Innovation und Recht – Recht und Innovation, 2016, S. 302 ff.
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tungshandeln. Daneben traten evolutiv verlaufende Entwicklungen. So bedurfte es der Fortentwicklung überkommener verwaltungs- und verfassungsrechtlicher Konzepte wie Genehmigung, Amtsermittlung, Gesetzesvorbehalt und untergesetzlicher Rechtsetzung; grundsätzlich bekannte Figuren wie Verfahrensstufungen oder Verfahrensbeteiligungen erschienen durch die Entwicklungen im Umweltrecht im neuen Licht.7 Die Reformüberlegungen konnten dementsprechend an unterschiedlichen Phänomenen anknüpfen, in weiten Teilen der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht produktiv werden und einen großen Resonanzraum füllen.
III. Anschlussfähige Paralleldiskurse in den Gesellschaftswissenschaften Die Reformperspektive war mit ihrer Blickrichtung auf die Zielverwirklichung durch Verwaltung und Verwaltungsrecht notwendig interdisziplinär angelegt. Die Untersuchung der Problemlösungsfähigkeit des Rechts ist im Gegensatz zum formbezogenen Arbeiten aus der Rechtsschutzperspektive zwingend mit empirischen Erkenntnissen oder plausiblen theoretischen Annahmen über empirische Wirkungszusammenhänge verknüpft. Die Perspektive bezog dabei nicht nur eine Rechtfertigung der Reformnotwendigkeiten aus den empirischen Forschungen zu Vollzugsdefiziten im Ordnungsrecht oder den theoretischen Problematisierungen der Verrechtlichung. Sie konnte auch in vielfältiger Weise mit ihren Aspirationen an Diskurse in den anderen Disziplinen anschließen. Auf der Ebene der damals noch diskursbeherrschenden Großtheorien bot die grundsätzlich steuerungspessimistische Luhmann’sche Systemtheorie einen Reibungspunkt. Die Spielarten systemtheoretischer Modellbildung von Helmut Willke und Gunther Teubner mit ihren Foci auf verbleibende Beeinflussungsmöglichkeiten autopoietischer Systeme lieferten theoretische Rechtfertigungen und Reflexionshintergründe für zahlreiche neue Steuerungsansätze im Verwaltungsrecht (z.B. Beauftragte; Öko-Audit). Der maßgeblich von Renate Mayntz und Fritz Scharpf entwickelte akteurszentrierte Institutionalismus bot schließlich eine empirie-geöffnete theoretische Umwelt für die Erschließung einer instrumentellen Perspektive, die über die Verwaltung hinausreichte und im Konzept der Regelungsstrukturen die Beteiligung Privater an der Gemeinwohlkonkretisierung mit einschloss. Der Wandel der Staatlichkeit hin zum „Gewährleistungsstaat“ bzw. das auch international diskutierte Auf kommen des „Regulatory State“ in Folge einer zurückgenommenen Leistungstiefe staatlicher Aufgabenerfüllung prägten insgesamt die Diskurse in Politikwissenschaft und deregulierungsorientierter Ökonomie.8 Im weite7 Vgl. stellvertretend die Überblicksdarstellung der Herausforderungen des Umweltstaates bei M. Kloepfer, Zur Rechtsumbildung durch Umweltschutz, 1990. 8 Siehe stellvertretend für die umfangreichen Diskurse in der Reihenfolge der Nennung im Text nur R. Mayntz et al. (Hrsg.), Vollzugsprobleme der Umweltpolitik, 1978; G. Teubner, Verrechtlichung – Begriffe, Merkmale, Grenzen, Auswege, in: F. Kübler (Hrsg.), Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, 1984, S. 289 ff.; N. Luhmann, Ökologische Kommunikation, 1986; ders., Das Recht der Gesellschaft, 1995, insbes. S. 468 ff.; H. Willke, Entzauberung des Staates, 1983; ders., Bd. 2 und 3 der Systemtheorie (Interventionstheorie bzw. Steuerungstheorie), 2. Aufl. 1998; G. Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, S. 81 ff.; R. Mayntz/F. W. Scharpf, Der Ansatz des akteurszentrierten Institutionalismus, in: dies. (Hrsg.), Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung,
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ren Verlauf der Reformdiskussion konnte die zunehmende Aufmerksamkeit für die Bedeutung von Information und Wissen in vergleichbarer Weise an breite parallele Diskurse zur Wissensgesellschaft in Politikwissenschaft und Soziologie sowie an die Renaissance der Hayek’schen Fokussierung auf die überlegene Informationsverarbeitungskapazität dezentraler Märkte und eine aufstrebende Institutionenökonomik in den Wirtschaftswissenschaften anschließen.9
IV. Besonderheit des Zusammentreffens der Faktoren Der rechtswissenschaftliche Perspektivwechsel bildete für sich einen weiten, aber klar konturierten Rahmen für verschiedenste rechtswissenschaftliche Themen, hatte mit dem Umweltrecht ein außergewöhnlich reichhaltiges Referenzfeld und konnte sich seinerseits im größeren Rahmen gemeinsamer Themen der Sozialwissenschaften insgesamt vollziehen. Die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit erlaubte wechselseitige Verstärkungen und vergleichsweise selbstverständliche Bezugnahmen. Die Besonderheit dieser Rahmenbedingungen wird besonders deutlich, wenn man sie mit anderen potentiellen Kandidaten für einen Reformdiskurs vergleicht. Dem Regulatory State vorausgegangen war eine oft als Planungseuphorie beschriebene Phase.10 Die Planung bildete zwar ein breites Thema in den Gesellschaftswissenschaften und brachte auch neue rechtliche Instrumente mit sich. Es fehlte aber ein Kristallisationskern wie es später das Umweltrecht darstellen sollte; die mit der Planung verbundenen rechtlichen Instrumente traten auch eher zum überkommenen Recht hinzu, als dass sie überkommene rechtliche Figuren herausforderten. Entsprechend war der Resonanzraum kleiner und die Bearbeitung glich eher der Erschließung eines neuen Spezialbereichs. Gegenwärtig bildet die Digitalisierung ein wissenschaftlich breit geteiltes Thema.11 Sie wirkt aber in vielen Bereichen eher disruptiv als evolutiv. Die mit der Digitalisierung verbundenen Herausforderungen finden sich verstreut über das Öffentliche und das Zivilrecht. In evolutiv angelegten Bereichen 1995, S. 39 ff.; R. Mayntz, Soziale Dynamik und politische Steuerung, 1997; G. Majone, Deregulation or Re-regulation?, 1990; ders., The rise of the regulatory state in Europe, West European Politics 17 (1994), S. 77 ff.; J. Basedow et al., Marktöffnung und Wettbewerb, 1991, sowie die Überblicke über die Theoriebestände bei G.-P. Calliess, Prozedurales Recht, 1999, und S. Lange/D. Braun, Politische Steue rung zwischen System und Akteur, 2000. 9 Siehe stellvertretend für diese Entwicklungslinie H. Willke, Supervision des Staates, 1999; BMWi (Hrsg.), Die Informationsgesellschaft, 2. Aufl. 1997; N. Stehr, Arbeit, Eigentum und Wissen – Zur Theorie von Wissensgesellschaften, 1994. 10 Vgl. zur Planungseuphorie nur R. Mayntz/F. W. Scharpf, (Hrsg.), Planungsorganisation. Die Diskussion um die Reform von Regierung und Verwaltung, 1973; Zwar gab es methodische Irritationen (vgl. nur das Staatsrechtslehrerreferat von W. Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, VVDStRL 30 (1972), S. 245 ff.) und fand eine verwaltungsrechtliche Verarbeitung statt (maßstabbildend R. Wahl, Rechtsfragen der Landesplanung und der Landesentwicklung, Bd. 2, 1978), ohne dass die Diskussion allerdings die Breite der Reformdiskussion der 1990er Jahre erreicht hätte (vgl. Überblick bei C. Bumke, Methoden, S. 115 f.). Kurzer historischer Abriss bei K. v. Beyme, Der Gesetzgeber: Der Bundestag als Entscheidungszentrum, 1997, S. 19 ff. 11 Eine breite essayistische Bestandsaufnahme bei F. Schirrmacher (Hrsg.), Technologischer Totalitarismus, 2015; erste Kartierung aus Sicht der Rechtswissenschaft in W. Hoffmann-Riem, Recht und Innovation – Innovation und Recht, 2016, S. 614 ff.
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wie dem Datenschutz bringt die Digitalisierung weniger neue Instrumente hervor, sondern bedient sich eher aus dem etablierten Baukasten des entwickelten Regulierungsrechts. Damit fehlen ihr Fokus und Kristallisationskern.
B. Irritationen und Konflikte Mit der zunehmenden Resonanz und Wirkmacht der Reformperspektive wuchsen freilich auch Irritationen und Ablehnung.12 Beide speisten sich teils aus einem wachsenden methodischen Unbehagen, teils aus divergierenden politischen und verfassungsrechtlichen (Hinter-)Grundannahmen.
I. Erweiterungen für Begriffs- und Systembildung als methodische Irritationen In methodischer Hinsicht entwickelte die Reformperspektive neue Kriterien der Systembildung und neue Funktionen der Begriffsbildung.13 Da System- und Begriffsbildung als die beiden zentralen Elemente von Dogmatik traditionelle Herzstücke rechtswissenschaftlicher Methodik bilden, mussten diese Veränderungen irritieren. Die Begriffe dienen im überkommenen dogmatischen Arbeiten, das oft unscharf mit dem Begriff der „Juristischen Methode“14 zusammengefasst wird, der Unterscheidung – und zwar letztlich vor allem der Unterscheidung von Rechtsfolgen. Der steuerungswissenschaftliche Ansatz entwickelt und nutzt Begriffe daneben in erheblichem Maße zur Problemerfassung. Begriffe dienen dort (auch) als wichtiges heuristisches Instrument. Mit ihnen wird etwa die Öffnung zu den Gesellschaftswissenschaften organisiert, indem bewusst Begrifflichkeiten gewählt werden, die mehrere Disziplinen nutzen (z.B. „Steuerung“ oder „Verantwortung“) und so eine strukturierende Verbindung der Fachdiskurse herstellen („Schlüsselbegriffe“; „Brücken begriffe“).15 Ein solcher Umgang mit Begriffen erscheint aus der Perspektive der „Juristischen Methode“ schnell als Verwischung notwendiger Grenzziehungen, als In-Frage-Stellung eines disziplinären Autonomieanspruchs und damit als Verlust einer spezifischen rechtsdogmatischen Rationalität.16 Bei den Kriterien für die Systembildung besteht eine ähnliche Situation gleich auf mehreren Ebenen. Die „Juristische Methode“ bildet ihr System vor allem über die Frühe Markierung von grundsätzlichen Differenzen bei C. Möllers, VerwArch 90 (1999), S. 187 ff. Siehe näher dazu C. Möllers, Methoden, in: GVerwR I, § 3, insbes. Rn. 38 ff. 14 Siehe dazu nur A. Huber/O. Mayer: Die juristische Methode im Verwaltungsrecht, 1981; W. Meyer-Hesemann, Methodenwandel in der Verwaltungsrechtswissenschaft, 1981, S. 15 ff.; W. Krebs, Die Juristische Methode im Verwaltungsrecht, in: E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 209 ff. 15 Siehe stellvertretend nur A. Voßkuhle, „Schlüsselbegriffe“ der Verwaltungsrechtsreform, VerwArch 92 (2001), S. 184 ff. 16 Vgl. etwa P. M. Huber, Die entfesselte Verwaltung, StWStP 8 (1997), S. 423 ff.; K. F. Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche Systembildung, 2009, S. 263 f.; für die Verantwortungsteilung J. H. Klement, Verantwortung, 2006, S. 55 ff.; B. Grzeszick, DV 42 (2009), S. 105, 122 ff.; R. Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 9 0 ff. 12 13
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Relation von Begriffen, die mittels formaler Abstraktion gewonnen werden. Es entsteht also etwa ein System von Handlungsformen, in dem der Verwaltungsakt von der Rechtsverordnung abgegrenzt oder innerhalb des Verwaltungsaktes feststellende, gestaltende, vorläufige usw. Verwaltungsakte unterschieden und jeweils mit spezifischen Rechtswirkungen verknüpft werden. Ein steuerungswissenschaftlicher Ansatz wählt zur Systembildung demgegenüber etwa eine Verknüpfung übergreifender Sachaufgaben mit rechtlichen Instrumenten. So entstehen „Bausteine“ eines Risikoverwaltungsrechts oder „Elemente“ eines Gewährleistungsverwaltungsrechts. Weiterhin systematisiert ein steuerungswissenschaftlicher Ansatz etwa nach den Wirkungsmechanismen und ihren rechtlichen Ausgestaltungen. So tritt neben die Regulierung die hoheitlich regulierte Selbstregulierung, bei dieser kann dann unterschieden werden zwischen unternehmensbezogenen Organisationsvorgaben, der Einrichtung von Markt- und Wettbewerbsstrukturen usw. Es geht dem steuerungswissenschaftlichen Ansatz hier zunächst vor allem um Regelungsmuster, nicht unmittelbar um Rechtswirkungen. Eine Abweichung von einer Methode, der es zentral um die Unterscheidung von Rechtsfolgen geht, schlägt sich auch in den Maßstäben nieder, die bei den systematischen Betrachtungen zu Grunde gelegt werden. Mit dem Ziel sachangemessener Aufgabenerfüllung korrespondiert die Bedeutung „weicher“ Beurteilungskriterien. Diese Kriterien sind etwa die Funktionsgerechtigkeit der Organisation oder – über die Rechtmäßigkeitsanforderungen hinausgehende – Maßstäbe der „Richtigkeit“ des Verwaltungshandelns, zu der auch etwa Akzeptanz, Effizienz und Implementierbarkeit gehören. Während das System der „Juristischen Methode“ darauf ausgerichtet ist, allein zwischen „rechtmäßig“ und „rechtswidrig“ zu unterscheiden, zielt die Systembildung des steuerungswissenschaftlichen Ansatzes auf mehrdimensional sachangemessene rechtliche Regelungen und eine optimierende Problemlösung. Rechtmäßigkeit ist hier „nur“ eine (wenn auch zwingende) Bedingung, so dass die Analysen sich nicht um sie als zentralen Bezugspunkt zentrieren. Vor dem Hintergrund der „Juristischen Methode“ wird dies schnell als Verwischung der Grenzen zwischen Recht und Verwaltungslehre oder zwischen rechtlicher und rechtspolitischer Beurteilung und nicht als eine umfassendere Bearbeitung rechtlicher Steuerung wahrgenommen. Grundsätzlich bieten diese methodischen Irritationen produktive Möglichkeiten der disziplinären Selbstreflexion und lassen sich unschwer über das allgemein geteilte Postulat einer Aufgabenangemessenheit der Methode entschärfen. Die Forschungsfragen müssen die Methodenwahl anleiten und diese sich anschließend über die Leistungsfähigkeit bei der Beantwortung der gestellten Fragen legitimieren. Zu nachhaltigeren Konfliktlinien vermögen sich solche Irritationen dann verfestigen, wenn unterschiedliche politische und verfassungsrechtliche (Hinter-)Grundannahmen hinzutreten und es zu einer faktischen Verbindung von zu unterscheidenden Problemkomplexen kommt.
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II. Verwaltungsrechtsverständnis und demokratische Legitimation als normative Konfliktlinien Auf einer sehr allgemeinen Ebene bestehen unterschiedliche Vorstellungen von der primären Aufgabe des Verwaltungsrechts. Teilweise wird die Herrschaftsbegrenzung als seine zentrale Aufgabe gesehen, teilweise die Sozialgestaltung in den Vordergrund gerückt. Dies vermittelt sich notwendig der wissenschaftlichen Herangehensweise und deren Aufmerksamkeitsfeldern und führt entweder zu einer eher affirmativen Haltung gegenüber neuen verwaltungsrechtlichen Steuerungsansätzen oder verstärkt das Bedürfnis ihrer rechtsstaatlichen Begrenzung. Auf einer anderen, wenn auch damit verknüpften Ebene liegen die unterschiedlichen Haltungen gegenüber der gewachsenen Eigenständigkeit der Verwaltung.17 In vielen Bereichen des modernen Verwaltungsrechts werden die für die Praxis zentralen Fragen nicht mehr durch das parlamentarische Gesetz getroffen, sondern durch Verordnungen und Einzelentscheidungen der Verwaltung. Dies betrifft die Bereiche des Umwelt- und Sozialrechts genauso wie die Regulierung der Netzwirtschaften oder die vielfältigen Felder des Interessenausgleichs durch Planung. Regelmäßig bildet das Streben nach einer möglichst expertise-gesättigten Entscheidung den Hintergrund. In der Praxis schlägt sich diese Ausrichtung in der Einrichtung unabhängiger Verwaltungsbehörden nieder, die auf die Anreicherung oder Verarbeitung sachverständigen Wissens ausgerichtet sind. Beide Entwicklungen, erst recht in ihrer Kombination, werfen Fragen nach der angemessenen demokratischen Legitimation der Entscheidungen auf und spiegeln damit die Verwaltungsentwicklung in eine verfassungsrechtliche Grundfrage. Sie wurde um so drängender, je deutlicher dieser Umbau wahrgenommen wurde (wie im Sozialrecht) und je weiter er sich neue Sach bereiche erschloss (wie im europäisierten Verwaltungsrecht). Die Regulierung der Netzwirtschaften durch unabhängige Regulierungsbehörden bildete wohl den entscheidenden Schritt, um der Thematik zu breiter Wahrnehmung zu verhelfen. Die entstehende Spannung zwischen den Erfordernissen einer sachangemessenen Aufgabenwahrnehmung und der gebotenen demokratischen Legitimation wurde bekanntermaßen in gegensätzlichen Argumentationsrichtungen verarbeitet. Teilweise wurde die Entwicklung unter Verweis auf ein an Legitimationsketten orientiertes Grundkonzept demokratischer Legitimation äußerst kritisch betrachtet. Man forderte eine detailliertere gesetzliche Steuerung, das Festhalten an Weisungsketten und eine hohe Kontrolldichte der Gerichte.18 Demgegenüber zielte eine andere Linie auf ein Legitimationskonzept, in dem vor allem eine größere Pluralität der Modi zur Legitimationsvermittlung anerkannt und dem Gesetzgeber eine größerer Kom-
17 Siehe näher nur W. Hoffmann-Riem, Eigenständigkeit der Verwaltung, in: GVerwR I, § 10, Rn. 56 ff. 18 Siehe mit unterschiedlichen Ansatzpunkten und Ableitungen nur M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, 1993; O. Lepsius, Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik, 1999; K. F. Gärditz, Europäisches Regulierungsverwaltungsrecht auf Abwegen, AöR 135 (2010), S. 251 ff.; W. Durner, Schutz der Verbraucher durch Regulierungsrecht, VVDStRL 70 (2011), S. 398, 405 ff.
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binationsspielraum zur Herstellung des je gebotenen Legitimationsniveaus eingeräumt wurde.19 Diese Diskussion verschränkt sich mit der Frage danach, welche Gegenstände im Zentrum der verwaltungsrechtlichen Forschung stehen sollten. Themenfelder wie Organisation, Verfahren und Informationsordnung werden um so bedeutsamer, je größer der Gestaltungsspielraum der Verwaltung ist und je stärker sich der Gesetzgeber statt materieller Vorgaben kompensatorisch einer Strukturierung der Entscheidungsfindung insbesondere durch Verfahrensgestaltung bedient und bedienen darf. Die Reformperspektive legt eine gesetzgeberische Gestaltungsoptionen wahrende Neuvermessung des Konzepts der demokratischen Legitimation aus mehreren Gründen nahe. Die Entwicklung des Umweltrechts stellt einen deutlichen Anstoß zu einer solchen Neuvermessung dar, weil dort die Verschiebungen von der gesetzlichen hin zur gesetzlich strukturierten Entscheidung besonders markant und bereits frühzeitig verfassungsrechtlich gut abgesichert erfolgten. Vor allem entspricht eine Neuvermessung dem bewirkungsorientierten Ansatz der Reformperspektive. Nach diesem Ansatz wird die demokratische Legitimation primär als Problem der Steuerung der Verwaltungsentscheidungen durch die Parlamente unter Einschluß der Strukturierung der Entscheidungsfindung thematisiert. Damit öffnet sich die Diskussion für die Betrachtung realer Leistungsfähigkeit und funktional äquivalenter Einwirkungsmöglichkeiten. Vor allem wegen der Verbindung der verwaltungsrechtlichen Perspektivenwahl mit der verfassungsrechtlich zentralen Legitimationsfrage und ihrer konzeptionellen Aufladung verdichtete sich ein zuvor eher diffuses Unbehagen in Teilen der Rechtswissenschaft zu einer manifesten Ablehnung des Reformprojekts. Der wissenschaftliche Diskurs trug vorübergehend Züge einer verkürzenden und unproduktiven Lagerbildung einschließlich einer übersteigerten Polarisierung. Es entstand der Eindruck von wechselseitigen Exklusivitätsansprüchen,20 die überschießenden Momente beider Ansätze wurden wechselseitig als Bedrohung wahrgenommen. Auch wenn die grundlegenden Divergenzen fortbestehen, haben die Fokussierung auf die Legitimationsfrage und die damit verbundene Polarisierung zwischenzeitlich nachgelassen. Die Selbstreflexion über die Aufgaben der Verwaltungsrechtswissenschaft und ihre Methoden bleibt notwendig auf der Agenda, aber die unterschiedlichen Perspektiven werden zunehmend als sich ergänzende wahrgenommen. T. Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, 1999, S. 165 ff.; G. Britz, Die Mitwirkung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts, VerwArch. 91 (2000), S. 418 ff.; J. Masing, Soll das Recht der Regulierungsverwaltung übergreifend geregelt werden?, 66. DJT, 2006, S. 73 ff.; systematisch zusammenfassend und weiterführend H.-H. Trute, Verwaltungslegitimation, Die demokratische Legitimation der Verwaltung, in: GVerwR II, 2. Aufl. 2012, § 6, Rn. 42 ff., 60 ff. 20 Einen Ansatzpunkt bilden hier schon die Begriffsbildungen. Die Reformperspektive wurde mit dem Begriff der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ belegt (A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: GVerwR I, 1. Aufl. 2006, § 1), die im „neu“ ihre mehr als graduelle methodische Veränderung begrifflich ausdrückt, der aber zugeschrieben wurde, darin auch alle anderen Herangehensweisen abwertend als „alt“ abzutun. Umgekehrt wurde die „Juristische Methode“ für die überkommene Arbeitsweise verwendet, was ebenfalls nicht nur als historisch gebundene Charakterisierung, sondern auch als disziplinäre Exkludierung aller anderen Arbeitsweisen als „unjuristisch“ verstanden werden kann. 19
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C. Nachhaltige Veränderung in der Verwaltungsrechtswissenschaft Ungeachtet der Irritationen und Konfliktlinien hat die neue Verwaltungsrechtswissenschaft nachhaltige Veränderungen bewirkt.
I. Erweiterung der Perspektiven und Themen verwaltungsrechtlicher Forschung Viele Aspekte, die über diese Perspektive überhaupt erst als Gegenstände der rechtswissenschaftlichen Forschung erschlossen wurden, sind mittlerweile selbstverständliche Bestandteile verwaltungsrechtlichen Arbeitens. Dies betrifft zunächst die Verbreiterung des rechtswissenschaftlichen Themenfeldes. Dieses erfasst die Vielfalt der staatlichen Instrumente einschließlich funktionaler nicht-staatlicher Äquivalente und Korrelate, die staatlichen Auswahlentscheidungen („regulatory choice“) sowie die Kooperationsformen zwischen staatlichen, nichtstaatlichen und hybriden Akteuren. Die Verbreiterung des rechtswissenschaftlichen Blickfeldes betrifft die verschiedensten Bereiche des Verwaltungsrechts21 und kann etwa im Sozialrecht22 und gegenwärtig im Finanzmarktrecht23 besonders deutlich verfolgt werden. Übergreifend wird die weitreichende Erschließung dieses Bereichs durch das Reformprojekt vielleicht am eindrücklichsten dadurch dokumentiert, dass die in den Sozialwissenschaften ab Ende der 1990er Jahre in den Vordergrund rückende Governance-Forschung für die Rechtswissenschaft kaum über den schon erreichten Bestand hinausgehende neue Perspektiven eröffnen konnte, aber umgekehrt Rechtswissenschaftler in ihr anerkannte Diskussionspartner waren.24 Neben die Verbreiterung des verwaltungsrechtswissenschaftlichen Themenfeldes tritt die Betrachtung neuer Tiefenschichten. Es werden nicht mehr nur die Entscheidungen der Verwaltung, sondern auch deren Herstellungsbedingungen juristisch thematisiert. Die Informationsordnung und Wissensgenerierung bilden sowohl eigenständige Forschungsfelder eines Informationsverwaltungsrechts25 als auch wichtige Aspekte instrumenten- und rechtsschutzbezogener Analysen. 21 Vgl. nur aus dem Bereich der Habilitationsschriften als Beispiele für querschnittsartige Betrachtungen M. Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999; T. Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, 1999; M. Fehling, Verwaltung zwischen Unparteilichkeit und Gestaltungsaufgabe, 2001; C. Franzius, Gewährleistung im Recht, 2009; sowie für bereichsbezogene Analysen I. Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge, 2005; J. Hecker, Marktoptimierende Wirtschaftsaufsicht, 2007; S. Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, 2004; F. Wollenschläger, Verteilungsverfahren, 2010; D. Thym, Migrationsverwaltungsrecht, 2010, S. 32 ff.; T. Fetzer, Staat und Wettbewerb in dynamischen Märkten, 2013. 22 Siehe nur ausdrücklich T. Kingreen, Governance im Gesundheitsrecht. Ein Beitrag zur Bedeutung der Referenzgebiete für die verwaltungsrechtswissenschaftliche Methodendiskussion, Die Verwaltung 42 (2009), S. 339 ff., sowie ungeachtet einer rhetorischen Ablehnung im methodischen Zugriff S. Rixen, Taking Governance Seriously, Die Verwaltung 42 (2009), S. 309 ff. 23 Siehe A.-K. Kaufhold, Systemaufsicht, 2016. 24 Siehe nur G. F. Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung, 2006. 25 I. Augsberg, Informationsverwaltungsrecht, 2014; siehe auch J. Masing, Transparente Verwaltung – Konturen eines Informationsverwaltungsrechts, VVDStRL 63 (2004), S. 377 ff.; A. B. Kaiser, Die Kommunikation der Verwaltung, 2009, S. 247 ff., und die Beiträge in I. Spieker gen. Döhmann/P. Collin (Hrsg.), Generierung und Transfer staatlichen Wissens, 2008.
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In beiden Bereichen wird zugleich verbreitet unter Einbeziehung nachbarwissenschaftlicher Erkenntnisse gearbeitet. Der interdisziplinäre Ansatz hat sich (wissenschafts-)praktisch bewährt und zugleich einen Maßstab der Wissenschaftlichkeit rechtswissenschaftlichen Arbeitens etabliert, der belastbare Grundlagen für empirische oder theoretische Annahmen verlangt. Allerdings ist einzuräumen, dass insgesamt gesehen Unsicherheit besteht, inwiefern die mit solchen Anforderungen einer wissenschaftlich fundierten Wirkungsorientierung verbundene Komplexitätssteigerung normative Ableitungen überfordern kann. Wird die Komplexität letztlich unbewältigbar oder ist sie „nur“ eine unhintergehbare Herausforderung, auf die sich die Wissenschaft in transparenter Weise und das Recht mit einer entscheidungsangemessenen Pragmatik einstellen kann und muss? Die sich unaufgeregt vollziehende Ergänzung der Rechtswissenschaft um Anliegen der Reformperspektive führt nicht dazu, dass alle aus der Steuerungsperspektive relevanten Themen nachhaltig systematisch bearbeitet werden. Die Steuerung durch Personal ist etwa notorisch unterbelichtet geblieben,26 obwohl mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Besoldung von Richtern und Beamten sogar verfassungsgerichtliche Anknüpfungspunkte hinzugetreten sind. Die Themenfelder entwickeln sich offenkundig unter einer Vielzahl von Einflussfaktoren. Belegen lässt sich aber, dass sich die Reformperspektive als wissenschaftlich hochproduktiv erweist.
II. Wiedereintritt der Verwaltungsaufgabe ins System des Verwaltungsrechts Die Reformperspektive verschaffte der Verwaltungsaufgabe als einer alten, von der Rechtsschutzperspektive nur in den Hintergrund gedrängten Dimension des Verwaltungsrechts wieder die gebotene Aufmerksamkeit.27 Mit der Renaissance der Verwaltungsaufgabe stellte sich in der wissenschaftlichen Bearbeitung des rechtsschutz- wie verwirklichungsorientierten Doppelauftrags des Verwaltungsrechts eine Balance wieder her. Der Aufgabenbezug wurde allerdings nicht über die kleinteilige, mitunter auch kontingente Aufgabenstruktur einzelner konkreter Verwaltungsbehörden erfasst, sondern über typisierte Sach- und Querschnittsaufgaben, die in ihrer Abstraktionshöhe anschlussfähig sind für abstrahierte Rechtsfiguren und so die Ausdifferenzierung des modernen Verwaltungsrechts wissenschaftlich handhabbar machen. Sowohl die Handlungsformen, insbesondere der Verwaltungsakt, als auch Verfahrens- oder Organisationsgestaltungen können auf solche Aufgabentypen hin beschrieben und rechtlich in Typologien konturiert werden.28 In dieser Verbindung 26 S. aber T. Hebeler, Verwaltungspersonal. Eine rechts- und verwaltungswissenschaftliche Strukturierung, 2008. 27 Dies wird auch von tendenziell skeptischen Stimmen hervorgehoben (vgl. nur K. F. Gärditz, Hochschulorganisation, S. 265 f.); vgl. näher S. Baer, Verwaltungsaufgaben, GVerwR II, 2. Aufl. 2012, § 11. 28 Siehe beispielhaft für den Verwaltungsakt C. Bumke, Verwaltungsakte, in: GVerwR II, 2. Aufl. 2012, § 35 Rn. 87 ff., mit dem zentralen Hinweis darauf, dass die Verbindung von Verwaltungsaufgabe und Handlungsformen bereits für das Arbeiten von O. Mayer zentral war (Rn. 88); für das Verfahren J. P. Schneider, ebd, § 28, Rn. 158 ff.; C. Röhl, ebd., § 30, Rn. 10 ff.; für die Organisation und am Beispiel der öffentlichen Versorgungswirtschaft G. Britz, in: M. Fehling/M. Ruffert (Hrsg.), Regulierungs-
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werden die Sachentkopplung der „Juristischen Methode“ einerseits und die dogmatisierungsfeindliche Fragmentierung der Sachwahrnehmung andererseits jeweils so abgemildert, dass eine aufgabenbezogene Systematik rechtlicher Formen und Bauelemente entstehen kann. Die Verknüpfung vertypter Aufgaben einerseits mit Handlungsformtypologien und verfahrens- und organisationsrechtlichen Bausteinen andererseits könnte per spektivisch auch eine Systembildung auf europäischer oder internationaler Ebene erleichtern und den auf diesen Ebenen geführten Diskursen eine produktive neue Richtung erschließen. Auf beiden Ebenen besteht gegenwärtig ein Schwerpunkt auf den rechtsstaatlichen Mindeststandards des Verwaltungshandelns. Auch der ReNEUAL-Musterentwurf für ein einheitliches EU-Verwaltungsverfahrensrecht folgt diesem Ansatz. Die Plausibilität dieses Vorgehens ist aufgrund normativer Anknüpfungsmöglichkeiten in Art. 41 GRCh bzw. im Gedanken der rule of law sowie aufgrund der vergleichsweise großen Schnittmengen bestehender normativer Konkretisierungen in den verschiedenen Feldern offenkundig. Geht man davon aus, dass dem Recht auch auf europäischer und internationaler Ebene der Doppelauftrag von Rechtsschutz und Bewirkung zukommt, bedarf es perspektivisch einer stärkeren wissenschaftlichen Bearbeitung des Aufgabenbezugs. Ein solches Vorhaben steht vor der doppelten Herausforderung, einen feineren Detailierungsgrad und eine höhere nationale Kontextabhängigkeit zu besitzen. Die Herstellung von übernationalem Konsens wird hierdurch erschwert. Die Arbeit an und mit Vertypungen kann hier einen hinreichend weit gefassten Bezugsrahmen bilden.29 Sie kann einen Vergleich bestehender nationaler Ausgestaltungen anleiten, ohne mit ihnen kurzgeschlossen zu werden, und zugleich an die herausgearbeiteten rechtsstaatlichen Mindeststandards anschließen.
III. Verwaltungsrechtswissenschaft jenseits des Dialogs mit den Gerichten Unklarer ist die Entwicklung anderer Forschungsbereiche. Einen solchen Bereich bildet der wissenschaftliche Umgang mit nicht-justiziablen Fragen rechtlicher Steuerung. Auf der einen Seite ist offenkundig, dass der Ordnungsanspruch des Rechts weiter reicht als er im Rechtsschutzauftrag abgebildet wird. Sprachlich verweist schon der Begriff der Ordnungsvorschriften, deren Verletzung regelmäßig keine Rechtsfolgen auslöst, aber dennoch den Bruch rechtlicher Regeln darstellt, anschaulich auf einen solchen Bereich. Auch enthält das Recht zahllose Verweisbegriffe, die als solche notwendig zum Recht gehören, aber nur begrenzt rechtsautonom entfaltet werden können, wenn sie nicht um ihre Funktionalität gebracht werden sollen. Wenn das Recht einen über seine justiziablen Bestimmungen hinausgehenden Ordnungsanspruch hat, erscheint es selbstverständlich, auch diesen zum Gegenstand der Rechtsrecht, 2010, § 21, Rn. 2 ff. In Erweiterung des Begriffs der Handlungsformen spricht Hoffmann-Riem hier auch von Bewirkungsformen. 29 Ansätze über die Bildung von „Strukturtypen“ bei E. Schmidt-Aßmann, Internationalisierung des Verwaltungsrechts, in: ders. (Hrsg.), Aufgaben und Perspektiven verwaltungsrechtlicher Forschung, 2006, S. 486, 497 ff.
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wissenschaft zu machen.30 Allerdings ist die Rechtswissenschaft hier in uncharakteristischer Art und Weise auf sich allein gestellt. Gewohnte Formen der dogmatischen Arbeitsweise stoßen an ihre Grenzen, wenn sie nicht inhaltlich über konkrete Fallentscheidungen geschärft und immer wieder herausgefordert werden können und wenn die Gerichte als Diskurspartner mit verbindlicher Auslegungskompetenz ausfallen.31 Es bleibt einstweilen offen, ob sich ein nachhaltiger rechtswissenschaftlicher Diskurs über praktisch relevante Fragen auch dort entwickeln kann, wo ihm der befeuernde Anreiz einer potentiellen Beeinflussung der Rechtsprechung fehlt. Die „Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts“ hat eine Transformation der Verwaltungsrechtswissenschaft mit sich gebracht. Die Perspektiven wurden in methodischer wie gegenständlicher Hinsicht nachhaltig erweitert und das Gespräch mit anderen Disziplinen auf Grund der interdisziplinären Vorgehensweise gesucht und intensiviert. Das Selbstverständnis der Verwaltungsrechtswissenschaft wurde herausgefordert und hat sich, letztlich produktiv, pluralisiert. Auch wenn dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist, hat er neben der Fortentwicklung der Verwaltungsrechtswissenschaft selbst auch deren Anschlussfähigkeit im europäischen und internationalen Wissenschaftsgespräch erhöht. Ein guter Ertrag.
30 Vgl. nur M. Fehling, Das Verhältnis von Recht und außerrechtlichen Maßstäben, in: H.-H. Trute/ T. Groß/H. C. Röhl/C. Möllers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, S. 461 ff. 31 Der (oft einseitige) Dialog ist exemplarisch aufgearbeitet bei H. Schulze-Fielitz, Das Bundesverwaltungsgericht als Impulsgeber für die Fachliteratur, FG 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 1061 ff.; ders., Notizen zur Rolle der Verwaltungsrechtswissenschaft für das Bundesverwaltungsgericht, DV 36 (2003), S. 421 ff.
„Neue“ oder „neoklassische“ Verwaltungsrechtswissenschaft? Zu den Zukunftsaussichten der Wissenschaft vom Verwaltungsrecht von
Priv.-Doz. Dr. Jan Philipp Schaefer, Universität München Inhalt I. Das Neue in der Verwaltungsrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 II. „Verwaltung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 1. Aufklärerischer Impetus der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft und Reflexionsangebote an die Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 2. Die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft zwischen Bürokratie und wirkungsorientierter Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 III. „Verwaltungsrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 1. Abstand vom rechtsstaatlichen Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 2. Reformtendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 IV. „Rechtswissenschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482
I. Das Neue in der Verwaltungsrechtswissenschaft Der Begriff „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ suggeriert einen Paradigmenwechsel. Der vorliegende Beitrag untersucht, inwieweit diese Prätention eingelöst werden kann. Für den Moment ist jedoch am Begriff selbst innezuhalten. Das groß geschriebene „Neue“ projiziert alle Erwartungen auf ein Adjektiv. Semantisch mag dies gut konstruiert sein, da im Verheißungsvoll-Unbestimmten ein Bedeutungsüberhang aufgefangen werden kann, der nun einmal mit Zukunftserwartungen verknüpft ist. Versteht man die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft als Zukunftsprojekt, erhält sie eine stark subjektivistische Färbung. Zukunftshoffnungen können nicht in einer Weise objektiviert sein, dass eine allseitige Verständigung über das Erwartbare und Wünschenswerte erreicht werden kann, weil Erwartungen und Wünsche auf vollkommen differenten Wahrnehmungen des Erreichten gründen. Folglich müsste man in der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft eine Fülle von Meinungen sehen, deren einzige Klammer das Unbehagen an einem wie auch im-
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mer definierten Gegenwartszustand des Verwaltungsrechts ist. Darin findet man jedoch keine Ausgangsbasis für einen binnendisziplinären Diskurs. Das Sein des Verwaltungsrechts lässt sich genauso wenig bestimmen wie das Werden. Zentrale Verwaltungsrechtsdogmen wie Verwaltungsakt, Ermessenslehre oder Vertrauensschutz sind nicht nur wegen Europäisierungs- und Konstitutionalisierungsdynamiken immer im Werden. Mithin gestaltete sich die Kommunikation über Reformanliegen als Selbstgespräch, die Kritik geriete darin zum Sprachspiel. Die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ wäre Synonym für eine diffuse Unzufriedenheit eines Teils der deutschsprachigen Staatsrechtslehre. Dagegen spricht, dass wichtige Ergebnisse des verwaltungsrechtswissenschaftlichen Reformdiskurses in Grundlagenwerken von teilweise beeindruckender gedanklicher Tiefe und Materialvielfalt festgehalten sind. Neben den von Wolfgang Hoffmann-Riem, Eberhard Schmidt-Aßmann und Andreas Voßkuhle herausgegebenen „Grundlagen des Verwaltungsrechts“1 zählen hierzu mindestens die ebenfalls von Hoffmann-Riem und Schmidt-Aßmann edierten „Schriften zur Reform des Verwaltungsrechts“2 sowie einige Werke zur Governance-Forschung,3 ferner eine Anzahl von Bänden aus der „Schriftenreihe der Hochschule Speyer“.4 Etliche öffentlich-rechtliche Habilitationsschriften behandeln seit Beginn der 1990er-Jahre Einzelfragen im Gesamtzusammenhang der Umgestaltung des Verwaltungsrechts. Insoweit ist jedoch eine eindeutige Zuordnung zur 1 W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2. Auflage 2012; Band II, 2. Auflage 2012; Band III, 2. Auflage 2013. Im Folgenden abgekürzt als: „GVwR“. 2 W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/G. F. Schuppert (Hrsg.), Reform des Verwaltungsrechts: Grundfragen, 1993; W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungsrechts, 1994; W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996; E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1997; W. HoffmannRiem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, 1998; E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Strukturen des europäischen Verwaltungsrechts, 1999; W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, 2000; E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungskontrolle, 2001; W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, 2002; E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004. 3 G. F. Schuppert (Hrsg.), Der Gewährleistungsstaat – ein Leitbild auf dem Prüfstand, 2004; ders. (Hrsg.), Governance-Forschung: Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, 2005; ders./A. Voßkuhle (Hrsg.), Governance von und durch Wissen, 2008; ders. (Hrsg.), Der Rechtsstaat unter Bewährungsdruck, 2010; ders. (Hrsg.), Der Rechtsstaat unter den Bedingungen informaler Staatlichkeit. Beobachtungen und Überlegungen zum Verhältnis formeller und informeller Institutionen, 2011; ders., Alles Gorvernance oder was?, 2011; ders., Governance und Rechtsetzung: Grundfragen einer modernen Regelungswissenschaft, 2011; W. Hoffmann-Riem, Die Governance-Perspektive in der rechtswissenschaftlichen Innovationsforschung, 2011. 4 W. Blümel/R. Pitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, 2011; dies. (Hrsg.), Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess im Wandel der Staatsfunktionen, 1997; J. Ziekow (Hrsg.), Handlungsspielräume der Verwaltung, 1999; ders. (Hrsg.), Wirtschaft und Verwaltung vor den Herausforderungen der Zukunft, 2000; ders. (Hrsg.), Verwaltungswissenschaften und Verwaltungswissenschaft, 2003; J. H. Seok/J. Ziekow (Hrsg.), Die Einbeziehung Privater in die Erfüllung öffentlicher Aufgaben, 2006; dies. (Hrsg.), Mediation als Methode und Instrument der Konfliktmittlung im öffentlichen Sektor, 2010; H. Hill/K.-P. Sommermann/U. Stelkens/J. Ziekow (Hrsg.), 35 Jahre Verwaltungsverfahren – Bilanz und Perspektiven, 2011.
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Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft kaum möglich. Je nach Konfiguration des Diskussionsrahmens befinden sich weniger oder mehr Wissenschaftlerpersönlich keiten im Umkeis der Reformbewegung. Dieser Zugang führt erneut zu subjektiven, ad personam und ad opus geführten Zurechnungslinien. Über alldem wird häufig von der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ gesprochen, als handele es sich um eine nach innen kohärente, sich nach außen abgrenzende und als solche auftretende Schule. Davon kann allerdings keine Rede sein. Die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ kann überhaupt nur als Summe zahlreicher Studien zu Reformbedarf und Reformertrag des in Deutschland geltenden Verwaltungsrechts aufgefasst werden. „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ setzt kein „neues Verwaltungsrecht“ voraus. Die Legislative erlässt beinahe jeden Tag Verwaltungsgesetze. Dieser Sachverhalt ist für sich genommen nicht von Interesse. Die Rechtswissenschaft distanziert sich als hermeneutische von den analytischen Disziplinen durch den Stellenwert, den sie dem Neuen beimisst. In den Naturwissenschaften ist die Entdeckung einer Novität regelmäßig eine Sensation. Das Neue kann dort wirklich einen Paradigmenwechsel auslösen. Die Naturwissenschaften existieren geradezu um des Neuen willen, sind ganz auf Entdeckungsverfahren ausgerichtet. Im Unterschied dazu hat das Neue an sich in der Rechtswissenschaft keinen Wert. Bedeutungsvoll wird es erst im Hinblick auf einen Analyserahmen, mit dem der neue Rechtsstoff geordnet werden kann. Also konzentriert sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung nicht auf juristische „Entdeckungen“, sondern auf ihre konzeptionelle Bewältigung. Deshalb hängt die Existenzberechtigung einer „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ nicht davon ab, ob es neues Verwaltungsrecht gibt. Anders gewendet: Das Verwaltungsrecht kann neu werden, indem man es in anderem Lichte betrachtet. Der übliche Weg, die Lichtverhältnisse zu justieren, ist die Verfassungsänderung, da das Verwaltungsrecht im Lichte des Grundgesetzes ausgelegt wird. Innovativ und provokativ an der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft ist unter anderem, dass sie nicht auf Verfassungsänderungen wartet. Sie sieht sich selbst am Lichtschalter, den sie durch ihr Spiel mit sozialwissenschaftlichen Theoriebausteinen, durch Ein- und Auswechseln verschiedener Diskursfilter (Steuerungstheorie, Netzwerk-Governance, Neue Institutionenökonomik etc.) betätigt. Festzuhalten bleibt: Alpha und Omega der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft ist die Reform des Verwaltungsrechts.5
5 Hieraus ergibt sich eine zeitliche Einordnung der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, die trotz vieler Vorläuferstudien (insbesondere im Rahmen der alljährlichen Zusammenkünfte der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer) nicht vor 1989/1990 angesetzt werden sollte. Als spätester Startpunkt kann das Erscheinen des ersten Bandes der Schriften zur Reform des Verwaltungsrechts 1993 angesetzt werden.
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II. „Verwaltung“ 1. Aufklärerischer Impetus der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft und Reflexionsangebote an die Verwaltung Der Verwaltungsrechtsdiskurs bedient sich des Verwaltungsbegriffs in Abhängigkeit vom Aussagekontext. Funktionale, organisations- oder kompetenzbezogene Definitionen bilden die Verwaltungsrealität in sich ergänzenden, ineinander übergehenden Facetten ab.6 Die hierin manifeste Distanz der Verwaltungsrechtswissenschaft zu den empirischen Aspekten ihres Gegenstands erklärt sich mit der vermeintlichen Paradoxie, dass das Verwaltungsrecht ohne Verwaltung auskommen kann. Recht ist selbstbezüglich. Die Jurisprudenz, verstanden als Wissenschaft von der Anwendung des Rechts, (de-)konstruiert Rechtstexte, befasst sich mit dem Gehalt von Rechtsnormen. Die Rechtstheorie reflektiert auf die Bedingungen, unter denen juridische Aussagen „Sinn“ ergeben. Zu diesen Bedingungen mag man die „Wirklichkeit“ zählen, in der sich das Recht als solches beweisen müsse. Doch das Recht hebt sich von sozialen Normen außerrechtlichen Charakters durch seine Kontrafaktizität ab. Rechtsnormen artikulieren einen Gestaltungsanspruch, der umso radikaler wirkt, je weiter die tatsächlichen Verhältnisse von den ins Recht hineinprojizierten Ordnungsideen entfernt sind. An diesen Befund knüpft die Verwaltungsrechtswissenschaft an. Sie interessiert sich von jeher für die juristische Determinierung des Verwaltungshandelns. Es ist ihr wichtigstes Anliegen, rechtsfreie Räume in Gestalt administrativer „Gewaltverhältnisse“ zurückzudrängen, den Verwaltungsinnenraum zunächst (im Kaiserreich und in der Ersten Republik) rechtsstaatlich, dann (unter dem Grundgesetz) auch demokratieprinzipiell und durch Grundrechte zu erschließen. Die Verwaltungsrechtswissenschaft findet in diesem Zugriff ihre Abgrenzung gegenüber dem interdisziplinären Kosmos der allgemeinen Verwaltungslehre. Die Ökonomie beispielsweise untersucht Verwaltungshandeln im Hinblick auf Ressourceneffizienz, die Soziologie beobachtet Abstimmungsprozesse oder eruiert Ausbildung, soziale Schichtung, politische Einstellung der Beamtenschaft. Die wirklichkeitswissenschaftliche Ausrichtung der Neuen (gegenüber der klassischen, als „rechtsstaatlich“ bezeichneten7) Verwaltungsrechtswissenschaft konvergiert nicht mit Soziologie und politischer Ökonomie, die hinter dem Recht gesellschaftliche Konfliktlagen ausmachen. Trotz ihrer soziologischen Semantik rückt die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft nicht vom Selbstand des Verwaltungsrechts ab. Vielmehr geht es ihr um die Offenlegung strategischer Potentiale, während die klassische Verwaltungsrechtswissenschaft stärker an Systembildung interessiert ist. Klassische und 6 Übersicht bei: D. Ehlers, in: H.-U. Erichsen/ders. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Auflage 2006, § 1 Rn. 4, 13; H. Faber, Verwaltungsrecht, 4. Auflage 1995, § 3 III. Zur interdisziplinären Anschlussfähigkeit des Verwaltungsbegriffs: P. Maclouf, The „Modernization of the State“, in: W. Blümel/R. Pitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, 1994, S. 172 (183). 7 E. Schmidt-Aßmann, Einige Überlegungen zum Thema: Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht, in: Die Verwaltung Beiheft 2, 1999, S. 177 (177). Siehe auch bereits: W. Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, VVDStRL 30 (1972), S. 245 (254 f.). Zu Neuakzentuierungen der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft: W. Hoffmann-Riem, Eigenständigkeit der Verwaltung, in: ders./E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2. Auflage 2012, § 10 Rn. 15.
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„neue“ Verwaltungsrechtswissenschaft trennen letztlich nur Nuancen, aber diese sind durchaus der Rede wert. Systembildung und Steuerungsperspektive sind zwei Seiten einer Medaille. Das Recht bildet einerseits ein geistiges System, abstrahiert von der Anwendungsrealität. Andererseits beeinflusst es den zu regelnden Lebenssachverhalt. In diesem Sinne „steuert“ Recht stets. Steuerung durch Recht ist nicht ausschließlich Gegenstand der Soziologie und Ökonomik. Beide Disziplinen besetzen das Feld der Rechtstatsachenforschung. Im Kompetenzbereich der Rechtswissenschaft befindet sich demgegenüber eine Lehre vom strategischen Umgang mit Recht. Ebendies ist Sinn und Zweck juristischer Beratung. Wolfgang Hoffmann-Riem spricht diesbezüglich von „Bewirkungsformen“; „Steuerung“ im juridischen Sinne sei das „Bewirken von Wirkungen“.8 Die Grundintention der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft scheint mir in der Auf klärung von Gesetzgebung, Exekutive und Publikum über die strategischen Potentiale des Verwaltungsrechts zu bestehen. Hierbei kann sie nicht an den Ergebnissen der Sozialtheorie vorübergehen. Vollzugsdefizite lassen erkennen, dass Telos der Norm und legislativer Gestaltungsimpuls bisweilen nicht übereinstimmen. Die Verwaltungsrechtswissenschaft könnte dies – freilich auf Kosten ihrer gesellschaftlichen Relevanz – hinnehmen. Sie verlöre dadurch indessen mehr als nur Stimme und Gewicht in der öffentlichen Meinungsbildung. Zieht sich eine selbstreferenzielle Verwaltungsrechtswissenschaft auf einen Beobachtungsposten zurück, von dem aus sie zusieht, wie sich Steuerungsmängel zu juristischen Konflikten verhärten, bleibt sie nutzlos, da ihre Expertise zu spät abgefragt wird. Die mit der Konzeption des Rechts als Steuerungsressource aufgespannte Brücke zwischen Rechtswissenschaft, Soziologie, Ökonomie und Politikwissenschaft gibt weder die Kontrafaktizität noch den Gestaltungsanspruch des Rechts preis. Das Sichtbarmachen von Steuerungs- und Vollzugsdefiziten lässt das Recht gerade nicht in einem diffusen „Sozialen“ aufgehen, sondern dient als Warnvorrichtung, um den Gesetzgeber über das Fehlgehen seiner Interventionsstrategie in Kenntnis zu setzen, die Exekutive über Handlungsdefizite oder Fehlallokationen öffentlicher Mittel aufzuklären. Der Steuerungsansatz wird teilweise harsch kritisiert. Die Steuerungstheorie suggeriere eine Determiniertheit gesellschaftlicher Sachverhalte. Die Verabsolutierung gesellschaftlicher Automatismen blende parlamentarische Gestaltungsmacht aus und unterziehe das Individuum einer heteronomen Steuerungsdynamik, die einer personalen Konzeption des Menschen nicht gerecht werde.9 Diese Kritik, der man eine gewisse Berechtigung nicht abzusprechen vermag, läuft jedoch insoweit leer, als im Verlauf der Reformdiskussion naive kybernetische Ansätze ohnehin in Frage gestellt werden. Anknüpfungspunkt einer Feinjustierung des Analyserahmens sind Studien aus den 1970er- und 1980er-Jahren zu Vollzugsdefiziten,10 deren Tragweite für die Rechtswissenschaft jedoch erst ab Mitte der 1990er-Jahre voll erkannt wird. Sie ga8 W. Hoffmann-Riem, Innovationssteuerung durch die Verwaltung: Rahmenbedingungen und Beispiele, in: Die Verwaltung 33 (2000), S. 155 (156). 9 O. Lepsius, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht, VVDStRL 63 (2004), S. 264 (288). 10 G. Winter, Das Vollzugsdefizit im Wasserrecht, 1975; R. Mayntz u.a. (Hrsg.), Vollzugsprobleme der Umweltpolitik, 1978; E. Bohne, Der informale Rechtsstaat, 1981. Ebenfalls sehr einflussreich: E.-H. Ritter, Der kooperative Staat. Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft, AöR 104 (1979), S. 389 ff.
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ben Anlass, von einer (zu) dezidierten Akteurskonzeption zu einem Denken in Regelungsstrukturen11 überzugehen. Seitdem steht nicht mehr „der Staat“, „die Verwaltung“ oder „der Bürger“ im Mittelpunkt der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, sondern das „Rechtsregime“,12 durch das die Staatsleitung Anreize setzt und deren Konsequenzen überwacht: „Verwaltung“ als Anreizfolgenmanagement. Indem sich die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft auf klärend und beratend in administrative Prozesse einbringt (die Rede ist hier von einer die juristische „Darstellung“ der Entscheidungsgründe übergreifenden „Herstellungsperspektive“), bietet sie insbesondere der Verwaltung ihre Reflexionskompetenz an. Verwaltung und Verwaltungsrechtswissenschaft sollen unmittelbar ins Gespräch kommen – ohne den Transmissionsriemen der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die traditionell eine Koppelungsfunktion zwischen Verwaltungsrecht und Verwaltungsrealität ausfüllt. Möglicherweise erhellt dieser Zusammenhang die Fokussierung der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft auf die behördliche Praxis, wohingegen der klassische Zugriff in erster Linie die Verwaltungs- und Zivilgerichtsbarkeit zu begleiten sucht. Dementsprechend spielt die Justiz in der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft eine Nebenrolle, wird Verwaltungsrechtsprechung wenig und selektiv verwertet.
2. Die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft zwischen Bürokratie und wirkungsorientierter Verwaltung „Wirklichkeitswissenschaftliche“ Ansätze innerhalb der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft untersuchen, mit welchen Resultaten das Recht Steuerungsleistungen erbringt. Ohne gesicherte Erkenntnisse hierüber sind rechtswissenschaftliche Aussagen zur Leistungsfähigkeit bestimmter Normenkomplexe – im Hinblick auf die Effektivität der Konfliktvermeidung, Implementierung politischer Vorgaben, Motivierung der Verwaltungsadressaten (Zwang oder „Anreizsteuerung“) – unmöglich. Primäres Anschauungsobjekt ist die öffentliche Verwaltung auf staatlicher, kommunaler und supranationaler Ebene, doch neuere Forschungen widmen sich auch dem weiten Feld privater Unternehmensführung.13 Dort leuchtet die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft Grenzbereiche des Verwaltungsrechts zum Privatrecht aus, die beispielsweise im Verwaltungsgesellschaftsrecht,14 in der Kondominialverwaltung15
11 H.-H. Trute, Funktionen der Organisation und ihre Abbildung im Recht, in: E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1997, S. 249 (295); ders./W. Denkhaus/D. Kühlers, Governance in der Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 37 (2004), S. 451 (457 f.); C. Franzius, Governance und Regelungsstrukturen, VerwArch. 97 (2005), S. 186 (193 ff.). 12 M. Burgi, Rechtsregime, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2. Auflage 2012, § 18 Rn. 2 . 13 Überblick bei: A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), 2. Auflage 2012, § 1 Rn. 49 ff. 14 T. von Danwitz, Vom Verwaltungsprivat- zum Verwaltungsgesellschaftsrecht, AöR 120 (1995), S. 595 ff. 15 Standardwerk: M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung. Entscheidungsteilhabe Privater auf dem Prüfstand des Verfassungsprinzips Demokratie, 1993.
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und im „Privatverwaltungsrecht“16 verortet werden. Der hohe Stellenwert der behördlichen Praxis im Spektrum der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Reformdiskussion (und demgegenüber die relative Unterbelichtung von Abstimmungsprozeduren in Parlament und Regierung) ist der steuerungstheoretischen Prämisse geschuldet, dass die Verwaltung im politisch-administrativen System der stabilisierende Part ist. Das Verfassungsrecht ist in den Steuerungsansatz nur indirekt einbezogen, da eine kybernetische Metaphorik in der vergleichsweise offenen Programmierung des Grundgesetzes ihre Pointen verfehlt. Fritz Werners häufig missverstandenes Wort vom Verwaltungsrecht als konkretisiertem Verfassungsrecht17 kommt in der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft zu voller Entfaltung. Ihre Rechtskybernetik belegt, dass das Verwaltungsrecht nicht als Fortschreibung des Grundgesetzes in die Aufgabenpraxis des Staates aufgefasst werden kann, sondern (entsprechend Werners Aussageintention) dem Grundgesetz eine Anwendungsperspektive beigibt, aus der erst die Tragweite verfassungsrechtlicher Bestimmungen erschließbar ist. Ein weiterer Aspekt ist zu berücksichtigen: Die Zuordnung des Verfassungsrechts zur im engeren Sinne politischen Sphäre – „Politik“ verstanden als demokratisch strukturierter, parlamentarisch artikulierter, öffentlich kontrollierter Entscheidungsprozess – überweist alle nicht-politischen, gleichwohl im staatlichen Aufgabenbereich befindlichen Sachfragen der öffentlichen Verwaltung. Diese setzt Gestaltungsimpulse aus Parlament und Regierung in Steuerungsleistungen um, verbindet Recht und Wirklichkeit. Die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft untersucht behördliche wie unternehmensbezogene Organisationsformen als „Steuerungssettings“, um Bedingungen und Reichweite rechtlicher Programmierung aufzuzeigen. Dies geschieht in relativer Nähe zu betriebswirtschaftlich reformierten Verwaltungsmodellen. Insoweit werden Vorund Nachteile eines Abschieds von der Hierarchie vor der Folie des Demokratieprinzips gegeneinander abgewogen. Dennoch soll die hierarchisch-arbeitsteilig organisierte und von hauptberuflichen, spezifisch qualifizierten Mitarbeitern getragene Administration – seit Max Webers Studien zur „legalen“ Herrschaft mit dem Begriff: „Bürokratie“ belegt18 – nicht schlechthin verabschiedet werden. Ihre Formalitätsgewinne werden positiv herausgestellt, gleichwohl dient die Bürokratie als Beispiel eines Verwaltungsstils, dessen hoher Anspruch an die Leistungsfähigkeit des Staates unter realen Bedingungen nicht eingelöst werden kann. Bürokratische Verwaltung gründet in gesetzlichen Kompetenzvorschriften, wirkt in hierarchischen Weisungsstrukturen, verstetigt ihr Wissen durch überwiegend schriftliche Kommunikation und detaillierte, aufgabenbezogene Aktenführung. Die Bürokratie ist politisch multikompatibel. Sie ist ein Passepartout für staatliche und private, demokratische wie autoritäre Ordnungskonzeptionen. Die hierarchische und formalisierte Aufgabener16 I. Appel, Privatverfahren, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), GVwR II, 2. Auflage 2012, § 32. 17 F. Werner, Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, DVBl. 1959, S. 527 ff. Dazu: O. Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: ders./M. Jestaedt (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 1 (35, 43). 18 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, hg. von J. Winckelmann, 5. Auflage 1972, S. 126 ff. Zur Genealogie des Bürokratiebegriffs: B. Wunder, Bürokratie: Die Geschichte eines politischen Schlagwortes, in: A. Windhoff-Héritier (Hrsg.), Verwaltung und ihre Umwelt, 1987, S. 277 (278 ff.). Zur Kritik an Webers Bürokratietheorie: N. Luhmann, Zweck – Herrschaft – System. Grundbegriffe und Prämissen Max Webers, Der Staat 3 (1964), S. 129 (141 ff.).
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füllung des Staates wirft eine Demokratiedividende ab. Mangels eigener Agenda kann man die Staatsbürokratie auf den parlamentarischen Kurs festlegen, aber sie setzt der Gesellschaftsgestaltung auch Beharrungspotentiale entgegen, da sie selbstreferentiell arbeitet, veränderte Umweltbedingungen erst berücksichtigt, wenn politische Programme umformuliert sind. Ihr weiteres Kennzeichen ist die strikte Unterscheidung von „außen“ und „innen“, Behörde und gesellschaftlichem Umfeld. Diese Weltsicht prägt noch die Systemtheorie des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Anhand des Bürokratiemodells lässt sich der eingangs dargelegte Zusammenhang von Sozialtheorie und Perzeption des Verwaltungsrechts verdeutlichen. Bürokratie- und Systemtheorie unterfüttern eine für das deutsche Verwaltungsrecht stilbildende Absetzung der Amts- von den Rechtsbeziehungen, die sich in der Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis niederschlug. Das Innen-Außen-Schema unterstützt eine Konzeption des Verwaltungsrechts, die nur das im Staat-Bürger-Verhältnis anwendbare „Außenrecht“ dem Gesetzesvorbehalt unterwirft, grundrechtlichen Relationen zugänglich macht. Das „Innenrecht“ der Verwaltungsvorschriften und Dienstanweisungen wird unterdessen dem Code des politisch-administrativen Systems – Macht/ Gehorsam – unterstellt und somit nicht als „Recht“ im Sinne des Art. 20 III GG betrachtet. Mit einem Steuerungsansatz verliert eine mit der Bürokratie- wie auch der Systemtheorie kompatible zweiwertige Abschichtung der Verwaltungsrechtsverhältnisse an Plausibilität, da Steuerung ihren Bezugspunkt im Verwaltungshandeln sieht und mithin davon ausgeht, dass jedes Verhalten eines Verwaltungsträgers „Recht“ sein kann. Die Bürokratietheorie setzt den Leviathan in eine Lokomotive. Sie trägt seine Botschaften zuverlässig überallhin – soweit Kompetenzstränge reichen. Abseits dessen kann Bürokratie nicht funktionieren. Dies wurde zum Problem, als man in den 1970er-Jahren erkannte, dass der Ausbau des staatlichen Kompetenznetzes mit dem Bedarf an verwaltungskommunikativer Infrastrukur niemals wird Schritt halten können. Der Einzug computergestützter Datenverarbeitung in die Alltagswelt fordert von der Verwaltung ein Maß an Flexibilität, das nur durch Freisetzung von Informalitätsreserven erreicht werden kann. Seit den 1970er-Jahren stellt die Organisationssoziologie im Verbund mit der Betriebswirtschaftslehre neue Verwaltungsparadigmen zur Diskussion: „New Public Management“,19 „New Public Administration“,20 „Neues Steuerungsmodell“.21 Zwar unterscheiden sich diese Ansätze in mehr als nur Nuancen, doch wesentliche Gemeinsamkeiten finden sich in der Skepsis gegen die Bürokratie klassischen Zuschnitts, ferner in der Betonung der Wirkungs- und Adressatenorientierung des Verwaltungshandelns. Die Verwaltungsreformbewegung kritisiert am bürokratischen Verwaltungszuschnitt die Überakzentuierung von Hierarchie, Aufsicht und Einzelweisung, wohingegen übergeordnete Stellen faktisch auf die 19 D. Osborne/T. Gaebler, Reinventing Government – How the Entrepreneurial Spirit is Trans forming the Public Sector, 1992. Dazu: S. Borins/G. Grüning, NPM – Theoretische Grundlagen und problematische Aspekte der Kritik, in: D. Budäus u.a. (Hrsg.), New Public Management, 1998, S. 12 ff. 20 Dazu: D. Budäus/G. Grüning, Kommunitarismus – eine Reformperspektive?, 1997, S. 25, 27 f., 33, 42 f., 46 f. 21 Zu Geschichte und Konzeption des „Neuen Steuerungsmodells“: J. P. Schaefer, Die Umgestaltung des Verwaltungsrechts. Kontroversen reformorientierter Verwaltungsrechtswissenschaft, 2016, S. 156 ff.
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Wissensbestände der Untergebenen angewiesen seien.22 Die daraus resultierenden Kooperationspraktiken sind im Spektrum der Bürokratietheorie nicht zuordnungsfähig. Ferner werde informale Kommunikation ausgeblendet; Informationsasymmetrien im Verwaltungsverfahren, die tatsächliche Machtverhältnisse widerspiegelten, würden nicht zur Kenntnis genommen. Hinzu kämen – unrealistische Annahmen zur gleichmäßigen, bedarfsgerechten Verwendung öffentlicher Ressourcen bzw. zu ökonomisch sinnvoller Verwaltungspraxis, – eine Verortung der Bürokratie im Glashaus des Nationalstaates, ohne supranationale Verflechtungen angemessen zu reflektieren, – eine Aversion gegen den Bürger, den Reformmodelle in eine als ökonomisch wie grundrechtlich unangemessen kritisierte kundenähnliche Position versetzten.23 Die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft macht sich diese Kritik nicht einfach zu eigen, sondern betrachtet Verwaltungsreformmodelle unter dem Blickwinkel des Beamtenrechts, des Haushalts- und Vergaberechts, vor allem aber des Demokratieprinzips. Ein Spezifikum des Reformdiskurses ist die Verbindung demokratieprinzipieller Erwägungen mit dem Verantwortungsbegriff.24 Im Modus der Bewältigung öffentlicher Aufgaben zeigt sich eine Verteilung von Verantwortung zwischen Staat und Privaten. Hierbei werden „Verantwortungsregimes“ (innerhalb eines konven tionellen Staat-Gesellschaft-Rasters) nach den Endpunkten „Erfüllungsverant wortung des Staates“ und „Eigenverantwortung Privater“ beurteilt. Ein breiter Zwischenbereich wird mit dem Begriff der staatlichen „Auffangverantwortung“ markiert.25 In der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft führt eine Linie vom Demok ratieprinzip über die Verantwortungsteilung zum Staat. In Verantwortungsbeziehungen werden Demokratiekonzeptionen ebenso offenbar wie Staatsbilder. Darüber dringt die Verwaltungsrechtswissenschaft vom bürokratischen Staat zum „Gewährleistungsstaat“,26 von legaler zu informaler Herrschaft vor. Dieser Zugriff hat erhebliche Bedeutung für den Stellenwert des Verwaltungsrechts in der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft.
III. „Verwaltungsrecht“ 1. Abstand vom rechtsstaatlichen Verwaltungsrecht Wenn eingangs festgestellt wurde, dass die Verwaltungsrechtswissenschaft die Verwaltung nicht braucht, so kann man den Spieß auch umdrehen. Die Auseinandersetzung der Verwaltungsreformbewegung mit Managementmodellen hat breite Zonen informaler Arrangements enthüllt. Sie reichen von der alltäglichen Publikumsinfor N. Luhmann (Fn. 18), S. 141 ff. N. Luhmann (Fn. 18), S. 141 ff. 24 H.-H. Trute, Die demokratische Legitimation der Verwaltung, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßuhle (Hrsg.), GVwR I, 2. Auflage 2012, § 6 Rn. 3 und passim. 25 E. Schmidt-Aßmann, Öffentliches Recht und Privatrecht, in: W. Hoffmann-Riem/ders. (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1997, S. 7 (29). 26 C. Franzius, Der „Gewährleistungsstaat“ – ein neues Leitbild für den sich wandelnden Staat, Der Staat 42 (2003), S. 493 ff.; M. Knauff, Gewährleistungsstaatlichkeit in Krisenzeiten. Der Gewährleistungsstaat in der Krise?, DÖV 2009, S. 581 ff. 22
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mation über das Abgreifen externen Sachverstands bis hin zu verfestigten Kooperationspraktiken und faktischen Vorfestlegungen beispielweise bei großen Infrastrukturprojekten. Informalitätszonen sind juristisch schwach erschlossen. Allenfalls die Grundrechte spielen über einen weiten Eingriffsbegriff mittelbar hinein. Somit bleibt der zweischneidige Befund, dass auch die Verwaltung das Verwaltungsrecht nicht braucht. Ergibt vor diesem Hintergrund die Abstandnahme vom rechtsstaatlichen Verwaltungsrecht erst Sinn? Ist sie Eingeständnis des Scheiterns juridischer Problembewältigungsstrategien, die auf das Rechtsstaatsprinzip setzten, um Entfaltungsspielräume der Verwaltung einzuschränken, um die Zweckmäßigkeitsorientierung des Verwaltungshandelns wenigstens soweit durch Rechtmäßigkeitsaspekte zu korrigieren, dass unverfügbare Freiheitsreservate unberührt bleiben? Dann hätte das Umschalten von der rechtsstaatlichen auf die steuerungswissenschaftliche Analyse den gravierenden Nebeneffekt, dass Verwaltungspraktiken (wie beispielsweise „freiwillige“ Vorabfestlegungen der Verwaltung nach Absprache mit Privaten), die früher als verfassungsrechtlich bedenklich galten,27 nun einen Persilschein ausgestellt bekommen, ohne dass sich in der Sache etwas geändert hat. Man kann das so sehen. Gleichwohl verabschiedet die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft mit dem rechtsstaatlichen Verwaltungsrecht nicht den Rechtsstaat. Sie hat möglicherweise sogar das Bewusstsein für die zivilisatorischen Errungenschaften der deutschen Rechtsstaatstradition gefestigt. Die Rechtsstaatssemantik erweist sich in der Perspektive der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft als eine auf die Würde des Menschen zurückführbare, absolute Grenze der Darstellbarkeit einer Verwaltungsentscheidung als rechtmäßig und rational. Es ist deshalb plausibler, die Kritik am „rechtsstaatlichen Verwaltungsrecht“ auf einen mit dem Rechtsstaatsprinzip assoziierten Formalismus zu beziehen. Die dogmatischen Grundstrukturen des geltenden Verwaltungsrechts entpuppen sich aber als erstaunlich resistent. Der Reformdiskurs mündet in kleinere, konkreter formulierte Reformdesiderate, die sich beispielsweise beziehen auf – d ie Neukonzipierung der Verwaltungsverfahrensgesetze, um ein Zerfasern des Verfahrensrechts in Sonderdogmatiken aufzuhalten und die Beteiligtenstellung im Verwaltungsverfahren zu stärken; 28 – die Entwicklung eines Regulierungsverwaltungsrechts, das die heterogenen Teilbereiche des Rechts der netzgebundenen Daseinsvorsorge durch übergreifende Prinzipien verbinden, wettbewerbsrechtliche Wertungen ergänzen soll; 29 – d ie Ausweitung der Partizipation an Verwaltungsentscheidungen in die Vorplanungs- und Erörterungsphase;30 – die Einbeziehung informalen Verwaltungshandelns in die auf den Verwaltungsakt zentrierte Handlungsformenlehre;31 Skeptisch: BVerwGE 45, 309 (318 f.) – Flachglas [1974]. Zu Reformaspekten: M. Burgi, Verwaltungsverfahrensrecht zwischen europäischem Umsetzungsdruck und nationalem Gestaltungswillen, JZ 2010, S. 105 ff.; A. Guckelberger, Gibt es bald ein unionsrechtliches Verwaltungsverfahrensgesetz?, DVBl. 2013, S. 601 ff.; W. Kahl, 35 Jahre Verwaltungsverfahrensgesetz – 35 Jahre Europäisierung des Verwaltungsrechts, NVwZ 2011, S. 4 49 ff. 29 K. Waechter, Verwaltungsrecht im Gewährleistungsstaat, 2008, S. 138 ff. 30 H. Rossen-Stadtfeld, Beteiligung, Partizipation, Öffentlichkeit, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), GVwR II, 2. Auflage 2012, § 29 Rn. 70 ff. 31 W. Hoffmann-Riem, Rechtsformen, Handlungsformen, Bewirkungsformen, in: ders./E. SchmidtAßm ann/A. Voßkuhle (Hrsg.), GVwR II, 2. Auflage 2012, § 33 Rn. 30 ff. 27
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– eine Aufwertung und Ausweitung der Mediation im Umfeld des Verwaltungsverfahrens.32 Im Übrigen reibt man sich an der „dienenden Funktion“ von Verwaltungsorganisation und -verfahren gegenüber dem materiellen Recht.33
2. Reformtendenzen Aus dem Einflußbereich der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft stammen zahlreiche Reformansätze. So wird dem europäischen Verwaltungsrecht eine geradezu paradigmatische Bedeutung für die nationale Verwaltungsrechtsentwicklung attestiert. Der mitgliedstaatliche Vollzug in vielen Bereichen des Unionsrechts bringt Verflechtungen zwischen Union und Mitgliedstaaten hervor, die zwischen Bund und Ländern nicht möglich sind. Dieser Befund provoziert kritische Anfragen zur Sinnhaftigkeit des deutschen Verbots der Mischverwaltung. Das Verwaltungsorganisationsrecht, das lange ein Schattendasein geführt hat, erwacht angesichts der Relevanz des europäischen Agenturwesens und der unabhängigen Regulierungsbehörden aus seinem Dornröschenschlaf, wird als Gegenstand der Verwaltungsrechtswissenschaft ernst genommen.34 Der steuerungstheoretische Zugriff verweist auf die Bedeutung des organisatorischen Rahmens für den Gesetzesvollzug. Auf die Relevanz von Verhandlungen und Absprachen für Verwaltungsentscheidungen wurde bereits hingewiesen. Damit in Verbindung steht die „Entdeckung“ des hohen Rangs privatrechtsförmiger, teilweise materiell privatisierter Aufgabenerfüllung für die Fortentwicklung des Verwaltungsrechts. Im Zuge der Privatisierungsfolgenreflexion dringt die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft zur Binnenstruktur der Rechtsordnung – zur Differenzierung des Rechtsstoffs nach Privatrecht und öffentlichem Recht – vor; das Strafrecht bleibt unterbelichtet. Privatrecht und öffentliches Recht werden als „wechselseitige Auffangordnungen“ interpretiert, um synchrone Rechtsinstitute aufzuzeigen. Eine prominente Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Regulierungsterminologie:35 „Fremdregulierung“, „Selbstregulierung“, „regulierte Selbstregulierung“ und weitere Zwischenformen sind Punkte auf einer Skala von Bewirkungsarrangements, mit der man die Modi des Aufeinander-Verwiesen-Seins staatlicher und materiell privater Akteure darstellt. Der hoch assoziative Regulierungsbegriff bietet die Projek tionsfläche, auf die man unverjährte Debatten über die Indienstnahme Privater zur staatlichen Aufgabenerfüllung einblendet; die im Zuge der Privatisierungswelle der 1990er-Jahre geführte Diskussion um absolute Privatisierungsschranken und not Übersicht bei: J. P. Schaefer (Fn. 21), S. 267 ff. U. Stelkens, Der Eigenwert des Verfahrens im Verwaltungsrecht, DVBl. 2010, S. 1078 ff.; M. Burgi, Die dienende Funktion des Verwaltungsverfahrens, DVBl. 2011, S. 1317 ff. 34 G. F. Schuppert, Verwaltungsorganisation und Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsfaktoren, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2. Auflage 2012, § 16. 35 W. Hoffmann-Riem, Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, in: ders./E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996, S. 261 (300 ff.). 32 33
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wendige Staatsaufgaben flammt erneut auf. Seit der Jahrhundertwende deutet sich im Übergang von „Steuerung“ zu „Governance“ eine Weiterentwicklung der Neuen Verwaltungsrechtwissenschaft an. Obschon manche in der Netzwerktheorie eine Anpassung der Sozialkybernetik an einen „schlanken“, interventionsschwachen Staat sehen, lenkt der Netzwerkbegriff die Reformdiskussion doch in neue Bahnen. Wohin diese letztlich führen werden, ist noch nicht absehbar. Zwei Wege scheinen gangbar. Einerseits mag man das Netzwerk weniger als Kommunikationsgeflecht denn als Informationsstruktur deuten. Wer dem Verlauf der Informationsstränge folgt, erkennt Bewirkungsmöglichkeiten (im kybernetischen Sinne: „Steuerungspotentiale“) der ins Netzwerk verwobenen Akteure. Anreizsteuerung ist hier nur noch über eine gezielte, auf den Bedürfnishorizont ihrer Destinatäre abgestimmte Informationspolitik möglich. Wo alle mit allen verbunden sind, nimmt die öffentliche Verwaltung keine herausgehobene Stellung ein. Sie ist nurmehr ein Knoten im Netzwerk, an dem viele Informationsstränge zusammenlaufen, aber viele laufen eben auch an der Verwaltung vorbei. Der retikuläre Staat ist nicht deshalb schwach, weil er unwillig oder unfähig zu steuern ist, sondern weil er von vornherein von bestimmten Informationsströmen ausgeschlossen ist. In dieser oft als „neoliberal“ etikettierten Weltsicht hat das Verwaltungsrecht zwar nichts mehr zu steuern, dennoch gewinnt es an Bedeutung, weil die Ausstattung der Verwaltung mit Fragemacht die Öffnung oder Schließung von Informationskanälen zum Staat determiniert. Daraus kann man beispielsweise folgern, dass das Verwaltungsverfahrensrecht so beschaffen sein muss, dass der öffentlichen Verwaltung ein möglichst breites Informationsspektrum zugänglich wird. Das kann über die Ausweitung von Partizipationschancen an Verwaltungsentscheidungen, aber auch über Kooperationszwänge im Rahmen der Amtsermittlung erreicht werden. Ferner müsste die Verwaltungsorganisation viel stärker als bisher auf Zusammenarbeit mit Interessierten ausgelegt sein. Die Netzwerk-Metapher mag andererseits den gegenteiligen Schluss nahelegen. Am Ende der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft könnte ein Verwaltungsrecht stehen, das die öffentliche Verwaltung radikal auf ein eng definiertes Wirkungsfeld begrenzt. Debatten über absolute Privatisierungsschranken oder (im Gegenlicht betrachtet) notwendige Staatsaufgaben enden meist mit der Behauptung, dass man über den Staatsaufgabenbegriff keine Grenzziehung zwischen Staat und Gesellschaft vornehmen könne. Von diesem Punkt aus ist es nur ein kleiner Schritt zu einem Verwaltungsrecht, das die dem Staat reservierten „hoheitsrechtlichen Befugnisse“ im Sinne des Art. 33 IV GG denkbar eng auslegt und weite Regelungsfelder – etwa im öffentlichen Wirtschaftsrecht, Umweltrecht, Infrastrukturrecht – privatrechtlichen Einflüssen überlässt. Aus dieser Spannungslage wird die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft weiterhin eine hohe Entwicklungsdynamik beziehen.
IV. „Rechtswissenschaft“ Die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft hat wenig Bezug zur Rechtspraxis. Ihr wissenschaftsstrategischer Impuls ergreift sowohl den disziplinären Innenraum als auch Kommunikationsforen, welche die Rechtswissenschaft mit „Nachbarwissenschaften“ teilt. Die Rechtspraxis wird unter dem Gesichtspunkt ihres Beitrags zur
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rechtswissenschaftlichen Theoriebildung untersucht. Beispielhaft hierfür sind Eberhard Schmidt-Aßmanns Referenzgebiete-Analysen.36 Unter „Referenzgebieten“ versteht man Materien des besonderen Verwaltungsrechts, aus denen sich Anknüpfungspunkte für die Schärfung bestehender Rechtsinstitute des Allgemeinen Verwaltungsrechts bzw. für die Neukonzeption verwaltungsleitender Maßstäbe ergeben. Im Fokus des Referenzgebiete-Ansatzes wird das kaum noch überschaubare Ideenreservoir des Verwaltungsrechts nach homologen Strukturen – „Ordnungsideen“37 – durchmustert. Auf mittlerem Abstraktionsniveau können auf diesem Wege Kohärenzgewinne verbucht werden, kann die Komplexität des Rechtsstoffs reduziert werden. Auf einer höheren Reflexionsstufe verfolgt die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft das Projekt einer „offenen“, den Sozialwissenschaften einschließlich der Ökonomik zugeneigten Rechtswissenschaft. Nicht die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz ist hier Streitgegenstand, sondern ihre disziplinäre Verortung als Geisteswissenschaft, Gesellschaftswissenschaft oder Fachdisziplin sui generis. Eine Vorentscheidung über diese Frage wird mit der Auswahl des Theorieangebots getroffen, dessen sich die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft bedient. Bevorzugte Anknüpfungspunkte finden sich mit der Steuerungstheorie in der Soziologie, mit der Netzwerk-Governance in der Politikwissenschaft, mit der ökonomischen Analyse des Rechts in der politischen Ökonomie. Weniger relevant sind geschichtswissenschaftliche und linguistische Einflüsse. Die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft ist dennoch keine deutsche Variante des legal realism. Dazu ist sie zum einen zu unpolitisch, zum anderen hält sie am traditionellen Anspruch der Deutungshoheit der Rechtswissenschaft über das Recht fest. Gleichwohl lässt sich eine Entfernung der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft von der dogmatischen Perspektive beobachten. Tendenzen zur Entkoppelung des rechtswissenschaftlichen vom rechtspragmatischen Diskurs, der Hochschulen von den Gerichtssälen können auf diese Weise akzeleriert werden. Schwerer wiegt die Kritik, wonach die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft unter dem Deckmantel der Interdisziplinarität sozialwissenschaftliche Begriffe adaptiere, ohne den Begriffskontext bzw. methodische Aspekte genügend zu reflektieren.38 Interdisziplinarität sei mithin camouflierte Ignoranz. Die Rechtswissenschaft gefalle sich in einem Theorieeklektizismus, verfehle damit aber selbst gesetzte Rationalitätsstandards. Dem sucht die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft durch das Konzept der „interdisziplinären Verbundbegriffe“ zu begegnen.39 In einer mit Metaphern aufgeladenen Terminologie sollen sich die in den erweiterten Forschungshorizont der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft einbezogenen Nachbardisziplinen wiederfinden, ohne zu kongruenten Begriffsgehalten gelangen zu müssen. Interdisziplinarität beginnt mit der Überwindung von Sprachhürden. Sich ihrer bewusst zu werden, ist der Vorgriff auf jede Art von transzendentalem Diskurs. Un36 A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), GVwR I, 2. Auflage 2012, § 1 Rn. 43 ff. 37 E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Auflage 2006, S. 1. 38 C. Möllers, Braucht das öffentliche Recht einen neuen Methoden- und Richtungsstreit?, VerwArch. 90 (1999), S. 187 (193); ders., Theorie, Praxis und Interdisziplinarität in der Verwaltungsrechtswissenschaft, VerwArch. 93 (2002), S. 22 (37 f.). 39 H.-H. Trute, Verantwortungsteilung, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Jenseits von Privatisierung und schlankem Staat, S. 13 (13 ff.).
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ter diesem Blickwinkel geben auch jene Themen, die von der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft bislang nicht bearbeitet wurden, Aufschluss über ihr Verständnis von Interdisziplinarität. So unterbleibt beispielsweise eine kritische Evaluation des Steuerungssettings unter genderspezifischen Aspekten. Ferner bleibt die Zeitbedingtheit des Rechts weitgehend außer Betracht. So interessant die Reformagenda ist, so sehr drängt sich doch die Frage auf, ob die „Neue“ nicht durch eine „neoklassische“ Verwaltungsrechtswissenschaft abgelöst werden sollte. „Neoklassik“ müsste hier als Synthese des „rechtsstaatlichen“ mit dem „kybernetischen“ Verwaltungsrecht verstanden werden. Dagegen sprechen im Wesentlichen zwei Argumente. Erstens: Die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft ist eine Reaktion auf grundlegende Veränderungen von Staat und Gesellschaft. Der technische Fortschritt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (insbesondere die digitale Revolution), sodann der Übergang der europäischen Nationalstaaten zu supranationalen Integrationsformen machte sich zuerst auf der administrativen Ebene bemerkbar und forderte hier pragmatische Antworten, die der Rechtswissenschaft bisweilen voraus waren, so dass die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft zunächst ein Versuch zur Schließung von Wahrnehmungslücken war. Ebendies macht eine wissenschaftstheoretische Erfassung der Verwaltungsrechtsentwicklung nach sich ablösenden Leitmotiven plausibel. Bei aller Simplifizierung verbirgt sich hinter dem Entwicklungsnarrativ: „vom rechtsstaatlichen über das sozialstaatliche zum gewährleistungsstaatlichen Verwaltungsrecht“ doch die wesentliche Erkenntnis, dass ein statischer Analyserahmen zu Fehlperzeptionen verleitet. Referenz der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft ist der Gewährleistungsstaat – ein Staat, der sich mangels eigener Ressourcen und mangels Bewirkungsoptionen weitgehend aus dem Eigenvollzug öffentlicher Aufgaben zurückgezogen hat. Hier steht nicht zur Debatte, ob man die mit dem Begriff „Gewährleistungsstaat“ assoziierten Theoriemodelle gelungen finden mag oder nicht. Es geht einzig um Für oder Wider des Analyseschemas: Ist der steuerungstheoretische Zugriff geeignet, um die Zwecke des Rechts im Staat unserer Zeit überzeugend zu erklären? Wenn nicht: Welchen Erklärungen sollten wir dann folgen? Die hierin aufscheinenden Fragen kann man nicht durch vermittelnde Begriffsbildung beiseite wischen. Zweitens: Wie dargelegt, besteht zwischen „neuer“ und „klassischer“ Verwaltungsrechtswissenschaft kein Widerspruch. Sie ergänzen sich, indem sie das Verwaltungsrecht aus unterschiedlichen Perspektiven analysieren – Systembildung einerseits, juristische Politik- und Verwaltungsberatung andererseits. Eine verwaltungsrechtswissenschaftliche Neoklassik hätte keinen Mehrwert. Vielmehr spricht aus heutiger Sicht einiges dafür, dass die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft den Verwaltungsrechtsdiskurs auf eine Reflexionsebene geführt hat, von der man nicht mehr hinab kann und will.
Was bleibt von der Gesetzesbindung bei der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“? von
Dr. Dr. Ralph Christensen, Mannheim und Priv.-Doz. Dr. Felix Hanschmann, Universität Frankfurt am Main Inhalt I. Risse im System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 1. Bildet das Recht ein System? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 2. Zwingt die Methode zum System? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 3. Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 4. Der verzögerte Abschied von der alten „Juristischen Methodik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 II. Die statische Auffassung der Gesetzesbindung als deduktive Ableitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 1. Leistungsstaat: Juristen erstellen die Semantik des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 2. Die Ableitung aus dem System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 3. Die Ableitung aus dem Willen des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 III. Die dynamische Gesetzesbindung als argumentative Überprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 1. Ein Rahmen oder viele Kontexte der Rechtserzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 2. Gewährleistungsstaat: Juristen garantieren einen fairen Streit um das Gesetz . . . . . . . . . . . . . . 503 3. Kann man einem Gesetz folgen, das man erst erzeugt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507
Die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“1 ist eine Wiederholung der alten.2 Aber bei dieser Wiederholung kommt es zu einer Verschiebung von Elementen und einem 1 Es handelt sich dabei weniger um eine akademische Schule (vgl. dazu J. Ph. Schaefer, Die Umgestaltung des Verwaltungsrechts, 2016, S. 13 m.w.N. in Fn. 50), sondern um einen gemeinsamen Denkstil (zu diesem Begriff vgl. O. Lepsius, Problemzugänge und Denktraditionen im öffentlichen Recht, in: E. Hilgendorf/H. Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 2015, S. 53 ff., 54 ff., unter Bezug auf den Wissenschaftstheoretiker oder Wissenssoziologen Ludwik Fleck. 2 Vgl. dazu F. Ossenbühl, Grundlagen des Verwaltungsrechts, in: Die Verwaltung 40 (2007), S. 125 ff.; S. Meyer, Fordert der Zweck im Recht wirklich eine ‚Neue Verwaltungsrechtswissenschaft‘?, in: Verwaltungsarchiv, Band 101 (2010), S. 351 ff, 352; E. Schmidt-Aßmann, Die Integration von Re formimpulsen in die Systematik des Verwaltungsrechts, in: W. Hoffmann-Riem, Offene Rechtswissenschaft, S. 1011 ff., 1016 f.; K. Lange, Die Verwaltung 40 (2007), S. 135 ff., 135 f.; A. Voßkuhle, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 67 (2008), S. 343; H.-H. Trute, Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht, in:
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Auftrennen von als fest geglaubten Nahtstellen. Es breitet sich dadurch ein leichtes Zittern aus, welches schließlich das ganze Gebäude des herkömmlichen Verwaltungsrechts einstürzen lässt. Was kann man sehen, wenn sich der Staub legt? Zunächst eine freie Fläche, die sowohl für den Methodiker als auch für den Dogmatiker neue Ideen möglich macht und viel Arbeit verspricht. Aber natürlich auch die Reste alter Strukturen, so dass man entscheiden muss, ob es sich um entsorgungspflichtige Altlasten handelt, oder sinnvolle Vorgaben für eine Neugestaltung.
I. Risse im System Die deutsche Rechtswissenschaft ist traditionell dem Systemdenken verpflichtet.3 Dabei wird zumeist ein starker Begriff des Systems zugrunde gelegt.4 Danach soll nicht nur die Rechtswissenschaft systematisch vorgehen, sondern auch das Recht selbst soll ein System bilden.5
1. Bildet das Recht ein System? Der Systemgedanke im Recht hat seine Dominanz verloren.6 In den USA hat er kaum Fuß fassen können.7 In Europa ist er im Verschwinden. Die Demokratie lässt sich kein System verordnen.8 Der Gesetzgeber ist nicht zum Bau eines solchen verpflichtet.9 Schließlich fußt der Gesetzgebungsprozess auf Kompromissen. Dies wird Die Verwaltung, Beiheft 2 (1999), S. 9 ff. Zum Stichwort „neu“ vgl. A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2. Aufl. 2012, S. 1 ff., Rn. 1 mit Fn. 17. 3 F. Schoch, Verwaltungsrechtslehre und Staatsrechtslehre, in: H. Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S. 177 ff., 191 f.; E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, mit dem Kap. 1: „System und Systembildung im Verwaltungsrecht“. 4 Vgl. dazu O. Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: M. Jestaedt/ders. (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 1 ff., 36 ff., mit Bezug auf C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 74 ff. Vgl. zur historischen Dimension dieses Problems grundlegend M. Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, 1995, S. 121 ff. zum staatsrechtlichen Positivismus. Implizites Leitbild ist das von Bentham entwickelte Panoptikum, worin sich vom zentralen Turm des Gefängnisses aus das Verhalten der Gefangenen in jeder einzelnen Zelle kontrollieren lässt. Also genau das, was Foucault als Leitbild der Disziplinargesellschaft ausgemacht hat. In der Wissensgesellschaft entfallen die Voraussetzungen dafür in einem langsamen Prozess. 5 C.-W. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, S. 162 ff.; J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 1992, S. 105 ff., 177 f.; ders., Die Rechtsfortbildung, in: K. Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2015, S. 246 ff., 255 f. Zum Unterschied von Formalobjekt und Materialobjekt einer Wissenschaft vgl. M. Jestaedt, „Öffentliches Recht“ als wissenschaftliche Disziplin, in: Ch. Engel/W. Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 241 ff., 247 ff. 6 Vgl. zur Systemskepsis M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein …, 2000, S. 81 ff. 7 Die hierarchische Verbindung von Verfassungsrecht zu einer Einheit ist in anderen Rechtskreisen so nicht vorhanden und wird als deutsche Besonderheit wahrgenommen. Vgl. O. Lepsius, Problemzugänge und Denktraditionen (Fn. 1), S. 66, m.w.N. 8 Vgl. BVerfGE 121, 317 (381 ff.), Sondervotum Masing: „Gefahr paternalistischer Bevormundung.“ 9 Vgl. dazu O. Lepsius, Problemzugänge und Denktraditionen (Fn. 1), S. 66; ders., Themen einer
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in einem föderalen System besonders deutlich.10 Im Europarecht findet man einen mehrfachen Kompromiss zwischen nationalen und europäischen Interessen, zwischen verschiedenen politischen Richtungen und außerdem noch getrennten Institutionen.11 Vor allem aber soll diese Aufteilung nicht ein monistisches System herstellen, sondern demokratischen Pluralismus garantieren. Im öffentlichen Recht war das Systemdenken niemals naheliegend: „Das Recht verdankt seine Entstehung nicht einer einzigen Quelle.“12 Diese Einsicht Ossenbühls ist heute allgemein akzeptiert.13 Schon durch die zunehmende Bedeutung des Völkerrechts14 und erst recht durch die Entwicklung des Unionsrechts wird die Rechtsquellenlehre zum „polyzentrischen Gefüge“.15 Es gibt im öffentlichen Recht die Außenwirkung von Innenrecht16 und die Integration privater Rechtsetzungsrechte.17 Schließlich eine horizontale Vernetzung und vertikale Stufung, ohne dass man eine durchgängige Hierarchie bilden könnte.18 Es entsteht also weder eine Pyramide, noch ein flaches Netz, sondern eine Verflechtung von Rechtsquellen. Dieses polyzentrische Moment wird in der Bundesrepublik noch durch den Föderalismus verstärkt.19 Auch dies ist ein „vom Grundgesetz vorausgesetzter Mangel an Homogenität“.20 Es gibt inzwischen eine Vielzahl landesspezifischer Verwaltungsblätter und schon wegen des Wettbewerbsföderalismus lassen sich klassische Rechtsgebiete wie Polizei- und Kommunalrecht kaum noch bundesländerübergreifend darstellen.21 Eine materielle Finalität kann also im Recht nicht angenommen werden.22 Gerade die Eigengesetzlichkeit des Rechts fordert also den Schutz seiner demokratischen Kontingenz vor der Selbstermächtigung der Wissenschaft über das Stichwort System.23 Deswegen vollzieht die Rechtstheorie heute einen Abschied vom Prinzip24
Rechtswissenschaftstheorie (Fn. 4 ), S. 1 ff., 36 ff.; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Aufforderung an den Gesetzgeber?, in: Der Staat 41 (2002), S. 429 ff. 10 Vgl. dazu P. Lerche, Fragen der Stabilität des Grundgesetzes, in: P. M. Huber (Hrsg.), Das Grundgesetz zwischen Stabilität und Veränderung, 2007, S. 73 ff. 11 Vgl. dazu F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, Europarecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 53, 349, 543, 622. 12 F. Ossenbühl, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 100 Rn. 4 0. 13 E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 34. 14 Ebd., S. 42 ff. 15 Ebd., S. 34, so auch die Kapitelüberschrift bei Schmidt-Aßmann. 16 M. Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsstrukturen des Verwaltungsrechts, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts Band I (Fn. 2 ), S. 1163 ff., Rn. 15 ff. 17 Ebd., Rn. 18 ff. 18 Ebd., S. 171 ff. 19 O. Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie (Fn. 4 ), S. 36 ff. 20 P. Lerche, Fragen der Stabilität (Fn. 10), S. 75. 21 Vgl. O. Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie (Fn. 4 ), S. 39. 22 O. Lepsius, ebd., S. 37; M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein …, 2006, S. 17 ff., 81 ff. Zur Unterscheidung von Methode und Erkenntnisgegenstand prinzipiell O. Lepsius, Erkenntnisgegenstand und Erkenntnisverfahren in den Geisteswissenschaften der Weimarer Republik, in: Ius Commune 22 (1995), S. 283 ff.; M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 269 ff., 280 ff.; ders., Wie das Recht, so die Auslegung – Die Rolle der Rechtstheorie bei der Suche nach der juristischen Auslegungslehre –, in: ZÖR 55 (2000), S. 133 ff. 23 Vgl. dazu M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein …, 2006, S. 85. 24 M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein …, (Fn. 23), S. 81 mit Fn. 42.
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und geht vom „Gängelband des Systems“.25 Nach dieser Entzauberung der Theorie durch Theorie26 kann das System höchstens noch als methodologisches Leitbild auftreten: „In einem übergreifenden Sinne kann der Gedanke eines Systems nur auf die Methode der Rechtswissenschaft, nicht aber auf das Recht als ihren Gegenstand bezogen werden.“27
2. Zwingt die Methode zum System? Wenn wir schon nicht vom Ganzen her denken können, so könnten wir doch ver suchen, zum Ganzen hin zu denken. Zwingt uns also die juristische Methode zum System? Braucht man für die systematische Auslegung die Einheit der Rechtsordnung? Mit dieser Auslegungsregel will man keine Ganzheit konstruieren, sondern nur Widersprüche vermeiden, soweit man sie sehen kann. Man muss Normkonflikte nicht abstrakt und für alle Zeiten beheben. Gerade die vom Verfassungsgericht entwickelte Methode der praktischen Konkordanz28 und allgemein der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz29 sind „eine mustergültige Methode zur Produktion von relationierenden Ergebnissen“.30 Deswegen bezieht sich die systematische Auslegung meist auf ein einzelnes Gesetz in einem bestimmten Bundesland und vergleicht ihr Ergebnis mit anderen Rechtsquellen gleicher Hierarchiestufe. Zwar kommen als ergänzende Verständnishilfen auch Normtexte höherer oder niedrigerer Hierarchiestufen in Betracht (z. B. die Grundrechte im Rahmen des straßenrechtlichen Gemeingebrauchs), aber bei Normwidersprüchen greift dann eine Konformauslegung ein, welche der höherrangigeren Norm im Konfliktfall Vorrang zuweist. Zudem kann die Systematik mit Hilfe der funktionsdifferenten Auslegung korrigiert werden, die man in der Verfassung für die Begriffe „verfassungsmäßige Ordnung“ oder „öffentliche Gewalt“ kennt. Insgesamt erzwingt die Methode der systematischen Auslegung keinen einheitlichen Gegenstand. Ein transzendentales Argument ist damit noch nicht begründet. Für eine vorausgesetzte Einheit könnte sprechen, dass man in der heutigen postanalytischen Philosophie und Linguistik die Bedeutung holistisch begreift. Kommt man also über die Sprache um das System nicht herum? Dass Bedeutung holistisch ist, führt nun aber gerade nicht zu einem vertikalen Holismus, der vom Ganzen der Sprache her argumentiert. Das Ganze der Sprache ist nicht verfügbar. Sobald man das Ganze bestimmt, wird es zum Einzelnen und büßt seine Rolle als kontrollierende Zentralinstanz ein. Die Gegenposition des Atomismus scheitert aber daran, dass Be Ebd., S. 81. Ebd., S. 85. 27 O. Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie (Fn. 4 ), S. 37. 28 Vgl. dazu F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, 11. Aufl. 2013, Rn. 130, 392, m.w.N. 29 Vgl. dazu P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 1999. Zum historisch konkreten statt abstrakt zeitlosen Verständnis von Konflikten auch O. Lepsius, Karl Loewenstein, in: P. Häberle/ M. Kilian/H. Wolff (Hrsg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, 2015, S. 411 ff. 30 O. Lepsius, Problemzugänge und Denktraditionen (Fn. 1), S. 66. 25
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deutung eine relationale Eigenschaft ist und keine intrinsische Eigenschaft von Sprachelementen. Ähnliches gilt aber auch für Tatsachen, da diese nicht begriffsfrei zugänglich sind. Eine Auffanglinie ist zunächst der Molekularismus. Dieser versucht, Bedeutungen im Rahmen von Texten oder Tatsachen im Rahmen von Theorien zu verorten. Damit wird die Einheit des Ganzen durch eine Mehrzahl von Sprachspielen oder Paradigmen ersetzt, die nichts miteinander zu tun haben. So meint man, den relationalen Bedeutungsdrift in einer Gestalt und damit einer Grenze auffangen zu können. Es entsteht dadurch aber das bekannte Problem der Inkommensurabilität. Molekulare Einheiten konkurrierender Paradigmen sind danach deduktiv getrennt und können nicht sinnvoll miteinander sprechen. Es gibt eine Vielzahl von Welten, aber als Inseln, zwischen denen keine Brücken bestehen. Dieses Problem wird erst mit der Kritik Davidsons am Unverträglichkeitstheorem von Kuhn und Feyerabend überwunden. Davidson zeigt, dass von Inkommensurabilität nur in einer gemeinsamen Welt gesprochen werden kann.31 Dabei stellt Davidson die Frage nach der Bedeutung nicht als eine der Eigenschaft von Ausdrücken, sondern als eine nach deren Verstehen oder Interpretation.32 Damit vermeidet er die Unzulänglichkeiten des Quine’schen Holismus. Er trennt sich vom Verifikationismus und konzipiert den Holismus so, dass nicht die Sprache als Ganzes zum Bedeutungsträger wird. Wenn das Ganze der Bedeutungsträger wäre, könnte man nicht mehr erklären, wie wir einzelne Äußerungen verstehen. Stattdessen schlägt die heutige Sprachphilosophie ein Lernmodell vor, das Bedeutung nicht voraussetzt, sondern ihre Erzeugung eben als Interpretation vor dem offenen Horizont eines Ganzen untersucht.33 Damit ist der Holismus nicht mehr nach dem Schema Teil und Ganzes konzipiert, sondern nach dem Schema Gestalt und Horizont. Eine Gestalt kann man nur vor dem Hintergrund eines unbestimmt bleibenden Horizonts sehen. Aber der Horizont wird dadurch nicht zum eigentlichen Träger der Bedeutung.
3. Gesetzesbindung Es wird immer wieder betont, dass das „Neue Verwaltungsrecht“ die Gesetzesbindung nicht verdrängen will.34 Was heißt nun nicht verdrängen? Ihren Geltungsbereich einschränken oder ihre Wirkung präzisieren? Hier gibt es eine grundlegende Ambivalenz, die sich an vielen Stellen der maßgeblichen Texte nachweisen lässt. Im Vorwort zur ersten Auflage der „Grundlagen des Verwaltungsrechts“ formulieren 31 Vgl. dazu grundsätzlich G.-L. Lueken, Inkommensurabilität als Problem rationalen Argumentierens, 1992, insb. S. 152 ff. 32 Dazu vor allem D. Davidson, Radikale Interpretation, in: ders., Wahrheit und Interpretation, 1990, S. 183 ff. 33 Zum Interpretationismus Davidsons J. Liptow, Regel und Interpretation. Eine Untersuchung zur sozialen Struktur sprachlicher Praxis, 2004, S. 183 ff. 34 Vgl. J. Ph. Schaefer, Die Umgestaltung des Verwaltungsrechts, 2016, S. 25, m.w.N. in Fn. 98; zur klassischen „rechtsaktbezogenen“ Perspektive: R. Schmidt-De Caluwe, Der Verwaltungsakt in der Lehre Otto Mayers, 1998, S. 145; zur Profilierung der neuen rechtsetzungsorientierten Perspektive: A. Voß kuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft (Fn. 2 ), S. 1 ff., Rn. 15 ff.; Ch. Möllers, Methoden, in: ebd., S. 123 ff., Rn. 23 ff.
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die Herausgeber das Problem folgendermaßen: „Gesetzesbindung im Sinne von Subsumtionsrichtigkeit bleibt ein zentraler Maßstab; dieser ist aber angesichts der Einschätzungs- und Gestaltungsoffenheit vieler Rechtsvorschriften zu ergänzen durch Zielwerte wie Effizienz, Akzeptabilität, Kooperationsbereitschaft, Flexibilität oder Implementierbarkeit.“35 Es stellt sich die Frage, wie sich die Maßstäbe nach dem Strichpunkt zur Gesetzesbindung verhalten: additiv oder integrativ. Additiv wäre eine räumliche Abgrenzung zweier Bereiche, nämlich einerseits der Gesetzesbindung und andererseits sonstiger Steuerungsmöglichkeiten. Im eigentlichen Text gibt es aber eine Vielzahl von Formulierungen, die nicht für räumliche Abgrenzung, sondern für inhaltliche Präzisierung sprechen.36 Diese Ambivalenz hat sich auch in den beiden Referaten der Deutschen Staatsrechtslehrertagung ausgedrückt. Während dem ersten Referat die räumliche Metapher zugrunde liegt,37 fordert das zweite Referat die inhaltliche Präzisierung.38 Dieses Problem hat auch die anschließende Diskussion beherrscht.39
4. Der verzögerte Abschied von der alten „Juristischen Methodik“ Im Kontext des „Neuen Verwaltungsrechts“ bedeutet „Juristische Methode“ die Methode des staatsrechtlichen Positivismus von Gerber und Laband.40 Es geht bei der Abgrenzung zur Juristischen Methodik weniger um die Vorgehensweise des Rechts oder der Rechtswissenschaft, sondern um einen „Denkstil“, den man durch einen anderen ersetzen will.41 Dieser wird ganz überwiegend anhand folgender Merkmale bestimmt: Die Juristische Methodik ist auf einen abstrakten Rechtsakt als Ergebnis
W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle, Vorwort zur 1. Aufl. der „Grundlagen des Verwaltungsrechts“, 2012, S. IX. 36 A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft (Fn. 2 ), S. 1 ff., Rn. 11.; Integration der Gesetzesbindung in eine problemorientierte Handlungsperspektive, Rn. 71 „Verknüpfung“; Ch. Möllers, Methoden, ebd., S. 123 ff., Rn. 23 f. 37 I. Appel, Das Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischen Verständnis und steuerungswissenschaftlichem Anspruch, VVDStRL 67 (2008), S. 228 ff. 38 M. Eifert, Das Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischen Verständnis und steuerungswissenschaftlichem Anspruch, VVDStRL 67 (2008), S. 288 ff. 39 Siehe die Disskussionsbeiträge von J. Isensee, S. 338 f.; E. Schmidt-Aßmann, S. 340 f.; I. Pernice, S. 341 f.; A. Scherzberg, S. 348 f.; O. Lepsius, S. 349 f.; M. Jestaedt, S. 352 f., alle in VVDStRL 67 (2008). 40 Vgl. A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft (Fn. 2 ), S. 1 ff., Rn. 2 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 11 f.; I. Appel, Steuerwissenschaftlicher Anspruch (Fn. 37), S. 236 ff.; kritisch zu diesem Begriff juristischer Methodik T. Vesting, Nachbarwissenschaftlich informierte und reflektierte Verwaltungsrechtswissenschaft – „Verkehrsregeln“ und „Verkehrsströme“, in: E. Schmidt-Aßmann/Wolfgang Hoffman-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 253 ff.; A. v. Bogdandy, in: ders./P. Cruz Villalón/P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum Bd. IV, 2011, § 57, Rn. 48. Zur Bedeutung Otto Mayers in dieser Hinsicht vgl. Ch. Engel, Herrschaftsausübung bei offener Wirklichkeitsdefinition, in: Proprium der Rechtswissenschaft (Fn. 5 ), S. 205 ff., 216 f., m.w.N. in Fn. 67 und 68. 41 Vgl. zum Begriff „Denkstil“: O. Lepsius, Problemzugänge und Denktraditionen (Fn. 1), S. 58 ff. unter Bezug auf L. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, hrsg. von L. Schäfer/T. Schnelle, 1980, vgl. dazu bei Lepsius, ebd., S. 54 ff., m.w.N. 35
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bezogen und blendet die Erzeugung aus.42 In ihrer Betrachtung ist sie auf das Gericht und dessen Kontrollperspektive zentriert.43 Kann man die Sicht auf die Gesetzesbindung aus der alten „Juristischen Methodik“ fortführen und lediglich erweitern oder muss man die Gesetzesbindung jetzt neu konzipieren? Das „Neue Verwaltungsrecht“ thematisiert dieses Problem als Emanzipation vom „zivilistischen Subsumtionsparadigma“.44 Dieses wird einer ausführlichen Kritik unterzogen. Zunächst ist die Übertragung von Zivilrecht aufs öffentliche Recht abzuweisen.45 Das damalige Zivilrecht hat sich mit dem BGB auf eine einzige und ziemlich stabile Rechtsquelle beziehen können. Indem das Zivilrecht die Dynamik der Rechtsentwicklung über das Vertragsrecht externalisiert hat, kann man das Recht eher als statisch verstehen. Dies ist im öffentlichen Recht nur sehr beschränkt möglich. Das öffentliche Recht bezieht sich zudem auf eine große Vielfalt von Rechtsquellen mit unterschiedlichen Hierarchiestufen und ist auch viel stärker von Supraund Transnationalisierung des Rechts betroffen.46 Ein Richter ist auch nicht lediglich die „viva vox“ des Gesetzes, er bedürfe für sein Handeln im Rahmen der Gewaltenteilung einer Legitimation.47 Diese Legitimationsnotwendigkeit wurde von der alten Vorstellung des Richters als Subsumtionsautomaten invisibilisiert. In einer gestuften Rechtsordnung seien Rechtsanwendung und Rechtserzeugung notwendigerweise verbunden als so genanntes „Doppelantlitz“.48 Schließlich ist im öffentlichen Recht als Standardsituation eine Konkurrenz von Konkretisierungsinstanzen anzunehmen. Neben dem Gesetzgeber handele die Verwaltung und schließlich der Richter und bei den Gerichten gebe es neben den Fachgerichten auch die Verfassungsgerichtsbarkeit.49 Diese Argumente sind alle durchschlagend. Aber es fehlt als zentrales Problem die Sprache. Subsumtion ist natürlich am Ende vollkommen unverzichtbar. Vorher müssen die Begriffe aber, wie immer in der Logik, feststehen. Sonst können wir nicht rechnen. Wenn man wie die alte „Juristische Methodik“ glaubt, mit der Subsumtion sei alles getan, muss man annehmen, dass die Sprachkompetenz des Anwenders zur Bestimmung der Bedeutung des Gesetzestextes ausreiche. Aber genauso wenig wie man „aus dem Kopf “ eine Brücke bauen kann, kann man „aus dem Kopf “ die Bedeutung eines Wortes übersehen. Wenn die Bedeutung eines Wortes durch all die Wörter bestimmt wird, die regelmäßig in seiner Umgebung auftauchen, ist klar, dass wir ohne Analyse nur einen kleinen Zipfel davon sehen können. Deswegen ist es A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft (Fn. 2 ), S. 1 ff., Rn. 3, m.w.N. in Fn. 19; M. Eifert, Steuerungswissenschaftlicher Anspruch (Fn. 38), S. 289 ff.; Ch. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 257 f.; M. Jestaedt, „Öffentliches Recht“ als wissenschaftliche Disziplin, in: Proprium der Rechtswissenschaft (Fn. 5 ), S. 242 ff., 259 f. 43 A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft (Fn. 2 ), S. 1 ff., Rn. 4 ; E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 14. 44 Vgl. dazu M. Jestaedt, „Öffentliches Recht“ als wissenschaftliche Disziplin (Fn. 42), S. 249. 45 Vgl. dazu M. Jestaedt, ebd., S. 248 f. 46 H.-H. Trute, Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Einige Leitmotive zum Werkstattgespräch, in: Die Verwaltung 40 (2007), S. 9 ff., 21 ff. 47 M. Jestaedt, „Öffentliches Recht“ als wissenschaftliche Disziplin (Fn. 42), S. 250. 48 Vgl. dazu M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein …, 2006, S. 22, 24. 49 M. Jestaedt, „Öffentliches Recht“ als wissenschaftliche Disziplin (Fn. 42), S. 253 f. „Rechtskonkretisierungskonkurrenzen“. 42
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natürlich eine unglaubliche Hybris, wenn man mit der klassischen „Juristischen Methodik“ die so genannte Wortlautgrenze mit der grammatischen Auslegung gleichsetzt. Juristen haben deshalb schon immer unter der Überschrift „Systematik“ nach anderen Gebrauchsbeispielen gesucht, als denen, die ihnen direkt einfallen. Meistens in Kommentaren als einer speziellen Form juristischer Wörterbücher. Aber auch dort findet man keine Gewissheit, weil jedes Wort in der Sprache ständig in neuen Kontexten auftaucht. Wenn also über Bedeutung erst einmal Streit entstanden ist, dann ist eine ausführliche Analyse nur die Wissensgrundlage für den Prozess der Argumentation. Dieses Problem ist im Neuen Verwaltungsrecht schon angekommen. Denn eines seiner zentralen Anliegen besteht darin, die dienende Rolle des Verfahrensrechts gegenüber dem materiellen Recht zu überwinden.50 Wenn es keine Gewissheit in der Sprache gibt, braucht man das Verfahren, um trotzdem navigieren zu können. Es verliert seinen Status als Diener.51 Trotzdem ist die Artikulation des Problems im Neuen Verwaltungsrecht noch ambivalent. Braucht man für die Realität der Rechtserzeugung einen Neubau der „Juristischen Methodik“ oder nur einen Anbau?
II. Die statische Auffassung der Gesetzesbindung als deduktive Ableitung Die alte „Juristische Methodik“ kann und muss erhalten bleiben. Sie benötigt lediglich einen Anbau. Das ist die Position von Ivo Appel,52 der als Erstreferent auf der Freiburger Staatsrechtslehrertagung das Neue Verwaltungsrecht in das Kontinuum der verwaltungsrechtlichen Dogmatik einordnet. Die klassische Auffassung der Gesetzesbindung bleibe erhalten und man benötige daneben noch einen „Raum“ oder „Ort“ für das Problem der Steuerung der Rechtserzeugung. Die Frage nach dem „Wie“ der Steuerung, die unter anderem mit Selbstprogrammierung53 beantwortet wird, müsse durch die Frage nach dem „Wo“ ergänzt werden. Es gehe nicht um die Alternative entweder Gesetzesbindung oder Steuerung. Auch nicht um eine Entwicklung von der Gesetzesbindung zur Steuerung, sondern um ein „geordnetes Nebeneinander“.
1. Leistungsstaat: Juristen erstellen die Semantik des Gesetzes Die Sprache wird von den Juristen ausgerechnet mit Hilfe der Gesetzesbindung aus der Untersuchung ausgeklammert. Der Text von Appel, der sich durchaus an vorderster Front der Methodik bewegt,54 zeigt diese Einschränkung exemplarisch: 50 Vgl. dazu O. Lepsius, Problemzugänge und Denktraditionen (Fn. 1), S. 62; I. Appel, Steuerungswissenschaftlicher Anspruch (Fn. 37), S. 238 f. 51 Vgl. dazu A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft (Fn. 2 ), S. 1 ff., Rn. 15 ff. 52 I. Appel, Steuerungswissenschaftlicher Anspruch (Fn. 37), S. 226 ff. 53 Vgl. dazu M. Eifert, Steuerungswissenschaftlicher Anspruch (Fn. 38), S. 317 f. 54 Seine Position ist methodologisch fein ausdifferenziert. Er stellt sogar Fragen, auf die die Methodik nicht nur keine Antworten hat, sondern die sie noch gar nicht selbst gestellt hat. (Vgl. I. Appel,
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„Stellt man die strukturelle Offenheit von Sprache in Rechnung, ist Rechtsanwendung durch Auslegung sprachlich gefasster Normen nie nur Erkenntnisakt, sondern hat stets auch konstitutiven Charakter. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive ist die Rechtswissenschaft – auch Falllösungswissenschaft am Maßstab des Rechts – daher nie nur eine anwendungsbezogene Interpretationswissenschaft, sondern stets auch eine rechtssetzende Handlungs- und Entscheidungswissenschaft.“55 Damit führt uns die sprachliche Reflexion genau zu dem Punkt, an dem die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft ansetzt. Jetzt wird aber die Sprache wieder aus dem Fokus genommen. Zunächst wird zugegeben, „dass die Rechtswissenschaft eine implizit bleibende eigene juristische Sprachtheorie pflegt, die Ergebnisse der sprachwissenschaftlichen Fachdiskussion zu einem guten Teil verleugnet.“56 Nun könnte man daran denken, mit Hilfe der von der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft entwickelten Erweiterungen des juristischen Fokus diese implizite Sprachtheorie zu überwinden. Es geschieht aber das Gegenteil: „Offenbar darf die Rechtswissenschaft als Falllösungswissenschaft am Maßstab des Rechts die Grund annahme nicht in Frage stellen, dass eine solche Bindung über das Medium der Sprache möglich ist – genauso wie sie (unabhängig vom jeweiligen Stand des Determinismus-Indeterminismus-Streites) nicht in Frage stellen kann, dass Normadressaten durch normative Vorgaben überhaupt determiniert werden können. Ohne diese Grundannahme wäre Recht als normatives Konzept weitgehend hinfällig.“57 Damit ist das Problem der Sprache in den Bereich der Metaphysik abgeschoben und für die weitere Analyse nicht mehr zu berücksichtigen. Ein wirkliches Problem ist verschwunden. Für Metaphysik sind Juristen nicht zuständig. Die Sprachlichkeit des Rechts ist damit erledigt. Dieser ganze Vorgang der Exklusion vollzieht sich in einer Fußnote. Dieser Ausschluss hat einen systematischen Grund: Die Juristen betrachten die Sprache als ihr Eigenes. Das erstaunt, weil doch immerhin viele Menschen sprechen können, wenn auch nicht ganz so gut wie die Juristen. Warum also diese Selbstermächtigung? Hier wird eine Gefahr abgewehrt. Juristen sehen sich durch die Integration von Fremdwissen gefährdet. Sie begreifen das Verstehen von Gesetzestexten als ihre Kernkompetenz. Man überhöht das gern mit dem Wort Hermeneutik. Nun ist die Hermeneutik eine ehrwürdige Lehre und die Ausfüllung dieses Begriffs in der Philosophie zwischen Schleiermacher, Dilthey und Gadamer streitig. Gerade deswegen bildet sie eine Abschirmung für das, was Juristen tun. Hermeneutik gilt heute fast durchgängig als juristische Kernkompetenz.58 Man ist in der Nähe der Theologie Steuerwissenschaftlicher Anspruch (Fn. 37), S. 39 mit Fn. 112.) Jede dieser Fragen verdient mindestens eine ausführliche Monografie. Nur an einer Stelle fällt er hinter seine eigenen Vorgaben zurück. Das ist das Problem der Gesetzesbindung. 55 I. Appel, Steuerungswissenschaftlicher Anspruch (Fn. 37), S. 261 mit Fn. 118. 56 Ebd. 57 Ebd. 58 Vgl. dazu grundlegend als klassischen Ort K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 1979, S. 181 ff.; A. Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, 1999, S. 67 ff.; Ph. Mastro nardi, Juristisches Denken, 2. Aufl. 2003, S. 26 ff., der aber auf die Argumentation als grundlegenden Aspekt verweist.
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und nicht der Sprachwissenschaft. Zwischenfragen könnten auf halten. Auch der Gottesdienst ist eher Frontalunterricht und eine Diskussion nicht vorgesehen. Die Sprachwissenschaft könnte das, was Juristen tun, nüchterner bestimmen: Juristen erzählen in der Dogmatik Gebrauchsbeispiele. Sie erzählen sie nicht vollständig und nur soweit es zu ihrer Position passt. Gebrauchsbeispiele finden sich durch die Regeln der Auslegung. Die Gebrauchsbeispiele, die als erstes in den Blick kommen, nennt man traditionell grammatische Auslegung. Wenn man Beispiele anderer erst aufsuchen muss, nennt man dies systematische Auslegung. Zudem kann man die Gebrauchsweisen noch aus der Entstehungsgeschichte, der Abgrenzung zu Vorläufernormen oder dem verfolgten Zweck der Regelung ableiten. Im Prinzip geht ein Jurist beim Sprachverstehen also nicht anders vor als ein Sprachwissenschaftler.59 Nur dass dieser die Korpora, aus denen er seine Gebrauchsbeispiele entnimmt, offenlegt. Ein Jurist tut dies nur zum Teil, indem er sich auf einzelne Vorentscheidungen, Kommentarstellen oder Lehrbücher beruft. Natürlich verwenden Juristen und Sprachwissenschaftler diese Techniken zu unterschiedlichen Zwecken: Der eine will beschreiben, der andere will entscheiden. Das genau ist das Problem der Interdisziplinarität. Beschreibungen können den Übergang zur Entscheidung erleichtern, aber nicht vorgeben. Wieso wird diese Reflexionsebene jedoch ausgegrenzt? Ein möglicher Grund könnte in der Befürchtung zu suchen sein, dass die Sprachwissenschaft den Inhalt des Gesetzes festlegt. Interdisziplinarität darf man deshalb nicht zulassen. Sie soll nur zugelassen werden außerhalb der Gesetzesbindung. Fremdwissen lässt sich nur in getrennten Räumen verarbeiten, jenseits der Gesetzesbindung. In den heiligen Bereich der Sprache des Gesetzes dürfen nur Juristen, während Fremdwissenschaftlern der Weg ins Jenseits gewiesen wird. Zugrunde gelegt ist dabei die Vorstellung, dass das Gesetz über die Anwendung seiner Sprache bindet. Wir gelangen hier zur Kernaufgabe der Jurisprudenz: den Übergang zwischen Text und Praxis zu ermöglichen.60 Die Rechtswissenschaft hat also die Aufgabe, „den Übergang zwischen Text und Praxis zu bewerkstelligen, das ‚law in the books‘ in soziale Praxis zu übersetzen oder umgekehrt.“61 Die Lösung dieser Aufgabe, würde ein Weiterdenken der „Juristischen Methodik“, wie sie der staatsrechtliche Positivismus entwickelt hat, verlangen.62 Aber man will an der Vorstellung der Anwendung festhalten und sie nur um einen weiteren Raum der Rechtserzeugung ergänzen.63 Man rettet so die Vorstellung, dass das Eigene der Jurisprudenz in der Definition gesetzlicher Begriffe liegt und deren logischer Verknüpfung. 59 Vgl. dazu M. Morlok, Neue Erkenntnisse und Entwicklungen aus sprach- und rechtswissenschaftlicher Sicht, in: B. Ehrenzeller u.a. (Hrsg.), Präjudiz und Sprache, 2008, S. 67 ff., 72. 60 A. v. Arnauld, Die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht nach einer Öffnung für sozialwissenschaftliche Theorie, in: A. Funke/J. Lüdemann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Wissenschaftstheorie, 2009, S. 65 ff., 75. 61 Ebd., S. 77. 62 Vgl. dazu W. Hoffmann-Riem, Sozialwissenschaften im Verwaltungsrecht, in: Wissenschaft vom Verwaltungsrecht (Fn. 2 ), S. 83 ff., 97 ff.; Ch. Möllers, Braucht das Öffentliche Recht einen neuen Methoden- und Richtungsstreit?, in: VerwArch. 90 (1999), S. 187 ff.; A. Voßkuhle, Methode und Pragmatik im Öffentlichen Recht, in: H. Bauer u.a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, S. 171 ff. 63 M. Jestaedt, Braucht die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht eine fachspezifische Wissenschaftstheorie?, in: A. Funke/J. Lüdemann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Wissenschaftstheorie, 2009, S. 24.
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2. Die Ableitung aus dem System Das doppelte Rechtsantlitz verwandelt sich damit in eine Zwei-Raum-Einheit. In der Arbeit des Rechts sind Rechtsanwendung und Rechtserzeugung nicht untrennbar verbunden, sondern teilbar zusammengesetzt. Die Gesetzesbindung des Richters bezieht sich nach herkömmlicher Vorstellung auf die Bedeutung des Gesetzestextes. Allerdings kann nach Appel dieser Text dem Richter nicht die einzig richtige Entscheidung vorgeben. Wie muss man Gesetzesbindung aber dann verstehen? Er geht davon aus, dass Gesetzesbindung Begründbarkeit aus dem Gesetz verlange. Die Wendung „Begründung aus dem Gesetz“ ist allerdings mehrdeutig. Handelt es sich um Ableitung im Sinne einer Determination oder nur um die Kontrolle eines unabhängig davon gefundenen Ergebnisses? Die Methodik, sagt Isensee,64 ist nach dem Weg. Damit hat er Recht. Methodik ist die kritische Reflexion auf das, was die Praxis schon kann. Dies wird prinzipiell formuliert und damit vom Können ins Wissen transformiert. Schließlich kann dieses Wissen dann an rechtsstaatlichen Vorgaben der Verfassung gemessen werden. Aber man kann das, was nach dem Weg kommt, auf das Ergebnis nochmals anwenden.65 Je öfter man das tut, umso stärker beeinflusst die Ergebniskontrolle auch den Weg zur Entscheidung. Die Begründung, welche der Rechtsstaat vom Rechtsfunktionär fordert, muss allerdings nicht den Weg zur Entscheidung darlegen, sondern nur die Kontrolle ermöglichen. Insoweit geht es um Begründung und nicht um Herstellung. Bei Appel wird Begründbarkeit stillschweigend mit Ableitbarkeit gleichgesetzt. Abgeleitet wird zwar nicht mehr die einzig richtige Entscheidung. Das ist der Fortschritt gegenüber der alten „Juristischen Methodik“. Aber abgeleitet wird ein fester Rahmen. Dieser Rahmen kann den Bezirk definieren, welchen Fremdwissen nicht betreten kann. Die Sprache des Gesetzes ist Eigentum der Juristen. Es geht um sprachliche Deduktion, nicht um Überprüfung. Nur außerhalb dessen, was sprachlich deduzierbar sein soll, gibt es dann Rechtserzeugung: „Wo die Gesetzesbindung und damit der Bereich der Rechtsanwendung endet, beginnt der rechtserzeugende Teil der Rechtsverwirklichung (Rechtserzeugungsraum). Hier ist Platz für steuerungswissenschaftiche Überlegungen.“66 Welche Maßstäbe braucht man jenseits der Gesetzesbindung? Appel unterlässt zu Recht die Ausschmückung mit privaten oder aus Fremdwissen ausgeborgten philosophischen Maßstäben und verweist stattdessen ganz nüchtern auf die Steuerungswissenschaft. Aber trotzdem ergibt sich aus diesen Richtigkeitsmaßstäben ein Paradox: Wenn man sie explizieren wollte, würden sie entweder zum Gesetz gehören, als Argument im Auslegungsstreit, oder sie würden den Maßstab des Gesetzes verdrängen. Auch Appel selbst sieht dieses Problem und lässt die Alternative offen, ob man entweder alles normativ verankern muss oder dieser Versuchung gerade widerstehen sollte.
J. Isensee, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 67 (2008), S. 338. A. Scherzberg, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 67 (2008), S. 348 f. 66 I. Appel, Steuerungswissenschaftlicher Anspruch (Fn. 37), S. 262. 64 65
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Grundlegender ist aber folgendes Problem: Wie kann der Raum der Rechtsanwendung überhaupt bestimmt werden? Die Frage nach dem „Wo“ setzt Grenzen voraus, die gezogen werden können. Wo liegen diese? In der herkömmlichen Theorie wird die Gesetzesbindung statisch verstanden. Dabei wird das Gesetzbuch mit dem Bild des Buches als Sinneinheit aufgeladen. Aus dem Wirtschaftsgut wird eine metaphysische Figur, deren Aufgabe darin besteht, das Ganze des Rechts von einem ungreif baren Horizont in eine beherrschbare Figur zu verwandeln. Auf das Buch setzt man die Hoffnungen, weil es mit seinem ersten und seinem letzten Satz scheinbar klare Grenzen aufweist und man glaubt, von seiner Sinnmitte aus das Ganze beherrschen zu können. Das Buch mit all seinen Enden aus Anmerkungen, Fußnoten und Schlussbemerkungen wird damit zur Sinnganzheit gerundet.67 Diese wiederum soll dann dem Verstehen des Lesers Form und Maß geben. Vor allem die klassische Hermeneutik hat diese Form des Buches zum ontologischen Strukturmoment des Verstehens gemacht: „Der Sinn dieses Zirkels, der allem Verstehen zugrunde liegt, hat aber eine weitere hermeneutische Konsequenz, die ich den ‚Vorgriff der Vollkommenheit‘ nennen möchte. Auch das ist eine offenbar formale Voraussetzung, die alles Verstehen leitet. Sie besagt, dass nur das verständlich ist, was wirklich eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt.“68 Mit diesem Vorgriff soll nahegelegt werden, dass im Text eine objektive Sinneinheit vorhanden ist, die den Leser zu führen vermag. Dieser Sinn ist der für den Leser objektiv vorgegebene Bezugspunkt. Aus der Sicht der Leser mag sich der Sinn eines Textes wandeln.69 Aus der Sicht des Textes ist die jeweilige Lesart nur eine unter vielen, welche die Sinnfülle des Textes im Prinzip nie erschöpfen kann. Deswegen lässt sich vom Standpunkt der klassischen Hermeneutik her sagen, dass das Werk gerade im Wandel identisch bleibt. An das Buch knüpft also ein objektives Überlieferungsgeschehen an. Seine Form soll als immanentes Maß im Verstehen des Richters die Bindung an das Gesetz garantieren. Ein Verfahren braucht man dazu nicht. Demgegenüber hat die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft gerade die konstitutive Rolle des Verfahrens für das Recht herausgearbeitet.70 Damit ist der herkömmliche Bedeutungsidealismus verabschiedet71 und die Bedeutung als nachträgliche begriffen72. Verfahren und Prozess kommt damit eine tragende Rolle beim Problem der Rechtsbestimmtheit zu.73 Dass diese Frage jetzt gestellt wird, liegt daran, dass sich die
Vgl. damit M. Wetzel, Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift, 1991, S. XII. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 6. Aufl. 1990, S. 299. 69 Ebd., S. 379. 70 Vgl. dazu I. Appel, Steuerungswissenschaftlicher Anspruch (Fn. 37), S. 271 ff., m.w.N. 71 Vgl. ebd., S. 305 ff.; vgl. dazu auch grundlegend A. Somek, Rechtsystem und Republik, 1992, S. 475 ff., 305 ff. 72 Ebd., S. 311 ff. 73 Allgemeinere Ansätze in diese Richtung wären G.-P. Calliess, Prozedurales Recht, 1999, wonach sich „die Frage der Rechtstaatlichkeit nicht mehr statisch als Frage nach den ‚herrschenden‘ Gesetzen, sondern dynamisch als Frage nach dem Wie des Prozessierens von Recht (stellt)“, S. 15; K.-H. Ladeur, Prozedurale Rationalität – Steigerung der Legitimationsfähigkeit oder der Leistungsfähigkeit des Rechtsystems, in: Zeitschrift für Rechtsoziologie 7 (1986), S. 265 ff.; N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl. 1975; U. Neumann, Material und prozedurale Gerechtigkeit im Strafverfahren, in: ZgesStraf RW 101 (1989), S. 52 ff. 67
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mediale Infrastruktur des Rechts grundlegend geändert hat.74 Ein Jurist sitzt nicht mehr vor Büchern, sondern vor dem Computer. Die Grenzen der Welt des Buches wurden schon sichtbar, als mit Telegraphie, Rundfunk, Film und Fernsehen andere Medien zum Buch in Konkurrenz traten.75 Aber die Massenmedien konnten die Welt des Buches und seine stille Hermeneutik zunächst nicht gefährden. Erst mit den digitalen Medien hat der Text die Grenzen des Buches als Sinntotalität verlassen.76 Jetzt werden Probleme sichtbar, die bisher im Schatten der hermeneutischen Selbstverständlichkeiten lagen, die Triangulierung des Verstehens im Text. Autor und Leser, gedacht in vorgeprägten Rollen, verlieren ihren Halt im Buch. Der Autor wird anonym, der Leser übernimmt seine Funktion und dem Text fehlen objektiv vorgegebene Grenzen. Es gilt also, das Verstehen neu zu denken. Mit den neuen Medien wird die Verknüpfung des Textes mit anderen Wissenssegmenten im Hypertext außen angeschrieben. Damit wird die Zuordnung von Zeichenkette und Bedeutung plurifiziert. Beim stillen Lesen konnte man an die einzige Bedeutung des Textes als Sinntotalität glauben. Denn der Leser muss seine eigene Auslegungskultur und den Wissensschatz, den er dem Text zuführt, nicht bemerken. Er kann alles, was er schafft, objektiv attribuieren, und so glauben, dass allein der Text spricht. Der Hypertext macht dagegen die Vielzahl der Verknüpfungen von Zeichenkette und Bedeutung im Außen sichtbar. Aus dem System kann man nicht mehr deduzieren.
3. Die Ableitung aus dem Willen des Gesetzgebers Man könnte aber als Grundlage für die Ableitung eines Rahmens an den Willen des Gesetzgebers denken. In der jüngeren Diskussion, sagt dazu Möllers,77 habe die subjektiv-historische Auslegung verstärkte Aufmerksamkeit gefunden. Er fügt allerdings hinzu, dass ein Wille des Gesetzgebers als griffige Großformel heute nicht mehr ernst genommen werden könne. Ein vorausdrücklicher Wille des Gesetzgebers ließe sich schon gar nicht formulieren. Ein solcher Wille kommt gegenüber dem Ausdruck immer zu spät. Es kann also nur um den Sprachgebrauch des historischen Gesetzgebers gehen, nicht um „seinen“ Willen. Kann man nun diesen Sprachgebrauch als Inhalt der Gesetzesbindung fixieren? Das Gesetz ist ein Text, der eine Vorgeschichte in seiner Entstehung und eine Nachgeschichte in seiner Anwendung hat. In dieser ganzen Geschichte wird der Text immer wieder gebraucht. Aber ist von der Vielzahl der Sprachgebräuche einer privilegiert? Nur wenn uns die historische Sprachgemeinschaft eine feste Bedeutung liefern könnte, wäre eine Versteinerung der Bedeutung möglich. Diese Interpretations74 Vgl. dazu grundlegend T. Vesting, Die Medien des Rechts 4: Computer, 2015 sowie K.-H. Ladeur, Die Textualität des Rechts, 2016, S. 302 ff., 306 ff. 75 Vgl. dazu H., Schanze, Integrale Mediengeschichte, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Mediengeschichte, 2001, S. 252 ff., 263 ff. 76 Vgl. dazu G. P. Landow, Hypertext. The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology, 1997, S. 57; sowie J. D. Bolter, Writing Space. The Computer, Hypertext and the History of Writing, 1991, S. 240. 77 Ch. Möllers, Methoden, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts Band I (Fn. 2 ), S. 123 ff., Rn. 23.
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gemeinschaft ist aber historisch, und wir können sie nicht befragen. Wir haben nur Kontexte als Spuren. In diesen Kontexten finden wir Verwendungsbeispiele. Wenn wir daraus Regeln destillieren wollen, fällt uns auf, dass die Interpreten keine Gemeinschaft bilden. Menschen leben nicht mehr in Gemeinschaften, sondern in Gesellschaft. Darin gibt es Vielfalt vor allem in der Sprachverwendung. Untersucht man mit einer sog. Kookkurrenzanalyse78 einen Sprachzustand zu einem bestimmten Zeitpunkt, finden wir deshalb im Medienkorpus andere Verwendungsweisen als im Literaturkorpus und im Rechtskorpus. Gerade auch der Rechtskorpus ist besonders inhomogen. Denn Juristen streiten über den richtigen Sprachgebrauch. Die Privilegierung eines historischen Sprachgebrauchs würde diesen versteinern. Das Gesetz würde eingefroren mittels Argumenten, die nur sehr schwer oder gar nicht zu überprüfen wären. Die Juristen müssten dann vor allem historische Sprachanalysen durchführen. Dass dem nicht so ist, hat gute Gründe. Ein Gesetz wird ständig überarbeitet, und wir wüssten gar nicht, welchen Zeitpunkt wir für welchen Paragraphen zugrunde legen sollten. Denn die Änderung einer Textstelle kann die Tragweite einer anderen Textstelle grundlegend verändern. Außerdem leben wir in einer rechtsstaatlichen Demokratie. Das Gesetz soll also den Untertanen nicht aufgezwungen werden, sondern begründet werden in ihrer Sprache. Diese Begründung und die Diskussion im Verfahren müssen natürlich mit der gegenwärtigen Sprache erfolgen. Die Gesetze sollen durch ihre Anwendung weiterentwickelt werden, was durch eine Versteinerung der Bedeutung abgeschnitten werden würde. Im Unionsrecht wäre dies von vornherein undenkbar. Hier gewinnt dieses Argument im Hinblick auf die Dynamik einer immer enger werdenden Gemeinschaft ein entscheidendes Gewicht: „Zur Verwirklichung des gemeinsamen Marktes und der Ziele des Art. 2 EGV ist es unverzichtbar, anstelle des historischen Willens der Vertragspartner auf den objektivierten Willen des Vertrages abzustellen. Eine Gegenüberstellung der Eindrücke von den Vertragsverhandlungen mit der Praxis des Gerichtshofs belegt überzeugend die Diskrepanz zwischen dem heutigen Stand der Unionsrechte und den ursprünglichen Vorstellungen der Vertragsstaaten.“79 Sonst würde man bei der Auslegung von Gesetzen nicht von Kontexten in der Mehrzahl sprechen, sondern nur vom Kontext im Singular: Da Auslegung ein soziales Unterfangen ist, weil Worte keine natürliche Bedeutung haben und Wirkung erst aus dem Kontext beziehen, müssen wir Kontexte konsultieren.80 Ein Gesetz ist immer komplexer als seine Entstehungsgeschichte.
78 Vgl. dazu E. Felder/M. Müller/F. Vogel, Korpuspragmatik. Paradigma zwischen Handlung, Gesellschaft und Kognition, in: dies. (Hrsg.), Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen, 2012, S. 3 ff.; M. Müller, Vom Wort zur Gesellschaft: Kontexte in Korpora. Ein Beitrag zur Methodologie der Korpuspragmatik, in: ebd., S. 33 ff.; F. Vogel, Das Recht im Text. Rechtsprachlicher Usus in korpuslinguistischer Perspektive, in: ebd., S. 314 ff. 79 C. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 145. Unter Bezug auf U. Everling, Vertragsverhandlungen 1957 und Vertragspraxis 1987, in: FS Hans von der Groeben, 1987, S. 111 ff., 126. 80 Siehe hierzu F. H. Easterbrook, Text, History and Statuary Interpretation, in: Harvard Journal of Law and Public Policy 1994, S. 61 ff., 64 und 69.
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III. Die dynamische Gesetzesbindung als argumentative Überprüfung Das Ganze der Entscheidung bleibt diesseits der Gesetzesbindung. Es darf keine Entscheidung jenseits des Gesetzes geben. Man kann Entscheidung nicht zerlegen. Die räumliche Metapher ist missverständlich. Wenn wir an Bedeutung gebunden sind und Bedeutung ein offener Prozess ist, dann können wir nicht endgültig unterscheiden zwischen Bedeutung des Gesetzes und sonstiger sprachlicher Bedeutung. Die Bedeutung wird immer im Ganzen der Sprache gemacht. Wir können nur engere oder weitere Kontexte unterscheiden. Aber die Entscheidung lässt sich aus dem Gesetz nicht ableiten.81 Die Juristische Methodik kann nicht die Klugheitsregeln liefern, die man braucht, um das Amt eines Landrats auszufüllen. Ebenso wenig würde ein Polizist die Regeln für die Anwendung eines Schlagstocks oder eines Präzisionsgewehrs in einem Lehrbuch zur Juristischen Methodik nachschlagen. Aber das heißt nicht, dass man sein Tun außerhalb des Gesetzes in einem „Jenseits“ verorten müsste. Wir müssen vielmehr die Frage stellen, ob die Voraussetzungen für den Einsatz des Gewehres (alle anderen Mittel versagen) vorliegen und ob diese Maßnahme geeignet, erforderlich und angemessen ist. Solange es also überhaupt ein Polizeigesetz gibt, befinden wir uns mit allen Regeln der Klugheit und Steuerung diesseits des Gesetzes. Im Neuen Verwaltungsrecht wird dies auch weithin anerkannt. Das zweite Referat auf der Freiburger Staatsrechtslehrertagung zum Neuen Verwaltungsrecht bestimmt den Schnitt zur alten „Juristischen Methodik“ denn auch anders: Deduktion aus dem Gesetz sei unrealistisch.
1. Ein Rahmen oder viele Kontexte der Rechtserzeugung Dem Ableitungsmodell als räumliche Trennung von Rechtsanwendungssubstanz und Steuerung wird hier ein integriertes Modell gegenübergestellt. Das integrale Modell arbeitet mit Kontexten statt mit einem Rahmen. Was also an der Theorie des Rahmens ist unhaltbar? Schon vor dem Neuen Verwaltungsrecht wurde das Phänomen der richterlichen Rechtserzeugung im Rahmen der Reinen Rechtslehre klar herausgearbeitet. Danach stellt die Rechtsordnung eine Pyramide82 dar, wonach jeder Akt der Regelungssetzung den Doppelcharakter von Rechtserkenntnis bezüglich der Ermächtigungsnorm und Rechtserzeugung bezüglich der untergeordneten Norm aufweist: Vgl. dazu auch Ch. Möllers, Methoden, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts (Fn. 2 ), S. 123 ff., Rn. 23 ff. 82 Die schwierige Einordnung der Grundnorm war immer ein theoretischer Stachel für Entwicklungen innerhalb der Reinen Rechtslehre. In diesem Begriff kreuzen sich das neukantianische Motiv einer transzendental-logischen Bedingung für Rechtsbegriff (vgl. dazu H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 205) und die anhand Vaihingers „Philosophie des Als-Ob“ anschließende Lesart der Grundnorm als Fiktion (vgl. dazu H. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, 1979, S. 206; zum Fiktionsbegriff bei Vaihinger und zum Folgenden A. Somek, Der Gegenstand der Rechtserkenntnis, 1996, S. 18 ff.; zu Kelsens Anschluss an Vaihinger S. 23 ff.). 81
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„Die auf dem Boden des anglo-amerikanischen ‚Common Law‘ erwachsene Theorie, dass nur die Gerichte Recht erzeugen, ist ebenso einseitig wie die auf dem Boden des europäisch-kontinentalen Gesetzesrechts erwachsene Theorie, dass die Gerichte überhaupt kein Recht erzeugen, sondern nur schon geschaffenes Recht anwenden. Diese Theorie läuft darauf hinaus, dass es nur generelle, jene, dass es nur individuelle Rechtsnormen gebe. Die Wahrheit liegt in der Mitte (…). Die richterliche Entscheidung ist die Fortsetzung, nicht der Beginn des Rechtserzeugungsprozesses.“83 Hier wird wie im Neuen Verwaltungsrecht die Realität richterlicher Rechtserzeugung anerkannt. Kelsen legt auch in keiner Weise einen semantischen Rahmen für die Rechtserzeugung in der höherrangigen Norm nahe. Aber er will den Bereich der Rechtserzeugung aus der Wissenschaft ausklammern: „Da die Reine Rechtslehre nur eine Erkenntnis des gegebenen positiven Rechts, nicht aber eine Vorschrift für seine richtige Erzeugung ist, will sie weder eine Anweisung dafür geben, wie man gute Gesetze macht, noch auch Ratschläge erteilen, wie man aufgrund oder im Rahmen der Gesetze gute Entscheidungen und Verfügungen treffen kann.“84 In dieser Äußerung wird eine Trennung zweier Bereiche deutlich: einmal der wissenschaftliche Bereich bloße Anwendung des vorgegebenen Rechts. Zum anderen der irrationale, wissenschaftlich nicht strukturierbare Vorgang der tatsächlichen Erzeugung oder Verwirklichung von Recht. Es kämen jetzt zwei Wege in Betracht, um den Ansatz der Reinen Rechtslehre zu konkretisieren, wenn man denn die Rechtserzeugung überhaupt in den Bereich der Wissenschaft einbeziehen will. Man könnte einerseits versuchen, Rechtsanwendung und Rechtserzeugung räumlich zu trennen oder man könnte versuchen, die Kelsen‘sche Beschränkung der Rationalität auf Rechtsanwendung zu überwinden. Auch Erzeugung kann rational sein. Martin Eifert will die Rechtserzeugung im Rahmen der Gesetzesbindung kontrollieren. Die „Trennungstheorie“ hingegen möchte die Reinheit der Kelsen‘schen Theorie noch steigern, indem sie die Trennung ausführt.85 Die Ermächtigungsnorm gibt danach einen definierten Rahmen für den Spielraum der Rechtserzeugung vor. Dabei wirken die Prämissen der positivistischen Rechtsnormtheorie als spezifische Schranken weiter. Denn der Mittelweg zwischen der Fiktion einer vollständig determinierten Rechtswendung und einer bindungslosen Rechtssetzung soll dadurch gefunden werden, dass man im Wege einer äußeren Zuordnung beide Bereiche miteinander kombiniert. Der von Kelsen mit der „generellen Norm“ gleichgesetzte Normtext soll dabei eine semantische Rahmenfunktion für die Erzeugung der so genannten „individuellen Norm“ haben: „Die Bestimmung des Rahmens ist nur die erste, notwendige und wichtige Stufe des rechtswissenschaftlichen Erkenntnisprozesses; ihm müssen sich weitere Stufen anschließen, die mit anderen sozialwissenschaftlichen Methoden diesen Prozess fortsetzen.“86 Die positivistische Rechtsnormtheorie definiert damit den Rahmen der Rechtserkennt H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 260. H. Kelsen, Juristischer Formalismus und Reine Rechtslehre, in: JW (1929), S. 1723 ff., 1726. 85 Vgl. dazu auch U. Lembke, Einheit aus Erkenntnis?, 2009, S. 179 ff. 86 P. Römer, Hans Kelsen und das Problem der Verfassungsinterpretation, in: D. Deiseroth/F. Hase/ K.-H. Ladeur (Hrsg.), Ordnungsmacht? Über das Verhältnis von Legalität, Konsens und Herrschaft, 1981, S. 180 ff., 197. 83
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nis, während die Rechtserzeugungswissenschaft ihren Gegenstand in den diesen Rahmen ausfüllenden „Willenselementen“ findet. In der Reinen Rechtslehre bleibt die Rahmenfunktion der Rechtsnorm allerdings ein bloßes Bild.87 Die Probleme dieser positivistischen Anbindung einer Rechtserzeugungsreflexion treten deshalb erst dort hervor, wo man sich um die rechtstheoretische und methodische Einlösung der Metapher von der Rechtsnorm als Rahmen der Rechtserzeugung bemüht. Diesen Anforderungen stellt sich ein Ansatz, der die Rahmenmetapher dadurch einlösen will, dass er den positivistisch verstandenen Inhalt der Rechtsnorm als falsifizierende Instanz für den Prozess der Rechtserzeugung begreift. Auch hier wird unter dem Stichwort der „normativen Produktion“88 der Gedanke der Rechtserzeugung zunächst aufgenommen, um dann in spezifischer Weise modifiziert zu werden: „Da es der Rechtsarbeiter ist, der entscheidet, und die Rechtsnorm nicht vorentschieden hat, ist er es auch, der das geltende Recht in seiner Normumsetzung erst erzeugt.“89 Fraglich ist allerdings, was man sich unter Stichwort „Normumsetzung“ vorstellen soll. Heißt dies lediglich, dass der Rechtsarbeiter gewissen Bindungen an den Normtext und methodischen Standards unterliegt, oder ist ihm die zu erzeugende Rechtsnorm auch schon in irgendeiner unvollständigen Weise im Text vorgegeben? Der Fortgang der Argumentation macht deutlich, dass die zweite, den Abstand zum Positivismus wieder auf hebende Variante gemeint ist: „Sofern die (…) These, dass die Rechtsnorm keinen substantiell erfassbaren Inhalt habe, besagen soll, dass die in verbindlichen Rechtstexten formulierte Norm noch keinen normativen Gehalt hat, dürfte sie zu stark sein.“90 Und kurz darauf wird explizit die Annahme formuliert, „dass die in verbindlichen Rechtstexten formulierten Normen durchaus schon normativen Gehalt haben und insofern auch Normen sein können. Wichtig und festzuhalten ist jedoch, dass unter der Perspektive der Rechtsproduktion im Verbund von Gesetzgebung und Rechtsprechung diese Normen nicht als etwas Vorentschiedenes nur zu ermitteln und anzuwenden, sondern in der weiteren Rechtsarbeit erst zu erarbeiten und auszugestalten sind.“91 Damit geht dieser Ansatz deutlich von einer lex ante casum aus, deren vorausgesetzte Geltungssubstanz eben nur noch nicht vollständig ist im Hinblick auf den zu lösenden Fall und deswegen durch dogmatische Aussagen ergänzt werden muss. Die herkömmliche Lehre von der Anwendung einer im Text vorgegebenen Rechtsnorm wird damit in ihrer Reichweite nur eingeschränkt, nicht aber zugunsten einer Rechtserzeugungsreflexion überwunden. Mit der Gleichsetzung von Gesetzestext und noch unentfalteter Rechtsnorm bleibt dieser Ansatz letztlich doch im Rahmen der alten „Juristischen Methodik“. Entsprechend wird auch die der Dogmatik zugewiesene Rolle normativer Produktion eingeschränkt. Ziel der Dogmatik soll es sein, das positive Recht zu ermitteln und das aufgrund des positiven Rechts geltende Recht zu erkennen. Danach gibt es also normative Gehalte, die einem aussageunabhängig bestimmbaren Gegenstand gelten Ebd., S. 199. J. Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 6 und durchgängig; vgl. zusammenfassend zur arbeitsseitigen Rechtsproduktion ebd., S. 363 ff. 89 Ebd., S. 275. 90 Ebd. 91 Ebd., S. 279. 87
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des Recht in deskriptiv-empirischer Weise entnommen werden können und jeder normativen Produktion vorausgehen.92 Es kehrt so die nur scheinbar antipositivistische Zwei-Welten-Lehre wieder, welche mit ihrem dualistischen Denken die Prämissen der „Juristischen Methodik“ nicht überwindet, sondern nur verdoppelt. Man glaubt, an der Theorie einer zumindest teilweise im Text vorgegebenen Rechtsnorm festhalten zu müssen, weil man befürchtet, der richterlichen Bindung sonst ihren Gegenstand zu entziehen. Mit dem Ziel, der richterlichen Bindung einen festen Bezugspunkt zu verschaffen, lässt sich formulieren: „Soweit diese Norm solchen Gehalt hat, kann sie auch mögliche Zurechnung beschränken.“93 Die im Ansatz richtige Bestimmung des richterlichen Handelns wird in den zu engen Rahmen der positivistischen Rechtsnormtheorie gepresst: „Rechtsanwendung ist ein Vorgang des ‚Law in making‘, des ‚Law in action‘ und bleibt doch positivistisch gebunden an die höherrangige Norm.“94 Zu unterstreichen wäre hier das Wort „positivistisch“. Die für eine Rechtsanwendungslehre entwickelte positivistische Theorie der Gesetzesbindung soll auch für die Rechtserzeugung den semantisch vorgegebenen Rahmen festlegen. Der Rahmen bezieht sich also semantisch auf den Inhalt der Rechtsnorm.95 Daraus entwickelt sich dann die aus dem Film „Highlander“ bekannte Argumentform: „Es kann nur einen geben.“ Eine Mehrzahl von Lesarten mag zwar innerhalb des Rahmens möglich sein. In Bezug auf die durch den Rahmen gezogene Grenzziehung bleibt hinsichtlich zulässiger (innerhalb des Rahmens) bzw. unzulässiger (außerhalb des Rahmens) Lesarten allerdings nur die Alternative von Wahrheit und Irrtum. Aber Semantik besteht aus Gebrauchsbeispielen. Man findet hier kein Bauwerk, welches viele Zimmer umfasst, sondern zumeist getrennte Gebäude. Wenn die Bedeutung des Wortes in den Worten liegt, die regelmäßig in seiner Umgebung auftreten, gibt es keinen umfassenden Kontext, sondern viele verschiedene. An die Stelle eines einzigen Rahmens tritt eine Vielzahl von Kontexten. Die Vorstellung einer räumlichen Trennung von Rechtsanwendung und Rechtserzeugung scheitert damit an den sprachlichen Möglichkeiten des Rechts. Man vergisst dabei, dass die Romanze einen übermenschlichen Helden voraussetzt. Der richtige Highlander besiegt den falschen mit gottgleichen Fähigkeiten. Dem Richter aber fehlt das Auge Gottes. Deswegen kann er für die Bedeutung des fraglichen Normtextes keine versionslose Beschreibung liefern. Ohne göttliche Fähigkeiten bleibt er notwendig in Lesarten verstrickt. Wenn er dies vergisst, bleibt er unter dem Niveau des Problems, und aus der Romanze wird eine Komödie. Es gibt bessere und schlechtere Lesarten, aber nicht die einzige Wahrheit. Daher kann man bei der Rechtserzeugung keine klare Scheidung von Erkenntnis und Erzeugung vornehmen. Die beiden Elemente bleiben in jeder Regelbefolgung notwendig verknüpft. 92 Vgl. zu dieser Zweiteilung: J. Harenburg, Rechtsdogmatik (Fn. 88), S. 4 4: „Eine dogmatische Aussage ist demgemäß die Behauptung einer Rechtsregel bzw. einer Norm, für die der Anspruch rechtlicher Geltung erhoben wird und die dem Gesetz in deskriptiv-empirischer Interpretation zu entnehmen ist.“ Zum Ziel der Dogmatik allgemein vgl. S. 270 f. 93 Ebd., S. 275. 94 Vgl. P. Römer, Verfassungsinterpretation (Fn. 86), S. 198. 95 Vgl. dazu auch U. Lembke, Einheit aus Erkenntnis?, 2009, S. 178 ff.
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Aus dem Scheitern des räumlichen Rahmenmodells ist zu folgern, dass Juristische Methodik nicht primär der Erzeugung von Ergebnissen dient, sondern vornehmlich zur Kontrolle. Nötig ist dazu aber noch ein zweiter Schritt: Herkömmlich neigt man dazu, der „Juristischen Methodik“ Gewissheit zuzusprechen und den eventuell herangezogenen Elementen des Fremdwissens Ungewissheit. Auch die Gewissheit dieser Unterscheidung muss man zur Ungewissheit hin auflösen. Tatsächlich verpflichtet das Gesetz nur zur bestmöglichen Entscheidung unter den Bedingungen der Ungewissheit. Wie aber sieht die beste Entscheidung aus, wenn man, nach Eifert, Rechtsanwendung und Rechtserzeugung zwar begrifflich, aber nicht faktisch aufspalten kann? Wenn man unter der Bedingung von Ungewissheit entscheiden will, genügt es nicht, Zweifel wegzuschieben. Sondern man muss sie abarbeiten. Der Weg dazu liegt im Verfahren und der dort möglichen Argumentation. Argumentieren kann man über alle Steuerungsmittel und -zwecke, aber die Ergebnisse muss man am Gesetz kontrollieren. Die Frage lautet dann, wie das gemacht werden kann, wenn die sprachliche Bedeutung des Textes nicht einfach verfügbar ist.
2. Gewährleistungsstaat: Juristen garantieren einen fairen Streit um das Gesetz „Juristen arbeiten adversatorisch. Beide Parteien erhalten die Chance, ganz verschiedene Geschichten zu erzählen. Im Verwaltungsverfahren und vor den Verwaltungsgerichten kann sich der Bürger auch darauf beschränken, die Plausibilität der Geschichte der Verwaltung zu erschüttern. Das ist nicht nur eine Spielart der hermeneutischen Methode, das adversatorische Verfahren ist auch eine weitere Antwort auf das Herrschaftsproblem. Es dient der prozeduralen Fairness.“96 Diese Beschreibung kann man in ganz verschiedene Richtungen wenden. Nur ein Teilaspekt davon ist ein Verstehensproblem. Das ganze Verfahren des gegenläufigen Erzählens verweist auf einen Prozess der Argumentation. Es wäre also naheliegender, mit der Argumentationstheorie als Analyseinstrument in das einzusteigen, was die Juristen tun. Es geht also um mehr als Begriffsdefinition und logische Verknüpfung. Wenn die Sprachwissenschaft eine Sachdiskussion empirisch untersucht, findet sie Folgendes: Die zentralen Begriffe wie Verantwortung und Demokratie werden etwa in einer Diskussion über das Flüchtlingsproblem nicht einfach angewendet, sondern in Abgrenzung zur Position des Gegners allmählich verändert.97 So ist es auch in einem Rechtsstreit. Die meisten Begriffe können einfach routinemäßig angewendet werden. Man merkt das daran, dass im Verfahren kein Streit entsteht. Die zentralen oder streitigen Begriffe unterliegen dagegen einem Aushandlungsprozess. Die Semantik wird über Argumente und Gegenargumente erst hergestellt. Die Logik hat dabei eine begleitende Rolle als Bühne für die semantische Entwicklung.98 Ist ein Ch. Engel, Herrschaftsausübung (Fn. 4 0), S. 233 f. Vgl. dazu A. Deppermann, Semantische Verschiebungen in Argumentationsprozessen: Zur wechselseitigen Elaboration von Semantik, Quaestiones und Positionen der Argumentierenden, in: G.-L. Lueken (Hrsg.), Formen der Argumentation, 2000, S. 141 ff, m.w.N. 98 Vgl. dazu und zum Folgenden H. Wohlrapp, Über nicht-deduktive Argumente, in: P. Klein (Hrsg.), Praktische Logik. Traditionen und Tendenzen, S. 217 ff.; ders., Jenseits von Logizismus und 96 97
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aufgebockter Wohnwagen eine bauliche Anlage oder ist er es nicht? Es geht bei solchen Streitigkeiten nicht einfach um die Subsumtion, sondern es geht zugleich darum, was eigentlich die Regel ist. Das entscheidende Problem besteht darin, den Begriff der baulichen Anlage, die durch diesen Fall in Frage steht, angesichts dieser Herausforderung neu zu bestimmen. Bei genauer Betrachtung wird also nicht ein stabiler Begriff angewendet, sondern wir bemühen uns um eine Entscheidung, wie seine Bedeutung weiter zu entwickeln oder zu stabilisieren ist. Dass wir uns dabei auf Vorbildfälle beziehen, entspricht dem nicht nur im Recht, sondern auch generell dem in der Sprache vorhandenen Bedürfnis, eine Begriffsentwicklung in die Kontinuität der bisherigen Verwendung zu stellen. Dabei stützen die Folgerungen in derselben Weise die Prämissen, wie diese die Konklusionen stützen. Dieser wechselseitige Einfluss gibt der juristischen Argumentation eine retroreflexive Struktur.99 Die dabei vorausgesetzten Zusammenhänge sind für logische Schlüsse oder harte theoretische Aussagen nicht stabil genug. Durch Zusammentreten von Argumenten erreicht man aber trotzdem eine gewisse Festigkeit, welche durch selbstbezügliche Argumentation die eigenen Voraussetzungen verstärkt. Die Beteiligten müssen ihre Thesen durch Auf bieten von Gründen und Ausräumen von Einwänden als gültig erweisen. Ihre Positionen werden vom jeweiligen Verfahrensgegner zerpflückt, der ihre Übergänge durch Einwände wieder auseinandernimmt. Jetzt muss der betreffende Verfahrensbeteiligte diese Einwände entkräften, indem er die Möglichkeit des Übergangs wieder neu zusammensetzt. Dieser Vorgang der inhaltlichen Argumentation findet sozusagen auf der Bühne statt.100 Aber in den Kulissen wirken die logischen Strukturen. Alle sachlichen Repliken sind nicht durch eine Ausbildung in Logik oder Argumentationstheorie zu gewinnen. Dazu braucht man vielmehr eine juristische Ausbildung und ein außergewöhnliches Maß an Phantasie. Die logischen Strukturen bleiben demgegenüber in besonderer Weise stabil gegen die Inhaltsmodellierung des Argumentierens. Die Logik brauchen wir also wie Atemluft beim Reden als festen Dreh- und Angelpunkt für eine Theorie im Fluss. Entscheidend ist die semantische Ausarbeitung der Begriffe. Und genau dies taucht in der „Juristischen Methodik“ nicht auf. Erst am Ende, wenn die Begriffe feststehen, kann man rechnen und den so genannten Syllogismus anwenden. Die alte „Juristische Methodik“ hat den ganzen Prozess der Erzeugung der Semantik streitiger Begriffe unsichtbar gemacht. Diese Invisibilisierung ist noch nicht rückgängig gemacht. Natürlich gibt es im Rechtsstreit Verstehen. Das, was unstreitig bleibt, ist verstanden. Das mag man Hermeneutik nennen. Aber entscheidend ist die Argumentation. Die alte „Juristische Methodik“ hat das Eigene der Jurisprudenz zu eng bestimmt und damit das Wesentliche am Prozess der Rechtserzeugung aus der Reflexion aus-
Zweckrelativismus. Zur Rolle der Logik im Argumentieren, in: Dialektik 1/1999, S. 25 ff.; grundlegend ders., Der Begriff des Arguments, Über die Beziehung zwischen Wissen, Forschen, Glauben, Subjektivität und Vernunft, 2008. 99 Vgl. dazu H. Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 2008, Kap. 9, Reflexivität. 100 Vgl. dazu G.-L. Lueken, Paradigmen einer Philosophie des Argumentierens, in: ders. (Hrsg.), Formen der Argumentation, 2000, S. 13 ff.; P. Stekeler-Weithofer, Schlüsse, Folgen und Begründungen. Eine regellogische Perspektive auf der Grundlage begrifflicher und empirischer Wahrheit, in: G.-L. Lueken (Hrsg.), Formen der Argumentation, 2000, S. 107 ff.
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geklammert.101 Halten wir zunächst fest: Die Steuerung der Einbeziehung fremden Wissens muss von der Sprache des Rechts her erfolgen. Begründet wird dies damit, dass bei Verwendung fremden Wissens die normativen Standards, soweit sie bindungsfähig sind, eingehalten werden müssen.102 Was ist also die Bedeutung eines Rechtsbegriffs? Die empirische Methode der bereits erwähnten Kookkurrenzanalyse103 geht davon aus, dass die Bedeutung eines Wortes durch die Wendungen bestimmt wird, die in seiner Umgebung regelmäßig erscheinen. Dies kann man heute, bezogen auf Textkorpora, mit dem Computer auswerten. Aber natürlich gibt es auch hier Grenzen. Denn es wird schnell ein Komplexitätsniveau erreicht, das zwar dem holistischen Charakter der Sprache besser gerecht wird, aber praktisch nicht mehr abgearbeitet werden kann. Wenn man in einer Liste von Kollokationen die neu hinzukommenden Wörter mit ihren Kollokationen auswerten würde, würde sich dadurch die Zahl der Wörter des jeweiligen Wortfeldes expotenziell erhöhen. Diesbezüglich wird – wie die Entwicklung entsprechender Techniken im Rahmen von Statistikverfahren zeigt – die Unterstützung durch zunehmend intelligenter werdende Suchmechanismen und Wörterbuch-gestützte Informationsretrieval der Linguistik und dem Recht zwar zweifellos nützen.104 An dem Vorbehalt des praktisch Möglichen kommt man aber nicht vorbei. Wenn man über eine Kookkurrenzanalyse den Sprachgebrauch möglichst umfassend erhebt, findet man eine Vielzahl divergierender Verwendungen. Daraus ergeben sich Muster, aber eben noch keine Entscheidung über die Vorzugswürdigkeit dieser Muster. Denn der „Computer ist strikt an in der Vergangenheit programmierte Befehlssequenzen gebunden, die sich weder automatisch noch autodidaktisch an überraschenden Kontextänderungen anpassen können“.105 Zur Grundlage der Entscheidung könnte man verschiedene Gesichtspunkte anwenden. Etwa den engsten oder den weitesten Sprachgebrauch oder den zahlmäßig häufigsten. Ein gemeinsamer Kern aller Verwendungen findet sich nicht immer und ein bloßes Abzählen der Häufigkeit stellt noch keine Entscheidung über die Vorzugswürdigkeit für eine bestimmte Fallkonstellation dar. Die Erfassung des Sprachgebrauchs durch eine Kookkurrenz analyse wirkt also zunächst einmal zentrifugal. Für die Entscheidung einer Rechtsfrage brauchen wir aber eine zentripetale Kraft der Auswahl. Diese Auswahl macht aus der Addition von Sprachgebräuchen eine Gestalt. Und genau hierin liegt die Aufgabe dogmatischer Theorie. Aber auch diese im Bereich des öffentlichen Diskurses entstehende Notwendigkeit einer Gestaltbildung kann eine Fallentscheidung
101 Nach M. Jestaedt, Braucht die Wissenschaft (Fn. 63), S. 23 f. gilt das für die Juristische Methodik generell, so dass sich die Notwendigkeit einer fachspezifischen Wissenschaftstheorie ergibt. Unter welcher Überschrift man allerdings die Reflexion der Rechtserzeugung betreibt, dürfte nicht der entscheidende Punkt sein. 102 W. Hoffmann-Riem, „Außerjuridisches Wissen“, Alltagstheorien und Heuristiken im Verwaltungsrecht, in: Die Verwaltung 49 (2016), S. 1 ff., 21. 103 Siehe hierzu die bereits oben in Fn. 78 angegebene Literatur. 104 H. Speer, Grenzüberschreitungen, Vom Wörterbuch zum Informationssystem. Das deutsche Rechtswörterbuch im Medienwandel, in: F. Müller (Hrsg.), Politik (Neue) Medien und die Sprache des Rechts, 2007, S. 261 ff. 105 Th. Vesting, Die Medien des Rechts: Computernetzwerke, 2015, S. 55.
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nicht immer vorgeben. Dazu bedarf es häufig der Argumentation im Verfahren, welche Sprachgebräuche selegiert und synthetisiert106 über Rahmenanalyse107. Auch die maschinelle Auswertung von Quellenkorpora kann die Entscheidung nicht ersetzen. Im Zentrum dieser Arbeit wird immer die Argumentation im Verfahren stehen. Der Informationszuwachs, den die neuen Medien liefern, wäre ohne diese Argumentation eine bloße Addition. Das Wissen bedarf einer qualitativen Vernetzung, die in sich geordnet und strukturiert ist. Technische Informationszugänge liefern keine Semantik oder ein interpretiertes Wissen, nur tote Mengen und Zeichen. Es gibt also tatsächlich ein Risiko der neuen Möglichkeiten der großen Datenmengen, nämlich dass mit Hilfe von Textmassen ausladend wenig gesagt wird und dabei die entscheidende Leistung der Verarbeitung von Informationen vergessen wird. Aber dieses Risiko bestand schon bei allen Medienrevolutionen und bisher ist es immer nach einiger Zeit gelungen, die Chancen des neuen Mediums zu nutzen. Man kann auf der Grundlage von Korpora und genauerer Analysen die Vielfalt und Vernetztheit der jeweiligen Sprache besser sichtbar machen. Aber genau darin liegt das Risiko für den Irrglauben in der Jurisprudenz, im Wörterbuch stecke die Wortlautgrenze und man könne sie dort einfach nachlesen. Wenn man jetzt computerbasiert ein Mehr an Informationen auffinden kann, sind wir nicht mehr so stark von der Kompetenz des jeweiligen Wissenschaftlers oder Richters abhängig. Wir können die Belegstellen gegebenenfalls selbst aufsuchen. Dieses Vorgehen liefert uns nicht den Sinn des Gesetzes, aber es liefert uns eine Fülle von Möglichkeiten, vorgeschlagene Lesarten zu verstärken oder zu relativieren. Ohne diese Grundlage arbeiten wir nicht nach den Regeln der Kunst. Aber die Notwendigkeit, über den Konflikt der Lesarten juristisch zu entscheiden, kann uns die beste Kookkurrenzanalyse und das beste Wörterbuch nicht abnehmen. Wörterbuch und Computer helfen uns also, eine große Zahl von Bedeutungsvarianten zu entdecken und auch dabei, diese auf Kontexte zu beziehen. Aber eine Sprachgrenze liefern sie nicht. Denn die einzige Grenze in der Sprache ist die Verständlichkeit. Die empirische Analyse entlastet uns also nicht von dem Streit, welche der gefundenen Verwendungsweisen für unsere Zwecke die beste ist. Was bleibt damit vom Eigenen des Rechts? Natürlich die direkte sprachliche Steuerung durch das Gesetz in den unstreitigen Fällen. Vor allem aber die „Gewährleistung“ des Argumentationsprozesses in den streitigen Fällen. In allen wichtigen Fragen ist also die Steuerung durch das Gesetz indirekt. Das Gericht muss hier den Relevanzhorizont der Argumentation im Auge behalten und zur Not von Amts wegen entweder erweitern oder einschränken. In der Hauptsache muss es aber bei dem Streit um die Bedeutung der Begriffe Waffengleichheit und Fairness garantieren.108 Das erfordern die rechtsstaatlichen Maßstäbe. Schließlich ist in der Begründung darzulegen, welche Argumente den Stand der Geltung erreicht haben, also alle Einwände integriert oder widerlegt haben.109 Der Staat ist also weder ein Eingriffsstaat, der den Bürgern die Sprache entzieht, noch ein Leistungsstaat, der für sie spricht und die J. Habermas, Ach, Europa: Kleine politische Schriften, 2008, S. 162. Vgl. dazu H. Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 2008, Kap. 5, Rahmenstrukturen, S. 237 ff. 108 Ch. Becker, Was bleibt? Recht und Postmoderne, 2014, S. 130 ff. 109 Vgl. dazu grundsätzlich H. Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 2008, Kap. 7. 106 107
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Bedeutung nach Bedürftigkeit verteilt. Vielmehr ist der Staat auch hier ein Gewährleistungsstaat,110 der sicherstellt, dass der Streit um Bedeutung auf dem richtigen Niveau geführt und entschieden wird.
3. Kann man einem Gesetz folgen, das man erst erzeugt? Somit stellt sich die grundlegende Frage, wie man von Verwendungsbeispielen zur Formulierung einer Sprachregel gelangt. Der Sprachphilosoph Friedrich Waismann beschreibt dieses Problem folgendermaßen: „Ein Ausdruck ist dann definiert, wenn die Situation beschrieben ist, in die er gebracht werden soll. Nehmen wir für einen Augenblick an, wir könnten Situationen vollständig und ohne etwas auszulassen beschreiben (wie beim Schachspiel), dann ließe sich eine erschöpfende Liste all der Bedingungen aufstellen, unter denen der Ausdruck zu gebrauchen ist: wir würden mit anderen Worten eine vollständige Definition konstruieren, das heißt ein Denkmodell, das ein für allemal sämtliche Fragen eines möglichen Gebrauchs vorweg nimmt und entscheidet. Da wir aber in Wahrheit nie die Möglichkeit eines unvorhergesehen auftauchenden Faktors ausschließen können, gelangen wir nie zur absoluten Sicherheit.“111 Jede neue Fallkonstellation kann also die Regel verschieben.112 Daher kann eine Sprache oder ein Text nicht als geschlossen betrachtet werden, sondern durch jede Interpretation kann das vorhandene Zeichenmaterial neu und anders differenziert werden. Lässt sich dann aus dem „open texture“-Argument von Waismann aber ableiten, dass Vagheit zur Eigenschaft der ganzen Regel wird?113 Natürlich haben wir bei jeder Grenze das Problem der Unschärfe, was mittlerweile auch in Logik und Sprachphilosophie anerkannt wird.114 Aber wie kann man mit unscharfen Grenzen vernünftig umgehen? Das macht man über Argumentation und normative Bewertung der vorgeschlagenen Regeln. Das heißt, Vagheit macht deutlich, dass es bei der Aufstellung 110 Vgl. dazu A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft (Fn. 2), S. 1 ff., Rn. 49 zu heute diskutierten Staatsleitbildern. 111 F. Waismann, Verifizierbarkeit, in: R. Bubner (Hrsg.), Sprache und Analysis – Texte zur englischen Philosophie der Gegenwart, 1968, S. 154 ff., 160 f. 112 In der Diskurstheorie des Rechts wird dieses Problem der Regelformulierung unter dem verkürzenden Stichwort „Defeasibility“ rubriziert. (Vgl. dazu C. Becker, Begründen und Entscheiden, 2008, S. 135.) Nachdem es erwähnt wurde, wird es sogleich beiseite geschoben mit folgender Formulierung: „Im Vorgriff auf den noch zu entwickelnden Begriff des tatsächlichen Diskurses besteht eine diskurstheoretische Möglichkeit zu erklären, warum Regeln defeasible sind, also die Ausnahmen zu Regeln nicht aufzählbar sind, darin, dass uns nur der tatsächliche Diskurs mit beschränkten Erkenntnismöglichkeiten dessen, was richtig ist, zur Verfügung steht. Diese Überlegung zeigt, dass Regeln nur dann endgültige konkrete Handlungsanweisungen beinhalten können, wenn die Voraussetzungen des in allen Hinsichten idealen Diskurses vorlägen, wenn wir also etwa unendlich viel Zeit hätten und alles wüssten.“ (Ebd., S. 135 mit Fn. 475.) Diese Erklärung könnte auch die Fortexistenz der in der Neuzeit ausgestorbenen Wissenschaft der Angelogie begründen, als Vorgriff auf das Jüngste Gericht. Tatsächlich muss man sich von der Vorstellung vorgegebener Regeln, welche das Sprechen steuern, verabschieden. Regeln sind ein nachträgliches methodisches Hilfskonstrukt des Sprachbeobachters. 113 S. Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, 2012, S. 238. 114 Vgl. dazu D. Gruschke, Vagheit im Recht: Grenzfälle und fließende Übergänge im Horizont des Rechtsstaats, 2014, vor allem S. 172 ff.
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von Regelformulierungen um Sprachnormen geht. Die Grenze zwischen Bedeutungskern und Hof wird also nicht von der Regel, sondern von den Anwendern bestimmt.115 Ohne Fälle lassen sich Regeln nicht beurteilen.116 Man muss also nicht die Regel verwerfen, sondern die Vorstellung einer Steuerung des Sprechens durch die Regel. Aus dem Scheitern des Regelplatonismus folgt zunächst, dass wir im Gesetzestext keine Sprachregeln finden. Wir können sie nicht einfach erkennen, sondern wir müssen sie probeweise formulieren. Dazu verknüpft man gelungene Gebrauchsbeispiele unter normativer Bewertung zu einem vorläufigen Ganzen als Horizont. Man bewegt sich damit immer relativ zu einem Korpus von Beispielen und muss den überschießenden Anteil einer Regelformulierung offen legen. Diesen überschießenden Anteil könnte man auch eine Sprachnorm117 nennen. Methodisch kann man sich damit nicht auf die grammatische Auslegung beschränken, sondern muss, wie der Lexikologe, auch Zusammenhang, Zweck und Geschichte einer Wendung berücksichtigen. Die juristische Spracharbeit wird also nach Verabschiedung des Regelplatonismus komplexer. Gesetze können den Rechtsanwender nicht durch eine Regel der Bedeutung binden. Denn es gibt deren viele. Deswegen folgen wir der Regel grundlos, das heißt ohne sprachliche Metaregeln.118 Aber das heißt eben nicht grundlos in dem Sinne, dass wir keine Argumente finden können. Über die Aufstellung einer Sprachnorm und deren Angemessenheit kann man diskutieren und vernünftig entscheiden, wenn man spezifische Kontexte berücksichtigt. Wie Wittgenstein schon für den Begriff der Regel gezeigt hat, können Normen nie in eine irgendwie geartete äußerliche Beziehung zu ihrer Verwendung gesetzt werden.119 Das Befolgen leitet sich weder aus der Regel ab, noch zeichnet die Regel ihre Befolgung vor: „Die Regel steht ihrer Aktualisierung nicht als eine Instanz gegenüber, die außerhalb dieser Aktualisierung Bestand hätte. Es gibt kein Auseinanderstehen zwischen Regel und Aktualisierung derart, dass man betrachten könnte, inwieweit die Aktualisierung der Regel gerecht wird.“120 Vielmehr zeigt sich die Regel erst in der Praxis ihrer Anwendung. „Regel“, sagt Wittgenstein, ist das, was „sich, von Fall zu Fall der Anwendung, in dem äußert, was wir ‚der Regel folgen‘ und was wir ‚ihr entgegenhandeln‘ nennen.“121 Und das wiederum entscheidet sich daran, welche Ereignisse wir als die Anwendung von Regel auszeichnen.122 Indem wir dies tun, entziehen wir diesen Bezug unserem Handeln, „entäußern“ ihn, um Ebd., S. 239. Ebd., S. 241 f. 117 R. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? 1989, S. 218, 275, m.w.N. zur Diskussion in der Sprachwissenschaft. 118 Vgl. dazu auch I. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009, S. 95 ff. 119 Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Band 1, 1984, §§ 195 ff. Dazu auch J. McDowell, Wittgenstein on Following a Rule, in: Synthese 58, (1984). 120 G. W. Bertram, Die Dekonstruktion der Normen und die Normen der Dekonstruktion, in: A. Kern/Ch. Menke (Hrsg.), Philosophie der Dekonstruktion, 2002, S. 289 ff., 296. 121 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Band 1, 1984, § 201. 122 Zur Individuierung von Handlungen als Ereignissen und der entsprechenden Form von Handlungssätzen D. Davidson, Die logische Form von Handlungssätzen, in: ders. Handlung und Ereignis, 1990, S. 155 ff. 115 116
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diesem durch den Verweis auf die andere Anwendung als Fall von Regel ein Maß zu setzen. Zugleich hat das normativ anleitende Moment darin keinen anderen Sitz als in diesem Verhältnis der Beobachtung. Ganz analog dazu, dass wir die Welt nicht wahrnehmen, sondern sie uns durch die Beobachtung schaffen, ganz so befolgen wir nicht Regeln, sondern wir machen sie uns mit der Frage der Anwendung zu einer solchen. Wir machen „es uns zur“ Regel, in dieser und keiner anderen Weise vorzugehen. In der fallorientierten Arbeit der Gerichte zeigt sich ein Verhältnis von Immanenz und Transzendenz, welches Normativität konstituiert.123 Die Anwendung greift nicht direkt auf die Norm zu. Vielmehr wird diese erst eingesetzt: „Die Norm wird dadurch erneuert, dass der neue Fall in sie eingetragen wird. Sie tritt dem Fall nicht als gegebene Größe gegenüber. Der Eintrag macht sie zu einer neuen, immanenten Größe.“124 Dies kann aber nur die eine Seite der Medaille sein. Zwar ist damit das Verhältnis von Norm und Fall grundsätzlich als ein internes markiert. Bliebe es aber dabei, so fielen allerdings Norm und Anwendung amorph in sich zusammen: „Im Sinne der Immanenz gibt es keinen Abstand zwischen Norm und Anwendung. Es ist unmöglich, zwischen die Norm und ihre Anwendung zu treten und zu überprüfen, ob das eine auf das andere passt oder umgekehrt.“125 Das Normativität ausmachende, interne Verhältnis von Anwendungsfall und Normauszeichnung hat sich seiner selbst gewahr zu werden. Fälle lassen sich ohne Regeln nicht beurteilen.126 Die Blindheit des Normativen in der Anwendung ist also durch Beobachtung der darin liegenden Beobachtung von Handeln als normativ gehaltvoll aufzuheben. Genau hier kommt die Transzendenz der Norm ins Spiel. Wenn die Norm angewendet wird, verschwindet sie im Fall. Aber wenn man ihre Anwendung als geglückt und vorbildlich beobachtet, wird sie als Anwendung eines Anderen wieder vom Fall abgehoben.127 Wenn sich Gerichte also für das Verständnis der Gesetze an Vorentscheidungen orientieren, so tun sie das, weil es gar nicht anders geht. Sprache ist die Verknüpfung gelungener Kommunikationsakte unter mitlaufender normativer Bewertung. Wir müssen tatsächlich umdenken vom Anwenden aufs Erzeugen. Aber das ruhige Dahinfließen des Gesetzes ist nicht mystisch,128 sondern mit Mitteln von Sprach-, Medienwissenschaft und Jurisprudenz zu beschreiben. Die Objektivität des Rechts, das Wiederaufgreifen von Rechtserzeugungsereignissen durch andere, lässt sich im Wege der Berücksichtigung sprachlicher Normativität durchaus erklären. Der Ursache-Wirkungsgedanke von Regel und Anwendung muss aber nicht nur umgekehrt, sondern auch disloziert werden, von der Regelebene auf die Fallebene oder von der langue auf die parole. Dabei zeigt sich Folgendes: Ein Normtext hat tatsächlich nicht eine Bedeutung. Aber deswegen hat er nicht gar keine Bedeutung. Es fehlt nur ein endgültiges Fundament. Beim Schach wäre dies eine Figur, die alle anderen schlägt und selber nicht geschlagen werden kann. Damit könnte das Spiel nicht mehr funk123 Grundlegend J. Derrida, Gesetzeskraft, 1991; G. W. Bertram, Dekonstruktion (Fn. 120), S. 289 ff., hier vor allem S. 296 ff. 124 G. W. Bertram, Dekonstruktion (Fn. 120), S. 296 ff. 125 Ebd. 126 S. Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, 2012, S. 296. 127 G. W. Bertram, Dekonstruktion (Fn. 120), S. 297. 128 S. Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, 2012, S. 267 ff.
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tionieren. Die wörtliche Bedeutung ist ein solches letztes Fundament, welches einen bestimmten speziellen Kontext und eine bestimmte Verständnisweise sakrosankt macht. Wörtliche Bedeutung ist Fundamentalismus in der Methodik. Diese Kon struktion ist heute nicht mehr haltbar. Aber deswegen kann man nicht Bedeutung und Sprachregel abschaffen. Es muss in jedem Spiel einen offenen Ereignisraum geben, in dem man argumentieren kann. Das Gesetz bindet nicht durch seinen Inhalt, sondern als Form. Aber diese Form ist nicht leer, sie ist übervoll mit gegenläufigen Lesarten. Dieser Streit ist zu klären. Sonst hätte ein Verfahren keinen Sinn. Im Recht gibt es eine Grundparadoxie, die darin besteht, dass wir an Normen gebunden sind, die wir selbst schaffen. Ein solches Paradox muss praktisch entfaltet werden. Dies geschieht, indem wir die Norm als Form gemeinsam voraussetzen, aber über ihren Inhalt streiten. Zwischen dem „Dass“ der Norm und dem „Was“ ihres Inhalts kann nicht die Erkenntnis, sondern nur die Praxis der Argumentation eine vorläufige Brücke schlagen. Normativität ist kein dem Handeln vorgegebener Maßstab, sondern eine perspektivische Form, welche die Kommunikationsteilnehmer sich gegenseitig unterstellen. Die Bindungen der Rechtserzeugung sind keine Handschellen. Bedeutung lässt sich nicht einfrieren, und der Richter muss handeln. Sie sind aber auch keine Spinnweben, die man einfach abstreifen kann. Sie gleichen eher elektronischen Fußfesseln. Wir können nicht jede Gefahr damit von vornherein abwehren. Aber wir können sie mindestens verorten.
Mehr Wissenschaft wagen! Die uneingelösten Versprechen der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft von
Prof. Dr. Sophie Schönberger, Universität Konstanz Inhalt I. Was ist die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft? Auf der Suche nach einem Phantom . . . . . . . . . . 511 II. Was will die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft? Auf der Suche nach Fragestellung und Methode . 513 1. Methode, Perspektive, politisches Programm? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 2. Konstruktion als Handlungs- und Entscheidungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 3. Steuerungstheoretischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 4. Realbereichsanalyse, Wirkungs- und Folgenorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 5. Inter-, multi- und transdisziplinäre Öffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 6. Berücksichtigung von Referenzgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 7. Erkenntnisinteresse und Problembeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 III. Der Elefant im Raum: Wissenschaftsfragen und Machtfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 IV. Mehr Verwaltung, mehr Recht, mehr Wissenschaft! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528
I. Was ist die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft? Auf der Suche nach einem Phantom Bescheidenheit ist ihre Sache nicht. „Die Proklamation der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“, so lautet die Selbstbeschreibung in einem der wesentlichen Referenztexte, „hat zu einer Zäsur in der Arbeit am Verwaltungsrecht geführt.“1 Dieser selbstformulierte Anspruch lässt Großes erahnen. Umso erstaunlicher ist es daher, wie still es in den letzten Jahren um diesen sich als so grundlegend begreifenden neuen Ansatz im Verwaltungsrecht geworden ist. Nach der Diskussion auf der Staatsrechtlehrertagung im Jahr 20082 und dem Erscheinen der zweiten Auflage der 1 Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 71. 2 Appel, VVDStRL 67 (2008), 226 ff.; Eifert, ebd., 286 ff.
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„Grundlagen des Verwaltungsrechts“3 waren größere Auseinandersetzungen in dieser Sache jedenfalls kaum noch zu vernehmen.4 Was aber ist aus der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft mit ihrem revolutionären Versprechen geworden? Und worin genau lag das Neue, das Verführerische, das einen derartigen Umbruch hätte herbeiführen sollen? Sucht man nach den programmatischen Grundlagen, auf die sich die Diskussion um die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft bezieht, stellt man fest, dass sich der Diskurs im Wesentlichen auf drei Texte von Andreas Voßkuhle konzentriert.5 Die zentrale Kurzformel, mit der sich der neue Ansatz hier selbst beschreibt und von anderen Zugängen zur Verwaltungsrechtswissenschaft unterscheiden will, scheint dabei ein versprochener Wandel „von der anwendungsbezogenen Interpretations- zu einer rechtssetzungsorientierten Handlungs- und Entscheidungswissenschaft“ zu sein.6 Dies soll „zu einer Ergänzung und teilweisen Ablösung der rechtsaktbezogenen Betrachtungsweise der Juristischen Methode durch eine problemorientierte Handlungsperspektive“ führen.7 Kennzeichnend für die Arbeit der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft sollen ein steuerungstheoretischer Ansatz sein, der als Analysewerkzeug dient, eine verstärkte Realbereichsanalyse sowie Wirkungs- und Folgenorientierung, eine inter-, multi- und transdisziplinäre Öffnung, die Arbeit mit disziplinenübergreifenden Schlüsselbegriffen und Leitbildern, die verstärkte Berücksichtigung von Referenzgebieten sowie eine erweiterte Systemperspektive.8 Ein zentrales Anliegen der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, das auf diese Weise verfolgt wird, soll in der „(wissenschaftlichen) Rationalisierung nicht normativer Entscheidungsfaktoren“ liegen.9 Trotz dieser verheißungsvollen Formeln wird man heute bei nüchterner Betrachtung feststellen müssen, dass sich das Versprechen der Zäsur nicht erfüllt hat. Eine grundlegende Veränderung in der veröffentlichten Forschung im Verwaltungsrecht ist jedenfalls bisher nicht sichtbar geworden. So wird auch in der zweiten Auflage der „Grundlagen des Verwaltungsrechts“ kaum auf Forschungsergebnisse verwiesen, die 3 Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 2. Aufl. 2012–2013. 4 Ein leichtes Echo fand sich noch in der Diskussion des Staatsrechtslehrerreferats von Stephan Rixen im Jahr 2014, dazu die Diskussionsbeiträge von Reimer, Wißmann und Rixen, VVDStRL 74 (2014), 361; 363 f.; 369 ff. 5 Voßkuhle, FS Schmidt, 2002, S. 171 ff.; ders., in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 1. Aufl. 2006, § 1, ohne konzeptionelle Veränderungen übernommen in die (im Folgenden zitierte) 2. Aufl. 2012; ders., BayVBl. 2010, 581 ff. Dabei verstehen sich die Texte nicht zwingend als aufeinander aufbauend, sondern stimmen passagenweise wortlautgleich überein. 6 Voßkuhle, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 15; ders., FS Schmidt, 2002, S. 171 (177, 180); Hoffmann-Riem, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 10 Rn. 13; Franzius, Die Verwaltung 39 (2006), 335 (369 f.); zusammenfassend auch Appel, VVDStRL 67 (2008), 226 (243); beide Aspekte erfassend, allerdings eher in einem Nebeneinander Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Kap. 1 Rn. 46; kritisch insofern zu der Rhetorik des „von-zu“ Schuppert, AöR 133 (2008), 79 (98 f.). 7 Voßkuhle, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 11. 8 Voßkuhle, ebd., § 1 Rn. 16 ff.; um die letzten beiden Aspekte verkürzt die Darstellung bei Jestaedt, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2008, S. 241 (260 f.). 9 Voßkuhle, ebd., § 1 Rn. 15; ders., in: Burgi/Schönenbroicher (Hrsg.), Die Zukunft des Verwaltungsverfahrensrechts, 2010, S. 13 (28); vgl. auch Franzius, Die Verwaltung 39 (2006), 335 (365).
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zwischen Erscheinen der ersten und der zweiten Auflage veröffentlicht wurden und die Idee der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft weitergetragen und fortentwickelt hätten. Die Gründe hierfür mögen vielfältig sein. Jenseits wissenschaftssoziologischer Aspekte10 wird eine Ursache etwa in der fehlenden stringenten Einlösung des eigenen Anspruchs in den drei Bänden der „Grundlagen des Verwaltungsrechts“ selbst liegen. So wird die theoretisch eingeforderte Arbeit mit Referenzgebieten schon konzeptionell durch das Handbuch, das in seinen Einzelkapiteln allein Materien des allgemeinen Verwaltungsrechts behandelt, nicht eingelöst.11 Auch die Realbereichsanalyse sowie die interdisziplinäre Öffnung werden zwar programmatisch postuliert, von den einzelnen Abschnitten des Handbuchs aber keineswegs stringent und kohärent umgesetzt, so dass sich in vielen Kapiteln der Unterschied zu den bisherigen Arbeiten der Verwaltungsrechtswissenschaft tatsächlich kaum ausmachen lässt.12 Vor allem aber erscheinen für die fehlende Resonanz der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft in der tatsächlichen Forschungsarbeit strukturelle Gründe ausschlaggebend: zum einen die fehlende Klarheit über die eigentliche Natur der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, die schon in ihrer Programmatik nicht deutlich macht, inwiefern sie Methodenanleitung, wissenschaftliche Perspektive oder politisches Programm sein will und damit im Ergebnis kein einlösbares wissenschaftliches Programm anbietet (II.), zum anderen der verschleierte Machtanspruch, der jedenfalls mit einem Teil der Postulate der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft verbunden, mit einer streng wissenschaftlichen Arbeit aber nicht vereinbar ist (III.). Wollte man das Versprechen der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft dennoch nicht aufgeben, sondern einlösen, erforderte dies sowohl eine tatsächliche Perspektiven- als auch eine Methodenerweiterung in der (Verwaltungs-)Rechtswissenschaft, vor allem aber: eine klarere Besinnung auf die jeweils verfolgten originär wissenschaftlichen Fragestellungen (IV.). Die Qualität der Rechtswissenschaft insgesamt könnte von solchen Versuchen nur profitieren.
II. Was will die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft? Auf der Suche nach Fragestellung und Methode 1. Methode, Perspektive, politisches Programm? Versucht man, die aufgezeigten Charakteristika der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft wissenschaftstheoretisch zu systematisieren, fällt zunächst auf, dass die ab strakte Natur der gemachten Postulate keineswegs einfach zu bestimmen ist. Allzu 10 Vgl. zur Wissenschaftssoziologie der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, aus der sich die wissenschaftssoziologischen Gründe für die fehlende Verarbeitung ableiten lassen, etwa Treiber, KJ 2007, 328 ff.; Rixen, Die Verwaltung 42 (2009), 309 (311 f.). Auch die deutliche Kritik bei Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 87 ff., bezieht sich insofern weniger auf das inhaltliche Programm als auf die Proklamation als Neuanfang; ähnlich auch die Kritik bei Starck, JZ 2010, 1170 (1173). 11 Dies ist besonders deshalb erstaunlich, weil das Vorwort zur 2. Auflage der „Grundlagen des Verwaltungsrechts“ darauf verweist, dass die positive Resonanz auf die erste Auflage den Herausgebern als „Ermunterung“ gedient habe, das Arbeiten mit Referenzgebieten beizubehalten. 12 Vgl. auch die Kritik bei Grzeszick, Die Verwaltung 42 (2009), 105 (106 f.).
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unbekümmert werden die relevanten Begriffe der Methode, der Perspektive, der Aufgabe sowie des Anliegens der postulierten Wissenschaft nebeneinander und teils überschneidend gebraucht, etwa, wenn im zentralen Anliegen der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft eine methodische Neuausrichtung gesehen wird, die ihrerseits durch eine Änderung der Perspektive nicht der Verwaltungsrechtswissenschaft, sondern auf die Verwaltungsrechtswissenschaft erreicht werden soll.13 Möglicherweise handelt es sich hierbei jedenfalls teilweise noch um die Fortwirkung der unpräzisen Bezeichnung des „Weimarer Methodenstreits“14, der zwar für die Selbstvergewisserung des Öffentlichen Rechts nach wie vor von erheblicher Bedeutung ist, bei dem es sich aber tatsächlich nicht im eigentlichen Sinne um den Streit über eine wissenschaftliche Methode handelt, d.h. um den richtigen Weg von der Fragestellung zur Erkenntnis,15 sondern eher um eine Auseinandersetzung über eine Theorie vom Recht und damit die der Rechtsauslegung zugrundeliegenden Vorverständnisse,16 die zudem zu einer Zeit geführt wurde, in der Rechtswissenschaft und Rechtspraxis im Öffentlichen Recht noch zu einem geringeren Maße voneinander verselbständigt waren als heute.17 Dieses Problem verschärft sich noch, wenn man in Rechnung stellt, dass nach der eigenen Konzeption die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft erst dann ganz erkennbar werden soll, wenn sie vor der Kontrastfolie der wissenschaftlichen Arbeitsweise nach der sog. juristischen Methode gelesen wird.18 Insofern soll der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft auch kein in sich abgeschlossenes methodisches Konzept zugrunde liegen, sondern eine Reihe unterschiedlicher, aber gleichwohl miteinander verbundener methodischer Elemente.19 Tatsächlich erscheint es jedoch als mehr als zweifelhaft, ob es sich bei den postulierten, die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft konstituierenden Elementen tatsächlich um Aspekte einer wissenschaft So Schuppert, AöR 133 (2008), 79 (99), ohne, dass eine genauere Erläuterung erfolgen würde. Eine ausdrückliche Verbindung jedenfalls zwischen der Vorläuferdiskussion um die Reform des Verwaltungsrechts und den Weimarer Methodenstreit stellt Möllers, VerwArch. 1999, 187 ff., her; kritisch dazu Franzius, Die Verwaltung 39 (2006), 335 (369), der jedoch selbst die erkenntnistheoretische Unsicherheit der Rechtswissenschaft anführt. 15 Statt vieler: Lorenz, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 5, 2. Aufl. 2013, S. 379 ff.; für die Rechtswissenschaft prägnant Röhl, VVDStRL 74 (2015), 7 (9). 16 In diese Richtung auch Röhl, VVDStRL 74 (2015), 7 (9). Möllers, VerwArch. 1999, 187 (188 Fn. 6 ), will allerdings auch hier eine Frage der Methode erkennen, wenn er unter Verweis auf Luhmann Methode definiert als „die (nicht immer explizite) Selbstbeobachtung der Programmierung einer wissenschaftlichen Disziplin“. Interessant ist insofern die fast gleichlautende Formulierung, ebenfalls unter Verweis auf Luhmann, Methode sei „Selbstbeobachtung und [sic!] Programmierung einer wissenschaftlichen Disziplin“ bei Voßkuhle, in: FS Schmidt, 2002, S. 171 (172). Tatsächlich heißt es jedoch bei Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1990, S. 413, Methoden „erzwingen eine Verlagerung des Beobachtens auf die Ebene einer Selbstbeobachtung zweiter Ordnung,“ womit die Selbstbeobachtung nicht identisch mit der Methode ist, sondern lediglich deren notwendige Folge. Vorsichtig zustimmend zu den Überlegungen zum Methodenstreit bei Möllers, wenn auch ohne Übernahme des Methodenbegriffs, Hoffmann-Riem, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 9 (13 f.), der allerdings gleichzeitig gerade nicht auf Methoden im eigentlichen Sinne, sondern auf Vorverständnisse vom Recht rekurriert. 17 Vgl. dazu ausführlich C. Schönberger, Der „German Approach“, 2015. 18 Voßkuhle, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 2 ; bedingt relativierend Franzius, ebda, § 4 Rn. 1. 19 Voßkuhle, ebd., § 1 Rn. 16. 13 14
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lichen Methode handelt.20 Es liegt hier vielmehr die Vermutung nahe, dass durch die etwas unspezifische Verwendung des Begriffs eher die – keineswegs nur in der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft anzutreffende – Vernebelung zwischen juristischer Methode und rechtswissenschaftlicher Methode weitergetragen werden soll, d.h. die fehlende Unterscheidung zwischen einer im eigentlichen Sinne wissenschaftlichen Methode und der sogenannten juristischen Methode als mit Verbindlichkeitsanspruch ausgestatteter sozialer Praxis, die innerhalb des Systems Recht das Treffen verbindlicher Entscheidungen legitimiert. Diese Unschärfe eignet sich in den verschiedensten Zusammenhängen in besonderer Weise, um wesentliche noch offene wissenschaftstheoretische Grundlagenfragen zu verschleiern. Im Ergebnis würde ein stringentes Angebot an methodischen Elementen daher nicht nur voraussetzen, dass zwischen dem wissenschaftlichen und dem nicht-wissenschaftlichen methodengeleiteten Umgang mit dem Recht unterschieden würde. Es bedürfte auch zumindest einer Typologisierung originär wissenschaftlicher Fragestellungen als pointiertem Ausdruck des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses,21 die mit den aufgezeigten Elementen bearbeitet werden sollten. Diese Voraussetzungen erfüllen die Methodenbausteine der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft jedoch nicht.
2. Konstruktion als Handlungs- und Entscheidungswissenschaft Die Problematik des unklar formulierten Erkenntnisinteresses offenbart sich bereits in der schlagwortartigen Charakterisierung der Art von Wissenschaft, die mit der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft betrieben werden soll, d.h. der Bezeichnung als „rechtssetzungsorientierter Handlungs- und Entscheidungswissenschaft“ in Abgrenzung zur „anwendungsbezogenen Interpretationswissenschaft“. Insofern scheint schon die Prämisse, die bisher vorherrschende Art der Rechtswissenschaft, vor allem also wohl die klassische juristische Dogmatik,22 als Interpretationswissenschaft zu bezeichnen, als überaus ungenau. Diese Beschreibung ist zwar keineswegs auf den Zusammenhang der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft beschränkt,23 zu Recht aber auch nicht kanonisiert, da in der Zusammensetzung der beiden Wortteile ein Bezugsfehler liegt. Im hier betrachteten Zusammenhang soll es nämlich gerade nicht Interessant ist insofern, dass im Kapitel von Möllers, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 3, über „Methoden“ die in § 1 postulierten Methodenelemente als solche nicht aufgegriffen werden, sondern neben der „Juristischen Methode“ als Methode der Rechtsanwendung für die Wissenschaft lediglich Rechtsvergleichung und Interdisziplinarität als Methode genannt werden. 21 Das gilt unabhängig von der in jüngerer Zeit auch in der Rechtswissenschaft immer wieder diskutierten Frage, ob das Erkenntnisverfahren dem Erkenntnisgegenstand vorausgeht, so dezidiert Je staedt, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 241 (267 f.), unter Verweis auf Lepsius, Ius Commune 22 (1995), 282 (292 ff.); weniger dezidiert, aber mit demselben Verweis, Voßkuhle, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 1. 22 Etwas verwirrend ist insofern etwa die Terminologie bei Hoffmann-Riem, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 10 Rn. 113, der hier den Begriff der „Neuen Rechtsdogmatik“ verwendet und dabei wohl (auch) die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft meint. 23 Eine frühe Verwendung findet sich etwa bei Coing, Schriften des Vereins für Socialpolitik n.F. 33 (1964), 1 f. 20
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um eine Interpretationswissenschaft im Sinne einer Wissenschaft von der Interpretation, sondern um eine interpretierende Wissenschaft gehen. Überzeugender erscheint es insofern, von einer hermeneutischen Textwissenschaft24 oder, wenn man Irritationen in Hinblick auf einen möglicherweise zu engen Textbegriff vermeiden möchte,25 von einer hermeneutischen Normwissenschaft26 zu sprechen. Wenn trotzdem der jedenfalls mehrdeutige Begriff der Interpretationswissenschaft gewählt wird, liegt die Vermutung nahe, dass gerade sein Ungenauigkeitspotential genutzt werden soll, um auch die Beschreibung der im Folgenden postulierten „Handlungs- und Entscheidungswissenschaft“ im Vagen zu halten. Auch hier bleibt nämlich zunächst ungeklärt, ob es sich dabei wirklich um eine Wissenschaft handeln soll, die sich objektiv mit den Voraussetzungen und Bedingungen des Treffens von Entscheidungen befassen will, also Erkenntnisse über das Entscheiden generieren soll, oder nicht vielmehr um eine entscheidende oder jedenfalls entscheidungsvorbereitende Wissenschaft, die am Maßstab mehr oder weniger offengelegter nicht rechtlicher Kriterien und mit unklarem Verbindlichkeitsanspruch die untersuchte Entscheidung selbst vorbereiten oder sogar treffen will. Der immer wieder in diesem Zusammenhang angeführte Aspekt der Problemlösungsorientierung dieser „Handlungs- und Entscheidungswissenschaft“27 deutet jedenfalls auf die zweite Variante hin.28 Dabei erweist sich die Unterscheidung zwischen Interpretations- und Entscheidungswissenschaft schließlich auch deshalb als fragwürdig, weil die so bezeichnete Interpretationswissenschaft in Form der herkömmlichen rechtswissenschaftlichen Dogmatik durchaus ihrerseits als Entscheidungswissenschaft im Wortsinne verstanden werden kann.29 Die Tätigkeit der herkömmlichen Dogmatik lässt sich nämlich nicht nur in der eigenständigen objektiven Ermittlung des geltenden Rechts als Interpretationsvorgang beschreiben. Unter der seinerseits vom geltenden Recht abgesicherten theoretischen Prämisse, dass sich die Entscheider in Gerichten und Verwaltungen dort, wo sie Recht anwenden, ihrerseits rechtskonform verhalten werden, ließe sich das Ergebnis dogmatischer Überlegungen auch als eine (freilich in den Prämissen ohne Weiteres sozialwissenschaftlich angreif bare) wissenschaftliche Prognose zukünftiger Entscheidungen lesen.30 Wenn die Neue Verwaltungsrechtswissen24 So etwa I. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009, S. 1, unter deutlichem Verweis auf ein entsprechend weites Textverständnis; ausführlich ders., Rechtstheorie 40 (2009), 71 ff.; vgl. dazu auch Felder, in: FS Müller, 2008, S. 73 ff. 25 Kritik schon bei Dreier, in: ders., Studien zur Rechtstheorie, 1981, S. 48 (57). 26 So auch die Formulierung bei Franzius, Gewährleistung im Recht, 2009, S. 108, als Distinktionsbegriff; sowie bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 165 ff., als Selbstbeschreibung. Dabei ist der Begriff hier allgemeiner zu verstehen als in dem strengen Kelsenschen Sinne, in dem Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein…, 2006, S. 30, 41; ders., in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 241 (270), ihn verwendet. 27 Vgl. Appel, VVDStRL 67 (2008), 226 (243); Eifert, VVDStRL 67 (2008), 286 (299); Franzius, Die Verwaltung 39 (2006), 335 (369 f.); Voßkuhle, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 13; Hoffmann-Riem, ebd., § 10 Rn. 13; Schuppert, AöR 133 (2008), 79 (99). 28 Zu den wissenschafts- sowie demokratietheoretisch problematischen Bedeutungen eines solchen Verständnisses s.u. III. 29 In diese Richtung lassen sich möglicherweise auch die Ausführungen bei Hoffmann-Riem, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 9 (16 ff.), lesen. 30 Überlegungen in diese Richtung bei Dreier, in: ders., Studien zur Rechtstheorie, 1981, S. 48 (52).
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schaft sich nun gerade in Abwendung von der herkömmlichen Dogmatik als problemlösungsorientierte Entscheidungswissenschaft verstehen will, liegt die Vermutung nahe, dass sie sich aber gerade nicht in diesem Sinne als Wissenschaft verstehen will, die Entscheidungen prognostiziert. Vielmehr besteht der Verdacht, dass sie stattdessen den partiellen normativen Anspruch der klassischen Dogmatik, so fragwürdig er als solcher in einem System demokratisch gesetzten Rechts ohnehin sein mag, über das Label der Entscheidungswissenschaft noch erweitern und auch auf solche Bereiche übertragen will, die gerade nicht (oder zumindest nicht allein) anhand der Unterscheidung zwischen rechtmäßig und rechtswidrig operieren. Ob dieser Anspruch tatsächlich erhoben wird, hängt maßgeblich von der im Folgenden zu untersuchenden Plausibilität und Wissenschaftlichkeit der von ihnen vorgeschlagenen Methoden elemente ab. Exemplarisch sollen hier der steuerungstheoretische Ansatz, die Realbereichsanalyse inklusive der Wirkungs- und Folgenorientierung, die Interdisziplinarität sowie Berücksichtigung von Referenzgebieten betrachtet werden.
3. Steuerungstheoretischer Ansatz Erster Baustein dieses Satzes an Methodenelementen ist der sogenannte steuerungstheoretische Ansatz. Er stellt wohl den „Markenkern“ der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft dar und geht seinerseits auf Vorarbeiten in der Diskussion um die „Reform des Verwaltungsrechts“ zurück. Trotz dieser Entwicklungsgeschichte ist der eigentliche wissenschaftstheoretische Gehalt dieses Ansatzes nach wie vor nicht völlig klar. Zu oft werden hier verschiedene Formeln nebeneinander verwandt, ohne dass wirklich offengelegt würde, in welcher Dimension der Steuerungsansatz die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft tragen würde. In einer ersten Dimension scheint der Steuerungsansatz zunächst das Erkenntnis interesse und damit auch die Selbstbeschreibung der Disziplin zu determinieren, wenn immer wieder von der (Neuen) Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft gesprochen wird.31 In diesem Sinne soll „die Steuerungsperspektive eine Ausdifferenzierung und Erweiterung des Untersuchungsgegenstandes“ ermöglichen.32 Vermutlich in diesen Zusammenhang gehört auch der Rekurs auf die dreiwertige Logik, nach der sich in der steuerungswissenschaftlichen Perspektive Handlungen staatlicher Entscheidungsträger vollziehen: Neben die Kategorien „ja“ und „nein“ tritt dabei als dritte Kategorie „unsicher“ bzw. „unbestimmt“.33 Nun mag man einwenden, dass in dieser Lesart der steuerungstheoretische Ansatz erst dann an eigenständiger Kraft gewinnt, wenn man die Verwaltungsrechtswissenschaft, wie sie zuvor betrieben wurde, auf eine radikal positivistische Disziplin ver31 Schuppert, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert (Hrsg.), Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 93 ff.; Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Kap. 1 Rn. 33 ff.; ders. in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 5 Rn. 5 ; Appel, VVDStRL 67 (2008), 226 (243). 32 Voßkuhle, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 23. 33 Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 260; ders., in: Schmidt-Assmann/Hofmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 73 (105); Franzius, Die Verwaltung 39 (2006), 335 (340 f.).
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engt, die allein als Entscheidungsprognosemaschine am Maßstab von rechtmäßig und rechtswidrig operiert. Insbesondere für einige Gebiete des Besonderen Verwaltungsrechts wird dies in dieser Form nie plausibel gewesen sein34 und selbst der strikt dogmatische Teil der Wissenschaft vom allgemeinen Verwaltungsrecht kann mit seinen Kategorien von Ermessen und Beurteilungsspielräumen derartige Unsicherheitsoder Unbestimmtheitsräume jedenfalls beschreiben.35 Dies alleine spricht jedoch für sich keineswegs dagegen, die schon begonnene Erweiterung des Erkenntnisinteresses fortzusetzen und zu vertiefen und damit der Programmatik der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft zu folgen. Problematisch erscheint indes, dass im Rahmen der Postulation des steuerungswissenschaftlichen Ansatzes keineswegs expliziert wird, ob sich die darauf verpflichtete Wissenschaft dann als deskriptive, analytische oder dennoch als normative Wissenschaft verstehen will.36 Anleitungen etwa dergestalt, es seien „[n]eben den Rechtmäßigkeitsmaßstäben […] andere ‚normative Orientierungen‘ des Verwaltungshandelns und ‚weiche Steuerungsmittel‘, neben der Rechtssicherheit […] auch der Erhalt der notwendigen Flexibilität und Innovationsfähigkeit wichtig.“37, eignen sich jedenfalls kaum, um derartige methodische Fragen zu klären. Die Kennzeichnung als „wichtig“ sagt insofern nichts darüber aus, wie dem so bewerteten Phänomen wissenschaftlich begegnet werden soll oder worauf die Beschreibung als „wichtig“ beruht. Im Sinne einer Erweiterung des Erkenntnisgewinns durch rechtswissenschaftliche Forschung wäre es dennoch in jedem Fall hilfreich und wissenschaftlich interessant, wenn über eine analytische Perspektive der Steuerungsansatz das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse der Verwaltungsrechtswissenschaft dahingehend erweitert würde, das (Verwaltungs-)Recht auch in seinen Wirkungen zu erfassen. Entsprechende Forschungen könnten sich den Fähigkeiten, aber auch den Grenzen des Rechts als Steuerungsressource widmen sowie auch den politischen Wertentscheidungen, die der Auswahl zwischen dem Recht als Steuerungsressource und anderen Handlungsanleitungen zugrunde liegen.38 Wichtige Fragen, die tatsächlich von Rechtswissenschaftlern, die das Rechtssystem stärker von innen betrachten können, anders bearbeitet werden können als aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive, könnten so auf neue Weise beantwortet werden. Ob sich für dieses Projekt der Steuerungsansatz als hilfreich erweist, hängt jedoch davon ab, welchen Gehalt man ihm jenseits der Prägung des Erkenntnisinteresses zuschreiben will. 34 Für das Sozialrecht s. etwa Kingreen, Die Verwaltung 42 (2009), 339 ff.; für das Migrationsrecht Bast, Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung, 2011, S. 8 ff. 35 Vgl. etwa auch Kingreen, Die Verwaltung 42 (2009), 339 (342). 36 Bumke, in: Schmidt-Assmann/Hofmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 73 (105), gibt zwar an, dass es sich bei der verhaltensbezogenen Perspektive, wie er es nennt, um eine normative Perspektive handelt, doch bleibt unklar, ob damit tatsächlich der Anspruch verbunden ist, wissenschaftliche Aussagen von normativem Wert zu machen. Eifert, VVDStRL 67 (2008), 286 (310), gibt demgegenüber an, dass der steuerungswissenschaftliche Ansatz „zwischen gesellschaftswissenschaftlichen Akteurs- und Problembeschreibungen und rechtlicher Selbstbeschreibung oszilliert“, wobei vermutlich mit dem Terminus der rechtlichen Selbstbeschreibung ein gewisser normativer Anspruch ausgedrückt werden soll. 37 Schmidt-Aßmann, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 5 Rn. 5. 38 In diese Richtung auch Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 264, der mit Steuerungsbegriff die Forschungsfragen: ‚Wer oder was steuert, womit und wodurch, wen, auf welche Weise und wozu?‘, verknüpft.
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In diesem Sinne wird in den einschlägigen Ausarbeitungen zum einen auf die Bedeutung des Steuerungsansatzes als „Forschungsheuristik“, mit dem die wissenschaftliche Aufmerksamkeit lediglich auf bestimmte Problempunkte gelenkt wird, hingewiesen,39 zum anderen auf die Relevanz als „analytischer Rahmen“40. Mit dem Begriff der „Forschungsheuristik“ ist freilich insofern noch nicht viel gewonnen, als der Begriff der Heuristik selbst bis heute relativ unbestimmt und schillernd geblieben ist41 und auch hier eher die Richtung einer Suchbewegung zu beschreiben vermag. Wenn der Steuerungsansatz daneben als analytischer Rahmen bezeichnet wird, so darf dies wiederum nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit jedenfalls kein ganzes Theorieangebot oder auch nur ein Satz von theoretischen Annahmen über das Recht gemeint sein kann. Tatsächlich ist ohnehin mit der Kategorisierung des Steuerungsansatzes immer noch nicht geklärt, welchen Inhalt er, sei es als Forschungsheuristik, sei es als analytischer Rahmen, haben soll. Allein in dem Verweis auf bestehende politikwissenschaftliche Forschung kann sich das Konzept insofern nicht erschöpfen, zumal einerseits gerade kein unreflektierter Theorieimport erfolgen soll,42 andererseits selbst der Grundbegriff der Steuerung nicht einfach übernommen, sondern normativ umgedeutet werden soll als Bezeichnung für einen „Zurechnungs- und Rechtsfolgenzusammenhang“.43 Letztlich bleibt somit vom steuerungstheoretischen Ansatz in der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft vor allen Dingen ein Set an Begriffen, mit denen gearbeitet werden soll. Die Termini Steuerungssubjekt, -objekt, -ziel und -wissen44 werden in diesem Sinne in das fachsprachliche Repertoire aufgenommen, um bestimmte rechtsbezogene Vorgänge unter dem Aspekt der „Bewirkung“ kategorisieren zu können.45 Aus dieser Perspektive handelt es sich beim steuerungstheoretischen Ansatz dann aber vor allem um ein rhetorisches Muster, aus dem heraus ein eigenständiges wissenschaftliches (Methoden-)Angebot noch nicht hergeleitet werden kann.
39 Voßkuhle, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 26; Franzius, Die Verwaltung 39 (2006), 335 (342). 40 Voßkuhle, ebd., § 1 Rn. 22; Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Kap. 1 Rn. 35; vgl. auch Mayntz, in: Schuppert/Zürn (Hrsg.), Governance in einer sich verändernden Welt, 2008, 43 (43). 41 Vgl. nur Klement, Verantwortung, 2006, S. 48. 42 Voßkuhle, in: FS Schmidt, 2002, S. 170 (182 ff.); unter Verweis auf Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, 1991, S. 11. 43 Erstmals so bei Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 264; diese Formel übernehmend Voßkuhle, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 27; Franzius, Die Verwaltung 39 (2006), 335 (342). 44 Voßkuhle, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 20; noch etwas modifiziert in Rn. 24 sowie bei Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Kap. 1 Rn. 35. 45 Wenn Voßkuhle, ebd., § 1 Rn. 17, stattdessen von einer steuerungsbezogene Perspektive auf das Recht spricht, scheint jedenfalls nicht vollständig klar, wie eng oder weit der Begriff des Rechts hier verstanden wird..
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4. Realbereichsanalyse, Wirkungs- und Folgenorientierung Sofern die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft als weiteres Kernanliegen ihres Ansatzes eine verstärkte Realbereichsanalyse ausflaggt, die der Betrachtung des Rechts zugrunde gelegt werden soll, scheint diese Forderung innerhalb der Rechtswissenschaft auf breiten Konsens zu stoßen. Selbst Kritiker bemängeln hier meist nur die implizite Unterstellung, solche Realbereichsanalysen wären der „alten“ Verwaltungsrechtswissenschaft fremd gewesen, ohne sich jedoch gegen das Konzept als solches zu wenden. Allerdings ließe sich anmerken, dass die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft hier bereits im Ansatz hinter ihren eigentlichen Möglichkeiten zurückzubleiben scheint, wenn sie vor allen Dingen die „sozialen, politischen, ökonomischen, kulturellen, technologischen oder ökologischen ‚Wirklichkeitsausschnitte‘, auf die eine Norm bezogen ist“46 in den Blick nehmen will. Um das Phänomen der Steuerung durch und jenseits von Recht stärker realitätsbezogen wahrzunehmen, wäre es aber erforderlich, solche Realbereichsanalysen nicht nur auf der Seite der Steuerungsobjekte (um diesen Begriff hier aufzunehmen), sondern auch auf der Seite der Steuerungssubjekte, d.h. vor allem der Normanwendungs- und Durchsetzungsseite, in die Betrachtung einzubeziehen.47 Eine solche Realbereichsanalyse der Rechtsdurchsetzung erfolgt im Moment durch die klassische Verwaltungsrechtswissenschaft sehr intensiv in Hinblick auf Auswertung und Analyse der Rechtsprechung als einem Zweig der Rechtsdurchsetzung. Damit bleiben freilich diejenigen Rechtsgebiete, die regelmäßig nicht durch Gerichtsentscheidungen begleitet werden (können), von vorneherein aus der rechtswissenschaftlichen Betrachtung ausgeschlossen.48 Und selbst dort, wo eine gerichtliche Durchdringung des Rechtsstoffes grundsätzlich erfolgt, ist damit doch immer nur ein Teil der tatsächlichen Rechtsanwendung erfasst. Jenseits dieser Vorschläge zu einer Erweiterung der Perspektive scheint aber ganz allgemein wiederum die Schwäche des Angebots der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft vor allem darin zu liegen, dass sie eine Zielsetzung in Hinblick auf die Erkenntnisförderung formuliert, aber kein eigenes Methodenangebot unterbreitet. Insbesondere wird die nicht explizierte, aber immer wieder durchscheinende Präferenz für quantitative Methoden der Sozialforschung nicht thematisiert und somit auch nicht diskutierbar gemacht.49 Dies ist besonders deshalb bedauerlich, weil auf diese Weise keine Auseinandersetzung über die Relevanz von alternativ dazu bestehenden qualitativen Methoden geführt werden kann, die ihrerseits einer wissenschaftlichen Seite von dem, was teils etwas abfällig als Juristen- oder Alltagsempirie und -theorie bezeichnet wird, deutlich näher liegen.50 Voßkuhle, ebd., § 1 Rn. 29. Dies gilt umso mehr, als dass die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft sich gerade durch ein verstärktes Interesse an den Gestaltungsspielräumen der Verwaltung auszeichnen soll, so Eifert, VVDStRL 67 (2008), 286 (301). 48 Dazu etwa Schulze-Fielitz, Die Verwaltung 36 (2003), 421 (439); C. Schönberger, Der „German Approach“, 2015, S. 34. 49 Vorsichtige Ansätze der Darstellung diesbezüglich finden sich bei Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Kap. 1 Rn. 47, ohne dass jedoch klar würde, was daraus folgen soll. 50 Vgl. zur häufigen wissenschaftlichen Unterschätzung solcher Ansätze auch Schulze-Fielitz, in: ders. (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S. 11 (25). 46 47
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Was schließlich die mit der Realbereichsanalyse verknüpfte, aber darüber hinaus gehende Wirkungs- und Folgenorientierung anbelangt, so bleibt auch hier wiederum unklar, auf welcher Ebene genau sich dieser Ansatz bewegt, etwa wenn postuliert wird, dass es „[i]n der Konsequenz einer steuerungs- und damit wirkungsorientierten Betrachtungsweise des Rechts liegt […], die realen Folgen einer Maßnahme bei der Rechtsetzung und der Rechtsanwendung zu berücksichtigen.“51 Was soll hier in einem wissenschaftlichen Sinne unter „berücksichtigen“ zu verstehen sein? Was ist mit einer „Orientierung“ an Folgen und Wirkungsweisen gemeint? Bei genauer Lektüre scheint es jedenfalls, als würden hier gerade keine Maßstäbe für die wissenschaftliche Erkenntnissuche, sondern für die Rechtsanwendung und die Rechtsetzung formuliert. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn es nur wenig später heißt, es sei erforderlich, „das erworbene Wirkungswissen rückzukoppeln mit der (Verwaltungs-) Rechtsordnung. Soweit gesetzliche Regelungen bereits bestehen, müssen diese möglichst revisionsoffen ausgestaltet sein, um eventuelle Korrekturen des Steuerungsprogramms zu ermöglichen.“52 In dieser Lesart erscheint die Wirkungs- und Folgenorientierung einherzugehen mit einer Rechtsanwendungs- und Rechtsetzungsorientierung, wobei Orientierung hier aber nicht im Sinne wissenschaftlicher Analyse, sondern als Form der politischen Beeinflussung zu verstehen ist. Als wissenschaftlicher Methodenbaustein verliert das Postulat damit seinen Wert.
5. Inter-, multi- und transdisziplinäre Öffnung Eng verknüpft mit der Frage der Realbereichsanalyse, aber dennoch nicht in ihr aufgehend, ist die Forderung nach disziplinärer Öffnung. Im Wege eines – nicht näher erläuterten – „differenziert-integrativen Ansatzes“53 sollen vor allem Erkenntnisse aus den Wirtschaftswissenschaften, Sozialwissenschaften, der Technikforschung sowie Teildisziplinen der Verwaltungswissenschaften berücksichtigt werden.54 Ein solches Programm ist sowohl auf der theoretischen als auch auf der praktischen Ebene anspruchsvoll in der Umsetzung. Umso bedauerlicher ist es daher, dass die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft hier eher auf der Ebene der Metareflexion verharrt ist als theoretische Anleitungen für die praktische interdisziplinäre Arbeit zu liefern und auch kaum konkrete Forschungsarbeiten im Verwaltungsrecht vorgelegt wurden, in denen induktiv aus der Anwendung eines interdisziplinären Ansatzes in größerem Umfang auf solche Anleitungen geschlossen werden könnte.55 Insofern wird zwar auf die Notwendigkeit praktischer „Verkehrsregeln“ für die interdiszipli51 Voßkuhle, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 32; Hervorhebung durch die Verfasserin. 52 Voßkuhle, ebd., § 1 Rn. 36; ähnlich auch Franzius, Die Verwaltung 39 (2006), 335 (341). 53 So schon Voßkuhle, FS Schmidt, 2002, S. 171 (188). Das dort vorgestellt Sieben-Stufen-Modell erklärt den Ansatz in Hinblick auf die interdisziplinäre Arbeit jedenfalls nicht, zumal schon die Prämisse, die wissenschaftliche Arbeit allein von einer Problembeschreibung aus zu begreifen und zwingend in einen Entscheidungsvorschlag münden zu lassen, überaus fragwürdig ist. 54 Voßkuhle, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 39; ähnlich Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Kap. 1 Rn. 47. 55 Besonders kritisch insofern Rixen, Die Verwaltung 42 (2009), 309 (312).
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näre Arbeit im Sinne einer transdisziplinären Metatheorie hingewiesen.56 Ganz abgesehen davon, dass der mit dem Begriff der „Regeln“ verbundene normative Anspruch zur Begründung eines wissenschaftlichen Methodenansatzes hier problematisch erscheint, werden diese Regeln selbst jedenfalls innerhalb der Diskussion nicht vorgelegt. Allein der Verweis auf Aspekte wie „Methodentransparenz“, „Methodenehrlichkeit“ sowie die „Begründungsbedürftigkeit jedes Theorie- oder Begriffs transfers“ erscheinen eher als allgemeine Anforderungen an wissenschaftliches Arbeiten, stiften aber noch keine Erkenntnis darüber, wie die interdisziplinäre Leistung tatsächlich erbracht werden soll. In diesem Sinne wäre es für die Realisierbarkeit eines solchen Interdisziplinaritätsprogramms überaus hilfreich gewesen, genauer zu erläutern, für welche verwaltungsrechtlichen Fragen konkret welche anderen Wissenschaften befragt werden könnten. Symptomatisch für diese Fehlstelle erscheint insofern der fast durchgängige pauschale Verweis auf die Sozialwissenschaften57 als maßgeblichem Gesprächspartner für den interdisziplinären Dialog. Aus diesem Verweis kann schon deshalb kein handhabbares Methodenangebot abgeleitet werden, weil sich unter dem Oberbegriff der Sozialwissenschaften seit Jahrzehnten eine Vielzahl von Disziplinen mit je eigenen Erkenntnisinteressen und Erkenntnismethoden ausdifferenziert hat, deren interdisziplinäre Berücksichtigung in den Rechtswissenschaften jeweils sehr unterschiedliche Zugänge nahelegt.
6. Berücksichtigung von Referenzgebieten Schließlich wird als ein wesentlicher, nicht zu unterschätzender Baustein der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft die Arbeit mit Referenzgebieten postuliert, die als Mittel dienen sollen, um induktives Vorgehen mit theoretischer Reflexion zu verbinden.58 Dieser Ansatz muss in gewisser Weise überraschen, da er eine Selbstbeschränkung offenbart, die nicht als solche ausgesprochen wird: die Einengung auf das allgemeine Verwaltungsrecht. Diese Schlussfolgerung liegt jedoch zum einen schon deshalb nahe, weil die Arbeit mit Referenzgebieten nicht nur am Beispiel von, sondern gerade für die allgemeine Verwaltungsrechtswissenschaft entwickelt worden ist. Darüber hinaus ist sie aber auch der Natur der Sache selbst geschuldet. Referenzgebiete sind nämlich gerade nicht Gegenstand des eigentlichen Erkenntnisinteresses, sondern haben lediglich eine dienende Funktion als „diejenigen Gebiete 56 Hoffmann-Riem, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 10 Rn. 113; Voß kuhle, ebda., § 1 Rn. 39, unter Verweis auf Vesting, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 253 (275 ff.). 57 Interessant insofern Vesting, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 253 (254), der ausdrücklich nicht auf die Sozialwissenschaften, sondern auf die Soziologie verweist. 58 Eifert, VVDStRL 67 (2008), 286 (299), Voßkuhle, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 43 f., unter Verweis auf die grundlegenden Vorarbeiten von Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 11 (26 ff.); ders., Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Kap. 1 Rn. 12 ff.
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des besonderen Verwaltungsrechts, die das Fallmaterial und die Beispiele für die Aussagen des allgemeinen Rechts abgeben.“59 Dieser Zuschnitt entspricht zwar auch dem Auf bau der „Grundlagen des Verwaltungsrechts“ als Grundlagenwerk der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, wirft aber doch in gewisser Weise ein neues Licht auf die übrigen wissenschaftlichen Zugänge.60 Insbesondere offenbart sich nämlich auf diese Weise, dass bei konsequenter Übertragung der Ansatz als Steuerungswissenschaft sich gerade nicht in einem (auch) gesellschaftswissenschaftlichen Sinne dergestalt versteht, dass die Steuerungsressource (Verwaltungs-)Recht in ihren Auswirkungen auf und Rückwirkungen mit verschiedenen Teilbereichen der Gesellschaft untersucht wird, sondern dass vielmehr in einer technischen Steuerungsperspektive allein die staatlich determinierten Mechanismen zur Ausübung von Steuerung Gegenstand des Erkenntnisinteresses sind. Die geforderte Realbereichsanalyse müsste sich dann, sollte sie nicht auf die allein instrumentell verstandenen Referenzgebiete begrenzt sein, vor allem dem Innenbereich der Verwaltung widmen, der wohl am ehesten als derjenige Realbereich begriffen werden kann, der mit dem allgemeinen Verwaltungsrecht korrespondiert. Auch die Einbindung „sozialwissenschaftlicher“ sowie anderer nachbarwissenschaftlicher Erkenntnisse erscheint unter diesem Aspekt in einem neuen Licht. Die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft mag sich insofern in einer Linie mit der Reformdiskussion aus den 1990er Jahren sehen, die sich ebenfalls auf das allgemeine Verwaltungsrecht konzentrierte, oder vielleicht noch in anderen historischen Traditionen denken. Sollte ihr Forschungsinteresse aber tatsächlich als so limitiert zu verstehen sein, kann sie einen umfassenden Anspruch auf Beobachtung von Recht in der Gesellschaft und Bearbeitung gesellschaftlicher Problemlagen61 nicht aufrechterhalten.62 Damit aktualisiert die Rolle der Referenzgebiete die Frage nach dem Erkenntnisinteresse, das der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft zugrunde liegt und den eigentlichen Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Beschreibung bilden sollte.
7. Erkenntnisinteresse und Problembeschreibung Auch nach Analyse des Methodenbaukastens, auf den sich die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft stützen will, bleibt somit die Frage offen, welches Erkenntnisinteresse der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft als Ausgangspunkt zugrunde liegen soll. In den programmatischen Schriften zur Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft findet sich dieses Erkenntnisinteresse jedenfalls nie klar formuliert. Stattdessen scheinen drei Aspekte von besonderer Bedeutung, die immer wieder formuliert werden und das Ziel der Tätigkeit näher umreißen sollen: Zum einen spielt der Aspekt der Problemlösung eine zentrale Rolle. Die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft soll 59 Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Kap. 1 Rn. 13. 60 So hält Franzius, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 4 Rn. 1 Fn. 13, fest, dass schon der Befund der bisherigen Fixierung auf die rechtsaktbezogene Perspektive für das besondere Verwaltungsrecht so nicht gelte. 61 So etwa der Anspruch bei Eifert, VVDStRL 67 (2008), 286 (296, 310). 62 Vgl. auch die Kritik bei Battis, BRJ 2011, 41 (44).
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eine „problemlösungsorientierte Handlungs- und Entscheidungswissenschaft“ sein,63 ihre „primäre Relevanzstruktur“ sollen gesellschaftliche Problemlagen bilden.64 Ein zweiter wichtiger Aspekt scheint derjenige der „Rationalisierung“ zu sein, insbesondere, wenn als zentrales Anliegen der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft die „Rationalisierung nicht normativer Entscheidungsfaktoren“65 benannt wird. Drittens scheint die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft ihren eigenen Schwerpunkt maßgeblich darauf zu legen, als Entscheidungswissenschaft tatsächlich Entscheidungsvorschläge vorzulegen, d.h. „auf Rechtserzeugung und Problemlösung gerichtet Handlungs- und Entscheidungshilfen zu geben“,66 bzw. „rational begründete, praktische Entscheidungsvorschläge zu erarbeiten“.67 In diesem Sinne soll die Verwaltungsrechtswissenschaft eine „Scharnierfunktion […] im Prozess einer rationalen Rechtsentwicklung übernehmen.“68 All diese Elemente werfen grundlegende Fragen in Hinblick auf die wissenschaftliche Natur des Vorhabens auf.69 Denn in der unausgearbeiteten, schlagwortartigen Form, in der sie bisher weitergetragen wurden, lassen sie grundlegende Prämissen im Dunkeln, die für eine wissenschaftliche Herangehensweise zwingende Voraussetzung wären. Wenn das Erkenntnisinteresse etwa darauf gerichtet sein soll, Problemlagen zu erkennen und Problemlösungen als Handlungsvorschläge zu entwickeln, dann liegt schon in dieser Beschreibung eine Technik, um wertende Vorverständnisse zu verschleiern, da sowohl die Beschreibung eines Zustands als „Problem“ als auch die Bezeichnung der Veränderung als „Lösung“ hochgradig normativ operieren, die zugrundeliegende Wertung aber nicht offenlegen.70 Wissenschaftlichen Standards kann daher die Suche nach einer „Problemlösung“ nur dann genügen, wenn sie im Sinne eines klassischen Konditionalprogramms das zu erreichende Ziel (die Abwesenheit des „Problems“) als solches klar benennt und für den Fall, dass dieses Ziel erreicht werden soll, Wege zu seiner Realisierung entwickelt. Die Identifizierung bestehender Zustände als „Problem“ stellt hingegen einen originär wertend-politischen, keinen wissenschaftlichen Vorgang dar. Im Übrigen entspricht eine solche Tätigkeit auch schon gelebter Praxis der Rechtswissenschaftler, etwa wenn sie im Rahmen von Sachverständigenanhörungen oder auch kraft eigener wissenschaftlicher Beschäftigung laufende Gesetzesvorhaben darauf untersuchen, ob das politisch S.o. S. 515 ff. Eifert, VVDStRL 67 (2008), 286 (296). 65 Voßkuhle, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 20; ders., in: Burgi/ Schönenbroicher (Hrsg.), Die Zukunft des Verwaltungsverfahrensrechts, 2010, S. 13 (28). 66 Appel, VVDStRL 67 (2008), 226 (243); vgl. auch Franzius, Die Verwaltung 39 (2006), 335 (369 f.). 67 Voßkuhle, BayVBl, 2010, 581 (586), ders., in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 14, 18., ders., in: FS Schmidt, 2002, S. 171 (180). 68 Eifert, VVDStRL 67 (2008), 286 (320). 69 Vgl. insofern schon für die Vorgängerdiskussion um die „Reform des Verwaltungsrechts“ Möllers, VerwArch. 2002, 22 (26). 70 In diese Richtung geht auch die Kritik bei Grzeszick, Die Verwaltung 42 (2009), 105 (115). Überraschend ist insofern, dass Voßkuhle, in: FS Schmidt, 2002, S. 171 (189), auf die Notwendigkeit hinweist, diesbezügliche Wertungen und Vorverständnisse offenzulegen, als Beispiele für offenzulegende Aspekte aber nur institutionelle Vorbefassungen mit dem Thema benennt, nicht jedoch auf die Wertungen im Rahmen der Pathologisierung als „Problem“ eingeht. 63
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formulierte Ziel durch die Steuerungsressource Recht in der vorgeschlagenen Form erreicht werden kann. Dass es aber tatsächlich nicht nur um die Frage nach der Realisierung fremdgesetzter Zielvorstellungen geht, wird deutlich, wenn die Ausführungen über die Rationalisierung in Bezug genommen werden. Versteht man die „nicht normativen Entscheidungsfaktoren“, die rationalisiert werden sollen, hier als nicht rechtliche Entscheidungsfaktoren71 und liest dieses Ziel zusammen mit der Aufgabenbeschreibung, eine Scharnierfunktion im Prozess einer „rationalen Rechtsentwicklung“ einzunehmen, scheint es hier also vor allen Dingen um die Rationalisierung politischer Entscheidungsspielräume zu gehen, mit denen Recht gesetzt bzw. konkretisiert wird. Versteht man den Begriff der Rationalität hier im Sinne von Zweckrationalität als Zweck-Mittel-Optimierung, würde sich die Forderung nach Rationalisierung im Wesentlichen mit derjenigen der Entwicklung von Problemlösungen decken, wobei sich dann auch hier die identische Frage sowohl nach der Identifizierung des Zwecks als auch nach dem Maßstab stellen würde, anhand dessen die Optimierung in Hinblick auf das Mittel zu messen wäre. Ob hier aber tatsächlich dieser spezifische Begriff der Rationalität gemeint ist, lässt sich aus dem Zusammenhang der Texte keineswegs sicher schließen.72 Und so schwingen angesichts der Ambivalenz und Vielgestaltigkeit des Begriffs73 und der unklaren Zweckdefinition möglicherweise auch noch die eher alltagssprachliche Bedeutung des Rationalen als schlicht „Sinnvollen“ und die eher psychologische Interpretationsweise als Gegenbegriff zum Emotionalen mit.74 In beiden Varianten würde die Forderung nach Rationalisierung dann allerdings nur die Tür öffnen für eine Art von neuem, sozialtechnologischem Naturrecht, über das individuelle Wertungen im Mantel der Wissenschaftlichkeit in die Aussagen einfließen. Der Eindruck verstärkt sich, wenn man weitere Selbstbeschreibungen der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft in die Betrachtung mit einbezieht, nach denen die gewonnenen Erkenntnisse mit dem juristischen Systemdenken zu verknüpfen sind, und zwar insbesondere durch „Ausbildung neuer Leitideen“ und „Entwicklung neuer […] Wert entscheidungen“,75 oder nach denen im Mittelpunkt der eigenen Forschungstätigkeit z.B. die Frage stehen solle, wie „ein gutes Verwaltungsverfahrensrecht“ ausse-
71 Zum vielgestaltigen Begriff der Normativität vgl. nur jüngst Schiemann, Rechtstheorie 44 (2013), 125 ff. 72 Unklar bleibt insofern etwa auch der Rationalitätsbegriff bei Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Kap. 1 Rn. 21, wenn er festhält, dass „[s]taatliches Handeln […] als Vorgang und Ergebnis auf Rationalität angelegt sein“ müsse. 73 Vgl. zu den philosophischen Hintergründen und den verschiedenen Facetten des Begriffs nur den Überblick bei Gethmann, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 6, 2. Aufl. 2016, S. 584 ff. 74 Diese unklare Verwendung des Begriffs ist keineswegs auf die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft beschränkt. Jestaedt, in: Engel/Schön, Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 241 (272), etwa meint das Erkenntnisziel der Dogmatik sei es vornehmlich, „durch systematisierende Beschreibung positivrechtlicher Inhalte die Rechtsgewinnung innerhalb einer bestimmten Rechtsordnung zu stabilisieren und zu rationalisieren.“ Hier scheint mit Rationalisierung vor allem eine größere Sachrichtigkeit bei der Erkenntnis des geltenden Rechts gemeint zu sein. 75 Voßkuhle, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 46.
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hen solle.76 Wissenschaftlichen Ansprüchen kann ein solches Vorgehen dann nicht mehr genügen.77
III. Der Elefant im Raum: Wissenschaftsfragen und Machtfragen Wenn nach all dem aber durch die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft weder eine Fragestellung präsentiert werden kann, die einer wissenschaftlichen Logik folgt, noch ein stringentes Methodenangebot vorgelegt wird, mit dem neue wissenschaftliche Antworten auf alte Fragen gefunden werden können, stellt sich die grundlegende Frage, inwiefern mit der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft tatsächlich ein originär wissenschaftliches Programm verfolgt werden soll. Mit ihrem Anspruch, Rechtsetzung und Rechtsentwicklung zu „rationalisieren“, bewegt sie sich insofern zwar einerseits von klassischen Pfaden der verwaltungsrechtlichen Dogmatik weg, scheint aber gleichzeitig deren zwar eingeübten, der Sache nach aber nicht mehr haltbaren Verbindlichkeitsanspruch übernehmen zu wollen. Genauso, wie es unter den Bedingungen demokratisch erzeugten positiven Rechts schon im Rahmen der Dogmatik kein „wissenschaftliches Recht“ geben kann, bei dem Aussagen von Rechtswissenschaftlern über das geltende Recht mit Verbindlichkeitsanspruch ausgestattet werden,78 kann es erst recht keine wissenschaftlich validierbaren Aussagen über das „rationale“ im Sinne eines „guten“ oder „richtigen“ Rechts geben. So wie Rechtsdogmatik von wissenschaftlicher Seite immer nur ein unverbindlicher Vorschlag zur Deutung und Systematisierung des geltenden Rechts sein kann,79 können auch steuerungswissenschaftliche Ansätze in der Rechtswissenschaft nur unverbindliche Vorschläge unterbreiten. Um einem wissenschaftlichen Anspruch zu genügen, müsste dabei allerdings offengelegt werden, vor dem Hintergrund welcher Prämissen und nach welchen anzulegenden Maßstäben diese Vorschläge erarbeitet werden. Erfolgt eine solche Offenlegung nicht, trägt die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft unausgesprochen genau den Impetus weiter, der der deutschen Rechtswissenschaft in besonderer Weise zu eigen ist, der sich jedoch mit einem demokratischen Verständnis von Rechtsetzung durch demokratisch legitimierte Organe nicht vereinbaren lässt: 80 die verschleierte Machtausübung durch Wissenschaftler. Die besondere 76 Voßkuhle, in: Burgi/Schönenbroicher (Hrsg.), Die Zukunft des Verwaltungsverfahrensrechts, 2010, S. 13 (28). Ironischerweise wird in diesem Zusammenhang sogleich bemängelt, dass in der klassischen Verwaltungsrechtswissenschaft Vorverständnisse und rechtspolitische Wertungen eher verdeckt und unreflektiert in die eigenen Wertung mit einflössen, ohne in irgendeiner Weise deutlich zu machen, wie allein mit der postulierten Rationalisierung diese Vorverständnisse offengelegt werden sollen. 77 Ähnliche Kritik bei Hilbert, Systemdenken in Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft, 2015, S. 240 ff. 78 Dazu Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein …, 2006, S. 62 ff., 84 f.; zur historischen Entwicklung der entsprechenden Tradition C. Schönberger, Der „German Approach“, 2015, S. 18 ff. 79 Deutlich C. Schönberger, ebda., S. 47. 80 Interessant insofern die wohl ungewollt unklare Formulierung bei Appel, VVDStRL 67 (2008), 226 (254 Fn. 95), wonach der steuerungswissenschaftliche Ansatz suspekt erscheinen müsse, wenn „Rechtserzeugung nur innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen möglich sein [soll]“. Rechtserzeugung durch nicht demokratisch legitimierte Wissenschaftler würde in jedem Fall hinsichtlich der
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Verbindung mit dem Aspekt der Machtausübung ist Juristen (vor allem jenseits der Wissenschaft) dabei durch ihre Profession in gewisser Weise eingeschrieben. Recht ist ein Instrument nicht nur zur Disziplinierung, sondern eben auch zur Ausübung von Macht. Und in der Position des Rechtsanwenders, auf die jedenfalls die deutsche Juristenausbildung zentral ausgerichtet ist, wird genau diese Macht aktualisiert und ausgeübt. Die Frage nach der Legitimation der verbindlichen Rechtsanwendung, d.h. vor allem richterlichen Entscheidens, stellt dabei einen der neuralgischsten Punkte der Rechtstheorie dar, der nur allzu oft wahlweise hinter der Überhöhung der Wortlautgrenze im Recht81 oder der Berufung auf die „juristische Methode“ versteckt wird.82 Die Rechtswissenschaft hat lange Zeit genau von dieser fehlenden Offenlegung profitiert. Denn wenn der (demokratisch legitimierte) Rechtsanwender und dessen Entscheidungsverfahren zugunsten einer allein normbezogenen Perspektive ausgeblendet werden, verschwindet auch das Problem juristischer Machtausübung entweder hinter der als solcher legitimierten gesetzgeberischen Entscheidung oder aber hinter einer leeren Floskel vom „Recht“, das vielleicht auch jenseits der gesetzgeberischen Dezision bestehen mag. Damit wird der Raum geschaffen für eine Wissenschaft, die in ihren Deutungsvorschlägen des Rechts, deren Unverbindlichkeit sie nicht ausweist, selbst am Machtanspruch des Rechts zu partizipieren versucht.83 Die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft hätte nun mit ihrer spezifischen Perspektive als „Steuerungswissenschaft“ eigentlich die besten Voraussetzungen, um genau diese Fragen der Machtausübung (denn als nichts anderes stellt sich Steuerung in diesem Sinne dar) zu thematisieren und wissenschaftlicher Reflektion zu unterziehen. Stattdessen bleibt die Frage nach der Macht aber auch hier der sprichwörtliche Elefant im Raum. Mehr noch: Es scheint, als wolle auch die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft von dem überkommenen Machtanspruch der Rechtswissenschaft profitieren und diesen sogar noch auf die Rechtsetzung erweitern, tatsächlich also keine „Entscheidungswissenschaft“, sondern eine „entscheidende Wissenschaft“ sein.84 Insbesondere Potenzvokabeln wie die des notwendigen steuerungswissenschaftlich angeleiteten „Zugriffs“ auf die Rechtsgestaltung85 verdeutlichen diese unausgesprochene Vorstellung eigener Macht. Sie reihen sich mühelos ein in die kon trastierende Beschreibung der „alten“ Verwaltungsrechtswissenschaft ein, deren wichtigstes Interesse nach dieser Lesart die rechtsstaatliche „Disziplinierung“ der Verwaltung unter der Ägide des Grundgesetzes gewesen sein soll.86 Herstellungsbedingungen außerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen liegen, d.h. verfassungsrechtlichen Vorgaben klar widersprechen. 81 Ein jüngerer Versuch diesbezüglich findet sich bei Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004; zutreffend kritisch dazu Christensen/Kudlich, ARSP 93 (2007), 128 ff. 82 Vgl. dazu nur Felder, in: Bäcker/Klatt/Zucca-Soest (Hrsg.), Sprache – Recht – Gesellschaft, 2012, S. 141 (146 f.); Müller/Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, S. 181 ff. 83 Zur entsprechenden deutschen Tradition umfassend C. Schönberger, Der „German Approach“, 2015. 84 Deutlich etwa auch die Einschätzung bei I. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009, S. 1 f., der von einem „(kryptopolitischen) Steuerungsprimat“ spricht. 85 Eifert, VVDStRL 67 (2008), 286 (321). 86 Voßkuhle, BayVBl. 2010, 581 (583); ders., in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 8, unter Verweis auf Stolleis, in: Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 1994, S. 227 ff., der den Begriff der Disziplinierung aber gerade nicht verwendet. Mit dem Begriff
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Nur mühsam wird dieser Machtanspruch der Wissenschaft mitunter verfassungsrechtlich bemäntelt, wenn in der intensiven Vergesetzlichung des Rechts „problematische Konsequenzen“ für „ein systematisches Verständnis von Rechtswissenschaft“ gesehen werden, da sich so „[g]egenüber dem rechtsstaatlichen Rationalismus der Rechtswissenschaft […] der demokratische Voluntarismus des Gesetzgebers durch[setzt]“.87 Damit wird letztlich versucht, das Bedürfnis der Wissenschaft nach eigener Rechtsetzung als verfassungsrechtlichen Konflikt zwischen Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip zu rekonstruieren, indem das wissenschaftliche Recht zum Teil des Rechtsstaatsprinzips erkoren wird. Einfallstor für diese Rekonstruktion ist dabei der bereits problematisierte Begriff der Rationalität, der zwar als Gegenbegriff zur reinen Willkür durchaus dem Rechtsstaatsprinzip zugeordnet werden kann, in der hier verfolgten Argumentation aber unausgesprochen seine Bedeutung wandelt und wiederum zu einem Gebot des „richtigen“ oder „sinnvollen“ Rechts avancieren soll, das seinerseits nur durch die Wissenschaft zu garantieren sein soll.88 Es würde jedenfalls gegenüber den bisher diskutierten Gehalten ein deutlich neues Verständnis von Rechtsstaatlichkeit voraussetzen, wollte man dem Staatsstrukturprinzip diesen normativen Gehalt tatsächlich entnehmen. Auch wenn die deutsche Rechtswissenschaft insofern bisher recht komfortabel mit dem blinden Fleck der beanspruchten Machtausübung lebt: Verfassungsrechtlich stützen lässt diese sich nach dem bisherigen Verfassungsverständnis nicht.
IV. Mehr Verwaltung, mehr Recht, mehr Wissenschaft! Was also bleibt von der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft? Befreit man sie von allen wissenschaftlich problematischen Unklarheiten und Steuerungsansprüchen, liefert sie jedenfalls einen wissenschaftspolitisch uneingeschränkt zu begrüßenden Anstoß, die Verwaltungsrechtswissenschaft um neue Perspektiven und vor allem neue Forschungsfragen zu erweitern. Voraussetzung für die Erfüllung eines solchen wissenschaftlichen Versprechens ist jedoch, dass man zuvor die verschiedenen Wege, welche die Rechtswissenschaft als Wissenschaft einschlagen kann, klar benennt und voneinander trennt. Der erste, traditionelle Weg liegt dabei in dem, was gemeinhin mit dem Begriff der Dogmatik bezeichnet wird.89 Wird sie von Seiten der Wissenschaft betrieben, der Disziplinierung, allerdings bezogen auf das Recht, nicht die Verwaltung, arbeitet auch Eifert, VVDStRL 67 (2008), 286 (329). 87 Möllers, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012,§ 3 Rn. 12. In diese Richtung, wenn auch ohne ausdrücklichen Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip, Neumann, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl. 2011, S. 385 (397 f.). 88 In diese Richtung geht, trotz sehr deutlicher Kritik an der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, auch Meyer, VerwArch. 2010, 351 (358), unter Verweis auf dens., Der Staat 48 (2009), 278 ff., der einen Maßstab der Geeignetheit und Wirksamkeit des Rechts kumulativ aus Demokratie- und Rechtsstaats prinzip herleiten will, und zwar auch, wenn Grundrechte nicht betroffen sind. 89 Dabei soll hier nicht verkannt werden, dass der Begriff der Dogmatik im Einzelnen durchaus selbst strittig ist, vgl. etwa aus jüngerer Zeit die Beiträge bei Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012.
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handelt es sich bei ihren Ergebnissen um unverbindliche Vorschläge zur Deutung des geltenden Rechts. Das zugrundeliegende Erkenntnisinteresse richtet sich auf die Frage, welches Recht gilt und wie das geltende Recht auszulegen ist. Neben diese klassische rechtswissenschaftliche Tätigkeit kann die rechtswissenschaftliche Analyse rechtspolitischer Gestaltungsoptionen treten. Diese Analyse kann in Hinblick auf zwei unterschiedliche Erkenntnisziele erfolgen. Zum einen kann die Fragestellung eine ihrerseits juristisch-dogmatische sein, wenn entsprechende Vorschläge an höherrangigem Recht, insbesondere etwa am Verfassungsrecht, gemessen werden. Der Unterschied zur klassischen Dogmatik liegt dann allein darin, dass der Untersuchungsgegenstand nicht durch geltendes Recht, sondern durch fiktives, mögliches Recht gebildet wird. Alternativ oder auch ergänzend dazu kann das Erkenntnisinteresse aber auch auf die Frage gerichtet sein, ob mit dem vorgeschlagenen Instrument, das auf der Steuerungsressource Recht beruht, das politisch gesetzte Ziel auch erreicht werden kann. In dieser Variante liegt möglicherweise die größte Nähe zum Ansatz der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, da tatsächlich Aussagen über die prognostizierte Steuerungsleistung möglichen zukünftigen Rechts getroffen werden. Um wissenschaftlichen Standards zu genügen, sind dabei jedoch die Prämissen und Maßstäbe der Untersuchung offenzulegen, insbesondere also ist das politische Steuerungsziel, das mit dem vorgeschlagenen Recht verfolgt werden soll, klar zu benennen. Die wissenschaftlichen Ergebnisse, die auf dieser Basis gewonnen werden, lassen sich begreifen als die Aussagen einer Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, da keine Aussagen über das geltende Recht, sondern über die Wirkungsweise von Recht als sozialer Praxis gemacht werden. Als dritter Forschungsbereich einer geöffneten Verwaltungsrechtswissenschaft lässt sich schließlich die Praxis einer Rechtswissenschaft als Kultur- und Sozialwissenschaft benennen. Diese Perspektive stellt letztlich eine Form der Gesellschaftsbeobachtung unter dem Blickwinkel der besonderen Expertise des Rechtswissenschaftlers dar, bei der das Recht nicht ureigenstes Erkenntnisziel ist, sondern Mittel um Gesellschaft zu beobachten, und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen stellt Recht selbst eine Form der Gesellschaftswahrnehmung dar, weil es auf als solche identifizierte gesellschaftliche Problemlagen reagiert,90 zum anderen ist es ein soziales Medium, das die Gesellschaft umgekehrt wiederum maßgeblich formt und beeinflusst. Voraussetzung für eine solche Vervielfältigung der Forschungsrichtungen ist freilich, dass die Rechtswissenschaft selbstbewusst genug ist, um vor dem Hintergrund der eigenen Expertise selbständige Deutungsangebote in den sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskurs einzubringen (und damit auch der Kritik auszusetzen), statt sich von der Angst um den „Selbststand“ der Disziplin91 gerade gegenüber diesen Wissenschaftszweigen paralysieren zu lassen.92 Um einen solchermaßen geöffneten Blick auf die Möglichkeiten der Rechtswissenschaft werfen und in tatsächliche Forschung umsetzen zu können, bedarf es vor allen Dingen dreierlei: mehr Verwaltung, mehr Recht und mehr Wissenschaft in der Verwaltungsrechtswissenschaft. Vgl. Albert, in: ders. (Hrsg.), Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, 1972, S. 80 (94). 91 Vgl. etwa nur die Beiträge in Engel/Schön (Hrsg.) Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007. 92 Vorsichtig in diese Richtung auch Appel, VVDStRL 67 (2008), 226 (233). 90
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Will die Verwaltungsrechtswissenschaft tatsächlich fundiertere Aussagen über die Wirkungsweise des Verwaltungsrechts treffen können, bedarf es dafür nicht nur der Einbeziehung nachbarwissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern zunächst einmal eines intensiveren Blicks in die Verwaltung als maßgeblichem Steuerungsakteuer statt, wie bisher, vor allen Dingen auf die Verwaltung zu schauen. Eine solche stärkere Wahrnehmung der Wirklichkeit der Verwaltung kann etwa durch konsequente Auswertung von Haushaltsplänen93 oder durch Beschaffung von Informationen aus dem Innenleben der Verwaltung über das Instrument der Informationsanfrage nach dem jeweils anwendbaren IFG erfolgen.94 Auch Versuche der Übernahme von ethnographischen Methoden, die aus der Perspektive der Rechtsethnographie bereits erprobt sind,95 können fruchtbar sein. Hinzu treten klassische Methoden quantitativer Sozialforschung wie etwa die Befragung,96 die insbesondere über die Interviewtechnik, wie sie etwa im Bereich der oral history angewandt wird, auch qualitativ gewendet werden kann.97 Neben dieses ‚Mehr‘ an Verwaltung müsste ein ‚Mehr‘ an Recht treten. Im Verhältnis zur Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft betrifft dies insbesondere die Fokussierung auf das allgemeine Verwaltungsrecht und die Degradierung des besonderen Verwaltungsrechts zu „Referenzgebieten“. Diese Fokussierung mag aus einer Binnenlogik des Rechts möglicherweise noch erklärbar sein, versperrt aber in starkem Maße den Blick auf die Steuerungswirkungen in der Gesellschaft, die gerade durch die Instrumente des besonderen Verwaltungsrechts erzielt (oder auch nicht erzielt) werden. Gleichzeitig ermöglicht es ein stärkerer Blick in die Verwaltung auch, Rechtsgebiete in die wissenschaftliche Betrachtung mit einzubeziehen, die nicht so sehr wie die klassischen Referenzgebiete durch eine korrespondierende Rechtsprechungspraxis begleitet werden, weil es entweder an tatsächlichen Klagemöglichkeiten fehlt oder diese Möglichkeiten aus vielerlei Gründen nicht ergriffen werden.98 Verbunden mit diesem ‚Mehr‘ an Recht in der Perspektive ist auch eine stärkere Wahrnehmung der Wirkungen von Recht in der Gesellschaft, inklusive der Beobachtung von Prozessen, in denen Recht als Steuerungsressource versagt oder gerade Lösungen jenseits des Rechts gewählt werden. Diese Perspektive erfordert freilich wiederum ein erhöhtes Maß an Wirklichkeitswahrnehmungen, die, ähnlich wie beim Blick in die Verwaltung, entweder selbst gemacht oder durch Nachbardisziplinen vermittelt werden können. Auf diese Methode stellen auch Franzius, Die Verwaltung 39 (2006), 335 (359), und Schmidt-Aßmann, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 5 Rn. 5, ab, wobei hier unklar bleibt, ob mit „Haushaltsrecht“ tatsächlich auch die Ebene der Haushaltspläne gemeint ist. 94 Beispiele dafür am Beispiel des Kulturrechts, das geradezu paradigmatisch ist für ein Rechtsgebiet, das sich in weiten Teilen weder über Gesetzesrecht noch über Gerichtsentscheidungen beobachten lässt, bei Lenski, Öffentliches Kulturrecht, 2013. 95 Ein Beispiel dafür findet sich etwa bei Brumann, Sociologus 61 (2011), 19; sowie – wenn auch mit teilweise zweifelhaften soziologischen Schlüssen – für die Verwaltungsgerichtsbarkeit bei Latour, Die Rechtsfabrik, 2015. 96 Exemplarisch Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 431 ff. 97 Beispiel dafür – wenn auch im Ergebnis vielleicht nicht immer ganz gelungen – etwa bei Holthoff, Kulturraum Europa, 2008. 98 Zu diesem Reflexionsdefizit auch C. Schönberger, Der „German Approach“, 2015, S. 34. 93
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Schließlich erfordert die beschriebene Perspektivenerweiterung, dass die Verwaltungsrechtswissenschaft endlich den Mut aufweist, sich zu ihrer Wissenschaftlichkeit zu bekennen, und damit auch den Raum öffnet für wissenschaftliche Forschung, die als solche nicht unmittelbar anschlussfähig an die Praxis ist. Essentiell dafür wäre es, sich endlich von der konsequent mitgedachten Vorstellung zu verabschieden, die Rechtswissenschaft habe eine „Aufgabe“ zu erfüllen, die ihr im Hinblick auf das Rechtssystem als Ganzes obliege.99 Nimmt man die Unterscheidung zwischen Wissenschaftssystem und Rechtssystem ernst,100 kann eine solche Aufgabe nur den (dafür im Übrigen auch demokratisch legitimierten) Akteuren des Rechtssystems, insbesondere dem Gesetzgeber, den Gerichten, aber auch der Verwaltung selbst, obliegen, während die Wissenschaft diese Prozesse nur von außen beobachten und beschreiben und allein durch ihren Erkenntnisgewinn mittelbar beeinflussen kann, wenn das Rechtssystem diese Erkenntnisse rezipiert. Erst auf dieser Basis kann die Rechtswissenschaft die ihr zur Verfügung stehende Freiheit auch nutzen und endlich mehr Wissenschaft wagen.
99 So beispielsweise mit freilich ganz unterschiedlichen Aufgabenbeschreibungen Dreier, in: ders., Studien zur Rechtstheorie, 1981, S. 48 (51 ff.); Kahl, Die Verwaltung 42 (2009), 463 (494); Voßkuhle, BayVBl, 2010, 581 (586); ders., in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 12, 14; ders., in: FS Schmidt, 2002, 171 (180); Damas, ARSP 2003, 186 (187); Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Kap. 1 Rn. 6. 100 Dafür etwa auch Jestaedt, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 241 (264); grundsätzlich dazu Albert, in: ders. (Hrsg.), Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, 1972, S. 80 ff.
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Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Rennert, Leipzig Präsident des Bundesverwaltungsgerichts
I. 1. Die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“1 tritt mit dem Anspruch an, Recht Verwaltungsrecht - als Instrument zur Steuerung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prozesse zu begreifen, seine Steuerungspotenziale bewusst zu machen und bewusst einzusetzen. Sie interessiert sich deshalb besonders für die Funktionsbedingungen und Wirkweisen des Rechts in seinen diversen Erscheinungsformen und Anwendungsfeldern und für die Wechselwirkungen mit außerrechtlichen Kausalfaktoren wie ökonomischen Anreizen, ideell-politischen Mächten oder Funktionsgesetzlichkeiten von Bürokratien. Sie sucht sich hierzu die Erkenntnisse der empirischen Sozialwissenschaften: der Verwaltungslehre, der Psychologie, der Ökonomie usw. nutzbar zu machen. Ihr Gegenstand ist nicht länger nur der normative Inhalt der geltenden Rechtsordnung, ihre Methode nicht länger nur dessen Beschreibung, Systematisierung und Rückführung auf legitimierende Rechtswerte, ihr Ziel nicht länger nur die Kontrolle der rechtsetzenden und gesetzesvollziehenden Staatsgewalt. Diese hermeneutische Immanenz von juridischer Normativität wird überschritten, der geschlossene Raum des geltenden Rechts wird verlassen. Gegenstand der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ ist vielmehr auch das Recht als sozialer Faktor, ihr Ziel ist auch Verhaltenslenkung und in diesem Sinne auch Politikberatung.2 2. Die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ nennt sich selbst „neu“ in stilisierender Kontrastierung gegen alles Frühere, alles „Alte“. Das mag seinen Grund darin finden, dass das „Neue“ eben aus der Kontrastierung seine besondere Legitimati1 Repräsentiert insb. durch die von Hoffmann-Riem, Schmidt-Aßmann und Schuppert seit 1993 herausgegebene Schriftenreihe „Reform des Verwaltungsrechts“ sowie durch das von Hoffmann-Riem, Schmidt-Aßmann und Voßkuhle herausgegebene dreibändige Handbuch „Grundlagen des Verwaltungsrechts“, 1. Aufl. 2006, 2. Aufl. 2012 f. 2 Franzius, Modalitäten und Wirkungsfaktoren der Steuerung durch Recht, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Handbuch der Verwaltungsrechtswissenschaft, Bd. 1, 2. Aufl. 2012, S. 179 ff.
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on, auch seinen Auf bruchselan bezieht. Freilich überzeichnet das Bild den bestehenden Unterschied. Es lässt sich durchaus nicht behaupten, dass jede wissenschaftliche Betrachtung der Wirkweisen des Rechts, der Rechtsformen und Rechtsinstitute, auch der rechtlich geordneten Verfahren zuvor unterblieben wäre oder allenfalls ein randständiges Interesse gefunden hätte. Ebensowenig trifft die Einschätzung zu, kein Rechtswissenschaftler hätte zuvor die Erkenntnisse der empirischen Sozialwissenschaften oder der Betriebs- und Wirtschaftswissenschaften zur Kenntnis genommen oder selbst Rechtstatsachenforschung betrieben. Nimmt man die Überzeichnung fort, so bleibt immerhin eine Akzentuierung des empirischen Erkenntnisinteresses unter dem Leitgedanken der Steuerungsfunktion und der Steuerungspotenz des Rechts. Das soll nicht gering geachtet werden. 3. Die Kritik blieb nicht aus.3 Sie bemängelt im Wesentlichen zweierlei. Das eine bietet eine akademische Spielart des alten Sprichworts, demzufolge dem Schuster empfohlen wird, bei seinem Leisten zu bleiben. Der damit verbundene Einwand ist freilich unberechtigt. Die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ sucht den interdisziplinären Dialog, forscht aber nicht selbst auf fremdem Terrain. Der Verwaltungsjurist nimmt die Erkenntnisse der empirischen Nachbardisziplinen zur Kenntnis, stellt diesen auch selbst Fragen, berühmt sich aber nicht selbst einer eigenen ökonomischen, soziologischen, psychologischen Kompetenz. Dass das disziplinenübergreifende Interesse aber besteht, kann schlechterdings nicht bemängelt werden: Natürlich muss auch den Juristen interessieren, welche Wirkungen von einer bestimmten Normierung, von ihrem Zeitpunkt, dem jeweils gewählten Verfahren ihrer Implementierung, der Detaillierung ihrer vorherigen Ankündigung und nachherigen Begründung, ihrem Vollzug (und dessen Unterbleiben) usw. für die diversen angesprochenen und auch für die nicht angesprochenen, aber gleichwohl irgend betroffenen sozialrealen Subsysteme ausgehen.4 Und es lässt sich schwerlich bestreiten, dass eine verantwortliche Politikberatung all diese Umstände berücksichtigen sollte. Heikler ist der andere Kritikpunkt, der eine gewisse Neigung der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ oder einiger ihrer Protagonisten zum Überschritt vom Sein ins Sollen konstatiert und methodisch bemängelt.5 Tatsächlich hinterlassen manche Schriften den Eindruck, als würden empirische Funktionsbeschreibungen des Rechts zu normativen Optimierungsgeboten umgedeutet, so wenn eine Diagnose gewisser Effizienzdefizite die Erlaubnis oder gar die Aufforderung einschließt, das Defizit sogleich zu beheben, die Lücke kurzerhand zu schließen, den Widerspruch zu glätten usw., und dies ohne den eigentlich nötigen Zwischenschritt, sich durch Auslegung am Normgehalt des geltenden Rechts rückzuversichern, ob dessen Telos die Analogie, die extensive oder die reduktive Auslegung trägt. Doch betrifft auch dieser Ein3 Vgl. nur Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 87 ff.; Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein…, 2006; Rottmann, Bemerkungen zu den „neuen“ Methoden der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Christensen/Pieroth (Hrsg.), Rechtstheorie in rechtspraktischer Absicht, Freundesgabe zum 70. Geburtstag von Friedrich Müller, 2008, S. 207 ff.; Schönberger, Der „German Approach“, Die deutsche Staatsrechtslehre im Wissenschaftsvergleich, S. 4 4 ff. 4 Vgl. Bumke, Rechtsdogmatik. Überlegungen zur Entwicklung und zu den Formen einer Denkund Arbeitsweise der deutschen Rechtswissenschaft, JZ 2014, S. 641 ff. 5 Aus von Kelsen inspirierter Sicht: Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein… Vom Nutzen der Rechtstheorie für die Rechtspraxis, 2006, S. 70 ff.
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wand allenfalls die eine oder andere methodische Ungenauigkeit oder Missverständlichkeit, keinesfalls das Unternehmen als solches. Dass Rechtswissenschaft sich um Rechtstatsachen zu kümmern hat, ist damit keinesfalls zu bestreiten.
II. Politikberatung wendet sich zuvörderst an den Politiker. Wird Recht als Instrument der Steuerung analysiert, so betrifft dies zuvörderst den Rechtsetzer, sei dies der Gesetzgeber oder der administrative Normgeber.6 Deshalb sind Ansatz und Erkenntnisse der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ aber für die Rechtsanwendung nicht ohne Belang. Namentlich die höchstrichterliche Rechtsprechung sieht sich ebenfalls angesprochen, wenngleich auf spezifische Weise. 1. Das folgt freilich noch nicht aus der Erkenntnis, dass auch die Rechtsanwendung nicht ohne Wertungen auskommt, die sich als „politisch“ einordnen lassen. Natürlich ist der Richter kein Subsumtionsautomat, „qui ne prononce que les paroles de la loi“ (Montesquieu). Deshalb obliegt ihm jedoch keine Steuerung in dem von der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ angesprochenen Sinne. Soweit Rechtsanwendung Gesetzesauslegung erfordert, schuldet der Richter nach-denkenden Gehorsam. Seine Wertungen haben die Wertungen des Gesetzes nachzuvollziehen und ggf. fortzudenken. Es handelt sich um derivative Wertungen, nicht um originäre. Die richterliche Tätigkeit ist nur in ihrer Gesetzesbindung legitim, die durch das geordnete gerichtliche Verfahren, die juristische Methode des Gesetzesauslegung und den rationale Diskurs mit den Beteiligten, mit den Kollegen im Spruchkörper und im Instanzenzug gesichert wird; schon deshalb muss sie in der hermeneutischen Immanenz verbleiben, welche die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ für sich gerade überschreiten will. 2. Freilich steht gerade höchstrichterliche Rechtsprechung nicht selten vor Fragen, die den Regelungshorizont des Gesetzes überschreiten. Das betrifft nur sehr selten das oft thematisierte Problem einer Judikatur „contra legem“, das darum hier beiseite gelassen wird. Ungleich häufiger stellt sich das Problem eines Entscheidens „praeter legem“ oder - genauer - des Ordnens punktueller gesetzlicher Regelungen, ihres Zuordnens und Einordnens in sachgebietsübergreifend Systeme: das System des gerichtlichen Rechtsschutzes, das System der Verteilungsverfahren,7 das System des Regulierungsverwaltungsrechts u.a.m. Hier ist durchaus richterliche Kreativität verlangt, und es gilt keinesfalls „iudex non calculat“, sondern der (ebenso klassische) Hexameter: „… et respice finem“. Wichtiges Referenzgebiet ist hier das Allgemeine Verwaltungsrecht. Als weitgehend unpolitisches oder apolitisches Feld zieht es nur selten die Aufmerksamkeit des Gesetzgebers auf sich, der sich auf die Kodifikation des zwischenzeitlich erreichten Standes der Rechtsprechung in großen zeitlichen Abständen beschränkt. Die Rechtsentwicklung obliegt darum in größerem Maße als sonst den Gerichten, die ihre 6 Ausdrücklich Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, 2. Auflage 2012, § 1. 7 Wollenschläger, Verteilungsverfahren, 2010.
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Maßstäbe zudem aus sehr allgemeinen Grundsätzen aus dem Umfeld des Rechtsstaats- und des Demokratiegebots oder – unionsrechtlich gesprochen – aus dem Ideal der „guten Verwaltung“8 bezieht: Grundrechtsschutz durch Verfahren, Rechtsschutzgewähr, Transparenz, Partizipation, Akzeptanz, Berechenbarkeit, Verlässlichkeit usw.9 Hier eröffnet sich auch der Dritten Gewalt ein Feld möglicher Steuerung: der Steuerung der Verwaltung, ihrer Adressaten in Wirtschaft und Gesellschaft, auch der Selbststeuerung der Justiz. Das Allgemeine Verwaltungsrecht hält die relative Mitte zwischen verfassungsoder unionsrechtlichen Grundsätzen und speziellen gesetzlichen Regelungen materieller Referenzgebiete. Es zieht Regelungen der Verwaltungsorganisation, der Handlungsformen und des Verwaltungsverfahrens vor die Klammer, sucht nach durchgängigen Regelungsideen und -strukturen, systematisiert und ordnet so das Material. Damit erweist es sich als das Hauptfeld sich überschneidender Kompetenzbereiche von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft; orientiert sich die Rechtsprechung im Geltungsbereich speziellen Gesetzesrechts naturgemäß am (tatsächlichen oder hypothetischen) Willen des historischen Gesetzgebers, so tritt sie im Horizont des Allgemeinen Verwaltungsrechts, wo dieser oft schweigt, stattdessen in intensiveren Austausch mit der Rechtswissenschaft. Hier kann auch und gerade die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ dienlich sein, wenn und sofern sie über mögliche Effekte erwogener rechtlicher Konstruktionen informiert.
III. In welchem Maße sich die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – ausdrücklich oder nicht – über ihre Effekte informiert hat, ließe sich nur nach einer gründlichen Analyse angeben, die hier nicht geleistet werden kann. Erst auf dieser Grundlage ließe sich dann auch des Näheren ermessen, welchen Eindruck die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ hierbei hinterlassen hat. Immerhin aber lassen sich einige Felder angeben, die insofern besonderer Betrachtung wert erscheinen. 1. Noch ganz auf Gesetzeshermeneutik ausgerichtet war Ules Begriffspaar der „bestimmten“ und der „unbestimmten Rechtsbegriffe“ und seine hierauf antwortende Vertretbarkeitslehre.10 Auch die sich anschließende grundsätzlichere Debatte zu kontrollfreien Beurteilungsspielräumen der Verwaltung blieb lange Zeit im Normzusammenhang des Grundsatzes der Gewaltenteilung verhaftet; in Frage stand das „Letztentscheidungsrecht“ der Verwaltung und deren verfassungsrechtliche Rechtfertigung. Zwar wurde für die Prüfungsentscheidung sowie für die Beamtenbeurteilung schon früh auf die Unwiederholbarkeit oder Unvertretbarkeit der Verwaltungsentscheidung und damit auf einen faktischen Umstand verwiesen, den die normative Betrachtung als „factum brutum“ schlicht zu akzeptieren hatte. Das blieb aber lange Zeit ein unverarbeiteter Sonderfall. Erst in den 1980er Jahren wurde die Frage nach den Funktionsbedingungen der Verwaltung und der Rechtsprechung, Vgl. Art. 14 EU-GRC. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1. Aufl. 1998, 2. Aufl. 2004. 10 Ule, Verwaltungsprozessrecht. Ein Studienbuch, 1. Aufl. 1960, 9. Aufl. 1987. 8 9
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nach beider Unterschieden und in der Folge nach den Funktionsgrenzen der Rechtsprechung genauer gestellt.11 Mit der Kommentierung des § 114 VwGO durch Michael Gerhardt im Großkommentar von Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (1994)12 brach sich schließlich eine dogmatisch neu fundierte Behandlung „diskretionärer Entscheidungsspielräume“ der Verwaltung Bahn, welche Ermessen, Beurteilungsspielräume und Planung als im Grunde gleich oder doch ähnlich strukturierte Realitäten modernen Verwaltungshandelns analysiert und die rechtsnormative Behandlung an dieser rechtstatsächlichen Erkenntnis ausrichtet. Verwaltung und Recht sprechung als gleichermaßen dem Rechtsstaat und dem Gesetz verpflichtete Staatsfunktionen zu verstehen und beider Letztentscheidungsrechte – besser: Letzt entscheidungsanteile – nach Maßgabe einer als sinnvoll erachteten Kompetenzverteilung abzugrenzen, ist freilich noch heute durchaus nicht unbestrittener Stand der Rechtsentwicklung. Gerade die jüngste Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum sog. Regulierungsermessen, welche ganz im Sinne Gerhardts Einschätzungsprärogativen der Bundesnetzagentur aus auch funktionalen Gründen akzeptiert,13 sieht sich starker Kritik ausgesetzt, die ihrerseits wieder ganz verfassungsrechtlich-normativ argumentiert.14 2. Die 1960 erlassene Verwaltungsgerichtsordnung konzipiert die gerichtliche Verwaltungskontrolle ganz vom Verwaltungsakt her, also zum einen aus der Perspektive des subjektiven Rechtsschutzes und zum anderen als nachgängiges Erkenntnisverfahren, das im Falle des Klageerfolges auf Kassation oder auf Urteilsvollstreckung setzt. Klagemöglichkeiten bei Realakten finden nur stiefmütterliche Behandlung. Flankiert wird diese Einzelaktskontrolle durch eine verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle, die nach ihrem möglichen Gegenstand von vornherein lückenhaft,15 dafür aber als objektives Beanstandungsverfahren mit ursprünglich weitgefasster Antragsbefugnis – in Anlehnung an die französische Interessentenklage auf bloßen „Nachteil“ hin – in Disharmonie zum ansonsten geltenden subjektiven Rechtsschutzmodell ausgestaltet ist.16 Schon bald hat es die Rechtsprechung unternommen, dieses wenig konsistente Klagesystem zu vervollständigen und zu systematisieren. Allerdings blieb auch dies zunächst noch nur Thema normhermeneutischer Bemühungen. Erst in jüngerer Zeit treten Fragen der Funktion des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes für die verbindliche Formulierung des Gemeinwohls und die Durchsetzung des Gesetzesrechts ins Blickfeld. Das stellt nicht nur Fragen der Aufgabenstellung für die Verwaltungsgerichte, die noch durchaus normativ beantwortet werden können. Es stellt auch Fragen der Funktionsweise, der Reichweite und der Wirksamkeit einer verwaltungsgerichtlichen im Vergleich namentlich mit einer intern-administrativen oder einer Überblick bei Rennert, in: Eyermann, VwGO-Kommentar, 14. Aufl. 2014, Rn. 51 ff. zu § 114. Gerhardt, Kommentierung von § 114 VwGO, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (heute: Schoch/Schneider/Bier), Verwaltungsgerichtsordnung Kommentar, Loseblatt, Stand 1994. 13 BVerwGE 120, 263; 131, 41; 148, 48; 151, 56; 151, 268. 14 Etwa Sachse/Jasper, NVwZ 2012, 649; Schütze, N&R 12 (2015), S. 28; Würtenberger, GewArch. 62 (2016), S. 6 ; Gärditz, DVBl. 2016, S. 399; zustimmend hingegen Säcker/Mengering, N&R 11 (2014), S. 74; Lange, EnWZ 2015, S. 275. 15 Außer gegen Bebauungspläne ist die abstrakte Normenkontrolle nur gegen untergesetzliches Landesrecht eröffnet, und auch dies nur dann, wenn der Landesgesetzgeber es vorsieht: § 47 Abs. 1 VwGO. 16 Zwischenzeitlich wurde § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO dem § 42 Abs. 2 VwGO angeglichen. 11
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extern-parlamentarischen (und öffentlichen) Verwaltungskontrolle. Und es stellt Fragen nach Rechtsschutzlücken, die sich angesichts neuartiger Formen des Verwaltungshandelns – etwa des administrativen Informationshandelns17 – stellen. Die Konsistenz und Effektivität des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes zu wahren, ist eine primäre Aufgabe der Rechtsprechung, wenn und solange der Gesetzgeber sich des Problems nicht annimmt. Die vorhandenen Auslegungsspielräume dabei im Sinne einer Rechtsschutzoptimierung zu nutzen, liegt dabei nahe und dürfte durch den zentralen verfassungsrechtlichen Rechtsschutzauftrag gedeckt sein. Ebenso liegt nahe, dass sich solche Rechtsprechung durch Erkenntnisse der Rechtswissenschaft über ihre eigenen Funktions- und Wirksamkeitsbedingungen informieren lässt.18 Die Herausforderung vervielfältigt sich, stellt man zusätzlich den Rechtsschutz im europäischen Mehrebenenverbund in Rechnung.19 Hier gilt es nicht nur, nationalen und unionalen Rechtsschutz zu koordinieren und Rechtsschutzlücken zwischen beiden zu vermeiden oder zu schließen. Ebenso gilt es, wie den nationalen so auch den unionalen Rechtsschutz als solchen zu einem in sich konsistenten System auszuformen. Dabei muss besonders Bedacht darauf genommen werden, dass der unionale Rechtsschutz anschlussfähig für je unterschiedlich konzipierte nationale Rechtsschutzsysteme bleibt und sich einer deformierenden Dominanz enthält. Das unionsrechtliche Leitbild des effektiven Rechtsschutzes ist offen für flexible Lösungen. Diese Flexibilität lädt aber geradezu gebieterisch ein, sich über die Wirkungen des jeweiligen Tuns nicht nur auf die gerichtlichen Rechtsschutzsysteme, sondern auch auf Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zu unterrichten. Als Beispiel sei nur auf die möglichen Wirkungen hingewiesen, welche ein Instrument des vorbeugenden oder vorläufigen Rechtsschutzes einerseits, das Inaussichtstellen harter Sanktionsfolgen andererseits nach sich ziehen. 3. Auf das weite Feld des Allgemeinen Verwaltungsrechts wurde bereits hingewiesen. Auch hier war das Bundesverwaltungsgericht nach seiner Gründung mit normativ-hermeneutischen Überlegungen gestartet, wenngleich das positivrechtliche Material überaus verstreut und eklektisch war, so dass das Gericht immer wieder auf allgemeine Rechtsgrundsätze, mitunter auch auf ein Gewohnheitsrecht kraft Verwaltungspraxis zurückgreifen musste. Nach der Kodifikation 1976 setzte naturgemäß eine Phase der auslegenden Aneignung des neuen Verwaltungsverfahrensgesetzes ein, ehe sich 15 bis 20 Jahre später – als Folge der Privatisierungswelle – neue Herausforderungen stellten. Dies fiel vielleicht nicht von ungefähr mit der Proklamation der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ zusammen, mit Eberhard Schmidt-Aßmanns programmatischer Schrift über das „Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee“ (1998) 20 als Kulminationspunkt.
17 Dessen Besonderheit liegt darin, dass es sich durchweg um Realakte handelt, die sich mit Ergehen schon „vollziehen“, so dass der nachgängige gerichtliche Rechtsschutz ineffektiv ist. 18 In diesem Sinne Schmidt-Aßmann, Kohärenz und Konsistenz des Verwaltungsrechtsschutzes, Herausforderungen angesichts vernetzter Verwaltungen und Rechtsordnungen, 2015, S. 115 ff.; dazu Rennert, Die Verwaltung 49 (2016), S. 4 41 ff. 19 Zum Folgenden insb. Schmidt-Aßmann, ebd. S. 63 ff. 20 Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee. Grundlagen und Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung, 1. Aufl. 1998, 2. Aufl. 2004.
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Gerade in jüngerer Zeit sieht sich die höchstrichterliche Fortentwicklung des Allgemeinen Verwaltungsrechts vor Herausforderungen gestellt, welche zu einer Folgenabschätzung des eigenen Tuns mit Blick auf die öffentliche Verwaltung, aber auch mit Blick etwa auf das Wirtschaftsleben zwingt. So nötigt das zunehmende öffentliche Infragestellen größerer Infrastrukturvorhaben dazu, Gesichtspunkte der Partizipation und der Transparenz mit dem Ziel größerer Akzeptanz21 sowohl in die Konzeption des Verwaltungsverfahrens (und nach Möglichkeit schon des vorbereitenden Konzeptverfahrens beim Vorhabenträger) als auch des Verwaltungsprozesses selbst zu integrieren. Die erwähnte Privatisierungswelle öffnete den zuvor geschlossenen Raum des Verwaltungsorganisationsrechts für die Mitwirkung und Mitverantwortung privater Akteure, was zu der Frage führte, auf welche Weise und unter welchen Voraussetzungen sich diese für die öffentlichen Zwecke würden einspannen lassen. So gerieten die überkommenen Rechtsfiguren des Verwaltungshelfers und des Beliehenen in Bewegung; 22 das Cross-Border-Leasing erwies sich als missglücktes Privatisierungsmodell, was vor Folgeprobleme stellt; 23 die nur unvollständige legislatorische Entflechtung des Bahnkonzerns erzeugte bei dem Gericht nur geringes Zutrauen in „chinese walls“ und führte deshalb zu einem zusätzlichen Entflechtungsimpuls; 24 zugleich greifen die Bindungen des Privaten durch das sog. Verwaltungsprivatrecht weiter aus.25 Und auch wirtschaftliche Folgen galt es zu bedenken, als etwa das Bundesverwaltungsgericht die Auflösung übertriebener Rücklagen bei den Industrieund Handelskammern erzwang.26 Es soll nicht behauptet werden, dass all diese und vergleichbare weitere Entwicklungen der jüngeren Rechtsprechung von Erkenntnissen der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ inspiriert wären. Sie stehen aber für eine moderne Judikatur, welche sich nicht darauf beschränkt (oder auch nur beschränken kann), einen Gesetzessatz normimmanent-hermeneutisch nach Wortlaut, Systematik, Historie und Teleologie auszulegen, sondern durchaus mutig der allgemeinen Erwartung an judikative Rechts- und damit auch Sozialgestaltung gerecht zu werden sucht. Solches Judizieren muss unvermeidlich um die Wirkungs- und Funktionszusammenhänge der Rechtsordnung und der Eigengesetzlichkeiten derjenigen Sozialbereiche wissen, auf die diese Rechtsordnung jeweils trifft. Es ist daher durchaus daran interessiert, von einer Rechtswissenschaft informiert und belehrt zu werden, die diese Zusammenhänge thematisiert. Und daran, dass diesbezügliche Annahmen, so plausibel sie sein mögen, durch überprüf bare Erkenntnisse unterlegt werden. 4. Nicht immer geht die Wissenschaft voran. Mitunter hat die Rechtsprechung selbst schon früh funktionenorientierte Unterscheidungen und Konstruktionen entwickelt, die dann von der Verwaltungsrechtswissenschaft - nicht nur, aber auch von der „Neuen“ - aufgegriffen und verallgemeinert wurden. Ein Beispiel bildet die sog. verdrängende Konkurrentenklage. Hier wurden, beginnend im Güterkraftverkehrs21 Vgl. Kaiser, Die Kommunikation der Verwaltung, 2009; Bredemeier, Kommunikative Verfahrenshandlungen im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht, 2007. 22 BVerwGE 136, 43; 137, 377. 23 BVerwGE 135, 352; Buchholz 401.0 § 39 AO Nr. 2 . 24 BVerwGE 137, 58. 25 BVerfGE 128, 226 – Fraport. 26 BVerwG, NVwZ 2016, 613.
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und Personenbeförderungsrecht,27 vorgegebene Bausteine des Prozessrechts – die Anfechtung der Drittbegünstigung, das Verpflichtungsbegehren in eigener Sache – in Ausrichtung auf das tatsächliche Rechtsschutzziel kombiniert, alsdann das eine Begehren in dienende Abhängigkeit zum anderen gerückt und in einer weiteren Entwicklungsphase, nunmehr zum Krankenhausfinanzierungsrecht,28 schließlich alles flexibilisiert und dynamisiert. Heute prägt das Modell den Rechtsschutz auch in anderen Konkurrenzlagen 29 und verbindet sich mit Bemühungen der Wissenschaft, die Grundstruktur von staatlichen Verteilungsentscheidungen zu analysieren und auf allgemeine Bauprinzipien zurückzuführen.30 Noch bedeutsamer wurde die ZweiStufen-Theor ie, welche das Bundesverwaltungsgericht nach Vorarbeiten von Ipsen31 schon im ersten Band seiner Entscheidungssammlung für das Subventionsrecht entworfen32 und später auf das Recht der Benutzung öffentlicher Einrichtungen übertragen hat. Ihr lag der Gedanke zugrunde, Rechtsverhältnisse nicht zur Gänze entweder dem öffentlichen oder dem privaten Recht zu unterstellen, sondern Kombinationen zuzulassen, welche unterscheidbare Stufen dieser Rechtsverhältnisse den beiden Hemisphären des Rechts nach deren spezifischer Leistungsfähigkeit sinnvoll zuordnet.33 Die Wissenschaft hat dies aufgegriffen und fasst das öffentliche und das private Recht heute als „wechselseitige Auffangordnungen“ auf, mit je typischen Leistungsstärken und -schwächen.34 Die damit verbundene Einsicht bricht sich im materiellen Recht in weiteren Zusammenhängen – im Verwaltungsprivatrecht, im Vergaberecht – schrittweise Bahn. Leider verläuft die Entwicklung im Prozessrecht damit nicht kongruent; der Gesetzgeber und die Rechtsprechung – auch die des Bundesverwaltungsgerichts selbst 35 – haben es bislang nicht vermocht, die spezifischen Qualitäten der Zivilgerichtsbarkeit einerseits, der Verwaltungsgerichtsbarkeit andererseits für eine Optimierung des Rechtsschutzes zu nutzen. Vielmehr behindern die wenig funktionsadäquaten Rechtswegzuweisungen eine konsistente Fortentwicklung der Rechtsprechung auf den Gebieten des Verwaltungsrechts. Hier bietet sich der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ ein lohnendes Feld zu weiterer Politikberatung.
BVerwGE 79, 208; 80, 270; 82, 260. BVerwGE 132, 64; vgl. Rennert, Konkurrentenschutz im Krankenhauswesen, GesR 2008, S. 344. 29 Zum Beamtenrecht jüngst Kenntner, Rechtsstruktur und Gestaltung von Konkurrentenstreitigkeiten um Vergabe öffentlicher Ämter, ZBR 2016, S. 181. 30 Wollenschläger, Verteilungsverfahren, 2010; Rennert, Konkurrentenklagen bei begrenztem Kontingent, DVBl. 2009, S. 1333. 31 Nachholender Abdruck: Ipsen, Festschrift für A. Wacke, 1972, S. 139. 32 BVerwGE 1, 308. 33 Überblick bei Rennert, in: Eyermann, VwGO-Kommentar, 14. Aufl. 2014, Rn. 46, 49 ff. zu § 4 0 VwGO m.w.N. 34 Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996. 35 BVerwGE 129, 9 zum Rechtsweg bei „unterschwelliger“ Vergabe. 27
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Porträts und Erinnerungen
Von Adenauer bis Merkel: Die Rechtswelt im Spiegel meiner Erinnerung von
Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Meyer, Humboldt-Universität zu Berlin Inhalt I. Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 II. Die Ausbildung zum Juristen: Das Studium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 III. Die Ausbildung zum Juristen: Das Referendariat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 IV. Das juristische Leben auf dem Weg zum Ordinariat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 V. Ordinarius in Frankfurt 1974 bis 1996 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 VI. Gutachterliche Tätigkeit und Prozessvertretungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 VII. Auf dem Weg nach Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 VIII. Die Freiheiten eines Emeritus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 IX. Die Föderalismusreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566 X. Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569
I. Kindheit und Jugend Am 16. März 1933 in Aachen geboren, wuchs ich in einem Dorf am Fuße der Eifel auf. Mein Vater, ein begnadeter Pianist, war wegen der Inflation Anfang der 20er Jahre vom Musikstudium in München zurückgerufen worden und hatte eine Stelle in der Kommunalverwaltung gefunden. Meine Mutter hatte eine Lehrerausbildung, den Beruf bei vier Kindern aber nicht ausgeübt. Ich wuchs in der geschützten Posi tion des Dritten auf. Stadt- und Landleben waren damals verschiedene Welten. Das Landleben war rauer, freier, aber enger in den Möglichkeiten. Die zweiklassige Volksschule diente der mühsamen Domestikation. Konflikte und Frust wurden auf dem Schulhof oder auf dem Heimweg handgreiflich ausgetragen. Mangelnde Körpergröße musste durch strategisches Verhalten, Wendigkeit und Schnelligkeit aufzuwiegen versucht werden. Der Besuch des humanistischen Kaiser-Karls-Gymnasiums in Aachen endete wegen der Bombenschäden schon Anfang 1944 und es begann mit dem Einmarsch der
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Amerikaner Mitte September 1944 – wir waren „die ersten befreiten Deutschen“1 – die vaterlose Zeit der Abenteuer. Man entwickelte neues Geschick, von der Überfluss-Armee Wertvolles für den Magen oder den Tausch zu ergattern, sammelte und „spielte“ mit scharfer Munition und begann auch aus Übermut „Kriege“ mit den Kindern anderer Dörfer. Vielleicht ist diese ungewöhnliche Jugend der Grund, warum ich in meiner juristischen Profession keinem Streit aus dem Weg gegangen bin. Das erste Mal ist mir jenseits familiärer Querelen ein Gefühl von fundamentaler Ungerechtigkeit entstanden, als 1946 das Gymnasium wieder aufmachte und der Sohn des Direktors, mit dem ich in derselben Sexta saß, in die Quinta eingeschult wurde, weil er sich in Latein weitergebildet habe; ich hatte das aber auch. So verlor ich anderthalb Jahre und machte erst mit 21 Jahren Abitur. Aus der Klasse von 24 sind aber immerhin fünf Professoren geworden. Die Schule war keine des Lebens. In der Lehrerschaft fehlten die aktiven Jahrgänge und die Überbetonung der humanistischen Idee verdeckte nur, dass man wie auch sonst in der Gesellschaft und später im Studium die jüngere Vergangenheit durch Schweigen zu überwinden hoffte. Der Geschichtsunterricht endete bei Bismarck; nicht einmal an den ersten Weltkrieg traute man sich heran.
II. Die Ausbildung zum Juristen: Das Studium Die Berufswahl war offen. Weder von den Eltern noch von Freunden gab es Ratschläge. Ich entschied mich für die Jurisprudenz, weil mich der öffentliche und damit politische Raum interessierte und ich nach Studium und Referendariat immer noch eine breite Berufsauswahl haben würde. Diese Offenheit und ein gewisser rebellischer Charakterzug verhinderte auch, dass ich während der überlangen Referendarzeit eine Doktorarbeit wenigstens anfing: Ich wollte ohne Promotion meinen Weg gehen. Das war nicht gerade weitsichtig. Dafür absolvierte ich mein Studium in sechs Semestern, drei in Freiburg, ein besonders unfruchtbares in München und zwei in Bonn. Zunächst also ins „Ausland“, das man jenseits des Rheinlandes witterte. In Freiburg stand das Zivilrecht im Vordergrund. Das öffentliche Recht war verwaist, weil Maunz kurz zuvor nach München gewechselt war und der Völkerrechtler Grewe ans Auswärtige Amt. Das Strafrecht interessierte mich wenig, obwohl es meist die Einstiegsdroge ins Jurastudium ist und mit Jescheck gut vertreten war. Dagegen faszinierte mich v. Caemmerer, ein lebhaft durch die Reihen gehender und gelegentlich Fragen stellender Zivilist, der mein Bedürfnis nach struktureller Sicherheit in der Materie voll befriedigte. Eine Hausarbeit bei ihm bestärkte mich in einem weiteren Punkt. Ich hatte unerwartet eine Steuerrückerstattung über 50 Mark von der Arbeit in einem Bergwerk vor dem Studium erhalten und diesen Geldsegen in einen Band Enneccerus-Lehmann „Recht der Schuldverhältnisse“ angelegt, das damals bei weitem dickste und bedeutendste Buch zur Materie. Der Kauf war der Anfang der Sucht nach einer möglichst großen Bibliothek. So gewappnet hoffte ich, die Hausarbeit lösen zu können. Zu meiner 1 Natürlich war das damals keine geläufige Kategorie. Die wenigen Nazis in dem Ort hatten sich auch schon längst abgesetzt.
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Verwunderung erkannte ich, dass die v. Caemmer’sche Hausarbeit, richtig gelöst, das Buch Lügen strafte. Seitdem wurde ich gegen „Autoritäten“ immun. Ein ähnliches Erlebnis in Bonn führte dazu, dass ich mich schon nach sechs Semestern 2 zur Prüfung meldete. Der Vorlesungsstar in Freiburg war Erik Wolf. Wenn er die durchaus widersprüchlichen rechtsphilosophischen Konzepte im geschichtlichen Ablauf darstellte, war man von jedem so überzeugt, dass man an der eigenen Urteilskraft zweifeln musste. Unkonventionell war der alte Gustav Boehmer, der im Sommersemester in kurzer Hose mit dem Fahrrad zur Uni kam und sich nicht scheute, zur Demonstration der Probleme im Scheidungsrecht die Erfahrungen seiner Tochter auszubreiten. Dass Ernst-Rudolf Huber, einer der sehr wenigen Starjuristen des Dritten Reiches, die keinen Lehrstuhl mehr erhielten, und der daher die Zeit hatte, eine achtbändige Verfassungsgeschichte zu schreiben, nur Nebengebiete des Zivilrechts lesen durfte, war uns nicht aufgefallen. Was im Dritten Reich geschrieben worden war, war längst in den Giftschrank der Bibliotheken gewandert. Streichquartettspielen und im Winter auf dem Schauinsland Ski fahren waren ein angenehmer Ausgleich zur Jurisprudenz. Außerdem lockten Fahrradtouren ins Elsass. Der Wechsel nach München im Wintersemester 1955/56 war unergiebig. Zwar hörte ich zum ersten Mal öffentliches Recht. Aber das Verwaltungsrecht von Theodor Maunz war so langweilig, dass ich mit einem Kommilitonen unter der Bank Steckschach spielte. Mir fiel aber auf, dass er zweimal sogar in der Vorlesung erwähnte, die Amerikaner hätten ihn nach dem Krieg zum Landrat ernannt, ich glaube er nannte Schongau. Erst die nach seinem Tode bekannt gewordene Verbindung zu rechtsradikalen Kreisen machte diese frühe Beteuerung verständlich. Der alte Rosenberg las sein Zivilprozessrecht ohne aufzublicken ungerührt von den Fahnen der neuesten Auflage ab; auch sonst gab es wenig spannende Vorlesungen. Dagegen hielt der 76jährige Nawiasky ein durchaus interessantes Seminar zu allgemeinen staatsrechtlichen Themen ab. Es kamen nur drei Studenten; aber wir hielten durch. Zwei Erkenntnisse sind mir haften geblieben: Die Staaten verhielten sich nicht anders als die Menschen, teils egoistisch, teils altruistisch3 und, augenzwinkernd, man könne nachweisen, dass Frauen von Hause aus undankbar seien: Sie hätten nie die Partei gewählt, die ihnen das Wahlrecht verschafft habe. Die Rückkehr ins Rheinland, nach Bonn, begann mit einem Schock, einer „ungenügenden“ Klausur im öffentlichen Recht bei Ulrich Scheuner, dem letzten Polyhistor des öffentlichen Rechts. Er breitete sein Wissen aus und wenn er gelegentlich auf eine notwendige Korrektur angesprochen wurde, vereinnahmte er die Kritik elegant mit der stereotypen Formel: „Man wird freilich nicht außer Acht lassen dürfen …“. Scheuner, der bescheiden in seiner Bücherhöhle lebte, war der Gutachter der Bundesregierung und wurde von Ehmke einmal gerügt, er verderbe die Preise. Trotz des Fehlstarts ins öffentliche Recht konzentrierte ich mich weiter auf das Zivilrecht und das Strafrecht und besuchte mit hohem Interesse die Seminare von Flume, ein erratischer Charakter, und Welzel. Es war die Zeit der erbitterten Kämpfe um die
Der Meldetermin lag damals im Durchschnitt jenseits des achten Semesters. Wenn man will, kann man darin die Vorahnung einer staatswissenschaftlichen Spieltheorie sehen.
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finale oder die kausale Handlungslehre im Strafrecht. Mit der normalen Strafrechtspraxis hatte das, wie schon das Referendariat zeigen sollte, wenig zu tun.4 Im 6. Semester schrieb ich meine letzte Pflicht-Hausarbeit bei dem Wirtschaftsrechtler Ballerstedt. Die meisten hatten sich längst aus Angst vor dem Examen einem Repetitor zugewandt. „Der Schneider“ mit dem Selbstlob, „die einzige Hochschule Deutschlands“ zu sein, war der Gefragteste. Zu der Hausarbeit hatte er eine Lösung propagiert, an die sich über 200 Übungsteilnehmer gehalten haben. Sie war aber in einem wichtigen Punkte falsch, wie mir und einem anderen mir unbekannten Teilnehmer aufgefallen war. Die entsprechend hohe Note bestärkte mich in dem Entschluss, schon jetzt das Examen zu versuchen und die Vorbereitung allein zu meistern. Da man das Fach der obligatorischen Hausarbeit wählen konnte, nahm ich das im Studium vernachlässigte Öffentliche Recht. Und da ich mich schon nach dem 6. Semester ins Examen begeben wollte, beschloss ich, die eingesparte Zeit durch hohe Intensität des Lernens zu kompensieren. Das hieß 14 Stunden am Tag lernen und den Kontakt zur Welt auf das allernotwendigste zu beschränken. Der erste Beschluss ergab einen Volltreffer. Das Thema der Hausarbeit war eine sofort wirksame Verlängerung der Wahlperiode durch ein Parlament. Die Ausbeute an Literatur war sehr mager: Man darf nicht vergessen, dass es noch 1957 ernsthafte Kommentare zum Grundgesetz nur in Ansätzen gab. Man musste also selbst ein Konzept entwickeln. Dabei geriet ich an Carl Schmitt, mit dem auseinanderzusetzen mir großen Spaß machte, und auch die Tatsache, dass der Erstprüfer ein alter Schmittianer war, schadete mir, wie sich herausstellen sollte, nicht wirklich. Nach dieser Arbeit ließ mich das öffentliche Recht nicht mehr los.
III. Die Ausbildung zum Juristen: Das Referendariat Die Länge der mit Prüfung vierjährigen Referendarzeit war im Rückblick betrachtet ein Skandal. Bis in die Prüfung hinein war es zudem der Versuch, Justizjuristen heranzubilden und keine große Rücksicht auf das erheblich breitere Berufsfeld zu nehmen. Meine Erfahrungen mit der Justiz waren zwiespältig. Am kurzweiligsten war es noch bei der Staatsanwaltschaft in Bonn. Danach kam ich an die „Quirini-Straf kammer“. Quirini, aus dem Krieg zurückgekehrt, galt als „scharfer Hund“. Der Kammer war kurz vorher durch eine nur formal korrekte, inhaltlich aber mehr als peinliche und heftig umstrittene Änderung der Geschäftsverteilung ein heikler Prozess im Wege der „H-Spaltung“ entzogen worden. Das war der Buchstabe, der über die Zuständigkeit für den Prozess u.a. gegen Kilb entschied. Kilb, persönlicher Referent Adenauers, hatte sich von Mercedes eine Reihe schicker Leihwagen kostenlos, ohne Reparaturlasten und versichert zur Verfügung stellen lassen. Es war der erste prominente bundesrepublikanische Korruptionsfall. Die neu zusammengengesetzte Strafkammer entsprach den Erwartungen der H-Spalter und sah in dem Verhalten kein Amtsdelikt. Es handle sich vielmehr um erlaubte Parteifinanzierung, da Adenauer 4
Ein Frankfurter Kollege meinte, die Theorie habe der Strafwut der Nazis genutzt.
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untrennbar von der Kanzlerschaft auch Parteivorsitzender sei. In Wirklichkeit ein Justizskandal. An die um den spektakulären Kilb-Prozess gebrachte Quirini-Kammer kam nun der Blankenhorn/Hallstein-Prozess. Als Adenauer eine Verständigung mit Israel suchte, war Strack Referatsleiter „Vorderer Orient“ im Wirtschaftsministerium. Er war Gegner eines Israelvertrages. Auf Betreiben des Auswärtigen Amtes wurde er in das Referat „Ferner Osten“ versetzt. Im Hintergrund schwebte ein Vorwurf der Bestechlichkeit; von 100.000 DM war die Rede. Ihn hatte ein Ägypter erhoben, der nicht zum eigentlichen diplomatischen Personal gehörte. Blankenhorn war zu der Zeit Leiter der politischen Abteilung, Hallstein Staatssekretär des Auswärtigen Amtes. Der Vorwurf war kaum glaubhaft. Dem Ägypter konnte man, wollte man aber auch nicht beikommen. Er berief sich auf diplomatische Immunität, was die Angeklagten akzeptiert hatten; sie wussten den Leiter der Rechtsabteilung des AA Mosler auf ihrer Seite. Selbst Adenauer scheint interveniert zu haben; er wurde nämlich von der Kammer „befragt“, freilich nicht, wie das Gesetz es befahl, in seinen Diensträumen, sondern zu Hause in Rhöndorf. Der in den Fernen Osten kaltgestellte Strack zeigte die in seine Versetzung involvierten Angeklagten u.a. wegen Verleumdung an. Ein Blick in die Akten vor Prozessbeginn hatte mich von dem Vorwurf nicht überzeugt. Die Verhandlungen verliefen spektakulär und unter intensiver Beteiligung der Presse. Die Kammer verurteilte Blankenhorn, mittlerweile Botschafter bei der Nato in Paris, und sprach Hallstein mangels Beweises frei. Der konnte sich dagegen nicht wehren, Blankenhorn dagegen wurde vom Bundesgerichtshof freigesprochen. Selbstverständliche Übung war, dass Referendare nicht nur bei den Verhandlungen anwesend waren, sondern auch an der Beratung der Kammern teilnahmen, gelegentlich auch gefragt wurden; sie waren wie die Richter an das Beratungsgeheimnis gebunden. Hier aber wurden wir ausgeschlossen, was wir als beleidigend empfanden. Natürlich fragten wir uns, ob nicht der – freilich zweitklassige – Freispruch Hallsteins wegen der Grundhaltung der Kammer zur Sache allein seinem neuen Posten als Kommissionspräsident zu verdanken gewesen war, was die Richter gerne für sich behalten wollten. Die Zivilgerichtsbarkeit offerierte neben dem großen Amtsgericht drei Monate kleines Amtsgericht, ein halbes Jahr Landgericht und ein halbes Jahr Oberlandesgericht. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde offenbar als eine Art Sondergerichtsbarkeit angesehen, die für die Ausbildung nicht benötigt wurde. Ich wählte das Amtsgericht Monschau. Für den kleinen, sehr malerisch in dem engen Tal der Rur gelegenen Ort mit Fachwerkhäusern und Schieferdächern, bekannt für seine über Jahrhunderte währende und in aller Welt begehrte Tuchproduktion, war das pompöse Gerichtsgebäude ein preußischer Fremdkörper. Hier verwalteten ein Oberamtsrichter und ein ihm zugeordneter Richter, der die Abordnung wohl eher als Strafe angesehen hat, das Monschauer Landrecht. Das war schon deshalb nicht mit dem geltenden Recht identisch, weil man schon des längeren aufgehört hatte, sich mit neuerer juristischer Literatur zu beschäftigen. Die gängigen Periodika waren abbestellt, die Bibliothek eine Karikatur. Es gab also eine freie Rechtsschule zu besichtigen; das war nicht ohne Charme. Interessant waren natürlich wegen der notwendigen mündlichen Verhandlung die Strafprozesse. Der Richter duzte seine „Kunden“,
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was die als ganz normal betrachteten, und kürzte manchen Ausredeversuch des Angeklagten oder auch eines Zeugen mit dem immer hingenommenen Zwischenruf „Du lügst“ ab. Bei diesem Stil waren in Zivilstreitigkeiten Vergleichsvorschläge des Richters fast immer erfolgreich, was ihn zugleich von der Last befreite, ein Urteil zu schreiben. Ich kann mich aber nicht erinnern, je das Gefühl einer Fehlentscheidung gehabt zu haben. Bei der Fahndung nach einer älteren Strafakte wegen Fahrens ohne Führschein wurde mir klar, wie sehr ich selbst von diesem Arbeitsstil profitiert hatte. Der Versuch, während der Semesterferien in der dünn-besiedelten Eifel Motoradfahren zu lernen, hatte zu einem Straf befehl über 360 DM geführt. Das war mehr als ich für ein ganzes Sommersemesser zur Verfügung hatte. In meinem Einspruch hatte ich darauf hingewiesen, dass die Straße belgisches Hoheitsgebiet sei, nur unter deutscher Verwaltung stehe und Belgien keine Führerscheinpflicht kenne. Der Richter hatte sich mit einem kurzen „weglegen“ auf meinem Einspruch von jeder Wertung der damit aufgeworfenen Fragen suspendiert. Für das halbe Jahr 1958 an dem einzigen und daher riesigen Landgericht in Berlin-Tegel gegenüber dem Park des Charlottenburger Schlosses, einem Kasten in pseudoromanischem Stil, ist juristisch nicht viel zu berichten. Die Anonymität ist fürs Lernen nicht sehr förderlich. Ich interessierte mich daher mehr für Konzerte unter Karajan, damals noch in der Hardenbergstraße, für die Staatsoper und die Komische Oper und für das Brecht-Ensemble – die Mauer stand noch nicht. Ohne zu ahnen, welche Rolle die Humboldt-Universität in meinem Leben spielen würde, versuchte ich eines Tages, mir dort eine Vorlesung anzuhören. Durch das menschenleere Hauptgebäude gelangte ich vor die Tür eines vollen und merkwürdig ruhigen Hörsaals. Mit einem kollektiven Blick ohne Worte wurde mir aber signalisiert, dass ich nicht hierher gehöre. Als ich zurücktrat, kam mir der Professor von zwei Assistenten flankiert entgegen – es war der Völkerrechtler Steininger – und auf meine Frage, ob ich zuhören dürfe, verwies er auf den Prorektor. Da der für die politischen Fragen zuständig war, bedeutete das praktisch „nein“. Viel an juristischer Praxis gelernt habe ich in der sechsmonatigen Rechtsanwaltsstation. Mittlerweile war ich nebenher an die Universität Bonn zurückgekehrt und auf Anregung Froweins in das Friesenhahn-Seminar eingetreten. Ich suchte eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft. Es war der bekannte und zu Recht berühmte Rechtswalt Hans Dahs (der Ältere), der mich für seinen zivilrechtlichen Klausurenkurs nahm. Da er mit meinen Vorzensuren sehr zufrieden war, wagte ich ihn zu fragen, ob ich meine Anwaltsstation bei ihm machen könne. Ich wollte aber nicht länger als sechs Monate in der Kanzlei bleiben, wie es aus Effizienzgründen gewünscht war, da ich schon längst das Öffentliche Recht als mein Lieblingsfach gewählt hatte. Dahs war zu Recht berühmt für seine Plädoyers. Sie trugen ihm selbst bei Verlust eines Prozesses oft das Lob der Klienten ein. Für die „freie Stage“ kam ich 1959/1960 beim Baubeigeordneten des Deutschen Städtetages unter, dem Vater „meines“ Cellisten. Das hatte Folgen für meine wissenschaftliche Entwicklung. 1960 wurde das vom Städtetag eng begleitete Bundesbaugesetz, jetzt Baugesetzbuch, nach jahrelanger Vorarbeit verabschiedet. Es sollte eine Kommentierung durch kommunale Experten geben. Diese zu organisieren war die natürliche Aufgabe des Baubeigeordneten. Er sammelte einen Kreis von Experten
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aus den Städten und man einigte sich auf ein Loseblattwerk, das kontinuierliche Ergänzung und schnelle Reaktion auf Gesetzes- und Rechtsprechungsänderungen erlaubte. So kam der mittlerweile auf sechs dicke Bände und 10.000 Seiten angewachsene „Brügelmann“ auf die Welt. Der Namensgeber war eine imposante Erscheinung und stand über seinen Freund Edgar Salin dem Georgekreis nahe, er hatte aber das Handicap, Wirtschaftswissenschaftler und eben nicht Jurist zu sein. Ein Namensgeber ohne Autorenschaft war aber undenkbar. So lernte ich als Referendar und Ghostwriter das Handwerk des Kommentarschreibens, freilich lange Zeit für weniger bedeutende Gesetzesbestimmungen. Als aber der Gesetzgeber den Verstoß gegen Verfahrensregeln in seiner Bedeutung erheblich reduzierte, erschien die Kommentierung unter meinem Namen und trug mir bei einer Besprechung von einem etablierten Kollegen die literarische Bezeichnung „Edelfeder“ ein.
IV. Das juristische Leben auf dem Weg zum Ordinariat 1957 übernahm ich die von Frowein aufgegebene halbe Stelle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters, welche die Bonner Fakultät Friesenhahn zugebilligt hatte, während er Bundesverfassungsrichter in Karlsruhe war. Sie wurde bald zu einer vollen Stelle und ich wurde mehr als dreizehn Jahre, auch nach der Habilitation und während der Zeit als außerplanmäßiger Professor, aus ihr bezahlt. Mit dem Nachfolger Friesenhahns, Ossenbühl, dem die Stelle am Ende zugeordnet war, hatte ich ausgemacht, dass er mich in Ruhe forschen lässt. Die Zeit war mit vielen, auch der Karriere nicht immer förderlichen, manchmal auch retardierenden Aktivitäten ausgefüllt: vier Jahre Sekretär des Deutschen Juristentages, drei Jahre Bonner Assistentensprecher und Mitbegründer der Bundesassistentenkonferenz, Vorsitzender zweier Reformkommissionen der Bonner Universität, schließlich sechs Jahre Mitglied des Wissenschaftsrates sowie die Betreuung des anspruchsvollen und sehr aktiven „Friesen hahnseminars“ und andere Lehraufgaben in der Universität und an der Verwaltungsakademie. Dazu kamen kleinere Publikationen, ein erstes Rechtsgutachten mit weitreichenden finanziellen Konsequenzen für den Bund sowie die Habilitation. Der Deutsche Juristentag, der durch Gutachten und anschließende Referate und Diskussionen auf den alle zwei Jahre stattfindenden Tagungen auch auf die Politik der Rechtspraxis Einfluss hatte, war bis zur Präsidentschaft Friesenhahns wie die Juristenausbildung ganz gerichtsgeprägt. Langjährige Vorsitzende waren meist Obergerichtspräsidenten. Friesenhahn beendete die Tradition lähmender Dauerpräsidenten und öffnete zugleich die Mitgliedschaft auch für Referendare. Sie verdoppelte sich nicht nur deswegen auf mehrere Tausend. Meine Aufgabe war die Einrichtung eines Büros in Bonn, die Verwaltung der Mitgliedschaft, die Organisation der Deputationssitzungen und die Vorbereitung, Abwicklung und Publikation zweier großer Tagungen 1962 in Karlsruhe und nach einer Klausurtagung 1965 in Königstein 1966 in Essen. Die Deputation war das Entscheidungszentrum und bestand neben Verfassungsrichtern sowie anderen hohen Richtern und Staatsanwälten aus Professoren und Anwälten. Der Ton war entsprechend moderat. Allerdings stieß das Vorhaben Friesenhahns auf Widerstand, die strafrechtliche Verfolgung nationalsozialistischer Gewalt-
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verbrechen zum Gegenstand der Essener Tagung zu machen. Noch immer war das nie ausgesprochene „Argument“ der Nestbeschmutzung virulent. Ein mit dem Thema vertrautes Staatsanwaltsehepaar hatte Friesenhahn aber die Notwendigkeit einer öffentlichen Erörterung so intensiv dargelegt, dass er dieses Sonderthema unter Tolerierung der Deputation selbst bestritt und 800 Zuhörer zeigten, dass der Bann gebrochen war. Die Veranstaltung war durch eine sehr intensive Klausurtagung in Königstein vorbereitet worden, zu der Fachleute wie der Vorsitzende des Auschwitz-Prozesses, Zeitgeschichtler und andere Sachkundige, aber auch Deputationsmitglieder eingeladen waren. Ich kann mich noch erinnern, wie wir zu dritt, Generalstaatsanwalt Dünnebier aus Bremen, der Bonner Anwalt Konrad Redeker und ich, nachts die Zusammenfassung für die Deputation formuliert haben. Die Universitätswelt war noch in Ordnung, als ich routinegemäß die Funktion des Sprechers der Fakultätsassistenten übernahm. Bald war ich, ohne zu ahnen, welche Last damit verbunden sein würde, als Jurist der Sprecher der Universitätsassistenten. Fischer-Appelt aus der evangelisch-theologischen Fakultät war mein Stellvertreter. Gegen die Statuten wurde uns eine stimmrechtlose Mitgliedschaft im Akademischen Senat zugestanden. Ähnlich verhielt es sich in der Westdeutschen Rektorenkonferenz. Das reichte völlig, denn in wissenschaftsgeprägten Hochschulgremien hatte zu Beginn der Hochschulwirren das Argument noch einen besonderen Stellenwert. Die Studentenrevolte näherte sich dem Höhepunkt und überall regten sich an den Universitäten die Assistentenschaften, weil der Gesprächsfaden zwischen den politisch aktiven Studenten und den Professoren zerschnitten war. Es kam zu Landesverbänden, um Einfluss auf die Landesgesetzgebung zu nehmen, die zum ersten Mal das im Kern nur auf Statuten beruhende Universitätsrecht politisch in den Griff bekommen wollte. Da die Revolte aber nicht nur ein Universitätsphänomen war, sondern offensichtlich ein allgemeines Generationenproblem, betraf es die gesamte Republik. Was lag daher näher, als auch eine Bundesassistentenkonferenz zu gründen, zumal der Bund nach Absprache zwischen den beiden großen Parteien über die Regierungs-Oppositionsgrenze hinweg vorhatte, sich eine Rahmenkompetenz für das Hochschulwesen zuzulegen. Das zuständige Ministerium unterstützte unser Vorhaben ebenso wie der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft, der die Büroausstattung zur Verfügung stellen wollte. Da der Verband wesentlich aus Bonn heraus agieren musste und wir die Stelle nicht besolden konnten, setzte sich nach einigen Wirrungen die Einsicht durch, dass nur Fischer-Appelt Vorsitzender werden könne. Ich schied nach der ersten kurzen Amtszeit als Stellvertreter aus und leitete dann nur noch die nicht wenigen Vollversammlungen, eine Erfahrung, die später hilfreich war, da die Kollegen und wenigen Kolleginnen außerordentlich debattierfreudig und zäh waren. Es gelang aber, in der Satzung eine automatische Auflösung der Konferenz in fünf Jahren vorzusehen, weil wir verhindern wollten, dass sie auf einen gewerkschaftlichen Weg einschwenkte, wozu Ansätze vorhanden waren. Das konzeptionelle Ziel der Arbeit hatte nur dann Realisierungschancen, wenn es nicht durch Statusinteressen beeinflusst würde. Es hat eine Reihe von bildungswissenschaftlichen Arbeiten der Konferenz gegeben, die Anerkennung gefunden haben. Auch die Hochschulgesetze der Länder wären ohne die Konferenz anders ausgefallen. Viele Streiter der ersten Stunde sind
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Professoren geworden, einige auch aus dem Assistentenstatus Hochschulpräsidenten. Die Professorenschaft in ihrer Mehrheit sah unserer Tätigkeit freilich mit hohem Misstrauen zu. An der Bonner Universität wurde eine zehnköpfige Kommission eingesetzt, die Satzung der Universität zu modernisieren. Das Ergebnis wurde an einen achtzigköpfigen Satzungskonvent delegiert. Bei beiden führte ich als Assistent bzw. als Privatdozent den Vorsitz. Um in der aufgeregten Zeit, die von Vorlesungs- und Sitzungssprengungen begleitet war, überhaupt zu einer Arbeit zu kommen, setzte ich einen strikten Verhandlungsstil durch, der es erlaubte, auch zu intervenieren, wenn ein Ordinarius abzuschweifen drohte. Als besonders fruchtbar erwies sich, dass alle achtzig Mitglieder in einem ovalem Kreis in der Aula saßen, ohne sich hinter einem Vordermann verstecken zu können. Bald merkten alle, dass Mitarbeit mehr brachte als stören. Zum Ende aber nahmen die Störversuche zu. Die letzten Abstimmungen mussten in einem Notquartier in einem engen Sälchen abgehalten werden und nur meine dörfliche Erfahrung mit Schwitzkästen konnte verhindern, dass mir bei der Schlussabstimmung ein Konventsmitglied der Roten Zellen das Mikrofon entwinden konnte. Das Gesamtwerk scheiterte gleichwohl, sozusagen an einer antiweimarer Koalition. Die Extrempositionen zwischen den studentischen Roten Zellen und den Klinikchefs waren nicht zu überbrücken. Auf die Erfahrungen mit der Satzungsarbeit konnte ich aber in späteren Phasen des Berufslebens durchaus zurückgreifen. Die Studentenrevolte spaltete auch die Professorenschaft. Der kleinere, liberaler gesonnene Teil wollte sich Gesprächen nicht verschließen, wurde aber immer wieder zu Aktionen gedrängt. Ein Dauerthema war die braune Vergangenheit. Die Studenten schossen sich auf den schon emeritierten Strafrechtler v. Weber ein. Er sollte zur Zulässigkeit einer nachträglich eingeführten Todesstrafe für den wegen des Reichstagsbrandes angeklagten van der Lubbe ein positives Gutachten gemacht haben. Zu meinem Glück unterschrieb neben mir auch Karl Dietrich Bracher, Mitglied auch in der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät. Weber verteidigte sein Gutachten im Bonner Generalanzeiger, als habe er, was ihm vorgeworfen wurde, auch geschrieben. Das Problem war aber, dass keiner der Diskutanten das Gutachten kannte und auch v. Weber es offensichtlich nicht mehr hatte. Später hörte ich, das Gutachten sei im Nachlass eines hohen Beamten der NS-Zeit aufgetaucht und es habe keineswegs die Unbedenklichkeit einer nachträglichen Strafverschärfung vertreten. Das und meine hochschulpolitischen Aktivitäten führten aber zu einem kraft der Autorität Friesenhahns freilich folgenlosen Einspruch eines Ordinarius gegen meine Habilitation. In deren Endphase erreichte mich ein Anruf des Karlsruher Rektors und Präsidenten der Rektorenkonferenz Rumpf, ob er mich als Mitglied des Wissenschaftsrates vorschlagen dürfe; er rufe aus dem Vorzimmer des Bundespräsidenten an – es war Heinemann –, der auch Assistenten im Rat sehen wolle; ich müsse mich aber sofort entscheiden. Beim Erscheinen im Rat kamen die nichtprofessoralen Mitglieder Karl Maria Hettlage, der ehemalige Finanzstaatssekretär, und Ernst Wolf Mommsen, Staatssekretär bei Helmut Schmidt, freundlichst auf mich zu, während die profes soralen Mitglieder reserviert blieben. Das änderte sich aber bald, als man merkte, dass Verhandlungen über komplizierte Texte besser von einem Juristen geleitet werden sollten als von einem Chemiker. Als stellvertretender Vorsitzender der wissen-
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schaftlichen Kommission gehörte ich bald zum engeren Leitungsstab. Es war die Endzeit des beispiellosen Hochschulausbaus in der Bundesrepublik. Friesenhahn hat mir von seiner Richtertätigkeit nie etwas erzählt. Nur einmal holte er meinen Rat ein, als der Senat über die „Steuern mit örtlich bedingtem Wirkungskreis“ des Art. 106 GG a.F. zu judizieren hatte. Ich saß an einer finanzverfassungsrechtlichen Promotion und konnte ihn nur darin bestärken, dass es sich um eine unsinnig formulierte Verfassungsbestimmung handele. Der Senat formuliert vornehmer, dass „die Wortwahl des Begriffs misslungen ist“ (BVerfGE 16, 306, 317). Bevor er etwas veröffentlichte, erwartete er, dass ich es kritisch durchsehe. Eine Zuarbeit hat er grundsätzlich nicht verlangt. Daran habe ich mich auch in meinem Professorenleben gehalten. Zu den Pflichten gehörte aber die Zuarbeit zu seinem öffentlich-rechtlichen Seminar. Gemeinsam haben wir das Land NRW bei der kommunalen Neuordnung des Bonner Raums vor dem Verfassungsgerichtshof des Landes vertreten. Friesenhahn kam freitags von Karlsruhe nach Bonn, um eine Vorlesung und eben ein öffentlich-rechtliches Seminar zu halten. Es hatte sich mit der Zeit zu einer Dauerinstitution entwickelt, zu der auch ehemalige Mitglieder im Beruf, meist in der Bundesverwaltung kamen. Da er als streng nicht nur galt, sondern auch war, war der Zulauf von Studenten zwar stetig, aber begrenzt, was eine hohe Qualität sicherte. Er intervenierte sofort, wenn ein Satz unklar war, hörte sich aber jedes Argument an. Widerspruch duldete er durchaus. Verfassungsgerichtsentscheidungen wurden besonders intensiv debattiert. Das Seminar machte zwei Reisen, die Folgen hatten. Im Frühjahr 1962 besuchten wir als erste deutsche Juristengruppe gemeinsam mit Teilnehmern des Ehmke-Seminars aus Freiburg einen Monat lang Israel. Ohne das Verhalten Friesenhahns in der NS-Zeit wäre das nicht möglich gewesen. Einer der Gesprächspartner war Yitzak Ernst Nebenzahl, state-controller von 1961 bis 1981. Die Funktion war eine Kombination von Rechnungsprüfung und Ombudsmann, mit dem freilich bedeutenden Unterschied zu unserer Praxis, dass er Akten anfordern und Zeugen vernehmen konnte. Es nimmt daher nicht Wunder, dass er 1981 nach zwanzig Jahren und viermaliger Wiederwahl unter Anwesenheit von Staatspräsident und aschkenasischem und sephardischem Oberrabiner im Gebäude der Knesseth verabschiedet wurde. Ebenso ist es kein Wunder, dass ab sofort für die Position eine Wiederwahl ausgeschlossen wurde. Es ist wohl nicht ganz abwegig, den Anstieg korruptiven Verhaltens in der israelischen Politik auch auf die damals beschlossene Schwächung der Position des state controller zurückzuführen. Nebenzahl war in der Weimarer Zeit Assistent an der Frankfurter juristischen Fakultät gewesen, konnte aber fliehen. Er bezog Wiedergutmachung und besuchte offensichtlich mehr aus Dankbarkeit als aus Nostalgie regelmäßig die Universität. Als ich später als Dekan davon erfuhr, lud ich ihn zusammen mit Reinhard Goerdeler ein, was zu einer Gegeneinladung in Jerusalem führte. Ich erzähle das nur, weil bei dem Abendessen im „King David“ Nebenzahl in einer Antwort auf die Tischrede Goerdelers mit vorsichtiger Kritik an der Politik gegenüber den arabischen Israelis – es war noch vor der aggressiven Siedlungspolitik – zwei Sätze sagte, die uns noch lange beschäftigten: „Es ist schon schwer, das Recht zu finden, wenn nur einer Recht hat. Wie schwer ist es dann, wenn beide Recht haben?“ Sehr viel später tauchte ein
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Schwiegersohn Nebenzahls an der Humboldt-Universität auf und hielt Vorlesungen über jüdisches Recht. Die Israel-Expedition des Seminars führte zur Betreuung der drei einzigen Überlebenden im zweiten bedeutenden KZ-Prozess, dem Bonner Kulmhof-Prozess. Einer hatte die Flucht vor dem Ende geschafft und war in den USA gelandet, die beiden anderen mussten mithelfen, die letzten Leichenreste zu verbrennen, und sollten zum Schluss selbst erschossen werden. Einer war der Koch; er konnte sich mit dem Fleischermesser gegen den SS-Mann durchsetzen, der ihn abführen sollte. Der andere, der elfjährige „Spinnefix“, wurde mit dem restlichen Räumkommando an die Hecke gestellt und erschossen. Er merkte freilich nach einiger Zeit, dass er, schwerverwundet, als einziger noch lebte. Polnische Bauern versteckten ihn. In dem Prozess sah er den SS-Mann wieder, dessen Gehilfe er bei der Sortierung der Wertsachen der Opfer war und schilderte, wie dieser gelacht habe, als er ihm die Handtasche seiner Mutter gezeigt habe. Der Angeklagte lächelte bei dieser Aussage, so als sei er an eine Idylle erinnert worden. Eine Expedition an das Bundesverwaltungsgericht führte dagegen zu einem Zerwürfnis. Von Friesenhahn vermittelt war ein Senat bereit, uns in zwei Prozesse einzuführen, die an einem Tag verhandelt und entschieden werden sollten. Die Einführung in den Prozessstoff durch die Berichterstatter war exzellent, die mündliche Verhandlung hoch spannend – sie betraf die Zeitgeschichte. Über die Urteile haben wir anschließend aber mit den Richtern, wie wir das gewohnt waren, offen und höchst kontrovers diskutiert. Dies in einem Bericht dokumentiert zu sehen, erschien aber dem Senatsvorsitzenden wie dem Präsidenten Werner nicht mit der Würde des Gerichts vereinbar. Dass noch heute, mehr als dreißig Jahre nach Friesenhahns Tod, überlebende Mitglieder des Seminars sich zweimal im Jahr zu kleinen Vorträgen treffen, zeigt die Prägung durch das Seminar. Meine Dissertation „Die Finanzverfassung der Gemeinden – Ein Beitrag zur Stellung der Gemeinden in der Finanzverfassung des Bundes“ hatte unter den vielfältigen Aktivitäten natürlich gelitten und wurde erst ab 1965 energisch zu Ende geführt. Die Hauptidee war, die Stellung der Gemeinden im Grundgesetz auch jenseits der Finanzfragen grundsätzlicher, als es bisher geschehen war, zu untersuchen. Das war meiner Neigung zu systematischen Fragen geschuldet. Ich fand das Grundgesetz ergiebiger, als bisher angenommen. Das seltene Lob eines älteren Kollegen, er habe daraus viel gelernt, und die Auszeichnung der Stiftung der deutschen Gemeinden und Gemeindeverbände zur Förderung der Kommunalwissenschaften habe ich gerne entgegengenommen, zumal persönliches Kollegenlob in unserer Profession selten ist und auch ich eher zur Kritik neige. Die quälend lange Promotionszeit zwang für die Habilitation zur Konzentration. Ich fand im Wahlrecht eine in ihren Auswirkungen wichtige herrschende Meinung, die bei näherem Nachdenken offensichtlich nicht haltbar ist. Das schien mir die Haltung des Bundesverfassungsgerichts und der Wissenschaft zur Wahlgleichheit zu sein. Mir wollte nicht einleuchten, dass die Verfassung dem Gesetzgeber verböte, die Wahlgleichheit etwa durch Sperrklauseln beliebig zu minimieren, er dieselben Ziele aber durch fast beliebige Systemgestaltung erreichen könne. Dabei wird nicht einmal der Systembegriff selbst einer Analyse unterzogen. Die in gut einem Jahr geschriebe-
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ne Habilitationsschrift „Wahlsystem und Verfassungsordnung“ und weiterführende Schriften haben im Laufe der Zeit zu einer Fülle von Aufsätzen, Rechtsgutachten und Vertretungen vor dem Bundesverfassungsgericht und verschiedensten Verfassungsgerichten der Länder geführt. Unbewusst hatte ich damit neben dem Finanzwesen das zweite Feld originärer politischer Machtverteilung gewählt. Das hatte Wirkung auf meine politische Einordnung. Früh habe ich mich entschlossen und daran gehalten, nicht in eine Partei einzutreten, um eine Voreingenommenheit in politisch bedeutsamen Rechtsfragen möglichst auszuschließen. Das hat wenig geholfen, weil ich eher von der jeweiligen Opposition um Rat oder Unterstützung gebeten worden bin und die SPD „oppositionsanfälliger“ ist als ihre große Konkurrentin. Die meisten meiner Kollegen werden mich daher bei der SPD verorten. Aber auch diese Partei hat strukturkonservative Züge, denen ich nicht allzu viel abgewinnen kann. Die von meinen Eltern „geerbte“ Nähe zur CDU bekam ihre ersten Risse mit Adenauers schließlich gescheitertem Versuch, 1959 als Bundespräsident die Politik weiter bestimmen zu wollen, wobei er dessen Kompetenzen mehr als extensiv auslegte. Auch die Spiegel-Affäre, genauer Strauss/Adenauer-Affäre, und der verbissene Kampf gegen Brandts Ostpolitik waren für uns Assistenten keine Werbung. Als wir 1997 nach Berlin in den Kupfergraben gezogen waren, wurde die Generalsekretärin der CDU bald unsere Nachbarin. Zwischen zwei Gängen eines geselligen Abendessens Ende 1999 sahen wir uns die Erklärung Kohls zu seiner Spenden affäre an. Das Fernsehzimmer war sehr eng und einige mussten auf dem Teppich sitzen, auch Frau Merkel. Als Kohl erklärte, es gebe einen seriösen Spender, zischte Frau Merkel „er lügt“, und als Kohl noch draufsetzte, er habe ihm das Ehrenwort gegeben, seinen Namen niemals preiszugeben, folgte zweimal und immer erboster „er lügt“. Obwohl Frau Merkel wusste, dass wir und unserer Freunde keine ausgesprochenen CDU-Anhänger waren, hat sie mir viel später gesagt, unser Insistieren, sie müsse etwas zum Schutz der CDU unternehmen, habe sie mit bestärkt, den berühmten Gastbeitrag in der FAZ vom 22. Dezember 1999 zu veröffentlichen, der den endgültigen Bruch mit Kohl brachte.5 Schon als Privatdozent wurde mir ein Referat auf der Staatsrechtlehrtagung 1974 angetragen. Das war bisher erst einmal mit zwiespältigem Erfolg geschehen. Die Entscheidung hatte mit der vorangegangenen Tagung zu tun, auf der mit Doehring und Isensee, zwei prononciert konservative Kollegen, zu Ausländerfragen altbekannte Positionen bezogen hatten, die meinen Freund Kewenig und mich wegen der damals schon relevanten Einwanderung auf den Plan riefen. Es hat immerhin 40 Jahre gedauert, bis unsere damals vertretenen Ansichten bei der letzten Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes 2014 im Wesentlichen umgesetzt worden sind. Der Vorsitzende der Vereinigung, Hans-Peter Ipsen, ein Freund lebhafter Debatten, sah jedenfalls in mir offenbar einen entsprechenden Garanten für die nächste Tagung. Nachfragen nach meinem Referat zum parlamentarischen Regierungssystem, ob ich noch keinen Ruf habe, haben ihn und mich bestätigt. Ich habe bei fast allen Tagungen bis ins hohe Alter interveniert, den besten, aber verschwiegenen Zwischenruf 5 Schäuble hat noch vor kurzem bestätigt, dass es den ehrenwerten Spender nicht gegeben hat, dass es sich vielmehr um Schwarzgeld gehandelt habe.
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offenbare ich hier: Während eines furchtbar langweiligen Vortrages in Würzburg habe ich dem vor mir sitzenden damaligen Vorsitzenden Folke Schuppert einen Zettel zugeschoben auf dem stand: „Wir haben das Übermaßverbot erfunden, wir haben das Untermaßverbot erfunden, es wird Zeit, das Mittelmaßverbot zu erfinden.“ Die Vereinigung der deutschsprachigen Staatsrechtslehrer war lange Zeit von München, also konservativ dominiert. Wanderte der Vorsitz einmal in ein anderes Land, kam er sofort wieder zurück. Das wurde erst seit dem Vorsitz Froweins anders. Der Vorstand ist souverän in der Auswahl der Referenten wie der Themen und hat so durchaus Einfluss auf die Karriere. Ein Referat halten zu dürfen und dabei Erfolg zu haben, bedeutete damals den Ritterschlag. Zwei Aufnahmefälle beendeten eine jahrzehntelange sichere konservative Mehrheit. Bei dem einen ging es um einen habilitierten Kollegen, von dem sich während der Heidelberger Studentenwirren ein gestandener konservativer Kollege höchst ungehörig behandelt gefühlt hatte, bei dem anderen um eine Kollegin, deren Berliner Habilitation unter Umständen gescheitert war, die ein Verwaltungsgericht als inakzeptabel bezeichnet hatte, und die dann von den Berner Kollegen habilitiert wurde. Beide Aufnahmegesuche waren erfolgreich. Heute leidet die Vereinigung an der unermüdlich steigenden Zahl von Habilitierten und damit auch an ihrer Größe und versucht, dem durch Diversifikation der Themen beizukommen.
V. Ordinarius in Frankfurt 1974 bis 1996 Die große Zeit der Universitätsgründungen und damit der Expansion der Professorenstellen war vorbei und ich hatte das Glück, meine Karriere als Professor nicht in einer Provinzstadt beginnen zu müssen. Die Frankfurter Fakultät war jung und hatte das Regime der Altvorderen mit Coing an der Spitze schon gestürzt. Im Laufe der Zeit wurde ihre Qualität zum Handikap, da sie auch als Steinbruch für viele wissenschaftsaffine Positionen diente. Im distanzierten Rückblick war sie liberal, was nach damaligem Verständnis der Juristenfakultäten links hieß. Das Geheimnis ihres Erfolges war neben der juristischen Qualität die Abwesenheit jeder doktrinären Haltung, hinreichende Ironiefähigkeit und der auf der Basis durchweg hervorragender Kochkunst gepflegte soziale Zusammenhalt, der manches sachliche Zerwürfnis zerfließen ließ. Die Lehrtätigkeit im Wintersemester 1974/75 begann mit einer Zumutung: 600 Erstsemester, soviel wie der größte Hörsaal fasste. Die beibehaltene Grundentscheidung, auf das Mikrophon und auf ein ausgearbeitetes Manuskript zu verzichten, erwies sich als richtig. Die erste zwang zum Zuhören und verhinderte zugleich einen Lärmpegel des Auditoriums unterhalb der Mikrofonstärke und das zweite garantierte die Lebendigkeit des Vortrages. Zwei Ereignisse sind berichtenswert. Als der Terrorist Holger Meins im Herbst 1974 am Hungerstreik zugrunde ging, habe ich das anderntags zu Beginn der Vorlesung thematisiert, um Herr der sicher auf kommenden Debatte zu bleiben. Zu dieser Zeit war der Kommunistische Bund Westdeutschland in Frankfurt gerade unter den Studierenden noch sehr aktiv. Ich habe auch den letzten „revolutionären“ Ausbruch in Frankfurt verschuldet. Da ich immer alle schriftlichen Arbeiten nachkorrigiert habe, was mich manches Wochenende ge-
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kostet, aber vor Remonstrationen geschützt hat, war ich besonders verärgert, wenn sich bei Klausuren offensichtliche Dummheiten epidemisch verbreiteten. Um die schädliche Kommunikation zu unterbinden, verlangte ich, dass jeder bei der Klausur einen Platz neben sich freihält. Das handelte mir eine Delegation dreier Studentinnen des KBW mit dem Protest ein, ich verschärfe die Prüfungsbedingungen. Nach Beratung mit meinen Assistenten kamen wir auf den befreienden Ausweg, an den neuen Bedingungen festzuhalten, im Falle der Nichteinhaltung aber statt der Klausur eine zusätzliche Hausarbeit auszugeben. Das war das Ende der Studentenrevolte in Frankfurt. Wie mein Lehrer Friesenhahn hatte ich ein Dauerseminar mit jeweils vier oder fünf Zugängen pro Semester und Verbleib auch in der Referendarzeit. Mit der Zeit gehörte eine Wanderfreizeit und später auch eine Ski-Woche zum Programm; an jedem Abend wurde dabei ein Referat behandelt. Es ging jeweils um aktuelle verfassungs- oder verwaltungsrechtliche Fragen. Selbst als Präsident der Humboldt-Universität habe ich das noch einige Jahre mit einer gemischten Besetzung praktiziert, wobei aus Berlin vor allem ausländische Studenten dazukamen. Das Seminar scheint mir nach meinen Erfahrungen die effektivste Lehrform zu sein. Ich habe gerne gelehrt und Langeweile ist selten aufgetreten. In der irrigen, durch meine eigene Entwicklung beförderten Vorstellung, man müsse den professoralen Beruf wollen und nicht dazu überredet werden, habe ich es versäumt, eigene Assistenten und vor allem Assistentinnen zu ermuntern, diesen Beruf anzustreben. Sie sind aber alle ihren Weg gegangen; eine Reihe von ihnen gehörte dem „3. Senat“ des Bundesverfassungsgerichts an, einige gelangten an Bundesgerichte, jüngst ist meine Assistentin und beste Doktorandin Yvonne Ott Bundesverfassungsrichterin geworden. Ich hatte aber nie den Ehrgeiz, eine Schule zu bilden. Wenn man alle an einem juristischen Lehrstuhl in Teilzeit oder voll Beschäftigte zusammenzählt, kommt man auf eine gar nicht so kleine „Familie“, welche die unmittelbaren sozialen Bedürfnisse befriedigt. Bei einem Forschungsaufenthalt in Chicago habe ich den Unterschied, den das ausmacht, unmittelbar erfahren. Dort hatten die Professoren weder eine Sekretärin noch Assistenten und mussten ihr Zimmer selber sauber halten. Dafür hatten sie bei gleicher Professorenzahl insgesamt nur 600 Studenten, während wir über 2.000 hatten, mussten deren Arbeiten aber selbst korrigieren und wurden doppelt so hoch bezahlt wie wir. Die sozialen Bedürfnisse wurden beim gemeinsamen Essen im fakultätsübergreifenden faculty club mit meist sehr anregenden Gesprächen befriedigt. Für eine solche Institution fehlt bei uns leider ein zwingender Anlass. Geht man von der Lehre als eine der beiden Hauptbeschäftigungen auf die Forschung über, so zähle ich neben der Erarbeitung von Monographien, Kommentaren und Aufsätzen auch Vorträge, Rechtsgutachten, Beratungen und anspruchsvolle Prozessvertretungen dazu, nicht nur, aber vor allem vor Verfassungsgerichten. Alles das habe ich praktiziert, ganz überwiegend für den öffentlichen Sektor und meist auf der Seite des Schwächeren. Die Einwände dagegen sind mir unverständlich. Die zugrunde liegenden Konflikte bieten ein so facettenreiches und durch Phantasie allein nicht erschließbares Panorama möglicher Konflikte im öffentlichen Recht, dass man selbst und die Lehre davon nur befruchtet werden kann. Manchen Fall habe ich für eine Prüfungshausarbeit umgearbeitet.
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Neue Gesetze zu kommentieren, ist eine besondere Aufgabe für einen Wissenschaftler. Ein Angebot erreichte mich kurz nach meiner Rufannahme in Frankfurt. Ein ehemaliges Mitglied des Friesenhahnseminars war langjähriger Assistent des Innenausschusses, der damals das Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes vorbereitete. Er saß also an der Quelle, plante eine Kommentierung, hatte einen Verlag und suchte Mitstreiter. Da ich mich bisher im Verwaltungsrecht auf Kommunalrecht konzentriert hatte, schien mir das wie gerufen, meine Basis zu verbreitern, zumal das Gesetz erstmals auch den Kern des materiellen Verwaltungsrechts kodifizieren sollte. Nach der erheblich erweiterten zweiten Auflage 1982 hatte ich den Eindruck, genug gelernt zu haben, und entschied mich für die Einstellung des Vorhabens. Ich scheute die Verpflichtung, immer wieder über dasselbe nachdenken, die Rechtsprechung verfolgen zu müssen und wollte auch nicht andere unter meinem Namen weiterarbeiten lassen. Eine frühe Bewertung als der kultivierteste oder auch originellste, wenn auch ein wenig freche Kommentar6 hat mich davon nicht abgehalten. Eine späte Genugtuung war das handschriftliche Bekenntnis des mir nicht näher bekannten Hauptkommentators eines Konkurrenzwerkes, er habe von unserem viel gelernt. Der Vorschlag, zur Bestärkung des in der überkommenen deutschen Verwaltungskultur eher gering geschätzten Verfahrensgedankens Verwaltungsverfahrensgesetz, Sozialgesetzbuch X und Abgabenordnung in einem Gesetzeswerk zusammenzuführen, scheiterte am Ressortegoismus der zu beteiligenden drei Bundesministerien. Ich konzentrierte mich wieder auf das Kommunalrecht und gab mit Michael Stolleis das Hessische Staats- und Verwaltungsrecht heraus, das unter uns fünf Auflagen erlebte und dank der Tatkraft meiner Frau als Lektorin beim Metzner-Verlag Nachahmer in anderen Ländern fand. Mein wissenschaftliches Interesse wandte sich mehr dem Staatsrecht mit dem Schwerpunkt Demokratie, Wahlen, Parlamentsrecht und Finanzverfassung zu. Ein Kuriosum meiner Frankfurter Zeit war die Ernennung zum Staatskommissar in einem Marburger Habilitationsverfahren. Die Auf klärung ergab ein Sittengemälde „spätrömischer Dekadenz“ der alten Ordinarienuniversität und zugleich der nachrückenden strengen Vandalen. Einem ausscheidenden Ordinarius war ziemlich spät eingefallen, seinen treu dienenden – und das ist ernst zu nehmen – Assistenten zur Habilitation zu führen. Der kam auf die verwegene Idee, über das Geld in öffentlichrechtlicher Sicht zu habilitieren, und wurde natürlich vor dem Ausscheiden seines Mentors nicht fertig. Mittlerweile wurde das öffentliche Recht mit jungem Nachwuchs aus dem Bayerischen besetzt. Der stritt nicht nur zäh mit dem ausgeschiedenen Ordinarius darüber, ob der noch ein halbes Jahr Sachen in einem Schrank seines alten Zimmers lassen könne, sondern nahm sich auch die Habilitationsschrift erneut vor, mit negativem Ergebnis. Die Mehrheit wollte damit das Verfahren beenden, konnte sich aber mit der kühnen These, dabei handle es sich nicht um einen Verwaltungsakt, nicht durchsetzen und handelte sich ein peinliches Urteil des Verwaltungsgerichts ein. Darauf suchte man den Ausweg über eine kumulative Habilitation. Der Dekan forderte den Habilitanden dazu auf, seine Schriften einzureichen. Der hatte inzwischen eine neue, sehr passable Stelle und bat einen befreundeten Studenten, Photo6 Siehe z.B. Laubinger, der auf dem Gebiet publiziert hatte, in einer Besprechung in DÖV 1983, 906 f.
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kopien zu machen und im Dekanatsbüro abzugeben, dazu ein Schreiben, in dem er bestätigte, dass der (kleine) Kommentar zur Finanzgerichtsordnung zwar unter dem Namen seines Professors erschienen sei, aber ganz von ihm stamme, was ihm ohne Weiteres geglaubt wurde. Als der damalige etwas exzentrische Dekan diese Übergabe als zu formlos scharf rügte, ließ der Habilitand die Kopien durch einen Gerichtsvollzieher zustellen. Der Streit in der Sache blieb. Ein Ausweg zur Beendigung des Habilitationsverfahrens sollte, wo so viel Sachverstand versammelt ist, gleichwohl zu finden sein. Die Eingaben des Habilitanden wurden angesichts seiner sicheren Stelle außerhalb der Wissenschaft zunehmend forscher, so dass die Professorenschaft bis auf einen beschloss, beleidigt zu sein und daher das Verfahren wegen Befangenheit nicht weiterführen zu können. Sollte der Referent im Ministerium sich mit solch einem Fachbereich anlegen? Er erinnerte sich des Satzes „tres faciunt collegium“ und da ein Marburger sich nicht für befangen hielt, brauchte er nur noch zwei hessische Professoren mit einer finanzrechtlichen venia. So wurde ich Staatskommissar. Es war vermutlich das kleinste Habilitationsgremium, das je in Deutschland über eine Habilitationsschrift entschieden hat. Als die Entscheidung mit 2:1 gefallen war – dem Marburger Kollegen gefiel der Verweis auf die kurzzeitige hessische Praxis, verdiente Altassistenten ohne Habilitation zu C-2-Professoren zu machen –, atmete der Dekan hörbar auf, wurde aber sofort wieder blass, als ich ihn auf den nötigen Habilitationsvortrag hinweisen musste. Zu seinem Glück verzichtete der Habilitand. Als ich nach Frankfurt ging, hatte ich mir geschworen, in der Selbstverwaltung nach dem Übermaß in Bonn nur das Nötigste zu tun. Das war nur solange durchzuhalten, bis ich als Dekan mit einer offensichtlichen Patronagepraxis der Universitätsleitung zu Gunsten der Naturwissenschaften und zu Lasten unserer Finanzen konfrontiert wurde. Mit einem Wirtschaftswissenschaftler, der als Mitglied des Finanzausschusses schon länger darunter gelitten hatte, gründete ich eine hochschulpolitische Liste, nachdem wir uns gegenseitig versprochen hatten, dass keiner von uns Präsident werden wolle. Der Präsident wurde nicht wiedergewählt und aus unseren Reihen haben der Wirtschaftswissenschaftler Meissner als Präsident den Umzug auf das IG-Farben-Gelände durchgesetzt und Steinberg diesen im Wesentlichen beendet.
VI. Gutachterliche Tätigkeit und Prozessvertretungen Mein erstes Rechtsgutachten verdanke ich der Vermittlung Friesenhahns. Die Stadt Bonn hatte ihn – aus dem Verfassungsgericht ausgeschieden – gebeten zu untersuchen, ob sie wegen der Belastung als Bundeshauptstadt vom Bund Ersatz verlangen könne. Er verwies auf mich, da ich mich mit Finanzverfassungsproblemen befasse, und ich (noch nicht einmal promoviert) kam in einem größeren Gutachten zu dem Schluss, dass ein solcher Anspruch nach dem Vorläufer des jetzigen Art. 106 Abs. 8 GG bestehe. Die Vorschrift stammte aus der Weimarer Zeit und sollte den Widerstand von Kommunen gegen die Errichtung von Garnisonen möglichst ausschließen. Sie war aber nicht auf Garnisonen beschränkt, sondern allgemein gefasst. Wie das hohe Beamte so tun, erklärte der Staatssekretär aus dem Bundesfinanzministerium vor dem Bundestag das Gutachten schlicht als irrig. Das hinderte den Bund aber nicht, seitdem jährlich sehr hohe Millionenbeträge an Bonn und später an Berlin zu zahlen.
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Kaum in Frankfurt berufen, wollte eine Juristin der Stadtverwaltung ein Gutachten über die Zulässigkeit einer Baugenehmigung für einen Hochhausbau auf dem Grundstück des traditionsreichen Café Laumer im Westend, Schauplatz von Straßenkämpfen gegen die Verdichtung, in deren Ablehnung sich linke Studenten und bürgerliche Bevölkerung durchaus einig waren. Sie benötigte für den Gutachtauftrag die Unterschrift von zwei Beigeordneten der Stadt, was schon schwierig war, weil der Bau auch innerparteilich heftig umstritten war. Zu meinem Erstaunen gab es praktisch keine Bauakten, man agierte im Freistil. Fünf Ausfallstraßen sollten vom Stadtkern aus, mit einer U-Bahn erschlossen, verdichtet bebaut werden. Auf einen entsprechenden Bebauungsplan verzichtete man und verständigte sich mit potenziellen Bauherren, im Jargon des Straßenkampfes „Spekulanten“, über die Höhe, die Ausdehnung, die Lage zur Straße und die äußere Gestaltung. Die Bauverwaltung konnte so ihre Gestaltungsvorstellungen durchsetzen, die Bauherren die Rendite ihrer Investitionen. Da viele Grundstücke im Innenbereich sehr klein waren, wurde den Bauherren oft aufgegeben, Nachbargrundstücke zuzukaufen. War man einig, wurde das Geschäft mit Handschlag besiegelt, ein korruptionsanfälliges Verfahren und nicht gerade gängiger Inhalt einer Baurechtsvorlesung. Das Café Laumer existiert immer noch. 1995 habe ich im Auftrage des hessischen Wissenschaftsministeriums ein Rechtsgutachten zum Rechtsstatus der „Städelschule“ als kommunale oder Landesinstitution erstattet und 2004 ein solches über den Rechtsstatus des Deutschen Archäologischen Instituts. Beide Fälle zeigten, wie robust öffentlich-rechtlich organisierte Systeme unterhalb der Verfassungsebene gegenüber revolutionären oder gewillkürten Staatsumwälzungen sind. In beiden Fällen ging es um zäh verteidigte Einflussrechte der Verwaltung, hier des Ministeriums und dort des Auswärtigen Amtes. Beide führten bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Beide Gutachten wurden veröffentlicht, das der Städelschule mit Ausschmückungen von Zickler/Bayerle. Viele Gutachten haben mit kommunalrechtlichen hessischen Streitigkeiten zu tun, weil ich mich in Frankfurt dem Kommunalrecht intensiver zugewandt hatte. Zahlreiche Gutachten habe ich für den Hessen-Thüringischen Sparkassen- und Giroverband erstattet. Hier ging es zum einen um die meist vergessene gesetzliche Anpassung der Geschäftsbereiche insbesondere von Kreissparkassen nach der Schaffung der Länder 1945 oder bei der kommunalen Neuordnung der 70er Jahre, zum anderen aber auch um das Maß der staatlichen Aufsichtsrechte gegenüber dem Verband und um gesellschaftsrechtliche Probleme der Inkorporierung der freien Frankfurter Sparkasse in den Verband der kommunalen Sparkassen und entsprechende Haftungsfragen. Dabei ist meine Achtung für die wirtschaftsrechtliche Kommentarliteratur nicht gerade gewachsen. Ein Gutachten zwingt zu einer besonders konsistenten Haltung: es muss nicht nur dem Auftraggeber nutzen, sondern auch dessen Gegner, vor allem aber auch Gerichte beeindrucken. Zwei Bedingungen sollte man einhalten: vor Annahme des Auftrages eine mindestens kursorische Prüfung, ob das Anliegen vertretbar ist, und eine Honorarforderung, die jeden Verdacht der Eigenkorrumpierung ausschließt. Den Ruf eines veritablen Gutachters muss man sich erarbeiten. Fast alle Aufträge habe ich über die Empfehlung Dritter erhalten oder weil der Klient mich oder meine wissenschaftliche Position kannte. Meine letzten beiden Gutachten habe ich über achtzig-
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jährig der Senatsverwaltung für Finanzen in Berlin erstattet, eines über die Möglichkeit des Landes, das Maklerrecht zu regeln, das andere über die Grenzen direktdemokratischer Willensbildung. Ich habe jahrelang als Kuratoriumsmitglied von „Mehr Demokratie“ und mit dem wissenschaftlichen Nachweis, dass die in Art. 20 Abs. 2 GG der deutschen demokratischen Verfassungstradition entsprechend versprochenen Abstimmungen des Volkes nicht nur Betroffenheitsentscheidungen wie in Art. 29 GG, sondern Mitbestimmungs- also Gestaltungsentscheidungen meinen,7 die direktdemokratische Idee unterstützt und im Einzelfall auch wissenschaftlich geholfen.8 Der letzte Gutachtenauftrag hat mich allerdings überzeugt, dass es auch eine quantitative Grenze direktdemokratischer Aktivität geben muss: Sie dient zu Recht der Korrektur staatlicher Aktivität oder zu ihrem Ansporn. Im Berliner Fall sollte aber ein ganzes relevantes Politikfeld durch Volksentscheid festgelegt werden. Die Qualität der Vorlage zeigte, dass in der Zivilgesellschaft mindestens die gleiche geistige, auch zu Abwägungen fähige Kapazität steckt wie im staatlichen Apparat und seinen Parlamenten. Nicht also die Unfähigkeit, einer komplizierten Materie abwägend Herr zu werden, kann gegen die direkte Demokratie eingewandt werden, wohl aber kann der Schutz der in einem aufwendigen und kontrollierten Konkurrenz-Verfahren gebildeten Parlamente eine im Einzelfall freilich nicht einfach zu bestimmende quantitative Grenze rechtfertigen. Vertretungen vor dem Bundesverfassungsgericht sind der Ernstfall der Gutachtentätigkeit, weil es zum Schwur kommt. Bei der Kritik an dessen Entscheidungen hat man sich zwischen Degen und Florett zu entscheiden, wenn man nicht liebedienerisch wirken will. Wenn ich richtig zähle, bin ich siebzehnmal in einem Verfahren beteiligt gewesen9 und habe scharfe bis ironische Kritik an einer Reihe von Entscheidungen geübt. Mein Respekt vor der Institution gilt nicht gleichermaßen einzelnen Entscheidungen. Die schärfste Kritik galt dem Urteil zur ersten Bundestagsauflösung, für das sich der damalige Bundespräsident Carstens am Abend der Entscheidung beim Gericht über das Fernsehen bedankte.10 Das mit der Verfassung ebenfalls nicht vereinbare Auflösungsbegehren Schröders konnte danach nicht mehr abgelehnt werden. Das Gericht hat die Verfassung geändert, ohne sich dessen bewusst zu werden. Die im Grundlagenvertragsurteil, das nach Selbsteinschätzung ausschließlich aus tragenden Gründen bestehen soll,11 ad usum Delphini dargestellte Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes habe ich in der Festschrift für Peter Schneider differenzierter nachweisen können.12 Nicht gerade trittsicher erweist sich das Gericht in vier Hans Meyer, Volksabstimmungen im Bund: Verfassungslage nach Zeitgeist?, JZ 2012, 538–546. Siehe die Dokumentation eines Thüringer Verfassungsstreits in Fabian Wittreck (Hrsg.), Volksund Parlamentsgesetzgeber: Konkurrenz oder Konkordanz? 2012, S. 19–57 u. 89–96. 9 Die Bundesregierung im ersten NPD-Verbotsprozess zu vertreten, habe ich abgelehnt, weil mir das Exposé der Geheimdienste die Notwendigkeit einer Gefahrenabwehr nicht hinreichend belegte. 10 DÖV 1983, 243 ff.. Die damalige Prüderie kennzeichnet, dass die Kritik in der Festschrift für Carstens nicht widerlegt, sondern schlicht unterschlagen worden ist. 11 BVerfGE 36 1, 36 sub 2. 12 „Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“ in: Kritik und Vertrauen – Peter Schneider zu ehren 1990, S. 268– 295. Wie mein Lehrer Friesenhahn bin ich ein Feind von Festschriften, die mir oft wie Särge der Wissenschaft vorkommen. Manchmal ist aber die Pflicht stärker. Schneider war von Friesenhahn habilitiert 7 8
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Verfahren, die der Bundestag durch die Erfindung eines Folterwerkzeuges nur für den Abgeordneten Gysi, nämlich eine parlamentarische Untersuchung ohne parlamentarisches Untersuchungsrecht, also ohne rechtsstaatliche Untersuchungskautelen, provoziert hat. Erst die im Patt endende Schlussentscheidung lässt eine späte Ahnung aufscheinen, dass etwas schief gelaufen ist.13 Mit dem Untertitel „Über die Wirkung fixer Ideen in der Verfassungsrechtsprechung“ habe ich die Häufung gravierender Denkfehler in dem Leiturteil zum Ausländerwahlrecht aufgespießt,14 bin mit dem Florett dagegen unter der Überschrift „Judex non calculat“ dem Zweiten Senat zur Besetzung des Vermittlungsausschusses zu Leibe gerückt.15 Von den Verfahren, an denen ich beteiligt war, ist kaum eines ganz regulär verlaufen: Harmlos, wenn auch nicht rechtstreu, war noch eine einstweile Anordnung nach mündlicher Verhandlung ohne die in § 30 BVerfGG vorgeschriebene Begründung,16 zumindest überraschend war die Anfrage des Berichterstatters, ob ich die Beteiligten einer Wahlprüfungsbeschwerde in der mündlichen Verhandlung vertreten wolle,17 noch nie dagewesen war die exakte Teilung des Spruchkörpers mit der Konsequenz zweier vollständiger Begründungen,18 dagegen schon mehr als grenzwertig war, in einem Untersuchungsausschuss-Streit an Stelle einer stattgebenden Entscheidung zur Schonung des Gegners eine schriftliche Aufforderung an ihn „zu erlassen“, so zu verfahren, wie wir als Organkläger gefordert hatten. Den Höhepunkt verfassungsrichterlichen Hochmuts leistete sich der Kollege Papier als Vorsitzender des Ersten Senats im brandenburgischen Schulstreit. Statt in der Sache zu entscheiden, ob Art. 141 GG mit seiner Befreiung vom Religionsunterricht als Pflichtfach für Brandenburg gilt, was den geltend gemachten Anspruch der Kirchen ausgeschlossen hätte, statt also eine ziemlich einfache Rechtsfrage autoritativ zu klären, drängte Papier den brandenburgischen Ministerpräsidenten massiv und mit Hinweis auf mögliche Un gnade in späteren Fällen zu einem vom Gericht vorformulierten mehrseitigen Vergleich mit den Kirchen.19 Dieser befasste sich gar nicht mit dem Religionsunterricht als ordentlichem Lehrfach, sondern sah unter anderem Zusatzzahlungen des Landes an die Kirchen vor.20 worden, weil Forsthoff ihn mit seiner Schrift „ Ausnahmezustand und Norm“, die nicht gerade freundlich mit Carl Schmitt umging, nicht habilitieren wollte. Mein Beitrag war eine Rede auf dem Ham bacher Schloss am 8. Oktober 1988. 13 S. Hans Meyer, Die Wiedervereinigung und ihre Folgen vor dem Bundesverfassungsgericht, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht (Hrsg. Badura/Dreier) Bd. 1, 2001 S. 83, 104–110. 14 Zu BVerfGE 83, 37–59 s. Hans Meyer, Grundgesetzliche Demokratie und Wahlrecht für ansässige Nichtdeutsche, JZ 2016, 121–127. 15 In der Festschrift „Summa“ für Dieter Simon, 2005, S. 4 05–433. 16 BVerfGE 74,7. Ich habe nie mehr die Richterbank so gleichzeitig und rasch nach dem Barett greifen sehen als nach dem Verlesen der einstweiligen Anordnung. 17 BVerfGE 121, 266–317. 18 BVerfGE 95, 335–367 u. 367–407. 19 Der Verfahrensschluss auch des Hauptverfahrens 1 BvF 1/96 ist trotz einer ganztägigen mündlichen Verhandlung nicht dokumentiert, so dass der Außenstehende nicht wissen kann, dass der Senat dem erhobenen Anspruch der Kirchen auf Religion als ordentliches Lehrfach in Brandenburg nicht entsprochen hat. Das war offensichtlich der Sinn des mehrseitigen Vergleichsvorschlags des Senats. In den Registerbänden taucht daher Art. 141 GG auch nicht auf. 20 Ob Papier dafür in den Himmel kommt?
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Dass gelegentlich auch ein sonst so beherrschter Mann wie der damalige Innenund damit Verfassungsminister Schäuble einmal die Contenance verlieren kann, erlebte ich in der mündlichen Verhandlung zum Einigungswahlrecht.21 In ihm wurde die Ausdehnung der 5 % -Sperrklausel auf das beitretende Gebiet verfügt, was angesichts der krass unterschiedlichen Zahl der Wahlberechtigten alle Neugründungen, ja möglicherweise selbst die PDS chancenlos gemacht hätte. Man vergaß dabei nicht, für die CSU, die allein mit der DSU eine Listenverbindung eingehen konnte, ein eigenes Schmankerl bereitzuhalten. Nachdem ich das mit Verve in meinem Plädoyer dargelegt hatte und vom Pult zurücktrat, zischte Schäuble mir über den Gang hinweg zu: „Werden Sie nicht übermütig“. Die mündliche Verhandlung war beeindruckend, weil der Vorsitzende Mahrenholz auch Vertreter der Bürgerbewegung zu Wort kommen ließ, auch wenn sie nicht Verfahrensbeteiligte waren. Dass ein Prozessvertreter sich mit einem einzigen Satz begnügt, wird das Gericht auch noch nicht erlebt haben. „Hätte man das Gesetz auch so gemacht, wenn im Osten 60 Millionen und im Westen nur 18 Millionen gelebt hätten“, fragte Gysi und ging auf seinen Platz zurück. Auch auf Klägerseite geht es nicht nur edel zu. Meine erste Verfassungsbeschwerde habe ich auf Bitten Friesenhahns und Scheuners als Privatdozent übernommen. Es ging um die Anwendung des allgemeinen Arbeitsrechts, gegen die sich ein Stiftungskrankenhaus, das von katholischen Nonnen geleitet, aber schon lange nicht mehr versorgt wurde, mit Scheuners Hilfe bis zum Bundesarbeitsgericht erfolglos gewehrt hatte. Wenn ich die Religionsfreiheit des Art. 4 GG statt Art. 140 GG in den Vordergrund gerückt hätte, wäre die Sache bei der Verteilung durch die Gerichtsverwaltung vor dem Ersten Senat gelandet. Die beiden Herren fanden sie aber im Zweiten Senat und damit bei Richter Geiger, dem man auf einem katholischen Ticket wähnte, besser aufgehoben. In der Sache half mir meine Satzungserfahrungen in Bonn, weil mir aufgefallen war, dass die Ergänzung des siebenköpfigen Kuratoriums als wichtigsten Leitungsgremiums der Stiftung so geschickt, nämlich auf Anhieb nicht verständlich, organisiert war, dass die beiden katholischen Geistlichen als geborene Mitglieder bei der Auswahl immer eine Vetoposition hatten, was für den Ausgang des Verfahrens eine wichtige Rolle spielte.22 Der Zusammenbruch des Ostblocks führte 1990 zu einem Auftrag verfassungsrechtlicher Beratung in Kroatien. Er eröffnete mir den einzigen blitzartigen Einfluss auf die Gesetzgebung in meinem Leben. Unter bestätigender Assistenz einer Europaabgeordneten erklärte ich dem zuständigen Vizeminister, es sei europäischer Standard, die Bürgermeister und Landräte direkt oder indirekt durch Volkswahl zu bestimmen. Auf meine zweifelnde Frage, ob sie es in Kroatien auch so halten würden, antwortete er, wenn er das sage, werde es auch so geschehen. Zur Bestätigung rief er ein Fernsehteam herein, vor dem ich meinen Spruch wiederholte. Die erste Meldung der Abendnachrichten war die Wahl Milošewic´s zum Staatspräsidenten von Serbien, die zweite mein Statement. Lediglich für die Hauptstadt Zagreb schien den neuen Herrschern so viel Demokratie zu gefährlich. Wie fragil das Gebilde Kroatien war, wurde sinnfällig, als bei der Begrüßung der Ehrengäste vor einer Aufführung von 21
BVerfGE 82, 322–352. BVerfGE 46,73, 92.
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Aida im Amphitheater von Pula der Verwaltungschef von Istrien demonstrativ doppelt so viel Beifall erhielt wie der Staatspräsident ‘Tudman.
VII. Auf dem Weg nach Berlin Die deutsche Einigung sollte meinen Lebensweg noch einmal in andere Bahnen lenken. Die Frage des Vorsitzenden des Wissenschaftsrates, meines Fakultätsfreundes Dieter Simon, ob ich triftige Gründe habe, den Vorsitz der Struktur- und Berufungskommission für den Fachbereich Rechtswissenschaft der Humboldt-Universität abzulehnen, ließ sich schlecht bejahen, zumal die Arbeitslast erträglicher schien, als sich herausstellte. Vor vorschnellen Urteilen schützte mich der langjährige Besuch der Leipziger Messe, die zur Freundschaft mit der Familie eines vom Regime kalt gestellten begabten Mathematikers führte; es war damals die einzige Möglichkeit, die DDR kennen zu lernen, wenn man nur im Westen gelebt hatte. Mit Hanau, Hopt und dem von der Fakultät selbst vorgeschlagenen SchülerSpringorum war der hälftige Westteil der Kommission brillant besetzt; seine Vetomacht musste aber nie ausgespielt werden. Die Kommission war Herr aller Entscheidungen über das vorhandene wie das zu berufende Personal und über die fachliche Ausrichtung. Bei der Weiterbeschäftigung des vorhandenen Personals wurde für alle Statusgruppen trotz Sperrfeuer aus Westberlin eine ausgewogene zeitliche Lösung gefunden. Dabei war die Rechtslage nach dem Einigungsvertrag keineswegs hilfreich. So hätte der starke und ganz überwiegend unbefristet angestellte Mittelbau auf seinem Recht auf Dauerbeschäftigung beharren und damit die Rekonstruktion torpedieren können. Mit der alten königlichen Bibliothek, der „Kommode“, und dem Alten Palais gelang es in einem Gespräch mit dem Senator Erhard und dem Kanzler der Universität Neumann für die Fakultät einen sehr repräsentativen Standort in der alten Stadtmitte Berlins zu gewinnen. Nach zweijähriger Arbeit, die den Vorsitzenden neben dem vollen Frankfurter Programm mit manchmal zwei Flügen in der Woche und anfänglich vier Wochenstunden Verwaltungsrecht in Berlin belastete, beendete die Kommission als erste an der Humboldt-Universität ihre Arbeit. Das allgemeine Lob war ihr so sicher wie die Kosten der Belastung. Die Fakultät verlieh mir die Würde eines Ehrendoktors. Drei Jahre später kam die Anfrage und später das Drängen, ob ich nicht Präsident der Humboldt-Universität werden wolle. Nach meinen Erfahrungen sah das mehr nach Arbeit als nach Ehre aus. Mit 63 Jahren fühlte ich mich aber noch kräftig genug und meine Frau und ich beschlossen, die Ernsthaftigkeit des Engagements durch einen Umzug zu dokumentieren. An meinem zweiten Arbeitstag überraschte der Berliner Wissenschaftssenator Radunski die Präsidenten und Rektoren der Berliner Hochschulen mit der bevorstehenden Kürzung ihrer Etats um 140 Millionen. Er werde auch für eine feierliche Erklärung des Abgeordnetenhauses sorgen, dass es das letzte Opfer der Hochschulen zur Konsolidierung des Berliner Haushalts sei. Das bedeutete für die Humboldt-Universität den Verlust eines mittleren Fachbereichs. Mit dem Argument, ich traue solchen Versprechen nicht, schlug ich vor, einen Vertrag mit dem Land Berlin zu schließen und bekam, wie das in solchen Gremien üblich ist, den Auftrag, einen solchen auszuarbeiten. Vier Punkte schienen mir wich-
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tig. Wir mussten das Recht des Landes, sich auf die clausula rebus sic stantibus zu berufen, möglichst ausschließen, was durch eine geschickte Formulierung der Präambel gelang. Wir mussten der Stadt etwas anbieten, damit der Vertragscharakter zu begründen war. Das wurde durch die Festlegung möglichst allgemeiner Entwicklungsziele realisiert. Und wir wollten auch finanzielle Vorteile aushandeln. Da haushaltswirksame Vorteile sich verboten, weil wir ja Sparopfer sein sollten, blieb nur, wie der Finanzrechtler weiß, das Landesvermögen als Ansatzpunkt. Wir setzten schließlich durch, dass bei Freimachen und Verkauf eines von uns genutzten (Landes)-Grundstücks die Hälfte des Kaufpreises an uns geht. Das war bei einer großen landwirtschaftlichen Fakultät mit erheblichen Flächen, auch in Westberlin, für uns besonders attraktiv. Um den Vertrag vor gesetzgeberischen Etatkürzungen zu schützen, musste schließlich das Abgeordnetenhaus zustimmen. Mit dem Vertrag war ein neues Instrument im Verhältnis von Staat und Hochschule geschaffen, das Schule machen sollte. Es war nur möglich geworden, weil von Anfang an die Präsidenten der drei Universitäten gegenüber dem Land solidarisch auftraten. Wie wenig das selbstverständlich war, zeigte sich, als mich nach einer launigen Rede bei einer Geburtstagsfeier der FU ein gestandener Teilnehmer ziemlich grob fragte, was ich eigentlich hier zu suchen habe. Das zweite Hauptziel der Hochschulpolitik war, das Verhältnis zum Staat von den gewachsenen Verflechtungen zu befreien. Das betraf zum einen den Einfluss der Senatsverwaltung auf unsere Verwaltung auch in akademischen Fragen, zum anderen den Einfluss des Kuratoriums, das sich, in der Westberliner Kampfzeit entstanden, zu einem hypertrophen Organ entwickelt hatte. In Personalangelegenheiten hatte z.B. eine aus Senatsverwaltung und Universität paritätisch besetzte Kommission mit Stichentscheid für die staatliche Seite zu entscheiden. Auch nur für die Neuformulierung einer fehlgeschlagenen Ausschreibung der Leitung der Personalabteilung musste z.B. eine Kommission mit Abteilungsleitern aus der Finanz- und Innenverwaltung, selbstverständlich der Wissenschaftsverwaltung und entsprechend hoher Besetzung aus der Universität entscheiden. Dieser bürokratische Unfug gab den Ausschlag durchzusetzen, dass alle Interventionen der staatlichen Seite auch in sogenannten staatlichen Angelegenheiten (Haushalt, Personal und Bauwesen) über das Kuratorium laufen müssen. Da es nur sporadisch tagt, tendiert der staatliche Einfluss seither gegen Null. Dass die Entscheidungen deswegen schlechter geworden sind, ist bisher nicht behauptet worden. Das Rechtsproblem bestand nur darin, dass wir durch Universitätssatzung den staatlichen Einfluss reguliert haben. Das Land hat sich aber arrangiert; auch es musste Personal abbauen. Schwieriger war der Umbau des Kuratoriums. Am Höhepunkt der Studentenwirren entstanden, sollten damals durch Einbeziehung des Regierenden Bürgermeisters und von Senatoren Universität und Politik zusammengeführt werden. Bald stellte sich heraus, dass diese und selbst ihre Staatssekretäre bei drei Universitäten und einer ganzen Reihe anderer Hochschulen nicht einmal die Zeit hatten, diese Funktionen auszufüllen. Auch die Aufstockung durch Vertreter der Wirtschaft und der Gewerkschaften wirkten nicht belebend. Es war schon anstrengend genug, die Neuordnung in den Gremien der Universität durchzusetzen. Das alte Kuratorium musste sich aber selbst abschaffen. Das gelang auch nur, weil der Senator Radunski geistesgegenwärtig
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eine fehlgeschlagene Abstimmung mit dem zutreffenden Bekenntnis, er habe die Frage missverständlich gestellt, wiederholte. Das dritte Projekt war die Professionalisierung der Universitätsspitze. Dafür sind zwar die rechtlichen Regeln geändert, die damit verbundene Idee ist aber nicht realisiert worden. Mit der Umwandlung des Präsidentenamtes in einen Hauptberuf war die Funktion des Kanzlers obsolet geworden, der vorher mit den Agenden Haushalt, Personal und Bau eine stabilisierende Stellung hatte. Zum anderen sagte die Erfahrung, dass vor allem der Bereich Forschung einen Wissenschaftsmanager benötigte; grob gesprochen wäre die Hälfte seiner Zeit besser in Brüssel verwandt, wo das Geld liegt, als in Berlin. Für den Bereich Lehre tut sich mit dem vielfältigen und über die Welt verstreuten Studienaustausch ein weiteres Feld auf, das intensiver, aber auch kontinuierlicher Pflege bedarf. Als die Kanzlerstelle unerwartet frei wurde, schien mir die Gelegenheit zur Änderung günstig, zumal in den Wissenschaftsorganisationen der Republik hinreichender personaler Sachverstand vorhanden ist, um neue universitäre Wissenschaftsmanager heranzubilden. Der Hang zum eigenen professoralen Personal und damit zur Binnenschau überwog aber mehr als eine Dekade.23 Die Reformen wurden in der Universität, die sich ja schon nach der „Wende“ neu erfinden musste, nur knurrend mitgetragen, führten aber dazu, dass mir die Bundeswissenschaftsministerin den Vorsitz einer „Expertenkommission zur Neuordnung des Hochschuldienstrechts“ antrug. Vom zuständigen Unterabteilungsleiter und Referenten des Wissenschaftsministeriums war ich zuvor über meine inhaltlichen Vorstellungen peinlich befragt worden. Der Generalsekretär der Volkswagenstiftung war ein ebenso sachkundiger wie hilfreicher Stellvertreter. Auch die übrige vom Ministerium entschiedene Besetzung der Kommission, darunter zwei in den USA sozialisierte Professorinnen, konnte sich sehen lassen. Inhaltlich problematisch erwies sich die Beteiligung zweier Vertreter der Fachhochschulen. Der eine verließ die Kommission schon bald, der andere kurz vor der Schlussabstimmung. Anlass für die Kommission war das Ärgernis des mit vierzig Jahren zu hohen durchschnittlichen Alters bei der Habilitation. Vorgeschlagen wurde die neue Figur der Juniorprofessur,24 um Hochqualifizierte schon früher an die selbständige Lehre heranzuführen. Sechs Jahre sollten zur Forschungsqualifikation ausreichen. Der Unwille in der Professorenschaft war groß. Er war ernsthaft nicht der Befürchtung einer Qualitätsminderung geschuldet, weil die Professorenschaft bei der Ergänzung des Lehrkörpers weiterhin dominant blieb, das „zweite Buch“ also wie bisher in den Geistes- und Sozialwissenschaften Standard bleiben konnte. In Wirklichkeit ging es um das gelegentlich paternalistische und schlimmstenfalls ausbeuterische Lehrer-Schüler-Verhältnis, das strukturell abgesichert bleiben sollte. 35-Jährige noch als Schüler zu bezeichnen, hat die Vertreter des Status quo nie gestört. Die Besoldungsfrage war dagegen aus zwei Gründen schwer zu lösen. Die Einbeziehung der Fachhochschulen zwang statt eines von den Fachhochschulen wegen ihres Gleichstellungsziels favorisierten einheitlichen Mindestbetrags, zu zwei solcher Erst Ende 2016 ist mit dem Generalsekretär der MPG ein Vizepräsident neuen Typs gewählt wor-
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den. 24 Da die Inhaber gerade Niemandem assistieren sollten, hatte ich mich in der Kommission gegenüber der Bezeichnung Assistenzprofessur durchgesetzt.
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Größen. Denn die Erwartung war nicht sehr hoch, die Selbstverwaltungsorgane würden die sonst notwendigen hohen Zusatzbeträge in den Universitäten auch jenseits von Rufverhandlungen angemessen zuteilen können. Andererseits konnte dadurch die eingerissene und nach meiner Erfahrung schädliche Teilung in Ordinarien und Nichtordinarien, also nach der alten Besoldungsordnung in C4 und C3, versteinert werden. Daher sollten auch bei W2 nicht durch W3 begrenzte Zusatzbeträge möglich sein. Das ist erreicht worden. Eine eigene Klausel sollte die Länder hindern, die Umstellung zu allgemeinen Gehaltsminderungen zu nutzen. Das Ergebnis der Kommissionsarbeit scheiterte erst am Bundesverfassungsgericht, das die bundesgesetzliche Umsetzung durch die Kompetenz zur Rahmengesetzgebung nicht mehr gedeckt ansah. Dass das Gericht beim erheblich detaillierteren Beamtenrechtsrahmengesetz nie Skrupel hatte, hat seine eigene Ironie. Das Urteil führte aber bei der Föderalismusreform I konsequent zur Aufgabe der gesamten Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes (Art. 75 GG a.F.). In der Sache übernahmen aber die Länder die Idee der Kommission über die Juniorprofessur und im naturwissenschaftlichen Bereich hat sie sich überwiegend, bei den Sozialwissenschaften wohl weitgehend durchgesetzt; nur meine eigene Profession bleibt verstockt.25 Dieter Simon hat als Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie durch die Gründung einer „Jungen Akademie“ einen ähnlichen Anstoß gegeben. Vergeblich war der Versuch, in der Hochschulrektorenkonferenz eine Gegenstrategie gegen die durchgängige finanzielle Bevorzugung der außeruniversitären Forschungsorganisationen durchzusetzen. Auf den Vorschlag, in Universitäten auch reine Forschungsinstitute zu etablieren, reagierte die Versammlung mit Schweigen. Da die Reformen viel Zeit in Anspruch genommen hatten, konnten die meist mit einem Studentenaustausch einher gehenden Auslandsbeziehungen der Universität nur gegen Ende der Amtszeit gepflegt werden. Sie führten aber dazu, dass ich in Japan und in viel intensiverem Maße in Südkorea, dort sogar bis 2015, eine Reihe von Vorträgen sowohl im Einigungsministerium, im Korea-Institut und vor privaten Vereinigungen zu Einigungsfragen und allgemeinen Rechtsfragen wie zum Beispiel in der National University in Seoul vier Vorträge zu verwaltungsrechtlichen Problemen gehalten habe. Die dortige juristische Fakultät teilte sich hälftig in Professoren, die in Deutschland promoviert oder sogar habilitiert wurden und solchen, die wissenschaftlich in den USA groß geworden sind. Schon weit vor meiner Berliner Zeit habe ich regelmäßig jedes Jahr Vorträge an der Sapienza in Rom oder in Forschungsinstituten zu aktuellen verfassungsrechtlichen Fragen, vom Schulrecht bis zu Problemen eines Finanzausgleichs, gehalten, eine dauerhafte Verbindung, die mir schließlich die unverdiente Ehre eines Großoffiziers des Verdienstordens der Italienischen Republik einbrachte. Aus der Berliner Politik habe ich mich herausgehalten, weil ich es nicht als eine Aufgabe der Hochschule ansah, Parteipolitik zu machen; man musste nur mit ihr umzugehen verstehen. Senator Radunski hat meine Reformpolitik immer unterstützt, die Senatsverwaltung war aus Eigeninteresse reservierter. Als meine Wieder25 Bei einer Umfrage unter 1200 Hochschullehrern im Auftrag des Hochschulverbandes wurde die Einführung der Juniorprofessur positiv bewertet (FAZ v. 21.12.2016).
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wahl anstand, fand sich kein deutscher Konkurrent. Die Vorsitzende des Kuratoriums organisierte die Bewerbung eines deutschstämmigen Amerikaners, für die sie sich viel später bei mir entschuldigt hat. Beide erreichten wir die absolute Mehrheit nicht und ich entschloss mich auszuscheiden, weil bei einer so gespaltenen Universität das Amt nur ein Verwalten erlaubt hätte. Dafür war mir die Zeit zu schade. Wie in Bonn war es eine antiweimarer Koalition. Bei den opponierenden Professoren wird mir auch mein Eintreten für die Juniorprofessur geschadet haben. Um der Peinlichkeit zu entgehen, mir bei meiner Verabschiedung Lobreden anhören zu müssen, entschlossen meine Frau und ich, selbst zum Abschied einzuladen. Überraschend erschien der gar nicht eingeladene langjährige Regierende Bürgermeister Diepgen und hielt sogar eine Rede. Ich hatte während meines Amtes nur drei intensivere Unterredungen mit ihm, eine auf seinen Wunsch, und ich vermute, dass er es war, der mich zum Bundesverdienstkreuz Erster Klasse im beschleunigten Verfahren vorgeschlagen hat.
VIII. Die Freiheiten eines Emeritus Für einen Ordinarius des Rechts ist das 68. Lebensjahr nicht notwendig eine Zäsur. Während das Interesse an Lehrtätigkeit verebbt, weil man nicht mehr prüft, steigt das Interesse an Beratung. Neben Aufenthalten in Ruanda, Saudi-Arabien und Libyen auf der einen und Kasan und Moskau auf der anderen Seite führte der Weg zu einem Höhepunkt, zur Mitarbeit in den beiden Föderalismuskommissionen von Bundestag und Bundesrat in den Jahren 2003/04 sowie 2007/08. Die Beratung in Afrika organisierte die Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ, heute GIZ). Wer mich vorgeschlagen hat, weiß ich nicht. Ruanda, einen kleinen Staat in Äquatorialafrika, besuchte ich zweimal im Frühjahr 2003. Das Land entwarf nach dem Genozid 1994, dem mindestens 800.000 Menschen zum Opfer fielen, in diesem Jahr eine Verfassung und ein Wahlgesetz. Es zeigte sich, dass die herrschende Partei unter dem heute noch regierenden Präsidenten Kagame Beratung nicht nötig hatte, um eine Verfassung mit einer Konzentration wichtigster Kompetenzen auf den Präsidenten zu schaffen.26 Die wirtschaftliche Konsolidierung ist unter diesem System gelungen, das Verhältnis zu dem benachbarten und erdschatzreichen Kongo ist immer noch labil und ob die Mehrheitsethnie der Hutu auf Dauer von den Macht fernzuhalten ist, dürfte mehr als fraglich sein. Immerhin sieht die Verfassung durch geschickte Formulierungen vor, dass die Frauen mindestens 50 % der Parlamentssitze haben, was aber ebenfalls zugunsten der besser ausgebildeten Tutsi-Frauen wirken dürfte. Im März 2004 beriet ich eine Woche lang das Ministerium für kommunale und ländliche Angelegenheiten (MOMRA) in Riyadh, der Hauptstadt Saudi-Arabiens, zum Vorhaben erstmaliger Kommunalwahlen nach fünfzig Jahren. Das Vorhaben klang revolutionär. Es war aber nicht an Kommunalparlamente gedacht, sondern an kleine Beratungsgremien zwischen 4 und 14 Mitgliedern. Die Hälfte der Mitglieder sollte außerdem weiterhin vom König bestimmt werden. Zu einem Frauenwahlrecht sagte der Vorsitzende des Wahlausschusses, ein in den USA promovierter Enkel des Die Verfassung und meine politische Bewertung sind in JöR NF 52 S. 611–672 abgedruckt.
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Staatsgründers, durchaus ironisch: Wie können wir den Frauen das Wahlrecht geben, wenn wir sie nicht einmal Auto fahren lassen. Gut zehn Jahre später ist jenes aber geschehen. Problematisch war, dass es weder einen Zensus noch ein Wahlregister gab. Man schätzte, dass 30 % der Einwohner Ausländer sind,27 vor allem Arbeiter aus Asien, und kam nach Abzug der Frauen und der überaus starken Zahl der Minderjährigen und der auszuschließenden Militärangehörigen bei 20 Mill. Einwohner auf maximal 2,8 Mill. Wahlberechtigte. Der Vorschlag, auch mit Rücksicht auf die periodisch wiederkehrenden Wahlen ein Wahlregister einzuführen, zumal der Auf bau eines Zensus geplant war, schien zwar nicht den unmittelbar Beteiligten, wohl aber der Staatsleitung zu fortschrittlich. Wie prekär die Situation war und offensichtlich noch ist, zeigten die vielen Kontrollstellen auf der Autobahn vom Flughafen ebenso wie die festungsartige Gestaltung des „goldenen Käfigs“ der Diplomaten wie der Wohnsiedlungen der anderen auswärtigen Bediensteten. Der letzte GTZ-Auftrag führte mich im September 2006 mit einem Referenten des Max-Planck-Instituts für Völkerrecht in Gaddafis Reich Libyen nach Tripolis. Nach einer Zeit der Stagnation suchte Gaddafis Sohn Saif al Gaddafi einen Ausweg aus dem status quo, nachdem ein beauftragter amerikanischer Wirtschaftswissenschafter ein wenig erfreuliches Bild der libyschen Wirtschaft gezeichnet hatte. Der Sohn leitete eine „internationale“ Stiftung, unter deren Schutz Reformmöglichkeiten erörtert werden sollten. Es stellte sich aber bald heraus, dass das „Grüne Buch“ Gaddafis, das den Rang der Mao-Bibel erreichen sollte, ein schwer zu umgehendes Hindernis war. In ihm hatte er eine Art direkte Demokratie in allen Betrieben, Hochschulen, Krankenhäusern und Behörden propagiert und dies als die Verwirklichung der eigentlichen Demokratie bezeichnet. Das war ebenso gegen die traditionelle Stammes- und Familienbindung als auch gegen die Entwicklung von politischen Parteien gerichtet und diente so seiner Alleinherrschaft. Die Konsequenz war, dass nicht von der Reform des politischen Systems gesprochen werden durfte, sondern höchstens von Sozialreformen. Unter diesen Bedingungen war ein Beratungserfolg kaum zu erwarten. Der schnelle Zusammenbruch des Systems zeigte, wie wenig die vom Eigeninteresse bestimmten Organisationsregeln das System geprägt hatten.
IX. Die Föderalismusreform Einen Höhepunkt der Beratungstätigkeit bildete die Mitarbeit an der Föderalismusreform. Auch hier habe ich mich nicht beworben. Die im Kanzleramt für die Reform zuständige Ministerialdirigentin hatte noch in meiner Frankfurter Zeit als zivilistische Assistentin meinen Vortrag über die Reformbedürftigkeit der ältesten deutschen Landesverfassung, nämlich der hessischen, gehört, der erstmals unter stärker systematischen Gesichtspunkten eine Reform angemahnt hatte.28 Nach einem längeren Gespräch mit ihr und einem Mitarbeiter, bei der das während meiner langjährigen Ar Der gegenüber dem saudischen Suk vor Volk überquellende asiatische Suk ließ eher auf eine höhere Quote schließen. 28 In den letzten hessischen Koalitionsverhandlungen 2015 haben die Grünen darauf Bezug genommen und die früher immer unwillige CDU dazu überredet, das Projekt ernsthaft in Angriff zu nehmen. 27
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beit mit und am Grundgesetz aufgestaute Ungenügen zum Durchbruch kam, wurde ich einer der zwölf beratenden wissenschaftlichen Mitglieder der Kommission, darunter acht Staatsrechtslehrer. Die Arbeit blieb solange ergiebig, solange die Ministerpräsidenten oder ihre Vertreter zu einem Argumentationsaustausch gezwungen waren. Daher war die Zeit einer zweitägigen Klausurtagung besonders fruchtbar. Die produktive Arbeit endete praktisch mit dem Abbruch der Verhandlungen über die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern und die Verweisung in Arbeitsgruppen, in denen unsere Beratung nicht mehr erwünscht war. Es blieb beim status quo, weil schwächere Länder gegen jegliche Übertragung vom Bund auf die Länder waren und selbst deren Parlamente nicht dafür eintraten. Das traf sich natürlich glücklich mit dem Interesse der Bundesbürokratie, die keines „ihrer“ Gesetze aus der Hand geben wollte. Auf dem Markt ausgebreitet werden sollte diese reformfeindliche Interessendominanz natürlich nicht. Eine systematische Durchmusterung der Gesetzgebungskataloge der Art. 73 ff. GG, um die ich mich bemüht hatte, ergab sonderbare Inkonsequenzen. Obwohl das Polizeirecht nach dem Grundgesetz in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fällt, war das Versammlungsrecht als typische Polizeimaterie der vom Bund natürlich genutzten konkurrierenden Gesetzgebung zugewiesen. Eine Verteidigung dieser Zuordnung war der Hinweis auf die intensive und liberale Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht zum Thema, als ob diese durch die Verlagerung der Materie zu den Ländern bei der unitarischen Wirkung der Bundesgrundrechte tangiert würde. Gegen die Verlagerung der Gesetzesmaterie Strafvollzug auf die Länder wurde, obwohl er selbst eine Landesaufgabe ist, ein weiteres geläufiges Argument genutzt, nämlich die Gefahr der Absenkung des Schutzstandards. Diese Befürchtung hat mittlerweile eine fulminante Dissertation widerlegt.29 Keine Freunde im konservativen Lager jeder Richtung, vor allem aber unter den Beamtenfunktionären hat mir das Insistieren auf dem Argument gebracht, wie denn die Länder ihre Staatsqualität vertreten könnten, wenn sie nicht einmal die gesetzgeberische Herrschaft über ihr Beamtenrecht reklamierten. Die Rahmengesetzgebung des Bundes, die unter Duldung aller Seiten z.B. beim Beamtenrecht von Anfang an als Vollgesetzgebung genutzt worden war, war damit nicht mehr zu halten. Immerhin wurde die bisherige nicht gerade zukunftsoffene Forderung in Art. 33 Abs. 5 GG, das Beamtenrecht „unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ zu regeln, um ein zagendes „und fortzuentwickeln“ ergänzt. Man kann freilich nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit dem detaillierten Einlassen auf Besoldungsregeln Zweifel haben, ob diese Klausel noch Wirkung entfaltet. Der Kampf um das Beamtenrecht zeigte noch ein anderes Phänomen deutlich. Nicht nur bei den Beamten drängt der kontinuierliche Einfluss durch Berufsverbände wie auch durch den freihändigen Lobbyismus zur Konzentration von Kompetenzen beim Bund.30 Auch diese Kräfte kennen eine Kosten-Nutzen-Analyse. 29 Siehe Klaus Jünemann, Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug im föderalem System der Bundesrepublik Deutschland 2012 und meine Besprechung in Der Staat 53 (2014), 365–368. 30 Ein schönes Beispiel ist der damalige Versuch des Vorsitzenden des Beamtenbundes, mit dem Bundesinnenminister eine den Beteiligten bis dahin schwer vermittelbare Reform des Beamtenrechts zu vereinbaren, die den Reformdruck von der Kommission nehmen sollte.
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Die übermäßige Verflechtung der Kompetenzen bei der Gesetzgebung durch Art. 84 Abs. 1 GG a.F., die dem Bundesrat, politisch gesprochen also den Ländern, bei der Bundesgesetzgebung eine Vetoposition einräumte, hatte das Bundesverfassungsgericht durch die „Einheitsthese“31 noch verschärft.32 Sie erst machte den Einfluss zu einer umfassenden und nicht konditionierten Waffe bei unterschiedlicher politischer Mehrheit in Bundestag und Bundesrat. Man rügte die Verfahrensregel und meinte den politischen Inhalt des Gesetzes. Durch ein Abweichungsrecht der Länder von solchen Regeln ist der gordische Knoten durchschlagen worden.33 Dass es praktisch nicht genutzt wird, zeigt im Nachhinein, wie sehr die Argumente vorgeschoben waren. Die Angstregeln des Art. 84 Abs. 1 Satz 3 und 4 GG wird eine spätere Verfassungsreform wohl als überflüssig aufgeben. Die Kommission scheiterte zwar offiziell, die bald gegründete Große Koalition war aber froh, in ihren Ergebnissen ein wertvolles Pfund für ihre Agenda zu haben. Die gescheiterten Vorsitzenden der Kommission, der souveräne Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag Müntefering und der etwas angestrengter präsidierende Bayerische Ministerpräsident Stoiber waren gewichtige Spieler in dieser Verhandlungsrunde, sodass schon 2006 der größte Teil der Kommissionsergebnisse im Gesetzblatt stand. Die sehr intensive Mitarbeit an der Reform mündete 2008 zum einen in eine größere kritische Darstellung der Kommissionsarbeit und ihrer Ergebnisse34 und zum anderen in eine knappe Darstellung der Reformfähigkeit unseres Systems, die fast gänzlich Neuland betritt.35 Da die oben erwähnte Ministerialdirigentin nach dem Regierungswechsel aus dem Kanzleramt ausscheiden musste, organisierte sie die SPD-Arbeit in der Föderalismuskommission II der Jahre 2007 und 2008, die sich im Kern mit finanzverfassungsrechtlichen Fragen befassen sollte. Ich wurde einer der wenigen staatsrechtlichen Sachverständigen, die aber anders als in der ersten Kommission nicht zugleich Mitglieder wurden; bei den Finanzen ist der Staat vorsichtig. Der Vorsitz lag beim Fraktionsvorsitzenden der SPD Struck und dem Ministerpräsidenten Oettinger von der CDU. Bald wurde klar, dass das absolut dominierende Thema nicht der Finanzausgleich sein würde, den die Politik ohne Öffentlichkeit unter sich auszuhandeln wünschte, sondern die Staatsverschuldung. Diese war aus einem rechtlichen und einem banalen praktischen Grund aus dem Ruder gelaufen. Rechtlich wurde in Art. 115 Abs. 1 GG a.F. die Begrenzung der Kreditaufnahme durch die Summe der Investitionen, also der Gedanke, dass Investitionen durch wachsende Steuererträge eine Rendite für den Staat erbringen, unterlaufen, in dem man die Neuaufnahme eines abgelaufenen Kredites mit ärgerlicher Zustimmung der Kommentarliteratur nicht als Kreditaufnahme wertete. Der einmalige Straßenbau wurde also, obwohl die Unterhaltungskosten zunehmend stiegen, 31 Wonach sich die Zustimmung nicht nur auf die zustimmungsauslösenden Regeln des Gesetzes beziehen müsse, sondern auf das Gesetz als Einheit. 32 Eine sonderbare Verschärfung brachte noch das Altenpflegeurteil (BVerfGE 106, 62–166). Siehe dazu eingehend Hans Meyer, Die Föderalismusreform 2006, 2008, S. 82–96. 33 In dem vorstehend genannten Werk (S. 106 Anm. 1) ist die wichtigste Phase geschildert. 34 Siehe oben Anm. 31. 35 Hans Meyer, Föderalismusreform: Wie reformfähig ist unser System? 2008.
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zur Dauerrechtfertigung einer periodischen Zusatz-Verschuldung in Höhe der erstmaligen Herstellungskosten. Der praktische Grund lag im Interesse auch der jeweiligen Opposition, dieses schöne perpetuum mobile der Verschuldung nicht zu zerstören. Ein striktes Verbot lag daher nahe, zumal die Alternative, das Interesse der Geldgeber als Bremse zu aktivieren, die Möglichkeit einer Insolvenz des Staates vorausgesetzt hätte. Welcher Politiker hätte das auf seine Kappe nehmen wollen?36 Selten wird darauf hingewiesen, dass eine beliebige Verschuldung die demokratische Verantwortung aushöhlt: Wer Schulden aufnimmt, braucht in der Regel die politischen Kosten einer alternativen Steuererhöhung nicht zu riskieren. Das macht der Politik das Schuldenmachen so verführerisch. Die Zustimmung der Volkvertretungen zur Besteuerung war aber einer der Meilensteine der Demokratisierung der monarchischen Systeme. Die Mitarbeit an der ersten Föderalismuskommission hatte mich in engeren Kontakt mit Innenpolitikern der SPD gebracht. Gleichwohl überraschte mich die Anfrage, wen ich für einen traditionell der SPD zustehenden Platz im Bundesverfassungsgericht vorschlagen würde. Ich nahm das Verzeichnis der Staatsrechtslehrer, sortierte alle aus, die ich entweder für „mittlere Art und Güte“ hielt oder die wegen ihres Alters vorzeitig aus dem Amt ausscheiden würden oder die ich für unionsgeneigt oder sonst anderweitig parteipolitisch gebunden hielt, und machte einen Vorschlag. Der durchlief auch anstandslos die parteilichen Kontrollen im kleinen Kreis, stieß auch bei der Union nicht auf Wiederspruch, bis der im Umgang mit solchen Personalien ungeübte und daher ahnungslose neue Bremer Bürgermeister den Namen öffentlich machte, bevor der endgültige Beschluss gefasst war. Ein Sturm orchestrierter Entrüstung brach los, die sich an Äußerungen des Kandidaten oder auch nur seines Schülers zum Lebensrecht festmachten. Die Kandidatur war tot. In meiner Frankfurter Zeit erledigte so etwas Friedrich Karl Fromme von der FAZ. Als mein Fakultätskollege Spiros Simitis im Gespräch war, machte Fromme seiner Klientel klar, dass sie doch nicht so dumm sei, einen so intelligenten wie eloquenten Kandidaten zu akzeptieren.
X. Rückblick Schaue ich auf mein Leben als Jurist zurück, so sind mir die krummen Wege ebenso wie die Zufälle des Lebens bewusster geworden, als sie mir jeweils erschienen. Ich hatte am Anfang meines juristischen Lebens keine besondere Vorstellung, was mich erwartete, selbst nicht davon, was ich erwartete. Im zweiten Semester in Freiburg ging ich in die Sprechstunde v. Caemmerers, um zu erfahren, wie ich studieren solle. Er frug mich aus, was ich bisher gemacht habe, und meinte, ich solle so weiter machen. Das war ebenso beruhigend wie verstörend, aber Anlass, stärker von mir selbst überzeugt zu sein. In meinem weiteren Leben habe ich mich zunehmend auf mich selbst verlassen und wurde manchmal verletzend ungeduldig, wenn ich Abwegiges zu hören oder zu lesen bekam. Typisch kennzeichnet dies ein Ausspruch Kiskers, mit 36 Siehe zum Ganzen Hans Meyer, Stellungnahme zum Fragenkatalog der Föderalismuskommission II, Kommissionsdrucksache 014.
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dem ich einmal vor dem VGH in Kassel die Klingen kreuzte. Als ich in den Verhandlungssaal trat und er mich sah, sagte er zu seinem Nachbarn: „Es riecht nach Schwefel.“ Besonders ärgerte mich, wenn in einem Kommentar an verschiedenen Stellen dieselbe Frage unterschiedlich beantwortet wurde. Meine Fakultätskollegin und Bundesverfassungsrichterin Osterloh darauf angesprochen, warum der Kommentar zum Verwaltungsverfahrensgesetz von Kopp so gerne von den Verwaltungsgerichten zitiert werde, meinte, eben deswegen, er lasse sich für alles zitieren, auch für das Gegenteil. Meine Nebenbeschäftigungen wie die Tätigkeit im Stab und in der Deputation des Deutschen Juristentages, in der Bundesassistentenkonferenz und im Wissenschaftsrat haben meinen Blick auf das Selbstverständnis einer Profession, auf die Gestaltungsmöglichkeiten einer Minderheit und auf die Disziplinierung durch Politikberatung geweckt und geschärft. Es war mit den Händen zu greifen, wie zum Beispiel befreundete Kollegen nach sechs Jahren Wissenschaftsrat einen anderen Blick auch auf ihr eigenes Fach gewannen. Mein Glück war, dass ich meine erste Professur, wenn auch nur mit knappster Mehrheit, in Frankfurt erhielt. Die Stadt, von Hause aus eher proletarisch, was keineswegs abwertend gemeint ist, war damals in einem totalen Umbruch: U-BahnBau quer durch die enge Innenstadt, die ersten Hochhäuser,37 die diesen Namen verdienten, die Lockerung der SPD-Dominanz und ein sehr lebendiges kulturelles Leben. Dazu eine Fakultät, die wissenschaftlich zu den ersten gehörte und ein intensives geselliges Leben erlaubte. Mein Wechsel nach Berlin war nicht von Anfang an intendiert, eigenartiger Weise aber durch Etappen meines Lebens vorgezeichnet. Der Entschluss, 1958 die halbjährige Landgerichtsstage in Berlin abzudienen, war ausschließlich von Neugier geprägt. Eine der traditionellen einwöchigen Referendarreisen nach Berlin kam hinzu. Von da datiert die Freundschaft mit Jochen Frowein, die in Bonn zur Bildung eines fächerübergreifenden Freundeskreises führte. Gelegentlich kehrte man auch von der Leipziger Messe über Berlin nach Bonn zurück. Von 1970 bis 1976 war ich mit dem Wissenschaftsrat zweimal jährlich mehrere Tage in Berlin. Damals machte die Schaubühne am Halleschen Ufer den größten Eindruck. Dann kamen 1991 bis 1993 die höchst intensiven zweieinhalb Jahre des Vorsitzes der Struktur- und Berufungskommission für die juristische Fakultät an der Humboldt-Universität und die Lehrerfahrungen in Berlin neben meinen Frankfurter Pflichten. In einer Referendarprüfung, die unter erleichterten Bedingungen für die Studenten im letzten Jahr ihres DDR-Studiums möglich war, beschloss ich den Stoff einer kürzlich abgehaltenen Frankfurter Prüfung zu übernehmen, bei der Bewertung aber fairer Weise Rücksicht zu nehmen. Das Erstaunen war groß, als einer der Studenten mit dem Frankfurter Niveau für ein „gut“ mithalten konnte. Der mitprüfende Präsident des Prüfungsamtes sagte: „Herr Meyer, was machen wir falsch, wenn unsere Studenten sechs Jahre studieren, um dieses Niveau zu erreichen, und der schafft das in einem Jahr?“ Ich habe die meisten Frankfurter Hochhäuser von meinem Zimmer im 9. Stock der Senckenberg anlage 9 wachsen gesehen. Als das erste nicht weit vom Hautbahnhof gebaut wurde und ich zum Zug nach Bonn eilte, brannte es im 20. Stock des Rohbaus und ein langer, glühend roter Stahlträger segelte unter Beifall der Leute nach unten. Die Hochhäuser waren anfänglich nicht beliebt. 37
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Durchgehend ist mein Leben von Musik begleitet gewesen. In Bonn war David Schoenbaum mein Primarius, ein amerikanischer Stipendiat und Zeitgeschichtler, der in Oxford mit der Arbeit „Die braune Revolution“ promovierte, dem ersten Versuch, den Nationalsozialismus auch als sozialrevolutionäre Bewegung zu fassen, der ein Buch über die Spiegelaffäre veröffentlicht und kürzlich seine Liebe zur Musik mit einem spannenden Buch über die Sozialgeschichte der Geige gekrönt hat. Er hat auch die Leipziger Verbindung zu unseren späteren Freunden hergestellt und wir sind eines Jahres sogar mit einem ehemaligen Chefredakteur der New York Times nach Leipzig gefahren. Ihm habe ich auch zu verdanken, dass ich in hohem Alter in der Musikabteilung der Kongressbibliothek in Washington eine Stradivari in die Hand nehmen durfte. Hinter einer erfolgreichen Frau steht bekanntlich sie selbst. Hinter einem erfolgreichen Mann aber steht die Frau. Auch mein doch sehr abwechslungsreiches juristisches Leben wäre ohne meine Frau nicht annähernd so glücklich verlaufen, wie ich es schildern konnte. Sie drängte, die Dissertation endlich abzuschließen, und sie war der Kummerkasten für diejenigen Kollegen, denen ich wissenschaftlich zu nahe getreten war. Ihre viel gerühmte Herrenrede auf der Konstanzer Staatsrechtslehrertagung lenkte ihren Glanz auch auf mich, obwohl ich am Text völlig unschuldig war. Die Sommerfeste in unserem Frankfurter Garten war für die ebenso begnadete wie effektive Köchin zwar immer eine Herausforderung, sie dienten aber auch der Stabilisierung der Fakultät. Obwohl sie auch in Berlin noch für den Nomos-Verlag arbeitete, stimmte sie der Idee zu, regelmäßig in den Semestermonaten aus jedem Fachbereich und der Verwaltung Mitglieder aller Statusgruppen zu einem schlichten Abendessen bei hinreichendem Wein in unsere Wohnung am Kupfergraben einzuladen. Das waren jeweils um die 70 Personen. Wir wollten das informelle Kennenlernen zwischen Ost und West unterstützen; die Lebensweisen waren doch sehr unterschiedlich gewesen. Die daraus entstehende Belastung hätte nicht jede berufstätige Frau auf sich genommen. Sie hat es also mehr als verdient, wenn ich ihr diese Skizze meines juristischen Lebens widme.
Staat, Recht und Verfassung Ernst-Wolfgang Böckenfördes politisches und verfassungstheoretisches Denken im Kontext* von
Prof. Dr. Mirjam Künkler, Swedish Collegium for Advanced Study, Uppsala und Prof. Dr. Tine Stein, Universität Kiel Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574 II. Rechtswissenschaftler, Verfassungsrichter und Intellektueller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 1. Akademische Ausbildung und Laufbahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 a) Studium und Qualifikationsschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 b) Wissenschaftliche Netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 2. Hermann Heller und Carl Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582 a) Handlungseinheit, Differenzierung von Staat und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 b) Homogenität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 c) Der Blick unter die „positiv-rechtliche Oberfläche“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 d) „Von Schmitt lernen“ – Schmitt nicht bewerten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588 3. Gründung der Zeitschrift „Der Staat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 4. Auf der Richterbank des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594 a) Böckenförde als Dissenter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 b) Demokratie und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 5. Böckenförde als Public Intellectual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 a) Vergangenheitsaufarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 b) Hochschulpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 c) Der liberale Sozialdemokrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602 d) Kritischer Katholizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608
* Der vorliegende Text stellt eine überarbeitete Übersetzung der Einleitung in Mirjam Künkler/Tine Stein (Hrsg.), Ernst Wolfgang Böckenförde: Constitutional and Political Theory. Selected Writings, 2016 dar. Die Autorinnen danken Frieder Günther und Oliver Lepsius für hilfreiche Anmerkungen zur überarbeiteten Fassung des Textes und Katarina Marcisch und Anne Metten für Hilfe bei der Erstellung der Übersetzung sowie editorische Unterstützung.
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I. Einleitung Ernst-Wolfgang Böckenförde (geb. 1930) ist einer der führenden Rechtswissenschaftler und politischen Denker Deutschlands. Als Verfassungsrechtler und Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er einen maßgeblichen Beitrag zu wichtigen Debatten in Verfassungstheorie und politischer Theorie geleistet, zum Konzept des modernen Staates und seinen Voraussetzungen, und über fünf Jahrzehnte hinweg zu zeitgenössischen politischen und ethischen Streitfragen. Seine Schriften haben nicht nur akademische, sondern auch breitere öffentliche Debatten seit den 1950er Jahren bis zur Gegenwart in einem Ausmaß geprägt, an das nur wenige Wissenschaftler und Intellektuelle heranreichen. Als Bundesverfassungsrichter, als welcher er eines der wichtigsten und mit dem größten Vertrauen bedachten öffentlichen Ämter bekleidete, hat Böckenförde das Verständnis von Recht und Politik in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit wesentlich mitgeprägt. In seine Amtszeit als Mitglied des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts (Dezember 1983 bis Mai 1996) fallen mehrere wegweisende Entscheidungen, wie die zur Stationierung von Atomraketen, zur Parteienfinanzierung, zur Abtreibungsregelung, und zum Prozess der europäischen Integration. Böckenförde ist einer breiteren Öffentlichkeit vor allem für eine pointierte Aussage bekannt geworden, die in einem Artikel aus dem Jahr 1967 über die Entwicklung des Staates als einem Vorgang der Säkularisierung zu finden ist: ‚Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.‘1 Böckenförde weist hier auf das Problem hin, dass der moderne Verfassungsstaat, als notwendig säkularer und damit religiös und weltanschaulich neutraler Staat, nicht mit seinen genuinen Mitteln des Rechtszwanges den Bürgern bestimmte Werte oder Weltbilder auferlegen kann, will er nicht jene Freiheitlichkeit untergraben, auf welcher er beruht. Bekannt als das sogenannte Böckenförde-Diktum oder das Böcken förde-Paradox, hat der Satz zahlreiche Diskussionen über die vorpolitischen Grundlagen des Staates geprägt.2 Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass neben Konstitutionalismus und Politischer Theorie das Prinzip der Religionsfreiheit und das Verhältnis zwischen Recht, Religion und Demokratie Schwerpunkte in Böckenfördes Werk bilden. Böckenfördes Einfluss nährt sich vor allem aus drei Besonderheiten. Als Absolvent sowohl eines Jura- als auch eines Geschichtsstudiums, mit Doktortiteln in beiden Fächern, schreibt Böckenförde sowohl als Rechtswissenschaftler als auch als Historiker und obgleich er den größten Teil seines Lebens als Professor des Rechts, nicht der Geschichte, verbracht hat, zeugen die meisten seiner Schriften von einem tiefen In Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, 1976, 42 (60). 2 Der Dialog zwischen Joseph Ratzinger und Jürgen Habermas nahm hier seinen Ausgangspunkt. Siehe Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger, Dialektik der Globalisierung, 2005. Zur Charakterisierung als Paradox, siehe Ralf Dahrendorf, Freiheit und soziale Bindung, in: Krystof Michalski (Hrsg.), Die liberale Gesellschaft, 1993, 11–20. Zu einer umfassenden Analyse des Böckenförde-Diktums und seiner breiten Rezeption, siehe Hermann-Josef Große Kracht, 50 Jahre Böckenförde-Theorem. Eine bundesrepublikanische Bekenntnisformel im Streit der Interpretationen, in: ders./Klaus Große Kracht (Hrsg.), Religion – Recht – Republik. Studien zu Ernst-Wolfgang Böckenförde, 2014, 155–183. 1
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teresse an und einer intensiven Beschäftigung mit der Historizität von Begriffen. Er nähert sich seinen Themen aus der Sicht eines Juristen, der an dogmatisch-systematischen Kriterien für die Auslegung der Grundrechte interessiert ist; und aus der Perspektive eines Historikers, dem an der historischen Einbettung und Genealogie von Konzepten gelegen ist. Die Kombination dieser beiden Ansätze macht ihn zu einem besonders vielschichtigen Gelehrten. Einer der wichtigsten Beiträge Böckenfördes zur Rechts- und Verfassungstheorie kann deshalb in der Auslegung der begrifflichen Grundlagen des Rechts und der Politik gesehen werden, was seine Arbeit auch für die Politische Theorie und Ideengeschichte fruchtbar macht. Zweitens verfasst Böckenförde seine wissenschaftlichen Beiträge aus einer Perspektive, die drei normative Orientierungen zu vereinen sucht: Er schreibt als politisch Liberaler, als Sozialdemokrat und als engagierter Katholik. Als Katholik befasst er sich mit Fragen des sozialen Zusammenhalts, der politischen Gemeinschaft und den ethischen Grundlagen des Staates. Böckenförde fragt, was den Demos zusammenhält und ob der Staat bestimmte Weltanschauungen fördern sollte (was er letztlich verneint). Als Sozialdemokrat vertritt Böckenförde eine spezifisch sozialdemokratische Form des Wohlfahrtsdenkens. Nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche und soziale Ungerechtigkeiten sind ihm ein besonderes Anliegen. Es sei eine Pflicht des demokratischen Staates, so Böckenförde, diese Ungerechtigkeiten anzugehen, da politische Stabilität langfristig nicht ohne soziale und wirtschaftliche Sicherheit erreicht werden könne. Darüber hinaus könnten viele Rechte nicht ohne die Sicherung gewisser sozioökonomischer Vorleistungen genossen werden. Letztlich läge es in der Verantwortung des liberal-demokratischen Staates, für diese Bedürfnisse Sorge zu tragen, sofern dies der Gesellschaft nicht gelänge. Schließlich ist er als politisch Liberaler entschieden für die Freiheiten und Rechte von Andersdenkenden eingetreten, und dafür, dass eine strafrechtliche Verfolgung nur auf Grundlage von Gesetzesverstößen, nicht aber auf Grundlage eines Mangels an vermeintlicher Gesinnungstreue (im Sinne eines erklärten Bekenntnisses zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung) stattfinden darf; eine Position, die der bestehenden rechtlichen und politischen Situation seit Beginn der Bundesrepublik lange zuwiderlief. Aufgrund dieser pluralen normativen Orientierung (Katholizismus, Sozialdemokratie und politischer Liberalismus) lässt sich Böckenförde nicht leicht in hergebrachte politische Lager einordnen. In mancher Hinsicht scheint er emanzipatorisch zu denken (zum Beispiel: die doppelte Staatsbürgerschaft birgt kein Problem der geteilten Loyalität), in anderer konservativ (zum Beispiel: Menschen bedürfen der Einbettung in Familien; das ungeborene Leben steht unter dem Schutz des Staates). Drittens verbindet Böckenförde ein intellektuelles mit einem praktischen Interesse. Schon vor seiner Berufung zum Richter am Bundesverfassungsgericht untersuchte er rechtliche Probleme mit Blick auf praktische Lösungen, die es vermögen, zwischen den Bedürfnissen und Interessen der Beteiligten zu vermitteln. Zu der begrifflich-historischen Behandlung von Problemen kommt daher die Perspektive des Rechtspraktikers hinzu, der gesellschaftliche Probleme oder Ungleichgewichte innerhalb des vorgegebenen rechtlichen Rahmens anzugehen sucht. Entsprechend diesem Interesse, sieht er im Ausgleich zwischen den Bedürfnissen und Interessen der verschiedenen Gruppen und sozialen Schichten eine der wichtigsten Funktionen des Staates.
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Böckenfördes bevorzugte Form wissenschaftlicher und öffentlicher Interventionen ist der Aufsatz von 6.000–12.000 Wörtern. Über mehr als fünf Jahrzehnte fachte er wiederholt wissenschaftliche und öffentliche Debatten mit Texten dieses Formats an. Die thematische Bandbreite reicht dabei von Arbeiten zur Rolle der katholischen Kirche im Jahr 1933, Überlegungen zum Verhältnis von Demokratie und Religion, zur Gewissensfreiheit auch im Zusammenhang mit theologischen Fragen, über Analysen zu Methoden der Verfassungsinterpretation und Theorien der Grundrechts interpretation bis hin zu eher ideengeschichtlichen Arbeiten wie der zum „Begriff des Politischen“ von Carl Schmitt, der Hobbesschen Transformation von Rechtsvorstellungen oder den sozialen Grundlagen des deutschen Konstitutionalismus. Im Laufe der Zeit hat Böckenförde diese Artikel in mehreren Ausgaben gebündelt und in der Reihe suhrkamp taschenbuch wissenschaft veröffentlicht.3 Einige der Essays gehen auf Reden zurück, die er aus Anlass von Preisverleihungen oder öffentlichen Veranstaltungen gehalten hat, und die im Anschluss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht wurden. In diesem Format haben die Aufsätze oftmals öffentliche Debatten ausgelöst. Durch seine Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und verschiedene damit verbundene Beratungsfunktionen wurden von Böckenförde auch innerparteiliche Debatten und Reformvorschläge initiiert oder zumindest von ihm beeinflusst. Böckenfördes Schriften haben eine breite Rezeption in der akademischen Welt erfahren. Abgesehen von drei Festschriften wurden bereits mehrere Sammelbände und Monographien über sein Werk veröffentlicht.4 Er hat zahlreiche Preise und Auszeichnungen sowie fünf Ehrendoktorwürden erhalten. Seine Schriften wurden ins Französische, Italienische, Japanische, Koreanische, Polnische, Portugiesische, Spanische und Schwedische übersetzt. Jedoch sind nur eine kleine Anzahl seiner Aufsätze in englischer Sprache erschienen, im Wesentlichen in einer Anfang der neunziger Jahre herausgegebenen kleinen Sammlung bei Berg Publishers, die inzwischen vergriffen ist.5 Bei Oxford University Press in der Reihe Constitutional Theory 3 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976; ders., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, 1991; ders., Staat, Nation, Europa, 1999; ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zu Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, 2000; ders., Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, 2011. 4 Festschriften: Rolf Grawert (Hrsg.), Offene Staatlichkeit: Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag, 1995; Rainer Wahl/Joachim Wieland (Hrsg.), Das Recht des Menschen in der Welt. Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstages von Ernst-Wolfgang Böckenförde, 2002; Christoph Enders/Johannes Masing (Hrsg.), Freiheit des Subjekts und Organisation von Herrschaft. Symposium zu Ehren von Ernst-Wolfgang Böckenförde anlässlich seines 75. Geburtstages, Der Staat, Beiheft 17, 2006. Sammelbände: Hermann-Josef Große Kracht/Klaus Große Kracht (Hrsg.), Religion – Recht – Republik. Studien zu Ernst-Wolfgang Böckenförde, 2014; Reinhard Mehring/Martin Otto (Hrsg.), Voraussetzungen und Garantien des Staates. Ernst-Wolfgang Böckenfördes Staatsverständnis, 2014. Monographien: Norbert Manterfeld, Die Grenzen der Verfassung: Möglichkeiten limitierender Verfassungstheorie des Grundgesetzes am Beispiel E.-W. Böckenfördes, 2000; Johanna Falk, Freiheit als politisches Ziel. Grundmodelle liberalen Denkens bei Kant, Hayek und Böckenförde, 2006. 5 Ernst-Wolfgang Böckenförde, State, Society, Liberty, 1991. Einzelne Artikel, die im Englischen veröffentlicht wurden: ders. German Catholicism in 1933, Cross Currents 11 (1961); und ders., The Concept of the Political: A Key to Understanding Carl Schmitt’s Constitutional Theory, Canadian Journal of Law and Jurisprudence, 1997, 1 (10). Böckenförde selbst gab einen Sammelband auf Englisch mit heraus: Ernst-Wolfgang Böckenförde/Edward Shils (Hrsg.), Jews and Christians in a Pluralistic World, 1991.
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wird nun eine in Absprache mit dem Autor vorgenommene Auswahl seiner wichtigsten Schriften, größtenteils zum ersten Mal ins Englische übersetzt, in eingeleiteter und annotierter Form in zwei Bänden herausgegeben.6 Damit soll die internationale Rezeption dieses herausragenden Rechtsgelehrten in einer wissenschaftlich auf bereiteten Weise verstärkt werden. Der erste Band führt unter dem Titel „Con stitutional and Political Theory“ seine wichtigsten verfassungsrechtlichen und politiktheoretischen Aufsätze zusammen, während der Schwerpunkt des zweiten Bandes unter dem Titel „Religion, Law and Democracy“ bei Fragen der Religion, Ethik und Moral liegt.7 Im Folgenden wird ein Überblick über Böckenfördes akademische Lauf bahn gegeben: die geistigen Einflüsse, die sein Denken geprägt haben, die Entscheidungen, zu welchen er als Bundesverfassungsrichter beigetragen hat, seine Mitbegründung der Zeitschrift Der Staat und sein Engagement als öffentlicher Intellektueller, als politisch Liberaler, als Sozialdemokrat und als Katholik. Damit soll sein Werk im historischen und politischen Kontext reflektiert werden können.
II. Rechtswissenschaftler, Verfassungsrichter und Intellektueller 1. Akademische Ausbildung und Laufbahn a) Studium und Qualifikationsschriften Böckenförde verfasste zwei Doktorarbeiten: eine in der Rechtswissenschaft mit dem Titel „Gesetz und gesetzgebende Gewalt: Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus“, die durch Hans Julius Wolff (Münster) 8 betreut und im Jahr 1956 vorgelegt wurde; sowie eine in Geschichte mit dem Titel „Die verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder“ unter der Betreuung durch Franz Schnabel (München),9 die im Jahr 1960 eingereicht wurde. In beiden Dissertationen wer6 Mirjam Künkler/Tine Stein (Hrsg.), Volume I: Ernst Wolfgang Böckenförde: Constitutional and Political Theory. Selected Writings, 2016; dies., Volume II: Ernst Wolfgang Böckenförde: Religion, Law and Democracy, im Erscheinen. 7 Beide Bände enthalten auch in Übersetzung Auszüge aus dem biographischen Interviews, das Dieter Gosewinkel mit Ernst-Wolfgang Böckenförde 2009/2010 geführt hat: Dieter Gosewinkel/ Ernst-Wolfgang Böckenförde. Biographisches Interview, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, 2011, 307–486. 8 Hans Julius Wolff (1898–1976) war Professor für Öffentliches Recht in Frankfurt am Main (als Nachfolger von Hermann Heller), wurde aber unter der nationalsozialistischen Herrschaft entlassen. Er ging darauf hin nach Riga und unterrichtete später in Prag. Nach dem Krieg erhielt er eine Professur in Münster, wo er unter anderem eine noch heute als Standardwerk geltende Abhandlung über das deutsche Verwaltungsrecht in drei Bänden verfasste. Wolff war auch einer der Verfasser des Regelwerks für die Verwaltungsgerichte in der britischen Zone nach dem Zweiten Weltkrieg, die so genannte Militärverordnung 165. Als Wolffs wissenschaftlicher Mitarbeiter half Böckenförde, Band 1 von Wolffs Hauptwerk zu verfassen, vor allem § 2 –31, welche die historischen Aspekte und die Quellen des Verwaltungsrechts abdecken. 9 Franz Schnabel (1887–1966) war Historiker, vor allem bekannt für sein (unvollendetes) vierbändiges Werk über die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts, in welchem er politische mit Sozial-,
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den Rechtsvorstellungen historisiert und eine historisch-kritische Hermeneutik angewendet, um Erkenntnisse aus Bedeutungsveränderungen von Begriffen als Folge von wechselnden Machtkonstellationen zu gewinnen. Die begriffsgeschichtlich orientierte Vorgehensweise behielt Böckenförde auch in seinen späteren Arbeiten bei. Thematisch untersuchte er in seiner juristischen Dissertation „Gesetz und gesetzgebende Gewalt“ das öffentliche Verständnis von Recht, indem er die Ursprünge der Unterscheidung zwischen formellen und materiellen Vorstellungen von Recht vom 19. Jahrhundert bis in die Weimarer Republik nachverfolgte. Mit seinem begriffs historischen Ansatz legte er hier die veränderte Bedeutung von Begriffen vor dem Hintergrund wechselnder politischer Konstellationen offen – in diesem Fall die Beziehung zwischen Monarchie und Volkssouveränität, die durch das Prisma des Gesetzesvorbehalts betrachtet wurde, also der Idee, dass die Exekutive die Grundrechte auf Kosten der Bürger nicht einschränken darf, es sei denn, die Legislative erlaubt solchen Eingriff per Gesetz. Das Thema der geschichtswissenschaftlichen Dissertation, eine Betrachtung der deutschen verfassungsgeschichtlichen Forschung im 19. Jahrhundert, wurde auf Empfehlung seines Doktorvaters gewählt, weil sich Böckenfördes erste Idee, über den bayerischen Staatsrat zu arbeiten, als schwer durchführbar erwies. Hier unter suchte er die wichtigsten Konfliktlinien und Modelle des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert, um nachzuzeichnen, wie sich der Begriff der Verfassung von einem bloßen juristischen Vertrag zu einem politischen Ordnungsbegriff entwickelte, als rechtliche Form für eine politische Gemeinschaft mit der diese sich selbst rechtlich bindet. Mit ihrer historisierenden und begrifflich orientierten Herangehensweise wurden beide Dissertationen mit Interesse unter den deutschen Rechtswissenschaftlern zur Kenntnis genommen, für die dieser Ansatz zu der Zeit eher ungewöhnlich war. Die meisten rechtswissenschaftlichen Arbeiten konzentrierten sich zu diesem Zeitpunkt darauf, Normen als positives Recht zu interpretieren. Beide Dissertationen wurden von Duncker und Humblot (dem Verleger Carl Schmitts und Rudolf Smends Jahrzehnte zuvor) veröffentlicht und begründeten darüber hinaus jeweils eine neue Schriftenreihe. Mit anderen Worten, beide Arbeiten gaben Anlass zu der Erwartung, dass sie einen Beitrag zur Erschließung neuer Forschungsgebiete liefern würden.10 Wirtschafts-, Kultur- und Technikgeschichte zu verbinden suchte. In der von preußischen Perspektiven dominierten zeitgenössischen Geschichtsschreibung vertrat er die liberaleren Perspektiven aus dem Südwesten Deutschlands. Er war auch einer der wenigen Historiker in der Weimarer Republik, der die parlamentarische Demokratie in seinen Schriften verteidigte. Teilweise diesem Grund geschuldet, verlor er seine Professur in Karlsruhe unter den Nazis. Nach dem Krieg wurde er 1947 zum Professor für Geschichte an der Universität München ernannt. Schnabel erhielt mehrere Ehrendoktorate und war Ehrenmitglied der British Historical Association und der American Historical Association. Auch im Nachkriegsdeutschland war er als Liberaler ein Außenseiter in seiner Zunft. Er erkannte den positiven Einfluss der Französischen Revolution auf die politische Kultur Deutschlands an, er interpretierte Lorenz von Stein als liberalen Denker (wie es Böckenförde später auch tat), und er priorisierte europäische über deutsche beziehungsweise nationale Perspektiven. Neben seiner universitären Lauf bahn war er, ermutigt durch seine Erfahrung als Gymnasiallehrer als welcher er seine Karriere begann, auch Schulbuchautor. 10 Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus, 1958 (= Schriften zum Öffentlichen Recht 1, [ jur Diss.], 2. Aufl. 1983); Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene
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Von München nach Münster zurückgekehrt, schloss Böckenförde seine Habilitation in Rechtswissenschaft im Jahr 1964 ab, wieder mit Wolff als Betreuer, diesmal zum Thema „Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung. Eine Untersuchung zum Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland“.11 Im selben Jahr wurde er zum Professor für Öffentliches Recht in Heidelberg berufen,12 wo er fünf Jahre lang lehrte, bis er zur neugegründeten Universität Bielefeld wechselte und dann später in Freiburg (1977–1995) bis zu seiner Emeritierung blieb. Die Denominationen, die sich mit diesen Berufungen verbanden, waren neben dem Öffentlichen Recht auch Verfassungsgeschichte, Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie. Das Werk Franz Schnabels, Böckenfördes Doktorvater in der Geschichtswissenschaft, wurde ein wiederkehrender Referenzpunkt auch in Böckenfördes späterer Arbeit, vor allem in seinen Analysen der Beziehung zwischen Monarchie und Volkssouveränität und der Entstehung des modernen Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert. Böckenförde selbst sah es so, dass er von Schnabel lernte, in großen Strukturen zu denken, anstatt sich in empirischen Details zu verlieren, und er versuchte später, Studenten das gleiche zu vermitteln.13 Eine kritische Disposition zu entwickeln, so Böckenförde, sei sonst nicht möglich. Von Hans Julius Wolff lernte er, dass allein das Argument zählt und in einer wissenschaftlichen Diskussion der Statusunterschied zwischen Professor und Student keine Rolle spielen dürfte. Darüber hinaus ließ er sich von Wolff in der Organisation des Lehrstoffs inspirieren: Wolff verband die Lehre des öffentlichen Rechts mit der der Rechtsphilosophie, indem er in seiner Einführungsvorlesung abwechselnd auf beide Gebiete einging. Böckenförde nahm später dasselbe Format einer integrierten Vorlesung beider Fächer auf. Die Einflüsse dieses Ansatzes wirken in Böckenfördes Schriften nach, mit der darin erkennbaren starken Neigung zur Rechtsphilosophie.
b) Wissenschaftliche Netzwerke Während seiner Arbeit an der juristischen Dissertationsschrift in Münster wurde Böckenförde Teil des Collegium Philosophicum, ein von dem Philosophen Joachim Ritter einberufener Diskussionskreis.14 Hier erhielt Böckenförde einen großen Teil Fragestellungen und Leitbilder 1961 (= Schriften zur Verfassungsgeschichte 1 [phil. Diss.], 2. Aufl. 1983, Nd. 1995). 11 Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung. Eine Untersuchung zum Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1964 (= Schriften zum Öffentlichen Recht 18 [iur. Habilitationsschrift], 2. Aufl. 1998). 12 Siehe zum Berufungsverfahren Michael Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland Vierter Band 1945–1990, 2012, 435, der betont, dass Böckenförde zu diesem Zeitpunkt seiner Karriere in der rechtswissenschaftlichen Öffentlichkeit als einer der Gründer der Zeitschrift ‚Der Staat‘ (siehe dazu II.3) bereits bekannt war. Siehe auch Reinhard Mehring, „Von der diktatorischen ‚Maßnahme‘ zur liberalen Freiheit. Ernst-Wolfgang Böckenfördes dogmatischer Durchbruch in Heidelberg“, JZ 2015, 860–865. 13 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Erinnerungen an Franz Schnabel, in: Franz Schnabel zu Leben und Werk, 1887–1966, Vorträge zur Feier seines 100. Geburtstages, hrsg. v. Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1988, 15–24. 14 Zum Ritter-Collegium siehe Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberal-konservative Begründung der Bundesrepublik, 2. Aufl. 2008. Hacke sieht in dem Collegium eine liberal-konserva-
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seiner philosophischen Bildung und traf auf Kollegen, die ihn intellektuell sein Leben lang begleiten sollten. Böckenfördes Interesse an und seine kritische Auseinandersetzung mit Hegel, insbesondere dessen Auffassung eines ethischen Staates, kann zum Teil zu diesem Kreis zurückverfolgt werden, insofern Böckenförde hier zum ersten Mal an intensiven Diskussionen über das Hegelsche Thema der Entzweiung teilnahm.15 Ebenfalls lernte er hier Robert Spaemann kennen, der ein geschätzter Gesprächspartner und ein gelegentlicher Ko-Autor werden sollte. Die Sitzungen des Collegiums begannen jeweils mit der Präsentation eines Teilnehmers (bspw. über ein kürzlich veröffentlichtes Buch), der sich eine intensive Diskussion anschloss, die von Ritter moderiert wurde. Das Collegium legte den Grundstein für eines der großen Projekte der Geisteswissenschaften im Deutschland der Nachkriegszeit: das Historische Wörterbuch der Philosophie, zu dem Böckenförde drei Einträge beitrug.16 Ein anderes Kolloquium, welches ebenfalls großen Einfluss auf Böckenfördes Entwicklung als Rechtswissenschaftler ausübte, war das Ferienseminar im oberfränkischen Dorf Ebrach, das Ernst Forsthoff jedes Jahr organisierte.17 Nur eine ausgewählte Zahl an Teilnehmenden wurde eingeladen; Böckenförde und Carl Schmitt gehörten regelmäßig dazu. Einige der Ebracher Vorträge wurden später in einer Festschrift für Forsthoff veröffentlicht, darunter Böckenfördes wegweisender Aufsatz über „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, der das berühmt gewordene Diktum enthält, sowie Schmitts „Die Tyrannei der Werte“.18 Im Laufe seiner Karriere hat ein weiterer Kollege Böckenfördes Denken mitgeprägt: Reinhart Koselleck. Während ihrer Zeit an der Universität Heidelberg unterrichteten Böckenförde und Koselleck gemeinsam ein Seminar über das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR). Darüber hinaus waren beide Mitglieder des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte von Werner Conze, der Sozialgeschichte als eine Alternative zur damals dominierenden geschichtswissenschaftlichen Richtung der Politikgeschichte verstand, mit ihrem Fokus auf Außenpolitik und auf „große“ Einzelpersonen der gesellschaftlichen und politischen Elite, und der tive Begründung der Bundesrepublik, in „produktiver“ Auseinandersetzung mit den „konservativen Revolutionären“ Schmitt, Gehlen, Freyer und in dezidierter Abgrenzung von der Frankfurter Schule. 15 Zum Einfluss des Collegium und Hegels auf Böckenfördes späteres Werk, siehe Aline-Florence Manent, The Intellectual Origins of the German Model: Rethinking Democracy in the Bonn Republic. Ph.D. Dissertation, Department of History, Harvard University, Mai 2016, hier besonders Kapitel 5. 16 Normativismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 6, 1984, Sp. 931 f.; Ordnungsdenken, konkretes, in: ebd., Sp. 1311–13; Rechtsstaat, in: ebd. Bd. 8, 1993, Sp. 332–342. 17 Ernst Forsthoff (1902–1974) begrüßte bekanntlich wie die meisten deutschen Rechtswissenschaftler die Machtkonzentration unter dem Nationalsozialismus und arbeitete zunächst an einer ideologischen Rechtfertigung des totalitären Staates, wandte sich dann aber vom nationalsozialistischen Regime ab. Anders als Carl Schmitt wurde ihm die Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit in der Bundesrepublik erlaubt und er kehrte 1952 zu seinem Lehrstuhl an der Universität Heidelberg zurück. Forsthoff war federführender Autor der Verfassung Zyperns und stand dem Obersten Verfassungsgericht Zyperns von 1960 bis 1963 als Präsident vor. Zu Forsthoff siehe Florian Meinel, Der Jurist in der in dustriellen Gesellschaft. Ernst Forsthoff und seine Zeit, 2011. Zu der Beziehung zwischen Forsthoff und Schmitt, vergleiche den Briefwechsel Ernst Forsthoff – Carl Schmitt. Briefwechsel 1926–1974, hrsg. v. Dorothee Mußgnug/Reinhard Mußgnug/Angela Reinthal, 2007. 18 FG Säkularisation und Utopie. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, 1967. Siehe Florian Meinel, Die Heidelberger Secession. Ernst Forsthoff und die Ebracher Seminare, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, H. 2, 2011, 89–108.
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sich in diesem Zuge auch der Institutionengeschichte zuwandte.19 Sowohl Böckenförde als auch Koselleck wechselten später nach Bielefeld, wo Koselleck sein Forschungsprogramm der Begriffsgeschichte weiterverfolgte, kulminierend im (als Projekt des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte herausgegebenen) Lexikon der „Geschichtlichen Grundbegriffe“, zu dem auch Böckenförde einen Artikel beitrug.20 Dass Böckenförde das Interesse an Begriffsgeschichte teilte, ist nicht weiter verwunderlich angesichts der Tatsache, dass seine erste Dissertationsschrift über ‚Gesetz und gesetzgebende Gewalt‘ bereits eine ähnliche methodische Vorgehensweise zum Ausgangspunkt hatte: Wie entstehen und entwickeln sich Begriffe und wie etabliert sich eine inhaltliche Neubesetzung, die fortan nicht mehr in Frage gestellt wird? Als Böckenförde nach Bielefeld zog, hatte der Soziologe Helmut Schelsky in Anlehnung an die in den USA geprägten Tradition der Institutes for Advanced Study gerade das erste Institut für höhere Studien in Deutschland, das Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF), eröffnet und zum Grundsatz erhoben, dass die Professoren jedes zweite Jahr von der Lehre freigestellt werden würden, um in dieser Zeit interdisziplinär angelegte Forschung am ZiF zu betreiben.21 Böckenförde rekurrierte später auf das Institut als einen wissenschaftlichen Klub, der die Grenzen der Fakultät überwand – eine Idee, die er sehr schätzte und in gewisser Hinsicht von Bielefeld nach Freiburg mitnahm: dort organisierte Böckenförde einen Diskussionszirkel und dieser wissenschaftliche Club brachte regelmäßig Professoren wie den Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis, den Theologen und späteren Kardinal Lehmann, den Juristen Rainer Wahl, den Germanisten Gerhard Kaiser und andere zu lebhaften Debatten zusammen.22 In Freiburg führte Böckenförde außerdem die Lehrstuhlrunde ein, zu der alle Mitarbeiter und Studenten des Lehrstuhls eingeladen waren, von Forschungsassistenten über Promovierende zu Habilitanden. Wie beim Ritter-Collegium standen im Mittelpunkt der Diskussionen ein kürzlich veröffentlichter Artikel, ein Buch, oder in diesem Fall auch Gerichtsentscheidungen. Dieter Gosewinkel kennzeichnete dieses Böckenförde-Kolloquium in ähnlicher Weise wie Böckenförde einst die Veranstaltung seines Lehrers Julius Wolff charakterisiert hatte: Nur die Stärke der Argumente zählte.23 Als Professor entwickelte sich Böckenförde zu einem einflussreichen Lehrer und Mentor: Acht Wissenschaftler, eine vergleichsweise hohe Zahl, verfassten unter sei In methodologischer Hinsicht lenkte Conzes Ansatz den Blick mehr auf Strukturen innerhalb aller Arten sozialer Institutionen als auf die Handlungen Einzelner. In dieser Beziehung unterschied sich der Conze’sche Ansatz der Sozialgeschichte fundamental vom späteren engagiert-auf klärerischen Impetus der Sozialgeschichte, wie sie etwa von Hans-Ulrich Wehler in Bielefeld propagiert wurde. Vergleiche hierzu auch Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, 2001. 20 Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, 1978, 561–622. 21 Diese Regelung hielt allerdings nicht lange Stand, und Schelsky, frustriert von den Widerständen gegen seine vielfältigen Reformbemühungen, die er zudem als politisch motiviert empfand, kehrte 1973 nach Münster zurück. 22 Wir danken Rainer Wahl und Reinhard Mehring für diesen Hinweis. 23 Vgl. Biographisches Interview, Fn. 7, 308. 19
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ner Begleitung ihre Habilitation: Christoph Enders, Rolf Grawert, Albert Janssen, Johannes Masing, Adalbert Podlech, Bernhard Schlink, Rainer Wahl, und Joachim Wieland. Die Habilitanden wurden selbst erfolgreiche Professoren oder dienten später an Gerichten auf Landes- oder Bundesebene: Johannes Masing als Richter am Bundesverfassungsgericht; Joachim Wieland und Bernhard Schlink am Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen; Christoph Enders am sächsischen Oberverwaltungsgericht und Adalbert Podlech am hessischen Landessozialgericht. Auch die wissenschaftlichen Mitarbeiter während Böckenfördes Karlsruher Zeit am Bundesverfassungsgericht besetzten im weiteren Verlauf ihrer Karriere Richterämter an obersten Gerichten: Dies sind unter anderem die bereits genannten Johannes Masing und Joachim Wieland; weiterhin Ute Sacksofsky, die auch bei Böckenförde promovierte, und Vizepräsidentin des Landesverfassungsgerichts Hessen wurde; Klaus Rennert, der ebenfalls bei Böckenförde promovierte, wurde Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, wo noch ein weiterer wissenschaftlicher Mitarbeiter Böckenfördes, Martin Brandt, ein Richteramt annahm; Thomas Clemens wurde Richter am Bundessozialgericht und Rainer Eckertz, ebenfalls ein Doktorand Böckenfördes, Richter am Landessozialgericht in Sachsen-Anhalt; Bettina Limperg wurde Präsidentin des Bundesgerichtshofs.
2. Hermann Heller und Carl Schmitt Auch wenn sie nicht seine akademischen Lehrer im engeren Sinne waren, so sind doch zwei juristische und politische Denker besonders einflussreich für die Entwicklung von Böckenfördes Denken und Arbeiten gewesen. Ihre ideologische Ausrichtung hätte unterschiedlicher nicht sein können: Hermann Heller,24 der bereits 1933 im jungen Alter von 42 Jahren verstarb, und Carl Schmitt,25 zu dem Böckenförde seit 24 Hermann Heller (1891–1933), Jurist und Philosoph sozialdemokratischer Prägung, verteidigte die Weimarer Republik gegen das Abgleiten in die Diktatur. Als Sozialdemokrat forderte er die Integration der Arbeiterklasse in die sozialen, kulturellen und politischen Strukturen des Nationalstaats und verteidigte die Institutionen der parlamentarischen Demokratie. Die Auseinandersetzungen zwischen ihm, Hans Kelsen, Carl Schmitt und Rudolf Smend hat die deutsche Staatsrechtslehre des 20. Jahrhunderts wie kaum eine andere geprägt. Aufgrund seiner jüdischen Abstammung wurde Heller 1933 zur Niederlegung seiner Professur gezwungen. Er ging ins spanische Exil, wo er im selben Jahr verstarb und sein opus magnum, die „Staatslehre“, unvollendet hinterließ. (Die „Staatslehre“ wurde 1934 posthum von Gerhard Niemeyer herausgegeben.) 25 Kein deutscher Rechtsgelehrter ist kontroverser als Carl Schmitt (1888–1985). Als brillanter juristischer wie auch politischer Denker mit einem ausgeprägten Sinn zur Macht spielte Schmitt eine wichtige Rolle bei der Schaffung der juristischen Voraussetzungen für den Untergang der Weimarer Republik und den Aufstieg des NS-Regimes, was ihm die unrühmliche Bezeichnung als „Kronjurist des Dritten Reichs“ einbrachte. Er war ebenfalls ein glühender Antisemit, der persönlich für die Entlassung jüdischer Kollegen und das Verbot ihrer Publikationen sorgte. Nach 1945 zeigte er keine Reue – weder in Bezug auf seinen Antisemitismus noch die Rechtfertigung der menschenverachtenden nationalsozialistischen Gewaltpolitik durch seine juristischen Schriften und Gesetzesentwürfe, die er im Auftrag der Nazis verfasste. Mehr noch, er sah sich aufgrund des Entzugs seiner Lehrberechtigung nach dem Zweiten Weltkrieg und dem damit zusammenhängenden Ende seiner Karriere als Hochschullehrer als Opfer. Den einzigen Sachverhalt, den er später in Frage stellte, war sein Glaube, die Machtkonzentration in der Exekutive sei per se ein erstrebenswertes Ziel. Vergleiche für die gegenwärtig umfas-
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Mitte der 1950er bis zu dessen Tod im Jahr 1985 eine enge persönliche Beziehung entwickelte.26
a) Handlungseinheit, Differenzierung von Staat und Gesellschaft Von Hellers Staatslehre eignete sich Böckenförde die Idee des Staates als einheitlichen Rahmen an, welchen er als Handlungseinheit benennt und der sich bei Heller als Wirkungs- und Entscheidungseinheit findet.27 Was Böckenförde mit Handlungseinheit anzuzeigen sucht, ist die Idee vom Staat als Produkt menschlichen Handelns, der Einheit in und durch Handlung schafft.28 Während Georg Jellinek in seiner „drei Elemente-Lehre“ postuliert hatte, der Staat setze sich aus Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt zusammen, argumentierte Heller (wie auch später Böckenförde), der Staat sei mehr als seine konstituierenden Teile. In erster Linie sehen sowohl Heller als auch Böckenförde den Staat soziologisch als durch menschliche Handlungen begründet an. Indem er für und im Namen seiner Bürger handelt, schafft der Staat Einheit. Der Staat, den Böckenförde im Sinn hat, ist ein demokratischer Staat, der sich auf Grundlage der Volkssouveränität konstituiert. Böckenförde legt so dar, dass der Staat „nicht ein für allemal als festes, von den einzelnen und ihrer Einordnungsund Leistungsbereitschaft unabhängiges Gebilde vorhanden ist. Er bedarf als Handlungs- und Wirkungseinheit einer fortdauernden Bestätigung und Reproduktion im und durch das Handeln der ihn bildenden Menschen.“29 Diese Reproduktion kann wiederum nur erreicht werden, wenn „eine gliedernde und irgendwie strukturierte Ordnung überhaupt schon vorhanden ist“ und wenn das System in den Augen der Bürger als legitim erachtet wird.30 Mit anderen Worten ist die Wirksamkeit der staatlichen Rechtsbestimmungen von der Bereitschaft der Einzelnen abhängig, sich dem Recht zu unterwerfen und ihm zu folgen. Diese Bereitschaft erwächst wiederum aus der Legitimität des Staates, die sich letztlich auf die Souveränität des Volkes stützen muss. sendste Biographie über Carl Schmitt, die über dies eine theoretische Einordnung des Schmitt’schen Denkens enthält, Reinhard Mehring, Carl Schmitt, Aufstieg und Fall, 2009. 26 Heller und Schmitt waren Antipoden in Theorie und Praxis. Im berühmten Rechtsstreit „Preußen contra Reich“, ein Fall, der als Schwelle des rechtlichen wie politischen Niedergangs der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik betrachtet werden kann, vertrat Heller Preußen, Schmitt das Deutsche Reich. 27 Obwohl der Begriff Handlungseinheit oft Hellers Staatslehre zugeschrieben wird, verwendet er ihn tatsächlich weder in dieser Arbeit, noch in „Politische Demokratie und Soziale Homogenität“. Stattdessen wurde in späteren Rezeptionen aus Hellers Wirkungs- und Entscheidungseinheit die Handlungseinheit. So auch bei Böckenförde. 28 Hermann Heller, Staatslehre, 237 (3. Ausgabe, 1963). Böckenförde verweist hierauf explizit in ders. Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973, 24 f.; und in ‚Demokratische Willensbildung und Repräsentation‘ (überarbeitete Ausgabe) in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III: Demokratie – Bundesorgane, 3. Aufl. 2005, 31–53. 29 Siehe Ernst-Wolfgang Böckenförde, Begriff und Probleme des Verfassungsstaates, in ders., Staat, Nation, Europa, 1999, 139, in welchem Böckenförde explizit auf Hermann Heller, Staatslehre, 3. Aufl. 1971, 190 ff., 253 ff. verweist. 30 Ebd.
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Böckenförde stützt sich zudem auf Heller in seiner Auffassung darüber, welche Beziehungen von Staat und Gesellschaft eine Voraussetzung für die liberale Staatsordnung sind. Mit der Forderung nach einer Demokratisierung aller Lebensbereiche, die in den späten 1960er und 1970er Jahren auf kam,31 ging die Ablehnung einer Unterscheidung von Staat und Gesellschaft einher. Dagegen argumentierend bestand Böckenförde mit Verweis auf Heller darauf, dass Staat und Gesellschaft konzeptionell differenziert werden müssten, wollte man dem Totalitarismus seine Grundlage entziehen. Zugleich ist es aus Böckenfördes Sicht nicht hilfreich, sie als unabhängig voneinander zu betrachten.32 Denn in einer liberalen Ordnung bauen beide aufeinander auf: Die Rechtsordnung und der Staat können nicht überdauern, werden sie nicht von der Gesellschaft unterstützt und getragen, und eine Gesellschaft wiederum kann nur dann liberal sein, wenn Rechte und Freiheiten durch staatliche Institutionen gewährleistet und verteidigt werden. Was heute als weithin anerkannte Differenzierung in den Sozial- und Rechtswissenschaften gilt, war in der Bundesrepublik Deutschland bis in die späten 1970er Jahre keineswegs akademischer Konsens. Smends Integrationslehre folgend argumentierten in der Bundesrepublik bspw. Horst Ehmke und Konrad Hesse dagegen, Staat und Gesellschaft als separate oder differenzierte Einheiten zu verstehen.33
b) Homogenität Wie Heller sieht Böckenförde den politischen Zusammenhalt von Staat und Gesellschaft nicht als naturgegeben an: Vielmehr muss dieser zustande gebracht werden. Hier kommt das Konzept der Homogenität der Gesellschaft ins Spiel. Wie die Konzepte des Staates, der Verfassung, des Rechts und des Politischen, die Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen unter führenden Juristen der Weimarer Republik waren, stellte auch die gesellschaftliche Homogenität und ihre Funktion in gesellschaftlich-staatlichen Beziehungen einen Schlüsselbegriff dar, über welchen die intellektuellen Wortführer ihre unterschiedlichen Standpunkte definierten.34 Denn 31 Die vor allem in den siebziger Jahren in der Nachfolge der Studentenrevolution erhobene Forderung einer umfassenden Demokratisierung richtete sich nicht nur an die staatlichen Institutionen, sondern auch gesellschaftliche Einrichtungen wie Universitäten und Schulen, sowie auch private Unternehmen. 32 Siehe hierzu Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart [1972], in: ders. Recht, Staat, Freiheit, 1991, 209 f.; und Böckenförde (Fn. 28). 33 Böckenförde wurde erstmals 1975 für eine Berufung zum Bundesverfassungsrichter in Betracht gezogen, jedoch als Ergebnis der Untersuchungskommission für eine Verfassungsreform (deren Mitglied er war) wurden sogenannte neutrale Positionen im Bundesverfassungsgericht eingeführt, die durch Kandidaten, die nicht Mitglied einer politischen Partei waren, gefüllt werden sollten. Da Böckenförde bekanntermaßen ein langjähriges Mitglied der SPD war, kam er damals nicht in Frage. Ein neutraler Kandidat wurde in Person von Konrad Hesse, Böckenfördes Freiburger Kollegen, gefunden. Für das Berufungsverfahren von Böckenförde, siehe Stolleis (Fn. 12) und das Biographische Interview, (Fn. 7 ), 409 ff. 34 Zum Weimarer Methodenstreit, in dem Hans Kelsen, Herman Heller, Rudolf Smend und Carl Schmitt die gegensätzlichen Positionen markierten, vgl. Arthur Jacobson/Bernhard Schlink (Hrsg.), Weimar. A Jurisprudence of Crisis, 2000; und Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche
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was genau mit Homogenität gemeint war, unterschied sich insbesondere zwischen Heller und Schmitt. Schmitts Rede von einer substantiellen Gleichheit zielte auf eine vermeintlich naturgegebene Beziehung zwischen den Bürgern ab, die dem Staat vor ausgeht und ihn in vielerlei Hinsicht erst ermöglicht.35 Dagegen sprach Herman Heller in seiner Schrift „Politische Demokratie und soziale Homogenität“ von sozialer Homogenität als einer notwendigen Grundlage des Staates, die die die Voraussetzung zu einem geteilten Bewusstsein der Bürgerschaft ist, einem Gefühl der Zusammengehörigkeit, welches sich in Abhängigkeit davon entwickelt, wie es jeweils von den Bürgern konkret verstanden und gefüllt wird. Böckenförde schließlich spricht von relativer Homogenität, die wie bei Heller konstruiert und wandelbar ist. Er bezeichnet Homogenität als „soziopsychologischen Zustand, in welchem die vorhandenen politischen, ökonomischen, sozialen, auch kulturellen Gegensätzlichkeiten und Interessen durch ein gemeinsames Wir-Bewußtsein, einen sich aktualisierenden Gemeinschaftswillen gebunden erscheinen.“36 Homogenität beruht auf sozioökonomischen als auch politischen Voraussetzungen: Sozioökonomisch dürfen die Unterschiede zwischen arm und reich nicht zu groß sein; in politischer Hinsicht muss ein gewisses geteiltes Verständnis und eine Wertschätzung demokratischer Prozesse und des Gemeinwohls vorhanden sein.37 Homogenität muss für Böckenförde zuallererst von der Gesellschaft selbst hergestellt werden. Der Staat kann dabei eine unterstützende, aber niemals eine führende Rolle spielen. Die treibenden Kräfte müssen aus der Gesellschaft kommen, welche nach Böckenförde nicht nur die Summe der Einzelpersonen, sondern in einem breiteren Verständnis private, religiöse, politische, bürgerliche, kulturelle und ökonomische Institutionen umfasst. Heller wie auch Böckenförde ist daran gelegen, das Konzept der Homogenität gegen jedweden totalitären Zugriff zu schützen: Es soll die Zugehörigkeit zu einer pluralistischen Gemeinschaft kennzeichnen, dem Demos, welcher durch Solidarität und Reziprozität zusammengehalten wird.38 Im Unterschied zu Schmitt beinhaltet Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, 2004, 112 ff. Günther konstatiert, dass die Auseinandersetzung zwischen Smend und der Schmitt-Schule im Zuge des von ihm als Verwestlichung bezeichneten Prozesses ab den 1960er Jahren in zunehmenden Maße irrelevant geworden ist (ebd., 321). 35 Hinsichtlich eines noch eher offenen Homogenitätsverständnisses bei Schmitt, siehe Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des Parlamentarismus, 2010 (Nachdr. der 2. Aufl. v. 1926), 14f und ders., Verfassungslehre, 1993 (8. Aufl.), 227 ff.; hinsichtlich eines völkisch-rassistischen Verständnisses ders. Die Verfassung der Freiheit, in: Die Deutsche Juristenzeitung 1935, 40. Eine detaillierte Diskussion findet sich bei Gertrude Lübbe-Wolff, Homogenes Volk – Über Homogenitätspostulate und Integration, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 4/2007, 121–168. 36 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Band I: Grundlagen von Staat und Verfassung, 1987, 887–952. Auch in 3., völlig neubearb. und erw. Aufl., 2004, 429–496, hier 473. In der ersten Auflage gab eine Wortwahl Anlass zu einer problematischen Assoziation an ein völkisch-nationales Verständnis, nämlich die der „Gleichartigkeit“ der Mitglieder des Volkes, die durch eine vorrechtliche Übereinstimmung in Grundsatzfragen sich einig wissen sollten. In der zweiten Auflage des Handbuchs ist diese Begrifflichkeit durch „Gemeinsamkeit“ ersetzt worden, siehe die dazu explizite Anmerkung 106 in „Demokratie als Verfassungsprinzip“. 37 Böckenförde (Fn. 36), 2004, 473. 38 Vergleiche Michael Henkel, Hermann Hellers Theorie der Politik und des Staates: Die Geburt der Politikwissenschaft aus dem Geiste der Soziologie, 2011. Henkel vergleicht ausführlich Schmitts und Hellers Auffassung von Homogenität, ebd., 315 ff.
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die Homogenität einer Nation im Böckenförde’schen Sinn keine gegebene substantielle Gleichheit, die auf einer physischen Qualität basiert. Stattdessen muss sie aus der gesellschaftlichen Pluralität heraus entstehen. Sie darf niemals benutzt werden, um eine Weltanschauung zu oktroyieren oder gesellschaftliche Uniformität und wirtschaftliche Gleichheit zu erzwingen. Sowohl Hellers als auch Böckenfördes Schriften machen deutlich, dass die Homogenität der Bürger als Gefühl der Zusammengehörigkeit wichtig ist, um die Funktionen des liberalen Staates zu gewährleisten; etwa um die Bürger dazu zu bringen, freiwillig das Recht zu befolgen, ihre Steuern zu bezahlen und ihre weiteren Bürgerpflichten zu erfüllen. Homogenität ist zudem bei Böckenförde kein Gegenkonzept zu der unvermeidlichen und für ihn auch wünschenswerten Pluralität der Gesellschaft hinsichtlich Interessen, Glauben und Werten. Es wäre insofern irreführend, Homogenität als Gegenteil von Heterogenität zu verstehen. Dass die Gesellschaft innerhalb einer freiheitlichen Ordnung heterogen ist und notwendigerweise sein muss, ist sowohl für Heller wie auch für Böckenförde ein Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Aber angesichts der realen Heterogenität von Interessen, Werten, Glaubens- und Weltanschauungen in modernen Gesellschaften bedarf es gewisser Institutionen, die die Solidarität und Reziprozität innerhalb ihrer Mitglieder fördern. Die Schaffung von Homogenität, die wie bereits betont für Böckenförde zuallererst Aufgabe der Gesellschaft und nicht des Staates sein muss, darf allerdings niemals der Bewahrung der Freiheit übergeordnet werden.39 Dies gilt es mit Schmitts Auffassung substanzieller Homogenität zu vergleichen: „Die politische Demokratie kann daher nicht auf der Unterschiedslosigkeit aller Menschen beruhen, sondern nur auf der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk, wobei diese Zugehörigkeit zu einem Volk durch sehr verschiedene Momente (Vorstellungen gemeinsamer Rasse, Glauben, gemeinsames Schicksal und Tradition) bestimmt sein kann.“40 Anders als Heller und Böckenförde betrachtete Schmitt Homogenität als das zentrale Charakteristikum einer Demokratie: „Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.“41 Für Böckenförde zählt es demgegenüber zu den großen Errungenschaften des modernen Staates, mit Vielfalt umgehen und sie handhaben zu kön39 Vergleiche Hermann Heller, Wesen und Auf bau des Staates, in: ders., Staatslehre, 1983, 225–315. Bei Böckenförde wird dieser Gedanke besonders deutlich in seinem Aufsatz: Freiheitssicherung gegenüber gesellschaftlicher Macht, in: Posser/Wassermann (Hrsg.), Freiheit in der sozialen Demokratie, 1975, 69–76. In den vergangenen Jahren hat Böckenförde seine Überlegungen mit Blick auf das Potential der Religion zur Herstellung oder Erhaltung von Solidarität weiterverfolgt, vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, 2007. 40 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl., 1993 [1928], 227. Schmitt behandelt darüber hinaus den Fall, was zu tun ist, wenn diese nationale Gleichheit nicht gegeben ist: Eine Möglichkeit ist hierbei der friedliche Ausgleich, der entweder in einer friedlichen Trennung oder der Assimilierung der Minderheiten an die Mehrheitskultur bestehen kann: „[d]ie andere Methode ist schneller und gewaltsamer: Beseitigung des fremden Bestandteils durch Unterdrückung, Aussiedlung der heterogenen Bevölkerung und ähnliche radikale Mittel.“ (Ebd., 232, Herv. i. Orig.) Vergleiche zu einer detaillierten Diskussion Lübbe-Wolff (Fn. 35). 41 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 8. Aufl., 1996 [1926], 14. Wie Heller als erstes aufgezeigt hat, bleibt Schmitt in seinen Äußerungen darüber, wie Homogenität hergestellt und aufrecht erhalten wird, uneindeutig. Einerseits muss diese vor dem Staate bestehen, andererseits muss Heterogenität von der Demokratie „vernichtet“ werden. Vgl. Hermann Heller, Politi-
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nen, wohingegen aus der Perspektive Schmitts und seinem Verständnis von substantieller Gleichheit Heterogenität den Staat auflöst und daher vermieden bzw. beseitigt werden muss.
c) Der Blick unter die „positiv-rechtliche Oberfläche“ In dem mit Dieter Gosewinkel geführten biographischen Interview, das die Stationen von Böckenfördes wissenschaftlichem Werk vor dem Hintergrund seiner eigenen Vita und der Geschichte der Bundesrepublik abschreitet, wird Carl Schmitt das erste Mal im Kontext der Erinnerung an die Vorbereitung auf sein erstes juristisches Staatsexamen erwähnt. Böckenförde hat Schmitts Verfassungslehre42 als Blick unter die „positiv-rechtliche Oberfläche auf das, was dahintersteckt, was der eigentliche Ordnungsgehalt ist“ gedeutet.43 Diese Analyse hatte bei ihm wie auch bei seinem älteren Bruder Werner einen tiefen Eindruck hinterlassen.44 Beide schrieben an Schmitt und statteten ihm in der Folge einen Besuch ab, da ihr Wohnort nur eine sechzigminütige Autofahrt von Schmitt entfernt lag. Auch wenn Böckenförde sich daran erinnert, gespürt zu haben, dass Schmitt von dem Treffen enttäuscht gewesen sein müsse (was konnte ein junger Student wie Böckenförde ihm intellektuell schon bieten?), schenkte Schmitt ihm am Ende des Treffens eine Ausgabe von „Legalität und Legitimität“. Von da ab entwickelte sich ein regelmäßiger Kontakt, auch deshalb, weil Böckenförde Schmitt, der über keine institutionelle Anbindung mehr verfügte, mit Material aus universitären Bibliotheken versorgte. Böckenförde machte in der Folge editorische Vorschläge zu Schmitts Veröffentlichung von seinen gesammelten „Verfassungsrechtlichen Aufsätzen“,45 und als Schmitt seine „Theorie des Partisanen“ veröffentlichte, empfahl Böckenförde den Untertitel „Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen“.46 Beide Dissertationsschriften diskutierte er mit Schmitt und er erinnert sich, dass Schmitt ihm nahelegte, die Analyse der Begriffsentwicklung in den Vordergrund zu stellen, statt lediglich politische Geschichte darzustellen. Später, als Böckenförde nach einem passenden Thema für seine Habilitation suchte, und zögerte, über Grundrechte zu schreiben, da er dies zu sehr als den Trend der sche Demokratie und soziale Homogenität [1928], in ders.: Gesammelte Schriften II: Recht, Staat, Macht, 2. Aufl., hrsg. von Christoph Müller, 1992, 421–433. 42 Der Grund dafür, dass die Verfassungslehre (vgl. Fn. 38) als Schmitts Hauptwerk gilt und für ihre unvergleichlich breite Rezeption, kann wohl darin gesehen werden, dass sie die notwendigerweise enge Verbindung zwischen Recht und Politik in der Staatsverfassung aufzeigt. Zugleich unterscheidet Schmitt hier in einer bis dahin nicht und seitdem kaum erreichten Klarheit rechtliche und politische Begriffe. 43 Biographisches Interview (Fn. 7 ), 359. 44 Werner Böckenförde (1928–2003), eines von sieben Geschwistern von Ernst-Wolfgang, war Rechtswissenschaftler und katholischer Theologe und Priester, der wie sein jüngerer Bruder zwei Doktortitel erlangte, Werner allerdings neben dem in Jura einen weiteren in Theologie. Neben seiner Tätigkeit als Domkapitular in der Diözese Limburg lehrte er auch als Honorarprofessor kanonisches Recht und Staatskirchenrecht an der Universität Frankfurt. 45 Carl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954, 1958. 46 Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, 1963. Reinhard Mehring beschreibt Böckenförde sogar als „Lektor des Spätwerkes“ von Carl Schmitt, s. Mehring (Fn. 25), 531 f.
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damaligen Zeit (1957) empfand, schlug Schmitt ihm vor, sich dem Staatsorganisationsrecht zuzuwenden.
d) „Von Schmitt lernen“ – Schmitt nicht bewerten Sowohl Carl Schmitts Werk als auch der persönliche Kontakt und Austausch zwischen beiden haben das Denken Böckenfördes in vielfacher Weise geformt, wie er im biographischen Interview detailliert erörtert. In dieser Hinsicht treten einige Bereiche besonders hervor: die Idee des Primats des Staates als Friedensgarant und als institutionelle und politische Einheit der Entscheidungsfindung; auch die historische Herangehensweise an Begriffe; ferner, das Recht als Recht im Kontext von Politik, Wirtschaft und Kultur zu sehen; und schließlich der Versuchung zu widerstehen, die Rechtsinterpretation in Werten zu verankern. Wie Schmitt denkt auch Böckenförde vom Staat her und führt damit die staatsorientierte Tradition der Verfassungstheorie fort.47 Wie Schmitt sieht er den Staat als dem Recht, insbesondere dem Verfassungsrecht, vorausgehend. Und wie Schmitt erachtet Böckenförde es als notwendig, möchte man die rechtliche Ordnung des Staates hinreichend erfassen, unter seiner Oberfläche die stabilisierenden Kräfte, die sozial tragenden Glaubens- und Weltanschauungssysteme und die fundamentalen Grundwerte wahrzunehmen und zu analysieren. Dabei baut Böckenförde grundlegend auf Hobbes auf, indem er den Staat als Friedenseinheit versteht – als die institutionelle Antwort auf die Bedrohung des innergesellschaftlichen Friedens durch existentielle Konflikte.48 In diesem Zusammenhang lenkt Schmitts „Begriff des Politischen“ für Böckenförde die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass Konflikt ein inhärenter Bestandteil des menschlichen Zusammenlebens ist und jederzeit in eine Freund-Feind-Unterscheidung eskalieren kann. Das Befriedungspotential des Staates gewinnt hieraus seine Bedeutung: „Alle Streitigkeiten und Konflikte zwischen den einzelnen oder zwischen Gruppen innerhalb des Staates werden friedlich, d.h. ohne Anwendung physischer Gewalt und in rechtlich geordneten Verfahren ausgetragen. … Auch in der politischen Auseinandersetzung und im politischen Machtkampf innerhalb des Staates findet keine Freund-Feind-Gruppierung statt, die die Bereitschaft zur physischen Gewaltanwendung einschließt, sondern alle Gegensatze verbleiben auf dem Intensitätsgrad einer Gegnerschaft, die die Einbindung in die gemeinsame Friedensordnung nicht sprengt.“49 Zudem kennzeichnet Böckenförde den Staat als Entscheidungseinheit. „Man kann nicht die staatliche Friedenseinheit wollen, ohne den Staat als Entscheidungseinheit und damit als Träger des letzten Wortes in Fragen des äußeren Zusammenlebens zu akzeptieren.“50 An dieser Stelle könnte Böckenförde dahingehend gedeutet werden, Schmitts Dezisionismus zu teilen. Denn er führt aus: „Soweit [Normen und Regeln Vgl. Günther (Fn. 34), 151–154. Böckenförde bezieht sich in seiner Verwendung des Ausdrucks Friedenseinheit explizit auf Schmitt (insbesondere auf Schmitts Aufsatz „Der Begriff des Politischen“), vgl. Fußnote 7 in Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, 1978. 49 Ebd., 13 f. 50 Ebd., 14. 47
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in einem unbezweifelten allgemeinen Konsens nicht evident sind, M.K./T.S.], kann ihre Festlegung nicht anders als durch die Entscheidung einer höchsten Instanz erfolgen, und zwar einer Instanz, die schließlich auch zum ‚letzten Wort‘, gegen das es keinen Appell mehr gibt, berufen ist.“51 Es ist jedoch wichtig zu berücksichtigen, dass Dezisionismus im Schmitt’schen Sinne eine souveräne Entscheidung meint; d.h. einen Akt des Willens, der jedwede Rechtfertigung hinsichtlich seines Inhalts, Wertes oder Interesses ausschließt.52 Demgegenüber bezieht sich Böckenfördes Notwendigkeit des „letzten Wortes“ auf Autorität, d.h. auf ein normatives, vernunftbasiertes Konzept rechtlich verfasster Herrschaft. Somit ist die letztinstanzliche Entscheidung ein autoritativer, nicht aber ein dezisionistischer Akt. Im Interview kommt Böckenförde wiederholt auf die Qualität von Schmitts Denken zurück. Ihn beeindruckte die Fähigkeit, in großen Strukturzusammenhängen zu denken und er bewunderte die historische Breite und analytische Tiefe von Schmitts rechtlichem, politischen und sozialtheoretischem Denken. Immer wieder zeigte sich für Böckenförde, dass Schmitt die strukturellen Elemente des Rechtsstaats korrekt analysiert und begrifflich zutreffend erfasst hatte. In Bezug auf diesen Einfluss sieht sich Böckenförde allerdings auch veranlasst festzustellen: „Ich gehöre nicht zu seinen Hagiographen. Ich habe viel von ihm gelernt, und das merkt auch jeder, der meine Schriften liest. Da hat Mehring wohl recht: Die liberale Rezeption von Carl Schmitt in der Staatsrechtslehre nach 1945 ist zu einem Teil von mir ausgegangen. Ich habe von seinem Werk immer das herausgesucht, was ich übernehmen und akzeptieren konnte. Seine Kritik der Demokratie oder des Parlamentarismus, die finden Sie bei mir nicht. Aber die Analyse, was bedeutet Repräsentation oder die Unterscheidung von ‚pouvoir constituant‘ und ‚pouvoir constitué‘ und die vielen Begriffsprägungen im Verfassungsrecht, die waren für mich einflußreich.“53 Bezüglich der juristischen und politischen Verteidigung des Naziregimes durch Schmitt, seiner Sympathie für die nationalsozialistische Ideologie und seines Antisemitismus deutet sich in Böckenfördes Aussagen eine gewisse Ambivalenz an. Böckenförde vermeidet nicht die Aussage, Schmitt habe die nationalsozialistische Diktatur als neue Ordnung und Autorität gerechtfertigt und verteidigt. Der Zusammenhang, in dem er dies tut, nämlich in seinem viel diskutierten Aufsatz „Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933“, lässt überdies keinen Zweifel daran auf kommen, wie kritisch er dies sieht.54 In dem biographischen Interview erinnert sich Böckenförde an einen Kommentar Schmitts in Bezug auf 1933. Hier beschrieb Schmitt im Detail die Intensität der Machtkonzentration, die er am Beispiel der Verhandlungen des Dritten Reichs über ein Konkordat mit der katholischen Kirche 1933 illustrierte. Alle Arten von Abkommen konnten nun geschlossen werden, wie es während der Ebd. Schmitt spricht vom „‚dezisionistischen‘ Element jeder Entscheidung, das nicht normativ abzuleiten ist“, siehe Verfassungsrechtliche Aufsätze (Fn. 45), 79. 53 Biographisches Interview (Fn. 7 ), 361. Zu Mehrings Analyse vergleiche Reinhard Mehring, „Zu den neu gesammelten Schriften und Studien Ernst-Wolfgang Böckenfördes“, AöR 117 (1992), 449– 473. 54 Vgl. Anm. 45 in „Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933. Eine kritische Betrachtung.“ Hochland 53 (1961), 215–239. Der Artikel ist einer der wenigen, die auf Englisch übersetzt wurden und kurz nach der Veröffentlichung in Deutschland auch im Ausland erschienen: Ernst-Wolfgang Böckenförde, (Fn. 5 ). 51
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Weimarer Republik aufgrund des jeweiligen Widerstandes, der sich, sobald Pläne über solche Verhandlungen an die Öffentlichkeit gelangten, sofort unter zahlreichen politischen oder gesellschaftlichen Gruppen formierte, unmöglich gewesen war. Schmitt vertraute Böckenförde an, er sei der Ansicht gewesen, angesichts einer solchen Machtzusammenballung und damit einhergehenden Konzentration der Entscheidungsgewalt „könne man etwas stiften [i.S.v. bewirken, M.K./T.S.]“55; diese Annahme habe sich aber als Trugschluss erwiesen. Für Böckenförde ergab sich Schmitts konkretes Ordnungsdenken56 zu einem großen Teil aus dieser Erfahrung. Böckenförde wiederum kommentiert an anderer Stelle im Interview: „Man kann vielleicht sagen, [Schmitt] hat eine Dogmatik geschrieben, an die er selbst nicht geglaubt hat, aber,“, so fügt er hinzu, „das ist ja auch für einen Juristen, anders als für einen Theologen, nicht nötig.“57 Explizit danach befragt, inwieweit Schmitts nationalsozialistische Vergangenheit ein Gesprächsthema zwischen den beiden war, antwortet Böckenförde: „Ich wußte, das war für ihn ein heikles Thema, da er sich [als er nach dem Krieg nicht mehr unterrichten durfte, M.K./T.S.] immer unter Verdacht gestellt und ausgegrenzt fühlte. Ich wollte, wie gesagt, ihm gegenüber nicht als Interrogator auftreten, woran der Kontakt womöglich zerbrochen wäre. Die antijüdischen oder antisemitischen Ausfälle Carl Schmitts, als die mir später bekannt wurden, war ich ziemlich sprachlos. Was soll man dazu sagen?”58 Böckenförde bedenkt weiter, dass es „in jedem Leben dunkle, vielleicht auch sehr dunkle Seiten und Flecken“ gebe und dass er sich nicht als Schmitts Richter sehe: „Wieso sollte ich ihn zur Rechenschaft ziehen und ein nachgeholtes Spruchkammerverfahren machen?”59 In einem anderen Artikel, eines Biographisches Interview (Fn. 7 ), 360. Böckenförde verfasste den Eintrag über Schmitts konkretes Ordnungsdenken in Ritters Historischem Wörterbuch der Philosophie, vgl. Fn. 15. Eine zentrale Annahme des Schmittschen konkreten Ordnungsdenkens sei es, so Böckenförde, dass Herrschaft nicht für sich alleine stehe beziehungsweise ihre Berechtigung nicht aus sich selbst heraus ableitbar sei, sondern sich ihre Geltung aus der Ordnung ergebe. Methodologisch inspiriert von Maurice Haurious Theorie der Institution, konzentriere sich konkretes Ordnungsdenken auf die empirische Erforschung von Regeln und Institutionen und interpretiere diese eher im Hinblick auf die übergreifende Ordnung als auf die Absicht des Gesetzgebers. Hierin impliziert sei eine radikale Kritik rechtlichen Denkens, welches Normen in einer abstrakten Gültigkeit verankert sehe. Stattdessen postuliere konkretes Ordnungsdenken, Normen „aus dem konkreten Ordnungszusammenhang, in dem sie stehen und den sie näher ausgestalten, [zu] interpretier[en] und entsprechend [zu] aktualisier[en].“ Schmitt sehe die Wurzel des konkreten Ordnungsdenkens im mittelalterlichen aristotelisch-thomistischen Naturrecht, welches er gleichermaßen mit Savigny und Hegel in Verbindung bringe. Chronologisch betrachtet folgt Schmitts Ordnungsdenken seinem dezisionistischen Denken, und entwickelte sich gerade zu dem Zeitpunkt, als er mit der Analyse des nationalsozialistischen Staates begann. Es bleibt anzumerken, dass Böckenfördes Tendenz, im konkreten Ordnungsdenken Schmitts einen resignativen Zug gegenüber dem Nationalsozialismus zu erkennen, durch die Arbeiten von Ernst Fraenkel, Raphael Gross, Bernd Rüthers oder Lutz Raphael grundsätzlich infrage gestellt worden ist, die alle den opportunistischen, rassistischen und entschieden nationalsozialistischen Charakter des Ansatzes herausarbeiten. Hierzu auch Frieder Günther, Ordnen, gestalten, bewahren. Radikales Ordnungsdenken von deutschen Rechtsintellektuellen der Rechtswissenschaft 1920 bis 1960, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), 353–384, insbes. 355–361. 57 Biographisches Interview (Fn. 7 ), 363. 58 Ebd., 361. 59 Ebd. Diese Zitate legen nahe, dass Böckenförde den zutiefst anti-semitischen Charakter von Schmitts Schriften nicht weiter bewerten will. Auch in dem Aufsatz „Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933“, der in Anmerkung 45 Schmitts Verteidigung der NS-Herrschaft und seine Ablehnung von 55
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der seltenen Zeugnisse, in dem Böckenförde ausschließlich über Schmitt als Wissenschaftler schreibt, kritisiert er zwar Schmitts Position scharf, bezeichnet sie aber als „Antijudaismus“ statt als „Antisemitismus“ – worin eine Relativierung der Kennzeichnung als Rassismus gesehen werden kann.60 Es gibt keinen Zweifel darüber, was Böckenförde selbst über den Antisemitismus und die Rolle der Juristen in der Zeit des Nationalsozialismus denkt. Dies wird anhand dreier Beiträge klar: seinem Aufsatz „Die Verfolgung der deutschen Juden als Bürgerverrat“, seinem Aufsatz „Der Deutsche Katholizismus im Jahre 1933“, und einem Buch zum Thema „Staatsrecht und Staatsrechtslehre im Dritten Reich“, das er 1985 herausgegeben hat, auf die jeweils noch einzugehen sein wird.61 Im Vorwort jenes Bandes legt Böckenförde die Intention der darin versammelten Studien dar, nämlich den spezifischen Charakter der Staatsrechtslehre in der nationalsozialistischen Ära zu untersuchen. Die Herausforderung, der sich die Autoren und Autorinnen stellten, war, das Ausmaß zu klären, in welchem sich die Staatsrechtslehrer nicht nur von der Weimarer Republik als konstitutioneller Demokratie, sondern auch von einer langen Tradition einer rechtsstaatlich orientieren Justizkultur verabschiedet hatten. Wie kam es, dass die liberale Tradition innerhalb der Staatsrechtslehre so rasch unterging? 62 Analog zu seiner Untersuchung über das Verhalten der katholischen Kirche 1933 war Böckenförde auch hier eher an strukturellen Gründen für menschliches Versagen interessiert, als die individuellen Fehler einzelner Juristen aufzuzeigen.63 Schließlich gilt es, den Einfluss Schmitts auf Böckenförde hinsichtlich der Kritik der Rechtsordnung als Werteordnung zu kennzeichnen. Schmitt kritisierte informelle Macht und jene Einflüsse, die sich außerhalb legaler und formaler Kanäle Bahn brechen. Dies ist ein Grund für seine Ablehnung der Auffassung, das Recht sei in Werten verankert.64 Wie Böckenförde ausführlich in seinem Aufsatz zum Thema darlegt, sieht auch er keine wertbasierte Verankerung des Rechts, da Werte letztlich subjektiv seien; weder die Rechtswissenschaft, noch die Philosophie oder die GesellDemokratie und Liberalismus klar kennzeichnet, enthält Böckenförde sich einer weiteren Bewertung. Es fällt schwer, Böckenfördes Verwendung der Metapher des „Dunklen“ für das antisemitische und nationalsozialistische Gedankengut Schmitts nicht als verharmlosend zu empfinden. 60 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Carl Schmitt, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 9. Aufl., 2000, 183 f. 61 Die Verfolgung der deutschen Juden als Bürgerverrat, in Merkur 51 (1997), 165–170; Der Deutsche Katholizismus im Jahre 1933 (Fn. 54); Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Staatsrecht und Staatsrechtslehre im Dritten Reich, 1985. 62 Eine vergleichbare Frage stellt auch Oliver Lepsius, Die gegensatzauf hebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft im Nationalsozialismus, 1994. 63 Dies bedeutet jedoch nicht, wie Böckenförde an anderer Stelle unterstreicht, dass man die persönliche Verantwortung des Wissenschaftlers, die Dinge zu bewerten und einzuschätzen, verneinen darf. Ganz im Gegenteil ist es eine herausragende Qualität, über die Gelehrte, die sich zugleich ihrer Bürgerrolle bewußt sind und diese annehmen, verfügen sollten: nämlich Urteilsvermögen zu zeigen. Böckenfördes Vita legt Zeugnis von diesem Selbstverständnis eines gesellschaftlich verantwortlichen Wissenschaftlers ab, der sich wiederholt mit fundierten Stellungnahmen an öffentlichen Debatten beteiligt und auch den Einfluss auf die Politik gesucht hat. Siehe hierzu, in Bezug auf die Verantwortung und den Beruf als Juristen: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Vom Ethos des Juristen, 2010. 64 Zu diesem Thema vergleiche Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in FG Ernst Forsthoff (Fn. 18).
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schaftswissenschaften hätten bislang eine zufriedenstellende Methode entwickelt, um einen Wert gegen einen anderen in intersubjektiv überzeugender Weise abzuwägen. Schließlich wäre das ganze Unterfangen des Abwägens in der Jurisprudenz nicht notwendig, wenn Gesellschaften über eindeutige und vereinbarte Wertehierarchien verfügten, welche die Jurisprudenz nur noch anwenden müsse (unbeschadet der individuell-konkreten Abwägung von Wertentscheidungen in einer spezifischen Konfliktsituation, wie sie etwa der richterlichen Einzelfallentscheidung zugrunde liegt).65 Insgesamt kann dem Schmitt-Biographen Reinhard Mehring in der Beurteilung zugestimmt werden, dass Böckenförde zwar Schmitts wichtigster Schüler in der Nachkriegszeit war, zugleich aber Schmitts begriffliches Denken in unabhängiger Weise in eine liberale Richtung weitergeführt hat.66
3. Gründung der Zeitschrift „Der Staat“ Zusammen mit Roman Schnur, einem weiteren jungen Rechtswissenschaftler, der an der intellektuellen Peripherie von Carl Schmitt und Ernst Forsthoff beheimatet war,67 gründete Böckenförde 1962 die Zeitschrift Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre, öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte.68 Sie wurde als Alternative zur damals führenden Zeitschrift Archiv des Öffentlichen Rechts konzipiert, die sich die Analyse der Lehre des Öffentlichen Rechts zum Schwerpunkt gesetzt hatte. Was in Böckenfördes und Schnurs Augen fehlte, war eine Zeitschrift, deren Beiträge den Blick vor allem auf den Staat – nicht nur aus juristischer Sicht, sondern auch aus der Perspektive der Politikwissenschaft und der Geschichtswissenschaft – richten sollten.69 Wie Böckenförde im biographischen Interview anmerkt, sahen sich die Herausgeber anfangs mit dem Verdacht konfrontiert, als Stellvertreter Carl Schmitts zu agieren. Dieser Verdacht war eine Nachwirkung der Polarisierung in der deutschen Staatsrechtslehre der fünfziger Jahre zwischen zwei gegensätzlichen intellektuellen Lagern: dem Lager um Carl Schmitt und dem um Rudolf Smend.70 Smend und Schmitt waren bereits in der Jürgen Habermas diskutiert Böckenfördes Kritik ausführlich: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 1996, Kap. 6.2. 66 Mehring (Fn. 25), 477. 67 Als gelernter Rechtswissenschaftler wurde Roman Schnur (1927–1996) Professor für Politikwissenschaft mit einem Forschungsschwerpunkt auf Verwaltung und Bürokratie. Er schrieb seine Habilitation unter der Betreuung von Ernst Forsthoff. 68 Seit 1962 erscheint die Zeitschrift vierteljährlich im Verlag Duncker & Humblot. Siehe dazu genauer Stefan Korioth, Wider das Zerreden des Staates. Ernst-Wolfgang Böckenförde und das Entstehen der Zeitschrift Der Staat, in: Mehring/Otto (Fn. 4 ), 30–45; und Günther (Fn. 34), 112–158 und 225– 231 ff. 69 Siehe Biographisches Interview (Fn. 7 ), 385 ff. 70 Diese Spannungslage im deutschen Verfassungsrecht dauerte lange an. Als Böckenförde 1977 an die Juristische Fakultät der Universität Freiburg berufen wurde, war die Fakultät noch von der Idee einer Opposition zwischen der Smend-Schule und der Schmitt-Schule geprägt. Während der einflussreiche Konrad Hesse (Professor in Freiburg 1956–1987 und Richter am Bundesverfassungsgericht 1975–1987) die Smend-Schule repräsentierte (für die Freiburg in den 1960er Jahren besonders berühmt war), wurde Böckenförde mit der Schmitt-Schule in Verbindung gebracht und er selbst betonte dies, indem er Carl Schmitt seine Antrittsvorlesung zum Thema „Der verdrängte Ausnahmezustand“ widmete (Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der verdrängte Ausnahmezustand, NJW 1978, 1881 ff. 65
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Weimarer Republik Antipoden. Zwar standen beide in Opposition zu Hans Kelsens „Reiner Rechtslehre“ und dem Rechtspositivismus, divergierten aber hinsichtlich der Konzeptualisierung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft sowie der Bedeutung der Verfassung. Rudolf Smends Vorstellung einer materiellen Dimension der Verfassung, die er in „Verfassung und Verfassungsrecht“ entwarf (zeitgleich mit Schmitts „Verfassungslehre“ 1928 veröffentlicht),71 ging von der Überlegung aus, dass eine Verfassung ein Element der „geistigen Wirklichkeit“ einer Gesellschaft sei, indem sie in einem fortwährend integrativen Prozess die staatlichen Institutionen forme und reproduziere. Schmitt dagegen sah die Verfassung als etwas, das aus einer Entscheidung für eine bestimmte Struktur des Politischen entsteht; der Staat und seine Rechtsordnung könnten nicht gleichgesetzt werden. Nach Schmitt beruht die Geltung von Rechtsnormen (einschließlich verfassungsrechtlicher Normen) auf einem außerrechtlichen souveränen politischen Willen, der die Geltungskraft der Normen schafft und aufrechterhält, indem er über das Potential verfügt, jederzeit die Grenzen der Normgeltung, die Grenzen von Norm und Ausnahme zu bestimmen: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“72 In den frühen Jahren der Bundesrepublik gab das Verfassungsdenken Smends das Paradigma für die Auslegung des Grundgesetzes ab. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelte die Formel der „objektiven Wertordnung“, die das Grundgesetz insbesondere mit den Grundrechten statuiere und die das gesamte Rechtssystem, also auch das Privatrecht und auch die Rechtsprechung der Gerichte, durchdringe. Vor dem Hintergrund des Vorwurfs, der Rechtspositivismus habe den Weg für die Übernahme durch das NS-Regime geebnet, erschien diese materielle und nicht formelle Sicht auf die Verfassung auch plausibel.73 Die Schmitt-Schule hingegen kritisierte dieses Verständnis der Verfassung scharf und argumentierte, damit werde das Bundesverfassungsgericht ermächtigt, die souveräne Entscheidungsgewalt inne zu haben, was die Exekutive beeinträchtigen und zugleich die Justiz politisieren werde.74 Damit ging die grundsätzliche Sorge der Schmitt-Schule um die Erosion der Souveränität und die Schwächung des Staates einher. Aus den redaktionellen Anmerkungen des ersten Hefts des Staats lässt sich ersehen, wie weit Böckenförde und Schnur die neue Zeitschrift mit der spezifisch Schmittschen Ansicht verknüpften, dass der (deutsche) Staat in einer pluralistischen Gesell Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928; Schmitt (Fn. 4 0). Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre der Souveränität, 9. Aufl., 2009 [1922],
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13. 73 Die Weimarer Verfassung enthielt keine Bestimmungen, die den demokratischen und freiheitlichen Gehalt der Verfassung hätte garantieren konnten. So konnte nach der Machtergreifung das NS-Regime die Verfassung ohne große Schwierigkeiten auf heben. Die Wahrnehmung dieser Schwäche der Weimarer Verfassung, die keine Normen enthielt, die ihrer eigenen Auf hebung hätten entgegenwirken können, legte dann die Auslegung des Grundgesetzes als auf Werten und Naturrecht beruhend nahe. Siehe dazu insbesondere Günter Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde. Entwurf eines praktikablen Wertsystems der Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 des Grundgesetzes, AöR 81 (1956), 117 ff. Dazu kommt, dass das BVerfG in den 50er und 60er Jahren sich gegen andere Gerichte durchsetzen musste, um nicht die Deutungshoheit über die Grundrechte einzubüßen, bevor es sie überhaupt erlangt hatte. Siehe dazu etwa Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 2011, 159 (194–196). 74 In diesem Zusammenhang, siehe die erwähnte „Tyrannei der Werte“ von Schmitt (Fn. 18).
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schaft schwach geworden sei und seine Souveränität gegenüber gesellschaftlichen Mächten nicht gewahrt habe. Gleichzeitig eröffneten die Herausgeber die Möglichkeit einer Liberalisierung der Schmitt-Schule,75 indem sie als intellektuelle Aufgabe der Zeitschrift konstatierten, für die Anerkennung der staatlichen Ordnung zu werben, die nicht nur einen Schutz gegen interne und externe Bedrohungen darstellt, sondern eine der wichtigsten Sicherungen der persönlichen und politischen Freiheit des Einzelnen ist.76 (Die Aufrechterhaltung der Staatsordnung als Garant der individuellen Freiheit war bekanntlich kein Anliegen Schmitts.) Vor diesem programmatischen Hintergrund prägte Böckenförde mehrere Jahrzehnte das Profil der Zeitschrift: erst in der Redaktion bis 1984; und später (bis heute) im Beirat. Der Staat ist zu einer der führenden Zeitschriften der deutschen Wissenschaft geworden, vor allem für Rechtswissenschaftler, aber auch für Politikwissenschaftler.
4. Auf der Richterbank des Bundesverfassungsgerichts Als Richter des Bundesverfassungsgerichts (Dezember 1983 bis Mai 1996) wirkte Böckenförde an zahlreichen Entscheidungen mit.77 Nach der Arbeitsteilung zwischen den beiden Senaten ist bekanntlich der Zweite Senat, dem Böckenförde angehörte, in erster Linie für Fragen der Staatsorganisation, etwa institutionelle Konflikte zwischen den drei Gewalten, zuständig, für Verfahren der konkreten Normenkontrolle und nur für ausgewählte Verfassungsbeschwerden.78 So hatte Böckenförde nicht oft Gelegenheit, seine Grundrechtslehre und Kritik an der herrschenden Dogmatik in die Rechtspraxis einzubringen. Jedoch fand seine Auffassung, Grundrechte seien als spezifische rechtliche Ansprüche mit klaren Konturen und nicht als generalermächtigende Werte zu betrachten (die dann einen breiten Spielraum für gerichtliches Ermessen nach sich ziehen), doch ihren Weg in einige Entscheidungen.79
Für die Interpretation von Böckenförde als liberalem Schüler Schmitts, siehe Mehring (Fn. 53). Verlag und Herausgeber, Zum Geleit, Der Staat 1 (1962), 1–2. Der Leitartikel wurde nicht von Böckenförde und Schnur unterzeichnet, sondern von den Herausgebern Gerhard Oestreich, Werner Weber und Hans J. Wolff; er wurde aber von Böckenförde und Schnur formuliert. 77 Zum Bestellungsverfahren Böckenfördes siehe auch Stolleis (Fn. 12). Böckenförde legte zwar sein zweites Staatsexamen nicht ab, erfüllte aber eine alternative Qualifikation für das Amt des Bundesverfassungsrichters, nämlich die erfolgte Berufung zum Universitätsprofessor. 78 Da sich die Arbeitsbelastung zwischen den Senaten als unausgeglichen herausstellte, wurde 1956 das Bundesverfassungsgerichtsgesetz dahingehend geändert, dass der Zweite Senat künftig auch über Verfassungsbeschwerden und abstrakte Normenkontrollverfahren und zwar in Zivil- und Strafangelegenheiten zuständig sein würde. 79 Etwa in den Beschlüssen über den Umfang der Kunstfreiheit vom 19.03.1984 (dokumentiert in NJW 1984, 1293 ff.) und zu einem besonderen Aspekt des Asylgrundrechts (‚Nachfluchttatbestände‘, BVerfGE 74 (1986)). Siehe dazu Christoph Schönberger, Der Indian Summer eines liberalen Etatismus, in: Hermann-Josef Große Kracht/Klaus Große Kracht (Fn. 2 ), 121–136 (127 f.). 75 76
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a) Böckenförde als Dissenter Am bemerkenswertesten sind Böckenfördes Sondervoten.80 In elf Fällen schrieb er abweichende Meinungen, was eine relativ hohe Anzahl in der Praxis des Gerichts ist.81 Noch bemerkenswerter ist, dass einige der Böckenfördeschen Sondervoten in der sachlichen Aussage in späteren Fällen zur Mehrheitsentscheidung wurden, so etwa bei der Parteienfinanzierung und der Frage einer durch die Verfassung gebotenen Begrenzung der Steuergesetzgebung.82 Im letztgenannten Fall kritisierte Böckenförde in scharfen Worten die Mehrheitsentscheidung des Gerichts für ihr implizites Verständnis der Beziehung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und dem Gesetzgeber: Das Bundesverfassungsgericht dürfe dem Gesetzgeber nicht wie ein autoritativer und auch nicht wie ein fürsorglicher Praeceptor gegenüberstehen; 83 die Verfassung müsse vielmehr als eine Rahmenordnung bildend verstanden werden, über deren Beachtung das Verfassungsgericht zu wachen habe. Grundsätzlich müsse die Interpretation der Verfassung nach Möglichkeit stets strikt fallbezogen bleiben und dürfe nur dann über den Fall hinausgehen, wenn es für die Entscheidung unentbehrlich sei. Siehe im Detail Patrick Bahners, Im Namen des Gesetzes. Böckenförde, der Dissenter, in: Mehring/ Otto (Fn. 4 ), 145–93. Im Gegensatz zur common law-Jurisprudenz, bei der die individuelle Meinung zur Norm wird (vor allem, aber nicht nur im Fall von stare decicis), soll in der zivilrechtlichen Tradition die Jurisprudenz von der Person des einzelnen Richters isoliert werden. In diesem Sinne relativiert jede abweichende Meinung zu einem gewissen Grad die Autorität des Gerichts, indem sie die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenkt, dass die einzelnen Richter überhaupt unterschiedlicher Auffassung in der Auslegung sein können. Die abweichende Meinung führt so, wie Johannes Masing kommentiert, einen gewissen Realismus in die zivilrechtliche Jurisprudenz ein. Masing stellt zugleich jedoch fest, dass damit ein notwendiger Kontrapunkt in der spezifisch deutschen Tradition gesetzt wird, in der der Rechtsstaatlichkeit gegenüber der Demokratie Priorität eingeräumt wird. Siehe Johannes Masing, Zur Bedeutung von Sondervoten (unveröffentlicht Manuskript, 2015). 81 Zwischen 1971 (seitdem die Möglichkeit eines Sondervotums durch das 4. Änderungsgesetz des BVerfGG v. 20.12.1970 in § 30 Abs. 2 eingeführt wurde) und 2012 enthielten nur 7 % aller (veröffentlichten) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts abweichende Meinungen. Bis Ende 2014 enthielten 156 von 2.137 der veröffentlichten Entscheidungen abweichende Meinungen. Bezogen auf die reguläre Amtsdauer von 12 Jahren entspricht dies einem Schnitt von 2,7 abweichenden Meinungen pro Richter. Demzufolge hat Böckenförde annähernd viermal mehr eine abweichende Meinung verfasst als der Durchschnitt seiner Kolleginnen und Kollegen. Vgl. aus den offiziellen Statistiken des Bundesverfassungsgerichts: Senatsentscheidungen mit oder ohne Sondervotum in der amtlichen Sammlung (BVerfGE) – Bände 30–134 (1971–2014), online: http://www.bundesverfassungsgericht. de/SharedDocs/Downloads/DE/Statistik/statistik_2014.pdf ?__blob=publicationFile&v=2, S. 12 (letzter Zugriff 19.10. 2016). Im Gegensatz zum US-amerikanischen Supreme Court umfasst der Entscheidungsprozess des Bundesverfassungsgerichts eine umfassende Diskussion unter den Richtern. Wie Dieter Grimm rückblickend auf seine Zeit als Bundesverfassungsrichter schildert, können die Beratungen durchaus die Meinung des bzw. der Einzelnen ändern: „… there is an open discussion within which many people move and find arguments convincing they hadn’t taken into account sufficiently before. So, many people make a move. Even if you are not completely satisfied with the results, you are reluctant to file a dissenting opinion.“ Zitiert nach dem Transkript der Diskussion ‚To Be a Constitutional Court Judge‘, zwischen Joseph Weiler und Dieter Grimm, NYU School of Law, 3. März 2003, 9 (unveröffentlichtes Manuskript). 82 BVerfGE 85, 264 (314 ff.) – Parteienfinanzierung II [1986]; BVerfGE 93, 121 (149 ff.) – Vermögensteuer [1995]. 83 BVerfGE 93, 121 (149 ff.) – Vermögensteuer [1995], vgl. hierzu Biographisches Interview (Fn. 7 ), 459 ff. 80
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Einigen Kritikern zufolge wurde Böckenförde als Richter allerdings nicht immer seinen eigenen Prinzipien gerecht, insofern er in einigen Fällen zu viel von seiner eigenen Interpretation der Verfassung in die Entscheidung des Gerichts habe einfließen lassen. In diesem Zusammenhang sind insbesondere zwei Entscheidungen problematisiert worden: Die erste betrifft die Interpretation des Lebensrechts in Art. 2 Abs. 2 GG im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch von 1993. Hier argumentierte das Bundesverfassungsgericht, der Staat müsse das ungeborene Leben schützen, da das Recht auf Leben nicht nur ein Recht darauf enthielte, vom Staate beschützt zu werden, sondern auch die objektive Pflicht, Leben zu schützen – ungeborenes Leben eingeschlossen.84 Wie Christoph Schönberger und Christoph Möllers unabhängig voneinander argumentiert haben, ist Böckenförde, der in diesem wesentlichen Punkt mit der Mehrheit übereinstimmte, von seiner eigenen Kritik an dem Verständnis einer auf Werten und auf Grundsatznormen basierenden Verfassung abgewichen.85 Eine Interpretation der Grundrechte entsprechend seiner Kritik an der herrschenden Grundrechtsdogmatik hätte ihn zu einer anderen Position in der Abwägung des Selbstbestimmungsrechts der Frau als grundrechtlich geschütztes Abwehrrecht einerseits und der vermeintlich oder tatsächlich bestehenden Pflicht des Staates, das ungeborene Leben zu schützen andererseits, führen müssen.86 Ein zweiter Aspekt betrifft Böckenfördes Demokratietheorie.87 Böckenförde wurde insbesondere von Robert Christian van Ooyen vorgeworfen, ein auf der Idee einer substanziellen Gleichheit basierendes „Volks“-Verständnis zu haben: Böckenförde sehe das Volk als nicht nur durch eine gemeinsame Geschichte, Kultur, und Traditionen verbunden an, sondern auch durch gemeinsame biologische Abstammung.88 Dies ist das Volksverständnis Carl Schmitts. Aber weder Böckenfördes Schriften noch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, an der er mitgewirkt hat, verleihen dieser Behauptung Glaubwürdigkeit. Böckenförde benutzt Schmitts Terminus der „substantiellen Gleichheit“ an keiner Stelle. In seinen frühen Arbeiten spricht er von „Homogenität“ (ohne ihr ein Adjektiv voranzustellen), mit der Betonung darauf, dass diese durch Interaktion, durch Austausch, durch Teilnahme am öffentlichen Leben hergestellt werden müsse, während er in den meisten seiner Schriften ab den 1970er Jahren den Begriff der „relativen Homogenität“ benutzt, den BVerfGE 88, 203 – Schwangerschaftsabbruch II [1993]. Vergleiche hierzu Christoph Schönberger, (Fn. 79), 131 und Christoph Möllers, ‚Römischer Konziliarismus und politische Form‘, in Zeitschrift für Ideengeschichte, IV (2010), 107–114 (112). 86 Das Bundesverfassungsgericht urteilte, Abtreibung sei zwar rechtswidrig, jedoch dann von Bestrafung ausgenommen, wenn der Schwangerschaftsabbruch innerhalb des ersten Trimesters und nach einer (ethischen) Beratung vorgenommen werde. 87 Für eine Zusammenfassung und Erörterung von Böckenfördes Demokratieverständnis siehe Dirk Lüddecke, Gegenstrebige Fügungen der Demokratie. Überlegungen zum historisch-institutionellen und ordo-sozialliberalen Demokratieverständnis Ernst-Wolfgang Böckenfördes, in: Mehring/Otto (Fn. 4 ), 119–144. Olivier Jouanjan: Présentation de Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: ders. (Hrsg.), Le Droit, L’État et la Constitution Democratique. Ernst-Wolfgang Böckenförde – Essais de théorie juridique, politique et constitutionelle, 1999, 4–47. 88 Vergleiche z.B. Robert Christian van Ooyen, Politik und Verfassung. Beiträge zu einer politikwissenschaftlichen Verfassungslehre, 2006; hier deutet bereits die Überschrift des Kapitels über Böckenfördes Demokratietheorie diesen Vorwurf an: „‚Staatliche Volksdemokratie‘: Implikationen der Schmitt-Rezeption bei Ernst-Wolfgang Böckenförde“ (64–76). 84 85
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er von Hermann Heller in Gegenüberstellung zu Schmitt übernimmt.89 Im biographischen Interview mit Dieter Gosewinkel äußert sich Böckenförde entschieden: „Ich würde immer nur von relativer Homogenität sprechen und dabei unter ‚relativ‘ einen dicken Strich machen. Solche relative Homogenität muß keine ethnische sein. Sie besteht eher aus gemeinsamen Vorstellungen über die Art des Zusammenlebens. (…) Am Ursprung ist immer auch ein Stück Zumutung dabei. In einer politischen Gemeinschaft, die demokratisch organisiert ist, muß ich mich grundsätzlich der Entscheidung der Mehrheit unterwerfen und das akzeptieren. Daß das geschieht, setzt aber schon gemeinsame Vorstellungen und eine gewisse Verbundenheit, eben die relative Homogenität, voraus. Der kluge Satz von Adolf Arndt: Demokratie als System der Mehrheitsentscheidung setzt die Einigkeit über das Unabstimmbare voraus, ist nichts anderes als die Kehrseite der relativen Homogenität.“90 Dass weder Böckenförde noch das Bundesverfassungsgericht eine vorpolitische Auffassung des Volkes vertreten, wird darüber hinaus deutlich, wenn man die Entscheidung des Gerichts von 1990 zum Ausländerwahlrecht bei Gemeinde- und Kreiswahlen betrachtet.91 In seiner Entscheidung folgte das Gericht einem Argument, welches Böckenförde in seiner Abhandlung über das Demokratieprinzip im „Handbuch des deutschen Staatsrechts“ umrissen hatte.92 Darin argumentierte Böckenförde, die für eine demokratische Republik grundlegende politische Einheit bestehe aus Bürgern mit gleichen Rechten und Pflichten, die zusammen einen politischen Willen formulierten, eine Regierung wählten, und über die Zusammensetzung des Parlamentes entschieden, so dass jede Entscheidung in einer kontinuierlichen „Legitimationskette“ zum Volk zurückverfolgt werden könne.93 Das Volk sei deshalb ein Volk, weil es die Legitimationsquelle der gesetzgebenden Gewalt darstelle. Es findet sich hier nicht einmal andeutungsweise ein Bezug auf eine gemeinsame Herkunft oder biologische Abstammung. Entsprechendes bestimmt das Grundgesetz, das das deutsche Volk als Einheit derjenigen bestimmt, welche die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen.94 In der zitierten Entscheidung argumentierte das Bundesverfassungsgericht, dass selbst in den Fällen, in denen dauer Hermann Heller, Staatslehre, 3., unveränd. Auflage, 230. Biographisches Interview (Fn. 7 ), 477. Adolf Arndt (1904–1974) war Rechtsanwalt und einer der führenden Köpfe für Rechtspolitik in der SPD in den 1950er und 1960er Jahren, siehe Dieter Gosewinkel, Adolf Arndt. Die Wiederbegründung des Rechtsstaats aus dem Geist der Sozialdemokratie, 1991; Horst Ehmke, Adolf Arndt: Die Macht des Rechts, JöR N.F. 50 (2002), 159–168. 91 BVerfGE 83, 37 – Ausländerwahlrecht Schleswig-Holstein [1990]. Böckenförde war an der Entscheidung als Richter beteiligt. Das Urteil wurde bekanntlich nur zwei Jahre später hinfällig, als der Vertrag von Maastricht 1992 allen EU-Bürgern das Recht garantierte, im gesamten EU-Gebiet an Gemeinde- und Kreiswahlen in ihrem Wohnort teilzunehmen. 92 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 36). Das Bundesverfassungsgericht spricht von einer „ununterbrochenen Legitimationskette“, s. BVerfGE 47, 253 (Leitsatz 2 und 275 f.) – Bezirksvertretungen NRW [1978]; vgl. auch BVerfGE 77, 1 (40); 83, 60 (73) – Bezirksversammlung Hamburg [1990]; oder BVerfGE 93, 37 (67) – Personalvertretung Schleswig-Holstein [1995]. 93 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 36), 2004, 437. Kitschelt und Wilkinson bezeichnen dasselbe Phänomen als ‚linkage mechanism of accountability.‘ Herbert Kitschelt/ Steven Wilkinson, A Research Agenda for the Study of Citizen-Politician Linkages and Democratic Accountability, in: dies. (Hrsg.), Patrons, Clients, and Policies, 2007, 322–340. 94 Art. 116 Abs. 1 GG: „Deutsche im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich …“. 89
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haft im Staatsgebiet lebende Ausländer von politischen Entscheidungen des deutschen Staates betroffen sind (z.B. durch die Steuerpflicht) ), sie auch auf kommunaler Ebene kein Wahlrecht erhalten könnten, da andernfalls die im Grundgesetz geschaffene Verbindung zwischen „Staatsvolk“ und deutschem Volk gestört sei.95 Dementsprechend entschied das Gericht, das (Schleswig-Holsteinische) Wahlrecht sei nicht verfassungsgemäß. Es ist allerdings bemerkenswert, dass die Gerichtsentscheidung eine Empfehlung für den Gesetzgeber enthielt: Um eine größere Übereinstimmung zwischen den Inhabern politischer Rechte und den von gesetzgeberischen Entscheidungen Betroffenen zu schaffen, könnte der Gesetzgeber den Erwerb der Staats bürgerschaft für Ausländer, die sich dauerhaft in der Bundesrepublik auf halten, erleichtern.96 Erneut tritt hier deutlich hervor, dass die Richter, Böckenförde eingeschlossen, weder eine vorpolitische Idee des „Volkes“ noch irgendeine andere antipluralistische Sichtweise vertraten. Was jedoch gegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (und dementsprechend gegen Böckenfördes Demokratietheorie) ins Feld geführt werden kann, ist, dass es nicht selbsterklärend ist, warum auf kommunaler Ebene die lokale Gemeinschaft eher als Staatsvolk aufgefasst werden sollte und nicht vielmehr als Bewohner unabhängig von ihrer jeweiligen Staatsbürgerschaft.97 Letztere Zugangsweise könnte den Weg ebnen, Ausländern mit dauerhaftem Aufenthaltsstatus im Rahmen der Verfassung politische Rechte zu gewähren, die bislang nur deutschen Bürgerinnen und Bürgern vorbehalten sind.
b) Demokratie und Rechtsprechung Böckenförde wurde auch in Verbindung mit dem Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 vorgeworfen, eine Schmitt’sche Auffassung von Homogenität in die Rechtsprechung eingebracht zu haben. Das Gericht entschied bekanntlich, das Demokratieprinzip hielte die Bundesrepublik nicht grundsätzlich davon ab, Teil eines Staatenbundes zu werden, solange das Volk der Ausgangspunkt der Legitimation dieser Föderation sei, und solange die demokratische Teilhabe der Bürger garantiert sei.98 Nichtsdestotrotz argumentierte das Gericht, dass die Mitglieder eines solchen Staatenbundes nach wie vor bedeutungsvolle Kompetenzen zurückbehalten müssten, so dass die Bevölkerung eines jeden Mitgliedsstaats sich weiterhin innerhalb demokratischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse entfalten und artikulieren könne, was wiederum rechtlicher Ausdruck der relativen Homogenität der Bevölkerung sei, verstanden als das, was die Bürgerinnen und Bürger „geistig, sozial und politisch (…) verbindet.“99 In Teilen der rechtswissenschaftlichen Literatur wur BVerfGE 83, 37 (50 ff.) – Ausländerwahlrecht Schleswig-Holstein [1990]. Ebd. 97 Vergleiche hierzu mit einer detaillierten Kritik der Position Böckenfördes Ulrich K. Preuß, Rechtsgutachten über die rechtlichen Möglichkeiten der Freien Hansestadt Bremen, durch Entscheidung der Bremischen Bürgerschaft ein Wahlrecht für Drittstaatler zu den Beiräten der Stadtgemeinde Bremen und ein Wahlrecht der EU- Bürger zur Bürgerschaft (Landtag) einzuführen, online: https:// www.bremische-buergerschaft.de/uploads/media/Gutachten_Prof_Dr_Dr_hc_Ulrich_K_Preuss_ vom_182012.pdf (letzter Zugriff 19.10.2016). 98 BVerfGE 89, 155 (170) – Maastricht [1993]. 99 BVerfGE 89, 155 (186) – Maastricht [1993]. Der ‚belastende‘ Satz lautet wie folgt: „Die Staaten 95
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de das Gericht und insbesondere Böckenförde (der allerdings nicht der Berichterstatter des Urteils gewesen war; sondern Paul Kirchhof ) kritisiert, an dieser Stelle mutmaßlich Schmitts Idee des homogenen Volkes aufgegriffen zu haben.100 Dass im Urteil ausdrücklich auf Schmitts Antipoden Hermann Heller verwiesen wird, erscheint dieser Kritik daher als Irreführung. Insofern Böckenförde der Adressat dieser Kritik ist, ist diese allerdings nicht plausibel, da Böckenförde wie oben angesprochen mehr vom Homogenitätsverständnis Hellers geprägt ist. Ein Aspekt der Böckenförde’schen Demokratietheorie, welcher die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch im Gegensatz zum Vorangegangenen in unstrittiger Weise beeinflusst hat, betrifft die Interpretation des Demokratieprinzips im Grundgesetz. Böckenförde hat hierzu das Bild einer Kette eingebracht, welches das Gericht übernommen hat: Im demokratischen Staat muss demnach jede Sachund Personalentscheidung in einer Kette auf den bei Wahlen verbindlich geäußerten Willen des Volkes zurückgeführt werden können.101 Diese Legitimationskette mag viele einzelne Glieder haben, sie darf aber nicht unterbrochen sein. Als Richter hat Böckenförde auch wichtige Aspekte des Parteienfinanzierungsrechts geformt: In einem Sondervotum zur Parteienfinanzierung (dem sich Ernst-Gottfried Mahrenholz anschloss und dessen Stoßrichtung in einem neuen Fall wenige Jahre später die Mehrheitsmeinung werden sollte) betont Böckenförde, dass jene Bürger, die über besondere finanzielle Ressourcen verfügen und die von ihnen bevorzugten Parteien mit Spenden unterstützen, nicht auch noch durch eine hohe steuerliche Absetzbarkeit gegenüber den Beziehern kleiner und mittlerer Einkommen bevorzugt werden dürften und damit die ungleiche Einflussnahme im demokratischen Prozess staatlicherseits prämiert würde.102 Hier erscheinen Böckenfördes Wurzeln im sozialdemokratischen Milieu wiederum als Ergänzung zu seinem Liberalismus. Böckenförde ist sich dessen bewusst, dass sich rechtliche Gleichheit, die de jure gegeben ist, oft nicht in tatsächliche Gleichheit in der Praxis übersetzt. Den Bürgern, die ohne staatliche Hilfe (physisch-körperlich, ökonomisch, gesellschaftlich) nicht in der Lage sind, ihre Rechte voll(umfänglich) auszuüben, muss der Staat zu ihren Rechten verhelfen.103 bedürfen hinreichend bedeutsamer eigener Aufgabenfelder, auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozeß politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es – relativ homogen – geistig, sozial und politisch verbindet (vergleiche hierzu H. Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, Gesammelte Schriften, 2. Band, 1971, S. 421 [427 ff.]), rechtlichen Ausdruck zu geben.“ 100 Für eine Zusammenschau der verschiedenen Argumente, siehe Ingolf Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, in: AöR 120 (1995), 100–120 (insbes. 103 f.); Brun-Otto Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis 5 (1994), 305–330; Joseph W. Weiler, The state „über alles“. Demos, Telos and the German Maastricht Decision, in: FG Ulrich Everling, 1995, 1651–1688; Gertrude Lübbe-Wolff (Fn. 35). Ebenfalls ausführlicher Christoph Möllers, Staat als Argument, 2000, 405–415. 101 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat – Verfassung – Demokratie, 2. Aufl. 1992, 299. 102 BVerfGE 73, 40 (103ff ) – Parteienfinanzierung I [1976] . 103 Diese Mechanismen können u.a. ein hochwertiges bzw. erstklassiges öffentliches Bildungssystem, (finanzielle) Subventionen zu Studium und Ausbildung, qualitativ hochwertiger öffentlicher Rundfunk, Anti-Diskriminierungsmaßnahmen und ökonomische Umverteilungsmaßnahmen umfassen.
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5. Böckenförde als Public Intellectual Auch in Böckenfördes Engagement als public intellectual zeigen sich die drei hier hervorgehobenem Dimensionen seines Denkens: Böckenförde ist ein politisch Liberaler, ein Sozialdemokrat und ein überzeugter Katholik. Immer wieder regte er öffentliche Debatten an, manchmal von seiner Position als Wissenschaftler aus, manchmal als Mitglied der SPD und manchmal als ehemaliger Richter.
a) Vergangenheitsaufarbeitung Als Wissenschaftler initiierte er wichtige öffentliche Debatten über die Deutung der Geschichte des Nationalsozialismus, insbesondere mit drei Aufsätzen: 1961 veröffentlichte er einen Artikel über die Rolle der katholischen Kirche, welche den Aufstieg der Nationalsozialisten 1933 toleriert und ihn damit indirekt möglich gemacht hatte.104 Dieser Aufsatz stellte im Katholizismus der Nachkriegszeit einen Tabubruch dar, und wurde als derart explosiv erachtet, dass einige seiner Mentoren entweder dringend von der Veröffentlichung abrieten, oder sogar wetteten, es werde sich kein Verleger für die Veröffentlichung finden lassen.105 Der Aufsatz wurde schließlich im katholischen Monatsmagazin Hochland veröffentlicht,106 das auch einen Positionsaustausch zwischen Böckenförde und seinen Kritikern in den Folgeausgaben abdruckte. Die katholische Kirche berief einen Sonderausschuss von Kirchenhistorikern ein, die „Kommission für Zeitgeschichte“, um Böckenfördes Thesen zu untersuchen.107 Letztendlich stimmte die Kommission Böckenförde in den wesentlichen Punkten zu. Auch schien der Aufsatz nicht seine Chancen zu beeinträchtigen, drei Jahre später auf eine Professur berufen zu werden. 1983, als die nationalsozialistische Machtergreifung sich zum 50. Mal jährte, nahm Böckenförde dies zum Anlass, ein Seminar anzubieten, das sich mit der Staatsrechtslehre während der NS-Zeit beschäftigte und der Frage nachging, wie ihre Vertreter in den 1930er Jahren das NS-Regime legitimierten. Dieses Seminar führte, wie be Biographisches Interview (Fn. 7 ), 400 ff. Carl Schmitt wettete mit Hermann Lübbe, der Aufsatz würde nicht veröffentlicht werden, und Julius Wolff konsultierte einen Kollegen, um zu erörtern, ob es nicht zu riskant sei, den Aufsatz vor einer Ernennung als Professor zu publizieren, vgl. Biographisches Interview (Fn. 7 ), 363. 106 Hochland – Monatsschrift für alle Gebiete des Wissen, der Literatur, und der Kunst war ein katholisches Kulturmagazin, das Beiträge von Autoren unabhängig von ihrer Konfession veröffentlichte. Es wurde wegen seiner Unabhängigkeit, seinem kritischen Geist, und seinem Anti-Konfessionalismus insbesondere von der katholischen Kirche mit Argwohn betrachtet. 107 Die Kommission für Zeitgeschichte erklärt in einer Selbstdarstellung (http://www.kfzg.de/ Organisation/organisation.html) zu ihrer Gründungsgeschichte, dass „Zeitgeschichtsforschung in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er Jahren zunächst Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Vorgeschichte bedeutete. Der Wunsch, den nationalsozialistischen Kirchenkampf vorbildlich zu erforschen, gab auch den Anstoß zur Gründung der Kommission für Zeitgeschichte. Die Initiative von Historikern (Dieter Albrecht, Rudolf Morsey, Konrad Repgen) und das Interesse von Persönlichkeiten des kirchlichen und öffentlichen Lebens (Prälat Karl Forster, Heinrich Krone, Johannes Schauff ) flossen zusammen und führten 1962 zur festen Institutionalisierung einer eigenständigen Einrichtung“. Zu einer Einschätzung der Kommission, vgl. Guenter Lewy, The Catholic Church And Nazi Germany, 1964, Introduction to the 2000 edition, besonders xix. 104 105
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reits erwähnt, zu einem von Böckenförde herausgegebenen Buch, das einen Schatten auf einige der führenden Persönlichkeiten der Rechtwissenschaften warf, die auch das westliche Nachkriegsdeutschland maßgeblich mitgeprägt hatten.108 Hier begann ein Vertreter der Staatsrechtslehre damit, einen kritischen Blick auf die eigene Wissenschaft im Nationalsozialismus zu werfen, während das Thema von seinen Kollegen noch überwiegend beschwiegen wurde. Später zeichnete der Aufsatz „Die Verfolgung der deutschen Juden als Bürgerverrat“ (1997) nach, warum der Holocaust in Deutschland nicht allein als Völkermord, sondern auch als Verrat an den eigenen Landsleuten angesehen werden sollte.109 Rechtlich waren die Juden im Zuge der Liberalisierung des Staatsbürgerschaftsrechts im späten 19. Jahrhundert deutsche Staatsbürger im vollumfänglichen Sinne geworden. Die Argumentation des Artikels, der im liberalkonservativen Merkur erschien, mag fast banal erscheinen, doch ist die Bedeutung der Veröffentlichung auch vor dem Hintergrund der Tatsache zu sehen, dass sich bis dahin nur sehr wenige prominente Staatsrechtslehrer aus Böckenfördes Generation in dieser Weise mit der Problematik befasst hatten.
b) Hochschulpolitik Als in der universitären Selbstverwaltung und in Themen der Hochschulbildung engagierter Professor übte Böckenförde ebenfalls einen gewissen Einfluss aus. Er wurde 1968 Dekan der Universität Heidelberg, zu einer Zeit, in der die Studentenbewegung die vollständige Demokratisierung der inneren Organisation der Universität forderte.110 Die Fakultäten (mit Ausnahme der Medizin und Rechtswissenschaft) wurden neu organisiert, staatliche Regulierung nahm zu, und der Umfang, in welchem die unterschiedlichen Statusgruppen ein Mitspracherecht hatten, wurde erweitert. Auch wenn Böckenförde einige der Reformen guthieß und am Entwurf der neuen Heidelberger Grundordnung mitarbeitete, stimmte er letztlich dagegen, insbesondere aufgrund von Klauseln, die allen vier Gruppen der Universität, also Professoren, Dozenten, Studenten und den nicht-akademischen Beschäftigen dieselbe Stimmge108 Böckenförde, Staatsrecht und Staatsrechtslehre im Dritten Reich, (Fn. 61.). Diese Ausgabe basierte auf einigen der besten Beiträge, die im Rahmen des Seminars entstanden waren und analysierte die radikale Wende, die die Staatsrechtslehre methodologisch, personell und hinsichtlich der Abwertung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vorgenommen hatte. 109 Vgl. Fn. 61. Man kann darüber spekulieren, ob der Artikel teilweise auf ein Treffen zum Thema „Juden und Christen in einer pluralistischen Welt“ zurückgeht, das im späten November 1988 am „Institut für die Wissenschaft vom Menschen“ (IWM) in Wien stattfand, an dem Böckenförde zusammen mit dem Soziologen Edward Shils und anderen teilnahm. Böckenförde fungierte damals als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des IWM, Shils als dessen Stellvertreter. Das Treffen brachte zwölf herausragende Persönlichkeiten mit unterschiedlichen religiösem, intellektuellen und kulturellen Hintergrund zusammen, die die Beziehung zwischen Juden und Christen, deren gemeinsame Wurzeln und Sichtweisen auf die Geschichte, die Bedeutung von Pluralismus und Freiheit, und religiöse Ökumene diskutierten. Das Treffen mündete in der gemeinsamen Veröffentlichung Ernst-Wolfgang Böckenförde/ Edward Shils (Hrsg.), Jews and Christians in a Pluralistic World, 1991. Böckenförde und Shils verfassten die Einleitung in Ko-Autorenschaft und trugen jeweils Aufsätze zum Thema religiöser Pluralismus und Zivilgesellschaft bei. 110 Vergleiche hierzu Mehring (Fn. 12).
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wichtung (Viertelparität) in den Gremien einräumte. Ohnehin war er der Ansicht, die neue Grundordnung hielte für die hauptsächlichen Herausforderungen des Lernens und Lehrens, mit denen die Universität zu der Zeit konfrontiert war, keine Lösungsansätze bereit, und diese Einsicht trug zu seiner Entscheidung bei, 1969 an die neu gegründete Universität Bielefeld zu wechseln, in deren wissenschaftlichen Beirat des Gründungsausschusses er bereits 1965 berufen worden war.111 In einem Brief an den Rektor erklärte Böckenförde, es sei ihm in Heidelberg nahezu unmöglich geworden, genügend Zeit für die Forschung zu finden und in einem weiteren Schreiben an den Dekan der Juristischen Fakultät, dass er darüber hinaus hoffe, den neuen rechtswissenschaftlichen Studiengang in Bielefeld mitgestalten zu können.112 Böckenförde sah es als notwendig an, praktische Übungen bereits vor dem ersten Staatsexamen in den Studienverlauf zu integrieren und auch zu einem früheren Zeitpunkt im Studium eine Spezialisierung zu ermöglichen. Der Bielefelder Studiengang setzte diese Reformen in einem Modell um, das später als „einstufige Juristenausbildung“ bekannt werden sollte.113 In den 1990er Jahren mobilisierte Böckenförde dann eine beachtliche Opposition gegen die Umsetzung der Bologna-Reformen auch für die Rechtswissenschaft, die das Staatsexamen durch Bachelor- und Masterabschlüsse ersetzt hätte und die das rechtswissenschaftliche Studium im Zuge der europaweit angeglichenen Studienverläufe vollkommen umgestaltet hätte. Tatsächlich wurden die Bologna-Reformen für dieses Fach nicht umgesetzt.114
c) Der liberale Sozialdemokrat In seiner Eigenschaft als Mitglied der SPD (seit 1967)und zahlreichen partei-internen Ausschüssen, in die er im Verlauf seiner Karriere berufen wurde, beeinflusste Böckenförde einige wesentliche politische Positionen der SPD. Angesichts seines konfessionellen und familiären Hintergrunds hätte eine Mitgliedschaft in der CDU näher gelegen. Böckenförde selbst erklärt diesbezüglich im biographischen Interview, seine Annäherung an die SPD sei im Wesentlichen drei Entwicklungen zuzuschrei111 Biographisches Interview (Fn. 7 ), 419. Böckenförde wurde im November 1965 zum Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats ernannt, höchstwahrscheinlich aufgrund einer Empfehlung des Philosophie-Professors Hermann Lübbe, der zu dieser Zeit Staatssekretär im Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen war. Dem Gründungsausschuss und dem Wissenschaftlichen Beirat gehörten viele spätere Bielefelder Professoren an, darunter neben Lübbe und Böckenförde der Sprachwissenschaftler Harald Weinrich, der Jurist Werner Maihofer, der Historiker Reinhart Koselleck, der Pädagoge Hartmut von Hentig, und der Soziologe Niklas Luhmann. 112 Teile dieser Briefe sind zitiert in Mehring (Fn. 12), 864 f. 113 Dieses Modell wurde auch in einigen anderen Universitäten eingeführt (Konstanz, Augsburg, Bayreuth, Bremen, Hamburg, Frankfurt, Hannover und Trier), lief aber von Gesetzes wegen 1984 aus. 114 1996 war Böckenförde eingeladen, einen Festvortrag anlässlich des 90. Geburtstags von Wolfgang Hefermehl, Professur für Handelsrecht in Heidelberg, zu halten und wählte das Thema „Juristenausbildung – auf dem Weg ins Abseits?“, siehe Ernst-Wolfgang Böckenförde, Juristenausbildung – auf dem Weg ins Abseits?’, JZ 1997, 317 ff., was den Deutscher Juristentag dazu veranlasste, das sogenannte „Ladenburger Manifest“ zu verfassen und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu veröffentlichen. Das Manifest wandte sich gegen die Implementierung der Bologna-Reformen und betonte die Notwendigkeit, die Ausbildung zum Einheitsjuristen beizubehalten, vorlesungsbegleitende Leistungskontrollen einzuführen, und den Lehrplan zu straffen.
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ben:115 Erstens war er über die Tatsache irritiert, dass katholische Geistliche die Gläubigen dazu aufriefen, CDU zu wählen – eine für Böckenförde absolut inakzeptable Instrumentalisierung der Religion zu politischen Zwecken. Zweitens hatten sich die christlichen Elemente in der CDU-Politik in seinen Augen mehr und mehr zu einer leeren Formel entwickelt. Drittens hatte die SPD auf dem Parteitag in Bad Godesberg 1959 einen bemerkenswerten Wandel vollzogen von einer „Weltanschauungspartei“, die sich durch eine umfassende Doktrin auszeichnete, hin zu einer Volkspartei, die sich vom Marxismus als Ideologie gelöst hatte. Diese Entwicklungen eröffneten ihm die Möglichkeit, seinen katholischen Glauben mit der Mitgliedschaft in der SPD zu vereinbaren. Besonders beeindruckt war Böckenförde auch von Adolf Arndt, eine der treibenden Kräfte hinter dem Abschied der SPD von ihrem ideologischen Charakter, der eine entscheidende Rolle bei Böckenfördes Eintritt in die Partei spielte. Ein anderer wichtiger Einflussfaktor war auch seine durch das Studium der Werke Lorenz von Steins mitbegründete Auffassung, Freiheitsrechte könnten nur dann wahrgenommen werden, sofern es die sozioökonomischen Bedingungen erlaubten. Diesbezüglich merkt Böckenförde im Interview an, er hätte es begrüßt, wenn die katholische Soziallehre stärker für soziale Gerechtigkeit eingetreten wäre. In dieser Hinsicht biete sie allerdings (noch) zu wenig Substanz.116 1969 wurde Böckenförde eingeladen, in einem Expertenausschuss des Verteidigungsministeriums mitzuarbeiten, der Vorschläge zum Kompetenzbereich des Generalinspekteurs der Bundeswehr erarbeiten sollte.117 Die Thematik des Ausschusses berührte den Charakter der Beziehung zwischen militärischer Führung einerseits und der demokratisch gewählten Repräsentanten an der Spitze der Ministerialverwaltung andererseits. Böckenförde war intellektuell bestens gerüstet: Ein Abschnitt seiner Habilitation hatte eben diese Frage behandelt. Zusammen mit dem Staatssekretär des Verteidigungsministeriums und späteren Botschafter in London, Karl-Günther von Hase, befand sich Böckenförde innerhalb des Ausschusses in einer Minderheitenposition. Schließlich übernahm der damalige Verteidigungsminister Helmut Schmidt ihren Lösungsansatz im Blankeneser Erlass von 1970, der zum ersten Mal die Kompetenzen des Generalinspekteurs regelte.
Biographisches Interview (Fn. 7 ), 408 f. Biographisches Interview (Fn. 7 ), 414. In dem viel beachteten Essay: „Woran der Kapitalismus krankt“, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise von 2009 veröffentlicht, stellt Böckenförde das Solidaritätsprinzip als Grundprinzips eines funktionierenden Soziallebens heraus, und erinnert die Leser daran, dass Solidarität eine wichtige Rolle sowohl im Denken des Thomas’ von Aquin als auch von Papst Johannes Paul II. gespielt hatte. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Woran der Kapitalismus krankt, Süddeutsche Zeitung, 24.04.2009; ebenfalls in: ders., Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, 64–71 (vgl. Fn. 3 ). 117 Biographisches Interview (Fn. 7), 349. Der Generalinspekteur der Bundeswehr war der ranghöchste Soldat Deutschlands und auf derselben Ebene wie die Stabchefs angesiedelt, obwohl er im Kriegsfall keinerlei operationalen militärische Kompetenzen besaß. Es galt klarzustellen, wer als sein Stellvertreter ernannt werden sollte. Zwei Möglichkeiten waren denkbar: entweder der ranghöchste General innerhalb der drei Streitkräfte (Heer, Marine, Luftwaffe), oder das Oberhaupt des Führungsstabs der Streitkräfte, eine Abteilung, die dem Generalinspekteur der Bundeswehr direkt zuarbeitete. Böckenförde votierte für die zweite Option, da er der Ansicht war, der Vorrang der demokratisch gewählten politischen Führung als Aufsicht des Militärs ließe sich so besser sicherstellen. 115 116
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Böckenförde beriet auch den Parteivorstand, als er 1969 Mitglied des rechtspolitischen Ausschusses der SPD wurde.118 Die erste wichtige Diskussion befasste sich mit der rechtlichen Regulierung der Abtreibung. Böckenförde favorisierte hier eine Lösung, nach der ein Schwangerschaftsabbruch nur in Ausnahmefällen erlaubt sein sollte (z. B. Schwangerschaft als Folge einer Vergewaltigung, oder im Falle gesundheitlicher Risiken für Mutter und Kind). Hier war seine Position der CDU näher. Bemerkenswerterweise überzeugte Böckenförde den Ausschuss, seine Position zu übernehmen. Als allerdings die Diskussion in der gesamten Partei geführt wurde, setzte sich eine andere Position durch, die sogenannte Fristenlösung, nach der ein Schwangerschaftsabbruch nicht strafrechtlich verfolgt werden sollte, sofern er im ersten Trimester der Schwangerschaft durchgeführt wurde. Die Fristenlösung wurde 1974 vom Bundestag beschlossen, jedoch bekanntlich vom Bundesverfassungsgericht umgehend für verfassungswidrig erklärt. 1971 wurde Böckenförde in die Enquête-Kommission Verfassungsreform (1971– 1976) berufen.119 Grundsätzlich bestätigte die Kommission das System einer strikten repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes und lehnte sowohl die Einführung von Volksabstimmungen als auch die Direktwahl des Bundespräsidenten ab. Stattdessen schlug sie Reformen zur Stärkung des Parlaments gegenüber der Exekutive vor. Eines der wichtigsten Ergebnisse der Kommissionsarbeit war allerdings ein informelles Übereinkommen zwischen den beiden großen Parteien, das das Nominierungsverfahren von Bundesverfassungsrichtern änderte. Es wurden mit dieser Absprache 1975 die sogenannten neutralen Positionen eingeführt, wonach in jedem Senat jeweils zwei von acht Richterpositionen für Personen ohne Parteizugehörigkeit vorbehalten werden würden.120 Nachdem Helmut Schmidt 1974 Kanzler wurde, wandte er sich von Zeit zu Zeit an Böckenförde, etwa im Zuge der als Grundwertedebatte bekannt gewordenen Diskussion über die Frage, auf welchen Werten der Staat beruhe und insbesondere, ob Biographisches Interview (Fn. 7 ), 409 f. Vergleiche zu deren Ergebnissen und Empfehlungen: Bundestagsdrucksache 7/5924, und ErnstWolfgang Böckenförde, Überlegungen und Empfehlungen der Enquête-Kommission Verfassungsreform in Hinblick auf die demokratisch-parlamentarische Verfassungsorganisation, in: Die Ergebnisse der Enquête-Kommission Verfassungsreform, Cappenberger Gespräche 13 (1977), 23–50. 120 Formal müssen die Nominierten bekanntlich von einer Zweidrittelmehrheit gewählt werden; die Hälfte der Richterbank wird vom Bundestag, die andere Hälfte vom Bundesrat gewählt. Um diese Mehrheit zu erreichen, verständigten sich CDU und SPD informell darauf, jeweils für den Kandidaten der anderen Partei nach einer vorher festgelegten Kontingentierung zu stimmen. 1975 wurde dann entschieden, die sogenannten neutralen Positionen zu schaffen, um eine Situation zu vermeiden, in der Parteizugehörigkeit eine de facto Voraussetzung für die Nominierung zum Bundesverfassungsrichter werden würde. Zu den Konsequenzen dieser neuen Regelung für Böckenfördes eigene Nominierung, siehe Fn. 33. Trotzdem sind nicht alle anderen Kandidaten notwendigerweise Parteimitglieder. Gertrude Lübbe-Wolff etwa wurde von der SPD auf einem jener Posten nominiert, die auch einen Kandidaten mit Parteimitgliedschaft erlaubt hätte, obgleich sie die Partei aus Protest gegen die von der SPD getragene Asylreform verlassen hatte. Der jetzige Präsident des Gerichts, Andreas Voßkuhle, ist kein Parteimitglied, als erster in seinem Amt. Zum Zeitpunkt November 2015 waren sieben der sechzehn Richter nicht Parteimitglieder (Susanne Baer, Michael Eichberger, Johannes Masing, und Gabriele Britz im ersten Senat; Andreas Voßkuhle, Sibylle Kessal-Wulf, und Ulrich Maidwoski im zweiten). Grundsätzlich sollte die Frage der Parteimitgliedschaft nicht überschätzt werden: die institutionelle Vorkehrung, dass Verfassungsrichter nicht wiedergewählt werden zu können, sichert ihre politische Unabhängigkeit. 118 119
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es die Aufgabe des Staates sei, für ein gemeinsames Ethos zu sorgen.121 Unter anderem gehörten die katholischen Bischöfe zu den Fürsprechern einer solchen Aufgabenzuweisung an den Staat. Böckenförde argumentierte dagegen und betonte, die Entwicklung eines gemeinsamen Ethos in der Bürgerschaft wäre eine gesellschaftliche Aufgabe, keine, die der Staat erfüllen könnte, es sei denn auf Kosten der Freiheitlichkeit. Diese Position wurde von Kanzler Schmidt auch in seiner Rede „Ethos und Recht in Staat und Gesellschaft“ Mitte 1976 verteidigt – eine Rede, die Böckenförde und der katholische Gelehrte Oswald von Nell-Breuning verfasst hatten und in der Schmidt betonte, dass der Staat in Bezug auf Weltanschauungen neutral bleiben müsse. Die Rede löste einige Kontroversen aus, da die Position des Kanzlers als zu zurückhaltend wahrgenommen und sogar verantwortlich gemacht wurde, indirekt zum gesellschaftlichen „Werteverfall“ beizutragen.122 Böckenförde griff als Autor die Frage des ethischen Staates 1978 in seiner Dankesrede für den Reuchlin-Preis auf, als er die Frage stellte, ob die Kernfunktionen des Staates neben der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Freiheit noch weitere umfassen sollte.123 In selbiger Rede sprach er sich vor diesem Hintergrund gegen den Radikalenerlass aus und insistierte, dass ein wahrhaft freiheitlicher Staat seine Bürger ausschließlich für deren Rechtsverletzungen, nicht aber ihre politischen Neigungen und Sympathien verfolgen und belangen könne. Der Erlass, 1972 von Kanzler Willy Brandt unterzeichnet, wurde am Tag nach Böckenfördes Dankesrede in Reuchlin Thema bei einem Treffen der SPD-Parteiführung.124 In den 1970er und frühen 1980er Jahren veröffentlichte Böckenförde eine Reihe weiterer Artikel, die sich mit angemessenen staatlichen Antworten auf den Terrorismus der Rote-Armee-Fraktion (RAF) und anderen gewaltbereiten Gruppen, welche die Staatsordnung zu der damaligen Zeit bedrohten, beschäftigen. Eines seiner Schlüsselargumente ist es hier, dass die noch in Geltung befindlichen Notstandsgesetze von 1968 eine größere Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit darstellten, als dies ein im Grundgesetz verankerter Ausnahmezustand tun würde,125 das bis zu dem Zeitpunkt (und bis heute) die Möglichkeit eines Ausnahmezustandes nicht anerkennt. In dem Aufsatz „Der verdrängte Ausnahmezustand“, seine Carl Schmitt gewidmete Freiburger Antrittsvorlesung von 1976, stellt Böckenförde dar, wie die Notstandsge121 Die Grundwertedebatte fand im Kontext der Gesetzesreformen zu Abtreibungs- und Scheidungsrecht statt, umfasste aber ein breiteres Themenspektrum, wobei sich alles um die Frage drehte, inwieweit der Staat (für) ein gemeinsames Ethos zu sorgen hatte und inwieweit seine Handlungen und Politik einer bestimmten Weltanschauung entsprechen sollten. 122 Vergleiche Helmut Schmidt, Ethos und Recht in Staat und Gesellschaft, Vortrag vor der Katholischen Akademie, 23.05.1976. Böckenförde entwarf auch das Grußwort des Kanzlers für den Katholikentag 1982. 123 Ernst-Wolfgang Böckenförde (Fn. 48). In ähnlicher Richtung veröffentlichte er im selben Jahr einen Essay in der Frankfurter Allgemeine Zeitung, in dem er darlegte, dass ein freiheitlicher Staat nur auf eine freiheitliche Art und Weise seine Grundlagen sichern und (be)schützen könne, ansonsten würde er seine freiheitlichen Fundamente selbst untergraben. Vergleiche Ernst-Wolfgang Böckenförde, Verhaltensgewähr oder Gesinnungstreue? Sicherung der freiheitlichen Demokratie in den Formen des Rechtsstaats, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.12.1978, 9–10. 124 Vgl. Biographisches Interview (Fn. 7 ), 429. Böckenförde führte seine Kritik des Radikalenerlasses weiter aus in Ernst-Wolfgang Böckenförde, Rechtsstaatliche politische Selbstverteidigung als Problem, in: Friedrich-Ebert-Stiftung, Extremisten und öffentlicher Dienst, 1981, 9–33. 125 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der verdrängte Ausnahmezustand, NJW 1978, 1881–1890.
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setzgebung – unter anderem – den Geheimdiensten die Anwendung fragwürdiger Praktiken ermöglicht hatte (z.B. das Installieren von Abhörgeräten bei den Treffen zwischen den inhaftierten RAF-Terroristen und ihren Anwälten, was das Anwaltsgeheimnis verletzte; das Verwanzen der Privatwohnung eines Kernphysikers, der im Verdacht stand, mit Terroristen zu kollaborieren). Böckenförde erklärte, warum eine verfassungsrechtliche Verankerung eines Ausnahmezustands weniger grundrechtsschädigend sein würde, als die zeitgenössischen Notstandsgesetze, die seiner Meinung nach hinsichtlich der umfassenden Vollmachten für die Exekutive sogar das Ermächtigungsgesetz von 1933 noch übertrafen. Böckenförde argumentierte daher für eine Verfassungsänderung, welche die Erklärung eines Ausnahmezustandes ermöglichen und strikt regeln würde. In einem weiteren, 1981 veröffentlichten Aufsatz, entwickelte er eine Art Blaupause für eine solche Verfassungsänderung.126 Böckenfördes Vorschlag wurde bekanntlich nie umgesetzt, so dass im Grundgesetz bis heute keine Möglichkeit vorgesehen ist, einen Ausnahmezustand auszurufen. Der Widerstand gegen einen solchen Schritt nährt sich unter anderem auch aus der Erfahrung mit Art. 48 WRV, dessen Aktivierung als Wegbereiter für die nationalsozialistische Herrschaft gilt unter gleichzeitiger Wahrung des Anscheins von verfassungsrechtlicher Kontinuität.127 Während seiner zwölfeinhalb Jahre am Bundesverfassungsgericht (1983–1996) enthielt sich Böckenförde öffentlicher Interventionen, die er grundsätzlich als unangemessen für einen aktiven Richter erachtete. Nachdem er in Karlsruhe ausgeschieden war, nahm er sein öffentliches Engagement bezüglich drängender sozialer und politischer Probleme wieder auf und kommentierte eine Reihe von Themen: von ethischen Streitfragen wie Abtreibung, Präimplantationsdiagnostik, pränatalen genetischen Tests, die er insbesondere mit Blick auf das Prinzip der Menschenwürde diskutierte, über Probleme der europäischen Integration, wie die EU-Erweiterung, die rechtliche und politische Qualität der EU-Bürgerschaft, des konstitutionellen Charakters der Verträge, bis hin zu dem großen Feld des Verhältnisses von Politik und Religion. Innerhalb dieser Themen verdient einer seiner Beiträge zur bioethischen Debatte besondere Aufmerksamkeit: 2003 veröffentlichte Böckenförde einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit dem Titel „Die Würde des Menschen war unantastbar“, der eine intensive Debatte unter Wissenschaftlern und Politikern auslöste.128 Er kritisiert hier die Neuinterpretation des Art. 1 GG im Grundgesetz-Kommentar Maunz-Dürig, in dem Matthias Herdegen für ein Ver126 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Ausnahmerecht und demokratischer Rechtsstaat, in: Hans-Jochen Vogel/Helmut Simon/Adalbert Podlech (Hrsg.), Die Freiheit des Anderen. Festschrift für Martin Hirsch, 1981, 259–272. Zu einer Gegenposition siehe Gertrude Lübbe-Wolff, Rechtsstaat und Ausnahmerecht. Zur Diskussion über die Reichweite des § 34 StGB und über die Notwendigkeit einer verfassungsrechtlichen Regelung des Ausnahmezustandes, Zf Parl 11 (1980), 110–125. 127 Vgl. hierzu auch Biographisches Interview (Fn. 7 ), 428. Im Interview mit Dieter Gosewinkel gibt Böckenförde an, die Argumentation und die Forderungen des Artikels habe der mehrheitlichen Meinung des beratenden Ausschusses für Rechtspolitik entsprochen, aber aufgrund der Explosivität des Themas sei vereinbart worden, dass er den Artikel ausschließlich als seine persönliche Meinung veröffentlichen würde. 128 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Würde des Menschen war unantastbar, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.9.2003, 33–35. Siehe auch die längere Version „Bleibt die Menschenwürde unantastbar?“, in Blätter für deutsche und internationale Politik, 10/2014, 1216–27.
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ständnis der Menschenwürde argumentierte, das diese hinsichtlich der Reichweite und Umfangbestimmung als offen für verschiedene Interpretationen zeige, je abhängig von den Fallumständen und auch den (wechselnden) Ansichten der Fachliteratur. Böckenförde kennzeichnet diese Neuinterpretation als ein „Rütteln am Fundament“, eine Erschütterung der verfassungsrechtlichen Grundlage des Grundgesetzes: die Relativierung der Menschenwürde führe im Ergebnis dazu, dass es Menschen erlaubt sein würde, über das Lebensrecht anderer zu entscheiden, vor dem Hintergrund der Einschätzung, ob diese ein lebenswertes oder lebensunwertes Leben führen könnten. Böckenförde optiert daher für eine restriktive bioethische Politik, die ein weitgehendes Verbot von Präimplantations- und genetischer Diagnostik enthielt.129
d) Kritischer Katholizismus Schließlich gilt es, die Interventionen von Böckenförde gegenüber den Positionen der katholischen Kirche zu kennzeichnen. Auch hier hat er eine prominente Rolle eingenommen und wesentliche Debatten angestoßen und vorangetrieben. Zu einem sehr frühen Zeitpunkt in seiner Karriere äußerte er sich kritisch zur Haltung der Kirche zu Demokratie und Menschenrechten. Zu einer Zeit in der das katholische Lehramt immer noch einen grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber dem säkularen Staat formulierte, legte Böckenförde dar, dass Demokratie und Menschenrechte von einer christlichen Perspektive aus die legitime Form einer politischen Ordnung seien, lange bevor das Zweite Vatikanische Konzil diese Sichtweise übernahm.130 Eine heftige Reaktion provozierte zudem seine Forschung über die Rolle der Kirche im Nationalsozialismus. Die katholische Kirche setzte, wie erwähnt, die Kommission für Zeitgeschichte ein, die seine Thesen kritisch überprüfen sollte, aber im Wesentlichen seine Ergebnisse bestätigte.131 Wie der Aufsatz über das „Ethos der Demokratie“ kann auch „Katholische Kirche und 1933“ als ein Schlüssel zu seinem Werk angesehen werden. Eine weitere Intervention als kritischer Katholik formulierte Böckenförde in den frühen 1960er Jahren zusammen mit Robert Spaemann gegenüber der Position des Jesuiten Gustav Gundlach, der einen Atomkrieg mit theologischen Argumenten zu legitimieren suchte. Einige Jahre später trat Böckenförde dem „Bensberger Kreis“ bei, einer Gruppe liberal gesinnter Katholiken, die ein Memorandum verfasste, in 129 Vgl. zu einem seiner letzten Artikel bezüglich seines Plädoyers für ein Verbot von Präimplantations- und genetischer Diagnostik Ernst-Wolfgang Böckenförde, Einspruch im Namen der Menschenwürde, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.3.2011. Interessanterweise veröffentlichte Jürgen Habermas auf dem Höhepunkt der bioethischen Debatte zwischen 1999 und 2003 einen in der Stoßrichtung der Böckenförde’schen Position vergleichbaren Beitrag und argumentierte, das normative Selbstverständnis der Menschheit, nach dem Menschen frei und gleich sind, setze die Idee voraus, dass alle Menschen (das ungeborene Leben eingeschlossen), als die Personen gesehen und behandelt werden sollten, die sie schließlich sein werden. Siehe Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 2001. 130 Vgl. hierzu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche, Hochland 50 (1957/58). Auch Heribert Prantl, Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: Gisela Riescher (Hrsg.), Politische Theorie der Gegenwart in Einzeldarstellungen von Adorno bis Young, 2004, 63–66. 131 Siehe oben Fn. 107.
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dem dargestellt wurde, warum eine dauerhafte europäische Friedensordnung nicht ohne eine Versöhnung mit Polen erreicht werden könne und Deutschland alle Gebietsansprüche gegenüber Polen fallen lassen müsse. Das Memorandum spielte eine wichtige Rolle in der Vorbereitung der Ostpolitik von Kanzler Willy Brandt. Abgesehen von diesen intellektuellen Beiträgen war Böckenförde auch aktiv im Laienkatholizismus, u.a. als Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und als eines der Gründungsmitglieder von Donum Vitae, einer katholischen Organisation, die Schwangerschaftskonfliktberatung anbietet.132 Es bedarf keiner Erwähnung, dass die Gründung von Donum Vitae zu einem ernsten Konflikt mit dem Vatikan führte, welcher die Organisation beschuldigte, indirekt zu der durch den Staat rechtlich tolerierten Abtreibungspraxis beizutragen.
III. Fazit Böckenförde hat ein grundsätzlich positives Bild vom Staat. Der freiheitsermöglichende Charakter des Staates, der mit seiner Rechtsordnung die Einzelnen schützt und ihnen ein freiheitliches Leben ermöglicht, überwiegt im Staatsverständnis Böckenfördes bei Weitem die Risiken staatlicher Gewalt für die individuelle Freiheit. Der Staat ist die hauptsächliche Quelle gesellschaftlicher Stabilität, und die Voraussetzung für eine Rechtsordnung, die die individuelle Freiheit garantiert. In dem Ausmaß, in dem Gesellschaft und Markt die Bedingungen nicht bereitstellen können, die nötig sind, um Freiheit zu realisieren, hat der Staat eine Pflicht, hier regulierend in die gesellschaftlichen Beziehungen einzugreifen. Aus dieser Perspektive kann Böckenförde durchaus als sozial-liberaler Etatist charakterisiert werden.133 Drei Dimensionen des Böckenförde’schen Denkens sind hier herausgearbeitet worden, die die Reichhaltigkeit und Reichweite seines Werkes erfassen und verständlich machen sollen: Erstens, die Dimension eines liberalen Denkers, der die freiheitliche Tradition des Staates als Rechtsstaat bekräftigt. Danach ist es der vornehmliche Zweck von Verfassungen, Macht zu begrenzen, nicht zu erweitern. Zweitens, die Dimension eines sozial sensiblen Denkers, der sich der gesellschaftlichen Bedingtheit und der sozioökonomischen Voraussetzungen von Freiheit bewusst ist, 132 Donum Vitae wurde nach der zweiten Abtreibungsentscheidung 1993, an der Böckenförde als Richter beteiligt war, gegründet. Dort sah er sich mit der Aufgabe konfrontiert, eine Lösung zu finden, die mit der säkularen Ordnung in Einklang stand und die er gleichzeitig vor seinem Gewissen als Katholik verantworten konnte. Die berühmte Formel des zweiten Schwangerschaftsabbruch-Urteils von 1993, wonach eine im ersten Schwangerschaftstrimester vorgenommen Abtreibung (die nicht unter die Indikationen fällt), rechtswidrig, aber straffrei ist, sofern Frauen, die sich einer Abtreibung unterziehen möchten, nachweisen, dass sie an einer von einer professionellen Organisation angebotenen Schwangerschaftskonfliktberatung teilgenommen haben, trägt dieser Spannung Rechnung. Der Vatikan verbot bekanntlich eine Teilnahme katholischer Organisationen an diesem System der Schwangerschaftskonfliktberatung. Für die Initiatoren von Donum Vitae war demgegenüber zentral, an diesem System teilzunehmen und eine Beratung anzubieten, die gerade darauf abzielt, Frauen davon zu überzeugen, die Schwangerschaft nicht zu beenden. Vergleiche zu einer persönlichen Reflektion Böckenfördes bezüglich dieser Entscheidung Ernst-Wolfgang Böckenförde, Als Christ im Amt eines Verfassungsrichters, in: ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit, 2007, 415 ff. 133 Vergleiche hierzu Christoph Schönberger, Indian Summer eines liberalen Etatismus, (Fn. 79).
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was insbesondere die Notwendigkeit beinhaltet, ökonomische Ungleichheit mittels staatlicher Maßnahmen auszugleichen und durch ein hochwertiges öffentliches Bildungssystem die Einzelnen in die Lage zu versetzen, ihre Chancen wahrnehmen zu können. Drittens, die Dimension eines engagierten Katholiken, dessen ethischer Horizont über die Welt des positiven Rechtes hinausgeht, ohne dabei in Versuchung zu geraten, religiöse Grundlagen im Recht etablieren zu wollen. Diese drei Dimensionen sind hier im Zusammenhang seiner Biographie beleuchtet worden, um zu erhellen, wie intensiv der Bürger Böckenförde die Probleme seiner Zeit reflektiert und verarbeitet hat. Die breite, auch internationale Rezeption seines Werkes zeigt, dass seine Beiträge zum rechtswissenschaftlichen und politischen Denken aber auch über den zeithistorischen und deutschen Kontext hinaus eine Bedeutung haben und für sich stehen. Bei dem Versuch, Böckenförde vor diesem Hintergrund in die deutsche rechtswissenschaftliche Tradition einzuordnen, wird zunächst die Schwierigkeit offenbar, ihn in einer bestimmten Denkschule zu verorten. Er ist offensichtlich nicht der Integrationstheorie in der Tradition von Rudolf Smend verhaftet. Und er ist auch nicht, anders als Hans Kelsen, von einer „Reinen Rechtslehre“ überzeugt, die eine Öffnung für wirklichkeitswissenschaftliche Perspektiven ausschließen würde. Böckenförde betrachtet Recht immer in Zusammenhang mit spezifischen politischen und gesellschaftlichen Kontexten, die eine Rechtstheorie reflektieren muss. Sein Zugang ist zudem begrifflich und bezieht seine Inspiration wiederholt von den Begriffsanalysen Carl Schmitts, insbesondere bezüglich der Bedeutung von Repräsentation, des Begriffs des Politischen und der Verfassungstheorie. Zugleich ist Schmitts Ablehnung einer pluralistischen Demokratie für Böckenförde, dessen Bezugsrahmen die politische Ordnung des demokratischen Verfassungsstaats nach 1949 ist, nicht akzeptabel. Böckenförde arbeitet mit Schmitts Lehren gegen die politische Intention Schmitts, nämlich um die zweite deutsche Demokratie, die Schmitt so verhasst war, zu erklären, zu begründen und zu rechtfertigen. Neben Schmitt ist Hermann Heller der zweite herausragende Denker der Weimarer Republik, dessen Arbeiten für Böckenförde grundlegend sind. Eine der zentralen Ideen, die Böckenförde von Heller übernommen hat, ist die der sozialen (respektive relativen) Homogenität, die die gesellschaftliche Basis für die politische Einheit des Volkes im Staat ist. Böckenförde beschreibt diese Homogenität als sozio-psychologische Bedingungen für ein Wir-Bewusstsein, das stetiger Revitalisierung bedarf. Darin ist nicht nur eingeschlossen, dass Vielfalt begrüßt wird, sondern diese wird durch jene erst ermöglicht: Homogenität ermöglicht Einverständnis über (diejenigen) Dinge, über die nicht abgestimmt werden kann. Heller, und ihm folgend Böckenförde, macht Homogenität mit einer liberalen Position vereinbar. Von Heller übernimmt Böckenförde auch, dass der Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft eine fortdauernde Berechtigung zukommt – eine Unterscheidung, die die Smend-Schule zu eliminieren suchte. Hat Böckenförde eine eigene Schule begründet, welche diese mannigfaltigen Aspekte integriert und im Wirken nachfolgender Wissenschaftler weiter tradieren würde? Bundespräsident Joachim Gauck hat bei der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes im April 2016 in seiner Ansprache an Böckenförde dazu folgendes bemerkt: „Lieber Herr Böckenförde, ich habe mir sagen lassen, dass es Ihnen widerstrebte,
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eine akademische Schule zu gründen. Wichtig war Ihnen etwas anderes, dass Ihre Doktoranden und Habilitanden selbstständig und mutig eigene Argumente und Ansätze entwickeln konnten. Auf diese diskursive Weise haben Sie eine ‚BöckenfördeSchule‘ ganz besonderer Art begründet: eine Schule der freien geistigen Entfaltung.“134 Böckenförde hat die Sicht dafür geschärft, dass der demokratische Verfassungsstaat eine komplexe politische Ordnung ist, die auf vorrechtlichen Bedingungen basiert, nämlich einer spezifischen Form der Gemeinschaft. Die Einzelnen werden sich nur dann einverstanden erklären, sich der Mehrheitsentscheidung zu fügen, wenn diese Gemeinschaft von gemeinsamen normativen Prinzipien, einem Zusammengehörigkeitsgefühl und einem Einverständnis über Dinge, über die nicht abgestimmt werden kann, zusammengehalten wird. Dieser Sinn eines politischen Zugehörigkeitsgefühls ist die andere Seite dessen, was Böckenförde als „relative Homogenität“ bezeichnet. Schließlich spricht sich Böckenförde dagegen aus, Recht als Erweiterung der Moral zu sehen. Der demokratische Verfassungsstaat soll vielmehr davon absehen, maximale moralische Standards erreichen zu wollen und stattdessen den Bürgerinnen und Bürgern den Raum belassen, individuell verantwortete Gründe und Rechtfertigungen für ihr Handeln zu finden. Das einzige, was der Staat von seinen Bürgern verlangen kann, ist, sich an Recht und Gesetz zu halten. Die notwendige Loyalität gegenüber der politischen Ordnung umfasst keine Gesinnungstreue: Die Gedanken sind frei. Bei der Suche nach den Quellen, die die ethische Verpflichtung der Bürgerinnen und Bürger speisen, bezieht sich Böckenförde daher nicht allein auf bestimmte politische Gemeinschaften, wie etwa die Nation, sondern auf die konstruktive Kraft individueller Rechte und ihren Schutz durch eine effektive Staatsmacht.
Vergleiche Joachim Gauck, Rede zur Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband an Ernst-Wolfgang Böckenförde, 29.04.2016, online: http://www.bundespraesident.de/ SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2016/04/160429-Ordensverleihung-Boeckenfoer de.html (letzter Zugriff 22.10.2016). 134
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Professor Dr. Peter Badura, Universität München Nach der Wiedereröffnung der Ludwig-Maximilians-Universität im SommerSemester 1946 wurde das Öffentliche Recht in der Juristischen Fakultät maßgeblich durch Willibalt Apelt und Wilhelm Hoegner vertreten. In seinen Betrachtungen 1949 zum Bonner Grundgesetz nahm Apelt einen Standpunkt zu der wesentlichen, wenn auch begrenzten Bedeutung der normativen Kraft und der Wirkung der Verfassung für eine erfolgreiche Politik und zu der Gewährleistung des Verfassungsrechts durch die rechtsstaatliche Aufgabe eines Verfassungsgerichts ein, der bis heute zu den Grundlagen des Öffentlichen Rechts gehört: Höchste Instanz in der Vertretung der volonté générale muss in einem demokratischen Staatswesen die gewählte Volksvertretung bleiben; die Justiz kann die Legislative in Rechtsfragen kontrollieren, nicht aber an ihrer Stelle politische Entscheidungen treffen. Diese Betrachtungsweise, die im Gesetz den Grundbegriff des Staatsrechts erkennt, lässt – wie sich über die Jahrzehnte hinweg gezeigt hat – Raum für eine fruchtbare Dogmatik des Faches in sachlicher und personeller Hinsicht. Wilhelm Hoegner, Honorarprofessor der Fakultät, widmete sich besonders dem bayerischen Verfassungsrecht. Er hat einflussreich an der Beratung und Entstehung der Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 1946 mitgewirkt. Auf seine Initiative hin wurde Hans Nawiasky an den Verfassungsverhandlungen beteiligt, so u.a. an der Ausgestaltung plebiszitärer Verfahren und an der Einrichtung des Senats. Es liegt nahe, dass die Fachvertreter des Öffentlichen Rechts in Bayern ihre Aufmerksamkeit der Staatspolitik des Freistaates und den dadurch aufgeworfenen Rechtsfragen zuwandten und zuwenden und – darüber hinaus – der deutschen bundesstaatlichen Ordnung und dem verfassungspolitischen Prinzip des Föderalismus. Theodor Maunz, der 1925 bei Nawiasky promoviert hatte und 1952, von Freiburg kommend, nach München als dessen Nachfolger auf den Lehrstuhl für Deutsches und Bayerisches Staatsrecht berufen wurde, hatte Bayern 1932 in dem Prozess vor dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich vertreten und war nach dem Krieg Mitglied des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee, ebenso wie sein Lehrer Nawiasky. Vortrag in München am 7. Dezember 2015.
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Es wäre jedoch verfehlt, daraus oder gar allgemein für die Mitglieder der Fakultät eine einseitige Affinität oder Linie im Sinne föderalistischer Politik oder juristischer Ausdeutung des deutschen Bundesstaates abzuleiten. Der Name des schon vor dem Krieg gegründeten und bis heute fortbestehenden „Instituts für Politik und Öffentliches Recht“ darf nicht missverstanden werden. Er hebt zutreffend hervor, dass das Öffentliche Recht und insbesondere das Staats- und Verfassungsrecht wesentlich die Staatsaufgaben und die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung des politischen Prozesses und der politischen Willensbildung betrifft. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass Karl Loewenstein nach seiner Rückkehr aus dem Exil nach 1945 eine Zeitlang der Münchener Fakultät als ordentliches, wenn auch emeritiertes Mitglied angehörte. Er wurde 1918 in München promoviert und hatte sich 1931 in München über „Erscheinungsformen der Verfassungsänderungen“ habilitiert. Er entwickelte eine Lehre vom Verfassungsstaat unter dem Blickwinkel der Notwendigkeit und Möglichkeit der Kontrolle politischer Macht in der wohlfahrtsstaatlichen Massendemokratie. Eine für das Öffentliche Recht in München besonders gewichtige Linie reicht von Hans Nawiasky über Theodor Maunz und dessen Schüler Günter Dürig, Peter Lerche und dessen Schüler Rupert Scholz, Klaus Stern, Reinhold Zippelius, Klaus Obermayer, Roman Herzog und Hans-Ulrich Gallwas, weiter über die Nachfolger Hans F. Zacher, Hans-Jürgen Papier (1992–2011) und seit 2012 Martin Burgi. Heinrich Scholler habilitierte sich 1966 für Staats- und Verfassungsrecht sowie Rechtsund Staatsphilosophie, Hans-Ulrich Gallwas habilitierte sich 1968 für Staats- und Verfassungsrecht; beide wirkten über viele Jahre an der Fakultät. Nawiasky wurde 1919 außerordentlicher Professor und 1928 ordentlicher Professor in München, musste 1933 in die Schweiz emigrieren und nahm 1947 die Professur in München wieder auf. In den vier Teilen seiner Allgemeinen Staatslehre von 1945 bis 1958 über den Staat als soziale Tatsache, als Rechtsbegriff und als Idee entwickelte Nawiasky ein kategorisches System, um die Komplexität des modernen Staates, seine Legitimität, seine Institutionen und seine Wirksamkeit als Fundament der Staatsrechtswissenschaft zu erfassen. Hier wird das Thema seiner Habilitationsschrift über die komplexe Verfassungsproblematik des sozial gestaltenden Staates zukunftsbewusst fortgeführt. Hans F. Zacher ist auf diesem Weg später als Schüler Nawiaskys angesichts der neueren Gegebenheiten und Erfordernisse des sozialen Rechtsstaates weitergegangen. Die Dogmatik der Staatsaufgaben ist auch von Martin Burgi in seiner Habilitation in Konstanz 1998 mit eigener Fragestellung untersucht worden. Theodor Maunz wurde 1952 kraft des ausschlaggebenden Einflusses von Nawiasky und gegen Widerstand in der Fakultät auf den Lehrstuhl für Deutsches und Bayerisches Staatsrecht berufen. Sein Deutsches Staatsrecht von 1951, in 32. Auflage herausgegeben von Reinhold Zippelius und Thomas Würtenberger, 2008, ist das wohl erfolgreichste Studienbuch dieses Faches. Auf Initiative von Maunz und des Verlages C.H. Beck in München wurde 1952 der für Wissenschaft und Praxis sehr einflussreiche Kommentar zum Grundgesetz in Angriff genommen, ein Loseblatt-Werk, das 1981 erstmals komplett vorlag. Günter Dürig, der sich 1953 als Schüler von Apelt habilitiert hatte und dann 1953/54 einem Ruf nach Tübingen gefolgt war, wurde 1956 von Maunz als Mitautor vorgeschlagen. Dürig kommentierte die
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Art. 1, 2 und 3 GG, dabei seinem dann grundlegend gewordenen Konzept der Grundrechte als geschlossenes Wert- und Anspruchssystem folgend. Peter Lerche, der sich nach der Promotion 1953 bei Leo Rosenberg 1958 bei Maunz habilitiert hatte, kehrte nach der Professur in Berlin 1965 auf einen neu gegründeten Lehrstuhl nach München zurück. Peter Lerche wird die Doktrin von der „dirigierenden“ Verfassung verdankt, die der Verwirklichung der Verfassung und vor allem der Erfüllung normativ bestimmter Staatsaufgaben berechenbare Regeln und besonders einen Weg geordneten Verfahrens, eine „Homogenität des Verfahrens“, vorgibt. Lerche widmete sich eingehend der „Kunst der föderalen Form“ des deutschen Bundesstaates und der europäischen Föderation. Lerches Schüler Rupert Scholz bekleidete, zurückgekehrt von seinem ersten Lehrstuhl in der Freien Universität Berlin, bis zu seiner Emeritierung in München die neu geschaffene Professur für Öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungslehre und Finanzrecht. Nunmehr obliegen Jens Kersten auf dem Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungswissenschaften, Staats-, Verwaltungs- und Europarecht sowie Verfassungsgeschichte und Rechtssoziologie. Sein Referat „Herstellung von Wettbewerb als Verwaltungsaufgabe“ bei der Staatsrechtslehrertagung in Graz 2009 ist ein Beitrag zu der dogmatischen Erfassung und Durchdringung der auf Ordnung und Regulierung der Wirtschaft gerichteten Staatsaufgabe, die in dem Öffentlichen Recht des sozialen Rechtsstaats einen breiten Raum einnimmt. Auf Peter Lerche folgten 2002 Udo Di Fabio, der bald nach Bonn zurückkehrte, und jetzt Rudolf Streinz auf dem Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Völker- und Europarecht. Die Programmatik des „Instituts für Politik und Öffentliches Recht“ gibt, wie sich zeigt, der Intention seiner Gründung gemäß den Rahmen für die aktualitätsund zukunftsbewusste Entwicklung des Faches. Die Lehrstühle und Einrichtungen für Öffentliches Recht umfassen die ganze Breite des Faches in Forschung und Lehre, ungeachtet verschiedenartiger Spezialisierungen. So vertritt Peter M. Huber, als Nachfolger von Peter Badura (1970–2002) auf dem neugeschaffenen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechts- und Staatsphilosophie, den Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie und Martin Burgi den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Umwelt- und Sozialrecht. Daneben bestehen besondere institutionelle und personelle Vorkehrungen für Kirchen- und Staatskirchenrecht, Steuer- und Finanzrecht, Sozialrecht und internationales Recht. Der Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Kirchenrecht und kirchliche Rechtsgeschichte ist mit einem Institut verbunden, das durch Kirchenvertrag auf eine evangelische Ausrichtung festgelegt ist. Der Lehrstuhl wurde vor dem Krieg und dann wieder seit dem Winter-Semester 1948/49 und dem Sommer-Semester 1953 von Johannes Heckel wahrgenommen. Auf den Lehrstuhl folgte nach Heckels Tod 1959/60 dessen Schüler Siegfried Grundmann, der sich 1956 in München habilitiert hatte. Nach dem Urteil Martin Heckels suchte Grundmann „den schmalen Grad zwischen einer Sakralisierung des Rechts und einer Verrechtlichung der Theologie nicht zu verfehlen“. Im deutschen Staatskirchenrecht stand Grundmann – so wiederum Heckel – dezidiert auf dem Boden der Koordination zwischen Staat und Kirche und hat deshalb die Vertragselemente des geltenden staatskirchenrechtlichen Systems in sehr starker Betonung herausgestrichen. Nachfolger Grundmanns wurden 1969/70 Axel Freiherr von Campenhausen, dann Dietrich Pirson und jetzt Stefan
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Korioth. Lehre und Forschung in diesem Bereich haben hauptsächlich das Staatskirchen- und Religionsverfassungsrecht zum Gegenstand, nicht primär das eigentliche Kirchenrecht. Stefan Korioth hat 2014 in einer Abhandlung „Religionsfreiheit – individuell, kollektiv, objektiv, institutionell“ die konstruktive Verbindung des Grundrechts mit dem Staatskirchenrecht der Weimarer Reichsverfassung nach Art. 140 GG behandelt. Ottmar Bühler erhielt nach seiner Emeritierung in Köln einen Lehrauftrag an der Fakultät. Seine Arbeit hatte schon von jeher besonders dem Steuerrecht und dem Öffentlichen Finanzrecht gegolten. Er gründete auch an der Juristischen Fakultät in München eine Forschungsstelle für „Internationales Steuerrecht“, die er aus eigenen Mitteln und einer Spende finanzierte. Heute besteht an der Fakultät eine Forschungsstelle für Europäisches und Internationales Steuerrecht, deren Leiter der Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Steuerrecht, Sozialrecht und Europarecht ist, zuletzt Moris Lehner, der Schüler und Nachfolger von Klaus Vogel. Der Lehrstuhl wird jetzt von Klaus-Dieter Drüen bekleidet. Im Sommer 1961 war zuvor Hans Spanner von Erlangen auf diesen Lehrstuhl berufen worden; ihm folgte 1977 Klaus Vogel. Hans Spanner, 1934 in Graz habilitiert, hat neben dem Steuerrecht wesentlich die Kodifikation des Verwaltungsverfahrensrechts gefördert und sich mit Aufgaben und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit befasst. Klaus Vogel habilitierte sich nach der Promotion 1955 bei Hans-Peter Ipsen 1963 in Hamburg für Staats- und Verwaltungsrecht einschließlich Finanz- und Steuerrecht mit einer Arbeit über das Thema: „Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsnorm. Eine Untersuchung über die Grundfragen des sogenannten Internationalen Verwaltungs- und Steuerrechts“. Ein weiteres Hauptgebiet der Arbeit von Klaus Vogel war das Polizeirecht. Mit seinem Engagement für das Steuerrecht und das Polizeirecht folgte er seinem Lehrer Gerhard Wacke. Nach Professuren in Erlangen und Heidelberg folgte Klaus Vogel 1977 dem Ruf nach München. Dort war 1960 das Institut für Öffentliches Recht, insbes. Öffentliches Wirtschafts- und Steuerrecht als Teil des Instituts für Politik und Öffentliches Recht gegründet worden. In diesem Institut wurde auf Initiative Vogels die Forschungsstelle für ausländisches und internationales Finanz- und Steuerrecht eingegliedert. Schwerpunkt der Arbeit der Forschungsstelle ist das auf einen OECD-Musterentwurf zurückgehende Recht der Doppelbesteuerungsabkommen. Paul Kirchhof charakterisiert die Arbeit Vogels wie folgt: „Klaus Vogel steht für die Internationalität des Rechts, erwartete von der Zusammenarbeit zwischen den Staaten Maßstäbe für eine sich weltweit entwickelnde Friedens- und Wirtschaftsordnung, forderte im Ausgangspunkt einer liberalen Staatstheorie den in Freiheitsverständnis und Formtypik gebundenen Verfassungsstaat, kämpfte unbeirrt für den ‚Rechtsgedanken im Steuerrecht‘.“ Das Steuerrecht erscheint als Teildisziplin des Besonderen Verwaltungsrechts. Wie das Sozialrecht ist es das Feld der Verwirklichung des sozialen Rechtsstaates und der auf Wirtschafts- und Finanzpolitik beruhenden Haushaltswirtschaft des Staates. Die der Demokratie eigentümliche Entgrenzung der wohlfahrtsstaatlichen Staatsaufgaben findet hier das fortdauernde und fortschreitende Recht und dessen Praxis. Mit der Wirksamkeit ihrer Mitglieder und Einrichtungen fügen sich Forschung und Lehre der Münchener Fakultät im Öffentlichen Recht in den Weg des Verfassungsstaates in der Zeit ein.
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Hans F. Zacher habilitierte sich 1962 bei Nawiasky und Maunz in München mit einer Schrift „Das Verfassungsrecht der sozialen Intervention des Staates nach dem Grundgesetz und der Bayerischen Verfassung.“ Zunächst Professor in Saarbrücken folgte er 1971 dem Ruf nach München als Nachfolger von Theodor Maunz. Er leitete die von der Max-Planck-Gesellschaft 1974 eingerichtete „Projektgruppe für internationales und vergleichendes Sozialrecht“, aus der 1980 das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht hervorging, dem Zacher bis 1992 vorstand. Zacher war seit 1970 Mitglied und Vorsitzender der Sachverständigenkommission der Bundesregierung für ein Sozialgesetzbuch. Nach dem Urteil von Ulrich Becker wurde Hans F. Zacher „zum Begründer der Sozialrechtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg und machte diese zugleich für die Sozialrechtspraxis fruchtbar“. Er betrachtete die soziale Marktwirtschaft als Voraussetzung und Grundlage des Sozialstaates. Sein Bericht „Verwaltung durch Subventionen“ auf der Tagung der Staatsrechtslehrervereinigung in Graz 1966 dokumentiert den Zusammenhang von Wirtschaftsverfassung und Sozialpolitik. Vor allem aber ist es – was Hans-Jürgen Papier hervorhebt – das Verdienst Zachers, eine Systematik des Sozialrechts überhaupt erst sichtbar und so den Weg zur wissenschaftlichen Erforschung dieser überaus schwierigen und unübersichtlichen Materie freigemacht zu haben. Der Lehrstuhl für Völkerrecht und Öffentliches Recht, vormals deutsches und ausländisches Öffentliches Recht, Völkerrecht, Europarecht und Staatskirchenrecht, wird heute von Christian Walter wahrgenommen. Zuvor war Erich Kaufmann von 1946/47 bis zu seiner Emeritierung im Winter-Semester 1950/51 ordentlicher Professor und Direktor des damaligen Instituts für Völkerrecht, nach der Rückkehr aus der Emigration 1939 in die Niederlande. In der Weimarer Zeit stand Erich Kaufmann in dem Methoden- und Richtungsstreit auf der Seite der „geisteswissenschaftlichen“ Schule, die sich gegen den staatsrechtlichen Positivismus wandte. Er betonte die außerpositiven „Lebensverhältnisse“ des Staats- und Völkerrechts. Nach dem Kriege begründete Kaufmann die treuhänderische Ausübung der fortbestehenden Staatsgewalt Deutschlands durch die Besatzungsmächte. Bis 1958 war er „Rechtsberater“ des Bundeskanzleramtes und des Auswärtigen Amtes in völkerrechtlichen Fragen. Rudolf Smend urteilte über das wissenschaftliche Werk Kaufmanns: „Erich Kaufmann steht in der ersten Reihe derer, die den Positivismus, die von ihm vorgefundene gerichtliche Stufe seiner Fächer und der deutschen Rechtswissenschaft überhaupt, widerlegt und durch fruchtbare Arbeit abgelöst haben.“ Friedrich Berber, der 1954 auf den Lehrstuhl für Völkerrecht, Rechts- und Staatsphilosophie berufen worden war, führte das von Erich Kaufmann begründete Institut für Völkerrecht, Rechts- und Staatsphilosophie als dessen Nachfolger fort. Sein Leitgedanke war die Geschichtlichkeit des Rechts und waren die ethischen Grundlagen des Völkerrechts, wie vor allem in seinem Buch „Das Staatsideal im Wandel der Weltgeschichte“ (1973, 2. Aufl. 1978) dargetan. Seine permanente Vorlesung über Allgemeine Staatslehre erfreute sich großen Zuspruchs über den Kreis der Juristen hinaus. Die Beratung der Regierung Indiens zu den Rechtsverhältnissen des Indus hat Berber auf die speziellen, aber durchaus paradigmatischen Fragen des internationalen Wassernutzungsrechts geführt. Das beleuchtet die Breite und Vielfalt des Staats- und Völkerrechts. Angesichts der immer intensiver werdenden internationalen Integration gewinnt das Völkerrecht eine wachsende Bedeutung. Dessen sind sich mit Berber dessen Nach-
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Peter Badura
folger Bruno Simma, Georg Nolte und Christian Walter bewusst. Bruno Simma, ein Schüler von Alfred Verdross, hatte den Lehrstuhl von 1973 bis zu seiner Emeritierung 2003 inne. Die zunehmend engere internationale Zusammenarbeit intendiert Frieden und Sicherheit, Freiheit und Wohlfahrt, wenngleich mit erheblichem regionalem Unterschied des Erfolgs. Im Zuge der politischen und rechtlichen Entwicklung der internationalen Beeinflussung und Bindung der Staatsaufgaben hat die europäische Integration ein herausgehobenes Gewicht. Das Europarecht ist nicht nur ein eigenes und eigengeartetes Rechtsgebiet, sondern ein die gesamte nationale Rechtsordnung und vornehmlich das Öffentliche Recht berührende, beeinflussende und bindende Materie der Normativität im Bereich der Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialordnung. Forschung und Lehre des Öffentlichen Rechts in der Münchener Fakultät tragen dem Rechnung. Christian Walter hat erläutert, welche Folgen die Globalisierung für die Europäische Verfassungsdiskussion hat, und insgesamt ist naturgemäß das Institut für Internationales Recht der gegebene Ort für das Europarecht. Die anderen Fachvertreter des Öffentlichen Rechts tragen der Wirkung der europäischen Integration in dem jeweils durch ihre Arbeit bedingten Maße und auch durch eigene Arbeitsvorhaben Rechnung. Folgerichtig ist das Europarecht auch ausdrücklich in das Mandat der Lehrstühle für Staats- und Verwaltungsrecht aufgenommen worden, so bei Rudolf Streinz, Martin Burgi und Jens Kersten. Das ist keine reine Formsache. Rudolf Streinz hat sich 1987 mit der Schrift „Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht“ habilitiert. Er ist Herausgeber des breit angelegten Kommentars zum Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (2003), an dem auch Martin Burgi durch Erläuterung der Bestimmungen über den Wirtschafts- und Sozialausschuss beteiligt ist. Martin Burgi hat bei der Staatsrechtslehretagung in St. Gallen 2002 über „Selbstverwaltung angesichts von Europäisierung und Ökonomisierung“ referiert. Stefan Korioth schließlich hat ebenfalls in St. Gallen über „Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?“ gesprochen. Darüber hinaus sind Lehrstühle mit Forschungsstellen verbunden, so für Europäisches und Internationales Steuerrecht bei Klaus Vogel und Moris Lehner, für das Recht der Europäischen Union bei Peter M. Huber und für Vergaberecht und Verwaltungskooperationen bei Martin Burgi. Peter M. Huber hielt auf der Staatsrechtslehrertagung in Leipzig 2000 das Referat „Europäisches und nationales Verfassungsrecht“. Die Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Herrschaftsordnung im Verfassungsstaat ist unter den Gegebenheiten des Interessen- und Medienpluralismus der Zeit und bei den Erfordernissen internationaler Gemeinschaften ein beherrschendes Thema des Öffentlichen Rechts, dem sich München und andere Juristische Fakultäten tatkräftig widmen.
Entwicklungen des Verfassungsrechts im europäischen Raum
Auf der Suche nach dem pouvoir constituant Perspektiven der britischen Verfassungsentwicklung von
Prof. Dr. Gernot Sydow, M.A., Universität Münster Inhalt I. Kontexte und Diskussionsebenen des britischen Verfassungsdiskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 1. Eigenständigkeit der verfassungsrechtlichen und verfassungstheoretischen Kategorien . . . . . . . . . . 618 2. Parlamentssouveränität als brüchiger Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622 3. Prägekraft, fortwirkende Attraktivität und Brüchigkeit der Dicey’schen Konzeption . . . . . . . . . . 624 4. Ansatzpunkte einer verfassungsrechtlichen Strukturreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 II. Strukturreform durch Änderungsfestigkeit gesetzlicher Grundentscheidungen (entrenchment) . . . . . . 628 1. Bedeutung des entrenchment-Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 2. Entrenching für die Gesetzgebung durch Referenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630 3. Entrenchment durch referendum locks: parlamentarische Selbstbindungen? . . . . . . . . . . . . . . . . 634 III. Strukturreform durch gerichtliche Normenkontrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 1. Normenkontrollkompetenzen auf parlamentarischer Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 2. Auslegungsregeln für Parlamentsgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 3. Gerichtliche Selbstermächtigung: Common-Law-Konstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 IV. Strukturreform durch Verfassungskodifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 1. Verfassungsrecht ohne Verfassungsgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 2. „We, the people …“: Die Wahlberechtigten als verfassungsgebendes Volk? . . . . . . . . . . . . . . . 642 3. Ein britisches Volk oder vier constituent nations? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644
I. Kontexte und Diskussionsebenen des britischen Verfassungsdiskurses Großbritannien verlässt die Europäische Union. Zugleich rezipiert es kontinentaleuropäische Verfassungsprinzipien: Menschenrechte, Föderalismus, Gewaltenteilung. Doch jeder Reformschritt beruht auf unsicherem verfassungstheoretischem und verfassungsrechtlichem Fundament. Das tradierte britische Verfassungsverständnis, in dessen Zentrum die Parlamentssouveränität stand, ist brüchig geworden. Eine Ver-
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fassungskodifikation könnte Abhilfe schaffen, setzt aber eine Vergewisserung über ihre Grundlagen voraus: eine Identifikation des pouvoir constituant. Wo er gefunden werden könnte, ob diese Figur überhaupt gebraucht wird oder das „murky territory of constituent power“1 nicht besser gemieden würde, ist umstritten.
1. Eigenständigkeit der verfassungsrechtlichen und verfassungstheoretischen Kategorien Das Verfassungsdenken der europäischen Moderne trennt über die Differenz von Verfassungsrecht und einfachem Recht zwischen Strukturfragen des politischen Prozesses und einzelnen Sachfragen. Es weist dazu der Verfassung normhierarchischen Vorrang vor dem einfachen Recht zu und erschwert ihre Änderung.2 Dem liegt eine verfassungstheoretische Unterscheidung zwischen Verfassungsgeber (pouvoir constituant) und Gesetzgeber (pouvoir constitué) zu Grunde, verfeinert und operationalisiert durch die Figur des verfassungsändernden Gesetzgebers (pouvoir constituant constitué).3 Das Vereinigte Königreich hat die in den USA und Frankreich entwickelte Verfassungsidee im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert nicht rezipiert.4 Den Status eines verfassungstheoretischen Klassikers haben nicht Montesquieu, sondern teilweise Kelsen und vor allem Hart.5 Die gegenwärtige Verfassungsdiskussion in Großbritannien nimmt kontinentaleuropäische Verfassungsprinzipien nur selektiv auf. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union hat nur in Einzelfragen unmittelbare Bedeutung für das britische Verfassungsrecht,6 was im Gegenzug bedeutet, dass der Brexit nur
1 S. Tierney, Constitutional Referendums, 2014, S. 150, mit Blick auf einen möglichen Kompetenzkonflikt zwischen schottischem und britischem Parlament über die Kompetenzen für die Frage nach schottischer Unabhängigkeit – ein Konflikt, der bislang sorgsam durch konsensuales Handeln umgangen worden ist. 2 Art. 79 GG, Art. 89 Frz. Verfassung; verfassungsvergleichend zum Vorrang der Verfassung sowie zur Normenhierarchie und deren Funktion: V. Champeil-Desplats, in: M. Troper/D. Chagnollaud (Hg.), Traité international de droit constitutionnel, Band 1, 2012, S. 733 ff. (insb. 744 ff.). 3 Verfassungstheoretisch zur Figur des pouvoir constituant: C. Klein, in: M. Troper/D. Chagnollaud (Hg.), Traité international de droit constitutionnel, Band 3, 2012, S. 5 ff.; ders./A. Sajó, in: M. Rosenfeld/A. Sajó (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, 2012, S. 419 ff. (425 ff.). 4 Zu Bezügen zwischen englischer, amerikanischer, französischer und deutscher Verfassungsdis kussion im 18. Jh.: U. Müßig, Die europäische Verfassungsdiskussion des 18. Jahrhunderts, 2008, insb. S. 11 ff.; zu Gründen der damaligen englischen (Sonder-) Entwicklung D. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866, 1988, S. 33 ff. 5 Beispielsweise bei J. Goldsworthy, Parliamentary Sovereignty, 2010, S. 109 f. 6 Das Hauptgebiet sind Modifikationen der Parlamentssuprematie und der gerichtlichen Normenkontrollkompetenzen zur Durchsetzung des Anwendungsvorrangs des Europarechts; zentrale Urteile dazu R. v. Secretary of State for Transport, ex parte Factortame (No. 1), [1990] 2 AC 85, und R. v. Secretary of State for Transport, ex parte Factortame (No. 2), [1991] 1 AC 603, in Reaktion auf EuGH Rs. C-213/89 (Factortame), Slg. 1990, I-2433 ff., sodann R. v. Secretary of State for Employment, ex parte the Equal Opportunities Commission, [1995] AC 1, und Thoburn v. Sunderland City Council, [2003] QB Division 151; ausführlich dazu G. Sydow, Parlamentssuprematie und rule of law, 2004, S. 106 ff.; zum Grundrechtsschutz T. Sanader, Europäische Einflüsse auf den Grundrechtsschutz im UK, 2016; Überzeichnung der Bedeutung der EU-Mitgliedschaft daher durch St. Schieren, Die stille Revolution, 2001, S. 19, und D. Nicol, EC Membership and the Judicialization of British Politics, 2001, insb. S. 178 ff.
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wenige unmittelbare Folgen für die britische Verfassungsentwicklung haben wird.7 Die Commonwealth-Staaten bilden aus britischer Sicht einen eigenen Referenzrahmen. Mit ihnen besteht ein intensiver Verfassungsdialog, und die Stellung der Queen als Staatsoberhaupt bildet nach wie vor ein verfassungsrechtliches Band zu 15 anderen, mittlerweile unabhängigen Staaten. Die Dekolonialisierung – verstanden als Herauslösung der früheren Kolonien aus der Souveränität des Londoner Parlaments – bietet hochinteressantes Anschauungsmaterial und Präjudizien, wie Modifikationen und eine eventuelle Überwindung der Doktrin der Parlamentssouveränität auch in Großbritannien selbst rechtlich konstruierbar sein könnten.8 Vor allem verfügt die britische Verfassungsentwicklung nach wie vor über eine erhebliche Eigendynamik. Sie beruht wesentlich auf einer Fortentwicklung von common-law-Prinzipien, insbesondere auf einer Auseinandersetzung über Aussagegehalt, Reichweite und wechselseitiges Verhältnis von Parlamentssuprematie und rule of law. Der britische Verfassungsdiskurs lässt sich daher mit den vertrauten verfassungstheoretischen und verfassungsrechtlichen Konzeptionen und Kategorien kontinentaleuropäischen Verfassungsdenkens kaum fassen.9 Sein Bezugspunkt ist kein geschriebener Verfassungstext, dem normative Verbindlichkeit und Vorrang vor dem übrigen Recht zukäme. Es kann daher keine Textänderung eines kodifizierten Verfassungstextes geben. Bereits die Abgrenzung des Verfassungsrechts gegenüber Parlamentsgesetzen ohne Verfassungsqualität ist angesichts fehlender Normenhierarchie und eines fehlenden besonderen Normsetzungsverfahrens für Verfassungsrecht nur über vage materielle Kriterien möglich. Vertraute Unterscheidungen verschwimmen: Verfassungsrecht und Verfassungstheorie, normative und deskriptive Aussagen, politikwissenschaftliche und rechtswissenschaftliche Analysen lassen sich nicht mit derselben Trennschärfe unterscheiden, wie dies im deutschen Verfassungsdenken üblich ist. Eines der klassischen Zitate, das dieses eigentümliche Verfassungsdenken illustriert, ist das lakonische Diktum von Griffith: „The constitution is no more and no less than what happens.“10 Die britische Verfassungsordnung ist nicht binär kodiert: Verfassungsgemäß oder verfassungswidrig, zuständig oder unzuständig, prozedural rechtmäßig oder verfahrensfehlerhaft sind keine eindeutigen Kategorien. Die Verfassung arbeitet mit abgestuften Formen der Verbindlichkeit, die im Laufe der Zeit changieren und eine Verfestigung erfahren können. Sie reichen von politischen Erwartungen über Verfassungskonventionen hin zu gerichtlich durchsetzbaren Rechtssätzen. Nicht immer ist eindeutig, ob die Erwartung, dass sich das Handeln politischer Akteure an maßstabgebenden Vorbildern aus der Vergangenheit orientieren werde, bereits zu einer Verfassungskonvention erstarkt ist oder ob ein Gericht sich auf frühere obiter dicta stützen wird, um seine Rechtsprechung fortzuentwickeln und sie dann ggfs. mit Präjudizi7 Ausführliche Diskussion der Brexit-Folgen unter dem Aspekt einer Rückgewinnung von Souveränität bei G. Gee/A. Young, European Public Law 2016, 131 ff. 8 Umfassend P. Oliver, The Constitution of Independence, 2005; sehr instruktiv auch J. Goldsworthy (Fn. 5 ), S. 106 ff., S. 141 ff. 9 Stattdessen gibt es ganz eigene Kategorien, etwa die Unterscheidung zwischen constitution-changing referendums (internal to the constitution) und constitution-framing referendums (external to the constitution) bei S. Tierney (Fn. 1), S. 11. 10 J. A. G Griffith, The Modern Law Review 1979, 1 (19).
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enbindung auszustatten.11 Ob ein Rechtssatz (noch oder schon) gilt, ist nicht immer eindeutig: Wenn es heißt, ein zentraler Inhalt der Parlamentssouveränität „is falling into desuetude“12, dann markiert eine solche Aussage die allmähliche Derogation einer Verfassungsdoktrin. In umgekehrter Richtung bietet die explizite Aufnahme einer Verfassungskonvention – der sog. Sewel Convention – in das Gesetzesrecht durch den Scotland Act 201613 ein beredtes Beispiel für fließende Übergänge zwischen verschiedenen Verbindlichkeitsgraden: Ursprünglich handelte es um nichts Weiteres als um einen Vorschlag eines Mitgliedes des House of Lords, wie Kompetenzkonflikte zwischen Westminster Parliament und den Regionalparlamenten in der Praxis vermieden werden könnten.14 An diesem Vorschlag, den Lord Sewel 1998 in einer Parlamentsdebatte formuliert hatte,15 haben sich die Parlamente in der Folgezeit orientiert: die Geburt einer neuen, zunächst ungeschriebenen Verfassungskonvention. Nun, nach knapp zwei Jahrzehnten, ist sie gesetzlich fixiert, freilich immer noch nicht als gerichtlich einklagbares Verfassungsrecht, sondern als Verfassungskonvention in Gesetzesform.16 Diese Existenz fließender Maßstäbe ist zu nicht geringen Teilen Folge eines weitgehenden Fehlens autoritativer Gerichtsentscheidungen in Verfassungsfragen: Verfassungsrecht entsteht und wandelt sich in Großbritannien traditionell durch Staats praxis, die bislang kaum als justitiabel galt. In dieser Hinsicht könnte sich nun aber eine Änderung abzeichnen, da es inzwischen üblicher wird, hochpolitische Streitfragen vor die Gerichte zu tragen. So ist 2016 vor dem High Court17 eine Klage gegen das Vorgehen der Regierung anhängig gemacht worden, das Austrittsverfahren nach Art. 50 EUV auf der Basis des EU-Referendums, aber ohne parlamentarische Zustimmung einzuleiten. Die für Anfang 2017 angekündigte letztinstanzliche Gerichtsentscheidung des Supreme Court über diese Frage wird zu einer eindeutigen Klärung führen, wie die Außenkompetenzen zwischen Parlament und Regierung verteilt sind – eine Frage, die auf der Basis bisheriger Staatspraxis und daraus resultierender Verfassungskonventionen keiner eindeutigen Antwort zugänglich ist.
Zur Bedeutung von Verfassungskonventionen im britischen Verfassungsrecht D. Feldman, in: M. Qvortrup (Hg.), The British Constitution, 2013, S. 93 ff. 12 V. Bogdanor, The New British Constitution, 2009, S. 282, bezogen auf die Aussage, das Parlament könne seinen Nachfolger nicht binden. 13 Sec. 2 Scotland Act 2016: „The Sewel convention. In section 28 of the Scotland Act 1998 (Acts of the Scottish Parliament) at the end add: ‚(8) But it is recognised that the Parliament of the United Kingdom will not normally legislate with regard to devolved matters without the consent of the Scottish Parliament.‘“ 14 Das Problem entsteht dadurch, dass den Regionalparlamenten zwar Gesetzgebungskompetenzen zugewiesen worden sind, dies aber nicht gleichzeitig einen korrespondierenden Kompetenzverlust für das Westminster Parliament bedeutet; vielmehr entstehen doppelte, parallele Gesetzgebungskompetenzen (ganz h.M., a.A. indes A. Burrows, Devolution, 2000, S. 65); zur pragmatischen Lösung des Problems Fn. 13. 15 Lord Sewel, H.L. Deb., vol. 592, col. 791 (21. Juli 1998); zur Entstehung der Verfassungskonvention auf dieser Basis A. Page/A. Batey, Public Law 2002, 501 ff. 16 Zur – umstrittenen – Bindungswirkung der Sewel Convention nach ihrer schriftlichen Fixierung in einem Parlamentsgesetz T. Mullen, European Law Review 2016, 187 (197): Es handele sich um eine „provision with uncertain legal effects (or none)“. 17 Urteil vom 3.11.2016: [2016] EWHC 2768. 11
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Die Unterschiede zwischen britischem und kontinentaleuropäischem Verfassungsdenken im Hinblick auf Bezugspunkte und Prämissen des Verfassungsrechts haben weitreichende Konsequenzen. So spielt die Vorstellung, dass Verfassungsänderungen im Vergleich zu Gesetzesänderungen erschwert sein müssen und daher besonderer Voraussetzungen etwa in Form einer qualifizierten Mehrheit bedürfen, in den britischen Diskussionen kaum eine Rolle. Das britische Recht kennt zwar seit wenigen Jahren einzelne, punktuelle Erfordernisse einer Zweidrittelmehrheit, nämlich seit 2011 für die vorzeitige Parlamentsauflösung durch Beschluss des House of Commons18 und seit 2016 für bestimmte Wahlrechtsentscheidungen des schottischen Parlaments für die schottischen Regionalwahlen.19 In keinem Fall aber bedarf ein Gesetzesbeschluss des Westminster Parliament einer qualifizierten Mehrheit, auch nicht für materiell verfassungsrechtliche Entscheidungen. Und – wohl noch erstaunlicher –: Kaum jemand fordert, ein solches Erfordernis einer supermajority für verfassungsrechtliche Entscheidungen einzuführen.20 Stattdessen wird über die Möglichkeiten parlamentarischer Selbstbindung durch einfache Mehrheitsentscheidung gestritten.21 Eine Analyse der britischen Verfassungsdiskussion erfordert daher, sich auf eine eigene Kategorienwelt einzulassen: Vom Ausgangspunkt der Parlamentssouveränität aus werden keine Hierarchisierungsprozesse diskutiert, sondern Möglichkeiten des entrenchment, eines normativen Schutzes gesetzlicher Grundentscheidungen gegen Auf hebung. Das Meinungsspektrum zur Frage von Bindungen der Parlamentsgesetzgebung ist breit: Die einen lehnen jede Beschränkung der parlamentarischen Gestaltungsfreiheit ab, halten entrenchment also verfassungsrechtlich für nicht möglich und verfassungspolitisch für nicht wünschenswert. Nach anderer Auffassung kann das Parlament die Geltung des lex-posterior-Grundsatzes bereits nach geltendem Verfassungsrecht mit einfacher Mehrheit außer Kraft setzen, also selbst entrenchment bewirken. Andere postulieren Bindungen der Parlamentsgesetzgebung durch das common law oder durch Referendumsergebnisse.22 Auch wenn man sich auf die Begrifflichkeiten, Kategorien und Konzeptionen des britischen Verfassungsdenkens einlässt, löst sich diese verwirrende Meinungsvielfalt nicht einfach auf. Denn das britische Verfassungsdenken selbst ist heterogen; konsentierte Prämissen fehlen weitgehend. Je nach Rechtsbegriff ist Verfassungsrecht eine normative oder eine deskriptive Kategorie. Wenn Recht als law in action betrachtet wird, stellt sich nicht die Frage nach seinem Geltungsgrund, sondern stattdessen nach seinen Wirksamkeitsbedingungen. Die Suche nach constituent power, nach einem pouvoir constituant wird in dieser Perspektive irrelevant. Je nach Grundüberzeugung lässt sich somit die Frage nach verfassungsgebender Gewalt stellen oder ist sie völlig außerhalb des Blickes und ohne jede Relevanz für das Verfassungsdenken. Sec. 2 (1) Fixed term Parliaments Act 2011. Fundstelle aller hier zitierten britischen Parlamentsgesetze: www.legislation.gov.uk. 19 Sec. 11 Scotland Act 2016 mit Änderung von sec. 31 Scotland Act 1998. 20 Als Option wird das Erfordernis einer parlamentarischen 2/3-Mehrheit immerhin bei V. Bogdanor (Fn. 12), S. 279 diskutiert; dort auch (S. 230) ausnahmsweise einmal statt „supermajority“ der Begriff „qualified majority“, was sonst eher mit modifizierter Mehrheit zu übersetzen wäre und daher nicht dieselbe unmittelbare Eingängigkeit hat wie das übliche „supermajority“. 21 Näher unten II. 3. 22 Unten II. 2. bzw. III. 3. 18
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2. Parlamentssouveränität als brüchiger Ausgangspunkt Zentraler Bezugspunkt des britischen Verfassungsdenkens waren lange Zeit die Ergebnisse der Glorious Revolution und der in der Bill of Rights von 1689 niedergelegte Verfassungskompromiss. Auf dieser Grundlage hat die Verfassungsordnung ihre klassische Darstellung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gefunden, nämlich durch Sir W. Bagehot (1826–1877) 23 und vor allem durch A. V. Dicey (1835–1922) 24. Zentralnorm ist danach die Parlamentssouveränität bzw. Parlamentssuprematie25: Das Parlament – Queen in Parliament – kann Gesetze beliebigen Inhalts erlassen. Es kann alles tun, außer seinen Nachfolger zu binden. Das führt zu einer unbeschränkten Geltung der lex posterior, in britischer Terminologie: zur Möglichkeit des repeal, und zwar auch des implied repeal der Gesetzgebung durch späteres Parlamentsgesetz. In den Augen Diceys galt das Parlament als unbestrittener Garant der Freiheit. Er vertraute der englischen Freiheitstradition und den konkreten institutionellen Arrangements und soziologischen Prägungen der englischen Gesellschaft des viktorianischen Zeitalters, insbesondere der Komposition des damaligen Parlaments aus dem Monarchen, dem Oberhaus mit einer Repräsentation des Landadels und dem Unterhaus mit Repräsentation des Besitzbürgertums, dessen Dominanz durch das damalige Wahlrecht abgesichert war. Diese Voraussetzungen für seine Verfassungskonzeption verfassungsrechtlich zu garantieren, erschien Dicey als unnötig, ja als gefährlich, weil jeder Sicherungsmechanismus selbst hätte freiheitsbedrohend wirken können. So zentral die Doktrin der Parlamentssouveränität für das tradierte Verfassungsverständnis ist, so zurückgenommen sind letztlich die Kompetenzen des britischen Parlaments immer gewesen. Parlamentssouveränität bezieht sich auf Gesetzgebung, deren Bedeutung unter den Bedingungen des common law limitiert ist: Sie wirkt immer nur punktuell und etabliert nicht durch Gesetzeskodifikationen eine umfassende Rechtsordnung, die durch das common law ja immer schon vorhanden ist.26 Dass das gesamte Staatshandeln vom Parlament abgeleitet sein müsse, war nie Inhalt der Doktrin der Parlamentssouveränität: Die Gerichte sehen ihre Rolle im common law begründet; die Regierung handelt weithin auf der Grundlage der monarchischen Prärogative, also ohne parlamentarische Ermächtigung oder Begrenzung.27 Auch für den Brexit vertritt die Regierung die – umstrittene – Rechtsauffassung, sie könne das Austrittsverfahren nach Art. 50 EUV ohne parlamentarische Beteiligung einleiten W. Bagehot, The English Constitution, 1st ed. 1867 (Neuausgabe durch P. Smith 2001); zu seiner verfassungshistorischen Bedeutung I. Ward [2005] P.L. 67; mit starkem Bezug auf Bagehot (statt – wie sonst bei konservativen Verfassungsinterpreten üblich – auf Dicey): N. Johnson, Reshaping the British Constitution, 2004, S. 10, 18, 60 und passim. 24 A. V. Dicey, Lectures introductory to the law of the constitution, 1. Aufl. 1885, seit der 3. Aufl. unter dem Titel „Introduction to the Study of the Law of the Constitution“, weitere Auflagen durch Dicey bis 1908, 10. Aufl. postum 1959 herausgegeben durch E. C. S Wade. 25 Umfassend in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive und unter Betonung der politischen Gestaltungsfreiheit des Parlaments: J. Goldsworthy, The Sovereignty of Parliament, 1999, sodann mit Blick auf das geltende Recht ders. (Fn. 5 ). 26 Vgl. den Bezug des Katholizitätsbegriffs – in dessen wörtlicher Bedeutung – auf das common law durch J. Laws, The Common Law Constitution, 2014, S. 4. 27 Zu neueren Ansätzen einer Parlamentskompetenz in Bezug auf Auslandsmilitäreinsätze C. Murray/A. O’Donoghue, ICLQ 2016, 305 ff. 23
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und durchführen. Das Parlament könnte daher durchaus an Kompetenzen gewinnen, insbesondere im Verhältnis zur Exekutive, wenn eine kodifizierte Verfassung die Doktrin der Parlamentssouveränität überwindet.28 Diese Doktrin hätte es zu keinem Zeitpunkt ausgeschlossen, die bestehenden, materiell verfassungsrechtlichen Normen durchgängig schriftlich niederzulegen und sie in einem Dokument zusammenzufassen. Die Doktrin schließt es aber in ihrem traditionellen Verständnis aus, einem solchen Dokument Vorrang gegenüber späteren Parlamentsgesetzen einzuräumen oder seine Änderung durch besondere Verfahrensoder Mehrheitserfordernisse zu erschweren. Auch die bestehenden Teilkodifikationen des britischen Verfassungsrechts, insbesondere der Human Rights Act, der Scotland Act, der Northern Ireland Act und der Government of Wales Act, sind formal nichts anderes als einfache Parlamentsgesetze, die gerade nicht durch Vorrang und erschwerte Änder- und Auf hebbarkeit qualifiziert sind.29 Das britische Kabinett hat auf dieser Grundlage im Oktober 2011 ein Dokument unter dem Titel Cabinet Manual verabschiedet, das sich als „guide to laws, conventions and rules on the operation of government“ versteht.30 Da government in diesem Kontext nicht die Regierung, sondern das Handeln aller Staatsgewalt bezeichnet, gleicht das Manual in seiner Gesamtanlage einer kodifizierten Verfassung. V. Bogdanor, ein führender Verfassungsrechtler, hat das Cabinet Manual als „the first step and a pretty big step towards a written constitution“ apostrophiert.31 Es markiert ohne Zweifel einen entscheidenden Entwicklungspunkt der Verfassungsentwicklung. In seiner Kompilationstechnik erscheint das Cabinet Manual indes noch nicht als erster Schritt eines grundsätzlich veränderten Verfassungsverständnisses, sondern als letztmögliche Steigerung, die noch im Rahmen der tradierten Ausgangslage unter der Parlamentssouveränität möglich ist.32 Nicht nur die Gliederung, sondern auch Stil und Diktion des Cabinet Manual entsprechen einem Verfassungstext. Der erste Satz illustriert dies mit seiner strukturellen Parallele zu Art. 1 der französischen Verfassung oder zu Art. 20 des Grundgesetzes: „The UK is a Parliamentary democracy which has a constitutional sovereign as Head of State; […]“. In der äußeren Form gibt es nur eine Ausnahme von der prägenden Verfassungsstilistik. Sie ist dem kompilatorischen Charakter des Textes geschuldet und führt den grundlegenden Unterschied zu einer Verfassung nach kontinentaleuropäischem Verständnis vor Augen: In den Text sind Fußnoten aufgenommen, die am Ende jedes Kapitels die (Rechts-) Grundlage der jeweiligen Bestimmung nachweisen. Diese Fußnoten sind ein eindrucksvoller Beleg für die Pluralität an Rechtsquellen des britischen Verfassungsrechts: In bunter Mischung verweisen die Fußnoten teil So die treffende Bemerkung von R. Gordon, Repairing British Politics, 2010, S. 8 f. Für den Human Rights Act wird seit längerem ernsthaft über seine Auf hebung und Ersetzung durch eine britische Bill of Rights diskutiert, dazu A. Donald, in: R. Masterman/I. Leigh (Hg.), The United Kingdom’s Statutory Bill of Rights, 2013, S. 281 ff. auf rechtsvergleichender Grundlage, zuletzt D. Grieve, Public Law 2016, 223 ff. 30 The Cabinet Manual. A Guide to laws, conventions and rules on the operation of government, Oktober 2011 (http://www.cabinetoffice.gov.uk/sites/default/files/resources/cabinet-manual.pdf ). 31 V. Bogdanor, in: The Constitution Society (Hg.), The UK Cabinet Manual. Briefing Paper (www. re-constitution.org.uk), S. 6. 32 Ausführliche Diskussion des Cabinet Manual bei G. Sydow, in: Heckmann/Schenke/Sydow (Hg.), Verfassungsstaatlichkeit im Wandel, FS Würtenberger, 2013, S. 575 (583 ff.). 28 29
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weise auf konkrete Bestimmungen einzelner Parlamentsgesetze des 17. bis 21. Jahrhunderts, teilweise auf alte, autoritative Abhandlungen, teilweise auf präjudizielle Staatspraxis oder – mangels entsprechender Staatspraxis – auf den damaligen Koalitionsvertrag.33 Insofern ist das Cabinet Manual in seiner Rechtsqualität eine heterogene Sammlung: Verfassungsgebung durch Kompilation statt durch Kodifikation. Bemerkenswert ist der nicht seltene Verweis auf andere Reports, Codes und Guides, die in irgendeiner Form von Parlaments- oder Regierungsstellen approbiert worden sind, die aus sich heraus aber keine Rechtsverbindlichkeit beanspruchen können, die nun aber ebenso wie die rechtsverbindlichen Quellen des Verfassungsrechts als Nachweis für Bestimmungen des Cabinet Manual dienen. Sie dürften damit eine faktische Verfestigung erhalten. Die Grenzen zwischen gerichtlich durchsetzbarem Verfassungsrecht, nicht-justitiablen Verfassungskonventionen und sonstigen Sätzen, die inhaltlich einen wie auch immer gearteten Verfassungsbezug haben, verschwimmen. Auch hieran wird noch einmal deutlich: Das britische Verfassungsrecht denkt graduell und evolutiv und nicht in scharfen kategorialen Unterscheidungen.
3. Prägekraft, fortwirkende Attraktivität und Brüchigkeit der Dicey’schen Konzeption Die Prägekraft Diceys für das britische Verfassungsdenken ist unbestritten. Sie begründet sich vor allem daraus, dass er in einer genuinen Konstruktions- und Ab straktionsleistung wissenschaftliche Beschreibungskategorien für die britische Verfassungsordnung geliefert hat, die unabhängig von konkreten institutionellen Ver änderungen eine eigentümliche Zeitlosigkeit gewonnen haben. Das Werk Diceys ist als Beschreibung des geltenden Rechts weithin überholt und war es schon sehr schnell nach seiner Publikation; seine Beschreibungskategorien sind bis heute unverzichtbar.34 Jenseits dieser unbestrittenen Prägekraft Diceys für die Kategorien des britischen Verfassungsdenkens ist der Konsens über die Tragfähigkeit seiner verfassungsrechtlichen Positionen seit langem zerbrochen. Seine Betonung der Parlamentssouveränität und die daraus abgeleitete Gestaltungsmacht der jeweiligen Parlamentsmehrheit hatten Diceys Verfassungsverständnis im 20. Jahrhundert zunächst auch attraktiv für Autoren gemacht, die seine besitzbürgerlich-konservativen Grundhaltungen ganz und gar nicht geteilt haben: H. Laski (1893–1950) und I. Jennings (1903–1965), J. A. G Griffith (1918–2010) und andere, die politisch der Labour Party nahestanden. In dieser
33 Die Situation eines hung parliament ohne eindeutige Mehrheitsverhältnisse nach den Wahlen von 2010 war jahrzehntelang ohne Vorbild, so dass manche Fragen zunächst offen waren, etwa das Verhältnis zwischen einer Art Richtlinienkompetenz des Premierministers zum Erfordernis eines Konsenses zwischen den die Koalitionsregierung tragenden Parteien; monographisch zu dieser Konstellation V. Bogdanor, The Coalition and the Government, 2011, etwa S. 51 ff. über Agreements to differ, und R. Hazell/B. Yong, The Politics of Coalition – How the Conservative-Liberal Democratic Government Works, 2012. 34 Dazu instruktiv O. Lepsius, JöR 57 (2009), 559 ff. (563 ff., 571 ff.).
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Tradition stehen heute beispielsweise R. Bellamy35 und Waldron36 ; insgesamt dürfte es sich mittlerweile aber um eine Minderheitenposition auch auf der politischen Linken handeln. Diese Autoren wollen bzw. wollten die Gestaltungsmacht, die eine isolierte Betrachtung von Diceys Positionen zur Parlamentssouveränität der Parlamentsmehrheit einräumt, für die Ausbildung eines sozialgestaltenden Verwaltungsrechts nutzbar machen, das Dicey für unvereinbar mit seinem Verfassungsverständnis erklärt hatte. Hieran zeigt sich, dass Diceys Verfassungskonzept abstraktionsfähig von den konkreten institutionellen Arrangements ist, in Bezug auf die Dicey es entwickelt und die er politisch verteidigt hat.37 In einer Gegenbewegung zu dieser Aneignung einer speziellen Lesart des Dicey’schen Verfassungsverständnisses im Umfeld der Labour Party waren es in den 1970er Jahren zunächst konservative Juristen und Politiker, die die Überzeugungskraft Diceys angesichts veränderter gesellschaftlicher und politischer Grundkonstellationen für brüchig erklärt haben. In Großbritannien seien Funktionsvoraussetzungen des überkommenen politischen Systems in den 1970er Jahren entfallen, die durch Schlagworte wie Unregierbarkeit, parteipolitische Polarisation und Krise gekennzeichnet gewesen seien. An die Stelle dreier sich wechselseitig kontrollierender Institutionen in der Figur des King in Parliament sei faktisch nichts als eine demokratisch gewählte Mehrheit im House of Commons getreten. Unter diesen Voraussetzungen sei Parlamentssouveränität „elective dictatorship“38, so eine vielzitierte Charakterisierung durch Lord Hailsham, einen der führenden konservativen Politiker und vielfachen Minister zwischen 1957 und 1987. Dass Diceys Annahmen zum Freiheitsschutz durch das Parlament noch tragfähig sind, wird heute vielfach bestritten: Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts hätten gezeigt, dass auch demokratisch gewählte Parlamente und Regierungen totalitär werden könnten. Es bedürfe deshalb normativer Bindungen der Mehrheit, die durch eine unabhängige Gerichtsbarkeit durchgesetzt werden können. Denn eine politische Verfassung biete keinen Schutz vor Tyrannei.39 Wenn man diese Analyse für richtig hält, muss es darum gehen, die weitreichende Gestaltungsfreiheit der auf eine Parlamentsmehrheit gestützten Regierung zu beschränken. In britischer Terminologie geht es um limited government unter gerichtlicher Kontrolle, wobei sich dieser Terminus nicht allein und primär auf die Regie35 R. Bellamy, Political Constitutionalism – A Republican Defense of the Constitutionality of Democracy, 2007. 36 J. Waldron, Law and Disagreement, 1999; ders., Yale Law Journal 2006, 1346 ff., mit dezidierter Ablehnung jeder Ausweitung des judicial review. 37 O. Lepsius, JöR 57 (2009), 559 (569). 38 Lord Hailsham (Fn. 35), S. 9 ff.; der konservative Kritiker des gesamten Verfassungsreformprozesses N. Johnson ist der Auffassung, dass Tendenzen zum elective dictatorship nach dem Wahlsieg von New Labour von 1997 noch zugenommen hätten, dass also das gesamte Reformprojekt das propagierte Ziel verfehle, N. Johnson, Reshaping the British Constitution, 2004, S. 308 ff.; ähnliche Einschätzungen bei A. Gamble, Between Europe and America, 2003, S. 150: „The conventions and checks which had preserved the balance have been eroded or destroyed.“, ders., in: H. Kastendiek/R. Stinshoff (Hg.), Changing Conceptions of Constitutional Government, 1994, S. 13; zudem A. King, Does the UK still have a constitution, 2001, S. 45 f., S. 77. Grundsätzlich anderer Auffassung: O. O’Neill, A Question of Trust, 2002, S. 9 et passim, die bereits bestreitet, dass es eine Vertrauenskrise in das politische System gebe – dies sei eine Fehlwahrnehmung. 39 J. Jowell, Public Law 2000, 671 ff. (682); T. R. S Allan, Constitutional Justice, 2001, S. 261 f.; Sir J. Laws, Public Law 1995, 72 ff. (81).
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rung als Institution und das Regierungshandeln bezieht, sondern auch und gerade staatliches Handeln durch Gesetzgebung bezeichnet. Entsprechende Reformforderungen sind nicht grundsätzlich neu, sondern datieren teilweise schon aus den 1970er Jahren. So hatten schon damals Lord Scarman und Lord Hailsham die Schaffung eines Supreme Court zum Schutz von Minderheiten- und Menschenrechten gefordert, die der Disposition einfacher Parlamentsmehrheiten entzogen sein sollten.40 Die Forderung nach Verfassungsnormen, die vor der Auf hebung durch späteres Parlamentsgesetz geschützt sind, war in eine institutionelle Frage nach der Gerichtsverfassung eingekleidet und damit bereits damals präsent. Hinzu kommt ein zunehmendes Bewusstsein dafür, dass die Doktrin der Parlamentssouveränität eine rein englische Verfassungstradition ist: geformt in der Glorious Revolution und somit begründet vor der Union Englands mit Schottland, dessen Verfassung eine entsprechende Doktrin nie gekannt hat.41 Der historische Befund ist unbestritten. Längere Zeit schien es aber, als könne man ihn als historisches Detail für die Interpretation der aktuellen Verfassung des Vereinigten Königreichs ignorieren und so wie Dicey – der stets von der englischen Verfassung spricht – englisch und britisch gleichsetzen. Dies hat sich geändert, seit die Schottlandfrage zu einer zentralen Zukunftsfrage des Vereinigten Königreichs geworden ist und die schottischen Institutionen eine eigene schottische Sichtweise kraftvoll vortragen. Danach ist Großbritannien nicht einfach ein durch Beitritt Schottlands vergrößertes England, sondern 1707 durch Vertrag zweier gleichberechtigter Vertragspartner entstanden. Damit wird die historische Grundlage dafür fragwürdig, dass eine spezifisch englische Verfassungstradition als zentrale Verfassungsdoktrin für ganz Großbritannien Geltung beansprucht. Aus der Erkenntnis, dass Großbritannien durch Verträge gegründet wurde und nicht allein aus England besteht, könnten sich auch für die Frage nach dem pouvoir constituant entscheidende Konsequenzen ergeben, die im Einzelnen freilich weit von konsentierten Überlegungen entfernt sind.42
4. Ansatzpunkte einer verfassungsrechtlichen Strukturreform Verfassungsreformen können in Großbritannien im Rahmen dieser ungeschriebenen, auf Parlamentssouveränität gründenden und institutionell denkenden Verfassung verbleiben. Ohne weiteres können Verfassungsreformgesetze konkrete institutionelle Arrangements ändern, wie dies 1998 durch die Errichtung von Regionalparlamenten in Schottland, Nordirland und Wales,43 2005 durch die Übertragung der 40 Lord L. Scarman, English Law – The New Dimension, 1974, S. 81 f.; Lord Hailsham, The Dilemma of Democracy, 1978, S. 11 ff., S. 217 ff. 41 N. MacCormick, Questioning Sovereignty, 1999, S. 55; M. Gardiner, The Cultural Roots of British Devolution, 2004, S. 134 ff. 42 Näher unten IV. 3. 43 Scotland Act, Northern Ireland Act, Government of Wales Act, alle 1998, mit nachfolgenden Änderungen, zuletzt durch den Scotland Act 2016; diese Gesetzgebung zu den staatlichen Institutionen hat Folgewirkungen auch auf gänzlich anderen Feldern, etwa für das establishment genannte Staatskirchensystem Englands und Schottlands (zu diesen Folgen der devolution für das church establishment N. Bonney, Monarchy, religion and the State, 2013, S. 69 ff.; allgemein zum establishment R. Sandberg, Law
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höchsten Gerichtsbarkeit auf den britischen Supreme Court 44 und durch zahlreiche andere Verfassungsreformgesetze der letzten zwanzig Jahre45 geschehen ist. Die Alternative zu solchen Einzelreformen, nämlich die Forderung nach einer geschriebenen Verfassung oder einer britischen Verfassungskodifikation, bezieht sich in aller Regel nicht auf eine rein textliche Zusammenfassung des geltenden Rechts. Sollten sich Reformforderungen darauf beschränkt haben, hätte das Cabinet Manual von 2011 dieses Ziel erreicht. Verfassungskodifikation oder geschriebene Verfassung sind inhaltlich gefüllte Begriffe: Sie umfassen Vorrang und erschwerte Abänderbarkeit, eventuell einen änderungsfesten Verfassungskern und je nach Grundposition die Rückführung der Verfassung auf das verfassungsgebende Volk.46 Forderungen nach einer geschriebenen Verfassung zielen daher darauf, das Grundverständnis der Verfassung insgesamt zu modifizieren oder zu revolutionieren. Solche tieferreichenden Veränderungen jenseits einzelner Gesetzgebungsakte und konkreter institutioneller Veränderungen können als Wandel in den „underpinnings of the UK constitution“47, als „constitutional reform“48 im Singular, als „Verfassungswandel“49 oder auch als „Strukturreform der Verfassung“ bezeichnet werden. Soweit die Reformdiskussion nicht nur einzelne institutionelle Arrangements, sondern Strukturfragen der Verfassung betrifft, konzentrieren sich viele Überlegungen auf das Parlamentsgesetz: auf seine gerichtliche Kontrolle, auf seinen Schutz vor Rücknahme durch eine neue Parlamentsmehrheit, auf seine Ausdifferenzierung in einfache Gesetze und Verfassungsgesetze. Es geht um Instrumente, den im Parlamentsgesetz zum Ausdruck kommenden demokratischen Mehrheitswillen in eine Verfassungsordnung einzubinden, die Machtmissbrauch und grenzenlose Gestaltungsfreiheit verhindert. Vor allem drei Instrumente werden diskutiert, die sich in ihrem Grundanliegen – counter-majoritarian – treffen, aber doch eigenständig wirken könnten: – entrenchment für Teile der parlamentarischen Gesetzgebung, das heißt ein normativer Schutz bestimmter gesetzlicher Grundentscheidungen vor späterer Rücknahme durch einfache Mehrheitsentscheidung im Parlament (II.); – gerichtliche Normenkontrollkompetenzen in Bezug auf das Parlamentsgesetz (III.);
and Religion, 2011, insb. S. 59 ff. bzw. S. 70 ff. zur Church of Scotland, sowie M. Morris (Hg.), Church and State in 21st Century Britain, 2009). 44 Constitutional Reform Act 2005, dazu im Vorfeld G. Sydow, ZaöRV 64 (2004), 65 ff.; zur vorangehenden Reformdiskussion Lord J. Steyn, Law Quarterly Review 2002, 382 ff., D. Oliver, Constitu tional Reform in the UK, 2003, S. 345 ff. 45 Human Rights Act 1998, House of Lords Act 1999, Political Parties, Elections and Referendums Act 2000, Constitutional Reform Act 2005, Fixed-term Parliaments Act 2011. 46 R. Gordon, Repairing British Politics, 2010, S. 9 : „Written Constitutions necessarily embody the idea of constitutional supremacy […] The term constitutional supremacy […] expresses the idea that the Constitution is the supreme law of the land, is derived from the people, and cannot, at least in its fundamental features, be altered save (if at all) by wide popular consent.“ 47 So A. Blick, Beyond Magna Carta, 2015, S. 201. 48 Etwa D. Oliver (Fn. 4 4), im Titel und passim. 49 O. Lepsius, JöR 57 (2009), 559 (563 ff.).
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– schließlich eine geschriebene, kodifizierte Verfassung (IV.), die entrenchment und gerichtliche Normenkontrollkompetenzen begründen könnte, dafür aber nicht Voraussetzung ist. Der Hauptunterschied zwischen den Reformansätzen liegt in der Frage, wer die jeweilige Reformagenda verwirklichen könnte: das Parlament im Wege einer Selbstbindung für die eigene Gesetzgebung oder auch im Wege der Zuweisung von Normenkontrollkompetenzen an die Gerichte; die Höchstgerichte, primär der Supreme Court, durch richterliche Selbstermächtigung unter Berufung auf das common law; oder schließlich in einem Akt der Verfassungsgebung ein pouvoir constituant, für den indes nicht selbstverständlich ist, dass es sich um das britische Volk handeln müsste.
II. Strukturreform durch Änderungsfestigkeit gesetzlicher Grundentscheidungen (entrenchment) 1. Bedeutung des entrenchment-Konzepts Das entrenchment-Konzept bündelt im britischen Verfassungsrecht Fragen, die in Deutschland unter den Stichworten Vorrang und Normativität der Verfassung, Normenhierarchie und qualifizierte Mehrheiten diskutiert werden. Entrenching hat eine Ursprungsbedeutung in militärischen Kontexten und bezeichnet dort das Verschanzen. In übertragener Bedeutung ist entrenching häufig negativ assoziiert im Sinne einer Verknöcherung von Ideen. Als verfassungsrechtlicher terminus technicus bezeichnet es ohne wertende Konnotationen Möglichkeiten, die Änderung und Auf hebung von grundlegenden Parlamentsgesetzen zu erschweren und sie dazu von besonderen Verfahrens- oder Mehrheitsverhältnissen abhängig zu machen. Das Konzept der Normenhierarchie ist zwar für das Verhältnis von Parlamentsrecht und abgeleiteter, exekutiver Rechtsetzung vorhanden (primary/secondary legislation), nicht aber als Institut des Verfassungsrechts. Auch die Reformdiskussion fasst das Reformziel dementsprechend kaum als Hierarchisierungsfrage auf, sondern diskutiert die Sachfragen unter dem Aspekt der parlamentarischen Selbstbindung oder der Bindung des Parlaments an Referendumsergebnisse. Die Überlegungen zielen darauf, eine Unterscheidung zu begründen zwischen Parlamentsgesetzen, die mit einfacher Mehrheit geändert und wieder aufgehoben werden können, und solchen Parlamentsgesetzen, die nur unter erschwerten Bedingungen revidierbar sind. Wenn dies gelingt, wäre ohne hierarchische Differenzierung eine Unterscheidung zwischen einfachen Gesetzen und Verfassungsgesetzen möglich, die nicht nur deskriptiv ist oder an den materiellen Gesetzesinhalt anknüpft, sondern die unterschiedliche Rechtsregime für die beiden Arten von Gesetzen etablieren würde: Verfassungsgesetze wären zwar nicht durch Vorrang gegenüber anderen Parlamentsgesetzen qualifiziert, wohl aber durch erhöhte Voraussetzungen für ihre Änderung. Ob eine solche erschwerte Änderbarkeit rechtspolitisch wünschenswert, im Rahmen der britischen Verfassung überhaupt denkbar oder nicht vielmehr bereits seit langem etabliert ist, ob sie ohne revolutionären Bruch mit der Doktrin der Parlamentssouveränität eingeführt werden könnte oder besser auf sie verzichtet würde, all
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dies sind Grundsatzfragen der gegenwärtigen Verfassungsdiskussion. Je nach Position kann die Parlamentssouveränität als continuing oder als self-embracing qualifiziert werden.50 Neben dem Erlass einer geschriebenen Verfassung kommt auch ein entrenchment einzelner Gesetze in Betracht, und zwar auf unterschiedlichen Wegen: entrenchment durch das Volk im Wege von Referenden oder entrenchment durch das Parlament im Wege einer normativ wirkenden Selbstbindung. Der erste Fall betrifft Gesetze, die durch ein Referendum gebilligt worden sind und daher der Auf hebung durch einen alleinigen Gesetzgebungsakt des Parlaments entzogen sein sollen. Der zweite Fall betrifft Parlamentsgesetze, die im üblichen parlamentarischen Verfahren zu Stande gekommen sind, deren Auf hebung in diesem Verfahren aber nicht mehr möglich sein soll, weil das Parlament sich selbst den Rückweg verbaut hat. Wie zentral das Konzept des entrenchment für britisches Verfassungsdenken ist, zeigt sich beispielsweise an den Diskussionen über diejenigen Gesetze des Westminster Parliament, die 1998 eigene Gesetzgebungs- und Exekutivinstitutionen in Schottland, Nordirland und Wales geschaffen haben. Alle Reformforderungen zielen stets darauf, die bestehende Gesetzgebung festzuschreiben, etwa durch eine britische Verfassung, deren Einzelbestimmungen über die schottischen, nordirischen und walisischen Institutionen der Disposition des britischen Gesetzgebers entzogen wären.51 Es geht also um entrenchment. Letztlich muss man sagen: Es geht lediglich um entrenchment, nämlich für die gesetzlichen Entscheidungen des Londoner Parlaments zu Gunsten der Regionalparlamente, jedenfalls soweit nicht sogleich die Radikallösung einer schottischen Unabhängigkeit verfochten wird. Andere Konzepte außer einem entrenchment für die Londoner Gesetzgebung, die zum Schutz der Regionalautonomie durchaus naheliegen könnten und entrechment für die Londoner devolution-Gesetzgebung überflüssig machen könnten, sind außerhalb jeder Diskussion: Das gilt insbesondere für die Möglichkeit einer Verfassungsautonomie für Schottland, Nordirland und Wales, wie sie den deutschen Bundesländern im Rahmen des Grundgesetzes zukommt. So zentral das Konzept des entrenchment für die Verfassungsreformdiskussion ist, so sehr bleibt vage, auf welche Parlamentsgesetze sich dies im Einzelnen beziehen müsste. Je nach Grundposition zu den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen des entrenchment bedeutet dies: Es bleibt vage, welche Parlamentsgesetze bereits nach geltendem Verfassungsrecht nur unter erschwerten Voraussetzungen zu ändern sind beziehungsweise für welche Gesetze dies durch Verfassungsreform eingeführt werden sollte. Teilweise wird auf materielle Kriterien im Sinne einer grundlegenden Bedeutung des Gesetzes für die Rechtstellung des Einzelnen oder für die staatlichen Institutionen und Verfahren abgestellt.52 Teilweise gibt es formale Kriterien, die sich auf 50 J. Goldsworthy (Fn. 5 ), S. 106 ff., S. 112 mit der aufschlussreichen Unterscheidung zwischen schwacher These der continuing sovereignty des Parlaments (das Parlament könne seine Souveränität nicht selbst begrenzen) und starker These der continuing sovereignty (es gebe überhaupt keine Möglichkeit, die Souveränität des Parlaments „lawfully“ zu begrenzen oder abzuschaffen); weitere Ausdifferenzierung der vertretenen Theorien auf S. 114 ff. 51 So hat der First Minister von Wales, Carwyn Jones, im März 2012 seine Forderung nach einer geschriebenen Verfassung für das Vereinigte Königreich und nach Einsetzung eines vorbereitenden Verfassungskonvents explizit mit der fehlenden verfassungsrechtlichen Absicherung dieser Gesetzgebung begründet: www.walesonline.co.uk/news/welsh-politics/welsh-politics-news/2012/03/01/uk. 52 So im Urteil, das die Kategorie der „constitutional statutes“ in die Diskussion eingebracht hat:
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das Zustandekommen des Gesetzes beziehen, oder eine Kombination von materiellen und formellen Kriterien. McLean schlägt beispielsweise drei sich überschneidende Kategorien von Gesetzen vor, für die eine erschwerte Änderbarkeit diskutabel sei: 53 – Gesetze, die der Umsetzung grundlegender völkerrechtlicher Verträge dienen (Beispiele: Acts of the Union 1706/07 zwischen England und Schottland, European Communities Act 1972, ggfs. auch der Human Rights Act 1998 als Inkorporation der EMRK); – Gesetze, die die Form oder das Verfahren künftiger Gesetzgebung ändern bzw. zu ändern versuchen (Beispiele: die Parliaments Act von 1911 und 1949, die das Vetorecht des House of Lords beschränkt haben); – Gesetze, die in einem Referendum gebilligt worden sind (Beispiele: Scotland Act 1998, Government of Wales Act 1998, Northern Ireland Act 1998; auch der European Communities Act 1972 müsste in diese Kategorie fallen). Die fehlende Verständigung über den Kreis der in Betracht kommenden Gesetze dürfte eine der Ursachen für den bunten Strauß an Positionen zur Frage sein, ob entrenchment wünschenswert und im Rahmen der britischen Verfassung möglich ist. Denn für manche Gesetze lassen sich Begründungen für entrenchment in einem besonderen Verfahren finden, in dem das Gesetz zu Stande gekommen ist (Billigung durch Referendum). Für andere, parlamentsbeschlossene Gesetze fällt dieser Begründungsansatz aus. Für sie können Grundlage für das entrenchment aber möglicherweise besondere Zuständigkeits- oder Verfahrensregelungen sein, die ein Gesetz für die künftige Gesetzgebung zu einer bestimmten Frage vorschreibt.
2. Entrenching für die Gesetzgebung durch Referenden Zur Herstellung von entrenchment bietet sich das Instrument des Referendums an: Ein Gesetz (oder auch andere Entscheidungen, die nicht der Gesetzesform bedürfen), das durch ein Referendum gebilligt ist, hat eine besondere demokratische Legitimation, aus der eine besondere Verbindlichkeit resultieren könnte. Nach dem gegenwärtigen Entwicklungsstand des britischen Verfassungsrechts ist eine normativ wirkende, verfassungsrechtliche Bindung des parlamentarischen Gesetzgebers durch Referenden allerdings nicht erreichbar. Gleichwohl ist die heutige Bedeutung von Referenden für die britische Demokratie höchst bemerkenswert, deren Demokratiekonzeption bis vor kurzem ausschließlich parlamentszentriert war.54 Im tradierten britischen Demokratieverständnis war für Referenden kein Platz. Das erste landesweite Referendum in Großbritannien wurde erst 1975 abgehalten: zur Frage des Verbleibs in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der GroßbriThoburn v. Sunderland City Council, [2003] QB 151 (186 f.): grundlegende Bestimmungen über das Verhältnis von Bürger und Hoheitsgewalt, Einschränkungen oder Erweiterungen grundrechtlicher Gewährleistungen. 53 I. McLean, What’s wrong with the British Constitution?, 2010, S. 139; ähnlich, jedenfalls in Bezug auf die zweite und dritte Kategorie, V. Bogdanor (Fn. 12), S. 277 ff. 54 Umfassend M. Qvortrup, Direct Democracy, 2013, mit Einzelstudien zu konkreten Referenden, u.a. zum britischen Wahlrechtsreferendum von 2011, S. 108 ff.
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tannien 1973 beigetreten war. Damals war im Vorfeld noch ernsthaft diskutiert worden, ob ein souveränes Parlament überhaupt verfassungsrechtlich legitimiert sei, einem Referendum zuzustimmen, selbst wenn dessen Ergebnis nur politische, nicht aber juristische Bindungswirkung haben würde.55 Seit diesem ersten Referendum von 1975 hat sich eine Praxis entwickelt, nach der die großen Zukunftsfragen einer Volksabstimmung unterbreitet werden, zuletzt 2016 die Frage nach Austritt aus der Europäischen Union. Die Referendumspraxis ist eine grundlegend andere als in der Schweiz, in der seit 1848 knapp 600 Volksabstimmungen stattgefunden haben, nicht selten über kleinteilige Sachfragen. In Großbritannien sind Referenden relativ seltene Ereignisse geblieben, eher seltener als Parlamentswahlen, dafür aber inhaltlich von weitreichender Bedeutung. Alle bisherigen Referendumsfragen waren materiell verfassungsrechtlicher Natur, die Referenden der Sache nach also Verfassungsreferenden: Es ging entweder um die föderale Staatsstruktur, um das Verhältnis zur Europäischen Union oder um Grundsatzfragen der Institutionen und der Funktionsweise des politischen Prozesses, beispielsweise um das Wahlsystem. Das könnte einem weltweiten Trend entsprechen, dass demokratische Staaten – auch solche ohne direktdemokratische Verfassungstradition – grundlegende Strukturfragen zunehmend einem Referendum unterwerfen.56 Der Verfassungsausschuss des House of Lords hat sieben Fallgruppen grundlegender Verfassungsfragen identifiziert, in denen Referenden als Instrument zur Legitimationsstärkung parlamentarischer Entscheidungen geboten seien: Auf hebung der Monarchie, Austritt aus der EU, Austritt aus dem Vereinigten Königreich, Abschaffung einer Parlamentskammer, Änderung des Wahlrechtssystems für das House of Commons, Annahme einer geschriebenen Verfassung und Austausch des Pfundes als britische Währung.57 Eine allgemeine gesetzliche Grundlage für Referenden ist erst im Jahr 2000 geschaffen worden, und zwar durch den Political Parties, Elections and Referendums Act 2000.58 Dieser gesetzliche Rahmen muss jeweils durch ein konkretes Referendumsgesetz aktualisiert werden, das im Einzelfall die Abstimmungsfrage und den Abstimmungszeitpunkt festlegt. Gleichwohl sind Referenden zwar durchaus, aber nicht allein ein politisches Instrument in der Hand von Regierung und Parlamentsmehrheit, die sie anberaumen können, um geplanten Entscheidungen eine besondere Legitimität zu verschaffen. Vielmehr sind Referenden verschiedentlich auch gegen die Interessen der jeweiligen Regierungsmehrheit durchgesetzt worden. Ein solcher politischer Druck war in Schottland vor dem schottischen Referendum von 2014 aufgebaut worden, dessen Kompetenzgrundlage überhaupt erst durch das Londoner Parlament geschaffen werden musste.59 Der überwältigende Wahlsieg der schotti Zur damaligen Diskussion V. Bogdanor (Fn. 12), S. 173, dort (S. 179) auch Übersicht über alle bisherigen Referenden mit Beteiligung und Abstimmungsergebnis. 56 Zu möglichen Gründen dieses Trends: S. Tierney (Fn. 1), S. 6 ff. 57 House of Lords Select Committee on the Constitution, Referendums in the United Kingdom (HL 2009–10), Chapter 6, Conclusion, Rn. 206. 58 Part VII Political Parties, Elections and Referendums Act 2000; dazu im einzelnen C. Turpin/A. Tomkins, British Government and the Constitution, 6. Aufl. 2007, S. 533 ff. 59 Der Anberaumung eines Unabhängigkeitsreferendums durch die schottische Regierung stand der Scotland Act 1998, sec. 29 i.V.m. schedule 5, Part I, No. 1, entgegen; danach hätte gelten müssen: „The 55
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schen Nationalpartei bei den schottischen Regionalwahlen von 2011 hatte hier eine Erwartungshaltung erzeugt, dem sich die Londoner Regierung gebeugt hat.60 Ähnliches galt für das Wahlversprechen D. Camerons, ein EU-Referendum anzuberaumen, das er ohne grundlegenden Reputationsverlust nicht mehr hätte zurücknehmen können. Es gibt im britischen Recht keinen Verfassungssatz, nach dem ein durch Referendum bestätigtes Gesetz nur im Wege eines erneuten Referendums aufgehoben werden kann, und auch nur ansatzweise ein erstes Präjudiz, das Grundlage einer entsprechenden Verfassungskonvention werden könnte: Nachdem der European Communities Act von 1972 nachträglich durch ein Referendum gebilligt worden war, beruht auch die Brexit-Entscheidung von 2016 auf einem Referendum, das nicht nur Legitimationsgrundlage für den EU-Austritt, sondern ebenso für die zeitgleich geplante innerstaatliche Auf hebung des European Communities Act sein könnte. Von daher wird in diesem Fall ein korrespondierendes Verfahren für den actus contrarius beschritten und die Gesetzgebung jeweils durch ein Referendum abgestützt. Doch dies beruht (noch) nicht auf Rechtsüberzeugung, dass ein solches korrespondierendes Verfahren verfassungsrechtlich geboten sei. Die Bindungswirkung von Referenden ist demnach nur eine politische. Ein besonderes anschauliches Lehrstück über diese politische Bindungswirkung und ihre Grenzen bietet das schottische Unabhängigkeitsreferendum von 2014.61 Es war nach 1978 und 1997 bereits die dritte Abstimmung zur Stellung und Zukunft Schottlands im Staatsgefüge des Vereinigten Königreichs.62 Mit dem Hinweis auf langfristige politische Bindungswirkungen eines Referendums hatte die Scottish National Party und auch die von ihr dominierte schottische Regierung vor dem Referendum dafür geworben, die auf lange Sicht einmalige Chance zur Unabhängigkeit tatsächlich zu ergreifen.63 Mit dieser Überlegung hatte wohl auch die britische Regierung dem Referendum letztlich zugestimmt, um durch ein ablehnendes Votum das Thema einer schottischen Unabhängigkeit aus der Diskussion zu bekommen, das ohne Referendum offenbar nicht zu befrieden war. Das Abstimmungsergebnis hätte somit die Unabhängigkeitsfrage langfristig klären und zugleich das politische Aus für die SNP bedeuten können. Unter dem unmittelbaren Eindruck der Abstimmungsniederlage hat Salmond dementsprechend seinen Rücktritt als Parteivorsitzender und Erster Minister Schottlands erklärt.
following aspects of the constitution are reserved matters [scil. reserviert für eine Gesetzgebung des Westminster Parliament], that is […] (b) the Union of the Kingdoms of Scotland and England […].“ 60 Ergänzung des Scotland Act im Wege exekutiver Rechtsetzung durch das Statutory Instrument 2013 No. 242, The Scotland Act 1998 (Modification of Schedule 5) Order 2013; zu diesem konsensualen Weg, Möglichkeiten einer schottischen Unabhängigkeit auszuhandeln: S. Tierney (Fn. 1), S. 148. 61 Dazu ausführlich T. Mullen, European Public Law 2016, 187 ff., sowie im Vorfeld bereits S. Tierney, in: M. Qvortrup (Hg.), The British Constitution, 2013, S. 141 ff. 62 1978 ohne, 1998 mit deutlicher Mehrheit für die (als devolution bezeichnete) Übertragung von Legislativ- und Exekutivkompetenzen auf die in Edinburgh errichteten Institutionen. Zur Geschichte des schottischen Strebens nach größerer Selbstbestimmung und ggfs. Unabhängigkeit S. Tierney (Fn. 61), S. 141 (143 ff.). 63 Konsultationspapier zur Vorbereitung des Referendums: The Scottish Government, Consultation Paper „Your Scotland, your Referendum“, Januar 2012, abruf bar unter www.gov.scot.
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Nur wenig später haben die Unabhängigkeitsbefürworter in Schottland indes ihre Haltung zur Bindungswirkung des verlorenen Referendums grundlegend geändert. Sie agieren seitdem nach der Maxime, nach dem Referendum sei vor dem nächsten Referendum. Es wäre das vierte Schottlandreferendum innerhalb von vier Jahrzehnten. Zwei Entwicklungen haben es aus ihrer Sicht gerechtfertigt, diesen raschen Meinungswandel nicht als Desavouierung des schottischen Volkswillens zu interpretieren: Die SNP hat in den Tagen und Wochen nach der verlorenen Abstimmung eine Welle an Neueintritten verzeichnet, und sie hat bei den nachfolgenden nationalen Wahlen im Frühsommer 2015 – mit Salmond nun als Spitzenkandidaten für das Londoner Parlament – einen überwältigenden Wahlsieg errungen. Sie stellt seitdem mit 56 von 59 fast alle schottischen Abgeordneten des House of Commons. Das (mehrheitlich englische) Votum für den Brexit im Jahr 2016 gegen eine deutliche Stimmenmehrheit in Schottland hat aus schottischer Sicht vollends eine grundlegend veränderte Situation geschaffen. Die Frage nach einem erneuten schottischen Referendum über den Austritt aus dem Vereinigten Königreich zwecks Verbleibs in der EU ist seitdem allein eine Frage nach seiner politischen Opportunität. Es ist letztlich also nicht so, dass eine politische Grundsatzfrage nach einem eindeutigen Referendum politisch für den Zeitraum einer Generation als entschieden gilt. Vielmehr ermöglichen es veränderte Umstände – und sei dies nur eine neu gewonnene politische Stärke der unterlegenen Referendumspartei wie im Falle der SNP nach dem Schottland-Referendum –, politisch die Forderung nach einem erneuten Referendum zur selben Fragen zu erheben, ohne dass eine solche Forderung als illegitime Desavouierung des Volkswillens angesehen wird. Dass die SNP diese Forderung gegenwärtig nicht offen erhebt, hat nichts mit der politischen Bindungswirkung des letzten Referendums zu tun, sondern ausschließlich mit dem Blick auf Umfragewerte. Premierministerin May dürfte eben aus diesem Grund gegenwärtig nicht müde werden zu betonen, dass Brexit Brexit bedeute. Das hat inhaltlich ohne Zweifel etwas Tautologisches, soll aber vor allem die (offenbar fragile) Bindungswirkung des Austrittsreferendums bekräftigen. Denn wenn es so eindeutig wäre, dass das recht eindeutige Brexit-Votum wenn schon nicht rechtlich, so doch jedenfalls politisch bindend ist und zum EU-Austritt führen muss, müsste diese Bindungswirkung ja nicht ständig betont werden. Eine offene Diskussion ist gegenwärtig zwar nicht über die Frage erkennbar, was denn veränderte Umstände sein könnten, die eine Forderung nach einem erneuten EU-Referendum tragen könnten. Wenn aber im Laufe des zweijährigen Verhandlungsprozesses Arbeitslosenzahlen steigen, die Wirtschaftsleistung einbricht oder auch Umfrageergebnisse eine geänderte Einstellung zur EU erkennbar werden lassen, dann könnte sich die bisherige Eindeutigkeit und Entschiedenheit schnell auflösen. An diesen Beispielen zeigt sich, dass Referenden – je nach Konstellation – sogar ein ausgesprochen schwaches Instrument sein können, um politische Bindungen zu bewirken, und zwar selbst dann, wenn die Beteiligung hoch und das Ergebnis relativ deutlich war. Jedenfalls liegen die politischen Hürden nicht übermäßig hoch, wenn es um die Überlegung geht, ob ein Referendumsergebnis nicht durch ein erneutes Referendum zur selben Frage noch einmal revidiert werden könnte. Referenden mit geringer Beteiligung und knappem Abstimmungsergebnis begründen nicht einmal
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eine belastbare Erwartung, dass sie jedenfalls zunächst einmal beachtlich wären: Es sei gerade Aufgabe von Parlament und Regierung, die Aussagekraft eines solchen Referendumsergebnisses in eigener Verantwortung zu interpretieren. Politische Bindungswirkung entstehe erst bei hoher Beteiligung und eindeutigem Ergebnis.64
3. Entrenchment durch referendum locks: parlamentarische Selbstbindungen? Das Instrument des Referendums kann auf eine weitere Weise zum entrenchment eingesetzt werden: nicht dadurch, dass es abgehalten wird und so eine – überwindbare – politische Bindung erzeugt, sondern paradoxerweise im Gegenteil dadurch, dass niemand es anberaumt. Auf diese Weise sollen – mit rechtlicher Bindungswirkung – bestimmte gesetzliche Grundentscheidung vor einfacher Änderung geschützt werden. Dazu wird dem Gesetz ein Schloss angehängt: das Erfordernis eines Referendums für den Fall der Gesetzesänderung, und zwar in der Annahme, ein solches Referendum werde angesichts fehlender Erfolgsaussichten nie abgehalten werden. Dieser Ansatz wirft die Frage auf, ob das Parlament sich selbst mit normativer Verbindlichkeit daran hindern kann, eine gesetzliche Entscheidung später wieder mit einfacher Mehrheit im House of Commons zu revidieren. Dicey hatte – unter anderen institutionellen Voraussetzungen als heute – die Auf hebung jedes Gesetzes problemlos für möglich gehalten. Da das House of Lords und der Monarch inzwischen als Schutzgaranten für grundlegende Freiheitsrechte ausfallen, müssen alternative Konstruktionen entwickelt werden, um die Mehrheit im House of Commons an die Zustimmung anderer Vetoplayer rückzubinden. Der britische Gesetzgeber hat zu diesem Zweck in den letzten Jahren verschiedene gesetzliche Referendumspflichten normiert. So hat der Scotland Act 2016 unter der Überschrift „Permanence of the Scottish Parliament and Scottish Government“ eine Regelung eingeführt, deren politischer Sinn zweifellos die dauerhafte Absicherung der schottischen Institutionen ist. Ihre Existenz wird aber nicht verfassungsrechtlich durch eine Ewigkeitsklausel nach dem Muster des Art. 79 III GG oder Art. 89 V der französischen Verfassung garantiert, sondern auf gesetzlicher Ebene stärker als bislang abgesichert, nämlich durch ein Referendumserfordernis für den Fall einer Auf hebung der gesetzlichen Grundlagen.65 Solche gesetzlich begründeten Referendumspflichten bestehen nicht nur für eine Auflösung des schottischen Parlaments und der V. Bogdanor (Fn. 12), S. 194, unter Verweis auf entsprechende britische Staatspraxis. Sec. 1 Scotland Act 2016 mit Einfügung von sec. 63A (3) in den Scotland Act 1998: „Permanence of the Scottish Parliament and Scottish Government: (1) The Scottish Parliament and the Scottish Government are a permanent part of the United Kingdom’s constitutional arrangements. (2) The purpose of this section is, with due regard to the other provisions of this Act, to signify the commitment of the Parliament and Government of the United Kingdom to the Scottish Parliament and the Scottish Government. (3) In view of that commitment it is declared that the Scottish Parliament and the Scottish Government are not to be abolished except on the basis of a decision of the people of Scotland voting in a referendum.“ Zu den Auseinandersetzungen über die Bindungswirkung dieser Klausel T. Mullen, European Law Review 2016, 187 (195 ff.). 64 65
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schottischen Regierung, sondern auch für einen Austritt Nordirlands aus dem Vereinigten Königreich, für die Errichtung einer Regionalversammlung in England, für die Übertragung von Gesetzgebungsrechten auf die Nationalversammlung in Wales und für die Übertragung weiterer Kompetenzen auf die Europäische Union – ein Szenario, das sich durch den beabsichtigten EU-Austritt erledigen dürfte.66 Die Attraktivität dieser Konzeption liegt aus Sicht ihrer Anhänger darin, dass mit ihr eine erhöhte normative Bestandskraft für verfassungsrechtliche Grundentscheidungen geschaffen werden kann, ohne dass dafür die Gestaltungsmacht der demokratisch gewählten Parlamentsmehrheit aufgegeben werden müsste.67 Die Kompetenz zum entrenching wird nämlich dem Parlament selbst zugeschrieben: Das Parlament könne unter Geltung der Parlamentssouveränität eben doch – entgegen der These Diceys – seinen Nachfolger binden. So sprechend die zum Fachausdruck gewordene Metapher für diese Referendumspflichten ist – referendum locks: das Referendum als Schloss, das die Norm vor einer Auf hebung durch alleinigen Parlamentsbeschluss sichert –, so unsicher sind die verfassungsrechtliche Grundlage und die Bindungswirkung dieser Regelungen. Denn wie soll die Parlamentsgesetzgebung eine Selbstbindung bewerkstelligen, wenn sie nicht auf das Konzept der Normenhierarchie zurückgreifen kann? Die klassische Antwort lautet unter Verweis auf Diceys Postulat des „Parliament cannot bind its successor“: Es gibt im Rahmen der britischen Verfassung keine Möglichkeit zur parlamentarischen Selbstbindung. Die Gegenauffassung postuliert, dass ein Parlamentsgesetz Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen für die Gesetzgebung in einem bestimmten Sachbereich festlegen kann. Diese Zuständigkeits- und Verfahrensregeln sollen dann nicht nur für künftige Gesetzgebung gelten, die auf einem solchen Gesetz beruht, sondern für den gesamten vom Gesetz angesprochenen Sachbereich, also auch für eine Auf hebung des Gesetzes selbst. Diese Grundüberlegung geht auf Ivor Jennings in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück und wird unter dem Begriff „manner-and-form“-Theorie oder auch „self-embracing“-Theorie(n) weitergeführt; das Theoriegebäude ist mittlerweile in hohem Maße ausdifferenziert.68 Verfechter dieses Ansatzes können mittlerweile auf den Fall Jackson aus dem Jahr 2005 verweisen, das meistdiskutierte Urteil des House of Lords des 21. Jahrhunderts.69 Es ist einerseits deshalb von grundlegender Bedeutung, weil das höchste Gericht in diesem Urteil ohne Umschweife die Geltung eines britischen Parlamentsgesetzes einer gerichtlichen Überprüfung unterzogen, also eine entsprechende Normprüfungsund -verwerfungskompetenz in Anspruch genommen hat. Andererseits enthält das Urteil hochinteressante Passagen zur parlamentarischen Selbstbindung und Modifikation der Doktrin der Parlamentssuprematie.
Zu den gesetzlichen Grundlagen: V. Bogdanor (Fn. 12), S. 179. Durchgängiger Grundgedanke bei M. Gordon, Parliamentary Sovereignty in the UK Constitution, 2015; dazu vorsichtig kritisch die Rezension durch A. Young, Public Law 2016, 367 ff. 68 Goldsworthy (Fn. 5 ), S. 114 ff., unterscheidet vier Subtheorien. 69 Jackson and others v. Her Majesty’s Attorney-General, [2005] UKHL 56; [2006] 1 AC 262; dazu u.a. M. Elliott, CLJ 2006, 1; A. Young, Public Law 2006, 187 ff.; J. Jowell, Public Law 2006, 562 ff.; T. Mullen, Legal Studies 2007, 1 ff.; R. Masterman, The Separation of Powers in the Contemporary Con stitution, 2011, S. 105 ff. 66 67
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Das Urteil im Fall Jackson betrifft die Gültigkeit des Hunting Act 2004. Er war vom Parlament in einem besonderen Verfahren – gestützt auf die Parliament Acts von 1911 und 1949 – beschlossen worden. Der Parliament Act 1911 hatte die Zustimmung des House of Lords für einen Gesetzesbeschluss für verzichtbar erklärt, wenn das House of Commons der Gesetzesvorlage in drei Parlamentssessionen über einen Zeitraum von zwei Jahren zugestimmt hatte. Faktisch bedeutete das eine Rückstufung der Kompetenzen des House of Lords auf ein zweijähriges Vetorecht. Der Parliament Act 1949, seinerseits gestützt auf das Verfahren des Parliament Act 1911, hatte dieses Vetorecht auf ein Jahr (zwei Parlamentssessionen) verkürzt. Die Kläger hatten vorgetragen, der Parliament Act 1911 habe die Rechtsetzungsbefugnisse des Gesamtparlaments auf das House of Commons delegiert; das House of Commons habe diese delegierten Befugnisse nicht einseitig ohne Ermächtigung durch den Ermächtigungsgeber ausweiten können. Damit sei bereits der Parliament Act 1949 ungültig und demzufolge auch der hierauf gestützte Hunting Act 2004. Das House of Lords ist dem nicht gefolgt, sondern hat den Hunting Act für gültig erklärt. Denn der Parliament Act 1911 habe keine Gesetzgebungsbefugnisse auf einen untergeordneten Gesetzgeber delegiert, sondern ein zweites, paralleles Verfahren zum Erlass von Parlamentsgesetzen geschaffen. Das Urteil im Fall Jackson betrifft zwar keine entrenchment-Konstellation, sondern umgekehrt Erleichterungen der Gesetzgebung durch gesetzlichen Ausschluss eines Vetoplayers. Wenn es aber möglich ist, durch einfaches Parlamentsgesetz ein neues, erleichtertes Verfahren zum Erlass von Parlamentsgesetzen zu schaffen, müsste auf diese Weise die Gesetzgebung auch durch zusätzliche Zustimmungserfordernisse erschwert werden können, insbesondere also durch ein Referendumserfordernis. V. Bogdanor hat zur Erklärung der Bindungswirkung gesetzlicher referendum locks einen alternativen Vorschlag in die Diskussion eingebracht, der mit verschiedenen Parlamentsbegriffen arbeitet und so daran festhalten kann, dass stets das Parlament souveräner Gesetzgeber sei: Im Regelfall bestehe das Parlament als oberster Gesetzgeber aus dem Monarchen und beiden Parlamentskammern, ausgedrückt in der Formel Queen in Parliament. Dieser Gesetzgeber könne mit bindender Wirkung für die Zukunft neu definieren, wer das Parlament sei. So seien die Parliament Acts von 1911 und 1949 so zu verstehen, dass das Parlament unter den Voraussetzungen der Parliament Acts nur noch aus dem House of Commons und der Queen bestehe. Auch die Gesetze, die für bestimmte Sachfragen Referendumspflichten einführen, definieren nach dieser Konzeption den für die jeweilige Sachfrage zuständigen Gesetzgeber neu. Bogdanor hält daran fest, dass diese verschiedenen Gesetzgeber stets das zur Gesetzgebung befugte Parliament seien, freilich in unterschiedlichen Zusammensetzungen. Konsequenterweise geht er so weit, in den einer Referendumspflicht unterliegenden Sachverhalten von einer zusätzlichen Parlamentskammer zu sprechen, nämlich dem Volk, und so ein vierteiliges Parlament aus Queen, zwei Kammern und dem Volk zu konstruieren.70 In den Sachbereichen, die durch die Parliament Acts bzw. durch referendum locks erfasst sind, sei das Parlament in seiner ursprünglichen, dreiteiligen Zusammensetzung als Queen in Parliament nicht mehr vorhanden. Das Parlament ist 70 V. Bogdanor (Fn. 12), S. 278 ff.: „It creates, in effect, an extra chamber of parliament comprising in addition to the Queen, the Lords and the Commons, the people.“ (S. 280).
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vielmehr ein Verwandlungskünstler: Durch eigene Entscheidung hat sich eine dreiteilige Institution (House of Commons, House of Lords, Queen) je nach Sachbereich in eine zweiteilige (House of Commons und Queen) oder auch in eine vierteilige Institutionen verwandelt (Aufnahme des Volkes in den Parlamentsbegriff ). Da seit 2016 eine schottische Referendumsmehrheit erforderlich ist, um bestimmte Regelungen eines britischen Gesetzes zu ändern,71 müsste Bogdanor konsequenterweise annehmen, dass sich das britische Parlament in diesem Fall aus der Queen, den beiden Londoner Parlamentskammern und dem schottischen Volk zusammensetze. Diese Konstruktion – das Volk als zusätzliche Parlamentskammer – mag gewagt wirken. Sie liegt aber für das in Großbritannien verbreitete institutionelle Verfassungsdenken nicht unbedingt fern. Ihr Sinn besteht wie bei der manner-and-form-Theorie darin, dass sie eine Rücknahme der veränderten Kompetenzordnung durch das Parlament in seiner ursprünglichen Zusammensetzung verhindern soll. Das Parlament hat je nach Variante dieser entrenchment-Theorien demnach die Fähigkeit, die Kompetenzregeln für die künftige Gesetzgebung sektoral zu modifizieren oder seine eigene Komposition umzudefinieren. Legt man das Urteil Jackson zur mehrstufigen Gesetzgebung durch die Parliament Acts von 1911 und 1949 und den Hunting Act von 2004 zu Grunde, hat das Parlament auch die Fähigkeit zur eigenständigen Weiterverwandlung. Nur rückholbar soll dies nicht mehr sein, jedenfalls nicht durch das ursprüngliche dreiteilige Parlament. Die Verwandlungskunst des Parlaments gleicht R. L. Stevensons Dr. Jeckyll, dem am Ende der Erzählung die Fähigkeit fehlte, seine Verwandlung in Mr. Hyde noch einmal rückgängig zu machen.72 Der manner-and-form-Theorie könnte indes ein konstruktiver Denkfehler durch Rückbezug der Gesetzesfolgenanordnung auf die Geltungsbedingungen des Gesetzes zu Grunde liegen. Kritiker halten die Theorie deshalb für zirkulär begründet und für unvereinbar mit der Doktrin der Parlamentssouveränität.73 So bestechend diese Einwände erscheinen – die Theorie hat ein zentrales Urteil des House of Lords auf ihrer Seite. Sie entspricht augenscheinlich auch der Verfassungsüberzeugung des Parlaments selbst, das mit dem Scotland Act 2016 eine weitere Selbstverwandlung vorgenommen bzw. eine weitere Veränderung der Gesetzgebungskompetenzen normiert hat. Daraus lassen sich zwei gegensätzliche Folgerungen ziehen: Entweder ist das Jackson-Urteil ein Fehlurteil und sind die gesetzlichen referendum locks rechtlich unwirksam, weil sich jedes spätere Parlament mit einer lex posterior über sie hinwegsetzen kann. Oder die entsprechende Rechtsprechung und Gesetzgebung sind Ausdruck einer grundsätzlichen Veränderung der Grundstruktur der Verfassung, deren zentrale Doktrin dann nicht mehr die Parlamentssouveränität ist. Wer in binären Kodierungen denkt, muss diese Fragen für entscheidungsbedürftig halten. Britische Verfassungsrechtler neigen, wie eingangs aufgezeigt, zu einem evolutiven Denken, das vieles in einer vagen Offenheit belässt, insbesondere den aktuellen Punkt der Entwicklung: Die unbestrittene und unbeschränkte Geltung des lex-posterior71 Sec. 1 Scotland Act 2016 für eine Auf hebung von schottischem Parlament und schottischer Regierung, deren Rechtsgrundlage im Scotland Act 1998 – einem Gesetz des Westminster Parliament – liegt. 72 R. L. Stevenson, Dr. Jeckyll and Mr. Hyde, 1886. 73 Ausführliche Diskussion der Haltbarkeit der manner-and-form-Theorie bei M. Gordon (Fn. 67), S. 57 ff., S. 193 ff.
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Grundsatzes sei gegenwärtig im Begriff, außer Gebrauch zu kommen und derogiert zu werden.74 Jenseits dieser unentschiedenen Frage, wie sich die Parliament Acts, das Jackson-Urteil und die referendum locks zur Doktrin der Parlamentssouveränität verhalten, ist der Ansatz, die Kompetenzordnung für die Gesetzgebung gerade durch Gesetzgebung zu ändern, auch politisch ambivalent und letztlich in sich widersprüchlich. Denn die Parliament Acts können zwar ohne weiteres als Stärkung des demokratischen Prinzips gelesen werden, indem sie die Mitwirkungsrechte des nicht gewählten House of Lords beschnitten haben. Die gesetzliche Einführung von referendum locks muss indes als Misstrauen gegenüber dem parlamentarischen System verstanden werden: Das demokratisch gewählte Parlament und die Regierung stehen offenbar im latenten Verdacht, sie könnten Dinge tun, die im Volk erkennbar ohne Mehrheit sind und die deshalb durch eine Referendumspflicht verhindert werden sollen. Das mag man so sehen und deshalb parlamentarische Entscheidungen an zustimmende Referenden binden wollen. Wenn dies die Grundüberlegung ist, erschließt es sich indes nicht, warum die Gestaltungsmacht für die Einführung dieser Bindungen ausgerechnet beim Parlament liegen sollte, dem das Misstrauen gilt. Es müsste dann eigentlich näherliegen, dem Parlament die Bindung an Referenden durch eine Verfassung vorzugeben, statt auf parlamentarische Selbstbindungen zu hoffen.
III. Strukturreform durch gerichtliche Normenkontrollen 1. Normenkontrollkompetenzen auf parlamentarischer Grundlage Verschiedene Reformgesetze der letzten Jahre weisen den britischen Gerichten Kontrollkompetenzen zu, die ihnen nach der Dicey’schen Lesart der Verfassung nicht zukommen konnten: Die Gerichte kontrollieren die Gesetzgebung der schottischen, nordirischen und walisischen Institutionen auf die Einhaltung der Kompetenzen, die ihnen die Gesetzgebung zur devolution übertragen hat. Denn die Gesetzgebung der Regionalparlamente gilt ebenso wie abgeleitete exekutive Rechtsetzung als secondary legislation, die stets der gerichtlichen Kontrolle unterliegt.75 Die Gerichte überprüfen zudem die Vereinbarkeit allen hoheitlichen Handelns mit den Gewährleistungen der EMRK. Dies schließt nach den Bestimmungen des Human Rights Act eine Kontroll-, nicht aber eine Verwerfungskompetenz gegenüber der Parlamentsgesetzgebung des Westminster Parliament ein.76 Solange Großbritannien EU-Mitglied ist, überprüfen die britischen Gerichte die Parlamentsgesetzgebung auf ihre Vereinbarkeit mit direkt anwendbarem Recht der Europäischen Union und setzen den Anwendungsvorrang des Europarechts durch.77 „[…] is falling into desuetude“: V. Bogdanor (Fn. 12), 2009, S. 282. Zur Zulässigkeit und den prozessualen Einzelheiten von Normenkontrollen über secondary legislation: O. Hood Phillips/P. Jackson/P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, 8. Aufl. 2001, S. 671, S. 729 f. 76 Sec. 4 Human Rights Act. 77 Vgl. die in Fn. 6 zitierten Urteile sowie Sydow (Fn. 6 ), S. 88 ff. 74
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Auch wenn diese gerichtlichen Kontrollkompetenzen stets auf rücknehmbaren Parlamentsgesetzen beruhen (Human Rights Act, Scotland Act, Northern Ireland Act, European Communities Act), verändern sie in der Summe das Verhältnis zwischen Parlament und Gerichten.78 Die institutionelle Reform der obersten Gerichtsbarkeit – Herauslösung aus dem House of Lords durch Errichtung des Supreme Court – kann als Ausdruck und Konsequenz dieser veränderten Funktion der Gerichtsbarkeit verstanden werden.
2. Auslegungsregeln für Parlamentsgesetze Die Gerichte hatten schon lange vor den gesetzlich initiierten Verfassungsreformen seit 1998 Auslegungsregeln für die Parlamentsgesetzgebung entwickelt. Eine dieser Auslegungsregeln bewirkt im Ergebnis eine – überwindbare – Form von entrenchment: Danach sind implizite Änderungen bedeutsamer, materiell verfassungsrechtlicher Parlamentsgesetze durch nachfolgendes Parlamentsgesetz ausgeschlossen.79 Die Begründung für diese Auslegungsregel stützt sich auf die Vermutung, das britische Parlament habe üblicherweise nicht die Absicht, in Freiheiten einzugreifen oder gesetzliche Strukturentscheidungen en passant zu ändern. Sollte diese Absicht im Einzelfall doch bestehen, muss das Parlament dies durch eindeutige gesetzliche Bestimmungen deutlich machen. Diese Auslegungsregel wirkt im Ergebnis ähnlich wie das Zitiergebot für Grundrechtseinschränkungen nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG. Sie verleiht den grundlegenden Parlamentsgesetzen keinen normhierarchischen Vorrang gegenüber einfachen Parlamentsgesetzen. Aber sie führt zu einer erschwerten Änderbarkeit grundlegender gesetzlicher Regelungen. Denn ein späteres Gesetz müsste in bestimmter Weise qualifiziert sein, um das vorangehende Gesetz zu ändern – zwar nicht durch besondere Mehrheitserfordernisse, wohl aber durch eine explizite Bestimmung zur Änderung des vorangehenden Gesetzes. Auch diese Auslegungsregel bietet – wie die Lehren über parlamentarische Selbstbindung – eine Möglichkeit, innerhalb der nicht normhierarchisch differenzierenden Lehre der Parlamentssuprematie entrenchment für grundlegende Gesetzesbestimmungen zu erwirken. Da das letzte Wort beim parlamentarischen Gesetzgeber verbleibt, der die Wirkung der gerichtlichen Auslegungsregeln durch explizite Gesetzgebung auf heben kann, sind diese Auslegungsregeln unproblematisch mit der Parlamentssouveränität vereinbar und dementsprechend unstrittig.
78 Zu den Auswirkungen des Human Rights Act auf die legislative Souveränität des Parlaments A. Mason, in: R. Masterman/I. Leigh (Hg.), The United Kingdom’s Statutory Bill of Rights, 2013, S. 199 ff. 79 Ansatzpunkte schon in Nairn v. University of St. Andrews, [1909] AC 147, sodann R. v. Secretary of State for the Home Department, ex parte Pirson, [1998] AC 539 (587); Will v. Bowley, [1982] 2 All ER 654 (662); näher Sydow (Fn. 6 ), S. 84 ff.
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3. Gerichtliche Selbstermächtigung: Common-Law-Konstitutionalismus Einen – erheblichen – Schritt weiter würde es gehen, wenn die Parlamentsgesetz gebung entgegen dem traditionellen Verständnis der Parlamentssuprematie auch ungeschriebenen Bindungen aus dem common law unterläge. Damit würden Gewährleistungen des tradierten common law Vorrang vor der Parlamentsgesetzgebung ein geräumt, der auch gegenüber einer expliziten Gesetzesbestimmung gerichtlich durchgesetzt werden müsste. Während die Möglichkeit parlamentarischer Selbstbindungen der herrschenden Auffassung entsprechen dürfte, ist der common-law-Konstitutionalismus höchst strittig. Diese Lesart der britischen Verfassung wird von einigen prominenten Autoren vertreten, primär von Autoren, die hauptberuflich hohe Richterämter bekleiden. Sie können sich dabei auf einzelne obiter dicta in höchstrichterlichen Urteilen stützen, insbesondere im Urteil Fall Jackson: „In exceptional circumstances involving an attempt to abolish judicial review or the ordinary role of the courts, the Appellate Committee of the House of Lords or a new Supreme Court may have to consider whether this is a constitutional fundemental which even a sovereign Parliament acting at the behest of a complaisant House of Commons cannot abolish.“80 Im Rahmen des Common-Law-Konstitutionalismus ist für die Frage nach verfassungsgebender Gewalt kein Raum. An ihrer Stelle stehen zwei andere Fragen: einerseits nach den Prinzipien, die der Verfassung zu Grunde liegen, die sie tragen und die ihre Einzelregelungen zusammenbinden, andererseits nach den Wirksamkeitsbedingungen des Rechts. So eröffnet John Laws seine Studie über die „Common Law Constitution“ mit der Frage nach dem „unifying principle“ der britischen Verfassung, das er mit weitreichenden und höchst strittigen, wenn nicht provokativen Folgen im common law sieht.81 Laws spielt dabei mit Metaphern – Prisma, Schmelztiegel82 –, die den Eindruck erwecken, als bringe das common law alles Recht und alle Staatsgewalt hervor: „An Act of Parliament is words on a page. Only the common law gives it life.“83 Das common law wird damit nicht Geltungsgrund, wohl aber Wirksamkeitsbedingung von Recht. Dem liegt ein anderer Rechtsbegriff zu Grunde: Recht nicht als normative Sollensordnung, die auf Geltungsgrund und Grundnorm rückführbar ist, sondern Recht als law in action, dessen praktische Wirksamkeit im konkreten Fall betrachtet wird. Dafür benötigt man Gerichte, die das Parlamentsrecht erst zur Anwendung bringen und deren Existenz sich nach Laws Auffassung aus dem common law ableitet. Eine Verfassung, ein verfassungsgebender Akt, verfassungsgebende Gewalt sind in diesem Konzept nicht vorgesehen. Einwände gegen diese Lehre werden auf unterschiedlichen Ebenen vorgetragen: Politische Vorbehalte resultieren je nach politischen Präferenzen aus der Behauptung oder Befürchtung, der Common-Law-Konstitutionalismus begünstige Positionen, die eine Nähe zu politischen Überzeugungen der Konservativen haben. Als legitimatorischer Haupteinwand gegen den Common-Law-Konstitutionalismus gilt in der Regel, dass Parlamentarier gewählt und damit abwählbar sind, Richter hingegen auf Jackson (oben Fn. 69), para 102 (Lord Steyn); ähnlich para 159 (Baroness Hale). J. Laws (Fn. 26), S. 3, 4 ff. 82 J. Laws (Fn. 26), S. 3 : „The common law is the interpreter of our statutes, and is the crucible which gives them live.“ 83 J. Laws (Fn. 26), S. 6, erneut S. 18, dort gar als Banalität bezeichnet. 80 81
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Lebenszeit ernannt werden. So sehr dieser Einwand fehlender Wahl und damit fehlender unmittelbarer demokratischer Legitimation im Vordergrund der Debatte steht, dürfte es letztlich weniger um den Bestellungsmodus für Richter im engeren Sinn gehen als um die Legitimationsleistung und die Funktionslogik des gerichtlichen Verfahrens. Das zeigt sich an der Kontrollüberlegung, dass die Einwände gegen den Common-Law-Konstitutionalismus durch eine Volkswahl der Richter nicht entkräftet werden könnten.84 Denn das gerichtliche Verfahren unterscheidet sich unabhängig vom Bestellungsmodus der Richter grundlegend vom parlamentarischen Verfahren und ist durch seine Selektivität und seine Bindung an den Verfahrensgegenstand und das Prozessrecht für politische Fragen wenig geeignet.
IV. Strukturreform durch Verfassungskodifikation 1. Verfassungsrecht ohne Verfassungsgeber Die Frage nach einer Verfassungskodifikation ist in Großbritannien sowohl im politischen Kontext85 als auch in der akademischen Diskussion86 seit Jahren präsent; Verfassungsforderungen zielen dabei nicht auf eine kompilierende Zusammenfassung des geltenden Rechts in einem Dokument wie beim Cabinet Manual von 2011, sondern auf die Erarbeitung und Inkraftsetzung eines Verfassungsdokuments von besonderer rechtlicher Qualität: mit Vorrang vor dem Parlamentsrecht und erschwerter Änderbarkeit. Ein solcher Akt der Verfassungsgebung würde die historisch fundierte, institutionelle Denkweise des britischen Verfassungsrechts überwinden. Doch ein verfassungsgebender Akt setzt eine Verständigung darüber voraus, bei wem die verfassungsgebende Gewalt liegt. Diese Frage ist unerwartet. Denn nicht nur der Common-Law-Konstitutionalismus, sondern das gesamte bisherige Verfassungsdenken kommt ohne die Figur einer verfassungsgebenden Gewalt aus. Das Cabinet Manual, das das traditionelle institutionelle Verfassungsdenken gut dokumentiert und abbildet, illustriert diesen Verzicht auf die Figur eines pouvoir constitutant auf eindrückliche Weise. Es beginnt mit folgender Feststellung: „The UK is a Parliamentary democracy which has a constitutional sovereign So treffend J. Baker, Ecclesiastical Law Journal 2013, 4 (19). House of Lords, Debatte vom 15. September 2004 (H. L. Deb., vol. 664, col. 1242 ff.); Ministry of Justice, The Governance of Britain ( Juli 2007); Ministry of Justice, Rights and Responsibilities: Developing our Constitutional Framework (März 2009), für einen Teilbereich auch: Commission on a Bill of Rights, Discussion Paper: Do we need a UK Bill of Rights?, August 2011 (www. justice.gov.uk/about/ cbr/index.htm). 86 Bspw. C. Turpin/A. Tomkins, British Government and the Constitution, 6. Aufl. 2007, S. 29 ff. (Kapitel unter der Überschrift „A written constitution?“); A. Blick (Fn. 47), S. 225 ff.; R. Brazier, Constitutional Reform, 2. Aufl. 1998, S. 7 (skeptisch zu den Realisierungsmöglichkeiten); anders dann die Folgeauflage: ders., Constitutional Reform, 3. Aufl. 2008, S. 154 ff.; D. Oliver (Fn. 4 4), S. 4 ff.; Bogdanor hält die Kodifikationsforderung grundsätzlich und in längerfristiger Perspektive für berechtigt, aber den Zeitpunkt noch nicht für gekommen, um eine Kodifizierung in Angriff zu nehmen: Der 1998 initiierte Verfassungsreformprozess sei unabgeschlossen und in seiner Finalität zu offen, als dass dieser Entwicklungsprozess nun an einem Punkt durch eine kodifizierte Verfassung gestoppt werden sollte: V. Bogdanor, (Fn. 12), S. 230 f.; mit Forderung nach unmittelbarer Verfassungskodifikation demgegenüber R. Gordon (Fn. 28) und I. McLean (Fn. 53). 84 85
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as Head of State; a sovereign Parliament, which is supreme to all other government institutions, consisting of the Sovereign, the House of Commons and the House of Lords; an Executive drawn from and accountable to Parliament; and an independent judiciary.“87 Vor dieser Passage steht ein freundliches Vorwort des damaligen Premierministers, nicht aber eine Präambel, die den Bezug zum Verfassungsgeber herstellen würde wie in der US-Verfassung von 1787, der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, der französischen Verfassung von 1958 oder im Grundgesetz. Das Cabinet Manual listet schlicht in einem deskriptiven Ansatz diejenigen Institutionen auf, die unter dem Grundgesetz als oberste Verfassungsorgane bezeichnet würden. Diese Institutionen bilden den unhinterfragten Ausgangspunkt für die weitere Ausdifferenzierung von Kompetenzen und Verfahren. Ihre Existenz wird nicht begründet, allenfalls in Bezug auf die Exekutive, deren personelle Legitimation sich vom Parlament ableitet, und in Bezug auf weitere, nachgeordnete gesetzgebende Körperschaften auf anderen Ebenen, nämlich die EU und die schottischen, nordirischen und walisischen Parlamente.88 Ansonsten heißt es schlicht: Das Vereinigte Königreich habe einen Monarchen, ein dreiteiliges Parlament, unabhängige Gerichte. Diese Institutionen sind einfach da, nämlich als Ergebnis einer Verfassungsgeschichte, die seit mehreren Jahrhunderten keine revolutionäre Zensur mehr kannte, keinen grundsätzlichen Neubeginn, an dessen Anfang ein verfassungsgebender Akt gestanden hätte.
2. „We, the people …“ 89: Die Wahlberechtigten als verfassungsgebendes Volk? Für eine Demokratie, als die das Cabinet Manual das Vereinigte Königreich ohne zu zögern qualifiziert, liegt die Antwort auf die Fragen nach Souveränität und verfassungsgebender Gewalt an sich nahe: Es kann nur das Volk sein. Das Cabinet Manual bezieht indes den Souveränitätsbegriff an keiner Stelle auf das Volks, wohl aber an prominenter Stelle und innerhalb ein- und desselben Satzes sowohl auf das Parlament als auch auf den Monarchen.90 Doch die britische Monarchie wird vom Cabinet Manual ausschließlich auf die Funktion des Staatsoberhaupts bezogen. Der Monarch ist ein constitutional sovereign. Er leitet seine Stellung aus der Verfassung ab und liegt ihr nicht umgekehrt voraus. Ein monarchisches Prinzip als Geltungsgrund der britischen Verfassung scheidet nach einhelliger Auffassung aus.91 Cabinet Manual (Fn. 30), Ziffer 1. Cabinet Manual (Fn. 30), Ziffer 3: „Parliament is sovereign and it has provided by Acts of Parliament – which, by their nature, may be repealed – for certain issues to be considered and determined at different levels: within the European Union (EU); by the Devolved Administrations; and by local government.“ 89 Mit dieser Anspielung auf die Präambel der US-amerikanischen Verfassung bzw. auf die Studie von B. Ackerman, We, the people, 3 Bände, 1991 ff., das Schlusskapitel bei I. McLean (Fn. 53), S. 313 ff. 90 Cabinet Manual (Fn. 30), Ziffer 1 Satz 1. 91 Konsequenterweise will R. Gordon (Fn. 28), S. 33, im Falle einer Verfassungskodifikation den Monarchen einen Eid auf die Verfassung als Voraussetzung für die Annahme seines konstitutionelle begründeten Amtes schwören lassen; zur verfassungsmäßigen Rolle des Monarchen im gegenwärtigen Verfassungsrecht zuletzt A. Hameed, Public Law 2016, 401 ff. 87
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Schwieriger verhält es sich mit dem souveränen Parlament, dessen Souveränität dem Prinzip der Volkssouveränität entgegenstehen könnte. In der Tat sind Parlamentssouveränität und Volkssouveränität nicht selten als sich gegenseitig ausschließende Prinzipien aufgefasst worden. Dass dem ein begriffliches Missverständnis zu Grunde liegt, macht das Cabinet Manual deutlich, indem es Parlamentssouveränität als Überordnung des Parlaments gegenüber allen anderen Staatsorganen definiert, also nur auf eine Institutionenhierarchie bezieht, nicht aber auf den Träger der inneren Souveränität.92 Das Scheinproblem lässt sich von Anfang an vermeiden, wenn man nicht von Parlamentssouveränität spricht, die dann in einen fälschlichen Gegensatz zur Volkssouveränität gestellt wird, sondern von Parlamentssuprematie.93 Man kann diesen Gedanken bereits bei Dicey finden, der mit zwei Souveränitätsbegriffen arbeitet: „The legal sovereignty of Parliament is subordinate to the political sovereignty of the nation.“94 Dementsprechend rekurrieren sämtliche konkreten Vorschläge für eine Verfassungskodifikation auf „the People of the United Kingdom“95 oder schlicht auf „the people“96 als Verfassungsgeber; Dicey hatte von der „nation“ gesprochen. Die Überlegungen zu einer Verfassungsgebung durch das Volk beziehen sich meist recht schnell auf die Frage, auf welche Weise der Wille des Volkes praktisch zum Ausdruck gebracht werden könnte. V. Bogdanor trägt rechtsvergleichend zusammen, wie andere Staaten dies gehandhabt haben, etwa durch einen gewählten Verfassungskonvent oder ein Verfassungsreferendum.97 Angesichts der zentralen Bedeutung, die Referenden in den letzten Jahren in Großbritannien gewonnen haben, liegt für Großbritannien der Weg des Verfassungsreferendums nahe. Nach einem Vorschlag R. Gordons müssten zwei konsekutive Verfassungsreferenden abgehalten werden: zunächst über die Wünschbarkeit einer geschriebenen Verfassung an sich, nach Ausarbeitung eines Entwurfs dann über den konkreten Text.98 Es verdient besondere Aufmerksamkeit, wer im Einzelnen das abstimmungsberechtigte, verfassungsgebende Volk sein soll. R. Gordon setzt den Kreis der Abstimmungsberechtigten bei den propagierten Verfassungsreferenden mit dem Kreis der Personen gleich, die gegenwärtig „by law“ bei den britischen Parlamentswahlen wahlberechtigt sind.99 Er greift also nicht auf einen vorkonstitutionellen Status zurück, sondern knüpft an die aktuelle rechtliche Verfasstheit des Wahlvolkes durch das britische Parlamentswahlrecht an. Das mag pragmatisch naheliegen, verzichtet aber auf einen Neugründungsakt auf verfassungsrechtlicher tabula rasa. Auch die Formel
92 Cabinet Manual (Fn. 30), Ziffer 1: „a sovereign Parliament, which is supreme to all other govern ment institutions.“ 93 O. Lepsius, JöR 57 (2009), 559 (571). 94 A. V. Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, S. 203 in der Ausgabe durch J. W. f. Allisson 2013. 95 I. Maclean, What’s wrong with the British Constitution?, 2012, S. 313; R. Gordon (Fn. 28), Pream ble (S. 47): „We the People of the United Kingdom […] establish and adopt this Constitution for the United Kingdom.“ 96 V. Bogdanor (Fn. 12), S. 229: „It would by natural to suggest that a British constitution be put to the people for ratification.“ 97 V. Bogdanor (Fn. 12), 2009, S. 228 f. 98 R. Gordon (Fn. 28), S. 169 ff.; etwas unschlüssig R. Brazier (Fn. 86), S. 164 ff. 99 R. Gordon (Fn. 28), S. 42, S. 167.
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vom „people of the United Kingdom“100 ist nicht vorstaatlich gedacht, sondern bezieht sich auf das Staatsvolk des bereits vorhandenen Staates. Die aktuell Wahlberechtigten sollen demnach Legitimationssubjekt einer künftigen Verfassung sein. Das ist nicht das Konzept eines pouvoir constituant, der der Verfassung vorausliegt und daher noch nicht rechtlich verfasst sein kann. Der geforderte Akt der Verfassungskodifikation gerät so in Abhängigkeit von der aktuellen Rechtsordnung, die für die Bestimmung des Legitimationssubjekts offenbar als unverzichtbar erscheint. Ein verfassungstheoretisches Problem erblicken Gordon und Maclean darin nicht.
3. Ein britisches Volk oder vier constituent nations? Ob man die Parlamentswahlberechtigung zum Ausgangspunkt einer Verfassungsgebung nehmen könnte, ist aus britischer Sicht eher aus einem anderen Grund fraglich, der sich auf das Verhältnis des britischen Volks zu seinen vier constituent nations bezieht. Der Nordirland-Konflikt und noch stärker die Schottlandfrage haben die vertraglichen Grundlagen des Vereinigten Königreichs deutlicher ins Bewusstsein treten lassen, als dies lange Zeit im 20. Jahrhundert unter der Dominanz englischen Verfassungsdenkens der Fall war: die Union von England und Wales mit Schottland von 1707 und die Union Großbritannien und Irlands von 1800.101 Der Scotland Act 1998 geht so weit, nicht mehr vom United Kingdom im Singular zu sprechen, sondern von der „Union of the Kingdoms of Scotland and England“.102 Zugleich soll allerdings die Kompetenz zur Entscheidung über ihren Fortbestand ausschließlich beim Westminster Parliament liegen103, das gleichzeitig Parlament des Gesamtstaates und englisches Parlament ist. Eindeutige staatstheoretische oder völkerrechtliche Kategorien – etwa Staatenbund – liegen dem erkennbar nicht zu Grunde, selbst wenn Sonderfälle wie die Crown Dependencies (Isle of Man und die Kanalinseln) oder Gibraltar ausgeklammert bleiben. Diese Unionsverträge werfen allerdings die Frage auf, ob das verfassungsgebende Volk ein einheitliches britisches Volk sein kann oder ob nicht von Anfang an oder jedenfalls ergänzend auf mehrere Völker und damit auf einen zusammengesetzten pouvoir constituant abzustellen wäre. Dies müssten die vier constituent nations des Vereinigten Königreichs sein: England, Wales, Schottland und Nordirland. Ohne dass „nations“ in diesem Zusammenhang einen klar konturierten Begriffsinhalt hätte, gibt es neben der Historie des Vereinigten Königreichs eine Reihe weiterer Hinweise, dass ihre Existenz für eine Verfassungsgebung nicht übergangen werden könnte, wenn nicht die Legitimationsgrundlage des Verfassungsprojekts grundlegend gefährdet werden soll. So liegt der Fortbestand des schottischen Parlaments und der schottischen Regierung seit dem Scotland Act 2016 in der Hand des Westminster Parliament und des schottischen Volkes (ausdrücklich als „people of Scotland“ im Scotland Act 2016 bezeichnet). Der Northern Ireland Act 1998 ist von Lord Hoffmann im Urteil Robinson als bleibende I. Maclean (Fn. 53), S. 313; R. Gordon (Fn. 28), Preamble (S. 48). Laws in Wales Act 1536, Union with Scotland Act 1707, Union with Ireland Act 1800; zu den historischen Zusammenhängen etwa I. McLean/A. McMillan in: I. Maclean (Fn. 53), S. 47 ff., 75 ff., 86 ff. 102 Scotland Act 1998, sec. 29 i.V.m. schedule 5, Part I, No. 1. 103 Scotland Act 1998, sec. 29 i.V.m. schedule 5, Part I, No. 1. 100 101
Auf der Suche nach dem pouvoir constituant
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Verfassung für Nordirland bezeichnet worden, deren Legitimation sich aus dem zustimmenden nordirischen Referendum über das Belfast Agreement herleitet, das Grundlage dieser Gesetzgebung war.104 Legitimationssubjekt ist also offenbar das nordirische Volk, jedenfalls wenn es cross-community support über die konfessionellen Grenzen hinweg gibt. Das Brexit-Votum von 2016 leidet je nach Sichtweise unter Legitimationsdefiziten, weil die Abstimmungsmehrheit nur durch Dominanz der englischen Stimmen zustande gekommen ist, während die schottischen und nordirischen Wähler überwiegend für den Verbleib in der EU gestimmt haben. Schließlich trägt auch das aktuelle Parlamentswahlrecht zum Westminster Parliament implizit der Tatsache Rechnung, dass von einem einheitlichen britischen Staatsvolk nicht die Rede sein kann: Das Wahlrecht bewirkt nämlich bewusst eine Überrepräsentation insbesondere der schottischen Wähler, die deutlich mehr Parlamentsabgeordnete nach London entsenden, als dem schottischen Bevölkerungsanteil entsprechen würde. Dem liegt dieselbe Überlegung zu Grunde wie der Sitzverteilung im Europäischen Parlament an Hand eines ponderierten Schlüssels, um für kleine und sehr kleine EU-Mitgliedsstaaten eine wahrnehmbare Repräsentation im EU-Parlament zu gewährleisten. Ein solcher Verzicht auf demokratische Gleichheit unter den Wählern kann immer nur durch die Überlegung gerechtfertigt sein, dass das zu wählende Parlament nicht ein einheitliches Wahlvolk, sondern verschiedene Völker repräsentieren soll. Das gegenwärtige britische Parlamentswahlrecht beruht somit auf zwei konkurrierenden Prinzipien: Das Prinzip demokratischer Gleichheit prägt die Wahlberechtigung, die Idee einer Repräsentation unterschiedlich großer nations den Wahlkreiszuschnitt. Über eine Reform dieses Wahlrechts wird unter dem Stichwort „West Lothian Question“105 seit der Gesetzgebung zur devolution von 1998 ergebnislos diskutiert, und zwar deshalb ohne Ergebnis, weil es keinen Konsens über die Grundprinzipien und ihr Verhältnis zueinander gibt. Die schottischen und nordirischen Wähler haben 2016 in einem Referendum die konkrete Erfahrung gemacht, durch die Dominanz der englischen Stimmen majorisiert worden zu sein, nämlich beim Brexit-Votum. Diese Erfahrung dürfte aus schottischer und nordirischer Sicht für künftige Referenden einen Abstimmungsmodus ausschließen, dem allein das Prinzip demokratischer Gleichheit – bezogen auf ein einheitlich verstandenes britisches Volk – zu Grunde liegt. Zumindest aus Sicht der kleinen nations liegt das Prinzip doppelter Mehrheiten auf nationaler Ebene und zugleich auf Ebene der vier nations nahe. Für ein Verfassungsreferendum wird dies aus Sicht der drei kleinen nations gerade deshalb gelten müssen, weil eine Verfassungskodifikation ja unter anderem der Absicherung der devolution dienen soll.106 104 „The 1998 Act is a constitution for Northern Ireland, framed to create a continuing form of government against the background of the history of the territory and the principles agreed in Belfast“, Robinson v. Secretary of State for Northern Ireland [2002] UKHL 32, para 25 (ähnlich Lord Bingham, para 11). 105 West Lothian ist ein schottischer Wahlkreis, der pars pro toto für die Frage steht, warum die dortigen Wähler für zwei Parlamente wählen und damit auch über englische Fragen mitbestimmen dürften, englischen Wählern dies aber umgekehrt verwehrt sei. Die englischen Wähler seien durch den ungleichen Wahlkreiszuschnitt bei gleichzeitigem Fehlen eines englischen Regionalparlaments letztlich also doppelt unterrepräsentiert. 106 Oben Fn. 51.
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Wenn bereits eine Reform des Wahlrechts seit zwei Jahrzehnten wegen Uneinigkeit über die zu Grunde zu legenden Grundprinzipien nicht gelingt, werden diese Fragen, solange sie ungeklärt bleiben, einen Konsens über den Abstimmungsmodus eines Verfassungsreferendums vollends verhindern. Eine Verfassungskodifikation wird dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland nicht gelingen, ohne zuvor das „murky territory of constituent power“107 betreten und den pouvoir constituant identifiziert zu haben.
S. Tierney (Fn. 1), S. 150.
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Hat Schottland eine Zukunft in der Europäischen Union? Rechtliche Handlungsoptionen nach dem britischen EU-Referendum von
Prof. Dr. Dirk Hanschel, Universität Halle Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 II. Schottlands Optionen auf der Verfassungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 1. Verfassungswidrigkeit des European Union Referendum Act 2015? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650 2. Parlamentarische Zustimmungsbedürftigkeit der Austrittserklärung gemäß Art. 50 EUV? . . . . . 651 3. Interventionsrecht des Parlaments? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658 4. Verfassungsrechtlicher Anspruch auf Durchführung eines neuen schottischen Unabhängigkeitsreferendums? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662 5. Zustimmungsbedürftigkeit von Anpassungen der Devolutionsgesetze? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 6. Simulation einer EU-Mitgliedschaft durch verstärkte Devolution? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664 7. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665 III. Schottlands völker- und europarechtliche Optionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665 1. Auswirkungen eines verfassungswidrigen Austritts auf die europarechtliche Bewertung . . . . . . . . 665 2. EU-Mitgliedschaft Schottlands als Teilstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666 3. Anspruch auf ein zweites Unabhängigkeitsreferendum aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668
I. Einleitung* Nach dem für viele Beobachter überraschenden Ausgang des britischen Referendums über die mögliche Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union (EU * Der Verfasser dankt Lea Marten sowie Vinzent Vogt für fachkundige Kommentare und redaktionelle Hilfe. Die Internet-Quellen wurden zuletzt aufgerufen am 24.11.2016.
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Referendum) bei gleichzeitiger deutlicher Ablehnung eines Austritts durch die schottischen Wähler (62 %)1 stellt sich die Frage, welche Reaktionsmöglichkeiten Schottland hat, um langfristig in der Europäischen Union zu bleiben. Strategisch könnte dies entweder dadurch erreicht werden, dass der sog. Brexit doch noch verhindert wird (so wenig wahrscheinlich dies auch auf den ersten Blick sein mag). Die Alternative wäre ggf. ein Verbleiben in der Union trotz des Brexits bzw. der Wiedereintritt als unabhängiger Staat. Inwieweit das Recht diese Strategien stützt, wird nachfolgend aus verfassungs-, europa- und völkerrechtlicher Perspektive untersucht. Auf der Verfassungsebene könnte Schottland erstens (II. 1.) argumentieren, das Abstimmungsergebnis sei verfassungswidrig, weil den vier sog. nations, also England, Schottland, Nordirland und Wales (von denen sowohl Schottland als auch Nordirland mehrheitlich gegen den Brexit gestimmt haben) bei einer derart essentiellen Frage ein Vetorecht hätte eingeräumt werden müssen. Zweitens (II. 2.) könnte Schottland (inzwischen unter Berufung auf den High Court im Fall Miller 2 ) die Ansicht vertreten, für die Einleitung des Austrittsverfahrens gemäß Art. 50 EUV sei die Zustimmung des britischen Parlaments erforderlich – in der Hoffnung, dass dort eine deutliche Mehrheit den Brexit ablehnen könnte. In Ermangelung einer solchen Zustimmungspflichtigkeit könnte drittens (II. 3) das Parlament immerhin ein Inter ventionsrecht haben und dadurch den Vollzug des Brexit aktiv verhindern. Viertens (II. 4.) könnte Schottland versuchen, aus der Verfassung einen Anspruch auf ein zweites Unabhängigkeits-Referendum herzuleiten. Fünftens (II. 5) könnte sich das schottische Parlament weigern, die Zustimmung für die Auf hebung von Gesetzen zu erteilen, die Schottlands Verhältnis zur Europäischen Union im Rahmen des bestehenden britischen Devolutionsregimes bestimmen. Sechstens (II. 6.) stellt sich die Frage, inwieweit es sich anbietet, die EU-Mitgliedschaft durch eine weitergehende Devolut ion zu ersetzen. Auf der Ebene des Völker- und Europarechts ist zunächst (III. 1) zu untersuchen, inwieweit eine mögliche Verfassungswidrigkeit des Austritts auch dessen Europarechtswidrigkeit bedeuten würde. Ferner ist (III. 2.) zu erörtern, inwieweit Schottland als Teilstaat Mitglied der Europäischen Union bleiben könnte. Schließlich stellt sich (III. 3.) die Frage, inwieweit sich aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, ggf. in Erweiterung der Rechtsfigur der remedial secession, ein Recht auf ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum bzw. auf die Unabhängigkeit selbst ableiten ließe.
1 Zu den Ergebnissen des Referendums siehe http://www.electoralcommission.org.uk/findinformation-by-subject/elections-and-referendums/past-elections-and-referendums/eu-referendum/ electorate-and-count-information. 2 Der Beitrag berücksichtigt noch die am 3.11.2016 ergangene Entscheidung des High Court im Fall Miller, [2016] EWHC 2768 (Admin), siehe https://www.judiciary.gov.uk/wp-content/uploads/2016/ 11/r-miller-v-secretary-of-state-for-exiting-eu-amended-20161122.pdf; auf das weitere zu erwartende gerichtliche Verfahren kann indes aus redaktionellen Gründen nicht mehr eingegangen werden.
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II. Schottlands Optionen auf der Verfassungsebene Die britische Verfassung setzt sich aus rechtlich verbindlichen Regeln unterschiedlicher Provenienz sowie lediglich politisch verbindlichen sog. conventions zusammen.3 Insoweit geht die Erörterung an dieser Stelle über eine rein verfassungsrechtliche hinaus und bezieht in diesem Sinne auch die Verfassungspolitik mit ein. Dies ist dem deutschen Verfassungsdenken eher fremd, weil hier der Begriff der Verbindlichkeit für rechtsförmige Verfassungsnormen reserviert wird. Ferner ist zu beachten, dass die britische Verfassung nicht wie die deutsche einheitlich in einer Verfassungsurkunde kodifiziert ist, sondern sich aus zahlreichen Dokumenten von hervorgehobener Bedeutung zusammensetzt.4 Dazu gehören die Magna Carta von 1215 ebenso wie der Act of Union von 1707, aber auch sonstige Gesetze, etwa auch die Devolution Acts, die die Kompetenzverteilung zwischen dem Vereinigten Königreich und Schottland festlegen.5 Grundpfeiler des Verfassungsrechts bzw. des Selbstverständnisses der britischen Demokratie ist die Souveränität des Parlaments, das in der Lage ist „to make or unmake any law“.6 Es gibt also keine dem deutschen Recht vergleichbare erhöhte Änderungsanforderungen für Verfassungsnormen. Solange solche Normen gelten, können sie sich aber auch im Vereinigten Königreich durchaus als handlungsleitend erweisen.7 Insofern stellt sich die Frage, inwieweit sie Schottland in der gegebenen Konstellation dienlich sein könnten.
3 Himsworth/O’Neill, Scotland’s Constitution Law and Practice, 2009, 15 ff.; Fenwick/Phillippson/ Williams, Text, Cases and Materials on Public Law and Human Rights, 2017, 13 ff.; Bradley/Ewing/ Knight, Constitutional and Administrative Law, 2015, 11 ff. Gemäß dem Constitutional Committee besteht die Verfassung aus „the set of laws, rules and practices that create the basic institutions of the State, and its component and related parts, and stipulate the powers of those institutions and the rela tionship between the different institutions and between those institutions and the individual“, in: http://www.publications.parliament.uk/pa/ld200102/ldselect/ldconst/11/1103.htm. 4 Siehe Blackburn, in: Contiades (Hg.), Constitutional Amendment in the United Kingdom, 2013, 359 ff. 5 Siehe Hanschel, The Role of Subnational Constitutions in Accommodating Centrifugal Tendencies within European States: Flanders, Catalonia and Scotland Compared, in: Perspectives on Federalism, Vol. 6, issue 2, http://www.on-federalism.eu/attachments/187_download.pdf; zum historischen Hintergrund der Union siehe etwa Sumption, 3 Cambridge J. Int’l & Comp. L. (2014), 139. 6 Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1914, Part I; siehe ferner https:// www.parliament.uk/about/how/role/sovereignty; vgl. auch Fenwick/Phillippson/Williams, Text, Cases and Materials on Public Law and Human Rights, 2017, 139 ff.; Bradley/Ewing/Knight (Fn. 3 ), 45 ff., die den Begriff der „supremacy“ verwenden. 7 Nicht zuletzt insoweit, als sie anders als andere Normen nicht ohne weiteres implizit (implicit repeal) aufgehoben werden können, siehe den Fall Thoburn, [2002] EWHC 195 (Admin), Rn 60 ff. (63): „Ordinary statutes may be impliedly repealed. Constitutional statutes may not. For the repeal of a constitutional Act or the abrogation of a fundamental right to be effected by statute, the court would apply this test: is it shown that the legislature’s actual – not imputed, constructive or presumed – intention was to effect the repeal or abrogation?“.
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1. Verfassungswidrigkeit des European Union Referendum Act 2015? Zunächst gilt es zu erörtern, ob die rechtliche Grundlage des Referendums als verfassungswidrig zu bezeichnen ist. Diese ist der European Union Referendum Act 2015 (nachfolgend als EU Referendum Act bezeichnet).8 Die dort festgelegte Fragestellung lautet gemäß section 1.4: „Should the United Kingdom remain a member of the European Union or leave the European Union?“.9 Zur Abstimmung berechtigt waren gemäß section 2.1 a) die auch zur Parlamentswahl zugelassenen Wähler.10 Darin liegt ein wichtiger Unterschied zum Referendum über die schottische Unabhängigkeit von 2014, an dem gemäß section 2 des Scottish Independence (Franchise) Act 2013 auch in Schottland wohnhafte EU-Ausländer teilnehmen durften.11 Gemeinsam ist beiden Referenden indes, dass nach dem im Vereinigten Königreich üblichen einfachen Mehrheitswahlrecht abgestimmt wurde.12 Das schottische Unabhängigkeitsreferendum erstreckte sich von vornherein nur auf Schottland, wenngleich mit potentiell erheblichen Konsequenzen für den Rest des Vereinigten Königreichs; bei dem EU-Referendum stellt sich nun umgekehrt die Frage, ob Schottland und den anderen Regionen ein Vetorecht einzuräumen war. Ein solches, im EU Referendum Act nicht enthaltenes Vetorecht entspricht indes weder der Verfassungspraxis bei Wahlen und Abstimmungen, noch lässt es sich erkennbar den Gründungsdokumenten der Union zwischen England und Schottland, dem Treaty of Union bzw. dem Act of Union von 1707, entnehmen.13 Zwar legen diese Dokumente bestimmte Autonomierechte Schottlands, insbesondere mit Blick auf die Gerichtsorganisation, fest; sie sehen jedoch keine Rechte auf Berücksichtigung regionaler Mehrheiten bei Abstimmungen vor. Ferner könnte man auf die Idee verfallen, dass das Referendumsgesetz ein bestimmtes Quorum oder eine qualifizierte Stimmenmehrheit hätte vorschreiben müssen. Politisch forderte eine Petition im Vorfeld des Referendums eine Wahlbeteiligung von mindestens 75 % sowie eine Mehrheit von mindestens 60 % zugunsten des EU-Austritts; andernfalls solle erneut abgestimmt werden.14 Die Regierung hat hierzu Stellung genommen, indem sie darauf verwiesen hat, das Abstimmungsergebnis müsse respektiert werden, nachdem der EU Referendum Act nach ausführlicher Debatte ordnungsgemäß zustande gekommen und die Bedeutung des Referendums hinreichend klar gewesen sei.15 Zum Teil wird bei wichtigen Referenden in der Literatur grundsätzlich gefordert, zweimal abzustimmen.16 Dies böte zweifellos einen gewissen Übereilungsschutz und würde helfen zu verhindern, dass Entscheidungen http://www.legislation.gov.uk/ukpga/2015/36/contents/enacted. Ebd. 10 Ebd. 11 http://www.legislation.gov.uk/asp/2013/13/pdfs/asp_20130013_en.pdf. 12 Grundsätzlich zum britischen Wahlrecht siehe Bradley/Ewing/Knight (Fn. 3 ), 147 ff. 13 http://www.legislation.gov.uk/aosp/1707/7/section/XXV; siehe grundsätzlich zum Treaty of Union: Bradley/Ewing/Knight (Fn. 3 ), 69 ff. 14 https://petition.parliament.uk/petitions/131215. 15 Ebd. 16 Siehe hierzu Douglas-Scott, Brexit, the Referendum and the UK Parliament: Some Questions about Sovereignty, in: https://ukconstitutionallaw.org/2016/06/28/sionaidh-douglas-scott-brexitthe-referendum-and-the-uk-parliament-some-questions-about-sovereignty. Politisch hat eine erneute 8 9
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mit einer knappen Mehrheit und geringer Wahlbeteiligung getroffen werden. Solche Vorgaben finden sich jedoch nicht in der Verfassung, weswegen sich derartige Überlegungen eher de lege ferenda zur Diskussion anbieten. Schließlich könnte man noch darüber nachdenken, ob der EU Referendum Act insoweit verfassungswidrig ist, als er der Regierung für den Fall einer mehrheitlichen Entscheidung gegen die Europäische Union einen unbefristeten Auftrag zur Erklärung des Austritts gewährt und insoweit zu unbestimmt ist. Dass das Gesetz insoweit schweigt, spricht indes nicht für dessen Verfassungswidrigkeit als vielmehr dafür, dass ein solcher Auftrag durch das Gesetz gar nicht erteilt wurde.17 Vielmehr bestand die Funktion schlicht darin, ein ordnungsgemäßes Referendum nach den üblichen Regeln abzuhalten, nachdem die Regierung unter David Cameron politisch versprochen hatte, ein solches zu organisieren.18 Inwieweit eine darauf gestützte Entscheidung der Regierung verfassungsgemäß ist, stellt eine andere Frage dar, die nachfolgend (II. 2 und 3) zu beantworten ist. Zwar sollte das Gesetz offenbar der Regierung eine Entscheidungsgrundlage verschaffen. Pointiert bringt diese Situation Kenneth Armstrong zum Ausdruck: „… if Parliament was to be the body having the ultimate authority over whether the UK remains within or leaves the European Union, what was the point of the referendum?“.19 Dieser Entscheidungsgrundlage ist indes keine Bindungswirkung zu attestieren. Insofern ist unter keinem der hier angesprochenen Aspekte eine Verfassungswidrigkeit des EU Referendum Act ersichtlich.
2. Parlamentarische Zustimmungsbedürftigkeit der Austrittserklärung gemäß Art. 50 EUV? Wenn auch der EU-Referendum Act demgemäß nicht verfassungswidrig ist, so könnte er doch möglicherweise keine ausreichende Grundlage für die Aktivierung von Art. 50 EUV durch die Regierung darstellen.20 Dies wird zum Teil vorgebracht und war jüngst Gegenstand einer erfolgreichen Klage vor dem High Court (Miller v Secretary of State).21 Die Klägerseite hatte sich bereits im Vorfeld der Entscheidung das Abstimmung jüngst auch Tony Blair gefordert, siehe http://www.independent.co.uk/news/uk/ politics/brexit-tony-blair-second-eu-referendum-vote-article-50-latest-a7384411.html. 17 Zu der mangelnden rechtlichen Ermächtigung siehe die maßgeblichen Ausführungen im Urteil des High Court im Fall Miller, Rn. 105 ff., https://www.judiciary.gov.uk/wp-content/uploads/2016/11/ r-miller-v-secretary-of-state-for-exiting-eu-amended-20161122.pdf. 18 Siehe http://www.bbc.com/news/uk-politics-21148282. 19 Armstrong, Push Me, Pull You: Whose Hand on the Article 50 Trigger?, 27.06.2016, in: https:// ukconstitutionallaw.org/2016/06/27/kenneth-armstrong-push-me-pull-you-whos-hand-on-thearticle-50-trigger. 20 Zum Meinungsspektrum siehe House of Lords, Leaving the EU: Parliament’s Role in the Process, 2 ff. http://researchbriefings.parliament.uk/ResearchBriefing/Summary/LLN-2016-0034, mit weiteren Nachweisen; Mortimer, Brexit: We need a vote in Parliament to start Article 50, says former Attorney-General Dominic Grieve, 17.07.2016, in: http://www.independent.co.uk/news/uk/politics/ brexit-latest-article-50-parliament-vote-needed-dominic-grieve-eu-referendum-uk-a7141596.html. 21 Siehe https://www.mishcon.com/news/firm_news/article_50_process_on_brexit_faces_legal_ challenge_to_ensure_parliamentary_involvement_07_2016: „If the correct constitutional process of parliamentary scrutiny and approval is not followed then the notice to withdraw from the EU would be
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Recht erstritten, die eigenen sowie die rechtlichen Argumente der beklagten Regierung zu veröffentlichen.22 Dadurch lassen sich die unterschiedlichen Positionen gut diskutieren; darüber hinaus findet sich eine intensive wissenschaftliche Debatte der Frage im Blog der UK Constitutional Law Association.23 Diese dürfte sich auch im Anschluss an der Urteil des High Court im Fall Miller fortsetzen, so dass es sich – unabhängig von dem weiteren Gang des Verfahrens – umso mehr lohnt, sich hiermit auseinanderzusetzen. Grundsätzlich werden drei Auffassungen vertreten: Nach der einen Ansicht liegt die Aktivierung des Art. 50 EUV, also die Erklärung, dass Großbritannien im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften aus der Europäischen Union austreten möchte, vollständig in der Kompetenz der Regierung, wobei sie als Ausdruck ihrer sog. prerogative powers verstanden wird. Nach dieser Auffassung wäre also im Grunde weder das Referendumsgesetz noch das auf ihm basierende Referendum erforderlich gewesen, wenngleich beides zum Teil zur Stärkung der demokratischen Legitimation herangezogen wird. Nach der Gegenauffassung muss das Parlament aufgrund des Grundsatzes der Parlamentssouveränität zwingend beteiligt werden, d.h. die Austrittserklärung erfordert verfassungsrechtlich die vorherige Zustimmung des Parlaments. Eine vermittelnde Auffassung geht schließlich davon aus, dass es sich beim Beteiligungsrecht des Parlaments um eine convention handelt, also um eine politisch, nicht aber rechtlich bindende Übung.24 Die letztere Auffassung soll zunächst diskutiert werden, weil sie wohl am ehesten entkräftet werden kann. Zunächst gilt es festzustellen, dass das EU-Referendum selbst nicht als bindend zu erachten ist.25 Weder legt der EU Referendum Act eine solunlawful, negatively impacting the withdrawal negotiations and our future political and economic relationships with the EU and its 27 Member States, and open to legal challenge. This legal action seeks to ensure that the Article 50 notification process is lawful.“; zu den Argumenten der Klägerseite siehe Skeleton Argument on Behalf of the Second Group of Interested Parties, https://www.bindmans.com/uploads/ files/documents/Article_50_final_corrected_and_unredacted_version.pdf. 22 https://www.theguardian.com/politics/2016/sep/28/government-must-disclose-legal-arguments-article-50-procedure-peoples-challenge; so auch die Ausführungen der Anwaltskanzlei Bindmans, https://www.bindmans.com/news/peoples-challenge-group-win-right-to-publish-secret-govern ment-defence-in-b; in der Court Order heißt es „For the avoidance of doubt, the parties are not prohibited from publishing (1) the Defendant’s or their own Detailed Grounds (2) their own skeleton argument… Against the background of the principle of open justice, it is difficult to see a justification for restricting publication of documents which are generally available under the Rules.“; siehe auch https://www.bindmans.com/uploads/files/documents/Order_sealed_28_9_16.pdf. 23 Siehe https://ukconstitutionallaw.org/?s=brexit. 24 Vgl. zu den verschiedenen Auffassungen House of Lords Library Notes: Leaving the EU – Parliament’s Role in the Process, http://researchbriefings.parliament.uk/ResearchBriefing/Summary/LLN2016-0034, 2 ff.; siehe auch https://www.bindmans.com/uploads/files/documents/Article_50_final_ corrected_and_unredacted_version.pdf. 25 Siehe hierzu Douglas-Scott, Brexit, the Referendum and the UK Parliament: Some Questions about Sovereignty, 28.06.2016, in: https://ukconstitutionallaw.org/2016/06/28/sionaidh-douglasscott-brexit-the-referendum-and-the-uk-parliament-some-questions-about-sovereignty/; Elliott/ Young, On Whether the Article 50 Decision has Already been Taken, in: https://publiclawforeveryone. com/2016/10/09/on-whether-the-article-50-decision-has-already-been-taken/; siehe auch Meyer, Two Years Are Two Tears Are Two Years? When Does the Brexit Countdown Actually Begin?, 27.06.2016, in: https://ukconstitutionallaw.org/2016/06/27/franz-c-mayer-two-years-are-two-tearsare-two-years-when-does-the-brexit-countdown-actually-begin/.
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che Bindungswirkung fest, noch folgt sie aus der Verfassung.26 Was die Umsetzung des Referendumsergebnisses angeht, zeigt die jüngere Verfassungspraxis eine im Entstehen befindliche, vom Umfang her aber noch nicht hinreichend geklärte constitutional convention, wonach das Parlament im Rahmen der Ausübung der sog. prerogative powers der Regierung einzubinden ist.27 Das royal prerogative ist ein verfassungsrechtliches Institut, dem zufolge die Regierung in bestimmten Bereichen, etwa bei der Ausübung der auswärtigen Gewalt, Entscheidungen ohne das Parlament treffen kann.28 Der Name rührt daher, dass historisch betrachtet das Königshaus diese Macht hatte; in jüngerer Zeit ist sie auf die Regierung übergegangen und zudem einer zunehmend strengen Begrenzung und Kontrolle unterworfen worden.29 Allerdings erstreckt sich die Reichweite einer convention im Bereich der auswärtigen Gewalt wohl im Wesentlichen auf die Einholung der Zustimmung des Parlaments zu Militäreinsätzen.30 Insofern wird die Austrittserklärung nach Art. 50 EUV bislang nicht abgedeckt, wenngleich nichts dagegen spricht, dass sich eine entsprechende Praxis selbst spontan mit Blick auf die bestehende Konstellation herausbilden könnte.31 Einer solchen convention bedürfte es indes nicht, wenn bereits de lege lata eine Rechtspflicht zur Beteiligung des Parlaments bestünde, so wie sie der High Court in seiner jüngst ergangenen Entscheidung im Fall Miller ermittelt hat.32 So führen etwa Barber, Hickman und King aus, dass im Falle einer Kollision von royal prerogative und Gesetz letzteres obsiege.33 Übersetzt man dies in die deutsche Verfassungsterminologie, wird das royal prerogative also offenbar als Ausnahme vom Vorbehalt des Gesetzes, aber nicht vom Vorrang des Gesetzes ausgelegt. Die Autoren argumentieren, die Regierung könne dem Parlament nicht Rechte entziehen, die ihr erst vom Parlament
26 Douglas-Scott, Brexit, the Referendum and the UK Parliament: Some Questions about Sover eignty, 28.06.2010, in: https://ukconstitutionallaw.org/2016/06/28/sionaidh-douglas-scott-brexitthe-referendum-and-the-uk-parliament-some-questions-about-sovereignty/: „It is a pre-legislative, or consultative, referendum, enabling the electorate to express its opinion before any legislation is introduced.“ 27 Siehe etwa Philippson, ‚Historic‘ Commons’ Syria Vote: the Constitutional Significance (Part I), 19.09.2013, in: https://ukconstitutionallaw.org/2013/09/19/gavin-phillipson-historic-commons-syriavote-the-constitutional-significance-part-i/. 28 Bradley/Ewing/Knight (Fn. 3 ), 250 ff.; siehe auch Poole, United Kingdom, The Royal Prerogative, Int J Constitutional Law (2010), Vol. 8 No. 1, 146 ff.; Fenwick/Phillippson/Williams, Text, Cases and Materials on Public Law and Human Rights, 2017, 473 ff. 29 Poole, ebd.; vgl. auch Bradley/Ewing, Constitutional and Administrative Law, 2007, Kapitel 12; zu möglichen Reformen siehe Maer/Gay, The Royal Prerogative, 2009, SN/PC/03861, in: researchbriefings.files.parliament.uk/documents/SN03861/SN03861.pdf. 30 Philippson, ‚Historic‘ Commons’ Syria Vote: the Constitutional Significance (Part I), 19.09.2013, in: https://ukconstitutionallaw.org/2013/09/19/gavin-phillipson-historic-commons-syria-vote-theconstitutional-significance-part-i/. 31 Siehe hierzu Taylor, Constitutional Conventions, Article 50 and Brexit, 15.07.2016, in: https:// ukconstitutionallaw.org/2016/07/15/robert-brett-taylor-constitutional-conventions-article-50-andbrexit/. 32 Siehe High Court, https://www.judiciary.gov.uk/wp-content/uploads/2016/11/r-miller-v-secre tary-of-state-for-exiting-eu-amended-20161122.pdf. 33 Barber/Hickman/King, Pulling the Article 50 ‘Trigger’: Parliament’s Indispensable Role, 27.06.2016, in: https://ukconstitutionallaw.org/2016/06/27/nick-barber-tom-hickman-and-jeff-kingpulling-the-article-50-trigger-parliaments-indispensable-role.
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selbst verliehen worden sind.34 Eine Austrittserklärung könnte insoweit gegen den European Communities Act 1972 sowie den European Parliamentary Elections Act 2002 verstoßen bzw. diesen Gesetzen ihren Anwendungsbereich entziehen. Von der Unwiderruflichkeit der Austrittserklärung gemäß Art. 50 EUV ausgehend gelangen die Verfasser zu der Schlussfolgerung, dass das Parlament zunächst ein die Regierung hierzu ermächtigendes oder verpflichtendes Gesetz verabschieden müsse.35 Sie führen weiter aus: „Brexit is the most important decision that has faced (sic!) the United Kingdom in a generation and it has massive constitutional and economic ramifications. In our constitution, Parliament gets to make this decision, not the Prime Minister.“36 Ähnlich argumentiert auch die Klägerseite im Fall Miller: Das royal prerogative sei eher eng auszulegen,37 die Auslösung von Art. 50 EUV voraussichtlich unumkehrbar38 und die Souveränität Großbritanniens durch den Beitritt zur Europäischen Union, und zwar letztlich durch die entsprechenden Umsetzungsakte des britischen Parlaments, eingeschränkt, so dass lediglich das Parlament sie wiederherstellen könne.39 Sie berufen sich auf den European Communities Act 1972 sowie den European Union Act 2011, aber auch auf die Devolution Acts, weil diese das innerstaatliche Kompetenzverhältnis mit Blick auf die Umsetzung des Unionsrechts betreffen; ebenso baue das Good Friday Agreement von 1998 zur Beendigung des Konflikts in Nordirland auf den Voraussetzungen einer EU-Mitgliedschaft auf.40 Die ersteren drei Regelwerke seien zudem Gesetze von Verfassungsrang, weshalb die prerogative powers hier besonders zurückhaltend auszulegen seien.41 Der High Court gibt den Klägern in seinem Urteil insoweit recht, als das Parlament durch den mit Verfassungsrang ausgestatteten European Communities Act 1972 dergestalt innerstaatliche Rechte geschaffen habe, dass die Regierung diese nicht mehr unter Berufung auf die prerogative power beseitigen könne.42 Zunächst ist festzustellen, dass dieses Gesetz ebenso wie nachfolgende Umsetzungsakte jedenfalls nicht implizit durch den EU Referendum Act aufgehoben wurden. Zwar ist davon auszugehen, dass dieser in Kenntnis der betreffenden früheren Parlamentsgesetze verabschiedet wurde, so dass ein Wille des Parlaments, diese auch entgegen einem – noch umzusetzenden – Referendumsergebnis aufrecht zu erhalten, Ebd. Ebd.; für einen Überblick siehe House of Lords Library Notes: Leaving the EU – Parliament’s Role in the Process, http://researchbriefings.parliament.uk/ResearchBriefing/Summary/LLN-2016-0034; vgl. auch Robertson, https://www.theguardian.com/commentisfree/2016/jun/27/stop-brexit-mpvote-referendum-members-parliament-act-europe: „Our democracy does not allow, much less require, decision-making by referendum“. 36 Barber/Hickman/King, Pulling the Article 50 ‘Trigger’: Parliament’s Indispensable Role, 27.06. 2016, in: https://ukconstitutionallaw.org/2016/06/27/nick-barber-tom-hickman-and-jeff-king-pul ling-the-article-50-trigger-parliaments-indispensable-role/. 37 Siehe https://www.bindmans.com/uploads/files/documents/Article_50_final_corrected_and_ unredacted_version.pdf, Rn. 10 ff. 38 Ebd., Rn. 15 ff. 39 Ebd., Rn. 22 ff. 40 Ebd., Rn. 4 4. 41 Ebd., Rn. 47 ff. 42 Siehe https://www.judiciary.gov.uk/wp-content/uploads/2016/11/r-miller-v-secretary-of-statefor-exiting-eu-amended-20161122.pdf, Rn. 92 ff. 34 35
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nicht erkennbar ist. Dem Parlament dürfte zudem bewusst gewesen sein, dass eine Beendigung der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens auch zu einem Verlust der Unionsbürgerschaft seiner Bürger führen wird.43 Allerdings reicht bei Gesetzen wie dem European Communities Act 1972, die einen Verfassungsrang einnehmen, eine bloß implizite Auf hebung nicht aus.44 Entgegen dem Urteil des High Court im Fall Miller ist dem European Communities Act 1972 aber ebenso wie den genannten weiteren Umsetzungsakten nicht zu entnehmen, dass die auswärtige Gewalt der Regierung derart beschränkt wird, dass ein Austritt gemäß Art. 50 (3) EUV nicht mehr allein durch Handeln der Regierung bewirkt werden kann. Anders als in der Sichtweise des High Court in Miller zollt der darin zu findende Verweis auf die relevanten Verträge einem klassisch dualistischen Verständnis Respekt. Das Parlament bestätigt hier seine Rolle, indem es die Umsetzung der Verträge in nationales Recht vornimmt und zugleich die völkerrechtliche Ratifizierung ermöglicht.45 Das Gesetz verbietet der Regierung damit nicht, die völkerrechtliche Bindung aufzuheben – unabhängig von der Frage, inwieweit dies zum damaligen Zeitpunkt, also vor Einführung des Austrittsrechts gemäß Art. 50 EUV bereits möglich war. Die vom High Court herangezogenen Fälle mögen zwar nahelegen, dass eine implizite Begrenzung der treaty power durch das Parlament denkbar ist.46 Doch bietet der die innerstaatliche Grundlage für den britischen EU-Beitritt bereitstellende European Communities Act 1972 dafür keine hinreichende Evidenz; stattdessen wird hier lediglich das – sich stetig dynamisch fortentwickelnde – Unionsrecht in das britische Recht überführt. Zwar würde dieses Gesetz, wie die Kläger zu Recht feststellen, ebenso wie nachfolgende einschlägige Gesetze durch einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union ihres Anwendungsbereichs bzw. ihrer Funktion entzogen.47 Allerdings ist dies nicht gleichbedeutend mit einem Verstoß gegen diese Gesetze; auch insofern überzeugt die Begründung des High Court in Miller nicht ganz.48 Die Aufrechterhaltung des grundsätzlichen Dualismus von völkerrechtlicher Bindung und innerstaatlicher Geltung ist insoweit mehr als purer Formalismus, da dieser Dualismus mit einer typischen Aufgabenteilung zwischen Exekutive und Legislative einhergeht.49 Zwar legt der herangezogene Fire Brigades Union Case nahe50, dass der intendierte Vorbehalt eines Gesetzes breit zu verstehen sein 43 Zur Akzessorietät der Unionsbürgerschaft siehe Calliess/Ruffert/Kluth, 2016 Art. 20 AEUV, Rn. 5. 44 Vgl. Thoburn, [2002] EWHC 195 (Admin), Rn. 60 ff. (63). 45 Siehe hierzu etwa Bradley/Ewing/Knight (Fn. 3 ), 130 ff., 255 f.; speziell zum European Union Act 2011, der eine Parlamentsbeteiligung bei weiteren Integrationsschritten, nicht aber beim Austritt aus der Union vorsieht, ebd., 139 ff. 46 Siehe High Court, https://www.judiciary.gov.uk/wp-content/uploads/2016/11/r-miller-v-secre tary-of-state-for-exiting-eu-amended-20161122.pdf. 47 https://www.bindmans.com/uploads/files/documents/Article_50_final_corrected_and_unredacted_version.pdf, Rn. 82. 48 Vgl. High Court, https://www.judiciary.gov.uk/wp-content/uploads/2016/11/r-miller-v-secre tary-of-state-for-exiting-eu-amended-20161122.pdf, Rn. 97 ff. 49 Grundsätzlich zu diesem Dualismus im Vereinigten Königreich, auch mit Blick auf den European Communities Act 1972 sowie den European Union Act 2011, siehe etwa Bradley/Ewing/Knight (Fn. 3 ), 10, 67. 50 Fire Brigades Union [1995] 2 AC 513, http://www.bailii.org/uk/cases/UKHL/1995/3.html.
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kann. Vorliegend überführt das Parlament aber lediglich einen (wenn auch besonders grundlegenden) völkerrechtlichen Vertrag in innerstaatliches Recht und schafft zugleich die Voraussetzung für die völkerrechtliche Ratifizierung. Der mehrfach geänderte European Communities Act 1972 bringt dies bereits in der Präambel zum Ausdruck: „An Act to make provision in connection with the enlargement of the European Communities to include the United Kingdom…“.51 Die zentrale section 2 überführt sodann das Gemeinschaftsrecht pauschal und mittels einer dynamischen Verweisung („from time to time created or arising by or under the Treaties“, „from time to time provided for by or under the Treaties“) in das britische Recht.52 Es ist nur schwer vorstellbar, dass die auswärtige Gewalt der Regierung nachfolgend im gesamten Bereich eingeschränkt sein sollte.53 Zwar nimmt das Gesetz zahlreiche Anpassungen des britischen Rechts vor, die sich aus der Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften ergeben und die gegebenenfalls nach dem Austritt vom Parlament anzupassen bzw. aufzuheben sind. Sie sind jedoch im Lichte des in der Präambel statuierten Ziels auszulegen und bringen nach hier vertretener Auffassung keine Verlagerung der künftigen Entscheidungsbefugnis über einen möglichen Austritt zum Ausdruck.54 Auch wird die Souveränität des Parlaments hierdurch nicht eingeschränkt. Zwar besteht das Erfordernis zur Bereinigung des Rechts nach erfolgtem Austritt; rechtlich ist das Parlament aber nicht dazu verpflichtet, ein sinnloses Gesetz aufzuheben. Folglich hat die einschlägige Gesetzgebung des britischen Parlaments die Rechte der Regierung auf Ausübung des royal prerogative entgegen dem Urteil des High Court im Fall Miller nicht eingeschränkt.55 Eine Pflicht zur parlamentarischen Zustimmung ergibt sich auch nicht aus Art. 50 EUV selbst. Zwar verkörpert das Unionsrecht eine besondere Rechtsordnung, die vielfältig auf das Recht ihrer Mitgliedstaaten einwirkt. Hieraus indes im Rahmen von Art. 50 EUV eine Pflicht zur Parlamentsbeteiligung zu konstruieren, erscheint problematisch, da Art. 50 EUV gerade ein unbedingtes Austrittsrecht festlegen wollte.56 Das Unionsrecht generiert in Art. 50 (1) EUV keine Vorgaben für das inner-
Zur aktuellen Fassung siehe http://www.legislation.gov.uk/ukpga/1972/68/contents. Ebd. 53 Siehe aber dagegen die Ausführungen des High Court, Rn. 93, in https://www.judiciary.gov.uk/ wp-content/uploads/2016/11/r-miller-v-secretary-of-state-for-exiting-eu-amended-20161122.pdf. 54 Vgl. Elliott/Hooper, Critical reflections on the High Court’s judgment in R (Miller) v Secretary of State for Exiting the European Union, 7.11.2016, in: https://ukconstitutionallaw.org/2016/11/07/ mark-elliot-and-hayley-hooper-critical-ref lections-on-the-high-courts-judgment-in-r-miller-vsecretary-of-state-for-exiting-the-european-union, die das Parlament zu Recht als „conduit for the effect in domestic law of rights that are EU rights“ und nicht als „creator of domestic rights“ ansehen. Dies steht der Argumentation des High Court entgegen, der offenbar zumindest teilweise von der Schaffung eigenständiger innerstaatlicher Rechte durch das Parlament ausgeht, https://www.judiciary.gov.uk/ wp-content/uploads/2016/11/r-miller-v-secretary-of-state-for-exiting-eu-amended-20161122.pdf, Rn. 57 ff. 55 Siehe hierzu Millet, http://www.thetimes.co.uk/my-articles/article-50-and-the-eu-referen dum-decision-0jcrv3l3h; anders aus der Warte des EU-Rechts Eeckhout, The UK Decision to Withdraw from the EU: Parliament or Government?, 15.10.2016, in: https://ukconstitutionallaw.org/ 2016/10/15/piet-eeckhout-the-uk-decision-to-withdraw-from-the-eu-parliament-or-government/. 56 Anderer Ansicht offenbar Eeckhout, ebd. 51
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staatliche Verfahren, sondern verweist nur darauf, dass ein Austrittsbeschluss in der Entscheidungsgewalt des Mitgliedsstaats liegt.57 Allerdings könnte man auf den Gedanken kommen, dem Parlament ganz grundsätzlich ein Mitspracherecht bei der Kündigung internationaler Verträge zuzusprechen. Nachdem eine Beteiligung im Vorfeld der Ratifikation zunehmend auch im Vereinigten Königreich die Regel geworden ist, könnte man im Sinne eines actus contrarius auch den Austritt von einer Zustimmung des Parlaments abhängig machen. Dafür spricht, dass auch der Verlust völkerrechtlicher Bindungen wesentliche Auswirkungen auf die künftige innerstaatliche Rechtsordnung hat und die Rechtsposition der Bürger empfindlich beeinträchtigen kann. Eine solche Zustimmungspflicht hat sich jedoch bislang im britischen Recht nicht ersichtlich entwickelt.58 Während Beitritte zu internationalen Organisationen in den letzten Jahrzehnten vielfach zu verzeichnen waren, ist der Austritt bisher selten und mit Blick auf die Europäische Union bislang sogar einzigartig. Insoweit dürfte es nicht verwundern, wenn sich eine entsprechende Verfassungsnorm, etwa in Form einer convention, spontan entwickelt. Einstweilen ist dies aber nicht erkennbar. Dies ändert nichts daran, dass es für die Regierung mindestens politisch sinnvoll wäre, sich vorab der Zustimmung des Parlaments zu vergewissern, da diese spätestens bei der Implementierung des Austritts vonnöten ist. Das Parlament würde nämlich einerseits gebraucht, um das nach Art. 50 (2) EUV zu verhandelnde Ausstiegsabkommen zwischen der EU und Großbritannien zu ratifizieren (selbst wenn andernfalls ggf. die sog. sunset clause des Abs. 3 eintritt).59 Zum anderen wäre das Parlament, wie erörtert, im Anschluss an den Austritt mit dem Prozess des „domestic disentanglement“, also der Auf hebung bzw. Änderung entsprechender Gesetze beschäftigt.60 Letzteres ist ein nachgelagerter Prozess, der keinen Einfluss auf die Frage der Beendigung der Mitgliedschaft mehr haben dürfte.61 Zwar hat die Regierung zwischenzeitlich einen Great Repeal Act ankündigt, mit dem innerstaatlich die Bindung an das 57 So para 8 (3) der Ausführungen der Regierung, siehe https://www.bindmans.com/uploads/ files/documents/Defendant_s_Detailed_Grounds_of_Resistance_for_publication.PDF; anderer Auffassung offenbar Eeckhout, The UK Decision to Withdraw from the EU: Parliament or Government?, 15.10.2016, in: https://ukconstitutionallaw.org/2016/10/15/piet-eeckhout-the-uk-decision-to-withdraw-from-the-eu-parliament-or-government/. 58 Siehe etwa Finnis, Terminating Treaty-based UK Rights: A Supplementary Note, 2.11.2016, in: http://judicialpowerproject.org.uk/john-f innis-terminating-treaty-based-uk-rights-a-supplemen tary-note, der den Vergleich mit sog. Doppelbesteuerungsabkommen zieht. 59 House of Lords Library Notes: Leaving the EU – Parliament’s Role in the Process, http://research briefings.parliament.uk/ResearchBriefing/Summary/LLN-2016-0034, 2 ff.; so auch die Beklagte, https://www.bindmans.com/uploads/f iles/documents/Defendant_s_Detailed_Grounds_of_Re sistance_for_publication.PDF, Rn. 12 (4); zur Ratifizierung siehe http://www.legislation.gov.uk/ ukpga/2010/25/part/2. Der Automatismus der sog. „sunset clause“ in Art. 50 (3) bedeutet indes, dass das Parlament nicht mit Sicherheit noch die Möglichkeit hat, die Bedingungen des Austritts zu beeinflussen, siehe auch https://www.judiciary.gov.uk/wp-content/uploads/2016/11/r-miller-v-secretaryof-state-for-exiting-eu-amended-20161122.pdf, Rn. 14. 60 House of Lords Library Notes: Leaving the EU – Parliament’s Role in the Process, http://research briefings.parliament.uk/ResearchBriefing/Summary/LLN-2016-0034, 2 ff. 61 So auch die Kläger im Fall vor dem High Court, https://www.bindmans.com/uploads/files/docu ments/Article_50_final_corrected_and_unredacted_version.pdf, siehe para. 83: „[…] Parliament’s subsequent roles in either repealing/amended the Acts, or approving the ratification of any treaties which emerge from the negotiations, are entirely formal. As a matter of substance, Parliament will be
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Europarecht aufgehoben werden soll. Denkbar wäre, dass dieser bereits vor der Austrittserklärung beschlossen wird, jedoch erst mit Wirksamwerden des Austritts in Kraft tritt. Dies wäre eine elegante Lösung, um das Parlament bereits im Vorfeld einzubinden (unabhängig von der Frage einer dahingehenden rechtlichen Verpflichtung 62 ). Es ist jedoch bisher zweifelhaft, ob diese Vorgehensweise tatsächlich angestrebt wird.63 Das jüngste Urteil des High Court im Fall Miller könnte, soweit es vom Supreme Court bestätigt wird, indes eine derartige Parlamentsbeteiligung, voraussichtlich gar in Form eines Gesetzes, gebieten.64
3. Interventionsrecht des Parlaments? Die Tatsache, dass nach hier vertretener Auffassung keine Beschränkung der Exekutivgewalt durch die bisherige EU-Gesetzgebung des Parlaments eingetreten ist, bedeutet allerdings nicht, dass ein künftig explizit gegen den Brexit gerichtetes Handeln des Parlaments das royal prerogative insoweit nicht brechen könnte.65 So führt Lord Browne-Wilkinson in der Entscheidung Fire Brigades Union aus: „.[…]it would be most surprising if, at the present day, prerogative powers could be validly exercised by the executive so as to frustrate the will of Parliament expressed in a statute[…]“.66 Dies bringt den Vorrang des Gesetzes deutlich zum Ausdruck. Ferner heißt es: „The constitutional history of this country is the history of the prerogative powers of the Crown being made subject to the overriding powers of the democratically elected legislature as the sovereign body. The prerogative powers of the Crown remain in existence to the extent that Parliament has not expressly or by implication extinguished them.“67 Zwar dürfte das Parlament kaum den kompletten Bereich der Auswärtigen Gewalt beanspruchen wollen; hier könnten sich auch ultimativ gewisse Grenzen der Souveränität aus dem Prinzip der Gewaltenteilung ergeben. Im vorliegenden Fall des drohenden Austritts aus der Europäischen Union, der, insoweit bisher wohl einzigartig, durch gravierende Auswirkungen auf das gesamte britische Recht gekennzeichnet wäre, könnte das Parlament der Regierung aber durchaus die Auslösung von Art. 50 EUV untersagen oder auch, etwa aufgrund geänderter Umstände, insbesondere bei Verschleppung des Austrittsgesuchs, oder auch allein aufgrund des unable to retain the Acts on the statute book […], because Article 50 sets in motion a series of events which are outside of Parliament’s control.“ 62 Dazu sogleich II. 3. 63 Zum Repeal Act siehe Douglas-Scott, The ‘Great Repeal Bill’: Constitutional Chaos and Constitutional Crisis?, 10.10.2016, in: https://ukconstitutionallaw.org/2016/10/10/sionaidh-douglas-scottthe-great-repeal-bill-constitutional-chaos-and-constitutional-crisis. 64 Zum Urteil siehe https://www.judiciary.gov.uk/wp-content/uploads/2016/11/judgment-r-mil ler-v-secretary-of-state-for-exiting-the-eu-20161103.pdf. 65 Vgl. auch Barber/Hickman/King, Pulling the Article 50 ‘Trigger’: Parliament’s Indispensable Role, 27.06.2016, in: https://ukconstitutionallaw.org/2016/06/27/nick-barber-tom-hickman-and-jeff-king -pulling-the-article-50-trigger-parliaments-indispensable-role, denen zufolge die engere Auslegung des Falls Fire Brigades Union bedeute, dass die Regierung sich nicht unter Berufung auf das royal prerogative einem Gesetz entziehen könne, das im Detail regelt, was sie zu tun hat. 66 [1995] UKHL 3, [1995] 2 WLR 464, [1995] 2 All ER 244, [1995] 2 AC 513, in: http://www. bailii.org/uk/cases/UKHL/1995/3.html. 67 Ebd.
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knappen Ergebnisses der ersten Abstimmung, ein neues Referendum anordnen. Zum Teil wird zwar angenommen, dass die Premierministerin einem solchen Beschluss des Parlaments das Votum des Volks im Referendum entgegensetzen könne.68 Dies lässt sich politisch und auch demokratietheoretisch diskutieren, vermag aber rechtlich nicht einzuleuchten, weil die Parlamentssouveränität durch eine Volksbefragung nicht gebrochen oder beeinträchtigt wird. Die Wähler haben stattdessen die Möglichkeit, Abgeordneten, die ihren Zielen nicht entsprechen, bei der nächsten Unterhauswahl die Wiederwahl zu verweigern – dies folgt aus der Verfassung und nicht eine unumkehrbare Verlagerung der Entscheidungskompetenz auf die Regierung. Der Grundsatz der Parlamentssouveränität dürfte es darüber hinaus gebieten, dass die Regierung das Parlament fragt, ob es von diesem Recht Gebrauch machen will, und ihm damit die Gelegenheit gibt, das Ergebnis des Referendums einer eigenständigen Bewertung zuzuführen. Ansonsten könnte es zu einer Art Wettrennen zwischen Regierung und Parlament zu Lasten der letzteren Institution kommen; denn der Austrittsbeschluss nach Art. 50 EUV ist schnell verkündet, während ein Tätigwerden des Parlaments einen größeren Aufwand erfordern dürfte. Ohnehin ist die Regierung dem Parlament rechenschaftspflichtig.69 Dies gilt auch im Vorfeld einer Entscheidung nach Art. 50 EUV. Letztlich läuft dies beinahe auf ein parlamentarisches Zustimmungserfordernis (siehe oben II., 2) hinaus, doch ist die verfassungsrechtliche Begründung eine andere.70 Eine Beteiligung des Parlaments käme auch nicht zu spät, da die britische Regierung den Austritt bislang noch nicht (irreversibel) beschlossen hat. Auf einen solchen Beschluss scheint indes die Argumentation der Regierung im Verfahren vor dem High Court im Fall Miller hinzudeuten, wonach der interne Austrittsbeschluss Großbritanniens gemäß Art. 50 (1) EUV bereits getroffen worden sei und es insoweit also nur noch um die auswärtige Notifizierung des Austrittswillens gemäß Art. 50 (2) EUV gehe.71 Doch lässt sich ein nicht bindendes Referendum kaum als Beschluss im Sinne von Art. 50 (1) EUV deuten.72 Noch weniger ließe sich argumentieren, der Brexit sei bereits durch den EU Referendum Act beschlossen worden. Es bleibt also nur die Möglichkeit, dass der Beschluss nachfolgend von der Regierung getroffen wurde. 68 Renwick, The road to Brexit: 16 things you need to know about the process of leaving the EU, 24.06.2016 in: https://constitution-unit.com/2016/06/24/the-road-to-brexit-16-things-you-needto-know-about-the-process-of-leaving-the%e2 %80 %afeu. Die Premierministerin hat offenbar ein zweites Referendum ausgeschlossen, siehe https://www.theguardian.com/politics/2016/oct/20/the resa-may-to-tell-eus-other-leaders-there-will-be-no-second-referendum. 69 Douglas-Scott, Brexit, the Referendum and the UK Parliament: Some Questions about Sovereignty, 28.06.2016, in: https://ukconstitutionallaw.org/2016/06/28/sionaidh-douglas-scott-brexit-thereferendum-and-the-uk-parliament-some-questions-about-sovereignty/. 70 Ähnlich die hilfsweise Argumentation der Kläger vor dem High Court, wonach die Verwendung einer möglichen prerogative power ohne Berücksichtigung der Position des Parlaments einen Missbrauch darstelle, https://www.bindmans.com/uploads/files/documents/Article_50_final_corrected_and_un redacted_version.pdf, para. 87. 71 Siehe Detailed Grounds of Resistance on Behalf of the Secretary of State, https://www.bindmans.com/ uploads/files/documents/Defendant_s_Detailed_Grounds_of_Resistance_for_publication.PDF, para 5 (2). 72 Siehe hierzu auch Elliott/Young, On whether the Article 50 decision has already been taken, in: https://publiclawforeveryone.com/2016/10/09/on-whether-the-article-50-decision-has-already-beentaken.
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Sofern man indes einen gewissen Formalisierungsgrad erwarten darf, ist allerdings unklar, worin dieser Beschluss genau zu erblicken sein sollte.73 Zwar beteuerte die Regierung, Brexit bedeute Brexit, und setzte sich selbst die Frist, vor Ende März 2017 den Austritt gegenüber der Europäischen Union zu erklären.74 Doch lässt sich darin schwerlich ein förmlicher Austrittsbeschluss im Sinne von Art. 50 (1) EUV erblicken. Realistisch erscheint vielmehr, dass sich ein solcher Beschluss erst in der eigentlichen Erklärung des Austritts nach Art. 50 (2) EUV manifestieren wird. Hilfsweise lässt sich unter Bezugnahme auf den High Court im Fall Miller feststellen, dass eine etwaige Beschlussfassung gemäß Art. 50 (1) EUV nicht maßgeblich ist, weil Art. 50 (1) und (2) zusammen zu lesen sind und es maßgeblich auf die Erklärung gemäß Art. 50 (2) EUV ankommt.75 Die schottischen Abgeordneten können demnach darauf drängen, dass das Parlament das hier ermittelte Interventionsrecht ausübt und den Brexit unterbindet. Sollte das Parlament aber untätig bleiben (oder gar im Sinne des Referendumsergebnisses tätig werden), gibt die Verfassung keine Handhabe, es zum Gegenteil zu drängen. Je mehr Zeit indes zwischen dem Tag des Referendums und der möglichen Austrittserklärung vergeht, desto höher könnten die Chancen sein, dass das Parlament entweder ein erneutes Votum des Volks für erforderlich hält oder aber eine eigene Entscheidung trifft. Insoweit stehen dem Parlament also selbst dann Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung, wenn der Supreme Court im Januar 2017 das Urteil des High Court im Fall Miller nicht bestätigen sollte. Das hier gewonnene Ergebnis basiert auf der Prämisse, dass die Erklärung nach Art. 50 (2) EUV zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit unilateral irreversibel ist.76 Andernfalls hätte das Parlament nämlich noch nachträglich genügend Zeit, den Prozess zu revidieren, indem es die Regierung dazu anhält, die Erklärung zu widerrufen. Dass der Abbruch des Austrittsprozesses gemäß Art. 50 EUV im Konsens zwischen dem betreffenden Staat und der Europäischen Union möglich ist, erscheint sowohl völkerrechtlich als auch europarechtlich durchaus plausibel. Unilateral lässt Ebd. Vgl. http://www.nytimes.com/2016/10/03/world/europe/brexit-talks-march-theresa-may-britain.html?_r=0. 75 https://www.judiciary.gov.uk/wp-content/uploads/2016/11/r-miller-v-secretary-of-state-forexiting-eu-amended-20161122.pdf, Rn. 15 ff. 76 Dies vertreten im dargestellten Rechtsstreit sowohl Kläger als auch Beklagte, siehe https://www. judiciar y.gov.uk/wp-content/uploads/2016/11/r-miller-v-secretar y-of-state-for-exiting-euamended-20161122.pdf , Rn. 10 ff.; ebenso Meyer, Two Years Are Two Tears Are Two Years? When Does the Brexit Countdown Actually Begin?, 27.06.2016, in: https://ukconstitutionallaw.org/2016/ 06/27/franz-c-mayer-two-years-are-two-tears-are-two-years-when-does-the-brexit-countdownactually-begin/: „Some argue that the UK could withdraw from withdrawal unilaterally at any point. If that was possible the two year countdown would not make any sense: the UK could reset the clock endlessly by taking back the notification, filing a new notification triggering a new countdown, taking back the notification etc. ad infinitum.“; siehe hierzu aber auch Sari, der die gegenteilige Auffassung vertritt, Sari, Biting the Bullet: Why the UK Is Free to Revoke Its Withdrawal Notification under Article 50 TEU, 17.10.2016, in: https://ukconstitutionallaw.org/2016/10/17/aurel-sari-biting-thebullet-why-the-uk-is-free-to-revoke-its-withdrawal-notification-under-article-50-teu/; für eine unilaterale Reversibilität ebenfalls: House of Lords, The Process of Withdrawing from the European Union, 4 f., http://www.publications.parliament.uk/pa/ld201516/ldselect/ldeucom/138/138.pdf; siehe auch Craig, Brexit: Foundational Constitutional and Interpretive Principles: II, 28.10.2016, in: http://ohrh. law.ox.ac.uk/brexit-foundational-constitutional-and-interpretive-principles-ii. 73 74
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sich eine solche Rücknahme eines Austrittsbegehrens aber wohl kaum erreichen, wie sich aus dem in Art. 50 (3) EUV festgelegten Automatismus ergibt, der insoweit auch die allgemeinen völkerrechtlichen Austrittsregeln verdrängt. Ansonsten könnte die Verhandlungsperiode nämlich beliebig durch den Antragsteller verlängert werden, indem ein Antrag zunächst gestellt, dann zurückgenommen, dann wieder gestellt wird (selbst wenn dies in der Praxis nicht sehr wahrscheinlich anmuten mag). Eine solche Unsicherheit kann von der Norm kaum intendiert sein, die insoweit, gerade mit Blick auf die Unwägbarkeiten eines solchen Austrittsprozesses, Klarheit herstellen will.77. Vor dem Supreme Court könnte es auf diese Frage durchaus ankommen, jedenfalls soweit das Gericht nicht nur das Ergebnis, sondern auch die Argumentation der Vorinstanz übernimmt. Dies könnte dazu führen, dass der Supreme Court diese Frage sogar dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Auslegung vorlegen müsste, was das Verfahren weiter verlängern und viele der sog. Brexiteers mit Blick auf die Frage der britischen Souveränität vermutlich nicht erfreuen wird.78 Im Vorfeld eines möglichen Vorlageverfahrens dürfte es aber für die Beurteilung der verfassungsrechtlichen Lage genügen, dass die Regierung die Möglichkeit einer unilateralen Revision des Austrittsprozesses jedenfalls nicht garantieren kann. Im Ergebnis besteht folglich im vorliegenden Fall ein Interventionsrecht des Parlaments, dem die Regierung bereits im Vorfeld einer möglichen Austritterklärung hinreichend Raum verschaffen muss. Sofern dies, wie gemeinhin erwartet, durch förmliche Gesetzgebung und nicht durch eine bloße Resolution geschieht, wird das weitere Verfahren natürlich erheblich verlängert.79 Zwar werden wahrscheinlich auch die meisten Gegner des Brexits (einschließlich vieler Labour-Abgeordneten, die in ihren Wahlkreisen eine starke Ablehnung der Europäischen Union erfahren haben) aus Respekt vor dem Referendum bzw. der Stimmung in ihren Wahlkreisen für den Brexit stimmen. Allerdings könnte das Parlament Vorgaben für die Verhandlungsführung der Regierung einschließlich der anzustrebenden Ergebnisse formulieren. Außerdem erfreut sich der Brexit im House of Lords offenbar keiner größeren Beliebtheit; hier könnte das Gesetzgebungsverfahren ggf. verzögert werden.80 Insgesamt vervielfachen sich also die Möglichkeiten der Beeinflussung und Verzögerung des Herangehens an den anstehenden Austrittsprozess.81 Ein Beteiligungsrecht der regionalen Parlamente einschließlich des schottischen Parlaments ist hingegen nicht erkennbar. Die Souveränität des Parlaments ist insoweit in Westminster verankert; aus dem Devolutionsregime ergibt sich nichts anderes. Zur Gegenauffassung siehe wiederum Craig, ebd. Vgl. etwa die Diskussion im Blog des Guardian, https://www.theguardian.com/politics/blog/ live/2016/nov/03/article-50-high-court-ruling-high-court-set-to-rule-on-whether-mps-should-voteon-triggering-article-50-politics-live?page=with:block-581b6e07e4b0d073c27d12a5#block-581 b6e07e4b0d073c27d12a5. 79 Zum Gesetzgebungsverfahren im House of Commons siehe Bradley/Ewing/Knight (Fn. 3 ), 194 ff. 80 Zum Verfahren im House of Lords siehe ebd., 200 ff. 81 Vgl. zum Ganzen etwa die Berichterstattung, Analyse und Diskussion auf der Internetseite des Guardian, https://www.theguardian.com/politics/article-50; https://www.theguardian.com/politics/ blog/live/2016/nov/03/article-50-high-court-ruling-high-court-set-to-rule-on-whether-mpsshould-vote-on-triggering-article-50-politics-live. 77 78
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4. Verfassungsrechtlicher Anspruch auf Durchführung eines neuen schottischen Unabhängigkeitsreferendums? In Verbindung mit dem Edinburgh Agreement vom Oktober 2012 könnte man den Scottish Independence Referendum Act 2013 (nachfolgend als Referendum Act bezeichnet), der die Grundlage des schottischen Unabhängigkeitsreferendums 2014 darstellt, zumindest insofern als eine verfassungsrelevante Norm verstehen, als er die grundlegende Frage des Fortbestehens der Union zur Abstimmung gestellt hat.82 Man könnte daher argumentieren, der drohende EU-Austritt Großbritanniens führe zu einem Wegfall der Geschäftsgrundlage des ersten Referendums, mit der möglichen Folge, dass erneut abzustimmen wäre. Dafür spricht zunächst in politischer Hinsicht, dass dem ersten Referendum eine völlig andere Ausgangssituation zugrunde lag. Damals war der drohende Verlust der EU-Mitgliedschaft ein möglicher Grund gegen die Unabhängigkeit,83 während heute die EU-Mitgliedschaft Schottlands wahrscheinlich nur um den Preis einer Unabhängigkeit zu haben sein wird. Zwar hatte der ehemalige britische Premierminister David Cameron bereits das spätere EU-Referendum angekündigt, doch war dessen Ausgang nicht vorhersehbar. Die politischen Rahmenbedingungen des schottischen Unabhängigkeitsreferendums haben sich also insgesamt stark geändert, weshalb Umfragen auch eine deutlich höhere Zustimmung zur Eigenstaatlichkeit zeigen (trotz niedriger Ölpreise und sonstiger wirtschaftlicher Faktoren, die aktuell eher gegen die schottische Unabhängigkeit streiten).84 Insofern lässt sich also politisch einiges für einen Wegfall der Geschäftsgrundlage des ersten Referendums sagen.85 Die Frage ist, inwieweit dieses auch zu einem Anspruch auf ein neues Referendum führen kann. Das schottische Referendum von 2014 war durch den Referendum Act als einmaliger Akt legitimiert; es handelt sich nicht um eine Regelung, die Schottland ein fortwährendes Recht auf Referenden unter bestimmten Voraussetzungen einräumt. Nichts in dem Gesetz sieht eine Fortgeltung nach Abschluss des ursprünglichen Referendums im Jahre 2014 bzw. eine Wiederholung bei Änderung der Umstände vor. Zwar verliert er anders als der Scottish Independence Referendum 82 Zum Edinburgh Agreement http://www.gov.scot/Resource/0040/00404789.pdf; zum Scottish Independence Referendum Act siehe http://www.legislation.gov.uk/asp/2013/14/pdfs/asp_20130014_en. pdf; vgl. auch insgesamt House of Lords, Select Committee on the Constitution, 8th Report of Session 20134, http://www.publications.parliament.uk/pa/ld201314/ldselect/ldconst/188/188.pdf. 83 Siehe insoweit das Gutachten von Crawford/Boyle, Opinion: Referendum on the Independence of Scotland – International Law Aspects, https://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/79408/Annex_A.pdf; siehe auch Armstrong, 3 Cambridge J. Int’l & Comp. L. (2014), 181. 84 Zur Situation beim ersten Referendum Connelly, 24 Duke J. Comp. & Int’l L. 51 2013–2014, 59 ff.; Tierney EuConst 9 (2013), 359; zur heutigen Situation Avery, Scotland and the European Union, Policy Brief 2016, http://www.epc.eu/documents/uploads/pub_6836_scotland_and_the_european_ union.pdf. 85 Siehe insoweit die Aussage der schottischen Ersten Ministerin Nicola Sturgeon: „But consider this: the UK that we voted to stay part of in 2014 – a UK within the EU – is fundamentally changing. The outlook for the UK is uncertainty, upheaval and unpredictability … In these circumstances, it may well be that the option that offers us the greatest certainty, stability and the maximum control over our destiny, is that of independence.“, in: http://www.theguardian.com/politics/2016/jul/25/sturgeonindependence-may-be-best-for-scotland-amid-brexit-upheaval.
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(Franchise) Act nicht zum 1.1.2015 seine Gültigkeit (section 14).86 Dennoch ist die Intention des Referendum Act „the holding of a referendum in Scotland on a question about the independence of Scotland“.87 Dieses aber hat im Jahre 2014 stattgefunden und sich somit erledigt. Auch aus dem Edinburgh Agreement lässt sich nichts Gegenteiliges entnehmen. Vielmehr heißt es dort gegen Ende mit Blick auf die angestrebte Zusammenarbeit beider Regierungen: „They look forward to a referendum that is legal and fair producing a decisive and respected outcome“.88 Insofern lässt sich hieraus kein Anspruch auf erneute Abstimmung unter bestimmten Voraussetzungen konstruieren. Auch jenseits des Referendum Act findet sich keine verfassungsrechtliche Grundlage für ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum. Weder dem Treaty of Union bzw. dem Act of Union von 1707 noch sonstigen verfassungsrechtlichen Regelungen lässt sich ein Anspruch auf Sezession bzw. die Abstimmung darüber entnehmen. Die Verfassung schweigt insoweit, die Union ist aber als dauerhafte Vereinigung konzipiert.89 Dass sich die Londoner Regierung einem entsprechenden Anliegen indes politisch jedenfalls auf längere Sicht kaum wird verweigern können, steht auf einem anderen Blatt.
5. Zustimmungsbedürftigkeit von Anpassungen der Devolutionsgesetze? Der Austritt aus der Europäischen Union erfordert (wie bereits oben unter II. 2 erwähnt) die Anpassung auch solcher Gesetze, die die Umsetzung des Unionsrechts im Verhältnis zwischen der Londoner Zentralregierung und den Regionen regeln, insoweit also die einschlägigen Normen des Devolutions-Regimes. Hier sind mit Blick auf Schottland insbesondere die verschiedenen Scotland Acts zu nennen.90 Eine solche Anpassung erfordert nach der sog. Sewel Convention normalerweise die Zustimmung des schottischen Parlaments.91 Einerseits stellt sich hier die Frage, ob die Umstände nach einem Brexit als normal im Sinne der Convention zu bezeichnen sind; andererseits ließe sich aber argumentieren, dass bei einer so wesentlichen Frage auf jeden Fall eine Beteiligung stattfinden müsse.92 Letzteres erscheint bei Berücksichtigung des Demokratieprinzips sowie des in der Sewel Convention angelegten Regel-Ausnah http://www.legislation.gov.uk/asp/2013/13/pdfs/asp_20130013_en.pdf. Ebd. 88 http://www.gov.scot/Resource/0040/00404789.pdf. 89 Siehe bereits Art. 1 des Act of Union 1707: „That the two Kingdoms of Scotland and England, shall, upon the first Day of May next ensuing the Date hereof, and for ever after, be united into one Kingdom by the Name of Great-Britain …“, https://www.parliament.uk/documents/heritage/ar ticlesofunion.pdf. 90 Siehe Scotland Act 1998, http://www.legislation.gov.uk/ukpga/1998/46/contents, Scotland Act 2012, http://www.legislation.gov.uk/ukpga/2012/11/contents/enacted; allgemeiner mit Blick auf die übertragenen Kompetenzen siehe http://www.parliament.scot/visitandlearn/12506.aspx. 91 Siehe das Zitat der Äußerung von Sewel bei Bowers, The Sewel Convention, 2005, in: research briefings.files.parliament.uk/documents/SN02084/SN02084.pdf: „we would expect a convention to be established that Westminster would not normally legislate with regard to devolved matters in Scotland without the consent of the Scottish parliament“. 92 Siehe zum Ganzen Hazel/Renwick, Brexit: Its Consequences for Devolution and the Union, in: https://www.ucl.ac.uk/constitution-unit/research/europe/briefing-papers/briefing-paper-3. 86 87
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me-Verhältnisses überzeugender. Insofern ist diese hier einschlägig; Schottland könnte seine Zustimmung also unter Berufung auf sie verweigern. Allerdings ist sehr fraglich, ob dies im schottischen Interesse läge, da damit lediglich die Anpassung der Rechtslage an den bereits vollzogenen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union verhindert würde.93
6. Simulation einer EU-Mitgliedschaft durch verstärkte Devolution? Das Erfordernis der Beteiligung des schottischen Parlaments vor der Änderung des Devolutionsregimes könnte Schottland schließlich die Gelegenheit geben, auf neue Regelungen zu drängen, die weitere Autonomierechte gewährleisten. Bislang wurden im Rahmen des Devolutionsregimes Bereiche wie Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, Ausbildung, Umwelt, Gesundheit und Sozialwesen, Wohnungsbau, öffentliche Sicherheit und Ordnung, kommunale Selbstverwaltung, Sport und Kunst, Tourismus und wirtschaftliche Entwicklung sowie Teile des Transportwesens übertragen; dazu gesellen sich bestimmte fiskalische Kompetenzen.94 Die schottische Verhandlungsposition dürfte insoweit recht gut sein, als die britische Regierung darum bemüht sein wird, ein Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs zu verhindern. Allerdings ist nicht vorstellbar, wie hierdurch eine Situation geschaffen werden kann, die Schottland Rechte sichert, die mit einer EU-Mitgliedschaft auch nur ansatzweise vergleichbar wären. Denkbar wäre allenfalls, dass das Vereinigte Königreich nicht aus der Europäischen Union austritt, aber zugleich den Anwendungsbereich des Unionsrechts auf Schottland (und ggf. Wales) beschränkt. Eine derartige Beschränkung erscheint ungewöhnlich, mag aber nicht gänzlich ohne Präzedenz erscheinen, wenn man sich die Situation Dänemarks im Verhältnis zu Grönland anschaut.95 Hier verhielt es sich allerdings so, dass der weitaus größte Teil des Landes einschließlich des politischen Zentrums vom EU-Recht erfasst wurde, während sich der Fall des Vereinigten Königreichs gerade anders herum darstellen würde. Es ist auch kaum vorstellbar, dass sich die britische Regierung bereit erklärt, das Referendum auf diese Weise umzusetzen, zumal die gesamtstaatliche Bindung als Mitgliedstaat weiterhin erhalten bliebe, was schwerlich mit dem Ergebnis der Abstimmung in Einklang gebracht werden könnte96. Auch die Europäische Union dürfte sich auf eine solche Konstruktion kaum einlassen. 93 Siehe hierzu auch Elliott, Brexit – Can Scotland block Brexit?, 26.06.16, in: https://publiclaw foreveryone.com/2016/06/26/brexit-can-scotland-block-brexit/. 94 Siehe http://www.parliament.scot/visitandlearn/12506.aspx; vgl. auch grundsätzlich zur Devolution Bradley/Ewing/Knight (Fn. 3 ), 37 ff.; Fenwick/Phillippson/Williams, Text, Cases and Materials on Public Law and Human Rights, 2017, 199 ff. 95 Vgl. Vertrag zur Änderung der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften bezüglich Grönlands, EU Abl. L 29 vom 1.2.1985; zur historischen Entwicklung vgl. etwa Streinz/Kruis/ Streinz, AEUV Art. 204 Rn. 1 ff. 96 Vgl. auch Vidmar/Eggett, Brexit: Is Everything Going to Change in Law, so that Very Little would Change in Fact?, 27.06.2016, in: http://www.ejiltalk.org/brexit-is-everything-going-to-change-inlaw-so-that-very-little-would-change-in-fact/.
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7. Zwischenergebnis Es ergibt sich insofern aus der vorstehenden Analyse, dass die Betätigung von Art. 50 EUV zwar (anders als nach der Auffassung des High Court im Fall Miller) nicht der Zustimmung, wohl aber der Einbeziehung des Parlaments bedarf, dem darüber hinaus eine Vetoposition zukommt. Schottland könnte dazu beitragen, eine solche Position politisch aufzubauen. Die Aussichten eines solchen Unterfangens dürften gegenwärtig begrenzt sein; sollte der Austritt aus der Europäischen Union indes weiter verzögert werden oder etwa nur zu einem unerwartet hohen wirtschaftlichen Preis möglich sein, könnte sich dies schnell ändern. Die von der Verfassung legitimierte Verweigerung der schottischen Zustimmung zur infolge eines EU-Austritts nötigen Anpassung des Devolutionsregimes stellt hingegen keine sinnvolle Strategie dar, weil diese zu spät käme. Immerhin könnte aber der drohende Brexit als Chance zur politischen Aushandlung weiterer Autonomierechte genutzt werden, selbst wenn dies eine EU-Mitgliedschaft nicht ersetzen kann.
III. Schottlands völker- und europarechtliche Optionen Neben der Verfassung könnte das Völker- und Europarecht Schottland Optionen bieten, um auf den drohenden Brexit zu reagieren und sich die EU-Mitgliedschaft zu sichern.
1. Auswirkungen eines verfassungswidrigen Austritts auf die europarechtliche Bewertung Sollte es entsprechend den Ausführungen oben unter II. 3 zu einer Austrittserklärung ohne Konsultation oder gar entgegen dem Willen des Parlaments kommen, stellt sich die Frage, ob die daraus resultierende Verfassungswidrigkeit der Erklärung auch zu einer Europarechtswidrigkeit führen würde. Für ein solches Durchschlagen der verfassungsrechtlichen Wertung scheint zunächst der Wortlaut von Art. 50 (1) EUV zu sprechen, wonach die Austrittserklärung im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorschriften zu erfolgen hat. Abgesehen von den bestehenden Kompetenzgrenzen des Gerichtshofs der Europäischen Union97 kann es von der Norm auch kaum intendiert sein, dass die Unionsorgane prüfen, inwieweit jeweils die internen Vorschriften der Mitgliedstaaten eingehalten wurden. Das Risiko wäre ggf. auch zu groß, dass im Nachhinein eine Austrittserklärung von einem nationalen Gericht für unwirksam erklärt würde. Sinn und Zweck des Verweises sprechen daher dafür, dass dieser lediglich deklaratorisch gemeint ist. Zum Ausdruck gebracht werden soll der Respekt vor dem nationalen Recht; dessen Wahrung bleibt aber Aufgabe des austrittswilligen Mitgliedstaats. Bezweckt war mit Art. 50 EUV die Regelung eines einseitigen Austrittsrechts.98 Insofern erfüllt der Verweis auf das innerstaatliche Recht Vgl. von der Groeben/Schwarze/Meng, 2015, EUV Art. 50 Rn. 8. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr, 2016, EUV Art. 50 Rn. 19, von der Groeben/Schwarze/Meng, 2015, EUV Art. 50 Rn. 8 ; siehe auch Hanschel, NVwZ 2012, 995 ff. 97
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nicht mehr als eine Appellfunktion. Nach außen hin ist die Austrittserklärung bereits dann als wirksam zu erachten, wenn sie vom völkerrechtlich zuständigen Organ abgegeben wurde; nur so kann die im weiteren Verfahren erforderliche Rechtssicherheit sichergestellt werden.99
2. EU-Mitgliedschaft Schottlands als Teilstaat? Eine Anbindung an die Europäische Union als Teilstaat ist in den EU-Verträgen nicht vorgesehen und völkerrechtlich auch nur schwer vorstellbar.100 Mitglieder sind gemäß Art. 49 (1) EUV, wie dies im Völkerrecht üblich ist, souveräne Staaten, die über die volle Völkerrechtspersönlichkeit verfügen. Insofern ist weder erkennbar, wie Schottland während des Austritts des Vereinigten Königreichs auf diese Weise in der Europäischen Union verbleiben könnte, noch dass es dieser anschließend als Teil des Vereinigten Königreichs isoliert wieder beitritt.101 Denkbar wäre indes, dass das Vereinigte Königreich Schottland im Austrittsabkommen eine Rechtsposition sichert, die sich immerhin soweit wie möglich an eine EU-Mitgliedschaft annähert.
3. Anspruch auf ein zweites Unabhängigkeitsreferendum aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker? In Betracht kommt schließlich ein Anspruch auf ein neues Unabhängigkeitsreferendum (und ggf. auch auf Sezession) aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, welches neben Art. 1 Nr. 2 und Art. 55 der UN-Charta auch den übereinstimmenden Art. 1 der beiden UN-Menschenrechtspakten zu entnehmen, aber auch völkergewohnheitsrechtlich verankert ist.102 Rechtnatur und Reichweite des Selbstbestimmungsrechts sind umstritten.103 Hinsichtlich des Inhalts wird häufig nach der internen und externen Komponente des Selbstbestimmungsrechts differenziert: Erstere ist weniger problematisch, da sie nur die Selbstbestimmung eines Volks innerhalb eines bestehenden Staates durch Einräumung von Autonomierechten umfasst; letztere (und nur sie würde vorliegend weiterhelfen) beinhaltet ein Recht auf Abspaltung vom Staat, d.h. auf Sezession.104 Dafür spricht, dass eine effektive Selbstbestimmung sich letztlich auch dadurch verwirklichen kann, dass ein Volk seinen eigenen Staat 99 So auch Streinz/Streinz, 2012, EUV Art. 50 Rn. 4 ; zum Meinungsspektrum vgl. ferner Calliess/ Ruffert/Calliess, 2016, EU-Vertrag (Lissabon) Art. 50 Rn. 3 sowie Groeben, von der/Schwarze/Meng, 2015, Art. 50 EUV Rn. 8. 100 Vgl. indes Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 1994, 215, für einzelne historische Nachweise. 101 Vgl. aus der Warte des Europarechts Grabitz/Hilf/Nettesheim/Vedder, 2016, Art. 49 EUV Rn. 14. 102 Vgl. Connelly, 24 Duke J. Comp. & Int’l L. 51, 2013–2014, 67 ff.; zu den Ursprüngen siehe etwa Heintze, in: Ipsen (Hg.) Völkerrecht, 2014, 316 ff. 103 Siehe etwa die Darstellung bei Heintze, ebd., 321 ff.; vgl. auch Connelly, 24 Duke J. Comp. & Int’l L. 51 2013–2014, 67 ff.; Riedel, Berichte der dt. Gesellschaft für Völkerrecht 33 [1993], 49 (57). 104 Siehe Heintze, ebd., 352 ff., insbesondere zum umstrittenen externen Selbstbestimmungsrecht 363 ff.; zur jüngeren Diskussion siehe auch Connelly, 24 Duke J. Comp. & Int’l L. 51, 2013–2014, 67 ff.; Perry/Rehman, 31 Conn. J. Int’l L. 61, 2015, 70 ff.
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errichtet. Sofern dieses Volk aber bereits als Teil eines Staatsvolks verfasst ist, steht einer einseitigen Betätigung des pouvoir constituant regelmäßig nicht nur die Verfassung, sondern auch das Völkerrecht mit seinem Grundsatz der territorialen Integrität entgegen.105 Allerdings gibt es im jüngeren Schrifttum Überlegungen, auch jenseits der Dekolonisierungswelle in den 1960er Jahren eine Sezession zuzulassen, wenn sie eine Reaktion auf massive Menschenrechtsverletzungen darstellt (sog. remedial secession).106 Sofern man eine derartige Sezession in Notwehr grundsätzlich für zulässig hält, stellt sich die Frage, ob dieses Rechtsinstitut nicht ausgedehnt werden könnte auf einen Fall, in dem zwar keine derartige Menschenrechtsverletzung droht, jedoch die Sezession die einzige Möglichkeit ist, um als unabhängiger Staat die Mitgliedschaft in der Europäischen Union zurückzugewinnen. Dafür spricht, dass beide Fälle eine gewisse Alternativlosigkeit aufweisen. Denn als Teil des Vereinigten Königreichs kann Schottland nicht der Europäischen Union beitreten, die nur souveräne Staaten aufnimmt (siehe oben III., 2). Im Zeitalter von Internationalisierung und Globalisierung erscheint es plausibel, auch die Mitgliedschaft in bestimmten internationalen Organisationen dem Selbstbestimmungsrecht zuzuordnen, weil sie Gestaltungsräume öffnet, die auf der rein innerstaatlichen Ebene nur unvollkommen verwirklicht werden können. Hinzu kommt, dass es sich bei der Europäischen Union nicht um eine gewöhnliche Internationale Organisation, sondern um ein supranationales Gebilde handelt, das in vielfältiger Art und Weise auf die Rechtsordnung seiner Mitgliedstaaten einwirkt. Dennoch erscheint eine derartige Ausdehnung des Selbstbestimmungsrechts problematisch. So haben die schottischen Wähler (wobei die genaue Definition des Begriffs „schottisch“ an dieser Stelle dahinstehen mag) als Bürger des Vereinigten Königreichs an der Abstimmung teilgenommen; ihr Selbstbestimmungsrecht üben sie seit der Union von 1707 gemeinsam mit sämtlichen anderen Wahlberechtigten des Staates aus. Ein Recht auf Abspaltung bei nicht hinreichender Durchsetzung der eigenen regionalen Position im Rahmen einer demokratisch legitimierten Abstimmung ergibt sich weder aus der Verfassung (siehe oben II. 4) noch dürfte es völkerrechtlich durch entsprechende Staatenpraxis gedeckt sein – zumal nicht erkennbar ist, warum die EU-Mitgliedstaaten sich einem entsprechenden Risiko für die Zukunft aussetzen sollten. Im Übrigen würde eine Sezession Schottlands dazu führen, dass die 38 % der schottischen Wähler, die für den Brexit gestimmt haben, gegen ihren Willen wieder in die Europäische Union hineingetragen werden. Auf diese Weise käme es letztlich zu einem schwer vertretbaren Forum-Shopping: Soweit eine 105 Zur völkerrechtlichen Seite vgl. Heintze, in: Ipsen (Hg.), Völkerrecht, 2014, 353 ff; Heintze, , in: Hilpold (Hg.), Autonomie und Selbstbestimmung in Europa und im internationalen Vergleich, 2016, 50; zurückhaltend auch der Internationale Gerichtshof, vgl. Advisory Opinion of 22 July (Kosovo), http:// www.icj-cij.org/docket/files/141/15987.pdf; vgl. auch die sog. Secession Reference des kanadischen Supreme Court, Reference re Secession of Quebec [1998] 2 SCR 217, 1998 CanLII 793 (SCC), 120 f., sowie die sog. Friendly Relations Resolution der UN-Generalversammlung, 2625 (XXV), Declaration on Principles of International Law concerning Friendly Relations and Co-operation among States in accordance with the Charter of the United Nations, principle 5. 106 Vgl. hierzu Heintze, in: Ipsen (Hg.), Völkerrecht, 2014, 356; Connelly, 24 Duke J. Comp. & Int’l L. 51, 2013–2014, 72 f.; Simon 40 Ga. J. Int’l & Comp. L. 105, 2011–2012; Hilpold, in: ders., Autonomie und Selbstbestimmung in Europa und im internationalen Vergleich, 2016, 13.
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Position nicht mehrheitsfähig ist, soll sie durch Abspaltung eines Staatsteils mehrheitsfähig werden. Bei allem Respekt für die mehrheitliche Ablehnung des Brexits durch eine große Mehrheit der schottischen Bevölkerung zeigt dies doch, dass das Selbstbestimmungsrecht für diese Fälle letztlich nicht konzipiert wurde.107
4. Zwischenergebnis Völker- und europarechtlich lässt sich für die Schotten also kein Recht zum Verbleib in der Europäischen Union oder auch zu einem Neueintritt begründen. Eine verfassungswidrige Austrittserklärung nach Art. 50 EUV löst nicht deren Unionsrechtswidrigkeit aus; umso wichtiger ist es, dass die verfassungsrechtlichen Regeln eingehalten werden, um insoweit keinen Widerspruch zu erzeugen. Schottland wird kaum als Teil des Vereinigten Königreichs, sondern allenfalls als unabhängiger Staat EUMitglied sein können. Ein dahin gehendes unilaterales Recht auf Sezession findet im Völkerrecht indes keine hinreichende Stütze; insofern wären die Schotten auf die Zustimmung der britischen Zentralregierung angewiesen.
IV. Fazit Im Ergebnis hat Schottland als Region (oder auch Nation) des Vereinigten Königreichs keine effektive rechtliche Handhabe, sich den Verbleib oder Wiedereintritt in die Europäische Union zu sichern. Eine starke Rechtsposition hat aber das britische Parlament, das den Brexit zwar nicht durch Nichtstun (es gibt nach hier vertretener Ansicht entgegen dem jüngsten Urteil des High Court im Fall Miller kein Zustimmungserfordernis zum Austrittsgesuch), wohl aber durch aktive Intervention verhindern und damit auch Schottlands EU-Mitgliedschaft (als Teil des Vereinigten Königreichs) sichern könnte. Die Souveränität des Parlaments bedingt es, dass der Gesetzgeber jederzeit ein neues Referendum ansetzen oder auch selbst über die Fortdauer der EU-Mitgliedschaft mitentscheiden kann. Diese Möglichkeit der parlamentarischen Intervention muss effektiv ausgestaltet sein. Im Ergebnis läuft dies auf eine Konsultationspflicht der Regierung und ein Verhinderungsrecht des Parlaments hinaus, um dessen Aktivierung die schottischen Abgeordneten werben könnten. Ob dies gelingt, ist indes fraglich. Zwar ist die Mehrheit der Parlamentarier offenbar gegen einen EU-Austritt, doch ist zweifelhaft, ob sie dieser Präferenz im Lichte des Abstimmungsergebnisses (bzw. der Stimmung in ihren Wahlkreisen) nachgeben, selbst wenn das knappe Ergebnis und wahrgenommene Verzerrungen der öffentlichen Meinungsbildung im Vorfeld durchaus Zweifel an dessen Endgültigkeit aufkommen lassen mögen. Hier können sich auch schwierige grundsätzliche Fragen der demokratischen Legitimation in einem Land stellen, das ähnlich wie Deutschland Für eine aktuelle Einschätzung der Grenzen des Selbstbestimmungsrechts mit Blick auf unilaterale Sezessionen vgl. auch Paulus, https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2015/kw47wforum-paulus/394496, der umgekehrt den Aushandlungsprozess im Falle des schottischen Unabhängigkeitsreferendums als „mustergültig“ bezeichnet. 107
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bislang kaum Referenden durchgeführt hat. Der Austrittsprozess könnte sich jedenfalls noch eine Weile hinziehen, selbst wenn die britische Premierministerin Theresa May angekündigt hat, die entsprechende Erklärung bis Ende März 2017 abzugeben. Sollte die derzeitige Opposition mit einem Wahlversprechen antreten, den Brexit bei der nächsten Parlamentswahl rückgängig zu machen, könnte dies ggf. eine neue demokratische Entscheidungsgrundlage schaffen. Allerdings steht diese Wahl erst im Jahre 2020 an – es sei denn, im Zuge der Umsetzung der jüngsten Gerichtsentscheidung des High Court im Fall Miller (und ihrer möglichen Bestätigung durch den Supreme Court) käme es zu vorzeitigen Neuwahlen. Im Übrigen bleibt Schottland jedenfalls ein starker politischer Anspruch darauf, ein zweites eigenes Unabhängigkeits-Referendum abhalten zu dürfen, da sich die Grundlage des ersten Referendums deutlich geändert hat. Sollte es zum Brexit kommen, wird die britische Regierung den Schotten ein solches Referendum politisch langfristig nur schwer verwehren können.108 Allerdings hat die schottische Regionalregierung unter Nicola Sturgeon angekündigt, dies nur zu verlangen, wenn sich eine klare und langfristige Mehrheit dafür im Vorfeld abzeichnet.109 Ein unabhängiges Schottland könnte sodann der Europäischen Union nach den Voraussetzungen des Art. 49 EUV beitreten oder womöglich gar aufgrund einer Vertragsänderung gemäß Art. 48 EUV Vertragspartei bleiben.110 Realistisch erscheint ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum aber eher, wenn der Brexit schon vollzogen ist, weil erst dann die Rahmenbedingungen für das nachfolgende Verhältnis zum sog. Rest-UK bekannt sind.111 Die Europäische Union könnte hierzu womöglich beitragen, indem sie der britischen Regierung im Rahmen der Austrittsverhandlungen nahe legt, den Schotten (sowie ggf. auch Nordirland) ein neuerliches Referendum zu ermöglichen. Ferner könnte sie sich um einen beschleunigten Beitrittsprozess bemühen, nachdem Schottland ja bereits seit Jahrzehnten den europäischen Acquis verinnerlicht hat. Zu bedenken ist allerdings, dass eine EU-Mitgliedschaft Schottlands nach erfolgtem Brexit eine sog. „hard border“ zwischen Schottland und dem verbleibenden Vereinigten Königreich (sog. rest-UK) schaffen könnte.112 Inwieweit dies der Fall ist, dürfte davon abhängen, wie eng das Vereinigte Königreich sich in Zukunft an den Regeln der Europäischen Union orientieren wird, etwa ob die Marktfreiheiten weiter gelten. Andernfalls könnte es sein, dass der Brexit Schottland einerseits weniger zu-
108 Siehe auch die Einschätzung von Hazell/Renswick, Brexit: Its Consequences for Devolution and the Union, in: https://www.ucl.ac.uk/constitution-unit/research/europe/briefing-papers/briefingpaper-3. 109 Vgl. ebd. 110 Zum Beitritt siehe grundsätzlich Hanschel, NVwZ 2012, 995 ff.; zur kontroversen Variante über Art. 48 EUV siehe Vidmar/Eggett, Brexit: Is Everything Going to Change in Law, so that Very Little would Change in Fact?, 27.06.2016, in: http://www.ejiltalk.org/brexit-is-everything-going-tochange-in-law-so-that-very-little-would-change-in-fact; vgl. auch bereits http://www.gov.scot/Pub lications/2013/11/5894/5; grundsätzlich zur Frage eines unabhängigen schottischen Staates in der EU siehe Armstrong, 3 Cambridge J. Int’l & Comp. L. (2014), 181 ff. 111 Hazell/Renswick, Brexit:Its Consequences for Devolution and the Union, https://www.ucl.ac. uk/constitution-unit/research/europe/briefing-papers/briefing-paper-3. 112 Ebd.
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frieden mit dem Vereinigten Königreich macht, andererseits aber auch abhängiger von diesem.113
Wie Renwick es ausdrückt: „The outcome could therefore be that Scotland becomes less satisfied with the UK but more locked into it.“, Renwick, The Road to Brexit: 16 Things you Need to Know about the Process of Leaving the EU, 24.06.2016, in: https://constitution-unit.com/2016/06/24/theroad-to-brexit-16-things-you-need-to-know-about-the-process-of-leaving-the%e2 %80 %afeu. 113
Erwartungen und Zumutungen des italienischen Verfassungsreferendums von
Prof. Dr. Jörg Luther, Università del Piemonte Orientale, Alessandria Inhalt I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 II. Die Reforminhalte und ihre Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 1. Bikameralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 2. Kostendämpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676 3. Regionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 4. Stärkung der Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 678 III. Verfahrensfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680 IV. Erwartungen und Zumutungen des italienischen Verfassungsreferendums im europäischen Kontext 684
I. Einführung „Stimmt ihr dem Text des Verfassungsgesetzes ‚Bestimmungen zur Überwindung des paritätischen Zweikammersystems, zur Reduzierung der Zahl der Parlamentarier, zur Dämpfung der Funktionskosten der Institutionen, zur Abschaffung des Nationalen Rats der Wirtschaft und der Arbeit und zur Revision des fünften Titels im zweiten Teil der Verfassung‘ zu, der vom Parlament verabschiedet und im Amtsblatt Nr. 88 vom 15. April 2016 veröffentlicht worden ist ?“ Diese Frage wird am 4. Dezember 2016 an das italienische Wahlvolk gerichtet. Es ist aufgerufen, mit Ja für oder mit Nein gegen 41 Artikel eines Verfassungsreformgesetzes abzustimmen, das 47 der 139 Artikel der heutigen Verfassung ändert und nach der 2006 abgelehnten Verfassungsreform der Regierung Berlusconi das bislang umfangreichste Verfassungsreformprojekt der Geschichte Italiens darstellt. Gem. Art. 138 der bestehenden Verfassung ist die von den beiden Kammern des Parlaments in zweiter Abstimmung mit absoluter Mehrheit1, aber ohne Zweidrittel1 180 von 322 Senatoren und 361 von 630 Abgeordneten stimmten der Reform zu. Die Opposition nahm mehrheitlich nur im Senat, nicht im Abgeordnetenhaus an der Abstimmung teil.
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mehrheit beschlossene Verfassungsrevision einem Volksentscheid zu unterziehen, wenn es innerhalb von drei Monaten nach ihrer Veröffentlichung ein Fünftel der Mitglieder einer Kammer oder fünf hunderttausend Wähler oder fünf Regionalräte verlangen. Das dem Volksentscheid unterworfene Gesetz wird nicht verkündet, wenn es nicht von der Mehrheit der gültigen Stimmen angenommen worden ist. Der Kassationsgerichtshof hat im Juli und August 2016 vier Anträgen von Parlamentariern der Regierungsmehrheit und der Oppositionen und einem Volksbegehren der Unterstützer auf Abhaltung des Referendums stattgegeben. Der Volksentscheid ist danach auf Vorschlag der Regierung auf den 4. Dezember 2016 anberaumt worden. Abzustimmen ist dem Willen des Gesetzgebers entsprechend eine nicht erzwingbare und nicht sanktionierte republikanische Bürgerpflicht (dovere civico). Dennoch werden viele Bürger der Abstimmung fern bleiben oder einen nicht ausgefüllten weißen bzw. ungültig gemachten Stimmzettel abgeben, nicht zuletzt weil sie die Bedeutung ihrer Entscheidung nicht zu ermessen, die rechtlichen und politischen Folgen eine Ja bzw. Nein nicht abzuschätzen und abzuwägen vermögen. Die Unsicherheit und Ergebnisoffenheit, die jede demokratische Volksabstimmung über Verfassungsfragen kennzeichnet, wächst mindestens proportional zum Umfang dieser Fragen. Die Richtlinien für Verfassungsreferenden der Venedig-Kommission des Europarats von 2001 verlangen, dass die Wähler über die Folgen des Referendums informiert werden: „The authorities must provide objective information. This implies that the text submitted to referendum and an explanatory report should be made available to electors sufficiently in advance, as follows: – they must be published in an official gazette at least one month before the vote; – they must be sent directly to citizens and be received at least two weeks before the ballot; – the explanatory report must give a balanced presentation not only of the executive and legislative authorities’ viewpoint but also the opposing one.” Anders als bei Wahlen ist öffentlichen Amts trägern keine strikte Neutralität auferlegt, aber soll ein „excessive, one-sided cam paigning“ vermieden werden. Die Nutzung öffentlicher Ressourcen im Wahlkampfmonat vor der Abstimmung ist verboten und für die Vorwahlkampfzeit muss ein „strict upper limit“ festgesetzt werden.2 Für eine Information über den Inhalt des Verfassungsreferendums finden sich allenfalls Stichworte auf den Web-Seiten der Regierung und des Parlaments, keine Initiativen des Staatspräsidenten oder auch nur der Bürgermeister. Immerhin wurden von der zuständigen Parlamentskommission Bestimmungen zur „par condicio“ und zur Optimierung der Information im öffentlich-rechtlichen Rundfunk erlassen.3 Die Kosten der Referendumskampagne sind nicht bekannt. Es ist freilich auch nicht das erste Mal, dass eine Verfassungsreform dem Volk vorgelegt wird. Von 15 verfassungsändernden Gesetzen wurden bisher drei einem Referendum unterzogen. 2001 nahmen 34,1 % der stimmberechtigten Wähler teil und mit einer Mehrheit von 64,2 % ein Gesetz zur Änderung des fünften Titels der Verfassung an, dessen elf Artikel eine grundlegende Reform des Regionalismus bedeu Guidelines for Constitutional Referendums at National Level, CDL-INF (2001) 10. http://www.camera.it/leg17/824?tipo=A&anno=2016&mese=10&giorno=11&view=filtered &commissione=21#. 2 3
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teten. 2006 nahmen 52,46 % der Wahlberechtigten an einer Abstimmung teil, bei der 61,29 % eine von der Regierung Berlusconi betriebene Verfassungsreform verwarfen, deren 57 Artikel insgesamt 50 der 80 Artikel des zweiten Teils der Verfassung und weitgehend dieselben Vorschriften betrafen, die 2016 Gegenstand des erneuten Reformversuch sind. Wie schon bei den vorausgegangenen Versuchen und auch bei dem 1946 gleichzeitig mit den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung abgehaltenen Referendum zur Frage der Beibehaltung oder Abschaffung der Monarchie, ist das Verfassungsreferendum 2016 sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich des Verfahrens heftig umstritten. Um die verfassungsrechtliche Bedeutung dieses verfassungspolitischen Streits zu klären, bedarf es zunächst einer Synthese der Reforminhalte (II.). Daran anschließend sind die Verfahrensprobleme zu vertiefen (III.). Ein besonderes Augenmerk ist abschließend auf die Bedeutung der Reform für die Entwicklung der Europäischen Union zu richten (IV.).
II. Die Reforminhalte und ihre Kritik Nach Ansicht der Ministerin für die Verfassungsreform, Elena Boschi, ist der Inhalt der Verfassungsreform schon aus seiner Überschrift heraus verständlich. Für die Reduzierung der Anzahl der Parlamentarier, genauer genommen der gewählten Senatoren von 315 um 220 auf 95 und für die Beseitigung des CNEL mag das zutreffen. Fraglich und informationsbedürftig ist allerdings wie der paritätische Bikameralismus überwunden wird (1), welchen Umfang die intendierte Kostendämpfung hat (2) und was die Reform des Regionalismus bewirken kann (3). Auch einige weitere Änderungen zeigen, dass die Reform insgesamt einer Stärkung der Exekutive bezweckt und sich insofern sowohl auf die politischen Rechte des Volkes als auch auf die Verfassungsgerichtsbarkeit auswirkt (4).
1. Bikameralismus Die Überwindung des paritätischen Bikameralismus bedeutet die Einrichtung eines funktionell differenzierten Zweikammersystems. Spezialität des bestehenden italienischen Systems ist, dass beide Kammern direkt gewählt sind und über dieselben Aufgaben und Befugnisse verfügen, d.h. einerseits die Gesetze einer zweiten Lesung durch die älteren Senatoren (mind. 40 Jahre) unterzogen werden, andererseits auch die Regierung einer doppelten Kontrolle unterliegt. Nach dem Willen der Reformer soll die zweite Kammer nun nicht mehr wie das Abgeordnetenhaus die Nation repräsentieren, sondern die „territorialen Institutionen“. Zwar wurde die von der Regierung vorgeschlagene Bezeichnung „Senat der Regionen“ fallengelassen, der „Senat der Republik“ repräsentiert jedoch vor allem die Gemeinden, Metropolstädte und Regionen, nicht mehr die aus dem Verfassungstext gestrichenen Provinzen und wohl auch nicht mehr den (Zentral-)Staat (Art. 114). Die Funktionen beider Kammern werden nun wie folgt beschrieben (Art. 55 III, IV):
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„Die Abgeordnetenkammer ist Berechtigter im Vertrauensverhältnis zur Regierung und übt die Funktionen der politischen Richtliniengebung (indirizzo politico), der Gesetzgebung und der Kontrolle über das Wirken der Regierung aus. Der Senat der Republik repräsentiert die territorialen Institutionen und übt Funktionen der Verbindung (raccordo) zwischen dem Staat und den anderen die Republik konstituierenden Körperschaften. Er wirkt an der Ausübung der Gesetzgebung in den von der Verfassung bestimmten Fällen und Modalitäten sowie an der Ausübung der Funktionen der Verbindung zwischen dem Staat, den anderen die Republik konstituierenden Körperschaften und der Europäischen Union mit (Art. 55 III, IV). Er nimmt an den Entscheidungen zur Herstellung und Umsetzung der Rechtsetzungsakte und Politiken der europäischen Union teil. Er bewertet die öffentlichen Politiken und die Tätigkeit der öffentlichen Verwaltungen und überprüft die Auswirkungen der Politiken der Europäischen Union auf die Territorien. Er wirkt an der Abgabe von Stellungnahmen zu den der Regierung zustehenden Ernennungen und an der Überprüfung der Durchführung der Gesetze des Staates mit.“
Diese Funktionen des Senats sind denen des Abgeordnetenhauses untergeordnet und orientieren sich am Modell des französischen und des spanischen Senats.4 Die Re territorialisierung der Repräsentation, wenngleich mit freiem Mandat, soll die Autonomien der Regionen und Gemeinden stärken und ein Gegengewicht zur Rezen tralisierung des Staates schaffen (s.u. 3). Hinzu kommen freilich weitere Aufgaben des „raccordo“ , Funktionen der Kooperation, die bisher auf Regierungsebene vom System der Konferenzen von Staat-Regionen-Gemeinden erfüllt werden, mit deren Auf hebung freilich nach einer Untersuchung der bisherigen gemeinsamen Kommission beider Kammern für die Angelegenheiten der Regionen nicht zu rechnen ist.5 Die Mitwirkung des Senats an der Gesetzgebung stößt auf Kritik, weil sie zwar die Gefahr eines endlosen Hin und Her (Navette) der Gesetze bannt, die Zahl der Gesetzgebungsverfahren jedoch vervielfacht. Der paritätische Bikameralismus wird beibehalten in einigen speziellen Kategorien von Gesetzen, speziell bei Verfassungsreformen (Art. 138), den von der Verfassung vorgesehenen Gesetzen zum Schutz der Sprachminderheiten und zu den Volksreferenden, dem Senatswahlgesetz (Art. 57 VI) und den Inkompatibilitäten der Senatoren (Art. 65), den Grundprinzipien der Regionalwahlgesetzgebung (Art. 122 I), den Grundlagen des Kommunalrechts (Art. 70 I), den EU-Verträgen (Art. 80 II) und den allgemeinen Regeln der Herstellung und Ausführung von UE-Rechtsakten (Art. 70 I), der Rechtsstellung der Hauptstadt (Art. 114 III), der Ausdehnung der Kompetenzen einzelner Regionen auf Angelegenheit der Friedensgerichte, allgemeine und gemeinsame Regelungen der Sozialpolitik, aktive Arbeits- und Bildungspolitiken, Außenhandel, Berufsausbildung und Raumordnung (Art. 116 III), sowie bei der Regelung des Vermögens der Gebietskörperschaften (Art. 119 VI), Übertritt von Gemeinden zu anderen Regionen (Art. 132 II). Hinsichtlich der übrigen Gesetze steht dem Senat das Recht der Gesetzesintiative (Art. 71) und das Recht zu, binnen zehn Tagen nach der Verabschiedung des Gesetzes durch das Abgeordnetenhaus auf Antrag eines Drittels seiner Mitglieder zu ent4 Art. 24 III frVerf gewährleistet die Vertretung der Gebietskörperschaften der Republik. Art. 69. (1) spVerf. Der Senat ist die Kammer der territorialen Repräsentation. 5 „Indagine conoscitiva sulle forme di raccordo tra lo Stato e le autonomie territoriali, con particolare riguardo al sistema delle conferenze“, http://www.camera.it/application/xmanager/projects/ leg17/attachments/shadow_comunicatostampa/allegato_pdfs/000/010/627/Documento_conclusivo_ approvato.pdf.
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scheiden, in eine Prüfung einzutreten und binnen 30 Tagen Änderungsvorschläge zu unterbreiten, über die dann das Abgeordnetenhaus entscheidet (Art. 70 III). Dies gilt auch für alle Gesetze, die Interessen der Regionen und Gemeinden regeln oder EU-Vorgaben umsetzen. Besondere Verfahren sind nur vorgesehen bei Gesetzen, die unter Berufung auf ein nationales Interesse in Gesetzgebungskompetenzen der Regionen eingreifen. Hierbei hat der Senat eine Beratungspflicht und können mit absoluter Mehrheit beschlossene Änderungsvorschläge nur mit absoluter Mehrheit vom Abgeordnetenhaus abgelehnt werden (Art. 70 IV). Bei Haushaltsgesetzen ist die Änderungsvorschlagfrist auf 15 Tage verkürzt (Art. 70 V). Die Gefahr von Kompetenzstreitigkeiten zwischen beiden Kammern soll nicht wie in Belgien durch einen Vermittlungsausschuss, sondern durch eine einvernehmliche Entscheidung der Präsidenten beider Kammern gebannt werden (Art. 70 VI), wobei freilich keine Norm das Verfahren bei einer fehlenden Einigung regelt und die Feststellung von Kompetenzund Verfahrensfehlern durch den Verfassungsgerichtshof nicht präkludiert ist. Um seine Aufgaben zu erfüllen, wird der Senat zu einem permanenten, anders als die Abgeordnetenkammer nicht mehr auflösbaren Organ, nunmehr bestehend aus „fünfundneunzig Senatoren, die die territorialen Institutionen repräsentieren, und aus fünf Senatoren, die vom Präsidenten der Republik ernannt werden können“(Art. 57 I). Letztere können nicht mehr die Nation und ihre Einheit, allenfalls die sozialen, wissenschaftlich, künstlerisch und literarischen „Felder“ und deren funktionelle Autonomien repräsentieren, auf denen sie sich durch „höchste Leistungen für das Vaterland“ ihre Ernennung verdient haben (Art. 59). Während sie nun nicht mehr auf Lebenszeit, sondern analog der Amtsdauer des Präsidenten auf sieben Jahre ernannt werden und keine zweite Amtszeit haben können, sollen die Repräsentanten der Gebietskörperschaften nach dem schon in der verfassunggebenden Versammlung erwogenen, aber verworfenen österreichischen Modell von den Räten der Regionen und der autonomen Provinzen Bozen und Trient für deren fünfjährige Legislaturperiode gewählt werden. Dem französischen Modelle sich annähernd sollen jedoch 21 Senatoren aus den Reihen der Bürgermeister der Region (bzw. der autonomen Provinzen), die restlichen 74 dagegen im Wege der Verhältniswahl aus den Reihen der Regional- bzw. Provinzialratsmitglieder gewählt werden (Art. 57 I), zu denen nach einigen Regionalstatuten auch die direkt gewählten Präsidenten der Regionalregierungen gehören. Die Senatorensitze würden proportional zur Bevölkerungsdichte verteilt, wobei die zehn kleinen Regionen und autonomen Provinzen mit bis 1,5 Millionen Einwohnern (Aostatal, Bozen, Trient, Friaul Julisch Venetien, Ligurien, Umbrien, Marken, Abruzzen, Molise, Basilikata) zwei Senatoren, Kalabrien drei, Toskana fünf, Apulien und Emilia-Romagna sechs, Piemont, Veneto und Sizilien sieben, Latium acht, Kampanien neun und die Lombardei vierzehn Senatoren erhielten. Um der Kritik an der nur mittelbaren demokratischen Legitimation des Senats entgegenzukommen, wurde folgende komplizierte Kompromissformel aufgenommen: „Die Dauer des Mandats der Senatoren entspricht derjenigen der Organe der territorialen Institutionen, von denen sie übereinstimmend mit den von den Wählern für die Kandidaten zum Rat anlässlich der Erneuerung dieser Organe ausgedrückten Wahl-Entscheidungen gewählt wurden.“ (Art. 57 IV).
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Eine Übergangsvorschrift sieht zudem vor, dass bis zur Verabschiedung des Senatswahlgesetzes die Wahl der Senatoren in dem nach bisherigem Recht aufgrund eines Mehrheitswahlrechts gebildeten Regionalrat durch Listenwahl stattfindet. Die Sitze werden dann proportional nach einem Mechanismus verteilt, bei dem allerdings unklar bleibt, welche Liste den Bürgermeistersenator stellt. Kritisiert wird auch, dass einerseits die direkt gewählten Präsidenten der Regionen nicht Senatoren kraft ihres Amtes sind und allenfalls durch die Geschäftsordnung ein Rederecht erhalten können, andererseits die Bürgermeistersenatoren überfordert sind, weil sie bereits zusätzliche Ämter und Aufgaben in den Metropolstädten bzw. Provinzen, in der Regionalverwaltung, im System der Konferenzen und ggf. auch auf europäischer oder internationale Ebene ausüben. Gezweifelt wird daher an der Funktionsfähigkeit des künftigen Senats und des gesamten neuen, eher schwachen und „imperfekten“ Bikameralismus.
2. Kostendämpfung Die vom Titel des Verfassungsgesetzes prospektierte Kostendämpfung ist im Gesetzgebungsverfahren nicht dokumentiert worden. Einer unveröffentlichten Note der Finanzverwaltung zufolge soll die im Titel genannte Verringerung der Zahl der Parlamentarier und die Auflösung des CNEL eine jährliche Ersparnis von 49 + 9 Millionen Euro, umgerechnet auf die Einwohnerzahl also von 1,0 Euro pro Kopf erbringen. Die Kosten des Verfassungsreferendums werden dagegen auf ca. 200 Millionen Euro geschätzt. Einige weitere Vorschriften könnten jedoch weitere Ersparnisse prospektieren. So sichert der neue Verfassungstext nur noch den Abgeordneten eine gesetzlich festgelegte Entschädigung zu (Art. 69). Die Senatoren, die Bürgermeister und Regionalräte erhalten danach keine Zulage aus dem Staatshaushalt, was freilich eine Erstattung von Auslagen und Kosten durch die jeweiligen Körperschaften nicht verbietet. Neue Kosten könnten daher auf die Regional- und Provinzialräte zukommen, während die Kosten der Senatsverwaltung selbst dann wohl nur geringfügig verringert würden, wenn die Verwaltungsstäbe beider Kammern verschmolzen werden sollten. Eine weitere Vorschrift sieht vor, dass die vom Regionalgesetzgeber festgelegten Bezüge der Regionalratsmitglieder den Betrag der Bezüge der Bürgermeister der Regionalhauptstädte nicht übersteigen dürfen (Art. 122 I). Da die Vergütung der Bürgermeister aber von der Größe der Gemeinde abhängt, kann es zu erheblichen Schwankungen und Ungleichbehandlungen kommen. In den Schlussbestimmungen wird dann noch eine Norm eingestreut, dass den Fraktionen in den Regionalräten keine eigenen Aufwendungen mehr erstattet werden dürfen (Art. 40 II), eine Praxis die zuletzt zu zahlreichen Strafverfahren und Regressverfahren des Rechnungshofs geführt und das Ansehen fast aller „Landtage“ beschädigt hatte. Schon die letzte Verfassungsreform von 2012 hatte die öffentlichen Verwaltungen verpflichtet, einen ausgeglichenen Haushalt und die Tragbarkeit der Staatsschulden zu gewährleisten (Art. 97 I). Die erneute Reform der Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen verstärkt die Verantwortung des Zentralstaats für die ausgabenintensivsten Materien und gestattet nur denjenigen Regionen eine Kompetenzaus-
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weitung mit dem Staat zu paktieren, die einen ausgeglichenen Haushalt ausweisen (Art. 116 III). Der Staat erhält eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz zur „Koordinierung des öffentlichen Finanzwesens und des Steuersystems“ (Art. 117 II e), um auch ohne Zustimmung des Senats die Finanzautonomie der Gebietskörperschaften zu beschränken (Art. 119 II). Das staatliche Gesetz definiert auch ohne Zustimmung des neuen Senats „in Bezug zu nehmende Kosten- und Bedarfsindikatoren, die Effizienzbedingungen in der Wahrnehmung ihrer öffentlichen Aufgaben fördern“ (Art. 119 II). Diese Maßnahme zur Kostendämpfung in den autonomen Verwaltungen hatte schon das Gesetz Nr. 42/2009 zum sog. „fiskalischen Föderalismus“ ohne Erfolg prospektiert. Die Verfassung verspricht eine Vereinfachung und Transparenz der Verwaltungen, um Effizienz und Verantwortlichkeit zu steigern, nicht auch um die Kosten zu dämpfen (Art. 118 II). Das Gesetz regelt schließlich auch ohne Zustimmung des Senats den „Ausschluss der Inhaber regionaler und lokaler Regierungsorgane von der Ausübung der entsprechenden Funktionen, wenn ein Zustand schwerer Zerrüttung der Finanzen der Körperschaft festgestellt wird“ (Art. 120 II). Die Verfassungsreform bekräftigt in diesen Vorschriften den guten Willen des Staates, der Finanzkrise Herr zu werden, konzentriert sich freilich auf die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften. Die einzigen konkreten Kostendämpfungen im Senat und CNEL könnten als Schuldeingeständnisse bzw. -zuweisungen (miss-) verstanden werden. Sie könnten freilich auch als Mittel zu einer Beseitigung politischer Reibungswiderstände gegen weiterreichende Strukturreformen oder auch nur schlicht als Vorwand für einen Aufschub derselben gelesen werden.
3. Regionalismus Die „Revision des fünften Titels im zweiten Teil der Verfassung“ vollzieht und konstitutionalisiert eine schon durch das Gesetz Nr. 56/2014 eingeleitete Reform des Staatsauf baus, indem sie im Titel „Regionen, Metropolstädte, Kommunen“ die Provinzen durch die Metropolstädte ersetzt. Die Streichung des Wortes „Provinzen“ – mit Ausnahme der Provinzen Trient und Bozen – aus dem gesamten Verfassungstext darf jedoch nicht als eine Vereinfachung des Verwaltungsauf baus missverstanden werden. Das Weiterleben der Provinzen als weiträumige Gebietskörperschaften (enti di area vasta) mit nicht mehr direkt gewählten Organen und ihre Gebietsreform wird der Gesetzgebung der Regionen anvertraut (Art. 40 IV des Verfassungsreformgesetzes). Da die nun errichteten 14 Metropolstädte einen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz auch als Hauptstädte des Staates und der Regionen – ausgenommen Messina und Catania – beanspruchen, riskiert die Reform Entwicklungsdefizite der Land- gegenüber der Großstadtbevölkerung und der kleinen gegenüber den großen Regionen mit Metropolstädten zu verstärken ohne gleichzeitig eine territoriale Neuordnung der Regionen zu erleichtern. Die Reform versucht zudem eine Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen, die einige Fehler der Verfassungsreform von 2001 betrifft, die zu großen Teilen bereits durch eine recht konstruktive Verfassungsrechtsprechung kompensiert worden waren. Gestrichen wird die der deutschen Rahmenkompetenz entsprechende „legis-
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lazione concorrente“, deren Materien teils in die ausschließliche Gesetzgebung des Zentralstaats (Art. 117 II), teils in einen Katalog von Kompetenzen der Regionalgesetzgebung (Art. 117 III) überführt werden, in die der staatliche Gesetzgeber allerdings zum „Schutz der Rechts- und Wirtschaftseinheit der Republik oder zum Schutz des nationalen Interesses“ einzugreifen berechtigt ist (Art. 117 IV). Die alten Rahmengesetze werden z.T. durch neue Kompetenzen des Staates zum Erlass von „allgemeinen und gemeinsamen Bestimmungen“ z.B. „für den Schutz der Gesundheit, die Sozialpolitiken und die Ernährungssicherheit“, „über die Bildung und die Berufsausbildung“, „über kulturelle Betätigungen und Tourismus“, „Raumordnung“ abgelöst. Neue Kompetenztitel zugunsten des Staates betreffen das Versicherungswesen, die rechtliche Regelung der Arbeit in den öffentlichen Verwaltungen zur Sicherung ihrer Einheitlichkeit im nationalen Territorium, die Infrastrukturen und Plattformen der Verwaltungsinformatik usf. (Art. 117 II). Den Regionen verbleiben alle übrigen Kompetenzen („residuali“). Benannt werden „die Repräsentation der Sprachminderheiten, regionale Territorialplanung und Mobilität, infrastrukturelle Ausstattung, Programmierung und Organisation der Sozialdienste, Förderung der lokalen Wirtschaftsentwicklung, Organisation im regionalen Bereich von Diensten zugunsten der Unternehmen und der Berufsausbildung“ sowie, „vorbehaltlich der funktionalen Autonomie der Schulen, die Materien der Dienste betreffend die Schuleinrichtungen, der Förderung des Rechts auf Studium, auch an der Universität“. Hinzu kommen andere Materien, „soweit von regionalem Interesse“, wie „ die kulturellen Betätigungen, die Förderung der Umwelt-, Kultur- und Landschaftsgüter, die regionale Valorisierung und Organisation des Tourismus, die Regelung, auf der Grundlage besonderer Vereinbarungen im regionalen Bereich, der Finanzbeziehungen zwischen den Gebietskörperschaften der Region zur Erreichung der Programmziele der regionalen und lokalen öffentlichen Finanzen“ (Art. 117 III). Die Flexibilisierung der Kompetenzordnung wird durch die bereits erwähnte Möglichkeit der Gewährung weiterer Kompetenzen an finanziell gesunde Regionen erweitert (Art. 116 III), die das italienische Modell dem spanischen des asymmetrischen Regionalismus annähert und die Unterschiede zu den Privilegien der Regionen mit einen Sonderstatut einebnet. Die Kritiker bezweifeln jedoch, dass die Reform der bestehenden Legitimationskrise der Regionen ausreichend entgegenwirken kann.
4. Stärkung der Exekutive Was der Titel der Verfassungsreform nicht verrät, ist die beabsichtigte Stärkung der Regierung im System der parlamentarischen Demokratie des Zentralstaats und das Zusammenspiel der Verfassungsregeln mit der Wahlreform. Angesichts der verringerten Kompetenzen der Regionen und des mangelnden imperativen Mandats der Senatoren hat die Zentralregierung zunächst die Konkurrenz der Regional- und Metropolstadtregierungen weniger zu fürchten und kann sie die Gebietskörperschaften von Rom aus leichter zügeln. Zudem ist sie im neuen Zweikammersystem nur noch auf das Vertrauen des Abgeordnetenhauses angewiesen, in dem aufgrund des neuen Wahlgesetzes Nr. 52/2015 (sog. Italicum) eine einzige Par-
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tei mit 40 % der Stimmen im ersten Wahlgang oder durch eine Stichwahl zwischen den beiden stärksten Parteien eine Mehrheit von 55 % der Sitze erhalten würde. Die Kritiker befürchten die plebiszitäre Legitimation des Premiers und einer Einparteienherrschaft. Die Wähler könnten in der Tat nach dem neuen Wahlgesetz weder kleine noch große Koalitionen ermöglichen bzw. erzwingen, selbst wenn die Regierungspartei im ersten Wahlgang prozentual weniger Stimmen als die kleinste in der Verfassung geschützte politische Minderheit (20 %) erhalten würde. Gleichzeitig würden sie für den Listenführer (capo) als Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten auf dem Wahlzettel stimmen, wodurch am Abend des Wahlgangs der Premier fest stehen und seine Macht auch innerhalb der eigenen Partei gestärkt würde. In den hundert Wahlkreisen würden viele Abgeordneten der Regierungsmehrheit und die meisten Abgeordneten der Oppositionen über sichere Listenplätzen gewählt, sodass der Wähler selbst insofern praktisch keine eigene Personalentscheidung trifft. Den Termin einer Entscheidung über die bereits vorgelegten Fragen der Verfassungsmäßigkeit dieser Regelungen des Gesetzes hat das Verfassungsgericht auf die Zeit nach dem Referendum verschoben. Ob im Zusammenspiel der Parlaments- und der Wahlreform die Regierung tatsächlich an Stabilität und Stärke gewinnt, ist freilich nicht ganz sicher. Seit dem Übergang zum Mehrheitswahlrecht 1993 wurde in der Tat die Regierung häufig durch unterschiedliche Mehrheiten in beiden Kammern gebremst und gelegentlich auch gestürzt. In Zukunft könnte eine gegen die Regierung opponierende Mehrheit im Senat allein mit einer Blockade z.B. der Verfassungsgesetzgebung oder der Ratifikation von Änderungen der EU-Verträge drohen. In einem solchen Fall könnte dann der neue Senat nicht mehr vorzeitig aufgelöst werden, was ihm paradoxerweise eine nun unüberwindbare und politischem Missbrauch offenstehende Vetomacht gewähren könnte. Auch eine Abschaffung des neuen Senats durch ein Einkammersystem würde an dieser Vetomacht scheitern, der Übergang zu einem (semi-)präsidentiellen Regierungssystems wäre dagegen nicht auszuschließen. Im Verhältnis der Regierung zum Parlament verdient insofern das dem französischen „vote bloqué“ (Art. 44 III frVerf ) nachgebildete neue Recht der Regierung auf eine Parlamentsabstimmung zu einem sicheren Termin („voto a data certa“) Beachtung. Danach kann die Regierung von der Abgeordnetenkammer verlangen, binnen fünf Tagen eine für das Regierungsprogramm wesentliche Gesetzesinitiative, ausgenommen vom Senat anzunehmende oder Wahl-, Ratifikations- und Haushaltsgesetze, auf die Tagesordnung zu setzen und darüber binnen weiterer 70 Tage (ggf. um weitere 15 Tage verlängerbar) abzustimmen (Art. 72 VI). Ob durch dieses Verfahren dem bislang üblichen Missbrauch der Vertrauensfrage mit dem Ziel, Abänderungsanträge zu einer Gesetzesvorlage abzuschneiden, und ob dem exzessiven Gebrauch der Notverordnungsrechte der Regierung vorgebeugt werden kann, dessen bislang einfachgesetzlich und in der Verfassungsrechtsprechung anerkannten Schranken nun im Verfassungstext expliziert werden (Art. 77), darf bezweifelt werden. Das politische Ermessen der Regierung, eine oder sogar jede Gesetzesinitiative für wesentlich für das eigene Programm zu erklären, ist in Ermangelung einer Formalisierung des Programms kaum überprüf bar. Die Stärkung der Regierung im Parlament wird im neuen Verfassungstext teilweise durch eine Anerkennung der Rechte der parlamentarischen Minderheiten und ein
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vom englischen Modell inspiriertes „Statut der Opposition“ kompensiert, deren genauer Inhalt freilich die von der Mehrheit zu ändernden parlamentarischen Geschäftsordnungen festlegen (Art. 64 I, II). Ein Auszug der Opposition aus dem Parlament wie zu Zeiten des Faschismus (sog. Avventino) würde jedenfalls die neue Anwesenheitspflicht der Parlamentarier verletzen und könnte sogar strafrechtlich sanktioniert werden (Art. 64 VI). Der Opposition bleibt allenfalls eine begrenzte Möglichkeit, die Wahl des Staatspräsidenten durch die Versammlung beider Kammern zu verhindern. Hierzu genügt nun nicht mehr die absolute Mehrheit der Versammlung in der vierten, sondern eine Mehrheit von 3/5 der abgegebenen Stimmen (Art. 83 III). Wenn die nach dem neuen Wahlgesetz mit 55 % der Abgeordnetensitze ausgestattete Regierungspartei hierzu keinen kleinen Partner fände, könnte jedenfalls zeitweise der Präsident der Abgeordnetenkammer die Vakanz ausfüllen. Ein neues Vorrecht der Opposition ist das Recht eines Viertels der Abgeordneten oder eines Drittels der Senatoren, die Wahlgesetze beider Kammern einer präventiven Normenkontrolle zuzuführen (Art. 73 IV), über die der Verfassungsgerichtshof nach dem Vorbild des französischen Verfassungsrats (Art. 61 frVerf ) binnen nur eines Monats zu entscheiden hätte. Die damit ermöglichte eher summarische Kontrolle dürfte zwar spätere inzidente Normenkontrollen nicht präkludieren, jeder weitere direkte Zugang der Opposition zum Verfassungsgerichtshof bliebe jedoch ausgeschlossen und die Wahlprüfung würde wie bisher ausschließlich dem Parlament vorbehalten (Art. 66). Bemerkenswert ist auch eine missglückte Übergangsvorschrift, nach der in der laufenden Legislaturperiode beschlossen Wahlgesetze in jedem Fall sofort nach Inkrafttreten der Verfassungsreform einer abstrakten Normenkontrolle unterworfen werden können. Sie kann auf das Senatswahlgesetz kaum Anwendung finden, da die Verfassung selbst eine Übergangsregelung für die erste Wahl des neuen Senats beinhaltet. Schließlich bliebe der Opposition als letztes Mittel der Appell an das Volk und der Gang zur „Piazza“. Eine Gesetzesinitiative des Volkes, die künftig nicht mehr 50.000, sondern 150.000 Unterschriften voraussetzt, müsste in Zukunft zur Diskussion und Abstimmung auf die Tagesordnung des Parlaments gesetzt werden (Art. 71 III). Ein künftiges Verfassungsgesetz soll offenbar nach Schweizer Vorbild neue Formen propositiver und richtungsweisender Volksbegehren sowie die Konsultation zivilgesellschaftlicher Gruppen gewährleisten (Art. 71 IV). Das Gültigkeitsquorum der gesetzesauf hebenden Referenden soll zudem auf die Mehrheit der Abstimmenden der letzten Wahlen abgesenkt werden, wenn dafür nicht 500.000, sondern 800.000 Unterschriften gesammelt werden. Letztlich werden die politischen Rechte der Bürger damit kaum erweitert, sondern eher verkürzt. Sie können Senatoren und Provinztage nicht mehr direkt wählen, müssen letztlich mehr Unterschriften für eigene Initiativen sammeln und werden mit nicht einklagbaren Versprechen neuer Formen direkter Demokratie bedacht.
III. Verfahrensfragen Procedure matters: Verfassungsreformverfahren können mehr oder weniger Bürgerbeteiligung realisieren und somit sowohl die Inhalte als auch den Erfolg der Reform
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beeinflussen.6 Verfassungsreferenden sind neueren Untersuchungen zufolge seit 1989 nicht nur in Italien, sondern auch durch die Transformation der osteuropäischen Staaten, die Förderung internationaler Einrichtungen und den gescheiterten europäischen Verfassungsvertrag häufiger geworden. Die Statistiken zeigen, dass global ca. 40 % der geltenden Verfassungen zu ihrer Reform nunmehr ein Referendum erfordern oder ermöglichen (1950: 5 %).7 In Italien haben die gesetzesauf hebenden Referenden in den neunziger Jahren auch die Wahlgesetze und durch den Übergang zu einem überwiegenden Mehrheitswahlrecht zwar nicht das formelle, aber doch das materielle Verfassungsrecht erfasst und die Herstellung der Mehrheiten für Verfassungsreformen im Parlament selbst erleichtert. Institutionelle Reformen der Verfassung und der sie ergänzenden Gesetze werden in Italien schon seit Beginn der achtziger Jahre diskutiert, ohne dass die seit den neunziger Jahren erfolgten Reformen zu einem erfolgreichen Abschluss der Debatte geführt haben. Das Scheitern der parlamentarischen Versuche einer umfassenden Reform in den letzten Jahrzehnten – auch auf dem Wege von ad-hoc-Prozeduren abweichend von dem Revisionsverfahren des Art. 138 – beweist nach Auffassung der Regierung nicht nur ihre Notwendigkeit, sondern legitimierte auch die eigene Gesetzesinitiative. Dem Einwand der Gegner, der parteienübergreifende Konsens, der die Verfassung trägt, und seine Integrationsfunktion seien durch Initiativen und Aushandeln im Parlament leichter zu erhalten bzw. zu erneuern, wurde entgegnet, ein bereits bestehender Konsens bzw. Pakt über die Reforminhalte sei anlässlich der Wahl des Staatspräsidenten Mattarella ohne Grund aufgekündigt worden, eine Verfassungsreform schon seinem Vorgänger Napolitano versprochen und der Glaubwürdigkeit des italischen politischen Systems geschuldet.8 Die Einwilligung der Mehrheit des Volkes beim Referendum würde aus dieser Sicht die Zustimmung eines Teils der Opposition ersetzen. Damit wird jedoch das in Art. 138 garantierte Recht der Opposition überspielt, sich gegen die Parlamentsmehrheit an das Volk zu appellieren und das Verfassungsreferendum zu einem Mittel der Regierungsmehrheit, den Konsens zur eigenen Herrschaft zu verbreitern. Als eine unstatthafte Vermischung von Referendum und Recall wurde deshalb auch die im Parlament bestätigte – in den Medien mittlerweise zurückgenommene bzw. abgeschwächte – Ankündigung des Ministerratspräsidenten kritisiert, er werde im Falle einer Ablehnung der Verfassungsreform zurücktreten. Jedenfalls im Prinzip besteht Einigkeit darüber, dass für die Akzeptanz und das Gelingen einer Verfassungsreform in einer Demokratie die Verfassungspolitik von den Regierungsgeschäften zu trennen ist. Hinsichtlich des parlamentarischen Verfahrens ist zu kritisieren, dass die Diskus sion über die Inhalte zumeist durch das Aufwerfen von Verfahrensfragen verhindert 6 S. Voigt, The Consequences of Popular Participation in Constitutional Choice – Towards A Comparative Analysis, in: A. van Aaken, C. List, C. Luthge (Hg.), Delibefration and decision: economics, constitutional theory, and deliberative democracy, 2003, 199 ff. 7 J. Blount, Participation in Constitutional Design, in: T. Ginzburg, R. Dixon (Hg.), Comparative Constitutional Law, 2011, 38. Vgl. auch die vom Verfassungsausschuss der House of Lords für legitim gehaltenen Hypothesen eines Verfassungsreferendums in UK: S. Tierney, Constitutional Referendums, 2012, 301. 8 M. Renzi, Rede vor dem Abgeordnetenhaus vom 11.4.2016, http://www.governo.it/articolo/intervento-del-presidente-renzi-alla-camera/4464: „mantenersi fedeli all’impegno preso con il Presidente della Repubblica precedente e con la credibilità del sistema politico italiano“.
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wurde. Während die Regierungsmehrheit zur Verfahrensbeschleunigung ihre parteiinternen Kritiker aus dem zuständigen Ausschuss abberief, auf ihre Redezeiten verzichtete und damit drohte, den Änderungsanträgen durch eine Vertrauensabstimmung den Boden zu entziehen, praktizierte die Opposition Obstruktionstaktiken durch Millionen von Änderungsanträgen, zog einen Teil davon anlässlich eines präsidentiellen Gnadenakts zurück und praktizierte mehrmals den Auszug aus dem Parlament. Rechtlich umstritten ist vor allem die Frage, ob das auf der Grundlage eines verfassungswidrig erklärten Wahlgesetzes gewählte Parlament sich auf ordentliche Gesetzgebung und Regierungskontrolle beschränken und einer so weitreichenden Verfassungsreform entsagen hätte müssen. Der Verfassungsgerichtshof hatte in einem Obiter Dictum zwar ausdrücklich unter Bezugnahme auf den Rechtsgrundsatz der Kontinuität des Staates die Rechtmäßigkeit der Rechtsakte des Parlaments bestätigt.9 Die Verantwortung des Parlaments für die Umsetzung des Urteils in eine erneute Wahlreform ist auch in der Verfassung angezeigt (Art. 136 Verf ). Eine vom Volk bestätigte Reform der verfassungsrechtlichen Legitimationsgrundlagen des Parlaments könnte jedoch die durch das Rechtsstaatsprinzip eben diesem Parlament vermittelte Legitimation endgültig verbrauchen. In diesem Fall könnte auch das „Ja“ zur Reform, die Legitimation des Parlaments nicht wiederherstellen10 und müsste der Präsident von Amts wegen zur Wiederherstellung der Demokratie eine Auflösung beider Kammern verfügen. Hinsichtlich des Referendums haben sich weitere Rechtsfragen und -streitigkeiten ergeben. Das Verwaltungsgericht Latium hat Anträge der das Referendum beantragenden parlamentarischen Minderheiten als unzulässig abgewiesen, die die Gestaltung des Abstimmungszettels, insbesondere die Titulierung des Gesetzes und die fehlende Angabe der geänderten Artikel der Verfassung rügten.11 Die fehlende Möglichkeit einer Abstimmung über einzelne Teile der Verfassungsreform war Gegenstand eines weiteren erfolglosen Verfahrens, in dem auch eine Vorlage des Gesetzes Nr. 352/1970 betr. die Volksreferenden an den Verfassungsgerichtshof zur Normenkontrolle beantragt wurde. Dies Gesetz sieht allerdings nur eine Abstimmung über das gesamte Gesetz vor (Art. 16) und weist einem „Zentralamt für Referenden“ im Kassationsgerichtshof die Aufgabe zu, die Rechtmäßigkeit des Verfassungsreferendums zu beurteilen und die Antragsteller zu bescheiden (Art. 12). Ein Antrag auf eine gegliederte Abstimmung wurde nicht gestellt. Der Kassationsgerichtshof hat auch keinen Anstoß daran genommen, dass das Gesetz als „Verfassungsgesetz“ und nicht als „Gesetz zur Revision der Verfassung“ tituliert wurde. Zweifelhaft bleibt aber schließlich, ob inhaltlich die Verfassungsreform nicht einer Gesamtänderung bzw. Totalrevision der Verfassung gleichkommt, die im Ergebnis eine neue Verfassung und einen neuen Akt der Verfassunggebung bzw. -ablösung bedeutet, der die Verfassungsidentität erheblich verändert. 12 Diese Frage wird von Urteil Nr. 1/2014. Die Heilung eines ursprünglichen Kompetenzfehlers vertritt dagegen E. Rossi, Una Costituzione migliore?, Pisa University Press 2016, 31. 11 Regionales Verwaltungsgericht Lazio, Urteil Nr. 10445/2016, http://www.federalismi.it/. 12 Die erwähnten Richtlinien der Venedig-Kommission empfehlen hierzu: „except in the case of total revision of the Constitution, there must be an intrinsic connection between the various parts of 9
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einem Teil der Gegner der Verfassungsreform bejaht, von den Befürwortern der Reform mehrheitlich verneint. Dagegen spricht die Tatsache, dass die Grundprinzipien (Art. 1–12) der Verfassung nicht formell geändert und im Grundrechtsteil nur eine Norm zum Wahlrecht (Art. 48) abgeändert wird. Für eine Totalrevision spricht hingegen der Umfang der Änderungen und das Gewicht der Reformen des Bikameralismus und des Regionalismus sowie die Stärkung der Exekutive, speziell im Kontext der Wahlrechtsreform. Geändert werden letztlich nicht nur die Formen der Gewaltenteilung, sondern auch die Formen der Demokratie (Art. 1), speziell die für die Volkssouveränität wichtigen Verfahren der Verfassungsreform und der Wahl der Vertretungskörperschaften. Vergleicht man die Reformergebnisse mit der Revision eines Automobils, könnte man von eher von einem völlig neuen Motor oder einer veränderten Karosserie struktur und Mechanik sprechen, die eine Leistungssteigerung versprechen und ein neues Modell darstellen. Wollte man die Verfassungsreform dagegen mit der Operation eines lebenden Organismus vergleichen, dann würden nicht lediglich ein Blinddarm oder eine Narbe entfernt, sondern auch wesentliche Organe und Erkennungsmerkmale modifiziert, um eine Stärkung und Schönung des Körpers zu erhalten. Die Frage, ob die Reform eine neue Verfassung generiert, ist jedoch nur schwerlich ex ante zu beurteilen, da eine tatsächliche Leistungssteigerung bzw. Stärkung letztlich von der Implementation und Interpretation der erneuerten Gesamtverfassung abhängen wird. Ginge man von einem allgemeinen Willen zu grundsätzlicher Diskontinuität der Verfassung aus, würde auf die Verfassungsinterpreten viel Arbeit zukommen und wäre eine „Rekonstitutionalisierung“ der gesamten Rechtsordnung durch neue Verfassungsprinzipien möglich. Ginge man dagegen von einer grösstmöglichen Kontinuität der Verfassungsordnung aus, könnten viele Änderungen auf Ausnahmeregeln reduziert werden. Dieselbe Frage betrifft jedoch nicht nur die künftige Auslegungspraxis, sondern ist auch für die verfassungsrechtliche Beurteilung des Verfassungsreferendums erheblich. Zu fragen ist insofern, ob das Revisionserfahrens des Art. 138 itVerf auch auf eine Totalrevision Anwendung finden kann oder als actus contrarius der Verfassunggebung von 1947 einer nach Grundsätzen der Proporzwahl zu bildenden verfassungsgebenden Versammlung vorzubehalten wäre. Das Teil- und Totalrevision zwar nicht unterscheidende Verfahren gem. Art. 138 itVerf könnte insofern im Prinzip der Volkssouveränität einen Vorbehalt zugunsten einer verfassunggebenden Versammlung implizieren. Realistisch besehen wird das italienische Verfassungsgericht allerdings kaum die Möglichkeit haben, eine durch Referendum ratifizierte Verfassungsablösung aus einem derartigen Grund für verfassungswidrig zu erklären.13
the text, in order to guarantee the free suffrage of the voter, who must not be called to accept or refuse as a whole provisions without an intrinsic link; the revision of several chapters of the Constitution at the same time is equivalent to a total revision.“ 13 Vgl. P. Carnevale, Il referendum costituzionale del prossimo (sic!) dicembre fra snodi procedurali, questioni (parzialmente) inedite e deviazioni della prassi, www.costituzionalismo.it, fasc. 2/2016 (Oktober).
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IV. Erwartungen und Zumutungen des italienischen Verfassungsreferendums im europäischen Kontext Die italienische Verfassung gehört zu den Gründungsverfassungen der europäischen Einigung und verspricht eine Souveränitätszession an solche internationalen Gemeinschaften, die Frieden und Gerechtigkeit in Europa auf der Grundlage von Reziprozität herstellen. Aus europäischer Sicht lässt sich in der Stärkung der nationalen Exekutive eine Tendenz zunehmender Europäisierung der Politik und zu einem eher intergouvernementalen Stil der EU ablesen, auch wenn in Art. 120 noch eine Bezugnahme auf das Gemeinschaftsrecht stehen bleibt.14 Die internationalen Banken und Ratingagenturen erwarten sich von der Verfassungsreform stärkere Exekutiven, Zentralisierung und einen Abbau von verfassungsrechtlichen Hindernissen für neoliberale Strukturpolitiken.15 Europapolitiker mögen gar auf ein gegen den Brexit gerichtetes Zeichen der Verantwortung des Volkes hoffen. Die nationale politische Arena erwartet sich dagegen eher eine Stärkung der Exekutive als Vetoplayer in der EU, auch zur Aushandlung grösserer Flexibilität in der Schuldenpolitik. Die zunehmende Integrationsverantwortung des italienischen Parlaments kann allerdings auch eine Schwächung der Regierung durch den neuen Senat bedeuten. Er soll an der Europapolitik teilnehmen soll und sogar EU-Vertragsreformen blockieren können, aber seine europapolitischen Kompetenzen sind unpräzise formuliert und die Regierung wird kein Vertrauensverhältnis mehr zu ihm haben. Zwar kann man von den italienischen Regionen und Kommunen allgemein auch Europafreundlichkeit und Zustimmung erwarten, ihr Unmut und ihre Widerstände gegen die neue Zentralisierung könnten aber auch für die EU zu einer Zumutung werden. Nach Stephen Tierney werden die in den letzten 30 Jahren zunehmenden Verfassungsreferenden traditionell als Mittel einer elitengesteuerten Manipulation der Volksseele beargwöhnt, die dem Pluralismus der Parteien und der sozio-kulturellen Bindungen eher abträglich seien und die Gesellschaft eher zu spalten als zu einen vermöchten.16 Diese Befürchtungen der Reformgegner, die Demokratie werde weniger inklusiv, treffen auf die Hoffnungen der Reformbefürworter, das Volk könne sich beim Verfassungsreferendum dafür entscheiden, auch als Wahlvolk eine aktivere Rolle in der Demokratie zu übernehmen. 14 M. Goldoni, Constitutional Referendums as Vectors of Regime-building: Observations from the Italian Case, U.K. Const. L. Blog (21st Oct 2016) (https://ukconstitutionallaw.org/). 15 J. P. Morgan, Europe Economic Research Unit, The Euro area adjustment: about halfway there, 28 May 2013, http://www.europe-solidarity.eu/documents/ES1_euro-area-adjustment.pdf: „At the start of the crisis, it was generally assumed that the national legacy problems were economic in nature. But, as the crisis has evolved, it has become apparent that there are deep seated political problems in the periphery, which, in our view, need to change if EMU is going to function properly in the long run. The political systems in the periphery were established in the aftermath of dictatorship, and were defined by that experience. Constitutions tend to show a strong socialist influence, reflecting the political strength that leftwing parties gained after the defeat of fascism. Political systems around the periphery typically display several of the following features: weak executives; weak central states relative to regions; constitutional protection of labor rights; consensus building systems which foster political clientelism; and the right to protest if unwelcome changes are made to the political status quo.“ 16 S. Tierney, Constitutional Referendums, 2012, 19ff: „the elite control syndrome, the deliberation deficit and the majoritarian danger.“
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Viele der Verfassungsänderungen sind eher Reformankündigungen und sprechen Erwartungen aus, die durch das Verfassungsreferendum in Reformaufträge verwandelt werden sollen. Ihre Durchführung ist Aufgabe der Regierung und ihrer Mehrheit im Parlament. Die von der Regierung initiierte Verfassungsreform kann insofern auch als eine Reihe von Wahlversprechen und als eine Kandidatur gedeutet werden. Das nicht nur von der überstimmten Opposition, sondern auch von der Regierungsmehrheit beantragte Verfassungsreferendum ist nicht allein eine Entscheidung über gemeinsame Prinzipien und Regeln, sondern auch eine Vorbereitung der nächsten Wahlen. Vieles spricht dafür, im Falle eines Erfolgs der Reform Neuwahlen anzuberaumen, da das Volk sich für eine neue Legitimationsgrundlage eines Parlaments entscheiden würde, das auf der Grundlage eines verfassungswidrigen Wahlgesetzes gewählt wurde. Im Falle eines Scheiterns wäre die Regierung zwar nicht daran gehindert zurückzutreten, eine Neuwahl könnte aber durch die nur für eine Kammer vorgenommene Wahlreform erschwert werden, die für das Abgeordnetenhaus starke Elemente einer Mehrheitswahl, es für den Senat dagegen bei einer Proporzwahl belässt. Das Ergebnis des Referendums sollte das vertagte Urteil des Verfassungsgerichts zur Wahl reform nicht beeinflussen. Die traditionell machtbegrenzende Funktion der Verfassungsgesetzgebung wird in der Reform auch durch das absolute Vetorecht des Senats und sein Recht, zwei der fünfzehn Verfassungsrichter zu wählen nicht gestärkt. Der neue Senat wird kein „sénat conservateur“ sein und viele der neuen Fristen dienen eher der Beschleunigung der politischen Entscheidungen als dem Schutz vor Übereilung. Aus der Sicht der Gegner wird die Verfassung regiert, aus der Sicht der Befürworter nur die Regierung neu verfasst. Die Wähler werden zwischen den Hoffnungen auf eine Regenerierung und den Befürchtungen einer Degenerierung der Demokratie ihre Erwartungen abzuwägen haben. Welche Auswirkungen auch immer das Verfassungsreferendum auf die Demokratie haben wird, sowohl im Falle einer Ratifikation als auch im Falle einer Aufund Ablehnung des Volkes droht das Verfassungsreferendum, eine Verringerung des Grundkonsenses in der Gesellschaft und des Grundvertrauens in den Staat zu besiegeln. Die Verfassung wird nicht mehr auf dem in der verfassunggebenden Versammlung ausgehandelten, parteienübergreifenden Konsens fast aller italienischen Bürger beruhen. Ihr droht vielmehr, im Falle eines „Ja“ zum erfolgreichen Willen der heutigen Regierungsmehrheit abgewertet, im Falle eines „Nein“ zum nicht revidierten Erbe einer aussterbenden Generation entwertet zu werden. Beide Alternativen sind letztlich Zumutungen. Nachtrag: Am Referendum nahmen 65,47 % der Wahlberechtigten teil, von denen 59,11 % die Reform ablehnten. Nach dem Rücktritt der Regierung Renzi bildete der bisherige Außenminister Paolo Gentiloni eine personell fast identische neue Regierung. Am 25.1.2017 erklärte der Verfassungsgerichtshof das neue Wahlgesetz für verfassungswidrig, soweit es einen zweiten Wahlgang zuläßt, wenn die für die Mehrheitsprämie erforderlichen 40 % von keiner Partei erreicht werden, und soweit der in mehreren Wahlkreisen gewählte Listenführer frei entscheidet, welches Mandat er annimmt.
Perspektiven eines transnationalen Verfassungsdialogs vor dem Hintergrund des italienischen Verfassungsrechts von
Prof. Dr. Vincenzo Baldini, Universität Cassino e del Lazio Meridionale Inhalt I. Einleitung: „Transnationaler Dialog“ – ein (vielleicht zu) anspruchsvolles Stichwort? . . . . . . . . . . . 687 II. Die verschiedenen Stufen des transnationalen Dialoges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689 III. Der Dialog zwischen nationalen Gerichten und den anderen europäischen Verfassungsgerichten im Bereich der Grundrechte. Das deutsche Bundesverfassungsgericht als bevorzugter Gesprächspartner des italienischen Verfassungsgerichts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 IV. Ein transnationaler Dialog zwischen Gesetzgebern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694 V. Schlussfolgerungen: „Dialog“ statt regelmäßiger Vergleichsmethode und mit welchem Mehrwert? . . . 695
I. Einleitung: „Transnationaler Dialog“ – ein (vielleicht zu) anspruchsvolles Stichwort? „Transnationaler Dialog“ ist ein eindrucksvolles und in der Verfassungsrechtslehre sehr suggestives Stichwort, um auf eine intensivere Verflechtung unter europäischen Gerichten und Verfassungsgerichten hinzuweisen. In der Verfassungsrechtslehre wird die Formel nach eigenen (positiven oder negativen) Akzenten vor allem in Bezug auf die Verhältnisse unter nationalen und europäischen Gerichten verwendet. Man muss aber danach fragen, ob es sich dabei um einen echten Dialog handelt, anders gefragt, ob die nationalen und europäischen Gerichte zum besten Schutz der Grundrechte eine lernende reziproke Auseinandersetzung begonnen haben.1 Nach dem Wörterbuch hat das Wort „Dialog“ drei Hauptbedeutungen: Es bezeichnet (1) eine Besprechung/Unterhaltung zwischen verschiedenen Personen oder (2) es hebt die Gegenüberstellung (d.h. in dialektischer Bedeutung) verschiedener 1 A. Ruggeri, Crisi dello Stato nazionale, dialogo intergiurisprudenziale, tutela die diritti fondamentali: note introduttive, in: L. D’Andrea/G. Moschella/A. Ruggeri/A. Saitta (Hrsg.), Crisi dello Stato nazionale, dialogo intergiurisprudenziale, tutela dei diritti fondamentali, Torino 2015, S. 1 ff. (bes. S. 16).
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(politischer) Meinungen hervor, die am Ende zu einer gemeinsamen Position führt. Schließlich bezieht sich „Dialog“ im Allgemeinen (3) auf eine gegenseitige Kommunikationsfähigkeit, z. B. zwischen Eltern und Kindern, die richtig strukturiert worden ist. In den genannten Bedeutungen kommt eine freiwillige Dimension des Dialoges zur Sprache, der ein Grund-Reziprozitätsgedanke zugrunde gelegt ist, den man auch als „konstruktive Rede“ (konstruktiven Diskurs) bezeichnen kann. Der gerichtliche Dialog steht in einem besonderen funktionellem Zusammenhang mit der Entwicklung eines „transnationalen Rechts“, weil er nicht nur das Ergebnis von völkerrechtlichen Konventionen und Staatsverträgen 2 ist, sondern auch aus einem lernenden Rechtsprechungsverhältnis entsteht, das europäische und nationale Gerichte, besonders Verfassungsgerichte, zur Herausbildung und Befestigung eines gemeineuropäischen Verfassungsrechts einschließt.3 Dabei fällt beim Wort Dialog insofern positiv auf, wie es auf eine ständige Kooperation von (vor allem) richterlichen Organen europäischer Staaten anspielt. Damit wird eine offene Auseinandersetzung verschiedener politischer Meinungen zum Ausdruck gebracht, die durch gegenseitige Kommunikationsfähigkeit zu einer gemeinsamen Position führen sollte. Das offenbart Züge der dialektischen konstruktiven Rede. Mit Rücksicht auf die verfassungsgerichtliche Erfahrung in Italien treten zuerst zwei verschiedene Stufen eines transnationalen Dialoges hervor: eine rechtswissenschaftstheoretische und eine gerichtliche, die die nationalen und europäischen Gerichte einschließt. In der italienischen rechtsvergleichenden Literatur im öffentlichen Recht nimmt die deutsche Literatur und Verfassungsrechtsprechung eine hervorgehobene Rolle ein. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts mit seinen Auslegungen der Grundrechte werden auch von der italienischen Jurisprudenz nachgedacht und in einigen ähnlichen Fällen verwendet, so dass eine uniforme europäische Lösung gefunden wird. Die Existenz eines so praktizierten transnationalen Verfassungsdialoges scheint gleichzeitig eine Tatsache und ein Wert zu sein, besser: „eine Tatsache, die sich in Wert verwandeln muss“4. Von einem Dialog kann insofern gesprochen werden, als die italienische Rechtsprechung bei der Auslegungsmethode auf die Argumentationsgrundlagen anderer europäischer Gerichte angemessen zurückgreift. Es geht dabei nicht nur um eine zunehmende Verwendung der rechtsvergleichenden Perspektive, sodass Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts oder des Bundesgerichtshofs sowie Urteile anderer europäischer Gerichte Bezugspunkte oder Argumentationsgrundlage der Entscheidungen italienischer Richter – und nicht nur des Verfassungsgerichts – werden. Besonders zur Auslegung der Grundrechte treten die italienischen Höchstgerichte in eine offene Auseinandersetzung mit anderen Verfassungsgerichten oder eu2 Siehe unter anderen R. Kreide/A. Niederberger, Staatliche Souveränität und transnationales Recht – zur Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Staatliche Souveränität und transnationales Recht, 2010, S. 7 ff. 3 M. Wendel, Richterliche Rechtsvergleichung als Dialogform: Die Integrationsrechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte in gemeineuropäischer Perspektive, Der Staat 52 (2013), 339 (361 ff.); G. Teubner, Verfassungsfragmente, 2012, S. 11 ff.; M. Mahlmann, Grundrechtstheorie in Europa – kulturelle Bestimmtheit und universeller Gehalt, EuR 2011, 469 (475 ff.). In Bezug auf die italienische Rechtswissenschaft, s. De Vergottini, Oltre il dialogo fra le Corti, in La riforma dello Stato, 2015; R. Caproni, Dialogo tra corti nazionali e corti internazionali, Libro dell’anno del Diritto 2013, S. 1 ff. 4 So ausdrücklich behauptet von A. Ruggeri, Dialogo tra Corti e giudici nazionali, alla ricerca della tutela più intensa dei diritti fondamentali (con specifico riguardo alla materia penale e processuale), Diritti fondamentali, n. 1/2013, S. 2 .
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ropäischen Gerichten ein. Man kann von einem Lerndialog sprechen mit dem Ziel, gemeinsame Auslegungsmethoden oder -ergebnisse der Grundrechte und/oder Grundsätze auszugestalten und zu verwenden. Was heute unter Gerichten praktiziert wird, verdeutlicht einen konstruktiven Diskurs insoweit, als diese Vorgehensweise nicht nur in einer einseitigen Richtung verläuft, d.h. in die italienische Rechtsprechung hinein. Aus der Betrachtung einer reziproken Entwicklung gewinnt man den Eindruck, den Weg eines transnationalen Verfassungsdialoges eingeschlagen zu haben.
II. Die verschiedenen Stufen des transnationalen Dialoges Zur Durchführung eines transnationalen Dialoges kommen wesentlich drei verschiedene Stufen in Betracht. Die erste Stufe geht die Rechtswissenschaft an und entwickelt sich vor allem durch die zur Forschung verwendete rechtsvergleichende Methode. Darüber hinaus stellen auch die wissenschaftlichen Symposien wichtige Gelegenheiten dar, um den Dialog voranzubringen, und seine Ergebnisse in die Dogmatik einzuführen. Die zweite Stufe bezieht sich auf die verschiedenen Gerichte in Europa, vor allem, aber nicht nur, auf die Verfassungsgerichte. Einige gerichtliche Beispiele können hier angeführt werden, vor allem Fälle von (ausdrücklicher oder unausgesprochener) Verweisung des italienischen Verfassungsgerichts auf die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Beim „Dialog“ zwischen dem italienischen Verfassungsgerichtshof und dem EuGH muss man von der zunehmenden Entwicklung der EU ausgehen, die eine engere Kooperation zwischen nationalen und europäischen Institutionen gefördert hat. Im Rahmen einer allgemeinen Öffnung der europäischen Verfassungsgerichte hat z. B. das italienische Verfassungsgericht seit 2013 den Weg des Vorabentscheidungsverfahrens vor den Gerichten in Luxemburg beschritten,5 nachdem dieser Weg schon früher (2001) vom spanischen Verfassungsgericht eingeschlagen worden war (Art. 267 AEUV). Einem zwischenstaatlichen Verfassungsdialog liegt zuallererst die Öffnung der nach dem zweiten Weltkrieg gegründeten europäischen demokratischen Verfassungsstaaten zugrunde, die zu ihrer Völkerrechtsfreundlichkeit Anlass gibt. In Bezug auf die italienische Verfassung kommen z. B. die Artt. 10, 11 und der nach der Verfassungsänderung von 2001 revidierte Art. 117 Verf. besonders in Betracht. Sie machen die Öffnung zur Völkerrechtsfreundlichkeit sichtbar. Die ersten beiden Artikel stellen in Form von Verfassungsgrundsätzen die normative Basis des offenen Staats dar, während der Art. 117 Verf. n.F. zum ersten Mal eine bestimmte Achtung des europäischen Gemeinschaftsrechts, sowie des Völkerrechts besonders mit Rücksicht auf die Wirksamkeit der EMRK, seitens des nationalen und regionalen Gesetzgebers, zum Ausdruck bringt.6 Die funktionellen Gründe, welche die oben genannten Normen zusammenhalten, machen gleichzeitig den Weg frei für einen transnationalen Ord.za (Beschluss) 18.7.2013, n. 207. S. u.a. P. Caretti/U. De Siervo, Diritto costituzionale e pubblico, Torino 2012, S. 9 0.
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Dialog, der die Beziehung zwischen dem italienischen Verfassungsgericht und den hohen europäischen Gerichten, vor allem dem EGMR und dem EuGH, umfasst. Besonders der 2001 neu formulierte Art. 117, der die Achtung der internationalen Vereinbarungen und der völkerrechtlichen Bindungen seitens des Gesetzgebers vorschreibt, hat ein engeres und dichteres Verhältnis zwischen dem italienischen Verfassungsgerichtshof und dem EGMR entscheidend gefördert. In diesem Sinn stellen die Urteile Nr. 348 und 349/2007 des Verfassungsgerichts (sog. „Zwillingsurteile“) einen wesentlichen rechtlichen Bezugsrahmen dieses Verhältnisses dar. Die dort behauptete Achtung der vom EGMR ausgelegten Menschenrechtskonvention als Maßstab des mit der Reform neu eingeführten Verfassungsgrundsatzes impliziere jedenfalls nicht, dass die EMRK den Rang einer Verfassungsnorm annehme, mit der Folge, dass das nationale Gericht der Beachtung der in der Verfassung enthaltenen Grundrechtsvorschriften nicht entgehen soll. Dabei handelt es sich nicht um eine Grundrechtskonkurrenz, nicht einmal bei den in der Verfassung und den in der EMRK inhaltsgleich vorgeschriebenen Grund- und Menschenrechten, weil trotz dieser Wortidentität die Verfassungsgrundrechte einen höheren rechtlichen Rang besitzen. Obwohl sich das italienische Verfassungsgericht selbst für unzuständig erklärte, die Konvention auslegen zu können (hierfür wird der EGMR als ausschließlich kompetent anerkannt), hat es eine absolute rechtsverbindliche Tragweite der Urteile des EGMR in Bezug auf die verfassungsrechtliche Normenkontrolle der nationalen Gesetze gemäß Art. 117 Verf. verneint, weil die EMRK keinen höheren Rang als die Normen des Verfassungsrechts habe. Sie gelte als mittelbarer Prüfungsmaßstab zur Auslegung der Verfassung, wenn sie jedenfalls mit den verfassungsrechtlichen Grundrechtsnormen und -prinzipien im Einklang stehe. Die genannten Urteile stecken beim Verhältnis zwischen EMRK und staatlicher Rechtsordnung einen neuen Kurs ab, indem sie die Entwicklung eines transnationalen Dialoges fördern, ohne aber die höherrangige Geltung der Verfassungsnormen zu dementieren. Dieser prinzipiell von der Verfassung auferlegte transnationale Verfassungsdialog richtet sich besonders gegen die EGMR-Rechtsprechung, die aber nach demselben nationalen Verfassungsgericht keine Verfassungsinkompatibilität aufweisen. Er zielt darauf ab, durch eine reflektierte Anwendung der EMRK in der staatlichen Rechtsordnung zu einer Optimierung des Grundrechtsschutzes zu gelangen. Die nationalen Gerichte – Zivil-, Straf- oder Verwaltungsgerichte – sollen eine konventionskonforme Auslegung des nationalen Rechts durchführen. Verfassungsrechtliche Fragen können sie nur hervorheben, wenn in einem Einzelfall die Verfassungslegitimität der vom EGMR ausgelegten Konvention in Zweifel gezogen wird.7 Die verfassungsrechtliche Überprüfung solle das Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit (Art. 117, Abs. 1. Verf. Italien) einerseits und die durch andere Normen geschützten Verfassungswerte und -güter andererseits in Betracht ziehen und dabei eine vernünftige Abwägung vornehmen.8 Das Verfassungsgericht besitzt dabei einen breiten Ermessensspielraum, der unter Beachtung der Substanz der Rechtsprechung von Straßburg die jeweilige Besonderheit einzelner Rechtsordnungen beachten solle, auf die sich die Konventionsausle7 8
S. ex plurimis it. VerfG, Urt. n. 113/2011. S. it. VerfG, Urt. n. Urtt. Nr. 348/07 und Nr. 349/07.
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gung des EGMR auswirkt.9 Die Achtung der völkerrechtlichen Verpflichtungen nach Art. 117 Abs. 1 Verf. Italien könne jedenfalls nicht dazu führen, einen geringeren Schutz der Grundrechte zu verwirklichen als ihn die nationale Rechtsordnung biete. Sie solle vielmehr ein wirksames Mittel darstellen, um diesen Schutz zu verstärken und zu intensivieren.10 Sie solle dabei eine „virtuose Kombination“ ins Spiel bringen zwischen der dem Gesetzgeber zukommenden Pflicht, die EMRK zu achten und zu verwirklichen, sowie der Pflicht des allgemeinen Richters, die staatlichen Normen im Einklang mit der Konvention auszulegen und der Pflicht des nationalen Verfassungsgerichts, Normen, aus deren Anwendung sich ein Defizit beim Schutz der Grundrechte ergibt, für verfassungswidrig und nichtig zu erklären. Diese virtuose Kombination solle die höchste Ausdehnung der Gewährleistungen11 auch durch die in den Verfassungsgrundrechten enthaltenen Entwicklungsmöglichkeiten zutage bringen. Die „höchste Ausdehnung der Garantien“, auf die das Verfassungsgericht abzielt, solle jedenfalls im Ausgleich mit den übrigen verfassungsrechtlichen Interessen und Grundsätzen verwirklicht werden, während insbesondere diejenigen Grundrechte betrachtet werden, die bei der erweiterten Grundrechtswirkung beeinträchtigt werden könnten. Die Aufgabe des Ausgleiches müsse zunächst in die Sphäre der dem Gesetzgeber zukommenden politischen Entscheidungen fallen, dann aber auch in die des Verfassungsgerichts.12 Dem EGMR, ergänzt das italienische Verfassungsgericht, stehe nur die Kompetenz zu, Entscheidungen über einzelne Streitfälle zu treffen sowie die auf einen bestimmten Fall bezogene Grundrechtsauslegung durchzuführen, um zu verhindern, dass der Schutz einzelner Grundrechte sich unausgeglichen entwickelt, weil er sich auf die Verfassung sowie anderer von der EMRK geschützter Grundrechte auswirken könnte.13 In der Tat wenden sich die italienischen Staatsbürger zunehmend zum Schutz ihrer Grundrechte an den EGMR. Das verursacht einen entsprechenden Arbeitsanfall beim italienischen Verfassungsgericht, um die Kompatibilität der Konvention (in der Auslegung des EGMR) zu den „parallelen“ Verfassungsgrundrechten zu prüfen. Auf diese Weise entstehen aber wirkliche Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen „in Dialog stehenden“ Gerichten: Ein Beispiel bietet etwa der Deutungsgegensatz zwischen dem Grundrecht auf ein faires Verfahren vor einem Richter (ex Art. 6 EMRK) einerseits, und der verfassungsrechtlich geschützten parlamentarischen Immunität und Indemnität (Artt. 68–69 it. Verf.) andererseits. Der EGMR hat dabei eine strikte Auslegung der EMRK vorgestellt, die nachsichtige Auslegung des italienischen Verfassungsgerichts zugleich kritisierend. Das behindert nicht die Entwicklung einer fruchtbaren Kooperation zwischen europäischen Gerichten und dem nationalen Verfassungsgericht. Die Rechtsprechung des EGMR zieht fallbezogen diejenigen Auslegungsmethoden heran, die eine „reine“ Wahrnehmung einzelner Grundrechte betreffen, ohne Rücksicht auf Abwägung der verschiedenen (Grund) Werte. Anders als das nationale Verfassungsgericht soll der europäische Gerichtshof fallbezogen urteilen, so dass eine eindeutige Entwicklung der gesamten Wertord S. it. VerfG, Urt. n. Urtt. Nr. 303/11 und Nr. 236/11; Urt. Nr. 311/09. S. it. VerfG, Urtt. Nr. 230/12 und Nr. 264/12. 11 S. it. VerfG, nochmals Urt. Nr. 264/2012. 12 S. it. VerfG, Urt. Nr. 317/09, aber siehe auch Urtt. Nr. 1/11; 196, 187 und 138/10; 311/09; 39/08. 13 S. it. VerfG, Urt. Nr. 317/09. 9
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nung nicht zur allgemeinen Verbindlichkeit führt und deshalb jeweils in Betracht gezogen werden soll. Das heißt nicht, dass das nationale Gericht auf eine Optimierung des Verfassungsschutzes überhaupt verzichten muss, um zu einer gemeinsamen Auslegung der Grundrechte zu gelangen. Wenn die Hauptfrage aber lautet: was als „Optimierung“ des Grundrechtsschutzes begriffen werden kann, kann die einzige Folge nur sein, dass die Optimierungswirkung den Einschätzungen des Verfassungsgerichts überlassen bleibt damit sich der transnationale Dialog zu einer wichtigen Auslegungs- und Möglichkeitsmethode entwickelt, um neue Bedeutungen und Auslegungslösungen in Gang zu setzen, weil er nicht immer einen maximalen Schutz des betreffenden Grundrechts bewirkt. Bekanntlich löst die Vermehrung des Schutzes des einen Grundrechts nicht selten die Einengung eines divergierenden Grundrechts aus, mit der Folge, dass es sich bei der Auseinandersetzung zwischen den Gerichten (dem nationalen und dem europäischen) nur um verschiedene Auslegungen derselben Grundrechte handelt. Auf der anderen Seite geht der Dialog dahin, dass die Rechtsprechung des europäischen Gerichts auch von der Judikatur des jeweiligen nationalen Verfassungsgerichts geprägt wird. Das lässt sich etwa bei der Rechtsprechung zur lebenslangen Freiheitsstrafe beobachten, wo die Rechtsprechung des EGMR14 stark durch jene des italienischen Verfassungsgerichts15 geprägt ist. Dabei hatte der EGMR diese Strafe für konventionswidrig gehalten, weil sie keine Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung vorsieht.16 Die Untersuchung dieser Verflechtungen von Rechtsprechungslinien scheint insofern vielversprechend, als sie sich als erhellendes Symptom einer lernenden Auseinandersetzung auf der Ebene der Grundrechts-Auslegung und Verwendung darstellt. Fraglich bleibt, ob ein echter konstruktiver Dialog vorliegt oder ob es bei einer nur formalen Kooperation verbleibt, der sich das nationale Gericht bedient, um in schwierigen und noch nie entschiedenen Fällen eine Lösung zu finden, wobei für einen echten Dialog eine gerichtliche Kooperation in Betracht gezogen wird, die zu einer uniformen europäischen Grundrechtsauslegung drängt. Ein solcher Dialog ginge über die gerichtliche Aufgabe eines Gerichts hinaus und unterstütze die Ausgestaltung eines europäisch uniformen Grundrechtssystems.
III. Der Dialog zwischen nationalen Gerichten und den anderen europäischen Verfassungsgerichten im Bereich der Grundrechte. Das deutsche Bundesverfassungsgericht als bevorzugter Gesprächspartner des italienischen Verfassungsgerichts? Ein Rechtsprechungs-Dialog besteht nicht nur unter den europäischen Höchstgerichten, sondern bezieht im Bereich der Auslegung und Verwendung der Grundrechte auch andere europäische Verfassungsgerichte ein. Dabei übernimmt außerhalb EGMR, Urt. v. 9.7.2013 n. 66069. S. it. VerfG, Urt. Nr. 264/74, wobei das Gericht aussagt, die lebenslange Strafe sei nicht mehr als ewige Strafe zu betrachten. 16 BVerfGE 117, 71 – Strafrestaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe [2006]. 14
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des EGMR das deutsche Bundesverfassungsgericht die Position des bevorzugten Gesprächspartners des italienischen Verfassungsgerichts, was etwa das jüngste Urteil zum Eheverbot bei homosexuellen Paaren gezeigt hat.17 Besonders beim Schutz der biologischen Identität18 macht sich dieser Dialog insofern bemerkbar, als das italienische Verfassungsgericht bei seiner Argumentation auf einen ähnlichen Fall des Bundesverfassungsgerichts abstellt. Ebenso bedeutend scheint das Urteil des italienischen Verfassungsgerichts, das die Verfassungswidrigkeit der vom Wahlrecht vorgesehenen Mehrheitsprämie erklärte (Zuteilung zusätzlicher Sitze an die Partei oder Parteienkoalition, die die Mehrheit der Stimmen bekommen hatte, ohne aber eine notwendige Mindestschwelle zu bestimmen, um Anspruch auf die Prämie zu haben). Dabei haben die Gründe des italienischen Gerichts besonders auf den Gewährleistungsgehalt des Grundrechts der Wahl – d.h. das Demokratieprinzip – abgestellt und sich in dieser Hinsicht ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezogen,19 um zu betonen, die gesetzgeberische Option für ein Proporzwahlsystem lasse bei den Wählern „die legitime Erwartung (Überzeugung)“ entstehen, dass sich kein Missverhältnis bei den Auswirkungen der Wahl einstellen könne.20 Dieser „lernende“ Dialog hat in den letzten Jahren an Intensität zugenommen, vor allem bei Rechtsfragen der Bioethik oder der Familie. Dem liegt eine besondere Einschätzung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde, was die Auslegung der Verfassungsgrundsätze und Grundrechte anbetrifft, mit dem Ziel, zu einer Angleichung der Rechtsprechung bei gleich gelagerten Fällen zu gelangen. Beim italienischen Verfassungsrecht zeigt sich aber eine einseitige, unilaterale Neigung, weil der Hochschätzung und dem Durchdenken der deutschen Grundrechtsdogmatik seitens des italienischen Gerichts keine entsprechende Responsivität seitens des Bundesverfassungsgerichts gegenübersteht. Die italienischen Erfahrungen zeigen vielmehr Züge eines asymmetrischen Dialoges (Dialog mit einer einzigen Stimme). Eine besondere Erwähnung verdient der transnationale Dialog mit Rücksicht auf die Rechtsprechung des italienischen Kassationsgerichtshofes (Corte di Cassazione), weil diese nicht nur von einer methodologischen, sondern auch von einer substantiellen Einflusskraft gekennzeichnet ist, die sich in den einzelnen Urteilen widerspiegelt. Ein Beispiel stellt die verfassungsrechtliche Frage nach dem Fortbestand der Ehebindung bei einer Geschlechtsumwandlung eines der beiden Ehepartner dar. Die Eigenständigkeit des Begriffs von „Familienleben“ (Art 8 EMRK) gegenüber einem traditionellen Familienbegriff, der die Geschlechtsverschiedenheit der Partner voraussetzt, wurde vom EGMR so verstanden, dass homosexuelle Paare eine beständige und dauerhafte Beziehung wie die Ehe schaffen können, indem sie einen „quasi ehelichen“ Zustand vorstellen. Dieses Verständnis hat sich der Kassationsgerichtshof zu eigen gemacht, weshalb er die vom Gesetz vorgeschriebene Auf hebung der zuvor legitim geschlossenen Ehe nach der Geschlechtsumwandlung eines Ehepartners insofern für unverhältnismäßig erklärt hat, als diese Auf hebung die legitime Ausübung 17 S. it. VerfG, Urt. Nr. 170/14. Es ging hierbei um ein Ehepaar, von dem einer der Partner eine sexuelle Umwandlung – mit der Zustimmung des anderen Ehepartners – durchgeführt hatte. 18 S. it. VerfG, Urt. Nr. 278/13. 19 S. it. VerfG, Urt. Nr. 3/11 von 25.7.2012; Urt. Nr. 197 von 22.5.1979 und Urt. Nr. 1 von 5.4.1952. 20 S. it. VerfG, Urt. Nr. 1/14.
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des Rechts auf Selbstbestimmung in Bezug auf die sexuelle Orientierung eines Partners der ehelichen Beziehung beeinträchtigte. Zur Stütze seines Beschlusses zog der Gerichtshof die Rechtsprechung der EGMR sowie ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts (2009) heran, das die vom Gesetz festgelegte Auflösung der Ehe als Zulässigkeitsbedingung bei der Ausübung des Grundrechtes auf Geschlechtsumwandlung (Selbstbestimmung im sexuellen Handeln) als verfassungswidrig behandelte.21 Der Beschluss zog überdies ein Urteil des österreichischen Verfassungsgerichts heran, das eine Norm als Verstoß gegen Art. 8 EMRK für verfassungswidrig erklärte, welche die Eintragung der sexuellen Änderung ohne vorherige Auflösung der Ehe untersagte.22 In dieselbe Richtung ging dann die Entscheidung des EGMR,23 die ein finnisches Gesetz beanstandete, das die Eintragung der Geschlechtsumwandlung des einen Ehepartners von der Zustimmung des anderen Ehepartners abhängig machte, sodass die Ehe in eine eingetragene Zivilunion verwandelt werden könnte. Über die ständige Erfahrung des Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 267 AEUV) und des EGMR hinaus ist die Orientierung der italienischen Gerichte inzwischen stark von der Rechtsprechung der deutschen Gerichte auch im Hinblick auf andere wichtige Grundrechtsfragen geprägt, wie etwa beim Verbot der Präimplantationsdiagnostik.24 Den europäischen Richtlinien, die durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Bestätigung gewonnen haben, haben die italienischen Richter ohne Weiteres Beachtung geschenkt und damit der Ausübung der Präimplantationsdiagnostik die anfängliche Straf barkeit entzogen.
IV. Ein transnationaler Dialog zwischen Gesetzgebern? Eine weitere Frage betrifft die Möglichkeit eines Dialoges zwischen den nationalen und den ausländischen (besonders den deutschen) Gesetzgebern. Es handelt sich dabei um den praktischen Einfluss, wie bestimmte gesetzliche Regelungen als Leitbilder bei anderen Gesetzesvorschlägen tatsächlich operieren, wie es etwa in Italien beim Gesetz über homosexuelle Partnerschaften der Fall war. Dabei stand das deutsche Lebenspartnerschaftsgesetz dem italienischen Parlament als Modell zur Verfügung, um eine gesetzliche Regelung der homosexuellen Lebensgemeinschaften zu treffen und jede willkürliche Diskriminierung dieser Paare im Vergleich zu ehelichen Paaren – z.B. beim Grundrecht, Eltern zu werden, bei der Adoption usw. – aufzuheben. In diesem Fall bietet sich eine rechtsvergleichende Methode an, wie sie jedes Parlament bei der politischen Diskussion normalerweise in Anspruch nimmt, um zu einer richtigen Entscheidung zu gelangen. Von einem verstetigten Dialog zwischen Gesetzgebern kann hier jedoch nicht die Rede sein. Rechtsvergleichung zählt zur normalen Arbeitsweise repräsentativer Organe. Von einem Dialog ließe sich nur BVerfGE 121, 175 – sexuelle Selbstbestimmung [2008]. Österreichisches Verfassungsgericht Urt. Nr. 17849 vom 8.6.2006. 23 In Bezug auf den Fall H gegen Finnland, vom 3.11.2012. 24 Siehe u.a. M. Kloepfer, Humangenetik als Verfassungsfrage, JZ 2002, 417 ff.; K. Faßbender, Präimplantationsdiagnostik und Grundgesetz, NJW 2001, 2745 ff. 21
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sprechen, wenn seine Bedeutung in dem Gesetzgebungsverfahren besonders betont wird.
V. Schlussfolgerungen: „Dialog“ statt regelmäßiger Vergleichsmethode und mit welchem Mehrwert? Welche Schlussfolgerungen kann man zum Thema „transnationaler Verfassungsdialog“ ziehen? Die Hauptfrage, wann ein transnationaler Verfassungsdialog die Verhältnisse unter nationalen und europäischen Gerichten prägt und wenn ja, wozu, löst in der Verfassungslehre verschiedene Reaktionen aus. Die kritische Position von Christian Hillgruber, eine „explizite oder auch nur implizite Inbezugnahme fremdstaatlichen Rechts“ finde sich nicht in der Verfassung,25 deshalb könne ausländisches Verfassungsrecht ohne „verfassungsimmanente Rezeption oder Verweisung auf das Verfassungsrecht anderer Staaten“ bei der Auslegung des nationalen Verfassungsrechts keine Berücksichtigung finden,26 verdient Interesse, aber keine volle Zustimmung. Hillgruber spricht von der „unsinnigen“ Redeweise vom „Dialog der Gerichte“, die in die Irre führe:27 nationale Gerichte verschiedener Staaten „stehen ebenso wie die nationalen Rechtsordnungen aufgrund der souveränen Gleichheit der Staaten und ihrer territorial begrenzten Jurisdiktionen gleichgeordnet nebeneinander und nicht in einem irgendwie gearteten hierarchischen Über- und Unterordnungsverhältnis“.28 Andere Autoren bestehen darauf, den zwischengerichtlichen Dialog positiv zu bewerten, denn er vermöge eine „gemeineuropäische kulturelle Anerkennungsgewohnheit (consuetudini culturali di riconoscimento)“ zu schaffen und zu stabilisieren.29 Eben dieser Dialog mag die Bildung eines lebendigen Rechts zur Ordnung des Zwischenrechts (diritto interordinamentale) 30 durchsetzen, das auf die Gestaltung eines gemeineuropäischen Verfassungsrechts hinauslaufen würde. Ein transnationaler Verfassungsdialog stellt nur ein Element einer gerichtlich nationalen wie überstaatlichen (supranationalen wie völkerrechtlichen) Entwicklung dar, die auf ein homogenes (Vor)-Verständnis sowie auf eine universale Grundrechtsauslegung und -verständnisse abzielt. Viele kritische Positionen, die mit der nationalen Verfassungsautonomie argumentieren, greifen angesichts dieser Entwicklung tatsächlich ins Leere. Abgesehen davon, dass das verfassungsrechtliche Grundprinzip der „Völkerrechtsfreundlichkeit“ als höherrangige Norm die gerichtliche Anwendung der rechtsvergleichenden Methode zur Verfassungsauslegung jedenfalls erlaubt (wenngleich nicht fordert), geht es genau besehen, nicht um eine tragende „Rezeption oder Verweisung“31 auf die fremdstaatliche Grundrechtsinterpretation, sondern 25 C. Hillgruber, Die Bedeutung der Rechtsvergleichung für das deutsche Verfassungsrecht, JöR 63 (2015), 367 ff. (372). 26 C. Hillgruber (Fn. 25), 374. 27 C. Hillgruber (Fn. 25), 386. 28 C. Hillgruber (Fn. 25), 387. 29 Siehe A. Ruggeri, Il primato dell’Unione sul diritto nazionale: lo scarto tra il modello e l’esperienza e la ricerca dei modi della loro possibile ricomposizione, consulta online, n. 1/2016, S. 3 ; ders. (Fn. 1), S. 8 ff. 30 A. Ruggeri, Il primato dell’Unione (Fn. 29), S. 5. 31 C. Hillgruber (Fn. 25), 374.
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um eine Zusatz- oder Ergänzungsmethode, die ein bestimmtes vom Gerichts erzieltes Auslegungsergebnis bestätigt, das sich auch andere Verfassungsgerichte bei derselben Grundrechtsanwendung (besonders bei der Bestimmung des jeweiligen Schutzbereichs und des Gewährleistungsinhalts) zukünftig zu eigen machen können.32 Beim gemeineuropäischen Recht gelten dagegen die für die staatlichen Gerichte völkerrechtlich zwingenden Auslegungsergebnisse, so wie auch bei der EMRK. Der transnationale Dialog geht weit über die normativen Vorschriften hinaus, die eine Rezeption des fremden (gemeineuropäischen oder völkerrechtlichen) Rechts als rechtliche Pflicht anordnen. Es handelt sich vielmehr um einen kulturellen Prozess, der von der Existenz von Grundprinzipien ausgeht, die der rechtlichen gemeineuropäischen (Verfassungs-)Kultur jenseits formeller Eingliederung der staatlichen Rechtsordnung in die EU zugrunde liegen. Die Wahrnehmung von gleichen oder gleichwertigen Grundrechtsfragen durch die einzelnen Verfassungsgerichte drängt zu einer (möglichst) gemeinsamen Verfassungsantwort. Ausgehend von den Worten von Mattias Wendel,33 kann man dabei durchaus von einer „Migration verfassungsrechtlicher Ideen“ sprechen, weil diese Formulierung die freiwillige Entwicklung dieses gerichtlichen modus operandi sehr gut ausdrückt. Auf der anderen Seite lässt aber der bloße Hinweis auf die tatsächliche Entwicklung der Rechtsprechungskultur die Frage nach der rechtlichen Existenz eines konstruktiven Dialoges zwischen nationalen und internationalen Gerichten noch offen. Die betreffende Antwort scheint insofern nicht eindeutig, weil Unterschiede der verschiedenen Stufen des Dialoges festzustellen sind. In Italien greift die Kooperation mit dem EGMR auf eine Verfassungsvorschrift (Art. 117 n.F.) zurück und wirkt wesentlich über die Form einer konventionskonformen Auslegung des inneren Rechts. Übrigens hat das italienische Verfassungsgericht die nationalen Fachgerichte nicht selten dazu angehalten, das Gesetz in einer konventionskonformen Auslegung zu interpretieren und anzuwenden, soweit diese nicht gegen Verfassungsvorschriften verstößt. Deshalb geht der Dialog, wie die oben erwähnten Zwillings-Urteile des italienischen Verfassungsgerichts betont haben, nicht in der Richtung des Solange-II Urteils des BVerfG.34 Er lässt nicht nur eine Überprüfung seitens des nationalen Verfassungsgerichts über die richtige (konforme) Auslegung der innerstaatlichen Gerichte offen, sondern bezieht auch die Verfassungslegitimität der Konvention selbst nach der Auslegung des EGMR ein. Das Ziel ist im Grunde genommen die Optimierung eines Grundrechtsschutzes, was manchmal die Verwendung der Konvention unmöglich macht. Eine andere Dialogform scheint sich durch das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) mit dem EuGH zu entwickeln. Die sich daraus ergebende Vielfalt des Grundrechtsschutzes im nationalen und im europäischen Bereich wirft wichtige
C. Hillgruber (Fn. 25), 378 ff. spricht in diesem Zusammenhang von einer Rechtsvergleichung „colorandi causa“. 33 M. Wendel (Fn. 3 ). 34 BVerfGE 37, 271 – Solange I [1974]; BVerfGE 73, 339 – Solange-II [1986]. 32
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Probleme auf,35 besonders bei nationalen Rechtsakten, die Unionsrecht anwenden. Auch hier erklingt der Ruf nach einer dogmatischen Angleichung der Grundrechte.36 Wieder anders wirkt der „Dialog“ des italienischen Verfassungsgerichts mit anderen europäischen Verfassungsgerichten. Indem man von der Existenz gemeinsamer Verfassungstraditionen und -grundsätze der europäischen staatlichen Rechtsordnungen ausgeht, fungiert eine wechselseitige Beeinflussung oder gar Angleichung der nationalen Verfassungsrechtsprechungen in der „Natur der Sache“ als das Hauptziel des Dialoges. Es geht um den Ausdruck einer fruchtbaren Kooperation, nicht um die Diskreditierung der Rechtsvergleichung als Methode. Diese Erfahrung stößt einen immer dichteren transnationalen Verfassungsdialog an, indem sie einen Grundrechtsauslegungsmodus in der europäischen Verfassungsrechtsprechung fördert. Die hier dargestellte zunehmende Intensivierung der Rücksichtnahme auf die rechtsvergleichenden gerichtlichen Positionen in der Rechtsprechung der italienischen Gerichte betrifft vor allem die Lage der Grundrechte, so dass in der Rechtsprechung Züge eines europäischen Grundrechtsverständnisses entstehen, die rein nationale Verständnisse in Zukunft verdrängen könnten. Es bleibt jedenfalls noch die Frage zu klären, ob „richterliche Rechtsvergleichung […] die Funktion eines Hilfsmittels zur Auslegung nationalen Rechts“ übersteigt,37 um die „Triebfeder zur Herausbildung eines künftigen gemeineuropäischen Verfassungsrechts“ zu werden.38 Nach dieser These, liegt „in der offenen Auseinandersetzung mit der Judikatur anderer Mitgliedstaaten zugleich eine Auseinandersetzung mit Gewährleistungsinhalten gemeineuropäischen Verfassungsrechts, so dass die richterliche Rechtsvergleichung sich als „Form bzw. Medium eines transnational geführten Dialoges über Inhalt und Umfang des genannten gemeineuropäischen Verfassungsrechts“ darstellen lässt.39 Diese These scheint insoweit überzeugend, als sie den transnationalen Dialog als eine Faktizität beschreibt, die auf die Herausbildung eines gemeineuropäischen Verfassungsrechts hinausläuft. Sie beantwortet die Frage, wozu man einen transnationalen Verfassungsdialog braucht und warum er immer mehr in der Verfassungslehre in Anspruch genommen wird. Sie geht davon aus, dass die gemeinsamen Verfassungstraditionen eine Annäherung der Tragweite und Bedeutung der jeweiligen europäischen staatlichen Grundprinzipien, und vor allem der Grundrechte, durch die Rechtsprechung verwirklichen können. Das lässt sich zuerst durch die Anwendung einer uniformen Auslegungsmethode der einzelnen Grundrechte gewinnen. In diesem Sinne stellt der transnationale Verfassungsdialog eine parallele Integrationsform zu jener unionseuropäischen Ordnung dar, die von den Mitgliedsstaaten anvisiert worden ist. Dieser Dialog wandelt die normative Tragweite und den Schutzbereich einzelner staatlicher Grundrechtsvorschriften ab, indem er eine europäische Auslegung der Grundrechte in Gang setzt. 35 In Bezug darauf J. Masing, Einheit und Vielfalt des Europäischen Grundrechtsschutzes, JZ 2015, 477 ff. 36 In dieser Richtung D. Thym, Vereinigt die Grundrechte!, JZ 2015, 53 ff. 37 M. Wendel (Fn. 3 ), 343. 38 M. Wendel (Fn. 3 ), 344. 39 Ebd.
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Ist man diesem Ziel nahe? Viele Hindernisse sind noch zu überwinden wie z. B. die in den Verfassungen festgelegte Unverletzlichkeit und Unverzichtbarkeit der staatlichen Souveränität. Es ist schwierig zu meinen, dass „die besondere Eigenart der argumentativen Einbindung verfassungsvergleichender Erwägungen […] in ihrer Wirkrichtung vielmehr über den Bezugsrahmen der einzelnen Verfassungsordnung“ schon hinausgehen könne.40 Überzeugender ist die Einschätzung, dass die richterliche Rechtsvergleichung unbewusst eine Europäisierung des Verfassungsrechts mit sich bringt, weil die Gerichte diese Methode für ein Hilfsmittel zur Auslegung und Achtung des nationalen Verfassungsrechts halten. Die Beachtung der Urteile des EGMR gehört etwa nach dem Art. 117 Verf. Italien zu einer verfassungsrechtlichen prozeduralen Pflicht jedes italienischen Richters (des Verfassungsgerichts inbegriffen). Die Urteilsbegründungen anderer europäischer Gerichte liefern gelegentlich wichtige Argumente zur Lösung schwieriger nationaler Fälle oder neuer Grenzfragen, vor allem wenn noch keine gefestigte nationale Rechtsprechung vorliegt. Der Eintritt der europäischen Verfassungsgerichte in eine Form dialogischen „Verbundes“ nicht nur mit dem EGMR und dem EuGH sondern auch miteinander, wie Andreas Voßkuhle bemerkt,41 stößt tatsächlich die Türen zu einem diskursiven Disput über die richtige Lösung auf, indem sie einen „Lernverbund“ oder „Lernmodus“ (circuito o modalitá di apprendimento) jedenfalls aktiviert.42 Der transnationale Verfassungsdialog könnte schließlich mehr als das substantielle (rechtsprechende) Ergebnis des in Gang gesetzten gerichtlichen Entwicklungs- und Lernprozesses eine Vergleichungsmethode sein, um die Homogenisierung der einzelnen Verfassungen zu bewirken. Vorbedingung dazu sollte aber der Verzicht derselben nationalen Verfassungsgerichte auf die Wahrnehmung der Verfassung als Wertordnung sein, die den Urteilen nationaler Verfassungsgerichte unterliegt.43 Die nationale Wertordnungslogik und die gerichtliche Beachtung eines gemeineuropäischen Verfassungsrechts stoßen aneinander, so dass der Rückgriff auf die eine die Verwendung der anderen unausweich Ebd. A. Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, 1 (4). 42 A. Voßkuhle (Fn. 41): „Ähnlich wie Sprachen wirken auch Gerichte wie verschieden geschliffene Prismen, die unterschiedliche Rechts- und Weltansichten reflektieren, zugleich aber auch ermöglichen. Bei der gebotenen Vorsicht haben die vorangegangenen Ausführungen gleichwohl die Erkenntnis gebracht, dass das Bundesverfassungsgericht, der Europäische Gerichtshof und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht in voneinander abgeschirmter, sondern in wechselseitig abgestimmter Weise judizieren. Inhaltlich divergierende Entscheidungen hat man dabei nur selten getroffen, wobei gelegentliche Dissonanzen stets produktive Kraft für neue Entwicklungen entfaltet haben. […] Doch der gelebte europäische Verfassungsgerichtsverbund greift über die drei von mir beleuchteten Akteure weit hinaus. Insbesondere dürfen die Verfassungsgerichte der anderen europäischen Staaten und der mit ihnen gepflegte Gedanken- und Erfahrungsaustausch nicht unerwähnt bleiben. Die mitgliedsstaatlichen Verfassungsgerichte kooperieren nicht nur im Verfassungsgerichtsverbund mit dem Europäischen Gerichtshof und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, sondern auch untereinander etwa durch die persönliche Interaktion ihrer Richter sowie insbesondere durch die wechselseitige Rezeption ihrer Judikatur. Die Rechtsprechung der ‚verbundenen‘ Verfassungsgerichte erweist sich damit als ein diskursives Ringen um die ‚beste Lösung‘, so dass der Verfassungsgerichtsverbund schließlich zum ‚Lernverbund‘ wird.“ 43 In Bezug auf die Verfassung als Wertordnung verstanden, in der italienischen Lehre s. vor allem A. A. Cervati, Per uno studio comparativo del diritto costituzionale, Torino 2015, S. 182 ff. 40 41
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lich ausschließt. Ein fruchtbares Vorankommen des transnationalen Dialoges in Bezug auf die Konsolidierung des genannten gemeineuropäischen Verfassungsrechts verlangt ein allmähliches Beiseitelassen der nationalen Wertelogik. Danach sieht es momentan nicht ohne weiteres aus, weil die Existenz des Nationalstaates als politische Einheit noch aktuell bleibt. Ein aktuelles Beispiel für diese Problematik stammt aus der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichts, das die nationalen Verfassungswerte als ultra-vires-Maßstäbe ansieht, mit denen die Legitimität der Anwendung der EMRK jedenfalls überprüft werden soll.44 Infolgedessen kann der transnationale Verfassungsdialog immer nur unter der Kontrolle des Verfassungsgerichts vor sich gehen. Der „Widerstand“ des italienischen Verfassungsgerichtes, nicht auf die „WerteMethode“, sowie auf den eigenen Schutz der nationalen Verfassungsgrundrechte zu verzichten, macht das Ziel des transnationalen gerichtlichen Dialoges noch ziemlich fraglich: Es stellt sich als eine große Herausforderung auch für die Rechtswissenschaft dar, andere Orientierungsmethoden als den Imperativ-Normativismus zu entwickeln, die sich einem realistischen Ansatz anschließen sowie der Entwicklung der staatlichen Gesellschaft Rechnung tragen.45
Corte costituzionale, Urt. n. 49/2015. S. nochmals A. A. Cervati (Fn. 43), S. 249.
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Der jüngste legislative Vorstoß für eine institutionalisierte Schuldenbremse in der Hellenischen Republik: Adieu dem Rechtsstaat? von
Dr. Dimitrios Parashu, MLE, Dikigoros (griech. Rechtsanwalt), Universität Hannover* Inhalt I. Prolegomena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 II. Die Problematik einer Schuldenbremse in der griechischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 III. Jüngste legislative Entwicklungen (Mai/Juni 2016) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704 IV. Auffangbestimmungen im geltenden Recht: Die rechtssystematisch konsequentere Alternative . . . . . . 707
I. Prolegomena1 Als die Hellenische Republik Ende März 2012 als erstes Land der Eurozone den Europäischen Fiskalpakt durch ihre Volksvertretung ratifizieren ließ,2 tätigte sie somit einen ersten Schritt europarechtlicher Relevanz in Bezug auf eine Konsolidierung ihrer eigenen Staatsfinanzen.3 Der Umstand der Beteiligung des Parlaments, namentlich auch in jenem Kontext, ist für jeden Rechtsstaat freilich ein Gemeinplatz; * Anm.: Die Titel der Quellen aus dem Griechischen sind – genauso wie die im Text anzutreffenden wörtlichen Zitate aus dem Griechischen – allesamt durch den Autor in die deutsche Sprache übersetzt worden. 1 Vgl. im Folgenden Dimitrios Parashu, Schuldenbremse: Antwort auf die griechische Finanzkrise?, in: ders., Die Verfassungswirklichkeit auf dem Heiligen Berge Athos und andere Schriften zum ausländischen öffentlichen Recht und dem institutionellen Europarecht, 2013, 113–124 (113–114). 2 Vgl. etwa den Bericht „Das Parlament hat den Euromechanismus beschlossen“ („Η Βουλή ενέκρινε τον Ευρωμηχανισμό“) von Georgios S. Bourdaras, in der Zeitung „Kathimerini“ vom 29. März 2012, 2 (auf Griechisch). 3 Zu den entsprechenden Kalamitäten siehe etwa Christoph Herrmann, Staatsbankrott in der EU, in: Kai von Lewinski (Hrsg.), Staatsbankrott als Rechtsfrage, 2011, 29–44 (29); mit entsprechenden Zahlen Paul Kirchhof, Deutschland im Schuldensog, 2012, 17–19.
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gleichwohl wird dieses Element in der Folge des vorliegenden Beitrages noch von gesonderter Bedeutung sein. Dieser Fiskalpakt,4 welcher in Hinblick auf das Ziel der „(Förderung) einer Haushaltsdisziplin (durch) die Koordinierung (der mitgliedstaatlichen) Wirtschaftspolitiken“5 eine Reihe strenger Vorgaben für etwa Neuverschuldungsmöglichkeiten der Euro-Staaten beinhaltet,6 stellt einen – in seiner Physis – gesamteuropäischen Ansatz dar, der schwelenden Schulden- und Finanzkrise effektiv zu begegnen.7 Dies namentlich deswegen, da er eine Institutionalisierung dieser strengen Vorgaben auf der Ebene der jeweiligen nationalen Rechtsordnung innerhalb einer Jahresfrist ab Inkrafttreten vorschreibt, und hierbei den betroffenen Staaten sogar ausdrücklich einschlägige verfassungsrechtliche Regelungen nahelegt.8 Letzten Endes stellte dieser Schritt der Eurozone freilich eine konsequente Fortsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes des alten Maastrichter Vertrages dar.9 Die Hellenische Republik und einige andere Staaten der Eurozone, welche bis dorthin noch über keine entsprechende verfassungsrechtliche oder einfachgesetzliche Regelung verfügten, mussten nun agieren. Es sollte einige Zeit dauern: Durch das Gesetz (v.) 4270/201410 hatte der griechische Gesetzgeber schließlich gesucht, die Ratio des Fiskalpakts weiträumig umzusetzen. Der „Korrigierende Mechanismus“ („Διορθωτικός μηχανισμός“) erlaubte es dem jeweiligen griechischen Minister der Finanzen, im Falle einer Divergenz zwischen der Ausführung des Staatshaushaltes und der in den Art. 3 ff. der VO 1466/199711 vorgesehenen Stabilitätskriterien – nach Anhörung des, aus einschlägigen Spezialisten bestehenden Finanzrates – bestimmte fiskalische Konsolidierungsmaßnahmen in die Wege zu leiten,12 welche gleichwohl vom griechischen Ministerrat und vom griechischen Parlament verabschiedet werden mussten.13 Die Anwendung dieses Mechanismus wurde jedoch – in Anbetracht des fiskalischen Anpassungsprogrammes der Hellenischen Republik14 – einstweilen nicht als notwendig erachtet. Allerdings sollte es, aufgrund und vor dem Hintergrund der parallel noch laufenden Krisenprogramme, vor kurzem eine neue, einschlägige Normierung seitens des dortigen Gesetzgebers geben. Diese Normierung Gemäß Art. 14 Abs. 2 Fiskalpakt trat dieser per 1. Januar 2013 in Kraft. Art. 1 Abs. 1 Fiskalpakt. 6 Darunter etwa die Vorgabe einer Ausgeglichenheit des nationalen Haushaltes nach Art. 3 Abs. 1 lit. a Fiskalpakt und die Konkretisierung der letztgenannten Vorgabe, insbesondere durch die Bestimmung von Art. 3 Abs. 1 lit. b Fiskalpakt, dass eine solche Ausgeglichenheit dann eintritt, „wenn der jährliche strukturelle Saldo des Gesamtstaats dem länderspezifischen mittelfristigen Ziel […] mit einer Untergrenze von einem strukturellen Defizit von 0,5 % des Bruttoinlandsprodukts zu Marktpreisen entspricht […]“. 7 Vgl. Kirchhof (Fn. 3 ), 99. 8 Art. 3 Abs. 2 Fiskalpakt. 9 Vgl. hierzu Art. 126 AEUV (ex-Art. 104 EGV). Siehe insbesondere auch Kirchhof (Fn. 3 ), 99 f.; Hilde Neidhardt, Staatsverschuldung und Verfassung, 2010, 20 ff. 10 Regierungsblatt (ΦΕΚ) Α‘ 143 vom 28. Juni 2014, 4473 ff. 11 Verordnung (EG) Nr. 1466/97 des Rates vom 7. Juli 1997 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken (ABl. L 209 vom 2. August 1997, 1). 12 Vgl. Art. 38 des Ges. (v.) 4270/2014. 13 Vgl. Art. 39 Abs. 1 des Ges. (v.) 4270/2014. 14 Vgl. Art. 41 des Ges. (v.) 4270/2014. 4 5
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weist erhebliche rechtsstaatliche Probleme auf, wie im Laufe des Beitrages (III) deutlich werden wird.
II. Die Problematik einer Schuldenbremse in der griechischen Verfassung15 Die geltende griechische Verfassung16 verfügt über keinerlei entsprechende Vorschrift. Ebenso wenig wurde bei den bisherigen beiden erfolgreichen Revisionsvorgängen seit der Jahrtausendwende eine solche Bestimmung angeregt. Auch auf der einfachgesetzlichen Ebene, etwa in den einschlägigen, bisherigen Haushaltsgesetzen des Landes, sollte solches noch nicht vorgesehen werden. Entsprechend findet sich in der dortigen Staatsrechtsliteratur17 nichts in Bezug auf eine mögliche Schuldenbremse. Die griechische Finanzverfassung stricto sensu beschränkt sich einstweilen auf die steuerrechtlich relevanten Regelungen des Art. 78 sowie die generellen Bestimmungen des Art. 79 hinsichtlich der angeführten Haushaltsgesetze. Ferner wurde es bisher versäumt, etwa dem Rechnungshof (Ελεγκτικόν Συνέδριον) im einschlägigen Art. 98 der Verfassung weitergehende Zuständigkeiten in Bezug auf die Haushaltskontrolle einzuräumen. Seitdem die innerstaatliche Schuldenkrise 2009 offen ausbrach, um 2010–2012 (und erneut 2015) ihren bisherigen Höhepunkt zu erreichen, wurde eine – wenngleich nicht allzu umfangreiche – periodisch wiederkehrende Diskussion in Wissenschaft und Politik geführt, um die Möglichkeiten der Einführung eines etwa der deutschen Schuldenbremse entsprechenden Instruments auf verfassungsrechtlicher Ebene auszuloten. Hierbei überwog eher die Skepsis.18 Gleichwohl stellte bei den Parlamentsverhandlungen zum Staatshaushalt 2012 im Dezember 2011 der damalige Finanzminister Venizelos (freilich vage) eine mögliche zukünftige Verfassungsrevision in dieser Hinsicht in Aussicht.19 In der Folgezeit und bis zum heutigen Tage ist die Vgl. im Folgenden Parashu (Fn. 1), 119–120. Verf. von 1975 (revidiert 1986, 2001, 2008). 17 Vgl. u.a. Kostas Chryssogonos, Verfassungsrecht ( Συνταγματικό Δίκαιο ), 2003 (auf Griechisch); Andreas Dimitropoulos, Organisation und Funktion des Staates, Band II ( Οργάνωση και λειτουργία του κράτους, τόμος Β‘), 2009 (auf Griechisch); ders., System des Verfassungsrechts ( Σύστημα Συνταγματικού Δικαίου ), 2. Aufl. 2011 (auf Griechisch); Xenophon Paparrigopoulos, Rechtsstaat ( Κράτος Δίκαιου ), 2011 (auf Griechisch); Antonis Manitakis, Die Verfassung von 1975/86/2001/2008 und Organgesetze ( Σύνταγμα του 1975/86/2001/2008 και οργανικοί νόμοι ), 2009 (auf Griechisch); ders., Verfassungsorganisation des Staates. Mit Elementen der Politologie ( Συνταγματική οργάνωση του Κράτους. Με στοιχεία πολιτειολογίας ), 3. Aufl. 2009 (auf Griechisch); Alexandra Kokkidou, Die Kompetenzen des Rechnungshofes ( Οι αρμοδιότητες του Ελεγκτικού Συνεδρίου ), 2004 (auf Griechisch). 18 Stangos etwa sah die potentielle Umsetzungsart und -weise einer Schuldenbremse nach explizit deutsch-französischem Vorbild als skeptisch an, ohne sich in der Sache jedoch negativ zu äußern; vgl. Petros Stangos, „Die Haushaltsdisziplin in der Union, die Verfassung und das deutsch-französische ‚Beispiel‘ (Die „Schuldenbremse“ und die „Goldene Regel“)“ („Η δημοσιονομική πειθαρχεία στην Ένωση, το Σύνταγμα και το γερμανογαλλικό ‚παράδειγμα‘ („φρένο χρέους“ και ο „χρυσός κανόνας“)“). Artikel in der Zeitung „Ta Nea“ vom 23. August 2011, 5 (auf Griechisch). 19 Vgl. den Bericht (ohne Autorenangabe), „‚Schuldenbremse‘ ohne Revision“ („‚Φρένο‘ χρέους χωρίς αναθεώρηση“) in der Zeitung „Kathimerini“ vom 6. Dezember 2011, S. 7 (auf Griechisch). 15 16
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entsprechende Diskussion vergleichsweise rudimentär geführt worden 20 – obwohl die europäische Schuldenkrise mitnichten an Vehemenz verloren hat. Der legislative Vorstoß des Jahres 201421 hat – ob seiner praktischen Nichtrelevanz – die einschlägige Diskussion nicht beeinflusst.
III. Jüngste legislative Entwicklungen (Mai/Juni 2016) Das Kabinett Tsipras legte dem griechischen Parlament am 19. Mai 2016 einen Änderungsantrag des Ministeriums der Finanzen zu einem Gesetzesentwurf („Dringende Bestimmungen für die Umsetzung der Übereinkunft zu finanzpolitischen Zielen und strukturellen Reformen und weitere Bestimmungen“) vor, welcher ein besonderes Instrument zur Schuldenbremse enthielt („Automatischer Mechanismus finanzpolitischer Anpassung des Haushaltes der allgemeinen Regierung“).22 Dieser Mechanismus ist bereits weitläufig als „Schneider“ („κόφτης“) bekannt,23 da er unter bestimmten Umständen Staatsausgaben, die eigentlich von Seiten des Parlaments im Haushalt beschlossen worden sind ad hoc „abschneiden“ können soll. Es ist charakteristisch für die Behandlung des Hohen Hauses durch das bezeichnete Kabinett, dass dieser Mechanismus nicht schon in besagtem Gesetzesentwurf enthalten war, sondern vielmehr „um einiges nach Mitternacht“24 zusätzlich eingebracht wurde. 20 Vgl. etwa die eine Schuldenbremse ablehnende Stellungnahme des Verfassungsrechtlers Panagiotis Mantzoufas, Finanzkrise und Verfassung ( Οικονομική κρίση και Σύνταγμα ), online veröffentlicht am 2. Februar 2012 unter http://www.constitutionalism.gr/html/ent/261/ent.2261.asp (abgerufen am 8. Oktober 2012/letzter Abruf am 12. Juli 2016; auf Griechisch); ebenfalls veröffentlicht in der Zeitschrift „Book’s Journal“, Ausgabe 16 vom 27. Januar 2012 (S. 2 ff.; auf Griechisch). Dieser hält eine Schuldenbremse für schädlich, da eine solche der Rezession effektiv nichts entgegenzusetzen habe. Gegen eine Schuldenbremse argumentieren letztendlich auch Dimitrios B. Skiadas, Verfassung und finanzrechtliche Regeln: ein schwieriges Verhältnis ( Σύνταγμα και δημοσιονομικοί κανόνες: μια δύσκολη σχέση ), in: Zeitschrift „Dioikitiki Dikaiosyni (ΔΔ)“ 1/2011, S. 11 ff. (auf Griechisch); ebenso Antonis Manitakis, Verfassungsfragen des Memorandums im Hinblick auf eine geteilte nationale Souveränität und eine überwachte finanzrechtliche Politik (Τα συνταγματικά ζητήματα του μνημονίου ενόψει μοιρασμένης κρατικής κυριαρχίας και επιτηρούμενης δημοσιονομικής πολιτικής ), in: Öffentliche Finanzen und Recht (Δημόσια Οικονομικά και Δίκαιο ), FS für Nikolaos Barbas ( Τιμητικός Τόμος Νικολάου Μπάρμπα ), 2013, S. 121–154 (auf Griechisch); dieser Text ist ferner, nunmehr (7/2016) dort lediglich mit „Verfassungsfragen des Memorandums“ ( Τα συνταγματικά ζητήματα του μνημονίου ) betitelt, einsehbar unter http://www.law-constitution.web.auth.g/manitakis/files/MANITAKIS-mnimonio.pdf, Δικαιώματα του Ανθρώπου 51/2011; (abgerufen am 8. Oktober 2012/letzter Abruf am 12. Juli 2016 (auf Griechisch)). 21 Siehe Fn. 10. 22 Vgl. zu diesem Änderungsantrag (435/79), welcher auf den 18. Mai 2016 datiert wurde, die Einheit „Legislative Arbeit“ („Νομοθετικό Έργο“) auf der Internetpräsenz des griechischen Parlamentes (www.hellenicparliament.gr), eingesehen unter http://www.hellenicparliament.gr/Nomothetiko-Ergo/Psifisthenta-Nomoschedia?law_id=0e93cbf b-8993-489f-9809-a60a017d5931 (auf Griechisch; abgerufen am 23. Mai 2016/letzter Abruf am 12. Juli 2016); ferner den Bericht von Georgios Pappous, „Wie der ‚Schneider‘ funktionieren wird – Die Kürzungen von Löhnen und Renten [pdf ]“ („ Πως θα λειτουργεί ο ‚κόφτης‘ – Οι περικοπές σε μισθούς και συντάξεις [pdf ]“) auf iefimerida.gr vom 19. Mai 2016, eingesehen unter http://www.iefimerida.gr/news/267651/pos-tha-leitoyrgei-o-koftis-oi-perikopesse-misthoys-kai-syntaxeis-pdf (auf Griechisch; abgerufen am 23. Mai 2016/letzter Abruf am 12. Juli 2016). 23 So Pappous (Fn. 22). 24 So ibid.
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Gegen den angeführten Gesetzesentwurf insgesamt wie auch das avisierte Instrument zur Schuldenbremse nahmen bereits im Vorfeld namentlich griechische Rechtsanwender negativ Stellung. So monierte der Vorsitzende des Plenums der griechischen Rechtsanwaltskammern, Vassileios Alexandris, dass „der automatische Mechanismus finanzpolitischer Anpassung, durch den Beschluss von Maßnahmen unter Umgehung des (regulären) parlamentarischen Prozesses auf provokante Art und Weise die Staatsform unterhöhlt (Art. 1 Verf.) und den Kern der Gewaltenteilung (Art. 26 Verf.) schädigt“.25 Die Einschätzung ist insoweit zutreffend, als dass „der Rechtsstaat als organisatorische Basis der Staatsform“26 durch die normierte Vorgehensweise ausgehöhlt scheint. Denn die Umgehung jedweder Bezugnahme auf die Volksvertretung stellt eine Verletzung der Gewaltenteilung dar.27 Der Änderungsantrag wie auch der Gesetzesentwurf insgesamt wurden von der aktuellen knappen Regierungsmehrheit am 22. Mai 2016, nach einer dreitägigen und von allen Seiten mit äußerster Vehemenz geführten Parlamentsdebatte, verabschiedet.28 Das Resultat ist das nunmehrige Gesetz (v.) 4389/2016.29 Bereits in den Erwägungsgründen des Änderungsantrages war keinerlei Bezug zur Verfassung zu finden, sondern nur zu „den Verpflichtungen, welche die Hellenische Republik im Rahmen des laufenden Programms fiskalischer Anpassung aufgenommen hat, so wie diese im Gesetz (v.) 4336/2015 (Regierungsblatt A‘ 94) aufgenommen worden sind“.30 Das Fehlen jedweden verfassungsrechtlichen Bezuges ist nicht nur befremdlich – es dokumentiert auch den Stellenwert, welchen der derzeitige Gesetzgeber der Verfassung zuerkennt. Als Haupterwägungsgrund wird stattdessen angeführt, dass man „auf die Gewährleistung des Erreichens der finanzpolitischen Ziele, die weitergehende Verinnerlichung der finanzpolitischen Disziplin und den Schutz bestimmter Kategorien von Ausgaben sozialer Ausrichtung“31 abzielt. Es ist gleichwohl fraglich, ob durch dieses Konstrukt höchst eigenwilliger Legitimation auch nur eines dieser Elemente positiv umgesetzt werden kann. Der notwendigen Rechtssicherheit scheint jedenfalls nicht dadurch gedient. Der Mechanismus setzt wesentlich voraus, dass der jeweilige Minister der Finanzen bis zum 10. Mai jeden Jahres einen besonderen, ausführlichen Bericht abfassen muss.32 Dieser soll sich mit möglichen Divergenzen zwischen dem Ziel der primären 25 Siehe den Bericht (ohne Autorenangabe) der Rechtsanwälte: „Der ‚Schneider‘ unterhöhlt provokant die Staatsform“ („Ο ‚κόφτης‘ αλλοιώνει προκλητικά το πολίτευμα“) auf iefimerida.gr vom 21. Mai 2016, eingesehen unter http://www.iefimerida.gr/news/268047/dikigoroi-o-koftis-alloionei-proklitikapoliteyma (auf Griechisch; abgerufen am 23. Mai 2016/letzter Abruf am 12. Juli 2016). 26 So Antonis Manitakis, Rechtsstaat und Gerichtliche Prüfung der Verfassungsmäßigkeit ( Κράτος Δικαίου & Δικαστικός Έλεγχος της Συνταγματικότητας ), 1994, S. 121 (auf Griechisch). 27 Vortrefflich hierzu insbes. Dimitris Th. Tsatsos, Verfassungsrecht, Band 2 , Organisation und Funktion des Staates ( Συνταγματικό Δίκαιο Β‘, Οργάνωση & Λειτουργία της Πολιτείας ), 2. Aufl. 1993, bereits § 7, S. 97 ff. (auf Griechisch). 28 Vgl. etwa den Bericht (ohne Autorenangabe) „Die Regierung Tsipras ist verletzt, aber ohne Verluste“ („Τραυματισμένη, αλλά χωρίς απώλειες η κυβέρνηση Τσίπρα“) in der Zeitung „Kathimerini“ vom 24. Mai 2016, S. 1 (auf Griechisch). 29 Regierungsblatt (ΦΕΚ) A‘ 94 vom 27. Mai 2016, 2657 ff. 30 So in den Erwägungsgründen des Änderungsantrages vom 19. Mai 2016 (auf Griechisch); siehe „Legislative Arbeit“ („Νομοθετικό Έργο“), a.a.O. (Fn. 22). 31 So ibid. 32 Vgl. Art. 233 Abs. 2 des Ges. (v.) 4389/2016.
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Staatshaushaltsbilanz der Regierung im Vorjahr und dem einschlägigen Haushaltsprüfungsresultat seitens der Regierung beschäftigen33 und – im Falle der ministerialen Feststellung eines negativen Resultates – vom Antrag des Ministers an das Staatsoberhaupt, bis zum 31. Mai jeden Jahres eine Präsidialverordnung/Dekret (also kein parlamentsbeschlossenes Gesetz!) herauszugeben, flankiert werden.34 Ob die einschlägige Einschätzung des Ministers ihrerseits, gemäß der Prämisse von checks and balances, einer Prüfung unterzogen werden kann, hat der Gesetzgeber hier nicht dezidiert aufgeführt, was aufgrund der Besonderheit der Bestimmung mindestens sachdienlich und geboten gewesen wäre. Diese Präsidialverordnung/Dekret hat in concreto die Ausführung des jeweils aktuellen Haushaltes insoweit einzuschränken, als dass – in Form einer Klimax je nach Höhe der bezeichneten negativen Divergenz – bestimmte Ausgabenkürzungen vorgesehen sind. Bei negativen Divergenzen, welche kleiner oder gleich zu 0,25 % des BIP sein sollten, würden keine Maßnahmen vorgenommen.35 Bei Divergenzen, welche zwischen 0,26 % und 0,75 % des BIP lägen, wären Maßnahmen in Höhe von 0,5 % des BIP vorgesehen; bei Divergenzen zwischen 0,76 % und 1,25 % des BIP Maßnahmen in Höhe von 1,0 % des BIP; bei solchen zwischen 1,26 % und 1,75 % des BIP Maßnahmen in Höhe von 1,5 % des BIP; schließlich, bei Divergenzen zwischen 1,76 % und 2,25 % des BIP Maßnahmen in Höhe von 2,0 % des BIP.36 Falls dieses Dekret nicht fristgerecht verabschiedet werden sollte, wären horizontale Kürzungen bei allen Ausgaben des aktuellen Staatshaushaltes ab dem 1. Juni des dann laufenden Jahres in Höhe von maximal 2 % des BIP die Folge;37 lediglich einige überschaubare Kategorien sollen von diesem allgemeinen Einschnitt verschont bleiben.38 Dieser Mechanismus soll einstweilen „die Umsetzung der finanzpolitischen Ziele (…) der Haushaltsjahre 2017–2019 begünstigen“.39 Jedenfalls ist die früheste Prüfungsmöglichkeit der Effektivität des Instruments für den 31. Mai des auf die erste Anwendung des Instruments folgenden Jahres vorgesehen, ohne klar zu normieren, wem diese Prüfung zusteht40 (eine solche Kompetenz des sachlich zuständigen Ministers hätte auch hier klar formuliert werden müssen). Eine einschlägige Prüfungskompetenz der volksgewählten Legislative ist jedenfalls nicht aufgeführt. Ferner wurde auch die Möglichkeit der Auf hebung dieses Mechanismus wie auch der Prüfung seiner Anwendung im Falle von Geschehnissen höherer Gewalt vorgesehen.41 Dies sollte jedoch rasch modifiziert werden. Um einige weitergehende Forderungen der internationalen Gläubiger zu erfüllen, reichte das Kabinett, wiederum augenscheinlich überstürzt, einen abermaligen Änderungsantrag ein (Änderungsantrag 468/30 vom 1. Juni 2016).42 Dieser sollte die Vgl. Art. 233 Abs. 2 Fall α‘ des Ges. (v.) 4389/2016. Vgl. Art. 233 Abs. 2 Fall α‘ i.V.m. Art. 233 Abs. 4 Fall α‘ des Ges. (v.) 4389/2016. 35 Vgl. Art. 233 Abs. 3 des Ges. (v.) 4389/2016. 36 Vgl. Art. 233 Abs. 3 Fall α‘ bis ε‘ des Ges. (v.) 4389/2016. 37 Vgl. Art. 233 Abs. 4 Fall β‘ des Ges. (v.) 4389/2016. 38 Vgl. Art. 233 Abs. 5 des Ges. (v.) 4389/2016. 39 So Art. 233 Abs. 6 des Ges. (v.) 4389/2016. 40 Vgl. ibid. 41 Vgl. Art. 233 Abs. 9 Fall α‘ des Ges. (v.) 4389/2016. 42 Vgl. den Bericht (ohne Autorenangabe) „Durch Änderungsanträge Änderungen von EKAS, beson33
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Bestimmungen des „Schneiders“ gleichwohl nicht signifikant verändern. Abs. 9 des Art. 233 (Ges. 4389/2016) wurde dahingehend modifiziert, dass jede Nichtanwendung des Instruments in Fällen höherer Gewalt ausdrücklich des Einverständnisses der internationalen Gläubiger bedarf. Eine klarere Formulierung der besorgniserregenden Prävalenz von Finanz und Wirtschaft über Recht kann kaum vorgenommen werden. Die knappe Regierungsmehrheit im Parlament ließ innerhalb weniger Stunden noch am 2. Juni 2016 auch diese Bestimmung problemlos passieren.43 In der Gesamtschau muss man stark bezweifeln, dass das verabschiedete Konstrukt überhaupt in die Realität umgesetzt werden kann. Das Fehlen jeglicher Einbindung der Volksvertretung in die Abläufe reicht bereits, um eine Verfassungswidrigkeit erkennen zu können. Auch sind die einschlägigen Bestimmungen des (noch nicht in praxi erprobten)44 Ges. 4270/2014 durch die jüngsten Entwicklungen weiträumig aufgehoben worden45. Letzteres erfolgte freilich durch die Überschneidungen der Regelungstopoi, welche bereits die praktische Nichtanwendbarkeit von Elementen des Ges. von 2014 befürchten ließ. Es bleibt jedenfalls erneut zu konstatieren, dass der Finanzkrise in ihren vielschichtigen Ausdrucksweisen nur durch den bedingungslosen Respekt gegenüber der griechischen Verfassung wird begegnet werden können – anderenfalls bewegt man sich im rechtsfreien Raum mit potentiell verheerenden Auswirkungen.
IV. Auffangbestimmungen im geltenden Recht: Die rechtssystematisch konsequentere Alternative Indes hätte die aktuelle griechische Regierungsmehrheit, falls sie tatsächlich an einer effektiven und nachhaltigen institutionellen Behandlung des Schuldenproblems interessiert gewesen wäre, sich bereits anderweitig behelfen können.46 Dies wäre sogar ohne Verfassungsrevision möglich gewesen: Eine rudimentäre Ratio für eine Schuldenbremse könnte nämlich schon der Verfassungsbestimmung entnommen werden, dass jedweder einfache Gesetzesvorschlag eines Ministers aufgrund einer damit verbundenen Belastung des Staatshaushaltes eine schriftliche Rechtfertigung durch das Rechnungsamt der Republik in Athen erfahren muss.47 Realiter sind ernsthafte Eindere Besoldungsgruppen und Schneider“ („Με τροπολογίες οι διoρθώσεις για ΕΚΑΣ, ειδικά μισθολόγια και κόφτη“), in der Zeitung „Kathimerini“ vom 2. Juni 2016, S. 1–2 (auf Griechisch). Der Änderungsantrag selbst ist freilich einsehbar in der Einheit „Legislative Arbeit“ („Νομοθετικό Έργο“) auf der Internetpräsenz des griechischen Parlamentes (www.hellenicparliament.gr), in diesem Falle konkret unter http://www.hellenicparliament.gr/UserFiles/bbb19498-1ec8-431f-82e6-023bb91713a9/9606325.pdf (auf Griechisch; abgerufen am 2. Juni 2016/letzter Abruf am 12. Juli 2016). 43 Vgl. den Bericht von Georgios S. Bourdaras, „Rückzug durch Änderungsanträge“ („Υποχώρηση μέσω τροπολογιών“) in der Zeitung „Kathimerini“ vom 3. Juni 2016, 2 (auf Griechisch). Die angesprochene Modifizierung ist in Art. 7 Abs. 2 des nunmehrigen Ges. (v.) 4393/2016 (Regierungsblatt (ΦΕΚ) A‘ 106 vom 6. Juni 2016, 6587 ff.) zu finden. 44 Siehe oben I. 45 Mit der Ausnahme einzelner technischer Bestimmungen hinsichtlich des Defizites, vgl. Art. 233 Abs. 3 des Ges. (v.) 4389/2016. 46 Vgl. im Folgenden Parashu (Fn. 1), 121–124. 47 Art. 75 Abs. 1 Verf.
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sprüche in Bezug auf solche Vorstöße eines Ministers bis dato nicht ersichtlich; dies nimmt jener Bestimmung einstweilen die notwendige Schärfe – was aber nicht zwingend für die Zukunft gelten muss. Maßgeblich für den verfassungsrechtlichen Rahmen der Finanzpolitik ist bis dato Art. 79 der Verfassung. Relativ geschmacksneutral, weil so auch aus anderen Staaten bekannt, wird dem Parlament die jährliche Verabschiedung des Haushaltes vorgeschrieben,48 was alle Aktiva und Passiva umfassen soll.49 In besonderen Notfälle kann ferner die – realiter noch nicht wahrgenommene – Möglichkeit ergriffen werden, den Staatshaushalt kumulativ für die beiden folgenden Rechnungsjahre zu verabschieden. Ebenfalls für Notfälle sind gewisse Adaptions- und Erweiterungsmöglichkeiten eines ursprünglich geplanten Haushaltes vorgesehen.50 Der Minister der Finanzen hat sich bei seinem Haushaltsentwurf an bestimmte Fristen zu halten: So muss der Entwurf etwa spätestens vierzig Tage vor dem Ende des vorherigen Rechnungsjahres dem parlamentarischen Ausschuss für Finanzen vorgelegt werden, bevor das Plenum abstimmen kann.51 Die Prüfung der Durchführung eines Haushaltes ist in erster Linie dem Parlament selbst eingeräumt (innerhalb eines Jahres nach dem Ende des relevanten Rechnungsjahres), wobei auch der Rechnungshof einen entsprechenden Prüfungsbericht beizusteuern hat.52 Eine ausdrückliche Sanktion für den Staat im Fall des Nichteinhaltens des Haushaltes ist jedoch nicht vorgesehen. Dies gilt unabhängig von dem Umstand, dass der Rechnungshof bereits grundsätzlich die Kompetenz hat, die Passiva des Staates zu prüfen; 53 in diesem Zusammenhang haben seine Mitglieder u.a. behördlichen Zugang zu allen sachrelevanten Büchern zu bekommen.54 Interessanterweise können die Mitglieder des Rechnungshofes die Prüfung einer Haushaltsausgabe auch präventiv vornehmen, wobei eine etwa negative Stellungnahme die Verwaltung zwar juristisch nicht bindet, realiter jedoch beachtet wird.55 Bei der Prüfung der Haushaltsausgaben haben alle sachkompetenten Beteiligten den Kodex Öffentlicher Bilanz56 zu beachten, der die Befolgung so wichtiger Prinzipien wie etwa desjenigen einer ‚guten finanzpolitischen Verwaltung‘57, aber auch die „Prüfung der Entwick48 Art. 79 Abs. 1 Verf. Freilich wird namentlich in der deutschen Literatur vertreten, dass parlamentarische Haushaltsgesetze jedweder Außenwirkung entbehren und somit im Ernstfall keinen Einfluss auf Leistungsverpflichtungen eines Staates entfalten, so: Kai von Lewinski, Öffentlichrechtliche Insolvenz und Staatsbankrott, 2011, S. 34; dort ebenfalls zitiert werden (zustimmend) Reinhard Mußgnug, Der Haushaltsplan als Gesetz, 1976, S. 307 ff. und (contra) Prodromos Dagtoglou, Die Zwangsvollstreckung gegen den Fiskus, die Gemeinden und die sonstigen juristischen Personen des Öffentlichen Rechts, VerwArch. 50 (1959), 165–192 (170, 176 ff.). 49 Art. 79 Abs. 2 Verf. 50 Art. 79 Abs. 6 bzw. Abs. 4 Verf. 51 Art. 79 Abs. 3 Verf. 52 Art. 79 Abs. 7 bzw. Art. 79 Abs. 7 i.V.m. Art. 98 Abs. 1 Fall ε‘ Verf. 53 Art. 98 Abs. 1 Fall α‘ Verf, weitergehend konkretisiert durch die Art. 1 Abs. 1 Fall α‘ und Art. 15 Abs. 1 der Präsidialverordnung/Dekret ( π.δ.) 774/1980. 54 Art. 17 Abs. 1 der Präsidialverordnung/Dekret ( π.δ.) 774/1980. 55 Vgl. Art. 21 Abs. 1 und Abs. 2 der Präsidialverordnung/Dekret ( π.δ.) 774/1980. 56 Κώδικας Δημοσίου Λογιστικού, gemäß dem Gesetz (v.) 2362/1995, welches in der Folge mehrfach verändert wurde. 57 Αρχή της χρηστής δημοσιονομικής διαχειρήσεως, Art. 1 des Gesetzes (v.) 2362/1995.
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lung der öffentlichen Schulden“58 vorschreibt. Auch hier fehlen jedoch ausdrückliche Sanktionen.59 Es bleibt festzustellen, dass sowohl auf der verfassungsrechtlichen als auch auf der einfachgesetzlichen Ebene der Hellenischen Republik durchaus Anknüpfungspunkte vorhanden waren und sind, welche die Einführung einer Schuldenbremse auf rechtssystematisch konsequentere Art und Weise begünstigt hätten. Dies kann durch die Tatsache flankiert werden, dass die Neuverschuldung Griechenlands infolge der in den letzten Jahren verfolgten Sparpolitik signifikant zurückgegangen ist.60 Mithin wäre die Zeit wohl reif für eine solche ordentliche Institutionalisierung. Der aktuellste Vorschlag zur Verfassungsänderung, der im Sommer 2014 von den Christdemokraten (Nea Dimokratia) formuliert wurde (bereits 2011 hatte dieselbe Partei Vorschläge für eine Revision vorgelegt61), enthält drei relevante Gedanken, jedoch keine konstitutionelle Schuldenbremse. Vorgeschlagen wird vielmehr: 62 Die Einführung eines ständigen Staatssekretärs für den Staatshaushalt (mit fünfjähriger Amtszeit und Wahl durch eine qualifizierte Mehrheit von 3/5 der Mitglieder des Parlaments), eine weitergehende Konkretisierung einschlägiger Kompetenzen des Rechnungshofes sowie die verfassungsrechtlich verankerte Pflicht aller durch den Staat subventionierten Stellen, einen jährlichen Wirtschaftsbericht vorzulegen. Vor dem geschilderten Prisma des Fiskalpaktes wird die auch in der Folgezeit wohl verstärkt zu erwartende63 Reformdiskussion der Hellenischen Republik langfristig wohl eine orthologisch institutionalisierte Schuldenbremse bescheren müssen. Dies wäre nicht zuletzt hinsichtlich der wichtigen „Ordnungsfunktion einer Finanzverfassung“64 von Bedeutung. In Anbetracht der bisherigen Resultate in anderen europäischen Staaten65 wäre solches in Ermangelung ernsthafter Alternativen66 zu befürworten. So sollte bereits die Verf. die grundsätzliche Notwendigkeit des Ausgleiches des Staatshaushaltes ohne Krediteinnahmen vorsehen, wobei sich der von der Legislative höchstmöglich zu bewilligende Gesamtbetrag des Staatshaushaltes nach den entsprechenden Einnahmen richten müsste.67 Die Krediteinnahmen sollten konkre-
Αρχή του ελέγχου της πορείας του Δημοσίου Χρέους, Art. 1 A des Gesetzes (v.) 2362/1995 (2010 in dieses eingefügt). 59 Vgl. die Abwesenheit entsprechender Sanktionen, etwa auch in den Artt. 22, 22A und 27 des Gesetzes (v.) 2362/1995. 60 Vgl. etwa den Bericht (ohne Autorenangabe) „Große Reduktion des Defizites“ („Μεγάλη μείωση του ελλείμματος“) in der Zeitung „Kathimerini“ vom 23. Januar 2013, 7 (auf Griechisch). 61 Vgl. Dimitrios Parashu, Der Ausbau der griechischen Verfassungsgerichtsbarkeit. Eine kritische Betrachtung zu Entwicklung und Entfaltungsmöglichkeiten im Rechtsvergleich, 2012, 239 m.w.N. 62 Vgl. im Folgenden Georgios P. Terzis, „Die 31 Positionen der ND für die Verfassungsrevision“ („Οι 31 θέσεις της ΝΔ για τη συνταγματική αναθεώρηση“), Bericht in der Zeitung „Kathimerini“ vom 28. August 2014, 4 (auf Griechisch). 63 Vgl. die entsprechende Frist des Art. 110 Abs. 6 Verf. 64 Im deutschen Kontext BVerfGE 72, 330 (388); vgl. Wolfram Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 3. 65 Vgl. Parashu (Fn. 61), 114 ff. 66 Ein „Wegfall struktureller Verschuldung“, wie ihn sich etwa Ryczewski (Christoph Ryczewski, Die Schuldenbremse im Grundgesetz, 2011, 196 f. m.w.N.) vorstellt, wäre aufgrund bestehender griechischer Strukturen (siehe etwa Fn. 59) derzeit utopisch. 67 Vgl. hierzu Art. 126 Abs. 2 der Schweizer Verfassung. 58
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ter – in Anlehnung etwa an das Grundgesetz68 – den Anteil von wenigstens 0,35 % des BIP nicht überschreiten.69 Vergleichbar zur Bundesregelung70 sollte ferner ein „Kontrollkonto“ vorgesehen werden, um Kreditabweichungen zu erfassen und die Sanktion zu normieren, dass Belastungen oberhalb des angeführten Schwellenwertes konjunkturgerecht zurückgeführt werden müssen. Dieses Instrument wäre m.E. als durchaus effektives und abschreckendes Sanktionsmittel für eine zuwiderhandelnde Exekutive anzusehen.71 Auch sollte ein Frühwarnsystem72, das der griechische Gesetzgeber unorthodox eingeführt hat, ebenfalls verfassungsrechtlich verankert werden, wobei die Elemente des jüngsten legislativen Vorstoßes aus Gründen einer behutsamen normativen Anpassung beibehalten werden könnten, ohne allerdings das Parlament einer einschlägigen Mitwirkung zu berauben. Auf diese Art und Weise könnte der Pathologie des „Fehlens einer Koordination hinsichtlich der Richtung der (staatlichen) Finanzpolitik“73 begegnet und eine eher „qualitative Finanzpolitik“ namentlich in Bezug auf den Haushalt74 durchgesetzt werden. Die griechische Totaladaptation der komplexen Vorschriften des Fiskalpaktes in Bezug auf einen ausgeglichenen Haushalt würde ein „System mit festen Referenzwerten“75 schaffen, dessen Anwendung wohl praktisch wertvoller wäre als das momentane Vertrauen in politische Grundsatzentscheidungen. Hierbei wäre freilich zu beachten, dass die naturgemäß schwer bestimmbaren finanzrechtlichen Rechtsbegriffe aus Gründen der Rechtssicherheit gleichwohl hinreichend zu konkretisieren wären.76 Die innerstaatliche Kontrolle der Referenzwerte, die zeitlich vor einem durch den Fiskalpakt angedrohten Defizitverfahren77 vorzunehmen wäre, könnte ein dafür vorzusehendes Organ konkret messbar überprüfen. In Bezug auf ebendieses Organ schlage ich zwei Varianten vor: Aufgrund bestehender und angeschnittener Kompetenzen, wie auch in bisheriger Ermangelung eines ständigen Verfassungsgerichtshofes der Hellenischen Republik, drängt sich als Kontrollorgan einerseits der Rechnungshof auf.78 Er könnte die ständige Überwachung des griechischen Haushaltsusus übernehmen, inklusive einer gerichtlichen Kontrolle79 sowie eines obligatorisch einzurichtenden Kontrollkontos. Aus Effektivitätsgründen und vor dem Hintergrund des notwendigen Respekts gegenüber der Gewaltenteilung bietet sich andererseits die ständige Überwachung der Haushaltshandhabe durch ein vom Parlament mit qualifizierter Mehrheit (aus Konsensgrün Vgl. hierzu Art. 109 Abs. 3 Satz 4 GG i.V.m. Art. 115 Abs. 2 Satz 1 GG. So Art. 109 Abs. 3 Satz 4 GG i.V.m. Art. 115 Abs. 2 Satz 1 GG. 70 Siehe Art. 115 Abs. 2 Satz 4 GG. 71 Vgl. hier Maxi Koemm, Eine Bremse für die Staatsverschuldung? Verfassungsmäßigkeit und Justitiabilität des neuen Staatsschuldenrechts, 2011, 323. 72 Vgl. Art. 109a GG. 73 Insoweit leider immer noch aktuell Dimitrios Psarros, Elemente des Verwaltungsfinanzrechts gemäß dem in Griechenland Geltenden, I, ( Στοιχεία Διοικητικού Οικονομικού Δικαίου κατά τα εν Ελλάδι ισχύοντα, I), Athen (Eigenverlag) 1960, 171 ff. (auf Griechisch). 74 Psarros (Fn. 73), 232 f./277 ff. (auf Griechisch). 75 Ryczewski (Fn. 66), 86. 76 Vgl. im deutschen Kontext Felix Ekardt/Daniel Buscher, Staatsschuldenrecht, Finanzkrise und Nachhaltigkeit, AöR 137 (2012), 42–71 (48) m.w.N. 77 Art. 8 Fiskalpakt. 78 Vgl. Parashu (Fn. 61), 240. 79 Vgl. hierzu insbesondere Neidhardt (Fn. 9 ), 151 ff. 68 69
Der jüngste legislative Vorstoß für eine institutionalisierte Schuldenbremse
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den idealerweise 2/3-Mehrheit80 ) zu bestimmendes administratives Organ an, welchem ein institutionelles Standing vergleichbar zum deutschen „Stabilitätsrat“81 eingeräumt werden sollte. Diese Maßnahmen könnten die notwendige Effektivität steigern.82 Schließlich könnte man bei einer notwendigen, zukünftigen Formulierung bestimmter „Grundsätze zur Aufstellung und Durchführung von Sanierungsprogrammen zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen“83 auf wirtschaftsrechtlich bestehende Maximen des genannten griechischen Kodex Öffentlicher Bilanz84 zurückgreifen, um keine rechtlichen Systembrüche nach sich zu ziehen.
Zwecks Sicherung größtmöglicher Legitimation. Vgl. hierzu das in diesem Zusammenhang verabschiedete Gesetz zur Errichtung eines Stabilitätsrates und zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen vom 10. August 2009, BGBl. I, S. 2702. Freilich wird dieser Rat im Bundeskontext mit besonderer Rücksicht auf föderale Elemente gebildet, welche im griechischen Kontext fehlen; dies soll aber die sachliche Beispielhaftigkeit des Organes nicht tangieren. 82 Otto Fricke/Jan Wettlaufer, Staatsbankrott: Rechtsproblem oder Problem jenseits des Rechts, in: Lewinski (Fn. 3 ), S. 19–27 (19). 83 Vgl. Art. 109a Satz 1 Nr. 3 GG. 84 Siehe Fn. 56. 80 81
Entwicklungen des Verfassungsrechts im außereuropäischen Raum I. Amerika
„Originalismus“ als methodologischer Scheinriese und verfassungspolitische Konterrevolution Rechtsvergleichende Kritik der Auslegung der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika aufgrund ihres Wortlauts in seiner ursprünglichen Bedeutung von
Prof. Dr. Johannes Reich, LL.M. (Yale), Universität Zürich Inhalt I. Verfassung als mosaische Gesetzestafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714 II. Originalismus – Bedingungen eines unwahrscheinlichen Aufstiegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716 1. Inthronisation der Verfassung zur „Königin von Amerika“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716 2. Kommunikative Unterscheidung zwischen Text und Auslegung als Prämisse der gesellschaftlichen Inanspruchnahme der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 718 3. Regelskeptizismus als Folge des Siegeszuges des Rechtsrealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721 4. United States Supreme Court als semi-autonomer Akteur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 724 a) Politische Abhängigkeiten und Restriktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . 724 b) „Verfassungsrechtlicher Protestantismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726 5. Originalismus als restauratives Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727 a) Rekonstruktion der Verfassung als rechtliches Dokument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727 b) Erkenntnistheoretische und verfassungstheoretische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729 III. Verfassungspolitische und verfassungstheoretische Dimensionen des Originalismus . . . . . . . . . . . . . 732 1. Differenzierung zwischen Verfassungspolitik und Verfassungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732 2. Verfassungstheoretische Dimension: Originalismus als Scheinriese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733 3. Verfassungspolitik: Originalismus als Schlachtruf einer restaurativen „Konterrevolution“ . . . . . . 735 a) „Conservative Legal Movement“ als verfassungspolitische Antwort auf die gerichtliche Revolution des „Warren-Court“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735 b) Originalismus als verfassungspolitischer Gigant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738 IV. Folgerungen: Semi-Autonomie der Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740
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I. Verfassung als mosaische Gesetzestafel Die am 17. September 1787 unterzeichnete United States Constitution (U.S.-Const.)1 wurde in intensiver Auseinandersetzung mit der ungeschriebenen britischen Verfassung entworfen.2 Die Verfassung des Vereinigten Königreiches gleicht einem mäandrierenden Fluss. Fortwährend passt sie ihre Gestalt der sich wandelnden politischen Landschaft an. Sie ist daher in den Worten von John Griffith „nichts mehr und nichts weniger als das, was geschieht“.3 Alles, was geschehe, sei verfassungskonform.4 Und würde für einmal überhaupt nichts geschehen, wäre auch das verfassungskonform.5 Zu dieser normativen Geschmeidigkeit steht die U.S.-amerikanische Verfassung in scharfem Kontrast.6 James Madison konnte die Revisionsbestimmung – den späteren Art. V U.S.-Const.7 – noch als Kompromiss zwischen Flexibilität und Rigidität anpreisen.8 Mit der Erweiterung der Vereinigten Staaten von dreizehn auf fünfzig Gliedstaaten mutierte die United States Constitution aber zur starrsten Verfassung überhaupt.9 Zwischen 1789 und 2014 wurden 11.623 Anträge auf Änderung der Verfassung eingebracht; 27 (0,2 %) waren erfolgreich.10 Selbst diese seltenen Teilrevisionen tasteten den bestehenden Verfassungstext nicht an.11 Die Verfassungsurkunde wurde nur ergänzt, der inhaltlich widersprechende, ältere Teil des Verfassungstextes Constitution of the United States of America. Vgl. etwa Alexander Hamilton, The Federalist Papers No. 78: The Judiciary Department, zitiert nach: Yale Law School, Avalon Project (verfügbar unter http://avalon.law.yale.edu/18th_century/fed78. asp) sowie Bernard Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution, 1990, 66–77, 175, 180–184; Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic 1776–1787, 1969, 259–268. 3 John A. Griffith, The Political Constitution, Modern Law Review 42 (1979) 1–21 (19): „The constitution of the United Kingdom (…) is no more and no less than what happens. Everything that happens is constitutional. And if nothing happened that would be constitutional also.“ (Im Haupttext durch den Autor übersetzt.); ähnlich bereits Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique. Band 1 (1835), in: Alexis de Tocqueville: Oeuvres complètes. Band 1, 1961, 101: „En Angleterre, la constitution peut (…) changer sans cesse, ou plutôt elle n’existe point.“ 4 Griffith (Fn. 3 ), 19 (Übersetzung des Autors). 5 Griffith (Fn. 3 ), 19 (Übersetzung des Autors). 6 Vgl. nur Astrid Lorenz, How to Measure Constitutional Rigidity, Journal of Theoretical Politics 17 (2008) 339–361 (359) (wonach die Verfassungen des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten bezüglich der Anforderungen einer Änderung der Bestimmungen empirisch betrachtet Gegenpole bilden). 7 Änderungen der Verfassung erfordern demnach eine Mehrheit von zwei Dritteln beider Parlamentskammern und sind nur rechtswirksam, wenn ihnen drei Viertel der Gliedstaaten zustimmen; zu den Anforderungen im Einzelnen vgl. statt anderer Laurence H. Tribe, American Constitutional Law, 3. Aufl. 2000, 94–117. 8 Vgl. James Madison, The Federalist Papers No. 43: The Same Subject Continued (The Powers Conferred by the Constitution Further Considered), Ziff. 8, zitiert nach: Yale Law School, Avalon Project (verfügbar unter http://avalon.law.yale.edu/18th_century/fed43.asp): „[Article V U.S.-Const.] guards equally against that extreme facility, which would render the Constitution too mutable; and that extreme difficulty, which might perpetuate its discovered faults.“ 9 Vgl. Lorenz (Fn. 6 ), 359; Donald S. Lutz, Toward a Theory of Constitutional Amendment, American Political Science Review 88 (1994) 355–370 (369). 10 United States Senate, Statistics and Lists: Measures Proposed to Amend the Constitution, verfügbar unter http://www.senate.gov/reference/measures_proposed_to_amend_constitution.htm. 11 Beispielsweise wurde Art. I Sect. 3 Cl. 3 Satz 1 U.S.-Const. hinsichtlich der „free Persons“ durch das Fourteenth Amendment Sect. 1 U.S.-Const., Art. I Sect. 3 Cl. 1 U.S.-Const. (Wahl der Mitglieder des Senats durch die gliedstaatlichen Parlamente) durch das Seventeenth Amendment Sect. 1 U.S.1 2
„Originalismus“ als methodologischer Scheinriese und verfassungspolitische Konterrevolution
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aber weder angepasst noch aus dem Dokument entfernt.12 Diese Unantastbarkeit unterstreicht die zivilreligiöse Sakralität der Verfassung.13 Angesichts der Verehrung, die sie durch Politik und Gesellschaft erfährt, und der Unveränderlichkeit ihres Textes erinnert die U.S.-amerikanische Verfassung an den Dekalog, der Moses nach alttestamentarischer Überlieferung auf „Tafeln aus Stein“ übergeben worden sein soll.14 Dieses Verständnis der Verfassung als „felsenfeste“ und „unveränderliche“ „Verankerung“ war für den 2016 verstorbenen Richter des United States Supreme Court, Antonin Scalia, bestimmend.15 Die von ihm verfochtene Richtung des „Originalism“16 (deutsch: Originalismus)17 besagt, dass die U.S.-amerikanische Verfassung einzig nach ihrem Wortlaut auszulegen ist, wie er zum Zeitpunkt, in dem die Verfassung durch die jeweiligen Volksvertretungen genehmigt worden ist, gewöhnlich verstanden wurde („original public meaning of the text“).18 Absichten und Überlegungen von an der Ausarbeitung des Verfassungstextes beteiligten Personen, die im Wortlaut der Ver-
Const. (Wahl der Mitglieder des Senats durch das Volk) inhaltlich geändert, doch sind beide materiell aufgehobenen Bestimmungen Teil der Verfassungsurkunde geblieben. 12 Diese Praxis scheint sich erst allmählich etabliert zu haben, schlug doch James Madison Ergänzungen der Verfassung vor, die in den Text „eingewoben“ werden sollten, ihn also verändert hätten. Dieses Vorgehen wurde jedoch verworfen, ohne dass sich die Gründe dafür in der Retrospektive identifizieren ließen; vgl. Akhil Reed Amar, The Consent of the Governed: Constitutional Amendment Outside Article V, Columbia Law Review 94 (1994) 457–508 (491). 13 Stilbildend zum Begriff der Zivilreligion im Allgemeinen und zum zivilreligiösen Charakter der U.S.-amerikanischen Verfassung im Besonderen Robert N. Bellah, Civil Religion in America, Daedalus 96 (1967) 1–21 (9) (den Status der U.S.-amerikanischen Verfassung als „Heilige Schrift“ im zivilreligiösen Sinn bezeichnend); ähnlich bereits Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique. Band II (1840), in: Alexis de Tocqueville: Oeuvres complètes. Band I, 1961, 301 (wonach die protestantisch-christliche Religion in den Vereinigten Staaten eine politische Institution bilde, da sie zur Erhaltung von Republik und Demokratie beitrage); ferner Niklas Luhmann, Grundwerte als Zivilreligion, in: ders., Soziologische Auf klärung 3, 4. Aufl., 2005, 336–354 (336–342); das Konzept der Zivilreligion kritisch referierend Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, 2013, 89–102. 14 Vgl. Exodus (2. Buch Moses) Kapitel 31, Vers 18 (Neue Zürcher Bibel): „Und als er [Gott] aufhörte mit Mose zu reden auf dem Berg Sinai, gab er ihm die beiden Tafeln des Zeugnisses, Tafeln aus Stein, beschrieben vom Finger Gottes.“ 15 Antonin Scalia, Common-Law Courts in a Civil-Law System: The Role of United States Federal Courts in Interpreting the Constitution and Laws, in: Amy Gutmann (Hrsg.), A Matter of Interpretation. Federal Courts and the Law, 1997, 3–47 (47) („a rock-solid, unchanging Constitution“); Michael J. Gerhardt, A Tale of Two Textualists: A Critical Comparison of Justices Black and Scalia, Boston University Law Review 74 (1994) 25–66 (30) (aus einem Interview von Antonin Scalia mit der Jerusalem Post vom 19. Februar 1990 zitierend: „The Constitution is an anchor. (…) It’s a rock to hold on to.“ 16 Unter Vorbehalt eines expliziten anderweitigen Hinweises ist mit „Originalismus“ (engl: originalism) nachfolgend ausschließlich die insbesondere von Antonin Scalia vertretene Richtung des Originalismus gemeint; für eine Übersicht über weitere Formen des Originalismus vgl. etwa Lawrence Solum, We are all Originalists now, in: Robert W. Bennett/Lawrence Solum (Hrsg.), Constitutional Originalism. A Debate, 2011, 1–77. 17 Die Wortschöpfung „originalism“ geht auf Paul Brest, The Misconceived Quest for the Original Understanding, Boston University Law Review 60 (1980) 204–238 (204) zurück; vgl. Lawrence Solum, Originalism and Constitutional Construction, Fordham Law Review 82 (2013) 453–537 (459). 18 Scalia (Fn. 15), 38; detailliert Antonin Scalia/Bryan A. Garner, Reading Law: The Interpretation of Legal Texts, 2012, 78–91; vgl. auch District of Columbia v. Heller, 554 U.S. 570, 605 (2008) („[T ]he public understanding of a legal text in the period after its enactment or ratification“; Hervorhebungen im Original).
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fassung keinen Niederschlag gefunden haben („original intent“), bleiben für die Auslegung dagegen unbeachtlich.19 Der vorliegende Beitrag zeigt auf, dass der Aufstieg des Originalismus unter den spezifischen rechtskulturellen Bedingungen der Vereinigten Staaten als erheblich unwahrscheinlich gelten muss. Der zivilreligiösen Bedeutung der Verfassung und der seit Mitte des 20. Jahrhunderts durch den amerikanischen Rechtsrealismus beförderten, tief sitzenden Skepsis gegenüber der tatsächlichen Relevanz von Rechtsnormen für gerichtliche Entscheide zum Trotz, gibt der Originalismus nämlich vor, die Verfassung als genuin rechtliches Dokument zu restaurieren (Ziff. II). Diese Paradoxie lässt sich auflösen, wenn zwischen der verfassungspolitischen und der methodologisch-verfassungstheoretischen Dimension des Originalismus differenziert wird. In verfassungspolitischer Hinsicht hat sich der Originalismus nämlich tatsächlich zu einem Giganten entwickelt, dem es gelungen ist, die Wahrnehmung der durch den United States Supreme Court in der Ära von Chief Justice Earl Warren (1953–1969) initiierten „gerichtlichen Revolution“ zu revidieren. Als Methode der Verfassungsinterpretation erweist sich der Originalismus indessen als „Scheinriese“: Aus der Ferne betrachtet, nimmt er sich „schrecklich groß“ aus, doch wird er mit jedem Schritt, mit dem man ihm näher kommt, „ein Stückchen kleiner“, um schließlich auf Normalmaß zu schrumpfen (Ziff. III).20 Die Konsequenzen dieser Analyse für die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit werden abschließend in rechtsvergleichender Perspektive formuliert (Ziff. IV).
II. Originalismus – Bedingungen eines unwahrscheinlichen Aufstiegs 1. Inthronisation der Verfassung zur „Königin von Amerika“ Die Idee der schriftlichen Verfassung als oberstes Gesetz eines territorial definierten Herrschaftsverbandes hat sich in den späteren Gliedstaaten der Vereinigten Staaten nach der Mitte des 18. Jahrhunderts durchgesetzt.21 Thomas Paine beschrieb die Ablösung der monarchischen Kolonialherrschaft des British Empire durch die U.S.-amerikanische Verfassung als Umstellung von der Herrschaft des Königs auf die Herrschaft des Rechts. Das Recht sei nunmehr „König von Amerika“.22 Innerhalb des Antonin Scalia, Address before the Attorney General’s Conference on Economic Liberties in Washington, D.C. ( June 14, 1986), in: United States Department of Justice (Hrsg.), Original Meaning Jurisprudence: A Sourcebook, 1987, 101–106 (104); eingehend Scalia/Garner (Fn. 18), 92, 391–396; ferner Antonin Scalia/John F Manning, A Dialogue on Statutory and Constitutional Interpretation, George Washington Law Review 80 (2012) 1610–1619 (1612, 1615–1619); im gleichen Sinn für die Auslegung von Rechtssätzen allgemein Thompson v. Thompson, 484 U.S. 174, 191 f. (1988) (Scalia, J., concurring). 20 Der Ausdruck „Scheinriese“ entstammt soweit ersichtlich der Kinder- und Jugendliteratur, nämlich Michael Ende, Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (mit Bildern von Reinhard Michl), 1983, 132–134. Michael Ende beschreibt darin den „Scheinriese[n]“ Tur Tur, der „mit jedem Schritt“, den er näher kommt, „ein Stückchen kleiner“ wird, und „nur von ferne so schrecklich groß“ aussieht. 21 Vgl. Bailyn (Fn. 2 ), 67–69, 175–184, 189–193; Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 9 (1990) 176–220 (178–181, 210 f.); Wood (Fn. 2 ), 259–268. 22 Thomas Paine, Common Sense (hrsg. von Issac Kramnick), 1986 (Originalausgabe: 1776), 98: „But where, say some, is the King of America? (…) [S]o far as we approve of monarchy, (…) in Ameri19
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Rechtssystems erklärt sich die U.S.-amerikanische Verfassung autologisch zum „obersten Gesetz des Landes“.23 Aus diesem Blickwinkel beurteilt, bildet die Verfassung das Äquivalent des Königs. Gleich einem Monarchen kommen der Verfassung sowohl rechtliche als auch politische Funktionen zu. Einerseits ermöglicht die Verfassung als oberstes Gesetz die Kontrolle der Politik durch Recht: Der Verfassung nachgeordnetes Recht lässt sich als verfassungskonform oder verfassungswidrig taxieren.24 Andererseits wird Recht durch die Verfassung dem politischen System verfügbar gemacht: Der Politik wird ermöglicht, Zustände durch Recht zu beeinflussen oder ihren Vorstellungen in Rechtssätzen symbolisch Ausdruck zu verleihen.25 Seitdem der United States Supreme Court aus dem Vorrang der Verfassung auf seine eigene Zuständigkeit geschlossen hat, diesen Vorrang letztverbindlich durchzusetzen,26 ist er – um beim eingeführten Bild der Verfassung als „Königin von Amerika“ zu bleiben – gleichsam zum Willensvollstrecker der Königin mutiert. Im Hinblick auf die Legitimität des obersten Bundesgerichts als Verfassungsgericht sind mit der Eigenschaft der Verfassung als struktureller Kopplung von Recht und Politik besondere Herausforderungen verbunden. Die Legitimität der Verfassungsrechtsprechung ist wesentlich von der Respektierung der Grenze zwischen Recht und Politik abhängig.27 Erscheint Verfassungsrechtsprechung als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, läuft sie Gefahr, als illegitim wahrgenommen zu werden.28 Diese Legitimitätsfrage wird seit den 1960er-Jahren im U.S.-amerikanischen Kontext mit der Wendung der „countermajoritarian difficulty“ geradezu obsessiv problematisiert.29 Die 1962 von Alexander Bickel kreierte Bezeichnung bringt zum Ausdruck, dass die verfassungsgerichtliche Kompetenz, als verfassungswidrig beurteilte Gesetze zu verwerca the law is king. For as in absolute governments the King is law, so in free countries the law ought to be king; and there ought to be no other.“; sinngleich auch Marbury v. Madison, 5 U.S. (1 Cranch) 137, 163 (1803) („The government of the United States has been emphatically termed a government of laws, and not of men.“; Hervorhebungen hinzugefügt); die Passage geht auf Art. XXX Constitution of the Commonwealth of Massachusetts von 1780 zurück, die maßgeblich durch John Adams ausgearbeitet worden ist; vgl. The Works of John Adams, Bd. IV, 1851, 230. 23 Art. VI Sect. 2 U.S.-Const.: „This Constitution (…) shall be the supreme Law of the Land (…).“; vgl. dazu Hamilton (Fn. 2 ): „No legislative act (…) contrary to the Constitution, can be valid. To deny this, would be to affirm, that the deputy is greater than his principal; that the servant is above his master; that the representatives of the people are superior to the people themselves; (…).“ 24 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, 474–476, 478. 25 Luhmann (Fn. 24), 424 f., 478; weiterführend Johannes Reich, „Schutz der Kinder und Jugendlichen“ als rechtsnormatives und expressives Verfassungsrecht. Rechtsnatur und Normgehalt von Art. 11 Abs. 1 der Bundesverfassung, Zeitschrift für Schweizerisches Recht 131 I (2012) 363–387 (371–375). 26 Marbury v. Madison (Fn. 22) 177 f. 27 Vgl. statt anderer Luhmann (Fn. 24), 231; der im Haupttext applizierte Legitimitätsbegriff ist deskriptiver Natur und lehnt sich an Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft [unvollendet; 1919–1920], in: Knut Borchhardt/Edith Hanke/Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Weber Gesamtausgabe. Bd. 23, 2013, 449–454 (zum Legitimitätsglauben und zu den drei reinen Typen legitimer Herrschaft) an. 28 Vgl. Robert A. Dahl, Decision-Making in a Democracy: The Supreme Court as a National PolicyMaker, Journal of Public Law 6 (1957) 279–295 (279–281); vgl. dazu auch hinten unter Ziff. II/4/a. 29 Entsprechend die Diagnose von Barry Friedman, The Birth of an Academic Obsession: The History of the Countermajoritarian Difficulty, Part Five, Yale Law Journal 112 (2002) 153–259 (155–163, 216–219); repräsentativ für den über die Vereinigten Staaten hinaus geführten Meinungsstreit sind etwa Aharon Barak, The Judge in a Democracy, 2006, 91–95, 241 einerseits und Jeremy Waldron, The Core of the Case Against Judicial Review, Yale Law Journal 115 (2006) 1346–1406 (1346) andererseits.
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fen, mit einer demokratischen Ordnung in einem inhärenten Spannungsverhältnis stehen kann.30
2. Kommunikative Unterscheidung zwischen Text und Auslegung als Prämisse der gesellschaftlichen Inanspruchnahme der Verfassung Die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit weist darauf hin, dass zwischen der Anerkennung des Vorrangs der Verfassung und dem Konsens über ihren konkreten Inhalt eine Differenz besteht. Die im politischen Diskurs gleichsam rituell wiederholte Mahnung, wonach der United States Supreme Court in seiner Rolle als Verfassungsgericht allein „der Verfassung“ verpflichtet sei,31 spiegelt daher einen Konsens vor, der angesichts grundlegender politischer und gesellschaftlicher Differenzen über den verfassungsrechtlichen Gewährleistungsinhalt gar nicht besteht. Gerade dadurch wird der zivilreligiöse Charakter der Verfassung deutlich.32 Die Verfassung bündelt gleich einem Brennglas inhaltlich gegensätzliche politische Ideen und Konzepte in einem einzigen Punkt. Soziale Bewegungen, die seit der Gründung der Vereinigten Staaten eine treibende Kraft der amerikanischen Politik und Zivilgesellschaft bilden,33 leiten ihre restaurativen oder progressiven Forderungen denn auch häufig unmittelbar aus der U.S.-amerikanischen Verfassung ab.34 Diese gesellschaftliche Inanspruchnahme der Verfassung verspricht, die Legitimität der formulierten Forderungen zu erhöhen,35 da sie auf einen vermeintlich unhinterfragbaren, von einer zivilreligiösen Sakralität getragenen Grundkonsens rekurriert. Konservative und restaurativ orientierte Bewegungen beteuern gemeinhin, es gelte die „echte“, unter dem Staub einer „aktivistischen“ und expansiven Rechtsprechung36 verschüttete Verfassung, wie sie von den Gründervätern ursprünglich geschaffen und verstanden worden sei, zu 30 Vgl. Alexander M. Bickel, The Least Dangerous Branch. The Supreme Court at the Bar of Politics, 2. Aufl., 1986, 16 f. („[ J]udicial review is a counter-majoritarian force in our system (…) [W]hen the Supreme Court declares unconstitutional a legislative act (…) it thwarts the will of representatives of the (…) people (…).“; die Erstauflage stammt aus dem Jahr 1962. 31 Vgl. zur Illustration Präsident Barack Obama, Remarks by the President Announcing Judge Merrick Garland as his Nominee to the Supreme Court, 16. März 2016 (verfügbar unter www.whitehouse. gov/the-press-office/2016/03/16/remarks-president-announcing-judge-merrick-garland-his-nominee-supreme): „[O]ur Supreme Court really is unique. It’s supposed to be above politics. It has to be. And it should stay that way.“; zum „Kult um die Verfassung“ („cult of the Constitution“) allgemein vgl. Michael Kammen, A Machine That Would Go Of Itself. The Constitution in American Culture, 1986, 22, 26, 153, 208, 213, 249. 32 Vgl. Luhmann (Fn. 13), 348 (wonach mit „Zivilreligion“ kein empirischer Konsens angesprochen sei; vielmehr handle es sich um eine „ laufend in Anspruch genommene[n] Prämisse“). 33 Vgl. Tocqueville (Fn. 3 ), 195 (wonach sich Bürger, die sich für die Erreichung eines gemeinsamen Zieles zusammenschlössen, in den Vereinigten Staaten als äußerst durchsetzungsfähig erweisen würden); zum Begriff der sozialen Bewegung vgl. statt anderer Donatella Della Porta/Mario Diani, Social Movements, 2. Aufl., 2009, 20–29. 34 Vgl. eingehend Reva B. Siegel, Constitutional Culture, Social Movement Conflict and Constitutional Change, California Law Review 94 (2006) 1323–1419. 35 Reva B. Siegel, Text in Contest: Gender and the Constitution from a Social Movement Perspective, University of Pennsylvania Law Review 150 (2001) 297–351 (322). 36 Vgl. zu dieser Ära des „Warren Court“ (1953–1969) hinten unter Ziff. III/4/a.
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bergen.37 Dieses an die alttestamentarische Vertreibung aus dem Garten Eden erinnernde Narrativ des Abfalls von hochgehaltenen Tugenden und des anschließenden Niedergangs ist im politischen und rechtlichen Kontext ein gängiges Stilmittel, um einen grellen Kontrast zwischen der vorgeblich dunklen Gegenwart und einer in leuchtenden Farben gezeichneten, als erstrebenswert dargestellten und meist stark verklärten Vergangenheit herzustellen.38 Umgekehrt wird die Verfassung durch progressive soziale Bewegungen oft als abgegebenes Versprechen dargestellt, das der Einlösung harrt.39 Die Verfassung verliert unter diesen Vorzeichen ihren konservierenden Charakter und mutiert zu einer die tradierte gesellschaftliche, politische und rechtliche Ordnung progressiv verändernden, emanzipatorischen Kraft. Entsprechend hat etwa Martin Luther King Jr. als eine der führenden Figuren des Civil Rights Movement wiederholt auf die Verfassung rekurriert und die politischen Institutionen aufgefordert, jene Rechte und Ansprüche auch tatsächlich zu verwirklichen, welche die Verfassungsurkunde „auf dem Papier“ gewährleiste.40 Die Auffassung, wonach zumindest der „Geist“ der Verfassung bestimmte Ansprüche eigentlich bereits enthalten habe, diese aber bisher zu Unrecht nicht als solche erkannt worden seien, schimmert zuweilen auch in der Rechtsprechung durch.41 Sehr viel expliziter wird diese Argumentation in Teilen des Schrifttums mit Verweis auf eine mit dem Verfas37 Repräsentativ für diese Auffassung im wissenschaftlichen Kontext etwa Randy E. Barnett, Restoring the Lost Constitution, 2. Aufl., 2004, 360 („[A]ll the judicial deviations from original meaning we have witnessed since the founding have not completely undercut the ability of the remaining provisions to protect our liberty. Nor have the unwritten judicial ‹amendments› foisted upon us completely undermined the promise of restoring the original meaning of the unrepealed text. All these lost passages may have been forgotten by the Supreme Court, but they have not gone. (…) So long as the courts profess fealty to the written Constitution (…), the opportunity still exists to (…) restore the lost Constitu tion.“); kritisch aus einer historisch-soziologischen Perspektive etwa Daniel Levin, Federalists in the Attic: Original Intent, the Heritage Movement, and Democratic Theory, Law and Social Inquiry 29 (2004) 105–126 (108–118) und aus einem rechtlichen Blickwinkel Cass R. Sunstein, Radicals in Robes: Why Extreme-Right-Wing Courts are Wrong for America, 2005, 12 (der die vorstehende Argumentation als Versuch beschreibt, die „Constitution in Exile“ aus der Emigration in die Rechtspraxis zurückzulotsen). 38 Johannes Reich, Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit. Evolution und Dogmatik von Art. 94 Abs. 1 und 4 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, 2011, N 489; Benjamin Schindler, Verwaltungsrechtswissenschaft und Geschichtsschreibung. Narrative über Vergangenes – Versuch einer Typologie, Administory 1 (2016) 54–77 (59 f.) (verfügbar unter https://adhi.univie. ac.at/index.php/adhi/article/view/1657/pdf_3). 39 Ganz explizit in diesem Sinn Martin Luther King Jr., I Have A Dream (1963), in: James Melvin Washington (Hrsg.), A Testament of Hope. The Essential Writings of Martin Luther King, Jr., 1991, 217–220 (217): „In a sense we’ve come to our nation’s capital to cash a check. When the architects of our republic wrote the magnificent words of the Constitution (…) they were signing a promissory note to which every American was to fall heir. (…) It is obvious today that America has defaulted on this promissory note (…). Instead of honoring this sacred obligation, America has given the Negro people (…) a check which has come back marked ‚insufficient funds.‘ But we refuse to believe that the bank of justice is bankrupt. (…) And so, we’ve come to cash this check, a check that will give us upon demand the riches of freedom and the security of justice.“ (Hervorhebungen hinzugefügt). 40 Vgl. Martin Luther King Jr., I See the Promised Land (1968), in: J. M. Washington (Fn. 39), 279– 286 (282): „All we say to America is, ‚Be true to what you said on paper.‘ (…) [S]omewhere I read of the freedom of assembly. Somewhere I read of the freedom of speech. Somewhere I read of the freedom of press. Somewhere I read that the greatness of America is the right to protest for right.“ 41 Vgl. Bell v. Maryland, 378 U.S. 226, 286 (1964) (Goldberg A., concurring).
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sungstext eng verflochtene, angeblich existierende „ungeschriebene Verfassung“ vertreten.42 Die durch diese Argumentationsmuster auf unterschiedliche Weise erzeugte Differenz zwischen dem Text selbst einerseits und dessen Auslegung andererseits unterstreicht die zivilreligiöse Sakralität der Verfassung. Gleich wie in interkonfessionellen Auseinandersetzungen wird der Dissens kommunikativ als auf das zutreffende Verständnis des Textes beschränkt dargestellt, sodass die Schrift als solche mit ihrer Autorität als jeglichem Streit entzogen erscheint. Die Verfassung ist in dieser Perspektive nie schadhaft; fehlbar sind einzig die Menschen, die mit ihrer Auslegung betraut sind. Entscheidungen, die sich aus heutiger Perspektive als Fanal der Ungerechtigkeit präsentieren mögen, lassen sich auf diese Weise im Sinne von „Anti-Präzedenzfällen“43 als völlig bezugslos neben der Verfassung stehend darstellen.44 Hinsichtlich des erzielten Ergebnisses lassen sich in komparativer Perspektive Bezüge zur Berufung des deutschen Bundesverfassungsgerichts auf die Radbruch’sche Formel45 herstellen. Auch diese naturrechtlich begründete, verdeckte Rückwirkung bewirkt, dass nicht etwa die Rechtsordnung selbst, sondern einzig deren Anwendung durch fehlbare Menschen als defektiv erscheint.46
Vgl. Laurence H. Tribe, The Invisible Constitution, 2008, und vor allem Akhil Reed Amar, America’s Unwritten Constitution, 2012; zu Letzterem äußerst kritisch Richard A. Posner, Reflections on Judging, 2013, 219–233, 341, 358. 43 Kaum mehr bestritten dürfte sein, dass Dred Scott v. Sandford, 60 U.S. 393 (1857) (wonach dem Beschwerdeführer, der in einem Gliedstaat, in dem die Sklaverei erlaubt war, als Kind von Sklaven geboren worden war, selbst dann weder die U.S.-amerikanische Staatsbürgerschaft noch die Klagebefugnis vor Bundesgerichten zukommen sollte, nachdem er in einen Teil der Vereinigten Staaten verbracht wurde, in dem die Sklaverei aufgrund eines durch den U.S.-Kongress erlassenen Gesetzes rechtswidrig war) einen solchen Gegenpräzedenzfall bildet; vgl. zu den Hintergründen eingehend Mark A. Graber, Dred Scott and the Problem of Constitutional Evil, 2006, ferner Oliver Lepsius, La Cour, c’est moi. Zur Personalisierung der (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit im Vergleich Deutschland – England – USA, JöR 64 (2016) 123–182 (129). Ein oft mit dem Prädikat „anti-precedent“ belegter Fall ist ferner Lochner v. New York 198 U.S. 45 (1905); vgl. nur John Hart Ely, Democracy and Distrust. A Theory of Judicial Review, 1980, 14 f. („These cases (…) conventionally referred to under the head of Lochner v. New York (…) are now universally acknowledged to have been constitutionally improper.“; Anmerkung im Original weggelassen; Hervorhebung hinzugefügt.). 44 Vgl. als Beispiel für ein entsprechendes argumentatives Vorgehen Amar (Fn. 42), 271–275. 45 Vgl. Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristen-Zeitung 1946, 105–110 und insbesondere BVerfGE 95, 96 (134–138) m.w.H. – Mauerschützen [1996]. 46 Vgl. die einschlägige Beobachtung der Folgen einer entsprechenden naturrechtlichen Argumentation durch Gerald Grünwald, Zur Kritik der Lehre vom überpositiven Recht, 1971, 14 („Diese punktuelle Betrachtung der einzelnen Gesetze bewirkt, daß für jeden Staat zu jeder Zeit festgestellt werden kann, daß in ihm eine intakte Rechtsordnung gelte oder gegolten habe – nämlich eine Rechtsordnung, bestehend aus den jeweiligen staatlichen Gesetzen, korrigiert durch die Normen des überpositiven Rechts. Mögen in einem Staate noch so abscheuliche Gesetze bestehen, befolgt und durchgesetzt werden – die Welt des geltenden Rechts ist immer eine heile Welt.“); daran anschließend und spezifisch im Zusammenhang mit BVerfGE 95, 96 (Mauerschützen) Horst Dreier, Gustav Radbruch und die Mauerschützen, JZ 52 (1997), 421–434 (431). 42
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3. Regelskeptizismus als Folge des Siegeszuges des Rechtsrealismus Gemäß einer bekannten, durch Issac Asimov geprägten Wendung soll der politische Diskurs in den Vereinigten Staaten dem Motto „my ignorance is just as good as your knowledge“ verpflichtet sein.47 Die damit sehr pointiert diagnostizierte Skepsis gegenüber besonderer Sachkenntnis von Experten wird verbreitet auf die egalitäre, puritanisch-religiös imprägnierte Kultur Amerikas zurückgeführt.48 Angesichts einer tatsächlich oder vermeintlich weltweit um sich greifenden Tendenz hin zu einer „postfaktischen Politik“49 lässt sich dieser angeblich spezifisch amerikanische Hang zum Anti-Intellektualismus freilich kaum mehr überzeugend als Alleinstellungsmerkmal der Vereinigten Staaten darstellen. Schlüssig erscheint demgegenüber der Zusammenhang zwischen der in den Vereinigten Staaten prävalenten Betonung eines egalitären und meritokratischen Individualismus einerseits und einem verbreiteten Argwohn gegenüber abstrakten, für die konkrete Problemlösung zumindest nicht unmittelbar relevanten Theorien andererseits, wie ihn Alexis de Tocqueville um die Mitte des 19. Jahrhunderts beobachtet hatte.50 Von diesem skeptischen Pragmatismus ist auch die U.S.-amerikanische Rechtskultur durchdrungen. Als wegweisend hat sich dabei Oliver Wendell Holmes’ Identifikation von „Recht“ mit der Voraussage, wie Gerichte entscheiden werden, erwiesen.51 Recht wird dadurch zu einer sozialen Praxis transformiert, die empirisch beobachtbar ist, jedoch keiner eigenen, normativen Rationalität folgt. Weniger rechtsnormative Regeln als vielmehr außerrechtliche Faktoren sollen demnach das mit der gerichtlichen Entscheidpraxis identische „Recht“ formen.52 Dieses Misstrauen gegenüber der effektiven Relevanz rechtsnormativer Vorgaben für rechtliche Entscheide wird als empirischer Regelskeptizismus („rule skepticism“) bezeichnet.53 Holmes’ Interesse galt Issac Asimov, A Cult of Ignorance, Newsweek vom 21. Januar 1980, 19. Stilbildend Richard Hofstadter, Anti-Intellectualism in American Life, 1962, 22 f., 407 f.; für die anhaltende Relevanz der These vgl. Colleen J. Shogan, Anti-Intellectualism in the Modern Presidency: A Republican Populism, Perspectives on Politics 5 (2007) 295–303 (300 f.). 49 Vgl. bereits Paul Krugman, The Post-Truth Campaign, New York Times vom 23. Dezember 2011, 31 („post-truth politics“). 50 Vgl. Tocqueville (Fn. 13), 46 f.: „L’égalité développe dans chaque homme le désir de juger tout pour lui-même; elle lui donne, en toutes choses, le goût du tangible et du réel, le mépris des traditions et des formes. (…) Les sciences ont alors une allure plus libre et plus sûre, mais moins haute. (…) En Amérique, la partie purement pratique des sciences est admirablement cultivée, et l’on s’y occupe avec soin de la portion théorique immédiatement nécessaire à l’application; les Américains font voir de ce côté un esprit toujours net, libre, original et fécond; mais iI n’y a presque personne, aux Etats-Unis, qui se livre à la portion essentiellement théorique et abstraite des connaissances humaines. Les Américains montrent en ceci l’excès d’une tendance qui se retrouvera, je pense, quoique à un degré moindre, chez tous les peuples démocratiques.“ 51 Vgl. Oliver Wendell Holmes Jr., The Path of Law, Harvard Law Review 10 (1897) 457–478 (461): „The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law.“ 52 Vgl. als locus classicus: Oliver Wendell Holmes Jr., The Common Law, 1881, 1: „The life of the law has not been logic: it has been experience. (…) [T]he prevalent moral and political theories, intuitions of public policy, (…) even the prejudices which judges share with their fellow-men, have had a good deal more to do than the syllogism in determining the rules by which men should be governed.“ 53 H.L.A. Hart, The Concept of Law, 3. Aufl., 2012, 136; die Differenzierung zwischen einem em47
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indessen nicht der Formulierung eines Rechtsbegriffs.54 Vielmehr nahm er die Perspektive des Anwalts ein, dessen Klient vor Gericht zu erscheinen hat oder gerichtliche Verfahren möglichst zu meiden versucht.55 Trotz dieser Vorbehalte entwickelte der American Legal Realism diesen durch Holmes formulierten Denkansatz konsequent fort.56 Leitmotiv des Rechtsrealismus bildete die These, wonach sich konkrete rechtliche Entscheidungen (gerichtliche Urteile, Verfügungen der Verwaltung etc.) höchstens in geringem Umfang durch rechtsnormative Vorgaben (Rechtssätze, Präzedenzfälle etc.) erklären lassen.57 Eine weitaus größere Rolle wurde außerrechtlichen Faktoren, insbesondere den Besonderheiten des konkreten Sachverhalts, zugeschrieben.58 Selbst den Mahlzeiten, die der Richter vor der Verhandlung einnimmt, sollte Relevanz für die von ihm getroffenen Urteile zukommen.59 Diese provokante These sollte sich freilich viel später als in bestimmten Konstellationen durchaus zutreffend erweisen.60 Der für den amerikanischen Rechtsrealismus charakteristische empirische Regel skeptizismus wurde auch durch die Organisation und Arbeitsweise der Gerichte befördert. Die Besonderheiten der U.S.-amerikanischen Justizorganisation können zur Folge haben, dass in den verschiedenen Bezirken der unterinstanzlichen Bundesgerichte über einen relativ langen Zeitraum eine unterschiedliche Rechtspraxis zur identischen Gesetzesbestimmung besteht, was sich allein mit materiellrechtlichen Argumenten meist nicht zureichend erklären lässt.61 Solche Disparitäten sind auch Folge des freien Annahmeverfahrens des United States Supreme Court, demgemäß es im richterlipirischen und einem konzeptionellen Regelskeptizismus wird detailliert herausgearbeitet bei Brian Leiter, Legal Realism and Legal Positivism Reconsidered, Ethics 111 (2001) 278–301 (288–300). 54 Brian Leiter, American Legal Realism, in: Dennis Patterson (Hrsg.), A Companion to Philosophy of Law and Legal Theory, 2. Aufl., 2010, 249–266 (251). 55 Vgl. Holmes (Fn. 51), 1 („When we study law we are not studying a mystery but a well known profession. We are studying what we shall want in order to appear before judges, or to advise people in such a way as to keep them out of court. (…). The object of our study, then, is prediction, the prediction of incidence of the public force through the instrumentality of the courts.“ – Hervorhebungen im Original weggelassen.); identisch die Perspektive von Jerome Frank, Law and the Modern Mind (1930; Neudruck 2009), 100. 56 Vgl. etwa Jerome Frank, Are Judges Human? Part One: The Effect on Legal Thinking of the Assumption that Judges Behave like Human Beings, University of Pennsylvania Law Review 80 (1931) 17–53 (17 f.); Karl N. Llewellyn, Some Realism about Realism: Responding to Dean Pound, Harvard Law Review 44 (1931) 1222–1264 (1237). 57 Statt aller Frank (Fn. 55), 140. 58 Vgl. klassisch Frank (Fn. 55), 108–115 (wonach Richter ihre Intuition, wie ein konkretes Urteil zu lauten hat, durch rechtliche Argumente zu rationalisieren versuchten); in diesem Sinn bereits Joseph C. Hutcheson Jr., The Judgement Intuitive: The Function of the „Hunch“ in Judicial Decision, Cornell Law Quarterly 14 (1928/29) 274–288 (285). 59 Vgl. Jerome Frank, Courts on Trial: Myth and Reality in American Justice, 1949, 161 f.; zur Vorliebe zahlreicher Rechtsrealisten für Provokationen John H. Langbein/Renée Lettow Lerner/Bruce P. Smith, History of the Common Law. The Development of Anglo-American Legal Institutions, 2009, 988 („Many realists seem to have had as a defining characteristic the desire to shock.“). 60 Vgl. Shai Danzigera/Jonathan Levavb/Liora Avnaim-Pessoa, Extraneous Factors in Judicial Decisions, Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 108 (2011) 6889–6892 (6890, 6892) (wonach der Entscheid über Gesuche um die Gewährung bedingter Entlassungen aus dem Strafvollzug durch die untersuchten israelischen Gerichte nach Arbeitspausen in vergleichbaren Fällen signifikant häufiger zugunsten des Gesuchstellers ausfalle). 61 Langbein/Lettow Lerner/Smith (Fn. 59), 987.
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chen Ermessen liegt, ein vorinstanzliches Urteil zur Entscheidung anzunehmen.62 Das Gericht nimmt seit ein bis zwei Jahrzehnten konstant nur rund 1 % derjenigen Fälle zur Entscheidung an, in denen es angerufen wird.63 Das bedeutet, dass kaum mehr als 0,1 % derjenigen Urteile, für deren Überprüfung der United States Supreme Court funktionell zuständig ist, auch tatsächlich vom obersten Gericht entschieden werden.64 Nachdem etwa die Hälfte der vom United States Supreme Court gefällten Urteile auf verfassungsrechtlicher Grundlage entschieden werden,65 bleiben vor allem grundlegende einfachgesetzliche Fragen verschiedentlich höchstrichterlich ungeklärt. Der durchschlagende Erfolg des amerikanischen Rechtsrealismus hat die U.S.-amerikanische Rechtstradition nachhaltig mit einer tiefen und andauernden Skepsis gegenüber der effektiven Steuerungskraft von Rechtsnormen durchtränkt. Nachdem der Rechtsrealismus kein ausgereiftes alternatives Theorieangebot vorzuweisen hatte, das in der Lage gewesen wäre, abweichende Erklärungsansätze für gerichtliche Entscheide anzubieten, bildete der Rechtsrealismus allein nach seinen Auswirkungen beurteilt eine vornehmlich destruktive Kraft.66 Das hinterlassene Vakuum wurde ab den 1960er-Jahren vornehmlich durch die Anwendung des ökonomischen Modells menschlichen Verhaltens auf rechtliche Vorgänge gefüllt.67 Die Vertreter des Law and Economics-Ansatzes konnten ihr Theoriegebäude gleichsam auf der durch den Rechtsrealismus zurückgelassenen Trümmerlandschaft errichten. Die ökonomische Analyse des Rechts hat sich in den Vereinigten Staaten in der Folge als vorherrschendes Forschungsparadigma der Rechtswissenschaften etabliert.68 Zu diesem Siegeszug hat freilich nicht nur der Rechtsrealismus, sondern auch erhebliche private Forschungsförderung beigetragen, die darauf abzielte, als „progressiv“ wahrgenommene Strö-
28 U.S. Code §§ 1254, 1257 sowie Rules of the Supreme Court of the United States (2013) [verfügbar unter www.supremecourt.gov/ctrules/2013RulesoftheCourt.pdf ], Rule 10, Satz 1 („Review on a writ of certiorari is not a matter of right, but of judicial discretion.“). 63 Vgl. aktuell The Supreme Court – The Statistics, Harvard Law Review 129 (2015) 381–395 (389); dieser Anteil ist seit rund einem Jahrzehnt ungefähr konstant; vgl. Michael Graetz/Linda Greenhouse, The Burger Court and the Rise of the Judicial Right, 2016, 9 (wonach das Gericht in den letzten Jahren von 8’000 Fällen rund 70 zur Entscheidung angenommen habe); Richard A. Posner, Foreword: A Political Court, Harvard Law Review 119 (2005) 31–102 (35–37). 64 Vgl. Posner (Fn. 63), 36. 65 Posner (Fn. 63), 37 (auf der Basis der Periode von 1955 bis 2003). 66 Langbein/Lettow Lerner/Smith (Fn. 59), 988. 67 Johannes Reich, Verhaltensökonomische Revolution im europäischen und nationalen Verwaltungsrecht? Potenziale und Grenzen des „Nudging“, in: Giovanni Biaggini/Oliver Diggelmann/ Christine Kaufmann (Hrsg.), Polis und Kosmopolis. Festschrift für Daniel Thürer, 2015, 627–638 (629–631). 68 Vgl. Fred R. Shapiro, The Most Cited Legal Scholars, Journal of Legal Studies 29 (2000) 409–426 (424) (der Richard A. Posner im Zeitraum von 1956 bis 1999 auf der Basis rechtswissenschaftlicher Fachzeitschriften als weitaus meistzitierten Autor ausweist) sowie die thematische Zitationsanalyse von William M. Landes/Richard A. Posner, The Influence of Economics on Law: A Quantitative Study, Journal of Law & Economics 36 (1993) 385–424 (385, 424); als unzutreffend hat sich damit die Prophezeiung von Morton J. Horwitz, Law and Economics: Science or Politics?, Hofstra Law Review 8 (1980) 905–912 (905) („I have the strong feeling that the economic analysis of law has ‹peaked out› as the latest fad in legal scholarship (…). Future legal historians will need to exercise their imaginations to figure out why so many people could have taken most of this stuff so seriously.“) erwiesen. 62
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mungen innerhalb der Rechtswissenschaften, namentlich die Critical Legal Studies, zu verdrängen.69
4. United States Supreme Court als semi-autonomer Akteur a) Politische Abhängigkeiten und Restriktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit Als Folge dieser Hinwendung zur sozialwissenschaftlichen Analyse des Rechts bildet der United States Supreme Court seit der Mitte des 20. Jahrhunderts auch einen politikwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand. Weitreichende Folgen sollte die 1957 durch Robert A. Dahl formulierte These zeitigen, wonach der United States Supreme Court einen „politischen Akteur“ bilde, dessen Legitimität aber darauf beruhe, als Institution des Rechtssystems wahrgenommen zu werden.70 Die politische Natur des Gerichts stand für Dahl mit der Tatsache im Zusammenhang, dass die Mitglieder des United States Supreme Court durch den Präsidenten ernannt werden.71 Personen, die sich um das Präsidentenamt bewerben, äußern sich daher oft bereits im Wahlkampf über ihre Präferenzen hinsichtlich zukünftiger Richter.72 Auch in den entsprechenden Anhörungen des Senats nehmen die grundlegenden politischen Überzeugungen der für das Richteramt vorgeschlagenen Personen breiten Raum ein.73 Diese politischen Abhängigkeiten und Restriktionen, denen sich Richter ausgesetzt sehen, führen gemäß der Analyse Dahls dazu, dass der United States Supreme Court in seiner Rechtsprechung, mit Ausnahme kurzer Übergangsperioden, mit den durch die jeweilige dominante politische Kraft vorgegebenen politischen Leitlinien inhaltlich übereinstimmt.74 Das Gericht sei institutionell zu schwach, Vgl. zur Förderung der Law and Economics-Bewegung durch die konservative John M. Olin Foundation Steven M. Teles, The Rise of the Conservative Legal Movement, 2008, 192–199 sowie 109–111, 124–132, 182–207; Henry G. Manne, How Law and Economics was Marketed in a Hostile World: A Very Personal History, in: Francesco Parisi/Charles K. Rowley (Hrsg.), The Origins of Law and Economics: Essays by the Founding Fathers, 2005, 309–327 (321–325); zur Relevanz des Rechtsrealismus vgl. auch Morton J. Horwitz, The Transformation of American Law: 1870–1960, 1992, 270–272. 70 Dahl (Fn. 28), 279–281. 71 Vgl. Art. II Sect. 2 Cl.2 U.S.-Const.: „[The President] (…) shall nominate, and by and with the Advice and Consent of the Senate, shall appoint (…) Judges of the supreme Court.“ 72 Vgl. beispielsweise die dritte nationale Fernsehdebatte der Bewerbenden um die U.S.-Präsidentschaft für die Amtszeit 2017–2020 vom 19. Oktober 2016 in Las Vegas, Arizona, in: American Presidency Project hosted at the University of California, Santa Barbara (Hrsg.), verfügbar unter www.presidency. ucsb.edu/ws/index.php?pid=119039: Hillary Clinton (Demokraten) („I feel strongly that the Supreme Court needs to stand on the side of the American people, not on the side of the powerful corporations and the wealthy. (…) [W]e need a Supreme Court that will stand up on behalf of women’s rights, on behalf of the rights of the LGBT community, that will stand up and say no to Citizens United (…) [I]t is important that we not reverse marriage equality, that we not reverse Roe v. Wade [vgl. Fn. 175], that we stand up against Citizens United [vgl. Fn. 125], we stand up for the rights of people in the workplace, that we stand up and basically say: The Supreme Court should represent all of us.“) sowie Donald Trump (Republikaner) („The Supreme Court: It’s what it’s all about. (…) [I]t’s just so imperative that we have the right justices. (…) We need a Supreme Court that (…) is going to uphold the Second Amendment (…).“). 73 Vgl. nur Robert G. McCloskey/Sanford Levinson, The American Supreme Court, 6. Aufl., 2016, 308–311. 74 Dahl (Fn. 28), 293. 69
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eigene Präferenzen gegen den Widerstand der vorherrschenden politischen Richtung durchzusetzen.75 In diesem Licht betrachtet, erschiene das oberste Bundesgericht als majoritärer Akteur, wogegen sich die „countermajoritarian difficulty“76 zumeist als rechtsnormative Fiktion erwiese. Illustrativ für diese relative Machtlosigkeit der Justiz, die zugleich ihre Legitimität begründet,77 ist der binnen zwei Jahren aufgegebene Widerstand der Mehrheit des United States Supreme Court gegen verschiedene im Zeichen des „New Deal“ stehende Bundesgesetze in den 1930er-Jahren.78 In ähnlicher Weise lässt sich der grundlegende Leitentscheid in Sachen Griswold v. Connecticut deuten.79 Darin erklärte das Gericht ein gliedstaatliches Gesetz, das verheirateten Personen die Verwendung von Mitteln zur Empfängnisverhütung untersagte, mit Verweis auf das im „Halbschatten“ (engl.: „penumbra“) des Grundrechtskatalogs ungeschrieben garantierte Recht auf Privatsphäre für verfassungswidrig.80 Nachdem die für verfassungswidrig erklärten Bestimmungen Mitte der 1960er-Jahre zu den dominierenden politischen Anschauungen im Widerspruch standen und daher auch kaum durchgesetzt wurden, wird der Entscheid im Schrifttum als Beleg für die majoritäre Rolle des Gerichts interpretiert.81 Das durch Robert A. Dahl geprägte Verständnis des Gerichts als Agent der dominanten politischen Kraft ist mittlerweile in unterschiedlichem Ausmaß breit anerkannt.82 Die Akzeptanz des Modells ist mit der Vorstellung von Verfassungsrechtsprechung als einer von der Politik völlig unabhängigen Tätigkeit zwar unverträg Dahl (Fn. 28), 293–295. Vgl. dazu vorne unter Ziff. II/1. 77 Eingehender Johannes Reich, Art. 191c BV, in: Bernhard Waldmann/Eva Maria Belser/Astrid Epiney (Hrsg.), Bundesverfassung. Basler Kommentar, 2015, N 1–3 m.w.H. 78 Vgl. dazu statt anderer McCloskey/Levinson (Fn. 73), 108–113, 116–119; Gregory A. Caldeira, Public Opinion and the U.S. Supreme Court: FDR’s Court-packing Plan, American Political Science Review 81 (1987) 1139–1153; für Beispiele aus den Jahren 1959–1961, in denen das Gericht aufgrund widersprechender politischer Ziele der dominierenden politischen Kraft von der eigenen Rechtsprechung abrückte, vgl. Mark Tushnet, The Warren Court as History, in: ders., The Warren Court in Historical and Political Perspective, 1993, 6. 79 Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479 (1965). 80 Griswold v. Connecticut (Fn. 79) 483–485 (1965). 81 Vgl. Richard Posner, Sex and Reason, 1992, 325; Cass R. Sunstein, Second Amendment Minimalism: Heller as Griswold, Harvard Law Review 122 (2008) 246–274 (247 f., 260–264). 82 Vgl. statt aller Jack M. Balkin/Sanford Levinson, The Processes of Constitutional Change: From Partisan Entrenchment to the National Surveillance State, Fordham Law Review 75 (2006) 489–535 (490); Barry Friedman, The Will of the People, 2009, 376; Mark A. Graber, The Nonmajoritarian Difficulty: Legislative Deference to the Judiciary, Studies in American Political Development 7 (1993) 35–73 (71 f.); Gerald N. Rosenberg, The Hollow Hope, 2. Aufl., 2008, 10–21; Jeffrey A. Segal/Harold J. Spaeth, The Supreme Court and the Attitudinal Model, 1993, 32–64; ferner Roy B. Flemming/B. Dan Wood, The Public and the Supreme Court: Individual Justice Responsiveness to American Policy Moods, American Journal of Political Science 41 (1997) 468–498 (492 f.); William Mishler/Reginald S. Sheehan, The Supreme Court as a Countermajoritarian Institution? The Impact of Public Opinion on Supreme Court Decisions, American Political Science Review 87 (1993) 87–101 (96 f.); Jeffrey Rosen, The Most Democratic Branch, 2006, 4; James A. Stimson/Michael B. Mackuen/Robert S. Erikson, Dynamic Representation, American Political Science Review 89 (1995) 543–565 (555 f.); Keith E. Whittington, „Interpose Your Friendly Hand“: Political Supports for the Exercise of Judicial Review by the United States Supreme Court, American Political Science Review 99 (2005) 583–596 (584 f.); in der Sache auch Bruce Ackerman, We the People, Foundations, 1991, 267 f. 75 76
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lich, bedeutet aber nicht notwendig, dass sich autoritative Verfassungsinterpretation in durch rechtliches Vokabular getarnter Politik erschöpft. Das Konzept des United States Supreme Court als „politischer Akteur“ besagt nämlich einzig, dass der Möglichkeitsraum der Verfassungsinterpretation durch institutionelle Faktoren in bestimmten, tendenziell seltenen Fällen erheblich beschränkt ist. Reduziert ist dieser Raum vor allem dann, wenn eine bestimmte Interpretation der Verfassung Konsequenzen nach sich zöge, die mit zentralen Politikinhalten der dominanten politischen Kraft unvereinbar sind. Umgekehrt kann der Judikative dann eine wichtigere Rolle zukommen, wenn der U.S.-Kongress entweder blockiert ist oder die Politik von der Durchsetzung zentraler Politikinhalte aus kurzfristig orientiertem Nutzenkalkül absieht und die Verwirklichung bestimmter Politikprogramme damit gleichsam an das Höchstgericht delegiert.83 In diesem Sinn erscheint der United States Supreme Court als „semi-autonom“.84 Diese nur partielle Autonomie des Höchstgerichts bleibt nicht ohne Folgewirkungen für die Wissenschaft vom Verfassungsrecht. „Constitutional law scholarship“ ist in den Vereinigten Staaten nach ihrem Selbstverständnis denn auch keine im engen Sinn positive Wissenschaft, sondern vornehmlich einer auf Methodenvielfalt beruhenden pragmatischen Kritik, Beeinflussung und Reflektion des Verfassungsrechts und der Verfassungsrechtsprechung verpflichtet.85 In der deutschen Wissenschaft vom öffentlichen Recht wird denn auch der Kontrast zwischen dem problemorientierten Ansatz des rechtlichen Diskurses in den Vereinigten Staaten einerseits und der rechtswissenschaftlichen Dogmatik deutscher Provenienz, die auf einem erheblich höheren Abstraktionsniveau operiert, andererseits hervorgehoben.86
b) „Verfassungsrechtlicher Protestantismus“ Nachdem die Legitimität des United States Supreme Court vornehmlich auf seiner Wahrnehmung als rechtlicher Institution beruht,87 dürfte das Verständnis des Gerichts In diesem Sinn Graber (Fn. 82), 71–73 (der Brown v. Board of Education of Topeka, 347 U.S. 483 (1954) betreffend die Auf hebung der Rassensegregation in den Schulen der Südstaaten als einen Fall der „Delegation“ der Politikdurchsetzung an die Judikative deutet). 84 In diesem Sinn Richard H. Pildes, Is the Supreme Court a „Majoritarian“ Institution?, Supreme Court Review 50 (2010) 103–158 (154). 85 Vgl. nur Paul Brest, The Fundamental Rights Controversy: The Essential Contradictions of Normative Constitutional Scholarship, Yale Law Journal 90 (1981) 1063–1109 (1109); Robert C. Post, Constitutional Scholarship in the United States, International Journal of Constitutional Law 7 (2009) 416– 423 (422). 86 Vgl. Oliver Lepsius, Kritik der Dogmatik, in: Gregor Kirchhof/Stefan Magen/Karsten Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, 39–62 (47 f.); ders., Was kann die deutsche Staatsrechtslehre von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen?, in: Helmuth Schulze-Fieliz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Die Verwaltung Beiheft 7, 2007, 319–366 (326–330); zur deutlich pragmatischeren Orientierung der schweizerischen Wissenschaft vom Öffentlichen Recht vgl. Dietrich Schindler [ jun.], Die Staatslehre in der Schweiz, JöR 25 (1976), 255–279 (263); Giovanni Biaggini, Die Staatsrechtswissenschaft und ihr Gegenstand: Wechselseitige Bedingtheiten am Beispiel der Schweiz, in: Helmuth Schulze-Fieliz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Die Verwaltung Beiheft 7, 2007, 267–291 (288). 87 Vgl. dazu vorne unter Ziff. II/1. 83
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als „politischer Akteur“ dessen Autorität gleichwohl unterminiert haben. Zeichen dafür ist die prominent vertretene These, Richter des United States Supreme Court würden allein ihren persönlichen politischen Präferenzen zum Durchbruch verhelfen, wenn sie vorgäben, die Verfassung „auszulegen“.88 In einer milderen Variante wird unter dem Schlagwort des „Popular Constitutionalism“ gefordert, das dem United States Supreme Court zukommende, als „anti-demokratisch“89 verstandene Monopol zur letztverbindlichen Auslegung der Verfassung sei aufzubrechen, um die Verfassungsinterpretation stärker in die Sphäre von Politik und Zivilgesellschaft zu verlagern.90 Entsprechend wird selbst der durch Umfragen ermittelten öffentlichen Meinung ein als legitim verstandener Einfluss auf die Auslegung der Verfassung zugestanden.91 Diese Ausweitung der „Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“92 lässt sich in Fortführung einer von Sanford Levinson entworfenen Analogie als „verfassungsrechtlicher Protestantismus“ bezeichnen,93 da der Protestantismus das päpstliche Interpretationsmonopol der Schrift auf der Grundlage des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen verwirft.94
5. Originalismus als restauratives Projekt a) Rekonstruktion der Verfassung als rechtliches Dokument Der Originalismus ist zu den beschriebenen, für die Vereinigten Staaten spezifischen gesellschaftlichen, politischen und rechtskulturellen Strömungen, in denen die U.S.-amerikanische Verfassung und der United States Supreme Court verortet sind, völlig konträr ausgerichtet. In gewisser Weise erscheint der Originalismus deshalb als anachronistischer Gegenentwurf zum verfassungsrechtlichen Zeitgeist. Während sich die U.S.-amerikanische Verfassung zu einem zivilreligiös verehrten Dokument 88 Posner (Fn. 63), 50 f., 76; diese Kritik ist freilich alles andere als neu, vgl. nur John Hart Ely, The Wages of Crying Wolf: A Comment on Roe v. Wade, Yale Law Journal 82 (1973) 920–949 (944) („[The Warren Court’s] inferences were often controversial, but just as often our profession’s prominent criticism deigned not to address them on their terms and contented itself with assertions that the Court was indulging in sheer acts of will, ramming its personal preferences down the country’s throat (…).“; Hervorhebungen hinzugefügt). 89 Larry D. Kramer, Popular Constitutionalism, circa 2004, California Law Review 92 (2004) 959– 1011 (1003). 90 Vgl. insbesondere Larry D. Kramer, The People Themselves. Popular Constitutionalism and Judical Review, 2004, 207–226; ders., Undercover Anti-Populism, Fordham Law Review 73 (2005) 1343– 1359 (1344); ders., Foreword: We the Court, Harvard Law Review 115 (2001) 4–169 (128–169); Mark Tushnet, Talking the Constitution Away from the Courts, 1999, 177–194; ders., Popular Constitutionalism as Political Law, Chicago-Kent Law Review 81 (2006 ) 991–1006 (999). 91 Vgl. Or Bassok, The Supreme Court’s New Source of Legitimacy, University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law 16 (2013) 153–198 (192–198). 92 Peter Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 30 (1975) 297–305. 93 Vgl. Sanford Levinson, Constitutional Faith, 1988, 27–53; ähnlich Posner (Fn. 42), 220. 94 Locus classicus ist Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation (1520; Ausgabe von 1962), 14, 20–23; dazu eingehend Thomas Kaufmann, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung. Kommentar zu Schriften Luthers, Band 3, 2014, 81–88, 116–119; für die Zürcher Reformation vgl. Huldrych Zwingli, Die 67 Artikel, in: Emil Egli/Georg Finsler (Hrsg.), Huldreich Zwinglis sämtliche Werke, Band I. Corpus Reformatorum LXXXVIII, 1905, 458–465, 460.
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entwickelt hat, auf das ganz unterschiedliche politische und gesellschaftliche Forderungen projiziert werden,95 insistiert der Originalismus als Theorie der Verfassung auf dem rechtlichen Charakter der United States Constitution als „Gesetz“.96 Aus dieser Rekonstruktion der Verfassung als allein rechtliches Dokument folgt die Zurückweisung sowohl des für die U.S.-amerikanische Rechtskultur zumindest seit Mitte des 20. Jahrhunderts dominanten Regelskeptizismus97 als auch der Relevanz außerrechtlicher Faktoren für gerichtliche Entscheide. Der Originalismus geht nämlich davon aus, dass sich der Sinn einer Verfassungsbestimmung auf dem Weg einer rein rechtlichen Operation ergründen lässt. Zudem wird unterstellt, dass die ermittelte ursprüngliche Bedeutung des Verfassungstextes richterliche Entscheide effektiv anleiten kann.98 Auch mit der Idee eines „verfassungsrechtlichen Protestantismus“99 ist der Originalismus inkompatibel. Vor deutlich mehr als 200 Jahren niedergeschriebene, teilweise grammatikalisch komplexe, aufeinander Bezug nehmende rechtsnormative Sätze100 in ihrer ursprünglichen Bedeutung zu rekonstruieren, erfordert nämlich spezifisches linguistisches, historisches und juristisches Fachwissen. Originalistisch geprägte Urteilserwägungen verweisen daher regelmäßig auf Wörterbücher aus dem 18. Jahrhundert.101 Insoweit ist es konsequent, dass der Originalismus auf der Interpretation der Verfassung durch Richter als Experten der verbindlichen Auslegung von Recht beharrt.102 Ganz explizit weist der Originalismus damit auch die weitherum akzeptierte Stellung des United States Supreme Court als „politischer Akteur“103 zurück, indem er für sich in Anspruch nimmt, die Verfassung völlig wertungsneutral anzuwenden.104 Im verfassungspolitischen Kontext wird dieser Anspruch auf Politikferne und Wertungsneutralität mit dem Bann der „Gesetzgebung von der Richterbank aus“ („legislating from the bench“) gleichgesetzt.105 Vgl. dazu vorne unter Ziff. II/2. Vgl. Robert H. Bork, The Tempting of America: The Political Seduction of the Law, 1990, 145; Antonin Scalia, Originalism: The Lesser Evil, University of Cincinnati Law Review 57 (1989) 849–865 (854). 97 Zum Regelskeptizismus vgl. vorne Ziff. II/3. 98 Zur rechtsnormativen Verbindlichkeit des Verfassungstextes in seiner ursprünglichen Bedeutung vgl. etwa Scalia (Fn. 15), 38; Scalia/Garner (Fn. 18), 78–91. 99 Vgl. dazu vorne unter Ziff. II/4/b. 100 Klassisches Beispiel für komplexe grammatikalische Strukturen ist das Second Amendment der U.S.-Const.; vgl. den Wortlaut der Bestimmung hinten in Fn. 142 und zur diesbezüglichen Rechtsprechung hinten Ziff. III/2. 101 Vgl. statt anderer die einlässliche Auseinandersetzung mit historischen Quellen sowohl in der Begründung des Gerichts als auch in den Minderheitsvoten in District of Columbia v. Heller (Fn. 18) 581–586, 605, 646–648, 685. 102 Vgl. Antonin Scalia, Originalism: The Lesser Evil, University of Cincinnati Law Review 57 (1989) 849–865 (864). 103 Vgl. dazu vorne unter Ziff. II/4/a. 104 Scalia (Fn. 102), 864; vgl. für einen Anwendungsfall aus der Rechtsprechung etwa Stanford v. Kentucky, 492 U.S. 361, 379 f. (1989) (worin Antonin Scalia für das Gericht argumentierte, dass es der Durchsetzung persönlicher politischer Präferenzen durch ein „Komitee von Philosophenkönigen“ gleichkommen würde, die Todesstrafe für Verurteilte, die bei Begehung der Straftat wenigstens 16 Jahre alt waren, auf der Grundlage des Eight Amendment für verfassungswidrig zu erklären); Stanford wurde später in Roper v. Simmons, 543 U.S. 551 (2005) umgestoßen. 105 Vgl. Erwin Chemerinsky, Seeing the Emperor’s Clothes: Recognizing the Reality of Constitutional Decision Making, Boston University Law Review 86 (2006) 1069–1081 (1069) (wonach Präsident 95
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Der Originalismus erscheint damit innerhalb des verfassungsrechtlichen Diskurses als restauratives Projekt, das die Verfassung von außerrechtlichen Zugriffen abschirmen soll, ihre Auslegung in die Hände des Richters als eines passiven, auf die Bewahrung und Perpetuierung des althergebrachten rechtsnormativen Erbes spezialisierten Experten legt und den tief in der U.S.-amerikanischen Rechtskultur verwurzelten Regelskeptizismus zurückweist. Als Theorie der Verfassung und ihrer Auslegung verstanden, erscheint der Aufstieg des Originalismus vor diesem Hintergrund als überraschend.
b) Erkenntnistheoretische und verfassungstheoretische Kritik Die Einschätzung der Karriere des Originalismus als unwahrscheinlich verfestigt sich angesichts verschiedener Einwände, die gegen diese Theorie der Verfassung und ihrer Auslegung formuliert werden können. Der Originalismus beruht auf der Prämisse, dass sich die objektive, gleichsam in Stein gemeißelte Bedeutung sprachlicher Festlegungen in der Verfassung vollständig rekonstruieren lässt (sog. „fixation thesis“).106 Sprachliche Aussagen gewinnen und verändern ihre Bedeutung jedoch durch ihren intersubjektiven Gebrauch.107 Das gilt auch für den Verfassungstext: „Domestic Violence“ (Art. IV Sect. 4 U.S.-Const.) war Ende des 18. Jahrhunderts gleichbedeutend mit „Störungen der öffentlichen Ordnung durch Gewaltakte und Aufruhr“, während die Wendung heute für „häusliche Gewalt“ steht. Erkenntnistheoretisch muss die Möglichkeit der vollständigen Rekonstruktion der „ursprünglichen“ und „objektiven“ Bedeutung eines mehr als 200 Jahre alten, normativen Textes daher erheblich angezweifelt werden.108 Selbst wenn diese Möglichkeit grundsätzlich bejaht werden sollte, ist die gleichsam archäologische Bergung des verschütteten Sinns einer Norm mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Diese wiegen umso schwerer, als dass die Auslegung einer Verfassungsbestimmung notwendig folgenreich ist. Die Verfassungskonformität des Patient Protection and Affordable Care Act von 2010 („Obamacare“)109 wurde denn auch, abhängig von der höchst umstrittenen ursprünglichen Bedeutung des Begriffs „commerce“ des damals seit 224 Jahren gültigen ersten Artikels der U.S.-amerikanischen Verfassung110, von den verschiedenen Mitgliedern des UniGeorge W. Bush 2005 angekündigt habe, er werde Richter ernennen, die „nicht Gesetze von der Richterbank aus erlassen“ würden [„not legislate from the bench“]). 106 Vgl. Lawrence Solum, The Fixation Thesis: The Role of Historical Fact in Original Meaning, Notre Dame Law Review 91 (2015) 1–78 (6–9). 107 Klassischer Referenzpunkt der These, wonach Sprache ihren Sinn durch ihren Gebrauch in „Sprachspielen“ gewinnt, ohne ihre Unschärfe zu verlieren, und Sinnermittlung daher vor allem durch Beobachtung erfolgen muss („[D]enk nicht, sondern schau!“), ist Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen [Spätfassung], in: Joachim Schulte (Hrsg.), Kritisch-genetische Edition, 2001, 714– 989 (787). 108 Vgl. Ian C. Bartrum, Wittgenstein’s Poker: Contested Constitutionalism and the Limits of Public Meaning Originalism (Working Paper), Social Science Research Network (SSRN), 2016, 12–24 (verfügbar unter https://ssrn.com/abstract=2827799). 109 Patient Protection and Affordable Care Act, 42 U.S.C. § 18001 (2010). 110 Vgl. Art. I Sect. 8 Cl. 3 U.S. Const.: „The Congress shall have Power (…) [t]o regulate Commerce with foreign Nations, and among the several States, and with the Indian Tribes.“
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ted States Supreme Court völlig gegensätzlich beurteilt.111 Derartige Urteile werfen ein Schlaglicht auf die Tatsache, dass Richter zwar juristisch ausgebildet sind, hinsichtlich des methodisch korrekten Umgangs mit historischen Quellen jedoch üblicherweise kein besonderes Fachwissen vorweisen können. Seitens der Geschichtswissenschaft wird daher der Vorwurf erhoben, originalistische Urteilserwägungen kämen als sonderbare Mischung aus Rhetorik und „law office history“ daher, die grundlegende methodischen Prinzipien der historischen Forschung missachteten.112 Epistemologisch zumindest nicht zwingend erscheint sodann der Umgang mit Tatsachen, die zum Zeitpunkt, in dem eine bestimmte Verfassungsnorm erlassen wurde, noch unbekannt waren. Fraglich ist etwa, ob der Umstand, dass das Second Amendment das Wort „Waffen“ („arms“) nicht näher spezifiziert, tatsächlich logisch zur Folge haben muss, dass die Verfassungsbestimmung auch das Eigentum an jenen Arten tragbarer Waffen schützt, die im Zeitpunkt der Ratifikation der Verfassungsabstimmung am 15. Dezember 1791 noch völlig unbekannt gewesen sind.113 Der Originalismus wird sodann verbreitet mit dem Rekurs auf die Volkssouveränität verteidigt, da die Verfassung über ein höheres Maß an demokratischer Legitimation verfüge als andere Rechtssätze.114 Dagegen lässt sich einwenden, dass die U.S.-amerikanische Verfassung im 18. Jahrhundert nicht etwa in einer Volksabstimmung, sondern durch gliedstaatliche Konvente genehmigt worden ist. Zur Wahl der Mitglieder dieser Konvente waren nur rund 10 % der erwachsenen Bevölkerung berechtigt.115 Offen bleibt mit dem Verweis auf die Volkssouveränität zudem die bereits von Thomas Jefferson aufgeworfene Frage, auf welcher Grundlage und in welchem Maß ein demokratisch erzielter Konsens spätere Generationen zu binden vermag.116 Ferner ist 111 Vgl. für die gegensätzlichen Auffassungen National Federation of Independent Business v. Sebelius, 567 U.S. _ (2012) vom 28. Juni 2012 [Docket No. 11–393] (zitiert gemäss der Paginierung der slip opinion), Mehrheitsmeinung von John Roberts (23), Minderheitsvotum von Antonin Scalia et al. (4 f.) und Minderheitsvotum Clarence Thomas (1 f.) einerseits sowie Minderheitsvotum Ruth Bader Ginsburg (23) andererseits; vgl. für die inhaltlich ebenfalls stark divergierenden Einschätzungen statt anderer Akhil Reed Amar, America’s Constitution. A Biography, 2005, 107 f. und Jack Balkin, Commerce, Michigan Law Review 109 (2010) 1–51 einerseits und Randy E. Barnett, The Original Meaning of the Commerce Clause, University of Chicago Law Review 68 (2001) 101–147 andererseits. 112 Vgl. Jack N. Rakove, The Second Amendment: The Highest Stage of Originalism, Chicago-Kent Law Review 76 (2000) 103–166 (106) („[M]any ventures in constitutional interpretation (…) are vulnerable to the dishonoring charge of ‚law office history‘ – that is, history made batman to the service of a favored cause (…).“); Leonard Levy, Original Intent and the Framers’ Constitution, 1988, 284–398. 113 Bejahend Caetano v. Massachusetts, 577 U.S. _ (2016) vom 21. März 2016. 114 Vgl. statt aller Solum (Fn. 16), 2 f. 115 Posner (Fn. 42), 230 (mit dem Hinweis, dass Frauen, Sklaven, Indigene, freie Afroamerikaner in den Südstaaten, Frauen, arbeitsverpflichtete Diener und – mit Ausnahme von Pennsylvania – Männer, die über kein Eigentum verfügten, kein aktives und passives Wahlrecht besaßen). 116 Thomas Jefferson, Letter to James Madison (Paris, September 6, 1789), in: Paul Leicester Ford (Hrsg.), The Works of Thomas Jefferson, Band VI, 1904, 3–11 (3 f.): „The Question [sic!] Whether [sic!] one generation of men has a right to bind another, seems never to have been started either on this or our side of the water [i.e. the Atlantic Ocean]. (…) [T]hat no such obligation can be transmitted I think very capable of proof. I set out on this ground which I suppose to be self evident [sic!], ‚that the earth belongs in usufruct to the living;‘ that the dead have neither powers nor rights over it.“ (Hervorhebungen im Original weggelassen.). Auf dieser vermeintlichen oder tatsächlichen Illegitimität der Bindung zukünftiger Generationen baut etwa die Kritik von Louis Michael Seidman, On Constitutional Disobedience, 2012, 11 f., 59 an der U.S.-Verfassung auf („The sheer odditiy of making modern decisions based upon an old and archaic text
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äußerst fraglich, ob die U.S.-amerikanische Verfassung tatsächlich mit der Zielsetzung verfasst worden ist, den Text in seiner ursprünglichen Bedeutung über Jahrhunderte hinweg, gleichsam in Stein gemeißelt als oberste rechtsnormative Vorgabe bestehen zu lassen.117 Die sprachliche Unbestimmtheit einiger Bestimmungen lässt die Verfassung vielmehr als zumindest teilweise entwicklungsoffen erscheinen.118 Ausgewählte Normen öffnen das Verfassungsrecht sodann für ethische und moralische Überlegungen.119 In diesem Sinn verbietet der achte Verfassungszusatz „grausame und ungewöhnliche Bestrafungen“ („cruel and unusual punishments“).120 Würde die Bestimmung nach den Grundsätzen des Originalismus ausgelegt, böte sie keinerlei Schutz gegen um 1791 gesellschaftlich akzeptierte und praktizierte Bestrafungen wie den Pranger, das öffentliche Auspeitschen oder körperliche Verstümmelung.121 Die Auslegung verschiedener Klauseln der Verfassung allein aufgrund ihres Wortlautes in seiner ursprünglichen Bedeutung würde zudem bestimmte Verfassungsnormen ihrer Wirksamkeit berauben.122 Ob etwa gegenüber dem Anbringen eines GPS-Aufzeichnungsgeräts an einem privaten Fahrzeug zu Überwachungszwecken aufgrund des Verbots „willkürlicher Durchsuchungen“ („unreasonable searches“) durch den vierten Verfassungszusatz123 verfassungsrechtlicher Schutz besteht,124 lässt sich zumindest nicht allein aufgrund des Normtextes entscheiden. Gleiches gilt für die Vereinbarkeit der Einschränkung politischer Werbung über elektronische Massenmedien durch Unternehmen im Vorfeld von Wahlen mit der verfassungsrechtlich garantierten Meinungsäußerungsfreiheit.125 Neuere Richtungen des Originalismus unterscheiden denn auch zwischen Auslegung („interpretation“) und Anwendung („construction“) des Verfassungstextes.126 An methodologisch praktisch unüberwindbare Hürden stößt ought to give constitutionalists pause. They insist that we follow the commands of people who knew nothing of our problems and have nothing to do with us, who are not even biologically related to most of us. In what sense are their hopes, fears, preoccupations, and obsessions our own? (…) There were (…) real individual people in Philadelphia in 1787, and all of those real people are now really dead. There are, today, real people who are alive and who must decide how to solve real, modern problems.“) 117 Vgl. die einlässlich begründete negative Einschätzung von H. Jefferson Powell, The Original Understanding of Original Intent, Harvard Law Review 98 (1985) 885–948; so auch etwa William N. Eskridge, The New Textualism, University of California Los Angeles Law Review 37 (1990) 621–691 (670). 118 Vgl. allgemein Eskridge (Fn. 117), 670–672. 119 Einflussreich für diese Sichtweise Ronald Dworkin, Freedom’s Law. The Moral Reading of the American Constitution, 1996, 7–12. 120 Eighth Amendment U.S. Const.: „Excessive bail shall not be required, nor excessive fines imposed, nor cruel and unusual punishments inflicted.“ 121 Vgl. John F. Stinneford, The Original Meaning of „Unusual“: The Eighth Amendment as a Bar to Cruel Innovation, Northwestern University Law Review 102 (2008) 1739–1825 (1742, 1820); ferner Scalia (Fn. 102), 861, 864. 122 Vgl. David A. Strauss, Foreword: Does the Constitution Mean What it Says?, Harvard Law Review 125 (2015) 1–61 (36 f.) mit dem Hinweis auf die elektronische Überwachung. 123 Fourth Amendment U.S. Const.: „The right of the people to be secure in their persons, houses, papers, and effects, against unreasonable searches and seizures, shall not be violated, and no Warrants shall issue, but upon probable cause, supported by Oath or affirmation, and particularly describing the place to be searched, and the persons or things to be seized.“ 124 Vgl. dazu United States v. Jones, 565 U.S. _ (2012) vom 23. Januar 2012. 125 Vgl. aber Citizens United v. Federal Election Commission, 558 U.S. 310, 392 (2010) (Scalia A., concurring). 126 Statt anderer Jack Balkin, Abortion and Original Meaning, Constitutional Commentary 24
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ein ausschließlich am Wortlaut orientierter Originalismus schließlich in jenen Fällen, in denen Ungleichbehandlungen aufgrund ethnischer Kriterien auf der Grundlage von Verfassungsbestimmungen, die im Kontext der Rechtmäßigkeit der Sklaverei erlassen worden waren, zu beurteilen sind.127
III. Verfassungspolitische und verfassungstheoretische Dimensionen des Originalismus 1. Differenzierung zwischen Verfassungspolitik und Verfassungstheorie Angesichts der dargestellten, teilweise drastischen Konsequenzen, welche die Anwendung einer ausschließlich am Wortlaut der U.S.-amerikanischen Verfassung in ihrer ursprünglichen Bedeutung orientierten Verfassungsrechtsprechung nach sich ziehen würde,128 hat sich selbst Antonin Scalia – immerhin der Bannerträger des Originalismus – als bloß „zaghafter Originalist“ („faint-hearted originalist“) bezeichnet.129 Um die Relevanz des Originalismus differenziert einzuschätzen, drängt sich daher eine präzisere Unterscheidung der verschiedenen Bezugssysteme des Originalismus auf. Entsprechend ist zwischen dem Originalismus als Theorie der Verfassung und ihrer Auslegung einerseits (verfassungstheoretische oder methodologische Dimension) und dem Originalismus als Instrument der Verfassungspolitik (verfassungspolitische Dimension) andererseits zu differenzieren. (2007) 291–352 (308–311); Randy E. Barnett, Interpretation and Construction, Harvard Journal of Law and Public Policy 34 (2011) 65–72; ders., (Fn. 37), 120–131; Lawrence Solum, Originalism and Constitutional Construction, Fordham Law Review 82 (2013) 453 –537. 127 Klassisches Beispiel für diese letztlich unüberwindbaren Schwierigkeiten ist Bolling v. Sharpe, 347 U.S. 497 (1954), der die getrennte Organisation von Schulen nach ethnischen Kriterien (Rassensegregation) auch gegenüber der Bundesregierung (District of Columbia) auf der Grundlage des Fifth Amendment für verfassungswidrig erklärte. Nachdem der entsprechende Verfassungszusatz 1791 im Kontext einer Verfassung erlassen worden war, welche die Sklaverei als rechtmäßig beurteilte, lässt sich das Urteil allein auf der Grundlage des Verfassungstextes in seiner ursprünglichen Bedeutung nicht als zutreffend begründen und hat seitens strikter Originalisten heftige Kritik hervorgerufen; vgl. Bork (Fn. 96), 83 f.; Lino A. Graglia, Constitutional Theory: The Attempted Justification for the Supreme Court’s Liberal Political Program, Texas Law Review 65 (1986) 789–798 (796 f.). Demgegenüber erklärte Antonin Scalia, dass Diskriminierung aufgrund ethnischer Kriterien ganz generell „illegal, unmoralisch und verfassungswidrig“ sei; vgl. City of Richmond v. J.A. Croson Co., 488 U.S. 469, 521 (1989) („I share the view (…) that ‹[t]he lesson of the great decisions of the Supreme Court and the lesson of contemporary history have been the same for at least a generation: discrimination on the basis of race is illegal, immoral, unconstitutional, inherently wrong, and destructive of democratic society.›“; Scalia, J., concurring). Antonin Scalia unterließ es freilich, auf den potenziellen Widerspruch dieser Aussage mit seinen methodologischen Überzeugungen einzugehen. Bolling ist mit Posner (Fn. 42), 225 wohl tatsächlich „an embarassment to textualists“. In rechtlicher Hinsicht unterscheidet sich Bolling sodann grundlegend von dem am gleichen Tag entschiedenen, bekannteren, inhaltlich aber gleichlautenden grundlegenden Leitentscheid Brown v. Board of Education of Topeka (Fn. 83), der sich auf die Gliedstaaten bezog und sich deshalb auf das Fourteenth Amendment stützte, das aber nach seinem Wortlaut auf die Bundesregierung unanwendbar ist. 128 Antonin Scalia bezog sich auf den Umstand, dass der Originalismus nicht verhindern könnte, dass die Bestrafung mittels Auspeitschens wieder eingeführt würde; vgl. dazu den vorangehenden Abschnitt II/5/b. 129 Scalia (Fn. 102), 864.
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Die verfassungstheoretische Dimension des Originalismus entspricht ihrer kommunizierten Selbstdarstellung. Der Originalismus inszeniert sich als eine spezifische Theorie der Auslegung der Verfassung, gemäß welcher der Sinn von Verfassungsnormen mit dem Wortlaut in seiner ursprünglichen und gewöhnlichen Bedeutung zusammenfällt und sich auf diesen beschränkt.130 Damit ist die Vorstellung der Verfassung als unverrückbare und im Strom der Zeit unveränderliche rechtliche Grundlage im Sinn einer „mosaischen Gesetzestafel“131 verknüpft. Mit der „Verfassungspolitik“ ist das politische, administrative und zivilgesellschaftliche Engagement angesprochen, das auf die inhaltliche Beeinflussung der Erzeugung von Verfassungsrecht gerichtet ist.132 Als Folge der Rigidität der U.S.-amerikanischen Verfassung werden in den Vereinigten Staaten Formen der sozialen Mobilisierung,133 durch die Verwaltung ausgearbeitete Programme,134 grundlegende, durch Wahlen legitimierte Sozial- und Wirtschaftsreformen135 und das Recht des Präsidenten, die Mitglieder der Bundesgerichte zu ernennen,136 dazu verwendet, das Verständnis des positiven Verfassungsrechts zu formen. Im Kontext der Vereinigten Staaten geht „Verfassungspolitik“ mithin weit über die formelle Revision der Verfassung auf der Grundlage von Art. V U.S.-Const. hinaus. Diese Faktoren machen das vorstehend weit umschriebene Verständnis des Begriffs der „Verfassungspolitik“ notwendig.
2. Verfassungstheoretische Dimension: Originalismus als Scheinriese Aus Distanz betrachtet, erscheint der effektive Einfluss des Originalismus auf den Ausgang konkreter gerichtlicher Verfahren tatsächlich beträchtlich. Die Verwendung von historischen Wörterbüchern in Gerichtsurteilen ist ein guter Indikator für dem Originalismus verpflichtete Urteilsbegründungen, da solche Diktionäre dazu benutzt werden, die gewöhnliche Bedeutung eines Begriffs zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit zu eruieren.137 Binnen rund drei Jahrzehnten hat sich die 130 Vgl. statt anderer Scalia (Fn. 15), 38; ders. (Fn. 19), 104; ders. (Fn. 96), 864; ders./Garner (Fn. 18), 78–91. 131 Vgl. zu diesem Bild vorne unter Ziff. I. 132 Für eine engere Umschreibung des Begriffs der „Verfassungspolitik“ im schweizerischen Kontext mit seinen direkt-demokratischen Einflusskanälen auf die Verfassunggebung vgl. Johannes Reich, Direkte Demokratie und völkerrechtliche Verpflichtungen im Konflikt. Funktionellrechtlich differenzierte Herstellung praktischer Konkordanz zwischen der Beachtung des Völkerrechts und konfligierenden Volksinitiativen im schweizerischen Bundesverfassungsrecht, ZaöRV 68 (2008) 979–1025 (999). – Das im Haupttext anklingende Verständnis der Rechtserzeugung lehnt sich an Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, 240 an. 133 Zur Bedeutung sozialer Bewegungen für die Ausformung des Verfassungsrechts vgl. vorne unter Ziff. II/2. 134 Vgl. zur vor allem durch die Administration unter Präsident Ronald Reagan entworfenen Programmatik, mittels der Verpflichtung auf den Originalismus die Verfassungsrechtsprechung zu beeinflussen, hinten unter Ziff. III/4/b. 135 Vgl. Ackerman (Fn. 82), 47–50, 266–269, 289 f. 136 Zu den entsprechenden Kompetenzen vgl. vorne unter Ziff. II/4/a. 137 Kritisch zu dieser Praxis Frank H. Easterbrook, Text, History, and Structure in Statutory Interpretation, Harvard Journal of Law and Public Policy 17 (1994) 61–70 (67) (der die Verwendung von Wörterbüchern als „dumm“ („silly“) bezeichnet, da es sich bei einem Diktionär lediglich um ein „Wörter-
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Erwähnung von Wörterbüchern in Urteilen des United States Supreme Court fast verzehnfacht. Mittlerweile finden sich in rund einem Drittel aller Entscheide des Höchstgerichts entsprechende Hinweise.138 Diese Zunahme dürfte indessen vor allem kompensatorischen Charakter haben. Der am Wortlaut in seiner ursprünglichen und gewöhnlichen Bedeutung interessierte Originalismus drängte nämlich rivalisierende methodische Ansätze zurück. Mit dem Aufstieg des Originalismus verminderte sich spiegelbildlich sowohl die Erwähnung der Normgenese („legislative history“) als auch die Auseinandersetzung mit möglichen Absichten des Gesetzgebers („original intent“).139 Besonders in verfassungsrechtlichen Urteilen gleicht der Originalismus daher dem Ungeheuer des schottischen Loch Ness: Es wird oft erwähnt, jedoch kaum je gesichtet.140 Von erheblicher Bedeutung ist der Originalismus meist nur dann, wenn zu einer Verfassungsbestimmung nur wenige oder zeitlich weit zurückliegende Präzedenzfälle existieren.141 Diese Konstellation beschränkte sich seit dem Aufstieg des Originalismus praktisch auf das Second Amendment142.143 Die Leitentscheidung zum zweiten Verfassungszusatz – das Urteil District of Columbia v. Heller vom 26. Juni 2008144 – bildete den vorläufigen Höhepunkt des Originalismus. Demgemäß garantiert der zweite Verfassungszusatz ein individuelles, nicht bloß ein kollektives Recht auf Eigentum, Besitz und Tragen von Waffen.145 Nicht nur die Gerichtsmehrheit, sondern auch die Minderheitsvoten argumentierten praktisch durchgehend auf der Grundlage des Wortlautes des Second Amendment in derjenigen Bedeutung, die ihm zum Zeitpunkt seiner Ratifikation am 15. Dezember 1791 (mutmaßlich) objektiv zugekommen ist.146 Voraussichtlich bildete die Heller-Entscheidung auch den Kulminationspunkt des Originalismus. Politisch wurde die Eigenschaft des zweiten Verfassungszusatzes als museum“ („museum of words“) handle, das über die Bedeutung eines Wortes innerhalb eines Rechtssatzes wenig aussage). 138 James J. Brudney/Lawrence Baum, Oasis or Mirage: The Supreme Court’s Thirst for Dictionaries in the Rehnquist and Roberts Eras, William and Mary Law Review 55 (2013) 483–580 (491). 139 Vgl. für diese Tendenz Posner (Fn. 42), 205–207. 140 Lawrence Rosenthal, Originalism in Practice, Indiana Law Journal 87 (2012) 1183–1245 (1244) („[A]uthentically originalist adjudication is something like the Loch Ness Monster: much discussed, but rarely encountered. In constitutional adjudication, nonoriginalism is where the action is.“). 141 Den beschränkten Einfluss des Originalismus auf die Rechtsprechung bestätigt explizit auch Jonathan O’Neill, Originalism in American Law and Politics, 2005, 205–212 in seiner detaillierten Rechtsprechungsanalyse. 142 Die Bestimmung lautet wie folgt: „A well regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms, shall not be infringed.“ 143 Vgl. zu den nur wenigen Präzedenzfällen District of Columbia v. Heller (Fn. 18) 619–626 sowie Akhil Reed Amar, The Second Amendment: A Case Study in Constitutional Interpretation, Utah Law Review 45 (2001) 889–914 (909); Sunstein (Fn. 81), 249; seit District of Columbia v. Heller (Fn. 18) hat sich die Anzahl der einschlägigen Entscheide freilich vermehrt; vgl. McDonald v. Chicago, 561 U.S. 742 (2010) (wonach sich der Verfassungszusatz auch auf die Gliedstaaten bezieht) und Caetano v. Massachusetts (Fn. 113) (wonach die Bestimmung auch den Besitz und das Tragen von Waffen schütze, die im Zeitpunkt ihrer Ratifikation am 15. Dezember 1791 noch nicht bekannt waren). 144 District of Columbia v. Heller (Fn. 18); der United States Supreme Court bestätigte das vorinstanzliche Urteil des United States Court of Appeals for the District of Columbia Circuit Parker v. District of Columbia 478 F.3d 370 (2007). 145 Vgl. District of Columbia v. Heller (Fn. 18) 576–595. 146 Vgl. District of Columbia v. Heller (Fn. 18) 581–586, 605, 646–648, 685.
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Individualrecht im Zeitpunkt des Urteils kaum mehr bestritten. Wichtige Exponenten der beiden maßgebenden Parteien begrüßten die Entscheidung ausdrücklich.147 Auch in der Bewerbung um die U.S.-Präsidentschaft für die Amtsdauer 2017–2020 sprachen sich sowohl Hillary Clinton als Kandidatin der Demokratischen Partei als auch Donald Trump, der Bewerber der Republikanischen Partei, für den individualrechtlichen Charakter des Second Amendment aus.148 Aus der Perspektive des politischen Systems lässt sich die Heller-Entscheidung demnach sowohl als Beleg für die semi-autonome Stellung des United States Supreme Court149 als auch als Manifestation des „Popular Constitutionalism“150 lesen.151 Die effektive Relevanz des Originalismus als Theorie der Verfassung und ihrer Auslegung für den Ausgang konkreter Verfahren des United States Supreme Court erscheint vor diesem Hintergrund eng beschränkt.152 Diese limitierte Bedeutung steht in einem eigentümlichen Missverhältnis zur überbordenden wissenschaftlichen und politischen Aufmerksamkeit, die dem Originalismus zuteilwird. Angesichts dieser Divergenz erzeugt der Originalismus in seiner verfassungstheoretischen Ausprägung den Eindruck, ein Scheinriese zu sein: Aus der Ferne betrachtet, nimmt er sich „schrecklich groß aus“, wird aber „mit jedem Schritt“, mit dem man ihm näher kommt, „ein Stückchen kleiner“, um schließlich auf menschliches Normalmaß zu schrumpfen.153
3. Verfassungspolitik: Originalismus als Schlachtruf einer restaurativen „Konterrevolution“ a) „Conservative Legal Movement“ als verfassungspolitische Antwort auf die gerichtliche Revolution des „Warren-Court“ Während der am Wortlaut in seiner ursprünglichen Bedeutung anknüpfende Originalismus als Methode der Verfassungsinterpretation in seinen Auswirkungen bescheiden bleibt, haftet ihm sein Ruf, wirkungsmächtig zu sein, in der Verfassungspolitik154 völlig zu Recht an. Die Ursachen des Originalismus in seiner verfassungspolitischen Dimension liegen in der Amtszeit von Chief Justice Earl Warren zwischen 1953 und 1969. Die Rechtsprechung dieser Ära wird gemeinhin mit Adjektiven wie Vgl. Reva. B. Siegel, Dead or Alive: Originalism as Popular Constitutionalism in Heller, Harvard Law Review 122 (2008) 191–245 (243 f.); Sunstein (Fn. 81), 249 je m.w.H. 148 Vgl. die dritte nationale Fernsehdebatte der Bewerbenden um die U.S.-Präsidentschaft für die Amtszeit 2017–2020 vom 19. Oktober 2016 (Fn. 72): Hillary Clinton (Demokraten) („[T]here’s no doubt that I respect the Second Amendment, that I also believe there’s an individual right to bear arms.“) sowie Donald Trump (Republikaner) („D.C. vs. Heller (…) was a well-crafted decision.“). 149 Vgl. dazu vorne unter Ziff. II/4/a. 150 Vgl. zum „Popular Constitutionalism“ vorne unter Ziff. II/4/b. 151 Vgl. entsprechende Deutungen bei Siegel (Fn. 147), 243–245 und Sunstein (Fn. 81), 247 f., 260– 264. 152 Ähnlich O’Neill (Fn. 141), 212 („limited influence on the Court“); Rosenthal (Fn. 140), 1244. 153 Vgl. für den „Scheinriesen“, der „nur von ferne so schrecklich groß“ aussieht, aber „mit jedem Schritt“, den er näher kommt, „ein Stückchen kleiner“ wird, Ende (Fn. 20), 132–134. 154 Zum Begriff vgl. vorne unter Ziff. III/1. 147
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„revolutionär“, „aktivistisch“ oder „liberal“ belegt.155 Grundlegende Leitentscheide des Gerichts beendeten die Segregation an öffentlichen Schulen, stärkten die Medienfreiheit, anerkannten ein allgemeines, ungeschriebenes Grundrecht auf den Schutz der Privatsphäre, bekräftigten die Verteidigungsrechte in Strafverfahren und setzten die Wahlrechtsgleichheit in den Gliedstaaten konsequent durch.156 Die Verwirklichung demokratischer und gesellschaftlicher Gleichheit bildete den gemeinsamen Bezugspunkt der „revolutionären verfassungsrechtlichen Erneuerung“157, die der „Warren Court“ anstieß.158 Der bereits Mitte der 1960er-Jahre auf keimende Widerstand gegen die als expansiv wahrgenommene Rechtsprechung159 gewann mit der Präsidentschaft von Richard Nixon (1969–1974) an Struktur und Organisation.160 Konservative Kritiker der Rechtsprechung des „Warren-Court“ betonten nunmehr den sämtliche Staatsgewalten beschränkenden Charakter der Verfassung161 und monierten, der United States Supreme Court hätte die Rechtsetzung als Stammfunktion der Legislative usurpiert.162 Konservative Hoffnungen, wonach das Gericht unter dem Vorsitz des von Präsident 155 Stellvertretend Graetz/Greenhouse (Fn. 63), 2–4; Lucas A. Powe, The Warren Court and American Politics, 2000, 486; Tushnet (Fn. 78), 12 f., 18, 21, 32. 156 Owen Fiss, A Life Twice Lived, Yale Law Journal 100 (1991) 1117–1129 (1119) („[T]he values we identify with the Warren Court [are] equality, procedural fairness, freedom of speech, and religious liberty (…).“); vgl. in diesem Sinn statt aller die grundlegenden Leitentscheide Brown v. Board of Education of Topeka (Fn. 83) und Bolling v. Sharpe (Fn. 127) (Verfassungswidrigkeit von nach Ethnien getrennten Schulen), Trop v. Dulles, 356 U.S. 86 (1958) (Verfassungswidrigkeit des Verlustes der Staatsangehörigkeit als Bestrafung), Baker v. Carr, 369 U.S. 186 (1962) (wonach die Frage der Wahlkreiseinteilung eine justiziable Frage sei), Reynolds v. Sims, 377 U.S. 533 (1964) (wonach Wahlkreise nach dem Grundsatz „one man one vote“ ungefähr die gleiche Größe aufweisen müssen), Miranda v. Arizona, 384 U.S. 436 (zur Auf klärungspflicht gegenüber Angeschuldigten über deren strafprozessualen Rechte), New York Times Co. v. Sullivan, 376 U.S. 254 (1964) (zur Medienfreiheit) oder Griswold v. Connecticut (Fn. 79) (wonach der Zugang zu Kontrazeptiva durch das Recht auf Privatsphäre geschützt ist; vgl. dazu auch vorne unter Ziff. II/4a). 157 Fiss (Fn. 156), 1118 („The result was a program of constitutional reform almost revolutionary in its aspiration and, now and then, in its achievements. (…).“). 158 Graetz/Greenhouse (Fn. 63), 2 f.; Powe (Fn. 155), 486; Tushnet (Fn. 78), 12 f., 18, 21, 32; konservative Kritiker identifizierten eben diesen revolutionären Charakter freilich als eigentliches Problem der Warren-Ära; vgl. Berger (Fn. 157), 3 f. 159 Vgl. McCloskey/Levinson (Fn. 73), 308; Graetz/Greenhouse (Fn. 63), 2 f. (wonach das Gericht in Umfragen verbreitet negativ beurteilt worden sei und sogar Rufe nach einem Impeachment von Chief Justice Earl Warren laut geworden seien.). 160 Vgl. Solum (Fn. 16), 7 f.; Teles (Fn. 69), 1 f., 144–146, 279 f. 161 Vgl. Berger (Fn. 157), 3 f.; Edwin Meese III, The Supreme Court of the United States: Bulwark of a Limited Constitution, South Texas Law Journal 27 (1986) 455–466 (457) („The purpose of the Constitution was the creation of limited but energetic government with structures to keep the power in check.“). 162 Vgl. stellvertretend Lino A. Graglia, Judicial Review on the Basis of „Regime Principles“: A Prescription for Government by Judges, South Texas Law Journal 26 (1985) 435– 452 (441): „[ J]udicial usurpation of legislative power has become so common and so complete that the Supreme Court has become our most powerful and important instrument of government (…). Questions literally of life and death (…), of public morality (…), and of public safety (…), are all, now, in the hands of the judges in the guise of questions of constitutional law. (…) The result is that the central truth of constitutional law today is that it has nothing to do with the Constitution (…).“; den (vermeintlich oder tatsächlich) expansiven und daher kontroversen Charakter der Grundrechtsauslegung in der Warren-Ära spricht auch Antonin Scalia, Economic Affairs as Human Affairs, Cato Journal 4 (1985) 703–709 (705) an.
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Nixon ernannten Chief Justice Warren E. Burger – dem Nachfolger von Earl Warren – die Rechtsprechung des „Warren-Court“ zurückdrängen würde, zerschlugen sich aber weitgehend.163 Angesichts einer als wenig kohärent kritisierten Rechtsprechung des „Burger-Court“ ging der politische Konservatismus gleichwohl verfassungspolitisch gestärkt aus dieser von 1969 bis 1986 dauernden Ära hervor.164 Unter diesen geänderten Vorzeichen ließ sich der Anspruch, wonach Verfassungsbestimmungen gemäß ihrem Wortlaut in seiner ursprünglichen Bedeutung auszulegen seien, zunehmend exklusiv formulieren.165 War der Wortlaut in seinem objektiv-historischen Sinn seit der Ratifizierung der U.S.-amerikanischen Verfassung als ein Element der Verfassungsinterpretation präsent,166 sollte nunmehr einzig der Originalismus die United States Constitution bewahren können.167 Während der achtjährigen Präsidentschaft von Ronald Reagan (1981–1989) wurde die Parole, die Verfassung sei allein nach ihrem Wortlaut in seiner gewöhnlichen Bedeutung im Zeitpunkt ihrer Ratifikation auszulegen, zum Schlachtruf einer konservativ ausgerichteten, personell und ideologisch vielfältig mit der Republikanischen Partei verbundenen sozialen Bewegung. Dieses „Conservative Legal Movement“168 erntete damit in den 1980er-Jahren die Früchte langjähriger Auf bauarbeit.169 Dank intellektueller Vorarbeiten konnte mit dem Originalismus auf eine Theorie der Verfassung zurückgegriffen werden, die mit den politischen Zielen eines schlanken Staates („limited government“) und konservativen Werten gleichermaßen übereinstimmte.170 Das 1982 gegründete, weit verzweigte und an sämtlichen renommierten Law Schools präsente konservative studentische Netzwerk der „Federalist Society“ ermöglichte die Rekrutierung juristisch hoch qualifizierter und politisch verlässlich konservativ orientierter Bundesrichter (Federal Judges).171 Mit Ausnahme von David Souter (1990–2009) und Anthony Kennedy (1988) waren alle nach 1985 durch republikanische Präsidenten ernannten Richter des United States Supreme Court – Antonin Scalia (1986–2016), Clarence Thomas (1991), John G. Roberts (2005; Chief Justice) 163 Vgl. Vincent Blasi, The Rootless Activism of the Burger Court, ders. (Hrsg.), The Burger Court. A Counter-Revolution That Wasn’t, 1983, 198–217 (216 f.) (wonach das Gericht unter Chief Justice Burger auch „aktivistisch“ gewesen sei, anders als der „Warren-Court“ aber nicht über ein kohärentes Konzept verfügt habe, das diesen „richterlichen Aktivismus“ angeleitet habe); Teles (Fn. 69), 1 f. 164 Graetz/Greenhouse (Fn. 63), 344 f. 165 Vgl. Berger (Fn. 157), 402 („The sole and exclusive vehicle of change the Framers provided was the amendment process; judicial discretion and policymaking were in high disfavor; all ‹agents and servants of the people› were to be ‹bound by the chains› of a ‹fixed Constitution.›“). 166 Robert Post/Reva Siegel, Originalism as a Political Practice: The Right’s Living Constitution, Fordham Law Review 75 (2006) 545–574 (546 f.) m.w.H. 167 Bork (Fn. 96), 159 („The interpretation of the Constitution according to the original understanding, then, is the only method that can preserve the Constitution (…).“); Edwin Meese III, A Return to Constitutional Interpretation from Judicial Law-Making, New York Law School Law Review 30 (1996) 925–933 (931) (wonach der Originalismus „a return to Constitutional authenticity“ markiere); – Hervorhebung jeweils hinzugefügt. 168 Teles (Fn. 69), 1. 169 Vgl. Teles (Fn. 69), 274–277. 170 Vgl. etwa Berger (Fn. 157), 276, 319; Bork (Fn. 96), 158 f.; vgl. ferner die analytische Aufarbeitung bei O’Neill (Fn. 141), 111–132. 171 Ann Southworth, Lawyers of the Right Professionalizing the Conservative Coalition, 2008, 27– 28, 130–148; Teles (Fn. 69), 135–180.
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und Samuel Alito (2006) – mit der „Federalist Society“ eng verbunden.172 Der Originalismus bildete somit das theoretische Fundament, um zentrale Leitentscheide aus der Ära von Chief Justice Earl Warren hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs als Präzedenzfälle zurückzudrängen oder ganz aufzuheben.173 Diese unmittelbare Verknüpfung verfassungspolitischer Zielsetzungen mit einer bestimmten Methode der Verfassungsauslegung wurde durch Edwin Meese III, einem Vertrauten von Präsident Reagan, explizit offen gelegt. Während seiner Amtszeit als Justizminister unter Präsident Reagan formulierte Meese in einem Beitrag für eine Fachzeitschrift zunächst das verfassungspolitische Programm, das „Abdriften“ der Rechtsprechung des damaligen United States Supreme Court in den „radikalen Egalitarismus“ des „Warren-Court“ mit seiner expansiven Grundrechtsdeutung zu verhindern, um unmittelbar daran anschließend den Originalismus im Sinne einer Methode der Verfassungsinterpretation als jenes Instrument zu identifizieren, mit dem sich das gesteckte verfassungspolitische Ziel erreichen lasse.174 Der instrumentelle Charakter des Originalismus impliziert dessen selektive Anwendung. Bereits in der Phase seiner konzeptionellen Ausarbeitung sollte sich die am Wortlaut in seiner ursprünglichen objektiven Bedeutung ansetzende Auslegung der Verfassung nur gegen aus gewählte Präzedenzfälle richten.175 Die Selektion der ins Visier genommenen höchst richterlichen Entscheidungen orientierte sich an den Leitsätzen der Urteile, mithin am materiellen Verfahrensausgang und nicht an ihrer methodischen Begründetheit.176
b) Originalismus als verfassungspolitischer Gigant Als Methode der Verfassungsinterpretation mag sich der Originalismus gemessen an seinen konkreten Auswirkungen als Scheinriese entpuppt haben, verfassungspolitisch hat er sich seit der Präsidentschaft Ronald Reagans (1981–1989) als Gigant erwiesen. Die Verfassung in Übereinstimmung mit jenem Verständnis, das zur Zeit ihrer Zustimmung durch die Gliedstaaten herrschend war, auszulegen, gleicht mittlerweile einem Glaubensbekenntnis, das jede Person ablegen muss, die durch einen Präsidenten der Republikanischen Partei zum Richter eines Bundesgerichts ernannt werden will.177 Beleg für den verfassungspolitischen Erfolg des Originalismus als restaurative Teles (Fn. 69), 141 f., 158–160, 170. Vgl. Post/Siegel (Fn. 166), 547 f., 552, 554–556, 558, 560, 572. 174 Meese III (Fn. 161), 464: „In my opinion, a drift back toward the radical egalitarianism and expansive civil libertarianism of the Warren Court would once again be a threat to the notion of a limited but energetic government. What, then, should a constitutional jurisprudence actually be? It should be a jurisprudence of original intention.“ (Hervorhebungen im Original; sinngemäße Übersetzung des Autors im Haupttext.); vgl. zu den Hintergründen auch O’Neill (Fn. 141),137–141, 146–160. 175 Vgl. O’Neill (Fn. 141), 141–146; illustrativ Bork (Fn. 96), 158 f., 324 (wonach beispielsweise die auf den identischen verfassungsmethodischen Überlegungen – der Anerkennung eines ungeschriebenen Rechts auf Privatsphäre – beruhenden Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973) und Griswold v. Connecticut (Fn. 79) aus originalistischer Sicht völlig gegensätzlich zu behandeln seien; Griswold sei hinsichtlich seiner Konsequenzen „unwichtig“ und könne daher akzeptiert werden, während Roe umgestoßen werden müsse; Brown v. Board of Education of Topeka (Fn. 83) wiederum könne bestehen bleiben.) 176 Eingehend Post/Siegel (Fn. 166), 562–568 m.w.H. 177 Vgl. die dritte nationale Fernsehdebatte der Bewerbenden um die U.S.-Präsidentschaft für die Amtszeit 2017–2020 vom 19. Oktober 2016 (Fn. 72): Donald Trump (Republikaner) („[T]he justices that 172 173
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Kraft ist der Aufstieg der Verfassungstheorie des „Popular Constitutionalism“. Dieser beruht nämlich auf der resignativen Einsicht, dass gesellschaftliche Veränderungen nach der „Konterrevolution“ durch den Originalismus nicht mehr durch die Verfassungsrechtsprechung initiiert werden können. Dieser Zusammenhang erklärt die Forderung des „Popular Constitutionalism“, den Gerichten die Verfassung zu entreißen,178 um progressive gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen.179 Die Anziehungskraft, die der Originalismus als verfassungspolitisches Argument ausübt, beruht auf vielfältigen Faktoren. Mit dem Anspruch, die U.S.-amerikanische Verfassung in ihrer „authentischen“ Form wiederherzustellen, rekurriert der Originalismus auf einen idealisierten Gründungsmythos der Vereinigten Staaten.180 Der Anspruch auf Authentizität verweist indessen nicht nur auf die konservative Grundierung des Originalismus, sondern auch auf seine anti-elitäre Selbstinszenierung. Wird nämlich einzig dem Verfassungstext in seiner ursprünglichen und gewöhnlichen Bedeutung Authentizität zuerkannt, setzt dies gleichzeitig das von Richtern als „Elite“ geschaffene Fallrecht in seiner Legitimität herab. Der Originalismus als Theorie der Verfassung und ihrer Interpretation mag den Richter zum alleinigen Experten der Verfassungsauslegung erklären,181 doch kann sich dieser als bloßer Vollstrecker und Diener eines demokratisch gefassten Willens darstellen. In diesem Sinn verspricht der Originalismus trotz der grundlegenden Transformationen der U.S.-amerikanischen Gesellschaft seit den 1950er-Jahren Beständigkeit, indem er die Verfassung als „felsenfest“ und als „Anker“ in stürmischen Zeiten darstellt.182 Als Methode der Verfassungsauslegung stellt der Originalismus die Verfassung demnach zwar als rechtliches Dokument dar, in verfassungspolitischer Hinsicht wird die United States Constitution indessen mythologisiert.183 Die Anerkennung der Verbindlichkeit des Verfassungstextes in seiner ursprünglichen Bedeutung wird denn auch als Akt der „Treue“ dargestellt.184 Das Bekenntnis zum Originalismus wird dadurch moralisch aufgeladen und gewinnt einen zivilreligiösen Pflichtcharakter. Als politische Botschaft vereinigt der Originalismus ähnlich dem für die Präsidentschaft von Ronald Reagan charakteristischen Konservatismus eine wertkonservative Grundhaltung mit einer libertären Konzeption einer beschränkten Staatstätigkeit.185
I am going to appoint (…) will interpret the Constitution the way the Founders wanted it interpreted.“). – Neben dem 1986 zum Chief Justice beförderten und 2005 im Amt verstorbenen William Rehnquist sind oder waren vier der seit 1981 durch republikanische Präsidenten ernannten sieben Richter des United States Supreme Court – nämlich Antonin Scalia (1986–2016), Clarence Thomas (1991), John G. Roberts (2005; Chief Justice) und Samuel Alito (2006) – mindestens teilweise dem Originalismus verpflichtet. 178 Vgl. den Titel des Werks von Tushnet (Fn. 9 0) („Taking the Constitution Away from the Courts“). 179 Vgl. statt anderer Kramer (Fn. 89), 966. 180 Vgl. Levin (Fn. 37), 108–118; Post/Siegel (Fn. 166), 561. 181 Vgl. dazu vorne unter Ziff. II/5/a. 182 Vgl. das Zitat vorne in Fn. 15. 183 Gordon S. Wood, Comment, in: Gutmann (Fn. 15), 49–63 (63); Levin (Fn. 37), 110; Post/Siegel (Fn. 166), 572. 184 Vgl. Randy E. Barnett, Scalia’s Infidelity: A Critique of Faint-Hearted Originalism, University of Cincinnati Law Review 75 (2006) 7–24 (12). 185 Vgl. dazu vorne unter Ziff. III/3/a.
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IV. Folgerungen: Semi-Autonomie der Verfassungsgerichtsbarkeit Auf der Grundlage der vorstehend eingeführten Unterscheidung zwischen der verfassungspolitischen und der verfassungstheoretischen Dimension des Originalismus186 hat sich der Einfluss der auf den Wortlaut der Verfassung in seiner ursprünglichen Bedeutung rekurrierenden Doktrin differenziert analysieren lassen.187 Sichtbar werden dadurch die bereits in den Funktionen der Verfassung angelegten,188 vielfältigen Bezüge zwischen Recht und Politik. Folge dieser Interdependenz ist die Einsicht, dass grundlegender institutioneller Wandel ein Zusammenwirken zwischen den politischen Behörden und der Verfassungsgerichtsbarkeit erfordert.189 Für das Rechtssystem bedeutet diese gegenseitige Abhängigkeit von Recht und Politik auch, dass es sozialen Bewegungen gelingen kann, das Verfassungsrecht über die Verfassungsrechtsprechung nach ihren Vorstellungen zu formen.190 Die Analyse der verfassungspolitischen Dimension des Originalismus zeigt auf, dass hierfür eine komplexe Arbeitsteilung innerhalb der sozialen Bewegung erforderlich ist.191 Neben diesen Verbindungen zwischen Recht und Politik wirft die nach verschiedenen Dimensionen des Originalismus unterscheidende Analyse aber auch ein Schlaglicht auf die bestehende Differenz zwischen Politik und Recht. Die beschränkte effektive Relevanz des Originalismus als Theorie der Verfassung und ihrer Auslegung belegt, dass eine Doktrin selbst dann keine unbesehene Fortsetzung im Rechtssystem192 erfährt, wenn sie breite politische Unterstützung genießt, theoretisch zureichend ausgearbeitet und innerhalb des relevanten Netzwerks von Experten personell breit und qualifiziert abgestützt ist.193 Die Untersuchung der Wirkungsweise des Originalismus als Theorie der Verfassung und ihrer Auslegung widerspricht damit einem radikalen Regelskeptizismus, der den Unterschied zwischen Politik und Recht negiert.194 Vielmehr stützt sie die Konzeption der Verfassungsgerichtsbarkeit als gegenüber der Politik semi-autonome Institution.195 Angesichts ihrer semi-autonomen Stellung bleibt die Verfassungsgerichtsbarkeit darauf angewiesen, dass sie sich zumindest im Grundsatz von einem breiten Konsens innerhalb des politischen Systems getragen sieht.196 Der Rekurs auf den Verfassungstext in seiner ursprünglichen Bedeutung dürfte dafür als Legitimationsgrundlage regelmäßig nicht ausreichen. Der Wortlaut in seiner ursprünglichen Bedeutung bleibt für die Auslegung der Verfassung gleichwohl nicht ohne Relevanz. Leon Green – ein prominenter Vertreter des Rechtsrealismus – formulierte 1930 die Einsicht, dass Rechtsnormen dem Richter nur eine erste Orientierung vermittelten. Ähnlich Vgl. vorne unter Ziff. III/1. Vgl. dazu vorne unter Ziff. III/2 und III/3/b. 188 Vgl. dazu vorne unter Ziff. II/1. 189 Zum New Deal vgl. II/4/a, zur Ära des „Warren-Court“ Ziff. III/3a. 190 Vgl. dazu vorne Ziff. II/2. 191 Vgl. dazu vorne unter Ziff. III/3a. 192 Vgl. zum Originalismus als verfassungsrechtlicher „Scheinriese“ vorne unter Ziff. III/2. 193 Vgl. zum hohen Organisationsgrad und zur breiten Abstützung des „Conservative Legal Movement“ vorne unter Ziff. III/3a. 194 Vgl. dazu vorne unter Ziff. II/3. 195 Vgl. dazu vorne unter Ziff. II/4/a. 196 Vgl. die Beispiele aus der New Deal-Ära sowie die Entscheide Griswold und Heller in Ziff. II/4/a und Ziff. III/2. 186 187
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einem Nahverkehrsbus wiesen sie nur den Weg in die Nähe des rechtlich zu beurteilenden Problems, könnten den Richter aber nicht davon entbinden, die letzte Wegstrecke selbständig zu Fuß zu gehen.197 Mit dem Wortlaut einer Verfassungsbestimmung in seiner ursprünglichen Bedeutung verhält es sich ebenso. Er vermittelt den rechtsanwendenden Behörden einen ersten, je nach Konstellation unterschiedlich genau abgesteckten Orientierungsrahmen. Um zu einer konkreten Entscheidung über die verfassungsrechtliche Einordnung eines Sachverhalts zu gelangen, sind indessen weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen.198 In jenen Fällen, in denen die Verfassung keine ausreichenden Konsenschancen vermittelt, hat das Verfassungsgericht die Konsensbereitschaft der Politik mit rechtlichen Mitteln zu eruieren. Aufschlussreich ist diesbezüglich die Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts zur „alten“, bis zum 31. Dezember 1999 geltenden Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874 (aBV).199 Die Bundesverfassung erwies sich in vielerlei Hinsicht als unvollständig. Den fehlenden Grundrechtskatalog machte das Höchstgericht durch die Anerkennung „ungeschriebener Freiheitsrechte“ wett.200 Für die Anerkennung eines Grundrechts als ungeschriebener Bestandteil der Bundesverfassung setzte das Bundesgericht stets voraus, dass der entsprechende Anspruch eine „Voraussetzung für die Ausübung anderer (in der Verfassung genannter) Freiheitsrechte“ bildete oder anderweitig „als unentbehrliche[r] Bestandteil[e] der demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung des Bundes“ erschien.201 Mit dem Hinweis auf die „dem Verfassungsrichter gesetzten Schranken“ prüfte das Bundesgericht jeweils auch, „ob die in Frage stehende Gewährleistung bereits einer weitverbreiteten Verfassungswirklichkeit in den Kantonen entspreche und von einem allgemeinen Konsens getragen sei.“202 Dieses Vorgehen kommt einer Anerkennung der politischen Dimension der Verfassungsgerichtsbarkeit gleich. Gleichzeitig zeigt die bundesgerichtliche Begründungsformel auf, dass diese Konsensbereitschaft der Politik nach rechtlichen Kriterien zu prüfen ist, nachdem die Verfassungsgerichts197 Leon Green, Judge and Jury, 1930, 214 („Rules will carry those who must pass judgment only so far, figuratively speaking, into the neighborhood of the problem to be passed upon, and then the judges must get off and walk.“). 198 Vgl. ähnlich der durch Jack Balkin, Living Originalism, 2011 vorgelegte „framework originalism“; für den Entwurf einer am konzeptionellen Leitbild des Verfassungsgebers der betreffenden Verfassungsbestimmung orientierten evolutiv und kontextuell orientierten Methodik der Verfassungsinterpretation und –anwendung vgl. eingehend Reich (Fn. 38), N 55–97. 199 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874 (in Kraft bis zum 31. Dezember 1999; verfügbar unter www.bj.admin.ch/dam/data/bj/staat/gesetzgebung/archiv/bundes verfassung/bv-alt-d.pdf ); per 1. Januar 2000 abgelöst durch die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV; Systematische Sammlung des Bundesrechts [SR] Nr. 101; verfügbar unter www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19995395/index.html). 200 Vgl. statt aller BGE 121 I 367 E. 2 S. 370 (Anerkennung eines ungeschriebenen Grundrechts auf Existenzsicherung; vgl. nunmehr Art. 12 BV); BGE 96 I 219 E. 4 S. 224 (Anerkennung der Versammlungsfreiheit als ungeschriebenes Grundrecht; vgl. Art. 22 BV); BGE 91 I 480 E. II.1 S. 486 (Anerkennung der Sprachenfreiheit als ungeschriebenes Grundrecht; vgl. Art. 18 BV); BGE 89 I 92 E. 3 S. 98 (Anerkennung der persönlichen Freiheit; vgl. Art. 11 BV); BGE 87 I 114 E. 2 S. 117 (Anerkennung der Meinungsäußerungsfreiheit; vgl. Art. 22 BV). 201 Vgl. statt aller BGE 121 I 367 E. 2 S. 370, 115 Ia 234 E. 10a S. 268, 100 Ia 392 E. 4c S. 4 00, 99 Ia 689 E. 6 S. 693, 96 I 219 E. 4 S. 223, 96 I 104 E. 1 S. 107. 202 BGE 121 I 367 E. 2 S. 370; ferner auch BGE 115 Ia 234 E. 10a S. 268, 104 Ia 88 E. 5c S. 96, 100 Ia 392 E. 4c S. 4 00.
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barkeit ihre Legitimität wesentlich aus ihrer Anerkennung als rechtliche Praxis gewinnt.203 Politische Untersuchungen der Konsensbereitschaft wie etwa Meinungsumfragen würden die Trennlinie zwischen Recht und Politik dagegen missachten.204 Die hauptsächliche Lehre aus der semi-autonomen Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit könnte daher sein, dass ein Verfassungsgericht zu beachten hat, dass es auf eine grundsätzliche Konsensbereitschaft der Politik angewiesen ist, aber gerade deshalb auf der rechtlichen Eruierung der Möglichkeit politischer Zustimmung insistieren muss.
Vgl. dazu vorne unter Ziff. II/1. Vgl. dagegen zur angeblich legitimierenden Kraft von Meinungsumfragen vorne unter Ziff. II/4/b bei Fn. 91. 203
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Prof. Dr. Ute Sacksofsky, M.P.A. (Harvard), Universität Frankfurt am Main Inhalt I. Richter mit Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744 1. Scalias Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 2. Methode und konservative Agenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 748 3. Konsistenz der Anwendung der Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 750 4. Relevanz ausländischer Gerichtsurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751 II. Stilfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753 1. Teamplayer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753 2. Ton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 756 III. Verfassungsrichter *innen als öffentliche Person – vergleichende Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . 757 1. Tatsächliches: unterschiedliche Wahrnehmung von Verfassungsrichter *innen . . . . . . . . . . . . . . . 758 2. Institutionelle und rechtskulturelle Gründe für die unterschiedliche Wahrnehmung . . . . . . . . . . . 759 IV. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763
Antonin Scalia war einer der bekanntesten Richter des U.S. Supreme Court. Bei seinem Tod am 13. Februar 2016 war er neunundsiebzig Jahre alt und der am längsten dienende Richter des U.S. Supreme Court: Seit 1986, also fast vierzig Jahre, hatte Scalia dem Gericht als Associate Justice angehört, also als (einfaches) Mitglied. Schon zu Lebzeiten wurde Scalia besonders viel Aufmerksamkeit zuteil – er ist derjenige Jurist, über den in den letzten 15 Jahren am meisten geschrieben wurde.1 Scalia wird vielfach als zentrale Figur im politischen und – denn das geht zumindest in den USA Hand in Hand – juristischen Leben der USA wahrgenommen. Seinen Tod nahmen 1 Laut Autor bezogen auf Veröffentlichungen in „amerikanischem Englisch“: Morris, How Scalia Became the Most Influential Conservative Jurist since the New Deal, http://fivethirtyeight.com/featu res/how-scalia-became-the-most-influential-conservative-jurist-since-the-new-deal/ (1.11.2016).
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fast alle US-amerikanischen Zeitungen daher zum Anlass, Leben und Wirken umfangreich zu würdigen. Scalia war jedoch nicht nur einer der in den Medien am häufigsten vertretenen Richter, sondern zweifellos auch einer der umstrittensten. In den Nachrufen schlägt sich dies indes kaum nieder: Zumeist sind es Lobeshymnen. Selbst wenn man berücksichtigt, dass Formulierungen in einem Nachruf immer wohlwollend gewählt werden – de mortuis nihil nisi bene –, bedeutet dies nicht notwendig, dass nun Lobgesänge auf den Verstorbenen anzubringen wären. Die Nachrufe auf Scalia sind jedoch häufig getragen von einem Ton der Bewunderung, der an Heldenverehrung grenzt. Scalia wird beschrieben als „not only one of the most important justices in the nation’s history; he was also among the greatest“.2 Er wird als „towering figure“3 gekennzeichnet, man spricht vom „Mythos Scalia“4 oder nennt ihn tatsächlich einen „hero“5. In der Sache sind die Nachrufe zwar nicht durchgängig positiv, doch jeder kritisch formulierte Aspekt wird sofort durch ein „aber“ aufgewogen. Helden müssen nicht perfekt sein, um Helden zu bleiben. Aus deutscher Sicht wundern wir uns über diese sonderbare Form der Heldenverehrung für einen Verfassungsrichter. Die Fragwürdigkeit tritt in der Person Scalias besonders klar zu Tage, hat aber auch mit rechtskulturellen Unterschieden zu tun. Der Beitrag verfolgt daher zwei Ziele. Zum einen wird untersucht, ob Scalia zu Recht als einer der ganz großen Richter des U.S. Supreme Court erinnert werden sollte. Scalia ist berühmt für seinen Beitrag zur Diskussion um Methodenfragen; um diese, ihre Folgen und ihre Bewertung soll es daher zunächst gehen (I.). Sodann sollen Stilfragen behandelt werden, die für die Beurteilung dessen, ob es sich um einen „großen“ Richter handelt, keineswegs unwichtig sind (II.). Der nächste Abschnitt ist dann der Frage gewidmet, weshalb sich die öffentliche Wahrnehmung von Verfassungsrichter*innen in Deutschland so stark von jener in den USA unterscheidet (III.). Ganz nahe liegt dann auch, abschließend zu fragen, ob eine stärkere Personalisierung der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts wünschenswert wäre (IV.).
I. Richter mit Methode Scalia stilisierte sich als Richter, der streng dem Gesetz verpflichtet ist und unabhängig von seinen persönlichen Anschauungen entscheidet. Er positionierte sich in dem Streit um judicial activism, der in den USA seit langem geführt wird, auf Seiten jener, die aktives richterliches Handeln verabscheuen. Er trat ein für ein Richterbild, das die Macht der Richter beschränken, nicht sie aktiv nutzen will. Scalia stellte sich als Richter dar, der klaren methodischen Prinzipien folgt, auch wenn ihm das Ergebnis 2 Sunstein, The Antonin Scalia I Knew Will Be Greatly Missed, http://origin-www.bloomberg view.com/articles/2016-02-14/the-scalia-i-knew-will-be-greatly-missed/ (1.11.2016). 3 Rosen, What Made Antonin Scalia Great, http://www.theatlantic.com/politics/archive/2016/02/ what-made-antonin-scalia-great/462837/ (1.11.2016). 4 Tribe, The Scalia Myth, http://www.nybooks.com/daily/2016/02/27/the-scalia-myth/ (1.11. 2016). 5 Francisco, A Law Clerk’s Reflections on Justice Scalia, http://www.heritage.org/research/reports/ 2016/08/a-law-clerks-reflections-on-justice-scalia/ (1.11.2016).
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nicht gefällt. Doch so ganz überzeugen kann diese Selbstbeschreibung nicht. Eher handelt es sich um eine Selbstinszenierung. Erste Zweifel weckt bereits, dass Scalia trotz aller angeblichen richterlichen Zurückhaltung gleichzeitig als Führungsfigur der Konservativen galt und gilt. Einer seiner früheren wissenschaftlichen Mitarbeiter lobte ihn als einen der „great conservative leaders of our time“ und erklärte ihn zum „Helden der Konservativen“.6 Passt es nun aber zusammen, einerseits als Führungsfigur einer bestimmten Weltanschauung gefeiert zu werden, sich andererseits aber als streng gebunden darzustellen? Entscheidend dürfte sein, wie diese Bindung funktioniert: Das ist die Frage nach der Methode.
1. Scalias Methode Scalias methodischer Ansatz lässt sich durch zwei Begriffe kennzeichnen: textualism und originalism. Mit textualism ist gemeint, dass bei der Auslegung einer Norm – handle es sich um Verfassungsrecht oder einfaches Recht – ausschließlich der Wortlaut ausschlaggebend sein soll. Explizit wandte sich Scalia gegen die Berücksichtigung des Willens des Gesetz- oder Verfassungsgebers. Er stützte sich auf das bekannte Argument, Menschen könnten aus unterschiedlichsten Gründen eine Norm erlassen wollen, unklar bliebe daher, auf wessen Absichten es am Ende ankäme. Daher solle allein der Wortlaut einer Norm Berücksichtigung finden.7 Bei der Verfassungsauslegung ging Scalia sogar noch einen Schritt weiter. Der Wortlaut der Verfassung solle so ausgelegt werden, wie die Worte zur Zeit ihrer Schaffung verstanden wurden. Dies ist nicht zu verwechseln mit „original intent“,8 einer Spielform des originalism, der er gerade nicht anhing. Mit original intent ist nämlich gemeint, dass die Absichten und Vorstellungen derer Berücksichtigung finden sollen, welche die Norm geschaffen haben – also in etwa das, was das entstehungsgeschichtliche Argument im deutschen Methodenkanon meint. Original intent aber lehnte Scalia gerade ab: Er bezeichnete sein Verständnis vielmehr als „original meaning“ – es gehe darum, den Wortgebrauch zur Zeit der Entstehung der Norm zu eruieren. Über Jahre zog Scalia daher zur Verfassungsauslegung ein altes Wörterbuch heran. Allerdings: Überraschend angesichts der Tatsache, dass die Verfassung der USA aus dem Jahre 1787, ihr Grundrechtekatalog aus dem Jahr 1791 stammt, wählte er eine Ausgabe aus dem Jahr 1828.9 Später erklärte Scalia, dass er tatsächlich auf die gleichen historischen Dokumente zurückgreife wie diejenigen, welche die Entstehungsgeschichte heranzögen, diese Dokumente aber etwas anders verwende, da er nicht versuche herauszufinden, was der Zweck der Entwürfe einer Norm war, sondern ein Verständnis dafür entwickeln wolle, was die meisten Menschen der damaligen Zeit unter dem Text verstanden.10 Francisco (Fn. 5 ). Scalia, in: Gutman (Hg.), A Matter of Interpretation: Federal Courts and the Law, 1997, 29 ff. 8 Bekannt dafür ist etwa Robert Bork, der 1987 als Kandidat für das Amt eines Richters am Supreme Court vom Senat abgelehnt wurde. Calabresi, in: ders. (Hg.), Originalism, 2007, 1, 14 nennt Bork den „intellectual godfather of originalism“. 9 Murphy, Scalia: A Court of One, 2015, 167. 10 Scalia, The Rule of Law as a Law of Rules, 56 U. Chi. L. Rev. (1989), 1175, 1184 f. 6 7
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Scalia sah durchaus, dass seine Methode nicht einfach anzuwenden ist und nicht immer zu einer klaren Antwort führt.11 In diesen Fällen wollte er auf die rechtlichen und sozialen Traditionen der USA zurückgreifen. Zudem propagierte er die Herausarbeitung klarer und allgemeiner Regeln bei der Auslegung des Rechts: „It is rare, however, that even the most vague and general text cannot be given some precise, principled content – and that is indeed the essence of the judicial craft.“12 Nur so könne Rechtsstaatlichkeit sichergestellt werden: „The rule of law as a law of rules“.13 Die Entscheidungen des Gerichts sollten Rechtsklarheit schaffen und den Bürgerinnen und Bürgern ebenso wie anderen Gerichten klare Leitlinien der Anwendung bieten. Auch dieses Ansinnen schießt über den reinen Textualismus bereits hinaus. Scalias größtes Feindbild bei der Verfassungsauslegung war die Vorstellung von der Verfassung als „living document“. Unter diesem Schlagwort werden in den USA all jene Interpretationsvorstellungen zusammengefasst, die Veränderungen des Gehalts der Verfassung über die Zeit für grundsätzlich möglich halten. Es geht also um verfassungsrechtliche Vorstellungen, die die garantierten Grundrechte in ihrer jeweiligen Zeit anwenden und entsprechend im Zeitverlauf auch verändern wollen. Scalia wandte sich strikt dagegen: „The only good constitution is a dead constitution“.14 Ihm schien es zwingend, die Funktion der Richter*innen in einer Demokratie auf die Anwendung eines „fixed meaning“15 der Norm zu beschränken. Selbst für Normen, bei denen es schon vom Wortlaut her naheliegt, ihnen eine Entwicklungsoffenheit zuzuschreiben, wollte Scalia den Weg einer zeitgebundenen Interpretation gleichwohl nicht gehen. Angeboten hätte sich dies etwa beim 8. Amendment, welches „cruel and unusual punishment“ verbietet. Dieses Grundrecht hätte – ohne im Geringsten über seinen Wortlaut hinauszugehen – so gedeutet werden können, dass die Beurteilung, was als „grausame und unübliche Strafe“ gilt, im Kontext der jeweiligen Zeit vorzunehmen wäre. Doch Scalia wies ein solches Verständnis des 8. Amendments mit einem klassischen „slippery slope“ Argument16 zurück: Wenn man eine solche Entwicklungsoffenheit beim 8. Amendment anerkenne, könne man dies mit dem gleichen Recht auch für andere Normen, wie etwa „equal protection of the law“ oder die Garantie des „due process“ übernehmen. Ein Originalist, der diesen Weg mitgehe – Scalia bezeichnete solche Originalisten als „fainthearted“ –, sei von einem moderaten Nicht-Originalisten nicht mehr zu unterscheiden.17 Obwohl Scalia sich weiterhin für eine originalistische Deutung stark machte, signalisierte er Ende der 1980er Jahre, dass er sich in bestimmten Konstellationen möglicherweise doch als „fainthearted originalist“ erweisen könnte. Als Beispiel nannte er die Einführung des Auspeitschens als Strafe, die er – obwohl bei der Schaffung der
Scalia, Originalism: The Lesser Evil, 57 U. Cinn. L. Rev. (1988/89), 849, 856. Scalia (Fn. 10), 1183. 13 Scalia (Fn. 10). 14 Murphy, Justice Antonin Scalia and the ‘Dead’ Constitution, http://www.nytimes.com/2016/ 02/15/opinion/justice-antonin-scalia-and-the-dead-constitution.html (1.11.2016). 15 Scalia (Fn. 11), 854. 16 Übersetzt: schlüpfriger Abhang. 17 Scalia (Fn. 11), 862. 11
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Verfassung üblich – wohl auch für verfassungswidrig erklären würde.18 In neuerer Zeit freilich wies er diese – viel zitierte – Selbstbeschreibung allerdings ausdrücklich zurück: Wenn ein Einzelstaat das Auspeitschen als Strafe einführen würde, sei dies zwar äußerst dumm, aber nicht verfassungswidrig.19 Scalias Methode gilt als sein großes Vermächtnis. Selbst Personen, die ihm (politisch und methodisch) nicht nahestehen, erkennen an, dass er mit seinen drastischen methodischen Positionen den juristischen Diskurs in Amerika durchgreifend verändert hat.20 Elena Kagan, eine von Präsident Obama ernannte Richterin am Supreme Court, erklärte in einem Interview: „We are all textualists now“.21 In der Tat haben die „Originalisten“ in den USA dazu beigetragen, dass das Interesse an historischen Entwicklungen und Bedingungen der Verfassung zugenommen hat. Auch haben sich die Argumente, die vor dem Supreme Court vorgetragen wurden, verändert, weil jetzt historische Argumente eine bedeutendere Rolle spielen. Doch reicht diese Veränderung bereits, um Scalia zum ganz Großen zu erklären? Dagegen spricht schon, dass Scalia nicht der Einzige ist, der zu dem „originalistic turn“ beigetragen hat. Clarence Thomas etwa, ein noch konservativerer Supreme Court Richter als Scalia, ist ebenfalls ein Anhänger des Originalismus – und wendet diesen in manchen Fällen noch strikter an.22 Zudem finden sich unter dem Oberbegriff „originalist“ viele verschiedene Varianten des Originalismus, auch jenseits der „fainthearted“ Version.23 Insbesondere hat sich inzwischen auch eine liberale Variante des originalism herausgebildet, die sich von der Fixierung auf frühere gesellschaftliche Gegebenheiten entfernt und gerade die Veränderung und Entwicklung als Teil des ursprünglichen Gemeint-Seins mit einbezieht.24 Angesichts der umfangreichen deutschen Diskussion um Methodenfragen mutet diese ganze Debatte einigermaßen merkwürdig an: Sollte es bei der Auslegung von Gesetzen nicht selbstverständlich sein, dass der Wortlaut einer Norm bei der Auslegung eine wichtige Rolle spielt? Dass „textualism“ in den USA als ein neuer Trend gilt, mag den Unterschieden zwischen kontinentaler und anglo-amerikanischer Rechtstradition geschuldet sein. Das kontinentale Recht, seit langem an Kodifikationen orientiert, hat sich im Gegensatz zum anglo-amerikanischen common law schon immer mit der Frage des Wortlauts von Normen auseinandersetzen müssen. Im common law stand dagegen die Gesetzesauslegung traditionell nicht im Fokus methodischer Debatten. Scalia (Fn. 11), 864. Scalia in einem Interview aus dem Jahr 2013: http://nymag.com/news/features/antonin-scalia2013-10/ (1.11.2016). 20 Siehe etwa Bennett/Solum, Constitutional Originalism, 2011; Fleming, Are We All Originalists Now? I Hope Not!, 91 Tex. L. Rev. (2013), 1785 ff. 21 Kagan/Manning, The Scalia Lecture: A Dialogue With Justice Elena Kagan on the Reading of Statutes, https://www.youtube.com/watch?v=dpEtszFT0Tg (1.11.2016). Das Zitat findet sich bei Minute 8:30. 22 Für einen Vergleich der unterschiedlichen originalistischen Ansätze von Scalia und Thomas siehe Rossum, Clarence Thomas’ Originalist Understanding of the Interstate, Negative, and Indian Commerce Clauses, 88 U. Det. Mercy L. Rev. (2011), 769, 770 ff. 23 Siehe dazu etwa: Berman, Originalism Is Bunk, 84 N.Y.U. L. Rev. (2009), 1 ff. 24 Siehe etwa: Amar, America’s Constitution: A Biography, 2010; ders., America’s Unwritten Constitution: The Precedents and Principles We Live By, 2012. 18
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Das Beharren auf einer vermeintlich fixen Bedeutung des Wortlauts ist jedenfalls nichts gänzlich Neues – erinnert sei an Montesquieus Rede vom Richter als dem Mund des Gesetzes: „la bouche, qui prononce les paroles de la loi“ oder den Versuch Friedrichs II., die Auslegung des Preußischen Allgemeinen Landrechts zu monopolisieren. Doch ist die Diskussion um die Auslegung von Texten spätestens seit Gadamers Überlegungen zur Hermeneutik über die Vorstellung eines eindeutigen, fixen und unveränderlichen Sinnes von Worten längst hinausgegangen. Es gehört inzwischen in Deutschland (fast) zum Gemeingut anspruchsvoller Methodenuntersuchungen, die sich je neu herstellende Beziehung zwischen Text und Interpreten zu reflektieren. Texte sind nicht über alle Zeit unveränderlich, sondern stets abhängig vom jeweiligen Kontext und Interpreten.
2. Methode und konservative Agenda Scalia begründet seine Methode des originalism ausschließlich mit Reflexionen über die angemessene Rolle von Richtern in der Demokratie. Bei seiner Anhörung vor dem Senat hatte er ausdrücklich versprochen, dass er keine Agenda habe: „I assure you, I have no agenda. I am not going onto the Court with a list of things that I want to do. My only agenda is to be a good judge.“25 Im Ergebnis war Scalia aber bei (fast – dazu sogleich) allen großen Entscheidungen zu stark politisierten Themen auf der konservativen Seite:26 Er war gegen die grundrechtliche Anerkennung eines Rechts auf Schwangerschaftsabbruch (mit der Konsequenz, die Leitentscheidung Roe v. Wade zu verwerfen),27 gegen die Entkriminalisierung homosexueller Handlungen,28 gegen die Anerkennung einer gleich geschlechtlichen Ehe,29 gegen affirmative action, also Regelungen zur Förderung der Chancengleichheit, insbesondere von Schwarzen im Bildungssystem,30 gegen die bundesrechtliche Überprüfung der Wahlgesetze bestimmter Einzelstaaten, um zu verhindern, dass der Zugang von Schwarzen zum Wahlrecht beschränkt wurde,31 gegen „Obamacare“, d.h. eine gesetzliche Krankenversicherungspflicht,32 25 Zitiert nach Biskupic, American Original: The Life and Constitution of Supreme Court Justice Antonin Scalia, 2009, 113. 26 Einen guten Überblick gibt der von Ring herausgegebene und editierte Band mit Auszügen aus Scalia’s Meinungen und Sondervoten: Scalia’s Court: A Legacy of Landmark Opinions and Dissents, 2016. 27 Siehe etwa: Webster v. Reproductive Health Services, 492 U.S. 490 (1989) (Scalia, J., concurring in part and concurring in the judgement); Planned Parenthood of Southeastern Pennsylvania v. Casey, 505 U.S. 833 (1992) (Scalia, J., concurring in the judgement in part and dissenting in part); Stenberg v. Carhart, 530 U.S. 914 (2000). 28 Lawrence v. Texas, 539 U.S. 558 (2003). 29 Obergefell v. Hodges, 576 U. S. _ (2015). 30 Richmond v. J. A. Croson Co., 488 U.S. 469 (1989) (Scalia, J., concurring in the judgment); Adarand Constructors, Inc. v. Pena, 515 U.S. 200 (1995) (Scalia, J., concurring in part and concurring in the judgment); Grutter v. Bollinger, 539 U.S. 306 (2003) (Scalia, J., concurring in part and dissenting in part). 31 Shelby County v. Holder, 133 U.S. 2612 (2013). 32 National Federation of Independent Business v. Sebelius, 132 S.Ct. 2566 (2012).
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gegen die Regulierung der Wahlkampffinanzierung,33 für die Rechte der Waffenbesitzer,34 für die Todesstrafe auch bei Minderjährigen35 und geistig Behinderten36, und er trug dazu bei, George W. Bush Jr. die Präsidentschaft zu sichern.37 Es ist kein Zufall, dass Scalias Variante von originalism nicht nur gut zu seinem konservativen Programm passt. Sie ist geradezu strukturell darauf angelegt, einer konservativen Agenda verfassungsrechtlich zum Durchbruch zu verhelfen. Eine Ausrichtung der Verfassungsauslegung an den gesellschaftlichen Praktiken des ausgehenden 18. Jahrhunderts kann kein anderes Ergebnis zeitigen, als zur Verfestigung und Stärkung der traditionellen gesellschaftlichen Verhältnisse zu führen. Alle (rechtlichen und sozialen) Regeln, die zu dieser Zeit existierten, können Scalia zufolge verfassungsrechtlich auch zweihundert Jahre später nicht angegriffen und verändert werden. Hingegen können legislative Reformvorhaben jedenfalls dann verfassungsrechtlich untersagt werden, wenn sie in Rechte der damals dominierenden Gruppen eingreifen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Reformvorhaben auf den Schutz von bisher von der Rechtsordnung ignorierten Interessen zielten. Scalias Programm läuft folglich darauf hinaus, jene an der Macht zu halten, die es bisher schon waren, und all jene vom Schutz des Rechts auszuschließen, die nicht schon bei der Verfassungsgebung unter seinem Schutze standen. Diese strukturell konservativen Eigenschaften der von Scalia propagierten Methode wirken sich besonders stark aus im Streit darüber, welche Rechte in den USA überhaupt verfassungsrechtlich garantiert sind. Scalia leugnet jede Möglichkeit, unbenannte Freiheitsrechte anzuerkennen. Sein Beharren, dass nur diejenigen Rechte verfassungsrechtlich garantiert sind, welche die Verfassung explizit garantiert, passt zu seiner politischen Grundhaltung in vielen, von Konservativen seit langem angegriffenen Positionen. Während das Recht auf Waffenbesitz (right to bear arms) im 2. Amendment ausdrücklich garantiert ist, fehlt eine explizite Anerkennung des Rechts auf Privatheit (right to privacy). Versagt man – aufgrund von originalism – einem solchen Recht aber die Anerkennung, ist die seit über fünfzig Jahren etablierte Rechtsprechung zu reproduktiven Rechten hinfällig.38 Auch ein weiteres Hauptärgernis der Konservativen, zumal katholischer, nämlich die Entscheidung Roe v. Wade,39 die Frauen ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch zuerkannte, lässt sich mit der Begründung, dass ein Recht auf Privatheit in der ursprünglichen Verfassung nicht anerkannt gewesen sei, als falsch brandmarken und verwerfen. Bei einem solchen Verständnis von originalism fehlt darüber hinaus die verfassungsrechtliche Grundlage für Diskriminierungsbekämpfung. Gerade die Garantie der Gleichheit ist notwendig entwicklungsoffen. Gedankliche Grundlage der amerika Citizens United v. Federal Election Commission, 558 U.S. 310 (2010). District of Columbia v. Heller, 554 U.S. 570 (2008) (Scalia, J., delivering the opinion of the court). 35 Thompson v. Oklahoma, 487 U.S. 815, 859 (1988) (Scalia, J., dissenting); Stanford v. Kentucky, 492 U.S. 361 (1989) (Scalia, J., delivering the opinion of the court in part and joining an opinion in part); Roper v. Simmons, 543 U.S. 551 (2005) (Scalia, J., dissenting). 36 Atkins v. Virginia, 536 U.S. 304 (2002) (Scalia, J., dissenting). 37 Bush v. Gore, 531 U.S. 98 (2000). 38 Begründet wurde diese Rechtsprechung zum right to privacy mit der Entscheidung Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479 (1965). 39 410 U.S. 113 (1973). 33
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nischen Verfassung ist die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mit ihrem berühmten Satz: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.” Obwohl sich dieses Versprechen seinem Wortlaut nach an alle Menschen richtete, waren damals nur weiße Männer tatsächlich gemeint und erfasst. Reduziert man Gleichheit auf die damaligen sozialen Praktiken, ist offensichtlich, dass das Versprechen der Gleichbehandlung für andere Personengruppen gerade nicht eingelöst wird. Zwar ist der Gleichheitssatz in der amerikanischen Verfassung mit dem 14. Amendment (ohnehin) erst 1868 im Rahmen der Reconstruction nach dem amerikanischen Bürgerkrieg der Verfassung hinzugefügt worden, so dass auch Anhänger der originalistischen Methode die Artikel in der ursprünglichen Verfassung, die Sklaverei anerkennen, nicht mehr zur Grundlage ihrer Rechtsprechung machen müssen. Frauen, Homosexuellen und Behinderten freilich nützt dies nichts. Denn ihre Emanzipationsbewegungen fanden erst im Laufe des 20. Jahrhunderts statt und haben bislang keinen textlichen Niederschlag in der Verfassung gefunden.40 Die Weigerung, Gleichheit als dynamisches Konzept zu begreifen, verhindert eine verfassungsgerichtliche Verarbeitung dieser Entwicklungen. Unabhängig davon, wie intensiv die Kontrolldichte bei einer Gleichheitsprüfung ist, verlangen Gleichheitsrechte ihrer Struktur nach hinreichende Gründe für eine Ungleichbehandlung. Wenn aber die Akzeptanz von Gründen auf dem Stand von vor zweihundert Jahren eingefroren wird, kann eine Gleichheitsprüfung nicht mehr sinnvoll durchgeführt werden. Denn jede damals existierende Praxis erscheint automatisch als gerechtfertigt. Diskriminierung wird verfassungsrechtlich immunisiert, diskriminierende Zustände von vor zweihundert Jahren in der Gegenwart petrifiziert. Eine parallele Problematik zeigt sich bei Freiheitsrechten. Dies gilt vor allem für Freiheitsrechte, die früher wegen Verstößen gegen die Sittlichkeit oder die öffentliche Ordnung beschränkt wurden. Man denke etwa an die Kriminalisierung männlicher Homosexualität. Auch hier verhindert Scalias originalism eine „normale“ verfassungsrechtliche Prüfung. Originalism schneidet die zu führende Debatte darüber ab, welche Gründe eine Freiheitsbeschränkung rechtfertigen.
3. Konsistenz der Anwendung der Methode Für das Selbstbild als Richter, der sich nicht von seinen „geistigen, moralischen und persönlichen Vorstellungen“, sondern allein von „Text und Tradition der Verfassung“41 leiten lässt, ist es nun aber besonders bedeutsam, dass es doch einige Entscheidungen gibt, in denen Scalia abweichend von der konservativen Agenda entschied. In der Tat: Einige – wenn auch nur wenige – Entscheidungen dieser Art lassen sich finden. Sie sind zumeist im Bereich von Rechten gegenüber der Justiz42 und der Mei40 Das Equal Rights Amendment zugunsten der Gleichbehandlung von Frauen wurde zwar vom Kongress angenommen, scheiterte aber, weil nicht genügend Einzelstaaten zustimmten. 41 Callins v. Collins, 510 U.S. 1141 (1994). 42 Siehe beispielsweise: Maryland v. Craig, 497 U.S. 836 (1990), Scalia’s Dissent wurde von den liberalen Richtern Brennan, Marshall und Stevens mitgetragen.
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nungsäußerungsfreiheit angesiedelt. Hier zeigt sich Scalia liberaler als viele Konservative. Heftige Diskussionen löste etwa die Entscheidung Texas v. Johnson aus.43 Johnson hatte aus Protest gegen die amerikanische Außenpolitik eine amerikanische Flagge öffentlichkeitswirksam verbrannt und war wegen Entweihung eines geehrten Gegenstandes verurteilt worden. Scalia stimmte mit der Mehrheit, um die Verurteilung von Johnson aufzuheben.44 In öffentlichen Vorträgen nannte Scalia diese Entscheidung als Beispiel, um seine Methodentreue zu demonstrieren. Er habe nichts übrig für „scruffy, bearded, sandal-wearing people who go around burning the United States flag”:45 „Trust me, I did not like to not put Mr. Johnson in jail […] But I was handcuffed. I couldn’t help it.“46 Eindeutig sind die Belege für die Konsistenz Scalias bei der Anwendung seiner Methode indes nicht. Kritiker werfen Scalia vor, in einigen Fällen ein zur konservativen Programmatik passendes Ergebnis überhaupt nur dadurch erreicht zu haben, dass er seine Methode nicht konsequent anwandte. Dem wird wiederum entgegengehalten, das Ergebnis sei von Scalias Methode gerade vorgezeichnet.47 Der Streit kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht im Einzelnen vertieft werden. Doch ein Beispiel sei zur Illustration genannt: Scalias Position zu affirmative action. Scalia verabscheute Fördermaßnahmen zugunsten benachteiligter Gruppen. In großer Klarheit formulierte er: „To pursue the concept of racial entitlement – even for the most admirable and benign of purposes – is to reinforce and preserve for future mischief the way of thinking that produced race slavery, race privilege and race hatred. In the eyes of government, we are just one race here. It is American.“48 Diese Auffassung mag seinem Verständnis von Gleichheit entsprechen, doch den Vorstellungen des 14. Amendments zur Zeit von dessen Erlass entspricht sie nicht. Das 14. Amendment wurde nach dem Bürgerkrieg eingeführt, um zusammen mit dem 13. und 15. Amendment die Diskriminierung von Schwarzen zu beenden. Ein Schutz von Weißen war – nach damaligen Vorstellungen – sicher nicht beabsichtigt.49 Es gibt also durchaus Anlass, an Scalias Methodentreue zu zweifeln: Das politisch gewollte Ergebnis spielte offensichtlich doch eine Rolle.
4. Relevanz ausländischer Gerichtsurteile Scalia war auch intensiv beteiligt an der Debatte über die Legitimität der Heranziehung von Entscheidungen anderer (Verfassungs-)Gerichte in der Rechtsprechung des Supreme Court. Das zeigt seine abweichende Meinung im Fall Lawrence v. Texas.50 Texas v. Johnson, 491 U.S. 397 (1989). Texas v. Johnson, 491 U.S. 397 (1989). 45 Nachweis bei Ring (Hg.) (Fn. 26), 14. 46 Nachweis bei Murphy (Fn. 9 ), 163. 47 Ring (Hg.) (Fn. 26), 12 f.; ausführlich mit zahlreichen Nachweisen zu Kritiken Zlotnick, Justice Scalia and His Critics: An Exploration of Scalia’s Fidelity to His Constitutional Methodology, 48 Emory L. J. (1999), 1377 ff. 48 Adarand Constructors, Inc. v. Peña, 515 U.S. 200 (1995), 239 (Scalia, J., concurring). 49 Siehe etwa: Post, Justice for Scalia, http://www.nybooks.com/articles/1998/06/11/justice-forscalia/ (1.11.2016). 50 539 U.S. 558 (2003). 43
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Diese Entscheidung hob ein Gesetz auf, welches homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte. Scalia war über diese Entscheidung offensichtlich sehr verärgert, war doch – nur 17 Jahre zuvor – die Straf barkeit noch für verfassungskonform erklärt worden.51 In der Entscheidung Lawrence v. Texas, von Richter Kennedy verfasst, war unter anderem darauf hingewiesen worden, dass auch in anderen Ländern Homosexualität nicht länger straf bar sei. Das öffentliche Interesse, die persönliche Freiheit zu beschränken, sei in den USA nicht legitimer oder dringlicher als in diesen anderen Ländern. Diese Bezugnahme auf andere Gerichte veranlasste Scalia zu einem beißenden Sondervotum: „Constitutional rights do not spring into existence, … as the Court seems to believe, because foreign nations decriminalize conduct. … The Court’s discussion of these foreign views (ignoring, of course, the many countries that have retained criminal prohibitions on sodomy) is therefore meaningless dicta. Dangerous dicta, however, since ‚this Court … should not impose foreign moods, fads, or fashions on Americans.‘“52 In der Frage der Berücksichtigung rechtsvergleichender Argumente ist der Supreme Court tief gespalten.53 Viele Richterinnen und Richter haben sich öffentlich zu Wort gemeldet und Scalias Position zurückgewiesen, darunter Stephen Breyer,54 Anthony Kennedy55 und Ruth Bader Ginsburg.56 Auch wenn Einigkeit darüber besteht, dass die Entscheidungen ausländischer Verfassungsgerichte oder internationaler Menschenrechtsgerichtshöfe keine unmittelbar bindende Wirkung haben, so erscheint diesen Richterinnen und Richtern doch die Auseinandersetzung mit anderen Gerichtshöfen, die bei Grund- und Menschenrechten ähnliche Fragestellungen zu bewältigen haben, nicht nur legitim, sondern hilfreich. Scalia sieht das entschieden anders. Scalias Position kann angesichts seiner methodischen Ausgangsposition als Originalist kaum überraschen. Da für ihn bei der Verfassungsauslegung ausschließlich die Vorstellungen der amerikanischen Gesellschaft zur Zeit der Verfassungsgebung eine Rolle spielen, interessieren ihn schon die Entwicklungen der amerikanischen Gesellschaft nicht. Da nimmt es kaum Wunder, dass ihn der Rest der Welt noch viel weniger interessiert – mit einer Ausnahme: Altes englisches Recht ist für Scalia von Interesse, insoweit es sich auf die Schaffung der Verfassung auswirkte.57
Bowers v. Hardwick, 478 U.S. 186 (1986). Lawrence v. Texas, 569 U.S. 558 (2003), 598 (Scalia, J., dissenting). Das Zitat innerhalb des Zitats nimmt eine Formulierung von Thomas auf: Foster v. Florida, 537 U.S. 990, n. (2002) (Thomas, J., concurring in denial of certiorari). 53 Eine parallele Diskussion wird auch in Deutschland geführt: siehe etwa die gegensätzlichen Positionen von der Richterin des Bundesverfassungsgerichts Baer JöR 63 n.F. (2015), 389 ff. und dem ehemaligen Richter des Bundesverfassungsgerichts Bryde JöR 64 n.F. (2016), 431 ff. einerseits sowie Hillgruber JöR 63 n.F. (2015), 367 ff. (parallel zu Scalia) andererseits. 54 Breyer, The Court and the World: American Law and the New Global Realities, 2015, 253 ff. 55 Siehe etwa: Roper v. Simmons, 543 U.S. 551 (2005) (Kennedy, J., delivering the opinion of the court); Graham v. Florida, 560 U.S. 48 (2010) (Kennedy, J., delivering the opinion of the court). 56 Ginsburg, Looking Beyond Our Borders: The Value of a Comparative Perspective in Constitu tional Adjudication, 22 Yale L. & Pol’y Rev. (2004), 329, 332. 57 Scalia, Foreign Legal Authority in the Federal Courts, 98 Am. Soc’y Int’l. L. Proc. (2004), 305, 306 f. 51
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Im politischen Raum ist Scalias Auffassung auf Begeisterung bei nationalistischen Strömungen gestoßen. Die Debatte führte gar zu einem Gesetzentwurf, welcher Richtern die Nutzung ausländischer Rechtsprechung explizit untersagen sollte.58 Sollte sich Scalias Position durchsetzen, verabschiedet sich der U.S. Supreme Court allerdings aus der inzwischen global geführten Diskussion um Grund- und Menschenrechte. Wenn der Supreme Court in keiner Weise die Überlegungen anderer Gerichte berücksichtigt, darf er sich nicht wundern, wenn auch diese den Supreme Court nicht mehr berücksichtigen. Bedauerlich für ein Gericht, welches das Konzept von Verfassungsgerichtsbarkeit mit seiner grundlegenden Entscheidung Marbury v. Madison 59 erst begründete.
II. Stilfragen Beim Umgang mit aller Macht, auch der richterlichen, geht es nicht nur um Ergebnisse, sondern auch um Formen. Deswegen stellt sich zum einen die Frage, inwieweit Scalia sich in das Kollegialorgan Gericht einordnete (1.), zum anderen wird der Ton untersucht, in dem er seine dissents und concurring opinions abgefasst hat (2.).
1. Teamplayer? Scalia war jemand, der gern auf der Bühne stand; bereits in der Theater-AG seiner Schule hatte er – offenbar sehr erfolgreich – die Rolle von Macbeth übernommen.60 Er war, so heißt es, ein begnadeter Entertainer: witzig, pointiert, schnell.61 Er wurde als der witzigste Richter des Supreme Court bezeichnet, unter anderem weil er – mit großem Abstand – am meisten Gelächter in mündlichen Verhandlungen des Gerichts hervorrief.62 Doch dies ist zwiespältig, häufig gingen die Witze auf Kosten Anderer. Er gilt vielen als „Meister des Wortes“.63 Seine schriftlichen Voten – seien es Aufsätze oder Meinungen als Richter – sind unterhaltsam zu lesen. Sie spitzen Argumente zu, bringen Fragen auf den Punkt, fast immer lässt sich eine, so lesen es die meisten offensichtlich, besonders gelungene Formulierung finden. Biographisch lassen sich diese besonderen Fähigkeiten von Scalia mit seinem Engagement im Debattierclub während seines Studiums in Verbindung bringen. In seiner Alma Mater wurde das Debattieren auf höchstem Niveau betrieben, Georgetown’s Philodemic Society ist 58 Ausführlich: Seipp, Our Law, Their Law, History and the Citation of Foreign Law, 86 B.U. L. Rev. (2006), 1417 ff; Goldstein, Foreign Law and Constitutional Interpretation: The Debate Behind the Diatribes, AEI Working Paper 157 (2009). 59 5 U.S. 137 (1803). In dieser Entscheidung sprach sich das Gericht erstmals selbst die Kompetenz zu, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. 60 Murphy (Fn. 9 ), 18. 61 Biskupic nennt in ihrer Biographie von Scalia (Fn. 26), 299 ff. ein ganzes Kapitel „Showman of the Bench“. 62 Wexler, Laugh Track, 9 Green Bag (2005), 59, 60; Malphurs, The Day the Laughter Died, http:// ssrn.com/abstract=2773026 (1.11.2016), 2 ff. 63 Ring (Hg.) (Fn. 26), 1 beschreibt Scalia als „verbal craftsman“ und verweist auf dessen „mastery of language and respect for words“.
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der älteste College-Debattierclub der USA. Scalia war dort äußerst erfolgreich und repräsentierte sein College in vielen landesweiten Wettbewerben.64 Doch diese hervorstechenden Begabungen Scalias führten im Rahmen seiner richterlichen Tätigkeit zu Friktionen. Richter und Richterinnen des Supreme Court sind Mitglieder eines Kollegialgerichts. Wer in diesem Kontext effektiv sein, d.h. einen Beitrag zur Erfüllung der der Institution gestellten Aufgabe leisten will, bedarf der Bereitschaft und Fähigkeit zur Zusammenarbeit und zum Kompromiss. Beides war Scalias Stärke nicht.65 Dabei hatte Scalia durchaus soziale Kompetenzen. Es gibt viele, die von seinem Charme schwärmen; auch innerhalb des Gerichts hatte er Freundschaften über Weltanschauungsgrenzen hinaus bilden können; immer wieder beschrieben ist etwa seine Freundschaft mit Ruth Bader Ginsburg.66 Doch sein Einstieg ins Gericht geriet eher holprig. Eine Biographie von Scalia formuliert dies so: „His good relations on the Court were undermined by his powerful ego, and his growing desire for public attention“.67 Dies zeigte sich schon in seiner ersten mündlichen Verhandlung. Mündliche Verhandlungen vor dem U.S. Supreme Court stehen – anders als die Verhandlungen vor dem Bundesverfassungsgericht – unter einem strikten zeitlichen Regime: Jeder Seite werden genau 30 Minuten Redezeit zugestanden; dies schließt die Fragen der Richter mit ein. Es war daher lange üblich, dass sich jeder Richter auf eine Frage beschränkte, allenfalls noch eine Nachfrage anschloss. Scalia meldete sich dagegen mit so vielen Fragen, dass Lewis Powell sich zu Thurgood Marshall beugte und ihm zuflüsterte: „Do you think he knows that the rest of us are here?“68 Scalia war auch wenig bereit, Kompromisse bei Formulierungen zu schließen, um mit anderen Richtern gemeinsam Meinungen zu verfassen.69 Ein früherer Law Clerk von Scalia berichtet, wie er Scalia vorschlug, einen dissent etwas abzumildern, um zwei weitere Richter für ein gemeinsames Sondervotum zu gewinnen. Scalia dachte darüber nach, verschärfte die Formulierungen und sagte: „Sometimes I just got to be me.” 70 Doch er wollte nicht nur „manchmal“, sondern wohl fast immer er selbst sein. Er verhielt sich so, als ob er allein das Gericht darstellte – „Scalia. A Court of One“, so der Titel einer seiner Biographien.71 Auch in anderer Hinsicht war Scalia kein Teamplayer in dem Sinne, dass er die Interessen des Gerichts über seine eigenen gestellt hätte. Bezeichnend ist etwa die „Entenjagd-Episode“ aus dem Jahr 2004.72 Scalia war zu einer Entenjagd in Louisiana eingeladen worden und hatte darum gebeten, auch seinen alten Freund, den damaligen Vizepräsidenten Dick Cheney, mitbringen zu dürfen. Mit Cheney reiste er Ausführliche Beschreibung bei Murphy (Fn. 9 ), 22 ff. Harsche Beschreibung seines Umgangsstils etwa auch bei Schultz/Smith, The Jurisprudential Vision of Justice Antonin Scalia, 1996, 208. 66 Siehe etwa Biskupic (Fn. 25), 256, 277, 304 f.; Murphy (Fn. 9 ), 450. 67 Murphy (Fn. 9 ), 137. 68 Jeffries, Justice Lewis F. Powell, Jr.: A Biography, 2001, 534. 69 Eine ausführliche statistische Analyse für die Zeit von 1994–2003, wie oft Scalia mit anderen Richtern gemeinsam entschied, findet sich bei Rossum, Antonin Scalia’ Jurisprudence: Text and Tradition, 2006, 168 ff. 70 Francisco (Fn. 5 ). 71 Murphy (Fn. 9 ). 72 Ausführlich geschildert von Murphy (Fn. 9 ), 298 ff.; Biskupic (Fn. 25), 252 ff. 64 65
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dann auch gemeinsam an Bord der Air Force Two an. Problematisch war dieses Verhalten, weil der Supreme Court kurz zuvor entschieden hatte, den Fall Cheney v. United District Court for the District of Columbia zur Entscheidung anzunehmen. Dass Scalia sich trotzdem nicht für befangen erklärte, löste eine erhebliche Kontroverse in der Öffentlichkeit aus, zumal es nicht das erste Mal gewesen war, dass Scalia mit Beteiligten (wohlgemerkt: nicht Prozessvertretern), deren anhängige Verfahren zur Entscheidung anstanden, gesellschaftlichen Umgang pflegte.
2. Ton Scalia war nicht nur wenig interessiert an Kompromissbildung mit den anderen Richterinnen und Richtern, sondern brachte einen völlig neuen Ton in den Umgang untereinander.73 Dies zeigt sich insbesondere in seinen abweichenden Meinungen. Es ist selbstverständlich, dass Sondervoten die Fehler der Mehrheitsentscheidung aufzeigen, möglicherweise gar aufspießen. Scalia ging darüber aber deutlich hinaus. Er wählte äußerst scharfe Worte und schreckte auch vor persönlichen Angriffen nicht zurück. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: In einem dissent warf er der Mehrheit schier private Subjektivität vor: „Seldom has an opinion of this Court rested so obviously upon nothing but the personal views of its Members“.74 Mit ähnlicher Schärfe begründete er in einem anderen Fall seine Entscheidung für ein Sondervotum damit, dass die Normen der Verfassung nicht bestimmt werden sollten „by the subjective views of five Members of this Court and like-minded foreigners“.75 Einer Entscheidung der Mehrheit sagte er in seinem Sondervotum voraus, sie werde „its rightful place“ zusammen mit den Entscheidungen „Korematsu“ und „Dred Scott“ einnehmen76 – den beiden allgemein zu den schlimmsten Entgleisungen des Gerichts gezählten Entscheidungen.77 Und Scalia konnte selbst in concurring opinions Schärfe entwickeln: „The outcome of today’s case will doubtless be heralded as a triumph of judicial statesmanship. It is not that, unless it is statesmanlike needlessly to prolong this Court’s self-awarded sovereignty over a field where it has little proper business, since the answers to most of the cruel questions posed are political, and not juridical – a sovereignty which therefore quite properly, but to the great damage of the Court, makes it the object of the sort of organized public pressure that political institutions in a democracy ought to receive.“78 Er verband dies mit persönlichen Angriffen gegen Richterin Sandra Day O’Connor, welche die Mehrheitsmeinung formulierte: Ihre Ausführungen „cannot be taken seriously“, Scalia nannte ihre Argumentation „irrational“ und den Kurs des Gerichtes „the least responsib73 Ein guter Überblick über zentrale Stellen in Scalias opinions und dissents findet sich in Ring (Hg.) (Fn. 26). 74 Atkins v. Virginia, 536 U.S. 304 (2002), 338 (Scalia, J., dissenting). 75 Roper v. Simmons, 543 U.S. 551 (2005), 2 (Scalia, J., dissenting). 76 Stenberg v. Carhart, 530 U.S. 914 (2000), 953. 77 Korematsu v. United States, 323 U.S. 214 (1944) billigte die Internierung japanischstämmiger Amerikaner im 2. Weltkrieg. Scott v. Sandford, 60 U.S. 393 (1857) anerkannte die Sklaverei und wird als ein Auslöser für den amerikanischen Bürgerkrieg angesehen. 78 Webster v. Reproductive Health Services, 492 U.S. 490 (1989), 532 (Scalia, J., concurring in part and concurring in the judgement).
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le“.79 Ein Argument von Justice Breyer verwarf er in einer weiteren concurring opinion als „gobbledy-gook“ (Kauderwelsch).80 Nicht umsonst gilt Scalia auch als der sarkastischste aller Richter.81 Insbesondere das Verhältnis zu den moderat konservativen Mitgliedern des Supreme Court, Sandra Day O’Connor und Anthony Kennedy, unterlag dadurch erheblichen Spannungen.82 Als Scalia 1986 an das Gericht kam, war dieses zwischen einem liberalen Block (Brennan, Marshall, Blackmun, Stevens) und einem konservativen (Rehnquist, White, O’Connor, Scalia) von je vier gespalten. Oft fungierte daher Lewis Powell, eigentlich auch eher konservativ ausgerichtet, da von Präsident Nixon ernannt, als „swing vote“.83 Als Powell 1987 ausschied und durch den von Präsident Reagan ausgewählten Anthony Kennedy ersetzt wurde, war erwartet worden, dass das Gericht nun noch klarer von einer konservativen Mehrheit dominiert würde. Doch so kam es nicht. Immer wieder fällte das Gericht überraschend liberale Entscheidungen.84 Der führende liberale Gegenspieler in dieser Anfangszeit, Brennan, war berühmt dafür, auch ungewöhnliche Mehrheiten schmieden zu können. Es wird berichtet, dass Brennan gegenüber seinen Mitarbeitern immer wieder die fünf Finger einer Hand hob, um zu zeigen, dass man fünf Stimmen brauchte.85 Dieses zielgerichtete Bemühen um Mehrheiten leistete Scalia nicht. Manche werfen ihm daher vor, dass er Chancen vergab, tatsächlich Ergebnisse zu beeinflussen.86 Es gibt gute Gründe, weshalb ein Ton in richterlichen Entscheidungen üblicherweise gedämpft wird. Zum einen ist es in einem Kollegium, in dem man intensiv und über viele Jahre mit den anderen zusammenarbeitet, schlicht adäquat, persönliche Angriffe so weit wie möglich zu unterlassen: Beleidigungen sind der Zusammenarbeit nicht dienlich. Aber es geht nicht nur um die Arbeitsatmosphäre. Die heftigen Worte transportieren ungebremste Aggression. Für richterliches Entscheiden ist aber nüchternes Abwägen der modus operandi. Argumente sollen wegen ihres Inhalts überzeugen, nicht wegen ihrer Sprachgewalt verletzen.
3. Fazit Ist Scalia nun als großer Richter anzusehen? Hier stellt sich das Problem, Kriterien dafür zu benennen, was eigentlich einen großen Richter ausmacht.87 Nach einem Webster v. Reproductive Health Services, 492 U.S. 490 (1989), 532, 537 (Scalia, J., concurring in part and concurring in the judgement). 80 Glossip v. Gross, 576 U.S. _ (2015), 2 (Scalia, J., concurring). 81 Hasen, The Most Sarcastic Justice, University of California Legal Studies Research Paper 2015-11 (2015). 82 Murphy (Fn. 9 ), 173 ff.; Rosen, The Supreme Court: The Personalities and Rivalries That Defined America, 2007, 199. 83 Seit 2006 gilt Kennedy als swing vote im Supreme Court, Baum, The Supreme Court, 12th Ed., 2016, 132. 84 Savage, Turning Right: The Making of the Rehnquist Supreme Court, 1992, 305 ff. 85 Stern/Wermiel, Justice Brennan: Liberal Champion, 2010, 278. 86 Rosen (Fn. 82), 199; Murphy (Fn. 9 ), 221. 87 Sunstein, Constitutional Personae, 2015 entwickelt eine Typologie von Verfassungsrichtern und nennt dabei auch den „Helden“. Ein Held ist für Sunstein der Richter, der Gesetze oder anderes Han79
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Sokrates zugeschriebenen Zitat gehören vier Eigenschaften zu einem Richter: „höflich anzuhören, weise zu antworten, vernünftig zu erwägen und unparteiisch zu entscheiden.“88 Die Eigenschaften dieser Definition verfehlt Scalia: Höflichkeit und Weisheit waren nicht seine Sache, und an der Unparteilichkeit sind zumindest Zweifel anzumelden, wenn jemand als heldenhafter Führer einer bestimmten weltanschaulich-politischen Position verehrt wird. Vermutlich wird größere Einigkeit erzielt, wechselt man – in typischer Juristen-Manier –, die Perspektive und stellt nicht auf eine positive Definition, sondern auf Ausschlusskriterien ab. Ein großer Richter oder eine große Richterin kann dann nur sein, wer die Rolle der Mitgliedschaft in einem Kollegialgericht annimmt. Genau dies hat Scalia aber nicht getan: Er war kein Teamplayer. Scalia genoss es, im Mittelpunkt zu stehen, zu provozieren und zu polarisieren. Daher lesen sich seine dissents und concurring opinions auch eher so, als wären sie für die Nachwelt geschrieben, nicht für die Gegenwart (in der er die Kolleginnen und Kollegen im Gericht ja gerade nicht von seiner Position hatte überzeugen können). Es erweckt den Anschein, als ob sie geradezu mit dem Ziel verfasst worden sind, in Auszügen in den in den USA in der Lehre verwandten case-books89 aufgenommen zu werden, um Wirkung erst bei künftigen Generationen von Jurastudierenden zu entfalten. Der Rollenwechsel vom Wissenschaftler und akademischen Lehrer zum Richter ist Scalia nicht gelungen. Er war wohl doch in allererster Linie ein großer Provokateur,90 kein großer Richter.
III. Verfassungsrichter*innen als öffentliche Person – vergleichende Anmerkungen Aus deutscher Perspektive ist es verwunderlich, dem Tod eines Verfassungsrichters eine so entscheidende Rolle in der politischen Geschichte des Landes zuzumessen, wie es der englische Guardian tat, als er Scalias Tod zu einem „major turning point in American political history“ erklärte.91 Das Ausmaß der Beschäftigung mit einzelnen Verfassungsrichtern ist in Deutschland weit geringer ausgeprägt (1.). Da Deutschland häufig Entwicklungen in den USA mit einer Verspätung von einigen Dekaden durchläuft, fragt sich, ob eine ähnliche Entwicklung in Deutschland einsetzen könnte oder ob dies unterschiedliche institutionelle Rahmenbedingungen auch künftig verhindern (2.). deln des Staates für verfassungswidrig erklärt (S. 5 ff ). Daher spricht er Scalia auch „heroic moments and tendencies“ zu (S. 8 ). Doch diese Definition des Helden-Richters ist zu formal, um weiterzuhelfen. 88 Der Ursprung des Zitates ist unbekannt, wird in den USA aber häufig zitiert, s. z.B. David, Four Things: Socrates and the Indiana Judiciary, 46 Indiana L. Rev. 2013, 871. 89 In amerikanischen Law Schools sind case-books das wichtigste Unterrichtsmaterial. Ein Case-Book enthält (kurze) Auszüge aus Entscheidungen, die vom Autor mit Anmerkungen und Fragen versehen werden. 90 Tribe, The Legacy of Antonin Scalia, https://www.bostonglobe.com/opinion/2016/02/17/ the-legacy-antonin-scalia-unrelenting-provoker/mH40dhHDvEPXCzyXCLf xqI/stor y.htm l (1.11.2016) bezeichnete ihn als „the unrelenting provoker“. 91 Hodgson, Antonin Scalia obituary, https://www.theguardian.com/us-news/2016/feb/15/anto nin-scalia-obituary (1.11.2016).
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1. Tatsächliches: unterschiedliche Wahrnehmung von Verfassungsrichter*innen Die Bedeutung, die einzelnen Mitgliedern des U.S. Supreme Court in den USA zugeschrieben wird, kann kaum überschätzt werden. Sogar im Präsidentschaftswahlkampf spielt die Besetzung des Supreme Court eine erhebliche Rolle. Beispielsweise erklärte John Boehner, der 2015 zurückgetretene Sprecher des Repräsentantenhauses: „The biggest impact any president can have on American society and on the American economy is who’s on that court.”92 Für Boehners Wahlentscheidung ist daher ausschlaggebend, dass die Vorstellungen des Präsidentschaftsbewerbers Trump bei der Auswahl der Richter den seinen näherkämen als die der demokratischen Konkurrentin Hillary Clinton, obwohl er von Trumps sexistischen Äußerungen „angewidert“ sei – und ihm auch politisch nicht sehr nahe steht. Die Beschäftigung der amerikanischen Öffentlichkeit mit den Mitgliedern des U.S. Supreme Court ist aber nicht auf die Frage beschränkt, wer künftig als Verfassungsrichter fungieren soll. Die amerikanische Öffentlichkeit ist auch von den amtierenden Richterinnen und Richtern des Supreme Court äußerst fasziniert. Ihre Persönlichkeiten, Interessen und Auffassungen werden aufs Genaueste analysiert. Die – äußerst zahlreichen – Bücher über den Supreme Court werden weit rezipiert und erreichen über die Wissenschaftsgemeinschaft hinaus die interessierte Öffentlichkeit.93 Ein Klassiker über das Geschehen „inside the Supreme Court“ – so der Untertitel – ist das Buch „The Brethren“ von Bob Woodward und Scott Armstrong aus dem Jahre 1979, welches zum Bestseller wurde und auch in diesem Jahrtausend wieder neu aufgelegt worden ist.94 Die Bedeutung der einzelnen Personen zeigt sich auch in der Art der Historisierung des Gerichts.95 In den USA ist es üblich, die Beschäftigung mit dem Gerichtshof in zeitliche Phasen zu unterteilen, benannt nach dem jeweiligen Chief Justice: So wird geschrieben über den Rehnquist-Court96 oder Roberts-Court,97 um die letzten beiden zu nennen. Hinzu kommen Biographien über einzelne Richterinnen und Richter, teils auch Autobiographien. Aber auch ungewöhnlichere Formate haben ihren Platz. Die Mitglieder des U.S. Supreme Court sind Thema satirischer Darstellungen; bekannt ist etwa die Darstellung einer mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof durch den britischen, in den USA wirkenden Comedian John Oliver, in der jeder Richter durch einen Hund verkörpert wird (Scalia bezeichnenderweise durch eine Bulldogge).98 Käuflich zu erwerben sind Papierpuppen der Richterinnen und Richter, inklusive verschiedener Kleidungsstücke 92 Berman, Why the Supreme Court Matters More to Republicans than Trump, http://www.theatlantic.com/politics/archive/2016/10/why-the-supreme-court-matters-more-to-republicans-thantrump/504038/ (1.11.2016). 93 In Deutschland finden sich nur wenige Versuche einer ähnlichen Gattung, s. etwa: Lamprecht, Ich gehe bis nach Karlsruhe, 2011; Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, 2010. 94 Neue Paperback Edition von Simon & Schuster, 2005. Auch das Buch von Toobin, The Nine: Inside the Secret World of the Supreme Court, 2007 schaffte es mehrere Monate auf die Bestseller-Liste der New York Times. 95 Die starke Personalisierung tritt auch deutlich hervor in dem Buch von Rosen, The Supreme Court, dessen Untertitel lautet: „The Personalities and Rivalries That Defined America“. 96 Siehe etwa: Savage (Fn. 84). 97 Siehe etwa: Coyle, The Roberts Court: The Struggle for the Constitution, 2014. 98 https://www.youtube.com/watch?v=f J9prhPV2PI (1.11.2016).
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und Accessoires für ihre bekannten Hobbies.99 Es gibt ein Theaterstück über Scalia100 und eine Oper über Scalia und Ginsburg,101 die politisch weit auseinanderlagen, aber häufig gemeinsam die Oper besuchten. Die Wahrnehmung der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts in der Öffentlichkeit ist verglichen mit den USA deutlich geringer, jedoch beginnt sich auch dies zu verändern. Einzelne Richterinnen und Richter werden in den Medien stärker wahrgenommen und treten in Interviews auf, die sich nicht ausschließlich auf juristische Fragen beschränken. Auch werden den Richterinnen und Richtern inzwischen vom Gericht Autogrammpostkarten zur Verfügung gestellt, die sie gelegentlich verteilen. Die Medien verfolgen die Auswahl neuer Richterinnen oder Richter etwas intensiver als früher, spekulieren wohl auch gelegentlich darüber, wer das nächste Mitglied des Bundesverfassungsgerichts werden wird. Doch bleiben solche Artikel immer noch selten und auf wenige Zeitungen beschränkt. Undenkbar ist bislang, dass die Wahl der Bundesverfassungsrichter zum ausschlaggebenden Faktor in politischen Wahlkämpfen würde. Das sehr unterschiedliche Ausmaß an Personalisierung der höchsten Gerichte lässt sich besonders deutlich an den Nachrufen illustrieren. Auch in Deutschland sind im Jahr 2016 ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts gestorben: am 10. September Jutta Limbach, am 6. Mai Thomas Dieterich und am 18. Oktober Dieter Hömig. Die Reaktion in den Medien auf die Tode dieser Persönlichkeiten unterschied sich nach Intensität und Ausmaß deutlich von den Reaktionen auf den Tod von Scalia. Die deutschen Nachrufe sind aber nicht nur bei Weitem weniger, sondern sie sind – bis auf ganz wenige Ausnahmen – deutlich knapper gehalten und auf äußere Fakten, insbesondere berufliche Stationen, beschränkt. Keiner kommt auch nur ansatzweise an die exaltierten Aussagen über Scalia heran. Dies überrascht aus vergleichender Perspektive umso mehr, als Jutta Limbach – als erste Frau überhaupt – sogar Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts war.
2. Institutionelle und rechtskulturelle Gründe für die unterschiedliche Wahrnehmung Die Gründe für diese unterschiedliche öffentliche Wahrnehmung der einzelnen Verfassungsrichter sind vielschichtig. In nicht unerheblichem Umfang sind sie sicherlich unterschiedlichen institutionellen Rahmenbedingungen zuzuschreiben. Hinzu kommen aber auch rechtskulturelle Gründe. Zunächst aber gilt es, eine mögliche Erklärung auszuschließen. Die Unterschiede in der öffentlichen Wahrnehmung einzelner Richter und Richterinnen liegen nicht darin begründet, dass die Rolle der beiden Verfassungsgerichte im politischen Prozess völlig unterschiedlich zu beschreiben wäre. Trotz der Unterschiede im Re gierungssystem – parlamentarische Demokratie versus Präsidialsystem – wie auch mancher Unterschiede in der Ausgestaltung der Gerichte, wie beispielsweise reines Verfassungsgericht versus höchstes Gericht für alle Bundesrechtsstreitigkeiten, überwiegen die Gemeinsamkeiten doch bei Weitem. Beide Gerichte haben die Aufgabe, Foley, Supreme Court Paper Dolls, 2016. Strand, The Originalist, Premiere März 2015. 101 Wang, Scalia/Ginsburg, Premiere Juli 2015. 99
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die Geltung der jeweiligen Verfassung mit ihrer Rechtsprechung durchzusetzen. Sie haben die Möglichkeit, Gesetze für verfassungswidrig zu erklären, beide Gerichte entscheiden letztverbindlich über Kompetenzkonflikte von Verfassungsorganen und im föderalen System, beide ziehen der Gesetzgebung durch die Auslegung von Grundrechten verfassungsrechtliche Grenzen. Beide Gerichte haben diese Kompetenzen genutzt und in zentralen, politisch sehr umstrittenen Fragen verfassungsrechtliche Grenzen aufgezeigt. U.S. Supreme Court wie Bundesverfassungsgericht stehen damit im Spannungsverhältnis zwischen Respekt vor demokratischen Mehrheitsentscheidungen und der Wahrung von verfassungsrechtlich garantierten Minderheitenrechten. Dieses Spannungsverhältnis ist Verfassungsgerichten in der Demokratie immanent. Beide Gerichte sind daher immer wieder Gegenstand kritischer Diskussionen.102 Die Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts mag zwar angesichts der zunehmenden Europäisierung etwas zurückgegangen sein, doch werden beide Gerichte zu Recht als wichtige Akteure im politischen Raum wahrgenommen. Das Bundesverfassungsgericht wird gleichwohl als mehr oder minder monolithischer Akteur103 betrachtet und analysiert. Die Frage bleibt also: Weshalb fokussiert sich das Interesse in den USA so viel stärker auf das Wirken einzelner Richterinnen und Richter? Ein einfacher Erklärungsansatz könnte Zahlen heranziehen: Neun Mitglieder des Supreme Court versus sechzehn Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts. Doch scheint die Größe des Unterschieds zwischen einem Neuntel und einem Sechzehntel Einfluss auf die Entscheidungen nicht sonderlich relevant. Relevant wird die Zahl erst in Kombination mit der unterschiedlichen Ausgestaltung der Wahlperioden der Verfassungsrichter. Während die Mitglieder des U.S. Supreme Court auf Lebenszeit ernannt werden, ist die Amtszeit der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts auf zwölf Jahre begrenzt; sie endet zudem mit dem Ablauf des 68. Lebensjahres.104 Dieses institutionelle Design hat zwei Konsequenzen: Die durchschnittliche Amtsperiode der US-Amerikanischen Verfassungsrichter*innen beträgt ein Vielfaches derjenigen ihrer deutschen Pendants. Zur Erinnerung: Scalia war fast vierzig Jahre als Verfassungsrichter aktiv. In den letzten fünfzig Jahren gab es nur 23 Mitglieder des U.S. Supreme Court, während die Zahl der Bundesverfassungsrichterinnen und –richter fast 90 beträgt.105 In Deutschland ereilt der Tod zudem kaum jemals einen noch aktiv im Dienst stehenden Bundesverfassungsrichter. Für die öffentliche Debatte müsste in Deutschland der Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Amt relevant sein, dieses aber geht weitgehend unbemerkt vonstatten; soweit die Öffentlichkeit überhaupt Kenntnis nimmt, richtet sich das Interesse eher auf die Wahl der Nachfolger.
Siehe aus neuerer Zeit etwa: Jestaedt et.al., Das entgrenzte Gericht, 2011. Manchmal finden allerdings reale oder unterstellte Konflikte zwischen beiden Senaten Aufmerksamkeit. 104 Genauer: mit dem Ende des Monats, in dem der Richter das 68. Lebensjahr vollendet (§ 4 Abs. 3 BVerfGG). 105 Freilich wurde die Dauer der Amtsperiode der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts erst Ende des Jahres 1970 vereinheitlicht. Zur Entstehungs- und Normgeschichte von § 4 BVerfGG siehe etwa Hömig, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu et.al. (Hg.), BVerfGG Kommentar (48 EL., Feb. 2016), § 4 Rn. 1. 102 103
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Verstärkt wird der individuell popularisierende Effekt zudem durch den Modus der Auswahl der Mitglieder des U.S. Supreme Court. In Deutschland kommt es auf den Zeitpunkt der Wahl neuer Richter nur selten an, denn die Wahl eines Richters oder einer Richterin erfordert jeweils eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag oder Bundesrat. Da sich deshalb – jedenfalls bisher – die beiden großen Parteien stets einigen mussten, bildete sich ein (informelles) Quotensystem heraus, so dass ein ausscheidender Richter zumeist durch einen oder eine von derselben politischen Partei vorgeschlagenen Kandidaten oder Kandidatin ersetzt wurde. Ganz anders in den USA. Dort werden die Richter oder Richterinnen vom jeweils regierenden Präsidenten (oder: Präsidentin) vorgeschlagen und vom Senat bestätigt. Der Präsident kann damit die Ausrichtung des Gerichtshofs entscheidend beeinflussen, wegen der Lebenszeiternennung auch weit über die eigene Amtszeit hinaus. (Wobei sich ein Präsident auch „irren“ kann: Der von Präsident Nixon ernannte Blackmun erwies sich als Liberaler, der von Präsident Kennedy ernannte White stimmte meist mit den Konservativen.) Ein Mitglied des U.S. Supreme Court wird bei der Frage, ob er oder sie aus eigener Entscheidung in den Ruhestand tritt – wozu die Richter selbstverständlich berechtigt sind –, immer auch berücksichtigen, welcher Partei der amtierende Präsident angehört und ob eine Änderung in den politischen Machtverhältnissen in absehbarer Zeit vorstellbar ist. So führen Mitglieder des U.S. Supreme Court nicht selten ihre Amtsgeschäfte bis ins hohe Alter fort. Scalia war bei seinem Tod fast achtzig Jahre alt, es gibt eine ganze Reihe von Richtern, die diese Schwelle noch im aktiven Dienst überschritten haben.106 Auch die unterschiedlich ausgeprägte Befassung der Öffentlichkeit mit dem Auswahlverfahren mag zur größeren Bekanntheit der Verfassungsrichter beitragen. In den USA durchlaufen die Richterinnen und Richter einen intensiven Anhörungsprozess vor dem Senat. In den letzten Jahrzehnten kam es dabei immer wieder zu äußerst spektakulären Anhörungen, die teilweise auch zur Ablehnung führten. Spektakulär waren die Anhörungen von Robert Bork im Jahr 1986 und vor allem die Anhörung von Clarence Thomas im Jahr 1991, dem Anita Hill sexuelle Belästigung vorwarf. Doch sollte auch die Bedeutung dieses Unterschieds nicht überschätzt werden. Denn er bezieht sich allein auf die Zeit bis zur Ernennung. Alles, was dort zur Sprache gebracht wird (und die verschiedenen Interessengruppen führen intensive Recherchen durch, um missliebige Kandidatinnen und Kandidaten zu diskreditieren) bezieht sich allein auf die Zeit vor der Mitgliedschaft im Gericht. Scalia wurde beispielsweise einstimmig vom Senat bestätigt.107 Der letztlich wichtigste Punkt ist, dass man über die Richterinnen und Richter in den USA so viel mehr weiß und ihre Meinungen viel individueller einschätzen kann. Denn die Entscheidungen sind ihrer Struktur nach völlig anders abgefasst als in Deutschland: Es ist ausgesprochen selten, dass eine – umstrittene – Entscheidung „per curiam“ abgefasst wird, also ohne namentliche Kennzeichnung erfolgt, aus der hervorgeht, welche Richter die Entscheidung mittragen und welche nicht. Üblicherweise lässt sich bei jeder Entscheidung genau sehen, welcher Richter mit welcher 106 Aus den letzten Dekaden beispielsweise Brennan, Blackmun, Marshall, Rehnquist, Stevens und Ginsburg. 107 Baum (Fn. 83), 42.
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Begründung zu welchem Ergebnis kam. Denn in den USA werden nicht nur grundsätzlich weitaus häufiger als in Deutschland Sondervoten geschrieben, vielfach finden sich insbesondere auch sogenannte concurring opinions, die bei Zustimmung im Ergebnis andere Begründungsgänge vorbringen. Die Entscheidungen lesen sich daher häufig wie kleine Puzzlespiele, in der sich das Ergebnis erst durch Zusammensetzung der verschiedenen Teile ergibt.108 In Deutschland dagegen gibt es – mit der Ausnahme von Entscheidungen bei Stimmengleichheit – eine einheitliche Entscheidung des Gerichts. Ob diese einstimmig erfolgt ist, weiß man nicht, nur gelegentlich teilt das Gericht das Stimmenverhältnis mit; doch auch das gibt keinen Aufschluss darüber, wer zugestimmt und wer dagegen gestimmt hat. So bleibt die öffentliche Debatte auf Spekulationen angewiesen. Die Position der einzelnen Beteiligten wird nur sichtbar, wenn er oder sie sich zu einem Sondervotum entschlossen hat, welches namentlich gekennzeichnet ist. Dieser Unterschied basiert – jedenfalls teilweise –auf Gewohnheit. Bis 1941 war es auch in den USA eher selten, dass abweichende Meinungen publiziert wurden, weil größerer Wert auf die Erzielung eines Konsenses gelegt wurde.109 Und die Möglichkeit zu concurring opinions steht auch in Deutschland grundsätzlich bereit. Denn ein Sondervotum ist nach der ausdrücklichen Regelung in § 30 Abs. 2 BVerfGG nicht nur bei Abweichung im Ergebnis, sondern durchaus auch bei abweichender Begründung zulässig. Doch entscheidend ist die bisherige „Kultur“ des Umgangs mit dem Richteramt. Die Möglichkeit zur Veröffentlichung einer abweichenden Meinung ist in Deutschland erst jüngeren Datums; sie wurde erst 1970 eröffnet und war bei ihrer Einführung – gerade wegen der damit verbundenen Lockerung des Beratungsgeheimnisses – stark umstritten.110 Obwohl die abweichende Meinung auch in Deutschland inzwischen weithin akzeptiert ist, wird von Sondervoten hinsichtlich des Ergebnisses nur selten, bei Abweichungen in der Begründung fast gar nicht Gebrauch gemacht.111 In Deutschland spielt zudem das Beratungsgeheimnis eine viel größere Rolle als in den USA. Die Beratungen nehmen in deutschen Kollegialgerichten viel Zeit in Anspruch, da im Gespräch – nach ausführlicher schriftlicher Vorbereitung – Argumente vertieft werden; ein Sondervotum darf nur geschrieben werden, wenn es um eine „in der Beratung vertretene“ abweichende Meinung geht (§ 30 Abs. 2 BVerfGG). In den USA besteht die „judges conference“ dagegen primär darin, Positionen zu benennen, dadurch Mehrheiten zu klären und zu bestimmen, wer die Mehrheitsmeinung 108 Beispielsweise Webster v. Reproductive Health Services, 492 U.S. 490 (1989): THE CHIEF JUSTICE announced the judgment of the Court and delivered the opinion for a unanimous Court with respect to Part II-C, the opinion of the Court with respect to Parts I, II-A, and II-B, in which WHITE, O’CONNOR, SCALIA, and KENNEDY, JJ., joined, and an opinion with respect to Parts II-D and III, in which WHITE and KENNEDY, JJ., joined. O’CONNOR, J., and SCALIA, J., filed opinions concurring in part and concurring in the judgment. BLACKMUN, J., filed an opinion concurring in part and dissenting in part, in which BRENNAN and MARSHALL, JJ., joined. STEVENS, J., filed an opinion concurring in part and dissenting in part. 109 Sunstein (Fn. 87), 115 ff. Zur Diskussion um die Rolle des Sondervotums, s. auch Urofsky, Dissent and the Supreme Court, 2015. 110 Ausführlich dazu: Niebler, in: FS Tröndle, 1989, 585 ff.; Lamprecht, Richter contra Richter, 1992. 111 Analyse bei Kranenpohl (Fn. 93), 190 ff.
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verfassen wird.112 Die Zusammenschlüsse zu gemeinsamen Meinungen kommen daher erst dadurch zustande, dass Entwürfe für Meinungen ausgetauscht und revidiert werden. Diese verschiedenen Entwürfe und Gespräche gelangen, schon weil ein zahlenmäßig größerer Personenkreis involviert ist, eher an die Öffentlichkeit (oder jedenfalls an die Biographen).
IV. Ausblick In den USA ist die Personalisierung der Verfassungsrichter*innen weit fortgeschritten. Erst das erhebliche Ausmaß an Wissen über persönliche Auffassungen und individuelles Verhalten der einzelnen Richterinnen und Richter ermöglicht es überhaupt, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob ein einzelner – wie der hier im Vordergrund stehende Antonin Scalia – als „großer Richter“ einzuordnen ist. In Deutschland hat ein solcher Prozess der stärkeren Personalisierung von Verfassungsrichter*innen erst begonnen. Es gibt einige institutionelle Rahmenbedingungen, die einer Entwicklung wie in den USA entgegenwirken; wesentlich für den derzeit noch zu beobachtenden Unterschied sind jedoch vor allem „softe“ Faktoren: kulturelle Unterschiede, wie etwa der Umgang mit Sondervoten. Damit drängt sich die Frage auf, ob eine Entwicklung hin zu mehr Personalisierung gefördert und unterstützt werden sollte: Ist es eigentlich wünschenswert, auch in Deutschland so viel über unsere Verfassungsrichter*innen zu wissen, dass ihre Rolle im Gericht genauer analysiert und gewürdigt werden könnte? Eine solche Forderung könnte ganz im Trend liegen; denn sie verspricht mehr Transparenz. Transparenz hat einen hohen Stellenwert – zu Recht in einer Demokratie, in der alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Um demokratische Kontrolle zu ermöglichen, muss die Öffentlichkeit wissen, wie die vom Volk legitimierten Hoheitsträger handeln. Von der Forderung nach Transparenz sind auch Gerichte nicht von vornherein ausgenommen. Die Zeiten, in denen schon die Möglichkeit des Sondervotums als Gefahr für die Autorität der Rechtsprechung angesehen wurde, sind auch in Deutschland vorbei. Der Nimbus der Objektivität des Rechts ist von allen kritischen rechtswissenschaftlichen Ansätzen – insbesondere auch den Gender Studies – hinterfragt und dekonstruiert worden. Der Öffentlichkeit durch ein Sondervotum zu zeigen, dass eine gerichtliche Entscheidung nicht alternativlos ist, dass auch andere juristische Blickweisen und Argumente existieren, ist ein Gewinn. Doch sollte dabei tatsächlich das Argument, nicht die Person des Richters, der Richterin im Zentrum stehen. Die alte Vorstellung, dass die Person (ganz) hinter dem Amt verschwindet, ist sicher überholt; aber das Amt sollte auch nicht völlig hinter der Person zurücktreten. Eine – wie in den USA – extrem starke öffentliche Wahrnehmung von einzelnen Verfassungsrichterinnen und -richtern verleitet dazu, (zu) viel Energie in die Selbstdarstellung statt in die – weniger medienträchtige, aber möglicherweise ergebnisbeeinflussende – Überzeugungsarbeit gegenüber den Kollegen und Kolleginnen zu stecken. Gute Entertainer werden vielleicht von den Medien geliebt, sind aber noch lange keine großen Richter. Baum (Fn. 83), 107.
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Prof. Mary Anne Case, University of Chicago Law School Content I. The Cassandra of Gay Rights . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 766 II. Formulating Categorical Rules While Leaving No Case Behind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770 III. Fitting Free Exercise Doctrine into a Procrustean Bed . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773
The late U.S. Supreme Court Justice Antonin Scalia was infamous for the prose style of his dissenting opinions, frequently and accurately described with adjectives such as “vitriolic,” “blistering,” “enraged,” “derisive,” “dyspeptic,” and, to put it mildly, “colorful.”1 In a single not unrepresentative dissent, that in the Affordable Care Act (Obamacare) case of King v. Burwell, Scalia characterized the majority opinion, written by Chief Justice John Roberts, as “quite absurd,”2 demonstrating that “[w]ords no longer have meaning,”3 “with no semblance of shame,”4 “not merely unnatural [but] unheard of,”5 “eccentric,”6 “bizarre,” 7 “feeble,”8 full of “interpretive jiggery-pokery,”9 and “pure applesauce.”10 His description of opinions written by more liberal and more junior justices could be even more intemperate.11 I do not cite specific sources for these adjectives, because so many commentators so commonly applied them to Scalia opinions no single source stands out, as a Google search will confirm. 2 135 S. Ct. 2480, 2496 (2015). 3 Id. at 2497. 4 Id. 5 Id. 6 Id. 7 Id. at 2498. 8 Id. at 2499. 9 Id. at 2500. 10 Id. at 2501. 11 See e.g. Michigan v. Bryant, 562 U.S. 344, 389–94 (2011) (Scalia, J., dissenting) (calling an opinion by Justice Sotomayor using factual distinctions to limit the scope of one of his own decisions in an earlier Confrontation Clause case “a gross distortion of the facts [and] the law,” “utter nonsense,” and 1
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Mary Anne Case
In this essay, I want to focus on another, less frequently remarked upon quality of Scalia’s dissents, which is their tendency to warn prophetically of the consequences that would follow from the logic of the decision just taken or the rule just articulated by a majority of his fellow justices, consequences denied or ignored at the time by the majority. In these dissents, Scalia behaves somewhat like the Trojan princess Cassandra, whose gift of prophecy came with the curse that she would not be believed, and whose clear-eyed warnings as a consequence went unheeded until the later point in time when what they predicted came to pass. Like Cassandra, Scalia is on the losing side of many of his prophecies – what he is predicting is the exact opposite of what he wants to see happen. Every battle, however, is necessarily both “lost and won,”12 so that what is bad news for the Trojans is good news for the Greeks, and what Scalia sees as the catastrophic consequences of a decision are most welcome from the perspective of his ideological opponents. In describing what for him are the horrors that will follow from the majority’s logic, he often paints a prophetic picture which in time comes true, perhaps in part because of rather than in spite of his dramatic articulation of an opinion’s implications. The essay will go on to use another Greek myth, that of Procrustes, to shed light on a tendency in Scalia’s majority opinions. Just as Procrustes forced his guests to fit snugly into an iron bed, stretching out their bodies or chopping off their limbs as necessary, so Scalia frequently forced all prior doctrine in a given area of law into the shape he needed for the new rule he announces in a majority opinion. As with Procrustes’s unfortunate guests, so with Scalia’s procrustean majority opinions, the result, I shall argue, is often that the operation is a success, but the patient dies: subsequent decisions, whether by courts or legislatures, tend to back away from the implications of the categorical rule Scalia had gone through such pains to fashion. The paradoxical result is that Scalia as Cassandra dissenting has sometimes been more effective in illuminating the path to results he deplores than Scalia as Procrustes has been in bringing about results he favors. This is so notwithstanding that Scalia in procrustean mode does his rhetorical best to minimize the innovative or controversial character of his holding for the majority, whereas Scalia in dissent seeks rhetorically to maximize the unprecedented and revolutionary character of the majority position to which he objects.
I. The Cassandra of Gay Rights The clearest example of Scalia as Cassandra is in the progression of U.S. Supreme Court’s gay rights cases from Romer v. Evans13 through Obergefell v. Hodges,14 and it is “unprincipled”). Given that his opinions became ever more vitriolic from year to year, he might have done well to heed the warning of Judge Fitzmaurice of the European Court of Human Rights against “debasing the currency of normal speech, because there is then no way left to differentiate or distinguish, or to describe instances of truly” outrageous behavior. Ireland v. UK, Judgment of 18 January 1978 (Series A: v. 25) (separate opinion of Judge Fitzmaurice). 12 William Shakespeare, Macbeth 1.1.5. 13 517 U.S. 620 (1996). 14 135 S.Ct. 2584 (2015).
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these I will use to illustrate the phenomenon.15 In Romer, the Supreme Court struck down an amendment to the Colorado constitution that disadvantaged gays, lesbians, and bisexuals, without so much as mentioning its own prior precedent of Bowers v. Hardwick,16 which had upheld criminal penalties for homosexual sex. For Scalia, this was a “contradict[ion]” because “’[i]f the Court [in Bowers] was unwilling to object to state laws that criminalize the behavior that defines the class, it is hardly open . . . to conclude that state sponsored discrimination against the class is invidious. After all, there can hardly be more palpable discrimination against a class than making the conduct that defines the class criminal.’”17 Although there were good reasons for the Court to see Colorado’s Amendment 2 as constitutionally problematic even with respect to a class whose behavior could be criminalized,18 within a decade the Court, in Lawrence v. Texas19, agreed with Scalia that the “foundations of Bowers have sustained serious erosion from … Romer”20 and the decision should be overruled. While it held in Lawrence that private, consensual, adult homosexual sex could no longer constitutionally be criminalized, the Court insisted its decision “does not involve whether the government must give formal recognition to any relationship that homosexual persons seek to enter.”21 Scalia’s response in dissent was: Do not believe it. More illuminating than this bald, unreasoned disclaimer is the progression of thought displayed by an earlier passage in the Court’s opinion, which notes the constitutional protections afforded to “personal decisions relating to marriage, procreation, contraception, family relationships, child rearing, and education,” and then declares that “persons in a homosexual relationship may seek autonomy for these purposes, just as heterosexual persons do.” … Today’s opinion dismantles the structure of constitutional law that has permitted a distinction to be made between heterosexual and homosexual unions, insofar as formal recognition in marriage is concerned.22 15 Among other examples of this phenomenon is one I have discussed extensively in prior work, his observation in his lone dissent in U.S. v. Virginia, a case which mandated the admission of women to the hitherto all-male Virginia Military Institute (“VMI”) that, going beyond the less rigorous “standard elaboration of intermediate scrutiny,” Justice Ginsburg’s majority opinion held that “VMI’s single-sex composition is unconstitutional because there exist several women (or, one would have to conclude under the Court’s reasoning, a single woman) willing and able to undertake VMI’s program” so that as a constitutional rule “a sex-based classification is invalid unless it relates to characteristics that hold true in every instance.” United States v. Virginia, 518 U.S. 515, 572–74 (1996) (Scalia, J., dissenting). For further discussion see Mary Anne Case, “The Very Stereotype the Law Condemns:” Constitutional Sex Discrimination Law as a Quest for Perfect Proxies, 85 Cornell L. Rev. 1447 (2000). 16 Bowers v. Hardwick, 478 U.S. 186 (1986). 17 Romer, 517 U.S. at 640 (Scalia, J., dissenting) (quoting Padula v. Webster, 261 U.S. App. D.C. 365, 822 F.2d 97). Of course, there are many problems with Scalia’s logic here, for example, that it is not sodomy, but same-sex desire, which is the behavior that defines the class of homosexuals. For further discussion see Mary Anne Case, Couples and Coupling in the Public Sphere: A Comment on the Legal History of Litigating for Lesbian and Gay Rights 79 Virginia Law Review 1643 (1993). 18 Because the language of Amendment 2 was so sweeping in its potential negative effects on gays, lesbians, and bisexuals, advocates and scholars have long argued that “no group, even of the most heinous felons convicted under the most unimpeachable of criminal laws, could constitutionally have the protection of the laws removed from them on so wholesale a basis as that found in Amendment 2.” Mary Anne Case, Of “This” and “That” in Lawrence v Texas, 2003 S. Ct. Rev 75, 93 (2004). 19 539 U.S. 558 (2003). 20 Lawrence, 539 U.S. at 576. 21 Id. at 578. 22 Id. at 604 (Scalia, J., dissenting) (emphasis in original).
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He was proven right by degrees. In United States v. Windsor, the Court struck down the federal Defense of Marriage Act (DOMA), holding that the federal government could not constitutionally withhold recognition from those same-sex marriages recognized under state law, but ending by insisting, “This opinion and its holding are confined to those lawful marriages.”23 Scalia responded: I have heard such “bald, unreasoned disclaimer[s]” before. Lawrence, 539 U.S. at 604. When the Court declared a constitutional right to homosexual sodomy, we were assured that the case had nothing, nothing at all to do with “whether the government must give formal recognition to any relationship that homosexual persons seek to enter.” … Now we are told that DOMA is invalid because it “demeans the couple, whose moral and sexual choices the Constitution protects,” … – with an accompanying citation of Lawrence. It takes real cheek for today’s majority to assure us… that a constitutional requirement to give formal recognition to same-sex marriage is not at issue here.24
Scalia did acknowledge that the “scatter-shot rationales” of the majority opinion left many bases for distinguishing the right upheld in Windsor from a more general federal constitutional right to marriage for same-sex couples and urged lower courts to “take the Court at its word and distinguish away.”25 But, unlike Chief Justice Roberts, who devoted a substantial portion of his own dissent to shoring up those possible distinctions,26 Scalia went on to dismantle them. In Lawrence, he had already engaged in some suggested editing of the language of Justice O’Connor’s concurring opinion, to show how easily an argument about the criminalization of sodomy could be transformed into one concerning the recognition of same-sex marriage.27 In his Windsor dissent, Scalia goes so far as to use the strikeout function to show how easily whole paragraphs of the majority’s opinion could be edited to form part of an opinion constitutionalizing a nationwide right to same-sex marriage. For example: Consider how easy (inevitable) it is to make the following substitutions in a passage from today’s opinion …: “DOMA’s This state law’s principal effect is to identify a subset of state-sanctioned marriages constitutionally protected sexual relationships, see Lawrence, and make them unequal. The principal purpose is to impose inequality, not for other reasons like governmental efficiency. Responsibilities, as well as rights, enhance the dignity and integrity of the person. And DOMA this state law contrives to deprive some couples married under the laws of their
U.S. v. Windsor, 133 S. Ct. 2675, 2696 (2013). Id. at 2709 (Scalia, J., dissenting). On the very same day it decided Windsor, the Court declined an opportunity to hold that there was a more general federal constitutional right to same-sex marriage, when it held that the proponents of California’s Proposition 8, which had amended the state constitution to eliminate same-sex marriage, lacked standing to appeal given that the opponents’ victory in the trial court had been accepted by the state of California. See Hollingsworth v. Perry, 133 S. Ct. 2652 (2013). 25 Windsor, 133 S. Ct. at 2709 (Scalia, J., dissenting). 26 Id. at 2696 ff. (Roberts, CJ., dissenting). 27 Lawrence, 539 U.S. at 601(Scalia, J., dissenting) noting that O’Connor’s “reasoning leaves on pretty shaky grounds state laws limiting marriage to opposite-sex couples” because it was hard to claim that “’preserving the traditional institution of marriage’ is a legitimate state interest,” as O’Connor did, when “preserving the traditional sexual mores of our society” no longer seemed to be a legitimate basis for upholding sodomy laws. 23 24
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State enjoying constitutionally protected sexual relationships, but not other couples, of both rights and responsibilities.” *** Similarly transposable passages – deliberately transposable, I think – abound.28
Lower court judges were quick to take up Scalia’s editorial suggestions29 and more generally to adopt the view propounded in his dissent as to the logical inevitability of an extension of the holding of Windsor to state marriage laws,30 leading one scholar to suggest that Scalia’s Windsor dissent paradoxically “might be remembered as the most influential opinion of his career.”31 Indeed, nearly half of the many lower court decisions that struck down state same-sex marriage bans in the immediate aftermath of Windsor explicitly cited to Scalia’s dissent and treated its reasoning as more persuasive than the qualifying language of the majority or of the Roberts dissent. Within two years, the Supreme Court proved Scalia’s prophecies true, holding in Obergefell v. Hodges that the constitution did indeed require states “to license same-sex marriages [and] to recognize same-sex marriages performed out of State,”32 for the reason that he predicted, to wit that ”[i]t demeans gays and lesbians for the State to lock them out of a central institution of the Nation’s society.”33 It is worth noting that Scalia’s comparatively dispassionate elaborations of the worrisome implications he sees in majority opinions such as those in the gay rights cases have had a much better track record in moving the Court in a direction he deplores than any of his more vitriolic dissents have had in moving the Court in a direction he favors. One might ask why Scalia engaged in this apparently perverse behavior – repeatedly drawing a road map to precisely the destination he does not want his colleagues on the Court to reach. Many have similarly asked why Scalia over time did not tone down, but only ratcheted up the level of invective in his dissents,34 despite evidence it had never persuaded but may rather have alienated his colleagues.35 Windsor, 133 S. Ct. at 2709–10 (Scalia, J., dissenting) (citations omitted). They also took up other arguments in his dissent. See e.g. Kitchen v. Herbert, at 755 F.3d 1193, 1220 (10th Cir. 2104) (quoting Scalia, J., dissenting) (“[W]hat justification could there possibly be for denying the benefits of marriage to homosexual couples …? Surely not the encouragement of procreation, since the sterile and the elderly are allowed to marry.”). 30 See e.g. Kitchen v. Herbert, 961 F. Supp. 2d 1181, 1194 (D. Utah 2013) (“The court agrees with Justice Scalia’s interpretation of Windsor”). 31 Garrett Epps, American Justice 2014: Nine Clashing Visions on the Supreme Court, (Philadelphia: U. Penn. Press 2014) Kindle edition at location 720. Although other U.S. Supreme Court Justices, such as Oliver Wendell Holmes Jr., are known for their influential dissents, in each case these other dissenters were sketching out an affirmative vision of what the result should be, whereas Scalia depicted what was for him, a nightmare vision. 32 Obergefell, 135 S.Ct. at 2593. 33 Id. at 2602. Cf. Windsor, 133 S. Ct. at 2710 (Scalia, J., dissenting) (“[DOMA] This state law tells those couples, and all the world, that their otherwise valid marriages relationships are unworthy of federal state recognition. This places same-sex couples in an unstable position of being in a second-tier marriage relationship. The differentiation demeans the couple, whose moral and sexual choices the Constitution protects, see Lawrence”). 34 Scalia himself has often said he writes his dissents, not for his colleagues or lower court judges, but for law students, and implicit in that choice of audience may be a desire to write colorfully enough to attract their attention and that of case book editors who decide what snippets of opinions to include in the materials presented to students. 35 Though it contained far fewer excoriating adjectives than many of his later dissents, his dissent criticizing Justice O’Connor’s concurring opinion in the abortion case of Webster v. Reproductive 28 29
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Here again, he is like Cassandra, a prophet possessed, lacking full control of either the substance or the tone of utterances, but impelled to speak truth regardless of its consequences.
II. Formulating Categorical Rules While Leaving No Case Behind Whether they are passionate raging or more dispassionate prediction, Scalia’s dissents may have more lasting influence than his majority opinions. As longtime Court watcher Linda Greenhouse observed, even on those occasions when he did have the opportunity to “come close to achieving one of his jurisprudential goals, his colleagues have either hung back at the last minute or, feeling buyers’ remorse, retreated at the next opportunity.”36 The two principal examples Greenhouse discusses are the Court’s backing down from the proposition, articulated in Scalia’s majority opinion in Lucas v. South Carolina Coastal Council,37 that even temporary restrictions on a land owner’s right to develop property can amount to a taking for which the owner is entitled to compensation, and its similar retreat from his expansive interpretation of the Confrontation Clause in Crawford v. Washington.38 Associated with the buyers’ remorse in each of these cases may be precisely what Scalia himself was likely most proud of in each of them – that he used his majority opinion, not simply to decide the particular case, but to formulate a new categorical rule for a whole line of cases, together with newly formulated categorical exceptions to this rule.39 Indeed, what distinguishes Scalia as a writer of majority opinions, I would argue, is less his adherence to interpretive approaches such as originalism or textualism, and more his commitment to “the rule of law as a law of rules,”40 and his consequent aversion to the use of case-by-case adjudication or multifactor balancing tests in constitutional law.41 As he explained: Health Services, 492 U.S. 490 (1989) for declining to reconsider the holding of Roe v. Wade, 410 US 113 (1973) was widely seen at the time as crossing an established line of civility and in retrospect as perhaps contributing to her joining a plurality explicitly reaffirming Roe years a few years later in Planned Parenthood v. Casey, 505 U.S. 833 (1992), exactly the opposite of the result he had hoped for. 36 Linda Greenhouse, Justice Scalia Objects, New York Times, March 9, 2011, available at http:// opinionator.blogs.nytimes.com/2011/03/09/justice-scalia-objects/?_r=0. 37 505 U.S. 1003 (1992). 38 541 U.S. 36 (2003). It was Justice Sotomayor’s distinguishing of Crawford to allow the admission into evidence of statements made by a dying person that led to Scalia’s excoriation of her opinion in Michigan v. Bryant, quoted above in footnote 11. 39 In his Lucas dissent, 505 U.S. at 1036, Justice Blackmun critically described this practice of Scalia’s as follows: Today the Court launches a missile to kill a mouse…. [I]t ignores its jurisdictional limits, remakes its traditional rules of review, and creates simultaneously a new categorical rule and an exception (neither of which is rooted in our prior case law, common law, or common sense)…. I question the Court’s wisdom in issuing sweeping new rules to decide such a narrow case. 40 Antonin Scalia, The Rule of Law as a Law of Rules, 56 U. of Chicago L. Rev.1175 (1989). 41 He seems to have attributed the same commitment to categorical rules to God. At the oral argument of a case in which a Muslim prisoner sought a religious accommodation under the Religious Land Use and Institutionalized Persons Act (RLUIPA) so that he could grow a beard, Scalia castigated the prisoner’s attorney for offering the possibility of a half inch beard as a reasonable compromise between prison regulations and the religious prescription of a full beard, saying, “religious beliefs aren’t reason-
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When one is dealing, as my Court often is, with issues so heartfelt that they are believed by one side or the other to be resolved by the Constitution itself, it does not greatly appeal to one’s sense of justice to say: “Well, that earlier case had nine factors, this one has nine plus one.” Much better, even at the expense of the mild substantive distortion that any generalization introduces, to have a clear, previously enunciated rule that one can point to in explanation of the decision.42
His willingness to tolerate an error, even injustice, in an individual case in the interests of enunciating and abiding by clear rules43 even led him so far as to suggest that the actual innocence of a criminal defendant under sentence of death might by itself be an insufficient basis for a court to reopen his case.44 This puts him squarely at one extreme of the arc of a pendulum that has swung for a millennium in Anglo-American law between rules and standards, law and equity, the forms of action and the Chancellor’s foot. Far from seeing the charge of formalism as a criticism, Scalia exclaimed, “Long live formalism. It is what makes a government a government of laws and not of men.”45 For Scalia, textualism facilitated formalism, and he was quick to point out that “[e]very issue of law [he] resolved as a federal judge is an interpretation of text – the text of a regulation, or of a statute, or of the Constitution.”46 He therefore inveighed against carrying over into the judicial interpretation of legislative texts, including constitutions, “the attitude of the common-law judge – the mindset that asks, ‘What is the most desirable resolution of this case, and how can any impediments to the achievement of that result be evaded?’” 47 For what he saw as the regrettable persistence of this common-law mindset, Scalia blamed in the first instance American legal education, which continued to inculcate in law students an “image of the great judge” as the man (or woman) who has the intelligence to know what is the best rule of law to govern the case at hand, and then the skill to perform the broken-field running through earlier cases that leaves him free to impose that rule – distinguishing one prior case on his left, straight-armable,… religious beliefs are categorical. You know, it’s God tells you. It’s not a matter of being reasonable. God be reasonable?” Transcript of Oral Argument, Holt v. Hobbs , 135 S. Ct. 853 (2015) (No. 13-6827), 2014 WL 5398229, at *5. 42 Antonin Scalia, The Rule of Law as a Law of Rules, 56 U. of Chicago L. Rev. at 1178. 43 As he said with respect to a famous contract law case, “if you think it is terribly important that the case came out wrong, you are not yet thinking like a lawyer-or at least not like a common lawyer. That is really secondary. Famous old cases are famous, you see, not because they came out right, but because the rule of law they announced was the intelligent one.” Antonin Scalia, Common-Law Courts in a Civil-Law System: The Role of United States Federal Courts in Interpreting the Constitution and Laws, The Tanner Lectures on Human Values (Princeton University 1995) at 82. The Tanner Lectures were subsequently published in book form, with several commentaries, as A Matter of Interpretation: Federal Courts and the Law (Princeton: Princeton University Press 1997). 44 See Herrera v. Collins, 506 U.S. 390, 428 (1992) (Scalia, concurring) (noting “the reluctance of the present Court to admit publicly that Our Perfect Constitution lets stand any injustice, much less the execution of an innocent man who has received, though to no avail, all the process that our society has traditionally deemed adequate” and suggesting that only “an executive pardon,” not a judicial remedy, would properly be mobilized in such a case). 45 Scalia, Common-Law Courts in a Civil-Law System at 100. 46 Id. at 88. 47 Id.
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ing another one on his right, high-stepping away from another precedent about to tackle him from the rear, until (bravo!) he reaches his goal: good law. That image of the great judge remains with the former law student when he himself becomes a judge, and thus the common-law tradition is passed on and on.48
What Scalia here characterizes as heroic “broken-field running through earlier cases” is precisely the phenomenon I would characterize instead as procrustean fitting of prior precedent into the rigid form of “the best rule of law to govern the case at hand.”49 If I am describing this phenomenon in a constitutional rather than a common law case, am I being more true to Scalia’s own commitments by characterizing it negatively, as analogous to the destructive work of a villain like Procrustes rather than to the heroic success of a star athlete? 50 If I am right that Scalia’s majority opinions in constitutional cases frequently do what he deplores, is he suffering from the delusion of which he accuses other American lawyers and judges, whom he sees as failing to take account of the changed nature of their tasks in what he characterizes as their new, democratically determined, civil law system? Perhaps, but the situation is somewhat more complicated because Scalia’s procrustean tendencies are most clearly on display in cases that, although they may be constitutional, do not, by his own account, involve the interpretation of constitutional text because they depend on the incorporation doctrine, a doctrine he sees as having developed without a legitimate basis in constitutional text. To make this clear requires spelling out something that most American lawyers, including Supreme Court justices, tend to gloss over, although they know it perfectly well: When the U.S. Constitution was ratified in the eighteenth century, its Bill of Rights (including the First Amendment, with its protections for speech, religion, and press, the Fifth Amendment’s protections for property, and the various protections for criminal defendants) was seen to operate only as against the federal government. To the extent the several states also were under a constitutional obligation to protect, for example, the freedom of speech, this obligation would only derive from their respective state constitutions. Only over the course of the century and a half since the ratification of the Fourteenth Amendment in the aftermath of the Civil War did the Supreme Court come to hold that most of the provisions of the Bill of Rights also applied to the states. The process by which this was done was not wholesale, but piecemeal and gradual, with separate cases over time considering each provision and Id. at 85. Note that there is an important distinction Scalia sometimes elides between arriving at the “most desirable resolution” in “the case at hand” and arriving at “the best rule of law to govern” it. Elsewhere Scalia observes that “sticking close to those facts, not relying upon overarching generalizations, and thereby leaving considerable room for future judges is thought to be the genius of the common law.” Scalia, The Rule of Law as a Law of Rules at 1177. This is not the methodology used by Scalia, whose goal is always to constrain the discretion of future judges, including himself, see id. at 1179, through the formulation, wherever possible, of a rule which rises above individual factual considerations. 49 Of course, as explained in the prior footnote, one can engage in broken field running around prior precedent merely to score a goal in the case at hand, not to formulate a general rule governing a class of cases, but, like Procrustes, Scalia wants an iron bed ready to house, not just this evening’s visitors, but a host of guests yet to arrive. 50 I might also call it fancy dancing, to use a differently gendered metaphor, occupying a middle ground between admiration and condemnation. 48
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occasionally rejecting incorporation of a particular right as against the states.51 While First Amendment free speech protections were recognized as incorporated early in the twentieth century,52 for example, it took until the new millennium for the same to be held true of the Second Amendment right to keep and bear arms.53 The textual hook for incorporation of provisions of the Bill of Rights against the states became the Due Process Clause of the Fourteenth Amendment. This technically makes the incorporation of Bill of Rights protections a form of substantive due process, the same doctrinal category which led to such controversial protections as those for economic liberties in the Lochner 54 era and for abortion in Roe v. Wade55 and its progeny. Scalia was in general no fan of substantive due process, seeing it as oxymoronic because “by its inescapable terms” the Due Process Clause “guarantees only process.”56 “To say otherwise,” according to Scalia, “is to abandon textualism, and to render democratically adopted texts mere springboards for judicial lawmaking.”57 Yet he “acquiesced in the Court’s incorporation of certain guarantees in the Bill of Rights ‘because it is both long established and narrowly limited.’”58 Because neither text nor original meaning, but only stare decisis, the cumulative weight of precedent, grounds the law applying provisions of the Bill of Rights to the states, a judge deciding a case involving an incorporated provision is necessarily acting as a common law judge, without access to a civil-law-style alternative to the methodologies of the common law. Such a judge must of necessity “distinguish precedent[s]… until (bravo) he reaches his goal: good law,”59 even if this means “attacking the enterprise with the Mr. Fix-it mentality of the common-law judge,” which Scalia warned was “a sure recipe for incompetence and usurpation.”60
III. Fitting Free Exercise Doctrine into a Procrustean Bed With these background considerations in mind, let me now turn to a detailed analysis of one major Scalia opinion that fits the procrustean pattern I have identified,61 the 51 The as yet unincorporated provisions include certain procedural rights related to trial by jury. See McDonald v. Chicago, 561 U.S. 742 (2010) at footnote 13 and 14. 52 See Gitlow v. N.Y., 268 U.S. 252 (1925). 53 See McDonald v. Chicago, 561 U.S. 742 (2010). 54 See Lochner v. N.Y., 198 U.S. 45 (1905), was among the earliest and most prominent of a series of cases, since overruled, constitutionalizing aspects of freedom of contract. 55 410 U.S. 113 (1973). 56 Scalia, Common-Law Courts in a Civil-Law System at 99. 57 Id. 58 McDonald v. Chicago, 561 U.S. 742 (2010). During the oral argument of McDonald, he even waved away the possibility of shifting incorporation to a potentially more secure textual foundation, that of the Privileges and Immunities Clause of the Fourteenth Amendment, leading some conservative legal academics to accuse him of betraying his principles. See Josh Blackman and Ilya Shapiro, Is Justice Scalia Abandoning Originalism? DC Examiner March 9, 2010, available at https://www.cato.org/ publications/commentary/is-justice-scalia-abandoning-originalism. 59 Scalia, Common-Law Courts in a Civil-Law System at 85. 60 Id. at 99. 61 For another see e.g. R.A.V. v. City of St. Paul, 505 U.S. 377 (1992).
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free exercise of religion case Employment Division v. Smith,62 in which he goes to heroic lengths to leave no case behind on his path to announcing a categorical rule. Smith involved the incorporation of the First Amendment’s religion clauses as against the states, an incorporation so thoroughly accomplished that despite the technical inaccuracy of such a classification, it is typically referred to without qualification as a First Amendment case. Indeed, the very first sentence of Scalia’s opinion reads simply: “This case requires us to decide whether the Free Exercise Clause of the First Amendment permits the State of Oregon to include religiously inspired peyote use within the reach of its general criminal prohibition on use of that drug, and thus permits the State to deny unemployment benefits to persons dismissed from their jobs because of such religiously inspired use.”63 Smith, a native American drug counselor, lost his job because he had engaged as a member of the Native American Church in the ritual sacramental consumption of the hallucinogen peyote, whose use the state of Oregon had criminalized without providing an exemption for religious use, although a number of other states and the federal government had provided such an exemption in their own drug laws. Over the course of the quarter century before the Smith case, the free exercise cases decided by the U.S. Supreme Court applied a test first set out in another unemployment compensation case, Sherbert v. Verner,64 requiring that “governmental actions that substantially burden a religious practice must be justified by a compelling governmental interest.” If the action could not be so justified, the Court had held, a religiously motivated objector would be constitutionally entitled to an exemption from the government action. Although few who brought exemption claims before the Supreme Court were ultimately successful, standard-like language requiring narrow tailoring to achieve a compelling governmental interest suffused the cases during this quarter century period. Scalia, of course, preferred rules to standards, he hated balancing tests, and he took the occasion of having been assigned the majority opinion to set out a categorical rule for free exercise claims. Reaching back to Reynolds v. U.S.65, a foundational nineteenth century case involving unsuccessful attempts by Mormons in the Utah territory66 to claim a religious exemption from laws criminalizing polygamy, Scalia declared that, from the time of Reynolds, “subsequent decisions have consistently held that the right of free exercise does not relieve an individual of the obligation to comply with a ‘valid and neutral law of general applicability on the ground that the law proscribes (or prescribes) conduct that his religion prescribes (or proscribes).’”67 This was the constitutional rule he held to be applicable to all free exercise exemption claims. Scalia’s characterization of Reynolds itself was indisputably correct. That case had proclaimed: Emp’t Div., Dep’t of Human Res. of Or. v. Smith, 494 U.S. 872(1990). Id. at 874. 64 374 U.S. 398 (1963) Sherbert had lost her job when, as a Seventh Day Adventist, she had refused to work on her Saturday sabbath; state law explicitly protected those who were Sunday observers. 65 Reynolds v. United States, 98 U.S. 145 (1878). 66 Because Utah was then a territory of the federal government, not a state, Reynolds, unlike Smith, was indeed a First Amendment case in the strict sense. 67 Smith, 440 U.S. at 879 (quoting U. S. v. Lee). 62
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Laws are made for the government of actions, and while they cannot interfere with mere religious belief and opinions, they may with practices. … [To permit] a man [to] excuse his practices to the contrary because of his religious belief … would be to make the professed doctrines of religious belief superior to the law of the land, and in effect to permit every citizen to become a law unto himself.68
But to support the proposition that “the record of more than a century of our free exercise jurisprudence” established “that an individual’s religious beliefs [do not] excuse him from compliance with an otherwise valid law prohibiting conduct that the State is free to regulate,”69 he began, bizarrely, not with Reynolds, but with a quotation from a case that had been overruled on other grounds within a few years of having been decided, Minersville School District v. Gobitis.70 Indeed, citations to Gobitis bracketed Scalia’s discussion of Reynolds, without any mention by Scalia that Gobitis had been in so many words “overruled,” 71 let alone that it is “widely … viewed as one of the Court’s great constitutional mistakes.” 72 Although the Court in Gobitis had upheld a compulsory flag salute by schoolchildren against a claim for religious exemption by young Jehovah’s Witnesses in 1940, by 1943, with the U.S. in the throes of the Second World War and concerns raised about the similarity of the pledge gesture to the “Nazi-Fascist salute,” 73 the Court had reversed course and held it to be a violation of free speech protections to compel students to salute the flag and recite a pledge of allegiance, regardless of whether their objections to doing so were religiously grounded. Scalia was able to take the bulk of the text of his own rule, categorically requiring even the religious objector to “comply with a ‘valid and neutral law of general applicability,’” verbatim from a recently decided case, United States v. Lee,74 which had denied an Amish employer’s claim for exemption from the Social Security tax. The difficulty Scalia faced was that, while Lee may have lost, the Court had upheld the constitutional claim of another Amish claimant, Yoder, to be exempt from a neutral and generally applicable law requiring him to send his young children to school until the age of sixteen.75 Moreover, among the previously successful free exercise claimants before the Supreme Court in the decades immediately preceding Smith had been three raising claims to unemployment compensation, including Sherbert, the very first Supreme Court case to mandate as a constitutional matter76 an accommodation for those whose religious exercise is burdened by government. To make good his categorical rule, Scalia had either to overrule or to distinguish these cases. He chose a Reynolds v. United States, 98 U.S. at 167-8, quoted in Smith, 440 U.S. at 879. Smith, 440 U.S. at 879. 70 Minersville School Dist. v. Gobitis, 310 U.S. 586 (1940). 71 W. Va. State Bd. of Educ. v. Barnette, 319 U.S. 624, 642 (1943). 72 Michael McConnell, John H. Garvey, & Thomas C. Berg, Religion and the Constitution, 2d Edition (New York: Aspen 2006), 144. 73 Barnette, 319 U.S at 627, footnote 3. 74 See United States v. Lee, 455 U.S. 252, 263, n. 3 (1982). Lee, like Reynolds, did not involve incorporation, but federal action and hence the First Amendment proper. It is worth noting that all of the cases Scalia had to distinguish heroically in order to establish that the general rule was the one he quoted from Lee did involve incorporation of the First Amendment against the states. 75 See Wisconsin v. Yoder, 406 U.S. 205 (1972). 76 Legislatures had previously granted, and the Court had applied, statutory accommodations. 68 69
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procrustean fitting of these cases into his framework, making the startling claims that the Supreme Court had “never held that an individual’s religious beliefs excuse him from compliance with an otherwise valid law prohibiting conduct that the State is free to regulate” 77 and “never invalidated any governmental action on the basis of the Sherbert test except the denial of unemployment compensation.” 78 Unemployment compensation schemes, he argued, involved “individualized governmental assessment of the reasons for the relevant conduct” and the Court’s “decisions in the unemployment cases stand for the proposition that where the State has in place a system of individual exemptions, it may not refuse to extend that system to cases of ‘religious hardship’ without compelling reason.” Particularly because Smith was itself an unemployment compensation case, this distinction was far from persuasive, so Scalia emphasized that Smith lost his job because Oregon criminalized peyote use, whereas the successful claimants’ conduct had all been legal. This still left Scalia with a need to distinguish Wisconsin v. Yoder, which had not only “excused [the Yoders] from compliance with the otherwise valid” school attendance law, but “invalidated [the] governmental action” of imposing a fine on the Yoder parents for the misdemeanor of not continuing to send their children to school. Scalia’s solution was to invent a new category of “hybrid rights” claims. He insisted that just as some other successful free exercise claimants had paired their religious claims with free speech claims, Yoder’s victory depended on a combination of religious and parental rights claims. Scalia’s emphasis on the parental rights component of Yoder’s case was particularly odd given his view that the “theory of unenumerated parental rights underlying [Yoder and the two other parental rights cases cited in Smith] has small claim to stare decisis protection.” 79 His efforts did not impress the lower courts, who, in the decades since Smith have been presented with a number of cases making “hybrid rights” claims and not only rejected all of them, but even rejected the very notion such a claim could ever be viable. The contrast between the lower court judges’ receptivity to the Cassandra-like case for same-sex marriage in Scalia’s Windsor dissent and their complete dismissal of his procrustean hybrid rights analysis, which one representative lower court opinion called “completely illogical,”80 could not be more stark. Courts did apply the categorical rule Scalia proclaimed in Smith, but academic commentators, activists, and practitioners raised so many objections to it that Smith became “one of the most heavily criticized constitutional decisions of recent times.”81 Smith, 440 U.S. at 879. Id. at 883. 79 Troxel v. Granville, 530 U.S. 57, 92(2000) (Scalia, dissenting) (“Only three holdings of this Court rest in whole or in part upon a substantive constitutional right of parents to direct the upbringing of their children – two of them from an era rich in substantive due process holdings that have since been repudiated. See Meyer v. Nebraska, 262 U.S. 390… (1923); Pierce v. Society of Sisters, 268 U.S. 510… (1925); Wisconsin v. Yoder, 406 U.S. 205… (1972)”). 80 See Kissinger v. Bd of Trustees of Ohio State Univ., 5 F.3d 177, 180 (6th Cir.1993). 81 McConnell, et al., Religion and the Constitution (2d Ed.2006) at 145. I should disclose that, unlike many other academic commentators, I have always thought that Smith was correctly decided, that the passage of the Religious Freedom Restoration Act in response to Smith was a mistake, and that the problem with Scalia’s opinion in Smith was not the categorical rule he announced, but the fancy dancing he engaged in to leave no previously decided case behind in affirming that rule. I would have over77 78
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Within three years of the decision a broad coalition of civil liberties and religious rights groups representing a vast variety of faith traditions and political persuasions, from the American Civil Liberties Union to the Traditional Values Coalition, persuaded a nearly unanimous U.S. Congress to pass a statute dubbed the Religious Freedom Restoration Act of 1993 (RFRA) whose announced “purpose” was “to restore the compelling interest test as set forth in Sherbert v. Verner, … and Wisconsin v. Yoder… and to guarantee its application in all cases where free exercise of religion is substantially burdened.”82 The Court, which did not take kindly to what it saw as a usurpation of its prerogatives, saw RFRA as violative of both the separation of powers and the principles of federalism and held that Congress lacked power to impose RFRA on the states.83 Nevertheless, RFRA remains applicable to the federal government, approximately half the states have additionally passed so called miniRFRAs of their own, and aspects of RFRA have successfully been imposed by Congress on the states through the Religious Land Use and Institutionalized Persons Act (RLUIPA). Scalia had warned prophetically in Smith: The rule respondents favor [deeming presumptively invalid, as applied to the religious objector, every regulation of conduct that does not protect an interest of the highest order] would open the prospect of … required religious exemptions from civic obligations of almost every conceivable kind – ranging from compulsory military service, to the payment of taxes; to health and safety regulation such as manslaughter and child neglect laws, compulsory vaccination laws, drug laws, and traffic laws; to social welfare legislation such as minimum wage laws, child labor laws, animal cruelty laws, environmental protection laws, and laws providing for equality of opportunity for the races.”84
Although it took the better part of two decades for anything like his parade of horribles to come marching in with full force, the past several years have seen RFRA mobilized as a new front in the sexual culture wars. Hundreds of successful cases, including several to have reached the Supreme Court, were brought on behalf of for profit corporations and religious non-profits85 challenging as a burden on free exercise the Affordable Care Act mandate that employers include full coverage of contraceptives among the health insurance benefits they provide their employees. At the state level, objectors to same-sex marriage, from cake bakers and florists to county clerks such as Kentucky’s Kim Davis have raised RFRA claims or lobbied for new state RFRAs. In her dissenting opinion to Hobby Lobby, the first of the contraception mandate cases to reach the Supreme Court, Justice Ruth Bader Ginsburg mustered a parade of horribles under RFRA even longer than Scalia’s in Smith.86 As Scalia himself pointed out at the oral argument of Hobby Lobby, one reason for this longer list was that RFRA had gone beyond the “pre-Employment Division v. Smith law” in that ruled Yoder, which I thought was wrongly decided from the start. See Mary Anne Case, Why “LiveAnd-Let-Live” Is Not a Viable Solution to the Difficult Problems of Religious Accommodation in the Age of Sexual Civil Rights, 88 U.S.C. L. Rev. 463, 469 (2015). 82 42 U.S.C. §§ 2000bb (b) (1). 83 See City of Boerne v. Flores, 521 U.S. 507 (1997). 84 Smith, 440 U.S. at 888-9 (citations omitted). 85 See e.g. Zubik v. Burwell, 136 S. Ct. 1557 (2016). 86 Burwell v. Hobby Lobby Stores, Inc., 134 S. Ct. 2751, 2804 (2014) (Ginsburg, J., dissenting).
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the “compelling State interest test in the prior cases was never accompanied by a least restrictive alternative” as it was under RFRA.87 In light of RFRA, how should we evaluate the success of Scalia’s procrustean efforts to impose a rigid rule on free exercise cases in Smith? On the one hand, in rejecting a constitutional right to religious exemptions from generally applicable laws in Smith, Scalia made clear that he was not ruling out the possibility of exemptions, merely “leaving accommodation to the political process,” even though this would “place at a relative disadvantage those religious practices that are not widely engaged in.”88 Scalia’s willingness to leave the rights of minorities to the political process (and perhaps his expectation that they will lose in this process) unites his announced approach in both the gay rights cases discussed above and the religious accommodation cases. But in neither set of cases does he get what he wants. As to gay rights, over Scalia’s protests that the result is a “threat to American democracy”89, the Court constitutionalized the vision his dissents conjured up. As to religious accommodation, Scalia expected that the legislature would at most enact rule-like categorical exemptions for certain narrowly specified religiously motivated activities.90 He thought he had killed the compelling governmental interest test for religious exemptions by contorting it to fit in his procrustean bed in Smith. But far from remaining safely dead, the test rose up again stronger than ever, this time with democratic warrant and well nigh limitless scope in the form of RFRA. The very thing he found “horrible to contemplate” to wit “that federal judges will regularly balance against the importance of general laws the significance of religious practice,” the legislature from whom he had hoped for clear rules had now commanded. To borrow a metaphor Scalia used concerning another judge-made test used in religion clause cases, “[l]ike some ghoul in a late-night horror movie that repeatedly sits up in its grave and shuffles abroad, after being repeatedly killed and buried,”91 the compelling interest test for religious exemptions rose up to haunt him. In evaluating Scalia’s legacy, then, one must take account of what for him were the perverse consequences of both his procrustean majority opinions and his Cassandralike dissents, each of which can ultimately be reckoned failures in that, despite his best efforts, the approaches he wished to suppress prevailed and the law moved in exactly the opposite direction from the one in which he was seeking to drive it.
Sebelius v. Hobby Lobby Stores, Inc., 2014 U.S. Trans. LEXIS 47 at *7. Smith, 440 U.S. at 890. 89 Obergefell, 135 S.Ct at 2626 (Scalia, J., dissenting). 90 He certainly did not expect or welcome RFRA. As he said at the oral argument of Holt v. Hobbs, 13-6827 at 26, “bear in mind, I would not have enacted this statute.” 91 Lamb’s Chapel v. Center Moriches Union Free School District, 508 U.S. 384, 398 (1993) (Scalia, concurring in the judgment) (referring to the Lemon test for the Establishment Clause). 87
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“The Folly of a Judge-Run Democracy” Ein Interview mit Antonin Scalia* von
Patrick Bahners, München Over the last several days you have had discussions with fellow judges who serve on European courts. Are there any lessons the constitution-makers of the European Union can learn from the United States? I don’t know. What lessons are to be learned from us? What has been going on, not just in Germany but throughout the world, is belief in a super-democratic existence of human rights. I give a talk sometimes in America describing how during the administration of Franklin Roosevelt in the 1920s and 1930s America came to believe in the expert.1 And we set up these agencies that were isolated from the political process because we did not want to get politicians, we wanted to get experts to decide how to regulate the economy. So these people were to be appointed independent of the President, could not be controlled by the President. They were independent Das Interview wurde am 21. September 2009 in Berlin geführt, wo Scalia sich als Lloyd Cutler Distinguished Visitor der American Academy auf hielt. – Antonin Scalia, geboren am 11. März 1936 in Trenton, New Jersey, wuchs als Sohn eines aus Italien eingewanderten Professors der Romanistik und einer Grundschullehrerin im New Yorker Stadtbezirk Queens auf. Er studierte an der Georgetown University und der Harvard Law School. Von 1961 bis 1967 arbeitete er als Rechtsanwalt in der 1893 gegründeten Kanzlei Jones, Day, Cockley and Reavis in Cleveland, die heute die größte Anwaltsfirma der Vereinigten Staaten ist. Von 1967 bis 1971 war er Professor an der University of Virginia, von 1977 bis 1982 an der University of Chicago Law School. Unter den Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford war er in Washington tätig, im Office of Telecommunications Policy, als Vorsitzender der (mit Vorschlägen zur Verwaltungsreform befassten) Administrative Conference of the United States und als Assistant Attorney General im Office of Legal Counsel des Weißen Hauses. Ronald Reagan ernannte ihn 1982 zum Richter am United States Court of Appeals for the District of Columbia Circuit und 1986 zum Richter am Obersten Gerichtshof. Er starb in der Nacht vom 12. auf den 13. Februar 2016 in Shafter, Texas, und wurde in Fairfax, Virginia, begraben. 1 Auch in der Dankesrede für den Paweł-Włodkowic-Preis des polnischen Beauftragten für Bürgerrechte, den Scalia wenige Tage nach seinem Berlin-Besuch in Warschau entgegennahm, entwickelte er seine Kritik der Richterherrschaft aus der Parabel vom Aufstieg und Fall des Experten in der RooseveltÄra: Antonin Scalia, Mullahs of the West. Judges as moral arbiters, 2009. (Auf dem Titel der Broschüre ist die Rede falsch datiert. Scalia hielt sie am 24. September 2009, nicht am 24. August.) *
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agencies. Well, it was discovered, as should have been no surprise, that most of the questions of even economic regulation are not questions that experts can answer.2 There are no right and wrong answers. One of the new agencies was the Interstate Commerce Commission which had the power to set tariffs, rates for railroads.3 How high should the tariff be for carrying garbage, municipal waste? Is there a right answer to that? It costs as much to carry a carload of garbage as a carload of computer chips. If you let the railroad charge the actual cost plus a modest profit, it would be very expensive. But maybe you want to encourage cities to bury their municipal waste instead of incinerating it into the atmosphere. And if you want to do that, you have to set a lower rate for the garbage which will be made up for by the purchasers of the computer chips ultimately. This is political, and almost any question involves politics which is why we elect our leaders. Now, somehow there has developed in the early 21st century the notion, well, that may be true for economics, but surely it’s not true for human rights. There have to be right and wrong answers for human rights. Platonic human rights, they’re up there in the sky. We used to believe that of the common law. We used to think there was a common law up there in the sky. That has been replaced now with Human (capital H capital R) Rights. So the nations of the world adopt immensely vague guarantees. The right to development of the person:4 What in the world? It could include anything. And your Court has held that it includes anything. Including protection of information about yourself.5 Or the respect for human dignity.6 You know. Now, my country did not engage in puffery like that. We had fancy phrases in our Declaration of Independence, but that was a propaganda instrument: „Life, Liberty, and the Pursuit of Happiness.“ We didn’t have our judges use it as a law to govern people. But what has happened around the world is: There is suddenly this belief in human rights and somehow the notion that judges are specially qualified to answer these profound moral questions. As to whether there ought to be and therefore is a right to abortion.7 Whether there ought to be 2 Scalia war Gründungsherausgeber der von der Denkfabrik American Enterprise Institute verlegten Vierteljahrsschrift „Regulation“. 3 Die Interstate Commerce Commission, deren fünf Mitglieder gemäß den Bestimmungen des Interstate Commerce Act vom Präsidenten mit Zustimmung des Senats ernannt wurden und „for inefficiency, neglect of duty, or malfeasance in office“ vom Präsidenten entlassen werden konnten, war die älteste Behörde der sogenannten vierten Gewalt und existierte von 1887 bis 1995. Siehe näher Hans Kleinsteuber, Staatsintervention und Verkehrspolitik in den USA. Die Interstate Commerce Commis sion, 1977; Oliver Lepsius, Regulierungsrecht in den USA: Vorläufer und Modell, in: Michael Fehling/ Matthias Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, § 1 Rn. 18–32 m.w.N. 4 UN-Generalversammlung Resolution 41/128 (1986), Art. 1 Abs. 1: „Das Recht auf Entwicklung ist ein unveräußerliches Menschenrecht, kraft dessen alle Menschen und Völker Anspruch darauf haben, an einer wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entwicklung, in der alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll verwirklicht werden können, teilzuhaben, dazu beizutragen und daraus Nutzen zu ziehen.“ 5 BVerfGE 65, 1 – Volkszählung (1983). 6 Der Begriff der Menschenwürde, der in Verfassungen der Zeit vor 1945 nur vereinzelt vorkommt, findet sich in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen (1945) sowie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) und inzwischen in den Verfassungen von 162 der 193 UN-Mitgliedstaaten des Jahres 2012, vgl. Doron Shultziner/Guy E. Carmi, Human Dignity in National Constitutions: Functions, Promises and Dangers, The American Journal of Comparative Law 62 (2014), 461–490, hier 462 ff. 7 Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973).
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and therefore is a right to assisted suicide.8 Homosexual sodomy9 – all of these questions. Somehow it is thought that judges because they went to Harvard Law School have some special insight on these matters.10 Of course they have no special insight at all. But that is the difference. Our Bill of Rights, if you lay it next to the German [Grundgesetz] or the Convention on Human Rights, if you lay it next to that, it has none of those grandiose things. It is very specific: freedom of speech, of the press.11 No quartering of troops in homes.12 Persons shall be protected against unreasonable searches of their persons, houses, papers, and effects.13 Right to trial by jury in all matters at common law involving more than twenty dollars.14 Right to trial by jury in criminal [cases]15 – very, very specific. We have traditionally therefore approached our Constitution with a much less grandiose and philosophical approach than the new judges of the rest of the world, not just yours, but throughout the world. And they were all very happy to do this. Why would any society want these questions to be answered by unelected law-trained individuals? Why don’t you have a commission of ethicists, maybe clergymen, doctors? Why lawyers? It makes no sense. So, anyway, that’s the big difference. I don’t prescribe for other societies. If you want however to adopt the grandiose, all-embracing charter of human rights, you are going to be governed by judges, to a great extent.16 In your writings on abortion you insist that the Constitution does not determine it either way.17 Washington v. Glucksberg, 521 U.S. 702 (1997). Bowers v. Hardwick, 478 U.S. 186 (1986), aufgehoben durch Lawrence v. Texas, 539 U.S. 558 (2003). 10 Von den neun zum Zeitpunkt des Interviews amtierenden Richtern hatten fünf an der Harvard Law School studiert: der Vorsitzende John Roberts, Anthony Kennedy, Ruth Bader Ginsburg (bis zu ihrem Wechsel an die Columbia Law School), Stephen Breyer – und Scalia. 11 First Amendment: „Congress shall make no law […] abridging the freedom of speech, or of the press“. 12 Third Amendment: „No Soldier shall, in time of peace be quartered in any house, without the consent of the Owner, nor in time of war, but in a manner to be prescribed by law.“ 13 Fourth Amendment: „The right of the people to be secure in their persons, houses, papers, and effects, against unreasonable searches and seizures, shall not be violated, and no Warrants shall issue, but upon probable cause, supported by Oath or affirmation, and particularly describing the place to be searched, and the persons or things to be seized.“ 14 Seventh Amendment: „In Suits at common law, where the value in controversy shall exceed twenty dollars, the right of trial by jury shall be preserved, and no fact tried by a jury, shall be otherwise re-examined in any Court of the United States, than according to the rules of the common law.“ 15 Sixth Amendment: „In all criminal prosecutions, the accused shall enjoy the right to a speedy and public trial, by an impartial jury of the State and district wherein the crime shall have been committed, which district shall have been previously ascertained by law“. 16 Neil Gorsuch (geboren 1967), Richter am United States Court of Appeals for the Tenth Circuit, den Präsident Donald Trump am 1. Februar 2017 als Nachfolger Scalias nominierte, hielt am 7. April 2016 in der Case Western Reserve University School of Law einen Vortrag zum Gedenken an Scalia mit der These „that perhaps the great project of Justice Scalia’s career was to remind us of the differences between judges and legislators“ (Of Lions and Bears, Judges and Legislators, and the Legacy of Justice Scalia, Case Western Reserve Law Review 66 [2016], 905–920, hier 906). 17 Ohio v. Akron Center for Reproductive Health, 497 U.S. 502, 520 (1990): „[The] Constitution contains no right to abortion. It is not to be found in the longstanding traditions of our society, nor can it be logically deduced from the text of the Constitution, not, that is, without volunteering a judicial answer to the nonjusticiable question of when human life begins.“ 8 9
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Either way. That is a big difference from the view over here where people expect that in so fundamental a question there must be something in the constitution. There must be a right answer. It’s up there in the sky, it’s a matter of human rights. Of course there is a right answer. And there is! I believe there is a right answer because I believe in natural law. But the problem is: The people in our society don’t agree on what the right answer is.18 So why have a bunch of lawyers prescribe the right answer? As you know, your Court came out precisely the opposite way from ours. Your Court said: you must protect fetal life,19 my Court said: you cannot if a woman wants to kill it. Would you also think it legitimate to codify natural law through the legislative process? Of course. All societies have done that. So much of law is prescribed morality, laws against bigamy, for example. Does that rest upon anything except ethical beliefs? Perfectly stable societies are polygamous. Nonetheless we prohibit bigamy. Now, you know, as long as the law has ever existed there has been a proscription of things that are contra bonos mores, against good morals.20 So I have no problem at all about the law enforcing traditional morality. Laws against nudity, against prostitution. That sort. In 2003 your Court, reversing itself, declared penal laws preserving the traditional prohibition of homosexual intercourse to be unconstitutional. In your dissent you predicted that the majority had taken a stance from which it would be very difficult to defend the prohibition of same-sex marriage. If you can’t have the moral disapproval of homosexuality enshrined in law, it will be
18 In seinen Sondervoten zur Abtreibung betonte Scalia die Kosten des Festhaltens am Präzedenzfall Roe v. Wade für die Autorität des Gerichts. Das von Sandra Day O’Connor verfasste Urteil im Fall Webster v. Reproductive Health Services, das eine neue Grundsatzentscheidung vermied, wollte Scalia 1989 nicht als „triumph of judicial statesmanship“ gelten lassen. „It is not that, unless it is statesmanlike needlessly to prolong this Court’s self-awarded sovereignty over a field where it has little proper business, since the answers to most of the cruel questions posed are political, and not juridical -- a sovereignty which therefore quite properly, but to the great damage of the Court, makes it the object of the sort of organized public pressure that political institutions in a democracy ought to receive.“ (492 U.S. 490, 532) Im gleichen Sinne mahnte er 1990: „Leaving this matter to the political process is not only legally correct, it is pragmatically so. That alone and not lawyerly dissection of federal judicial precedents can produce compromises satisfying a sufficient mass of the electorate that this deeply felt issue will cease distorting the remainder of our democratic process. The Court should end its disruptive intrusion into this field as soon as possible.“ (497 U.S. 502, 520 f.) 19 BVerfGE 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I (1975); BVerfGE 88, 203 – Schwangerschaftsabbruch II (1993). 20 In seinem Sondervotum zur 1991 entschiedenen Frage, ob Striptease als eine Form von Ausdruckstanz unter den Schutz des ersten Verfassungszusatzes falle, vertrat Scalia den Standpunkt, dass der Zweck von Gesetzen gegen Obszönität nicht der Schutz der sittlichen Empfindlichkeit des zufälligen einzelnen Betrachters sei. „Our society prohibits, and all human societies have prohibited, certain activities not because they harm others but because they are considered, in the traditional phrase, ‚contra bonos mores‘, i.e., immoral. In American society, such prohibitions have included, for example, sadomasochism, cockfighting, bestiality, suicide, drug use, prostitution, and sodomy.“ (501 U.S. 560, 575)
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hard not to have homosexual marriage.21 Do you see this prognosis vindicated by what happened on the political side? No, not the political side.22 The Supreme Court of Massachusetts decided by a vote of three to two that Massachusetts has to allow same-sex marriage.23 And the Supreme Court of some other state did the same.24 I think my prediction is sound. I think that prescription is essentially one of moral perception, and if that doesn’t support it is much easier for a court to say: you are denying equal protection.25 I suppose 21 2003 widerrief der Oberste Gerichtshof im Fall Lawrence v. Texas mit einem von Anthony Kennedy verfassten Mehrheitsvotum seine 1986 (vor Scalias Ernennung) im Fall Bowers v. Hardwick verkündete Position, dass die von der Verfassung geschützte Privatsphäre nicht das Recht auf homosexuellen Geschlechtsverkehr einschließe. Scalia widersprach Kennedys Versicherung, dass das Urteil nichts mit der Frage zu tun habe, ob der Staat gleichgeschlechtliche Partnerschaften förmlich anerkennen müsse. Das im Kulturkrieg um die Ehe am häufigsten bemühte Argument, ihr Zweck sei die Zeugung von Kindern, wischte er vom Tisch. „Today’s opinion dismantles the structure of constitutional law that has permitted a distinction to be made between heterosexual and homosexual unions, insofar as formal recognition in marriage is concerned. If moral disapprobation of homosexual conduct is ‚no legitimate state interest‘ for purposes of proscribing that conduct; and if, as the Court coos (casting aside all pretense of neutrality), ‚[w]hen sexuality finds overt expression in intimate conduct with another person, the conduct can be but one element in a personal bond that is more enduring,‘; what justification could there possibly be for denying the benefits of marriage to homosexual couples exercising ‚[t]he liberty protected by the Constitution‘? Surely not the encouragement of procreation, since the sterile and the elderly are allowed to marry. This case ‚does not involve‘ the issue of homosexual marriage only if one entertains the belief that principle and logic have nothing to do with the decisions of this Court.“ (539 U.S., 558, 605) Richard Posner, als eloquenter Advokat einer pragmatischen Theorie der Urteilsfindung ein harscher Kritiker von Scalias Rechtsstaatslehre der strikten Regeln (locus classicus: Antonin Scalia, The Rule of Law as a Law of Rules, The University of Chicago Law Review 56 [1989], 1175–1188; dazu: Richard A. Posner, Law, Pragmatism, and Democracy, 2003, 347 ff.), interpretierte diese Passage 2014 in einer Urteilsbegründung des Bundesberufungsgerichts in Chicago so, dass der Oberste Gerichtshof sich nach Scalias Auffassung mit der im Fall Lawrence bezogenen Position verpflichtet habe, die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe anzuordnen (Baskin v. Bogan, 766 F.3d 648 [7th Cir. 2014], slip opinion, 14.) 22 Zwischen 2004 und 2008 stimmten die Wähler in 26 Bundesstaaten für Verfassungsänderungen, welche die Ehe als Gemeinschaft von Mann und Frau definierten: Alabama, Arizona, Arkansas, Colorado, Florida, Georgia, Idaho, Kalifornien, Kansas, Kentucky, Louisiana, Michigan, Mississippi, Missouri, Montana, North Dakota, Ohio, Oklahoma, Oregon, South Carolina, South Dakota, Tennessee, Texas, Virginia, Utah und Wisconsin. Vermont war 2009 der erste Bundesstaat, der die gleichgeschlechtliche Ehe durch Gesetz einführte. 23 Das Urteil des Massachusetts Supreme Judicial Court im Fall Goodridge v. Dept. of Public Health (798 N.E.2nd 941) erging am 18. November 2003, fünf Monate nach der Urteilsverkündung im Fall Lawrence v. Texas. 24 Der New Jersey Supreme Court 2006 im Fall Lewis v. Harris (188 N.J. 415; 908 A.2d 196). Es folgten 2008 der Supreme Court of California (43 Cal. 4th 757) und der Supreme Court of Connecticut (289 Conn. 135, 957 A.2d 407), 2009 der Iowa Supreme Court (763 N.W.2d 862). 25 2013 erklärte der Oberste Gerichtshof mit dem Urteil im Fall United States v. Windsor den Defense of Marriage Act von 1996, der die Ehe für Zwecke des Bundesrechts als Verbindung eines Manns und einer Frau definierte, für verfassungswidrig wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der „equal protection of the laws“, dessen Beachtung die Verfassung im Vierzehnten Zusatz den Bundesstaaten und implizit, gemäß der höchstrichterlichen Interpretation der Due Process Clause des fünften Zusatzes, auch dem Bund auferlegt. Anthony Kennedy legte in Namen einer Mehrheit von fünf Richtern dar, „the avowed purpose and practical effect“ des Gesetzes sei die Stigmatisierung von Paaren, die nach einzelstaatlichem Recht gesetzmäßige Ehen eingingen. Aus dem Gesetzgebungsverfahren im Repräsentantenhaus zitiert das Urteil die Absichtserklärung, das Gesetz solle dem „moral disapproval of homosexuality“ Ausdruck geben (570 U.S. _ [slip opinion, 21]). Zwei Jahre später verpflichtete der
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there are other interests supporting traditional marriage, like: Traditional marriage propagates the society and trains and raises the future members of society. I suppose you can distinguish it that way from most homosexual unions anyway. But that wasn’t the traditional thing behind it, I don’t think.26 Is the fact that there are now six Catholics on the Supreme Court just a coincidence, or do you see some kind of historical significance in that? Well, why pick on six Catholics? 27 There are six Catholics and two Jews,28 and Jews are nothing like five per cent of our population.29 No, it is extraordinary that in a country that is overwhelmingly protestant there is only one – to tell you the truth I don’t think there is a single practicing protestant on the Court. John Paul Stevens I believe is an agnostic.30 So you have six Catholics and two Jews. I am rather proud of that. I think it shows pretty clearly that our country is not divided by religion. It’s amazing that there has been very little upset about that, in the newspapers. And there would have been half a century ago. And that’s the way it ought to be because in fact Catholics don’t vote their religion, they vote their view of the Constitution. The big proponent of abortion was Bill Brennan, a Catholic.31 Tony Kennedy, a Catholic, has been on the other side from me in the abortion cases.32 I don’t vote my religion at all, the only part my religion plays in my judging is I try to obey whatever CommandOberste Gerichtshof mit dem wiederum von Kennedy verfassten Urteil im Fall Obergefell v. Hodges alle Bundesstaaten, Eheschließungen von Paaren gleichen Geschlechts vorzunehmen und anzuerkennen. Das Urteil deutet die Anwendung der Equal Protection Clause als einen unabgeschlossenen Lernprozess, in dem nach und nach immer neue Diskriminierungen bemerkt und abgestellt werden. Die Missbilligung der Homosexualität, die einst als sittliches Gemeinschaftsempfinden ausgegeben wurde, um gesetzliche Maßregeln zu rechtfertigen, überlebt nur als „personal opposition“, die „enacted law and public policy“ nicht bestimmen darf (576 U.S. _ [slip opinion, 19]). Zur Analyse dieser Entscheidung vgl. Nora Markard, Unausweichliche Gleichheit, JöR N.F. 64 (2016), 767 ff. 26 Diesen Einwand brachte Scalia 2003 gegen seine Kollegin Sandra Day O’Connor vor, die in ihrem Sondervotum zu dem von ihr mitgetragenen Mehrheitsvotum im Fall Lawrence v. Texas „preserving the traditional institution of marriage“ als den Typus von „legitimate state interest“ auszeichnete, der für die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung von heterosexuellem und homosexuellem Geschlechtsverkehr im texanischen Strafgessetzbuch fehle (539 U.S. 558, 585). Scalias Replik: „But ‚preserving the traditional institution of marriage‘ is just a kinder way of describing the State’s moral disapproval of same-sex couples.“ (539 U.S. 558, 601) 27 John W. Roberts, Antonin Scalia, Anthony Kennedy, Clarence Thomas, Samuel Alito und Sonia Sotomayor. 28 Ruth Bader Ginsburg und Stephen Breyer. 29 Nach den meisten Schätzungen liegt der jüdische Bevölkerungsanteil ungefähr bei zwei Prozent. 30 Als Stevens 2010 seinen Rücktritt bekanntgab, wurde er in der Presse als letzter Protestant auf der Richterbank beschrieben. Über eine förmliche konfessionelle Bindung ist nichts bekannt. Seine Nachfolgerin wurde Elena Kagan, eine weitere Jüdin. 31 Über die Rolle des von Eisenhower ernannten William J. Brennan in den internen Beratungen des Gerichts im Fall Roe v. Wade siehe Seth Stern/Stephen Wermiel, Justice Brennan: Liberal Champion, 2010, 369 ff. 32 Gemeinsam mit Sandra Day O’Connor und David Souter verfasste Kennedy 1992 das maßgebliche Votum im Fall Planned Parenthood v. Casey (505 U.S. 833), das die nach den Richterernennungen der Präsidenten Reagan und Bush Sr. weithin erwartete Auf hebung des Grundsatzurteils im Fall Roe v. Wade abwendete. Die Autoren des Gemeinschaftsvotums hoben die Bedeutung des Prinzips des „stare decisis“ für die Verfassungsrechtssicherheit hervor: Das Gericht dürfe sich nicht nur deshalb korrigieren, weil sich seine Mitgliedschaft geändert habe.
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ment it is, the Sixth, Seventh, I don’t know: Thou shalt not lie.33 Other than that it has no relevance. Would you say that in your legal training, in your course of studies, the kind of things you became acquainted with in Catholic political and social teaching, there were at least some things to stimulate a legal mind? I’m not in step with a lot of Catholic so-called political and social thinking. The Church doesn’t have a very good record in doing that the right way and I don’t subscribe to a lot of it and I don’t think I must. No, I don’t think that has had anything to do with my judicial philosophy. It may well be the opposite: that my belief in the word, in the power of the word and in the necessity, in a democracy, that words be given their genuine meaning and their meaning to the people when they adopted those words …34 That’s not future meaning. When we adopted this equal protection thing, yes, nobody thought it required same-sex marriage. But now, two hundred years later, we are going to give equal protection a new meaning. No, no, no, no, no. That’s not the way I do it. I believe in the word. What did the word equal protection mean when the people adopted it? It is clear that nobody thought it meant you had to allow same-sex marriage.35 So it is more likely my belief in the word that leads me to be a conservative Catholic rather than my conservative Catholicism that leads me to believe in the word. It might be said that the opposite view, the living constitution, has an affinity with a sort of protestant hermeneutics of process, of historical relativity. O yes, I said I was a conservative Catholic, I do not believe in a gospel that means whatever you bring to it. Just as I don’t believe in a Bill of Rights that means whatever you think it ought to mean. It had a meaning when it was adopted and that’s what I try to discern and rule. Which Supreme Court decisions might have come out differently if your predecessors had followed a textualist philosophy? The easiest one to identify is the opinion that held it unconstitutional for a state to prohibit the prescription of contraceptives to married couples.36 There is nothing, 33 Nach katholischer Zählung das achte Gebot: „Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.“ (Ex 20, 16). 34 Die klassische Formulierung dieser wortgläubigen Auslegungslehre: Antonin Scalia, A Matter of Interpretation. Federal Courts and the Law, 1997. 35 So auch Scalias Sondervotum im Fall Obergefell v. Hodges: „When the Fourteenth Amendment was ratified in 1868, every State limited marriage to one man and one woman, and no one doubted the constitutionality of doing so. That resolves these cases. When it comes to determining the meaning of a vague constitutional provision – such as ‚due process of law‘ or ‚equal protection of the laws‘ – it is unquestionable that the People who ratified that provision did not understand it to prohibit a practice that remained both universal and uncontroversial in the years after ratification.“ (576 U.S. _ [slip opinion, 4]) 36 Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479 (1965). Den Textualisten gilt dieses Urteil als Sündenfall, weil das von William O. Douglas verfasste Mehrheitsvotum das Recht auf Privatheit nicht dem Wortlaut der Bill of Rights entnimmt, sondern die Deutungsfigur vorgängiger Implikationen der ausdrücklich gewährten Rechte einführt: „specific guarantees in the Bill of Rights have penumbras, formed by
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nothing about the protection of marriage or the protection of the right to raise your children or all those other things that are up there. They are up there in the sky. That is part of human rights, maybe, but it’s not in our Bill of Rights. So I would have said it’s up to the states. Now when I say the case would have come out differently I do not think that the outcome ultimately would have been any different. One state after another would simply have eliminated the prohibition of the use of contraceptives. That would have happened if my Court had said it was unconstitutional to prohibit it or not. And that’s what a lot of people don’t see. They think you need the Constitution to enable change. You don’t need the Constitution to enable change. You want same-sex marriage? Pass a law! The Constitution neither requires it nor forbids it. Pass a law! That’s the way rights have usually been created in democratic societies. Not imagined or invented by nine lawyers – five out of nine lawyers. I’m not sure we’d be in any different situation from where we are today. But you’re right, particular cases might have come out differently. And I will even stipulate that maybe some cases would have come out in a way that was at the moment at least less desirable for society. For example: I personally would have voted with the majority in Brown v. Board of Education, the case that said you could not discriminate in school on the basis of race.37 There are many however who think that an originalist would have had to come out the other way.38 I don’t think so because I’m a textualist.39 I begin with the text which prohibits especially discrimination on the basis of race.40 But let’s assume emanations from those guarantees that help give them life and substance“ (381 U.S. 479, 484). Die Privatsphäre wird in dieser Sicht deshalb nicht in der Verfassung erwähnt, weil ihre Unantastbarkeit vorausgesetzt wird. Für Scalia konnte das Urteil auf diesem Wege nur ein „so-called ‚right to privacy‘“ begründen (539 U.S. 558, 595). 37 347 U.S. 483 (1954). 38 Michael McConnell, von 2002 bis 2009 Richter am Bundesberufungsgericht in Denver, stellte 1995 fest: „In the fractured discipline of constitutional law, there is something very close to a consensus that Brown was inconsistent with the original understanding of the Fourteenth Amendment, except perhaps at an extremely high and indeterminate level of abstraction.“ (Michael McConnell, Originalism and the Desegregation Decisions, Virginia Law Review 81 [1995], 947–1140 [952]). 39 In seinem gemeinsam mit Bryan Garner verfassten Lehrbuch der Auslegung wendet Scalia gegen die Begründung des einstimmigen, vom Gerichtsvorsitzenden Earl Warren verfassten Urteils von 1954 ein, sie habe ohne Not „the changed times“ bemüht, um die Abkehr von der 1896 im Fall Plessy v. Ferguson für unbedenklich erklärten Doktrin zu rechtfertigen, auch nach Rassen getrennte Einrichtungen könnten Schwarze und Weiße gleich behandeln. „The text of the Thirteenth and Fourteenth Amendments, and in particular the Equal Protection Clause of the Fourteenth, can reasonably be thought to prohibit all laws designed to assert the separateness and superiority of the white race, even those that purport to treat the races equally.“ (Antonin Scalia/Bryan Garner, Reading Law. The Interpretation of Legal Texts, 2012, 88). 40 Fourteenth Amendment, Section 1: „All persons born or naturalized in the United States, and subject to the jurisdiction thereof, are citizens of the United States and of the State wherein they reside. No State shall make or enforce any law which shall abridge the privileges or immunities of citizens of the United States; nor shall any State deprive any person of life, liberty, or property, without due process of law; nor deny to any person within its jurisdiction the equal protection of the laws.“ Hier ist nicht von Rasse die Rede, aber in der Fußnote eines Sondervotums von 1990 erläuterte Scalia, dass der vierzehnte Zusatz im Lichte des dreizehnten, der Abschaffung der Sklaverei, gelesen werden müsse: Beides nebeneinander „leaves no room for doubt that laws treating people differently because of their race are invalid“ (Rutan v. Republican Party of Illinois, 497 U.S. 62, 95 Fn. 1). Ronald Turner, A Critique of Justice Antonin Scalia’s Originalist Defense of Brown vs. Board of Education, UCLA Law Review 62 (2014), 170–184 (177 f.), hat weitergelesen und darauf hingewiesen, dass der fünfzehnte Zusatz die
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that an originalist could not have decided Brown that way. So what? I mean I will stipulate that a faulty philosophy of interpretation can produce some very good results on occasion. Hitler produced a hell of an automobile, and a stopped clock is right twice a day. You cannot judge a system of judicial philosophy on the basis of whether now and then it produces a result you like. You have to look over the long term and see what it will lead to eventually. And what it will lead to eventually is judicial hegemony, the most important decisions for a society being made by judges rather than by the people, and I cannot understand how anyone who believes in democracy can view that prospect with equanimity. You have said that the way to change the Constitution is to amend it and not to reinterpret it without basis in the text.41 Right. Now if one compares the U.S. Constitution and the German Grundgesetz … It’s much harder. So is there a case for flexibility, at least comparative flexibility, in interpreting a constitution which is very hard to amend? If there were one provision of my Constitution which I would amend, it’s probably the amendment provision42 which originally was reasonable enough when you only had to get three quarters of thirteen states to agree but three quarters of fifty states, and much more diverse states, is very hard. So I would amend that. But: We can amend it if the people think it’s too hard to change the Constitution. Of course if the judges just change the Constitution on their own the people will have no incentive to amend the amendment provision. So the fact that it hasn’t been amended in the last fifty years you can blame on Earl Warren and the new school of an evolving Constitution. Who has to amend it? It means what it ought to mean. And the judges will tell us what it ought to mean. On the other hand, I didn’t raise that amendment provision as my first defense of originalism. The first defense is simply that you don’t need a constitution to keep everything up to date. The legislature can keep everything up to date. Most of the things my Court has done with the evolving Constitution is to create new rights. You don’t need a constitution for that, you have a legislature and a ballot box. I think had we not decided Brown v. Board of Education we would probably be right where we are today on the issue of racial equality. No doubt about that. Most of the advances in civil rights in America did not come through the courts,
Rassendiskriminierung im Wahlrecht ausdrücklich verbietet – woraus Turner gegen Scalia schließt, dass nach dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers aus der Sklavenbefreiung nicht automatisch die Gleichstellung der Rassen in allen Gesellschaftsbereichen habe folgen sollen. Die Initiatoren des vierzehnten Zusatzes hätten die Interpretation ihrer Gegner zurückgewiesen, dass er die Auf hebung der Rassentrennung in den Schulen erzwingen müsse. 41 „Seventy-five years ago, we believed firmly enough in a rock-solid, unchanging Constitution that we felt it necessary to adopt the Nineteenth Amendment to give women the vote.“ (Scalia, A Matter of Interpretation [Fn. 33], 47). 42 Article 5.
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through Brown. They came through Title VII of the Civil Rights Act of 1968. There has been a legislative drive towards equal rights, which is the way it ought to be.43 While stressing the objective meaning of the text of the statutes and the Constitution, in your own opinions you can sound subjective. They are written in a personal, recognizable voice. Do you see yourself as addressing mainly your colleagues on the Court, other judges, or also the public and the political branches? As regards addressing my colleagues on the Court, we’ve had the discussion and had the vote. I’ve either won or lost. With my view of things I address my colleagues. I suppose it depends. Are you talking about my dissents, my majority opinions? Which? Let’s take the dissents.44 My dissents: If I have a particular audience in mind, it is probably law students because they get fed in law school. The American intelligentsia, the professoriate is almost universally evolutionist, because it empowers them, it empowers judges. It’s a very popular approach for them. Law students don’t hear much about original meaning. On the other hand, one thing about our law schools: If I write a good dissent it will appear in the casebook. We have the case method in which you discuss cases and say: What is there to be said on the other side? Well, a professor doesn’t have to make up what is to be said on the other side. It’ll be there in my dissent, and the students will read my dissent, and some of them will be persuaded by my approach to the law. The current generation I have little hope of persuading. They’ve been fed this pap ever since the Warren Court. I hope the future generation may see the folly of a judge-run democracy. And I think there have been changes in that regard. There are now three originalists on the faculty at Harvard.45 I never thought I would see a single one. 43 Ein Leitthema in Scalias Voten zu der von Title VII verbotenen Diskriminierung am Arbeitsplatz ist „a desire for explicit statutory language and a desire for explicit rules to govern statutory remedies for discrimination“. Durch „a demand for evidence of specific, individualized harm caused by action of law or defined by law“ konterkarierte er „[t]he pragmatic liberal concern for implementing policies designed to promote a less discriminatory society“, (Richard A. Brisbin, Jr., Justice Antonin Scalia and the Conservative Revival, 1997, 173). 2015 verfasste Scalia die Begründung des Urteils zugunsten einer Kopftuchträgerin, die das Bekleidungsunternehmen Abercrombie & Fitch nicht als Verkäuferin eingestellt hatte. Während Scalia im verfassungsrechtlichen Streit über die Grenzen der Religionsfreiheit betonte, dass die religiöse Pflichterfüllung des Gläubigen hinter seinen Bürgerpflichten aus einem für alle geltenden Gesetz zurücktreten müsse (Employment Division v. Smith, 494 U.S. 872 [1990]), stellte er hier fest, dass der einfache Gesetzgeber von den Arbeitgebern mehr als „mere neutrality with regard to religious practices“ verlange und der Religion „favored treatment“ angedeihen lasse (575 U.S. _ [slip opinion, 6 f.). 44 Sie liegen als Buch vor: Scalia Dissents. Writings of the Supreme Court’s Wittiest, Most Outspoken Justice, hg. v. Kevin A. Ring, 2004. 45 Scalia nannte diese Zahl auch bei anderen Gelegenheiten und schrieb die Ernennung der drei weisen (mutmaßlichen) Männer seiner Richterkollegin Elena Kagan zu, der Dekanin der Harvard Law School von 2003 bis 2009, die Präsident Obama 2010 zur Nachfolgerin des liberalen Nestors John Paul Stevens ernannte. Möglicherweise hatte Scalia die Professoren Jack Goldsmith (berufen 2004), John Manning (berufen 2004) und Adrian Vermeule (berufen 2006) im Sinn. Da Zweifel daran geäußert worden sind, dass diese drei konservativen Rechtsgelehrten wirklich für eine Hermeneutik des ursprünglichen Verfassungssinns in Anspruch genommen werden können, sollte man womöglich in Er-
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Do you see dangers for the idea of the unity of the law in the American practice of frequent dissents? I’m not sure it’s any more frequent than it was.46 I think the issues on which there is room for dissent are so much more numerous than they used to be. I think most of our decisions are still unanimous. You have a misimpression of our jurisprudence if you only focus on those hot button cases that involve highly controversial issues. I wrote a piece about dissents for the journal of the Supreme Court Historical Society.47 And in thinking about it I liked dissents more and more. For one thing, when the society realizes thirty years later that the Court really went astray, made a terrible mistake, it’s wonderful to realize that somebody appreciated that and pointed it out. For instance, in the Korematsu case where we interned American citizens who were of Japanese descent, ripped them out of their homes, put them in internment camps, because they might help the enemy, a terrible thing to do.48 And the Court gave its blessing. A powerful dissent from one of my predecessors, Robert Jackson – he occupied the seat that I now hold on the Court – actually it was not a dissent, it was a concurrence.49 And it shows you how much things have changed. Most people remember it as I did as a dissent. He said it was wrong for the Court to do it. He did say it was wrong and he thought it was wrong in substance. What he thought what the result in the case should be was exactly what the Court [decided].50 But he said the Court should have said it’s a military decision and therefore beyond our competence.51 Now, what a change that has been in half a century. But it is wonderful to have his criticism of the judgment out there. It makes you feel better about the society. Just as I suppose Germans feel better about the fact that there were several plots wägung ziehen, die Dreizahl als eine mythische Größe zu verstehen: Tres faciunt collegium, selbst in Harvard sind die Originalisten geschäftsfähig. 46 Tatsächlich ist der Anteil der einstimmigen Entscheidungen langfristig gestiegen, von einem Fünftel unter dem Gerichtsvorsitzenden Fred Vinson (1946 bis 1952) auf ein Drittel unter John Roberts, der in seiner Anhörung im Senat 2005 versprach, sich um den Konsens auf der Richterbank zu bemühen: Vgl. Lee Epstein/William M. Landes/Richard A. Posner, Are Even Unanimous Decisions in the United States Supreme Court Ideological? Northwestern University Law Review 106 (2012), 699–714, Grafik auf Seite 702. Im Sitzungsjahr 2008/2009 war die Einmütigkeit allerdings stark zurückgegangen, wie Ruth Bader Ginsburg in einer Rede vor dem Harvard Club in Washington besorgt vermerkte: The Role of Dissenting Opinions, Minnesota Law Review 95 (2010), 1–8. 47 Antonin Scalia, The Dissenting Opinion, The Journal of Supreme Court History 19 (1994), 33–44. 48 323 U.S. 214 (1944). Das Urteil erging mit sechs zu drei Stimmen, der Autor des Mehrheitsvotums war Hugo Black. 49 Scalia irrte, als er sich korrigierte: Jackson war einer der drei Dissenter. 50 Nicht ganz genau: „I would reverse the judgment and discharge the prisoner.“ (323 U.S. 214, 248) 51 Zwar erkannte Jackson an, dass die Entscheidungen, die ein Offizier im Krieg unter Berufung auf die militärische Notwendigkeit fällt, gerichtlicher Überprüfung praktisch entzogen sind. Doch gerade deshalb warnte er davor, die Anordnung zur Internierung des Klägers für verfassungsgemäß zu erklären. Für die Risiken einer solchen Legalisierung von Notmaßnahmen fand Jackson ein unvergessliches Bild: „A military order, however unconstitutional, is not apt to last longer than the military emergency. Even during that period, a succeeding commander may revoke it all. But once a judicial opinion rationalizes such an order to show that it conforms to the Constitution, or rather rationalizes the Constitution to show that the Constitution sanctions such an order, the Court for all time has validated the principle of racial discrimination in criminal procedure and of transplanting American citizens. The principle then lies about like a loaded weapon, ready for the hand of any authority that can bring forward a plausible claim of an urgent need.“ (323 U.S. 214, 246)
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to kill Hitler. At least some people, even some people in high places saw we were going in the wrong direction. It makes you feel good. Secondly, a dissent keeps the majority honest. The opinions of mine that I am most dubious about are the opinions for a unanimous Court. There’s nobody there to point out where I am going wrong. I prefer to have a dissent because the dissent will focus on the weakest part of my opinion. Sometimes I will change it in light of the dissent. And that is a very helpful function of a dissent.52 And lastly, and maybe most importantly, dissenting keeps the judges honest. You don’t know how your judges are voting, they are voting this way or that way, you don’t know. For me, you know. I have never joined an opinion that I did not think was correct, both in its outcome and in is essential reasoning. If I have any reservation I write separately. I may write very shortly, very briefly but I write separately. So you can criticize me and you can say I’m inconsistent, I’m tendentious or whatever. Not just on the basis of the decisions that I have written but on the basis of the decisions I joined. That is the only sanction that judges have. The criticism of the Bar and of the people for their idiocy and inconsistency. So you can tell when I’m being inconsistent, I’m all out there. Where I disagree I’ve said so. Otherwise I agree with what the majority said. You can’t do that in those courts where you go along to get along. I think that is an important function of the dissent. I will wager that American Supreme Court opinions are more a part of the intellectual life of the country than the opinions of courts in other countries. And the dissent has a lot to do with that. Because when a law professor wants to teach a case he doesn’t have to imagine what the best arguments for the other side are. It’s all there, the best arguments for the way the Court came out and the best arguments for the other side. You can discuss it in class, you use the case itself, as the teaching tool, as the casebook. Something which unites the Justices of the current Supreme Court is your common background as federal judges. Is this a high mark of professionalization? I regret that, to tell you the truth. When I came on the Court there were three of the nine who not only had never been federal judges but had never been judges. Lewis Powell had been president of the American Bar Association, he was a legal practitioner.53 Bill Rehnquist had been in the executive branch and before that in practice, he had never been on a court.54 And Byron White had been in private
52 Für dieselbe Erfahrung verbürgt sich Ruth Bader Ginsburg mit dem Beispiel ihres Mehrheitsvotums zugunsten der Zulassung von Frauen zur Ausbildung am Virginia Military Institute (United States v. Virginia, 518 U.S. 515 [1996]): „The final draft, released to the public, was ever so much better than my first, second, and at least a dozen more drafts, thanks to Justice Scalia’s attention-grabbing dissent.“ (The Role of Dissenting Opinions, 3) 53 Lewis F. Powell, Jr., (1907–1998), Partner in der Kanzlei Hunton, Williams, Gay, Powell and Gibson in Richmond, Virginia, und Präsident der American Bar Association 1964/65, wurde 1971 von Richard Nixon zum Richter am Obersten Gerichtshof ernannt und trat 1987 in den Ruhestand. 54 William Rehnquist (1924–2005), Rechtsanwalt in Phoenix, Arizona, bis 1969, arbeitete als Assistant Attorney General in Nixons Justizministerium und wurde von ihm 1971 zum Richter am Obersten Gerichtshof ernannt. Ronald Reagan beförderte ihn 1986 zum Gerichtsvorsitzenden. Er starb 2005 im Amt.
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practice.55 Three of the nine. Right now, none of the nine.56 The reason for it is quite simple. Largely because of the evolving Constitution philosophy, Supreme Court appointments have become more and more controversial. The people figured out what we’re doing. It took them awhile, but they have finally understood that we’re not being lawyers [asking] what does this word mean, what did it mean when it was adopted. That’s not what we’re doing. We’re saying: What should it mean? What should human rights be? Once they understood what we are doing they began to say: Hey, once upon a time we used to select Justices on the base of who’s a good lawyer, who can read a text, who can understand its history. Scalia, for example, he was approved by the Senate 98 to nothing. And the two senators missing were the two most conservative senators in the Senate, Barry Goldwater and Jake Garn.57 What has changed is that the people have figured out that the most important thing is now not whether he is a good lawyer. The most important thing is: Is this guy Byron White (1917–2002), Footballstar und Rechtsanwalt in Denver, Colorado, arbeitete als Deputy Attorney General in John F. Kennedys Justizministerium und wurde von ihm 1962 zum Richter am Obersten Gerichtshof ernannt. Er trat 1993 in den Ruhestand. 56 Keiner der neun Oberrichter zum Zeitpunkt des Interviews war nicht vorher Bundesrichter an einem Gericht der zweiten Instanz (United States Court of Appeals) gewesen. John Roberts (geboren 1955) arbeitete im Justizministerium und im Weißen Haus unter den Präsidenten Reagan und Bush Sr. und plädierte als Partner der Kanzlei Hogan & Hartson in Washington in 39 mündlichen Verhandlungen vor dem Obersten Gerichtshof. 2003 ernannte ihn George W. Bush zum Richter am United States Court of Appeals for the District of Columbia Circuit, 2005 zum Chief Justice of the United States. Anthony Kennedy (geboren 1936) übernahm die Anwaltskanzlei seines Vaters in der kalifornischen Hauptstadt Sacramento, wurde 1975 von Gerald Ford zum Richter am United States Court of Appeals for the Ninth Circuit und 1988 von Ronald Reagan zum Richter am Obersten Gerichtshof ernannt. Clarence Thomas (geboren 1948) arbeitete im Justizministerium von Missouri und in der Bürgerrechtsabteilung des Bildungsministeriums in Washington. Von 1982 an leitete er die Equal Employment Opportunities Commission. George H. W. Bush ernannte ihn 1990 zum Richter am United States Court of Appeals for the District of Columbia Circuit und ein Jahr später zum Richter am Obersten Gerichtshof. Ruth Bader Ginsburg (geboren 1933) war Professorin an den Universitäten Rutgers und Columbia und von 1973 an General Counsel der American Civil Liberties Union. Jimmy Carter ernannte sie 1980 zur Richterin am United States Court of Appeals for the District of Columbia Circuit, Bill Clinton 1993 zur Richterin am Obersten Gerichtshof. Stephen Breyer (geboren 1938) lehrte von 1967 an in Harvard und arbeitete mehrfach in Washington, unter anderem als Chief Counsel des Rechtsausschusses des Senats. Carter ernannte ihn 1980 zum Richter am United States Court of Appeals for the First Circuit, Clinton 1994 zum Richter am Obersten Gerichtshof. Samuel Alito (geboren 1950) war Bundesstaatsanwalt in New Jersey und arbeitete unter Präsident Reagan im Justizministerium und im Weißen Haus. Der ältere Präsident Bush ernannte ihn 1990 zum Richter am United States Court of Appeals for the Third Circuit, der jüngere 2006 zum Richter am Obersten Gerichtshof. Sonia Sotomayor (geboren 1954) war Staatsanwältin in New York und Anwältin in einer auf Handelsrecht spezialisierten Kanzlei in New York. George H. W. Bush ernannte sie 1992 zur Richterin am United States District Court for the Southern District of New York, Bill Clinton 1998 zur Richterin am United States Court of Appeals for the Second Circuit und Barack Obama 2009 zur Richterin am Obersten Gerichtshof. – Elena Kagan (geboren 1960), von Obama 2010 ernannt, durchbricht das von Scalia beklagte Muster: Die frühere Harvard-Dekanin war zum Zeitpunkt ihrer Nominierung Generalstaatsanwältin der Vereinigten Staaten. 57 Barry Goldwater (1909–1998), Senator aus Arizona 1953 bis 1965 und 1969 bis 1987, Präsidentschaftskandidat der Republikaner 1964. Jake Garn (geboren 1932), Senator aus Utah 1974 bis 1993. Der Senat stimmte am 17. September 1986 über Scalias Nominierung ab, nachdem er die Beförderung von William Rehnquist zum Gerichtsvorsitzenden mit 65 zu 33 Stimmen bestätigt hatte. Der demokratische Senator Edward Kennedy sagte während der kurzen Aussprache über Scalia, er sei ein Konservativer, aber „clearly in the mainstream“ (Linda Greenhouse, The New York Times, 18. September 1986). 55
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going to write the new Constitution that I like? Will the new Constitution have homosexual rights in it or not? Will it have abortion in it or not? That’s what’s going on. And once you’re in that mode the President cannot afford to nominate somebody who has no judicial experience. Because it’s an easy way to defeat: oh, no judicial experience! 58 They never defeat him for the real reason, they always come up with some other reason. And I think that’s the basic reason why every single person on the current Court has been a federal judge before – so that the opposition could not say: no judicial experience. One sometimes has the impression that the system tends to self-destruct: The Senate holds hearings or rather tribunals, but they don’t manage to ask a single meaning ful question where the candidate has to show what his or her ideal Constitution might be like. I agree. It’s the job of the nominee to provide as few answers as possible because the nominee wants to, as he should, retain his freedom of action for future decisions. And if you make a commitment to the Senate it’s very hard to go back on that, if this was the quid pro quo of your confirmation. So it is the job of the nominees to answer as little as possible. Some of them can get away with answering very little. I answered very little.59 But some of them, they are so controversial, they have to be more forthcoming. But look, my earlier comment should not be taken to mean that I disapprove of the changed nature of our Senate hearings. I regret that changed nature. But by God, if the Supreme Court is writing a new Constitution, term by term, giving new meaning to words that used to have a different meaning, if that’s what they are doing, they ought to be asked the question what kind of a Constitution are you going to write for us. That’s the most important question. Why shouldn’t they answer? Of course they should. In other words: Ideally, I would like a Court of lawyers that just gives the meaning which the people adopted. But if you can’t have that I would rather have the people decide what the Court is going to be like than nine judges selected without any real democratic input. So we are where we are, thanks to the checks and balances of our Constitution, and I think probably they’re working o.k. Speaking of the separation of powers, it seems to me that one peculiarity of American constitutional doctrine not easily understood in Europe is the idea that there are specifically political questions which you are not able to decide. I don’t believe in that doctrine, the so-called non-justiciable question because it’s too hot for the Court to handle. That is an unbounded doctrine. I don’t think so. I think 58 Ein Argument, das sowohl Demokraten als auch Republikaner 2005 gegen Harriet Miers ins Feld führten, deren Nominierung für den Obersten Gerichtshof George W. Bush zurückziehen musste, vgl. Elisabeth Bumiller/David D. Kirkpatrick, The New York Times, 25. Oktober 2005. Viele Republikaner hatten den Verdacht, Miers, die vor ihrer Ernennung zum White House Counsel Bushs Rechtsanwältin in seiner Zeit als Gouverneur von Texas gewesen war, sei nicht konservativ genug. 59 Vergeblich legte Senator Kennedy dem Kandidaten die Frage vor, ob er gegebenenfalls für die Auf hebung des Abtreibungsurteils Roe v. Wade stimmen werde. „Scalia’s natural instinct was to engage the question, to do battle. But he, his White House advisers, and his personal confidants had decided ahead of time that he should say as little as possible.“ ( Joan Biskupic, American Original. The Life and Constitution of Supreme Court Justice Antonin Scalia, 2009, 113). Andere Fragen im Rechtsausschuss des Senats betrafen die Pressefreiheit und die Minderheitenförderung durch umgekehrte Diskriminierung.
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the judge has to provide the answer even if it means taking a hit from public opinion. The law is the law. Not everybody believes in that doctrine of backing away from the case because it’s too political. There are some areas of the Constitution where we have no part, where the Constitution says who the final word is going to be, for example whether a member of the House or the Senate has been properly elected.60 Ultimately it is up to the members of the House, it says it in the Constitution, to determine the qualification of their members.61 So we won’t touch that. And there are other areas where the Constitution makes it very clear that it is none of our business. Besides that we have a much more restrictive doctrine of standing, they call it locus standi in continental jurisprudence, which has the effect of keeping out of our Court many questions that would be very political hot potatoes, so to speak, because there is nobody who has standing to raise them.62 You have to have been harmed by the action of the government, personally harmed in some distinguishing way.63 You cannot bring a lawsuit just because you are upset about the government being in a 60 Das von William Brennan verfasste Mehrheitsvotum im Fall Baker v. Carr, in dem sich der Oberste Gerichtshof 1962 das Recht zusprach, in Angelegenheiten des Neuzuschnitts von Wahlbezirken zu entscheiden, enthält einen Katalog von Merkmalen der politischen und deshalb nicht justiziablen Frage: „Prominent on the surface of any case held to involve a political question is found a textually demonstrable constitutional commitment of the issue to a coordinate political department; or a lack of judicially discoverable and manageable standards for resolving it; or the impossibility of deciding without an initial policy determination of a kind clearly for nonjudicial discretion; or the impossibility of a court’s undertaking independent resolution without expressing lack of the respect due coordinate branches of government; or an unusual need for unquestioning adherence to a political decision already made; or the potentiality of embarrassment from multifarious pronouncements by various departments on one question.“ (369 U.S. 186, 217) Vor allem die letzten beiden Kriterien öffnen Opportunitätserwägungen die Tür, wie Scalia sie kritisiert. Für den Originalisten Scalia ist das erste Kriterium entscheidend; auf die entsprechenden, den Gerichten Grenzen setzenden Verfassungsbestimmungen eine eigene Doktrin der politischen Fragen zu gründen lehnt er ab, da eine solche Lehre als Einladung zur Abweichung von den klaren Regeln verstanden werden könnte, die er der Verfassung entnimmt. Scalias historischer Ansatz der Verfassungshermeneutik „jettisons the political question doctrine altogether and focuses on the types of cases originally considered to be beyond the Court’s purview“, so Zachary Baron Shemtob, The Political Question Doctrines: Zivotofsky v. Clinton and Getting Beyond the Textual-Prudential Paradigm, The Georgetown Law Journal 104 (2016), 1001–1028 (1003). 61 Als Berufungsrichter verfasste Scalia 1986 die Urteilsbegründung im Fall Morgan v. United States, in dem das Berufungsgericht für den Hauptstadtbezirk es ablehnte, zugunsten des republikanischen Kandidaten in eine Wahlprüfungssache aus den Kongresswahlen des Jahres 1984 einzugreifen, in der das Repräsentantenhaus mit seiner demokratischen Mehrheit den Demokraten zum Sieger in einem Wahlkreis von Indiana erklärt hatte. Für Scalia war die Sache mit dem Verweis auf den Verfassungstext erledigt, wonach jedes der beiden Häuser des Kongresses „the Judge of the Elections, Returns and Qualifications of its own Members“ sein soll (Article 11 Section 5); er vermerkte, dass das Gericht zu diesem Ergebnis gelangte, ohne sich auf „the amorphous and partly prudential doctrine of ‚political questions‘“ stützen zu müssen (801 F.2nd 445, 447 [DC Cir. 1986]). 62 Als Berufungsrichter veröffentlichte Scalia einen einflussreichen Aufsatz, in dem er für eine restriktive Handhabung der Zulässigkeitskriterien plädierte, um der „overjudicialization of the processes of self-governance“ entgegenzuwirken: Antonin Scalia, The Doctrine of Standing as an Essential Element of the Separation of Powers, Suffolk University Law Review 17 (1983), 881–899 (881). Zum rechtspolitischen Kontext siehe Brisbin (Fn. 42), 46–50. 63 Scalia verfasste die Begründungen einer Serie von Urteilen, die Musterklagen von Umweltschützerverbänden mit dem Argument für unzulässig erklärten, die Kläger hätten keine „injury in fact“ nachgewiesen: Lujan v. National Wildlife Federation, 497 U.S. 871; Lujan v. Defenders of Wildlife, 504 U.S. 555. Vgl. Patti A. Meeks, Justice Scalia and the Demise of Environmental Law Standing, Journal of Land Use and Environmental Law 8 (1993), 349–373.
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war or because you are upset about the government ignoring the limited nature of the Commerce Clause. „That gets me mad that the government is acting unconstitutionally!“ No, no, no, no, that’s not a basis for standing. I think it is in Europe. When you have that standing doctrine you have to be hurt. A lot of things that would be highly politically controversial are simply kept out of court. And when they get to court it’s many years down the road.64 It’s not when the new statute is passed, when there is the height of the political controversy, it comes up later. This phenomenon was observed by Tocqueville. In his Democracy in America, he noted that this is one of the reasons that the Americans give so much power to their judges.65 Because the doctrine of standing keeps some matters out of the courts. And those matters that do come into the courts do not come in at the immediate stage of controversy. The Europeans haven’t followed that system of ours, and I think they regret it. Some of the European constitutions indeed enable the matter to be brought into the court while the legislation is still pending. I think that’s the French system, I think they allow a member of the parliament to bring the matter before the court, claiming that the proposed bill is unconstitutional.66 That’s terrible, that just injects the court right into the turmoil of politics. I once heard a lecture you gave in London to English judges and I seem to remember that your message was: Don’t be too keen on a written constitution, rather look at how the tradition of an unwritten constitution in England might still be vital even for the present. But I suppose since you gave that talk some years ago your English colleagues have not followed your advice. No, they haven’t and indeed even though they seem to have stumbled along pretty well with their system for, what, six centuries they are going to change to a Supreme Court of England. I am going to go over there in October to celebrate, if that’s what is to be done, to celebrate the coming into being of the new court.67 Well, this is not a good age for drafting constitutions, for two reasons. Number one: Interest groups 64 Nach Scalias Auffassung hätte das Gericht die 2013 im Fall United States v. Windsor gefällte Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit des Defense of Marriage Act vermeiden müssen, da es an einem echten Streitfall, einem Fall mit zwei Parteien, gefehlt habe (570 U.S. _ [slip opinion, 1 ff.]): Die Bundesregierung begehrte ebenso wie Edith Windsor ein Urteil zugunsten der New Yorkerin, die von der Bundesfinanzverwaltung nicht als Witwe ihrer nach New Yorker Recht mit ihr verheirateten Lebenspartnerin anerkannt worden war. 65 Im Aufsatz von 1983 zitierte Scalia (Fn. 61, 892) aus dem sechsten Kapitel von Tocquevilles Amerika-Buch: „It will be seen … that by leaving it to private interest to censure the law, and by intimately uniting the trial of the law with the trial of an individual, legislation is protected from wanton assaults and from the daily aggressions of party spirit. The errors of the legislator are exposed only to meet a real want; and it is always a positive and appreciable fact that must serve as the basis of a prosecution.“ (Alexis de Tocqueville, Democracy in America, übers. v. Henry Reeve, hrsg. v. Francis Bowen, 71882, Bd. 1, 128 f.). 66 Artikel 61 der Verfassung der Fünften Republik gibt dem Conseil Constitutionnel die Kompetenz, Gesetze vor der Verkündung auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Antragsberechtigt sind der Präsident, der Premierminister, die Präsidenten der Nationalversammlung und des Senats und seit 1974 auch sechzig Abgeordnete oder sechzig Senatoren, nicht aber ein einzelner Abgeordneter. 67 Gemeinsam mit John Roberts, dem Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs, und dem Kollegen Stephen Breyer nahm Scalia am 16. Oktober 2009 in London an der Eröffnung des Supreme Court of the United Kingdom durch Königin Elisabeth II. teil. Das Protokoll führte die amerikanischen Ehrengäste noch vor den Richtern aus den Commonwealth-Staaten auf. (Klaus Tolksdorf, Präsident des Bundesgerichtshofs, wurde als „President of The Supreme Court of Germany“ bezeichnet.)
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have come to realize that the way to protect your selfish interest from the people, from democratic change is to get it written into the constitution. So the Brazilian Constitution adopted fifteen years or so ago68 has 352 articles,69 it has everything in it but the kitchen sink. It has a maximum interest rate that can be charged,70 it has a constitutional right to severance pay when you’re fired from a job.71 I mean that’s not what constitutions are for. The second reason it’s bad is that we are in an age of, what should I say, love of abstractions. So any Bill of Rights adopted today is going to have in it all human rights. And that is bad because that enables the court to write the laws essentially. So for those two reasons I would be quite dubious about – I would not want a constitutional convention in America.72 By God, what would we come up with? It would be like the Brazilian Constitution.
1988. Die Verfassung zählt 250 Artikel. Möglicherweise wollte Scalia die 100 Artikel des ebenfalls am 5. Oktober 1988 in Kraft gesetzten Gesetzes über die Übergangsverfassungsbestimmungen hinzugezählt wissen. 70 Art. 192 § 3, der für den Jahreszins den Höchstwert von zwölf Prozent festsetzte, wurde 2003 aufgehoben. 71 Art. 7 I. 72 1979 befürwortete Scalia noch die Herbeiführung einer verfassungsändernden Versammlung nach dem in Artikel 5 der Verfassung vorgesehenen Verfahren: Auf Antrag von zwei Dritteln der Parlamente der Bundesstaaten hat der Kongress eine solche Versammlung einzuberufen, deren Beschlüsse der Ratifikation durch drei Viertel der Staaten bedürfen. Auf konservativer Seite versprach man sich von der Einleitung dieses Prozesses ein Regime der fiskalischen Disziplin, aber auch die Rücknahme liberalen Verfassungsrichterrechts wie des Grundrechts auf Abtreibung. Nach Scalias Vorstellung empfahl sich der Appell an den Souverän als Gegenmaßnahme zur fortschreitenden Professionalisierung sowohl der Bundesgesetzgebung als auch der Verfassungsgerichtsbarkeit; siehe die Dokumentation einer Podiumsdiskussion der Denkfabrik American Enterprise Institute: AEI Forum Nr. 31, A Constitutional Convention: How Well Would it Work? Washington 1979. 68 69
The Impact of Conventionality Control on Peruvian Law between the Period of Dictatorship and the Consolidation of Constitutional Democracy by
César Landa Former President of the Peruvian Constitutional Court, Professor at the Law School of the Pontificia Universidad Católica del Perú and the Universidad Nacional Mayor de San Marcos
Contents I. Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 797 II. Conventionality Control: General Scope . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 III. Conventionality Control in the Peruvian Legal System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 804 1. Conventionality Control of Constitutional Laws . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 808 2. The Impact of Conventionality Control on the Barrios Altos Case . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811 3. Conventionality Control Using the Instruments of the Universal Human Rights System . . . . . . 813 IV. Setbacks in the Application of Conventionality Control in the Peruvian Legal System and the Future Agenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815 V. Conclusions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818
I. Introduction The contemporary model of the Constitutional State establishes a series of intrinsic fundaments, such as constitutional openness to sources of international law. Indeed, in Latin America, the creation and consolidation of the Inter-American Human Rights System (IHRS) serves as proof of such process, since, following the democratization process in the region during the eighties, the Constitutions of the States have been articulated around common principles and values such as the protection of fundamental rights. According to the Inter-American Commission on Human Rights (IACHR), local judges find themselves forced to reject national laws that contradict the American Convention on Human Rights (ACHR). As such, many efforts have been made to ensure a fluent relationship between the State and the IACHR. Nevertheless, from time to time, the relationship between
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States and the bodies of the Organization of American States (OAS) and the IHRS have weathered crisis scenarios. It must be recognized that, given the marked emphasis on state sovereignty in national legal systems, the relationship between systems and the dialogue between judges and international bodies has become increasingly constant and fluent, although many tensions still persist. Although, in theory, the Constitutions recognize and grant relevance to human rights treaties, in practice it can be observed that the States’ behavior does not align with these treaties. In this regard, there are periods in which Peru, Trinidad and Tobago, Venezuela, Brazil, and Ecuador have all expressed criticism of and radical disagreements with the decisions of the American Court of Human Rights and the American Commission on Human Rights, which has even results in complaints against the American Convention on Human Rights by some countries such as Venezuela, as well as Peru’s withdrawal from the Court’s jurisdiction (1999–2001).1 While the emergence of such critical junctures seems to be cyclical, it shows that some countries in Latin America are still in a process of consolidation of the constitutional State adopted following the dictatorships that dominated their countries up until the mid-1980s. The question to be addressed now is whether the States may dispense with work of bodies such as the American Commission on Human Rights entirely, or perhaps they try to diminish their influence. This question does not neglect the fact that, in the context of a sovereign act, a State decides to cease being a member of an international organization or treaty. However, it is aimed more toward a reflection in terms of “what should be,” as derived from the concept of a normative constitution. As such, it must be taken into consideration that in the current scenario, the protection of rights is inevitably materialized in spaces that transcend national boundaries. There, the State’s position must necessarily be articulated within a complex network of normative systems and bodies that create sources of law. Thus, while under the principle of subsidiarity, the international channel is resorted to because the State has failed to comply with its obligations in accordance with a treaty or international custom, there is also a supplementary aspect that has become increasingly visible and palpable nowadays, through the preventive efforts promoted by the Inter-American Human Rights System. In practice, this transcends the classic rule of cooperation as a founding principle of the relations between States and international organizations or bodies. Indeed, one excellent example of this can be seen in the experience of the application of conventionality control by national judges and the Inter-American Court of Human Rights in order to compare national laws with the American Convention on Human Rights. The rulings of bodies such as the Inter-American Court can have a direct impact on the systems of the different countries, especially in terms of interpretation, due to the general effects of their rulings in contentious proceedings and advisory opinions. Conventionality control is therefore a doctrine inspired by the Inter-American Court 1 On May 26, 1998 Trinidad and Tobago denounced the American Convention on Human Rights in (or, I would say, via) a communiqué addressed to the General Secretary of the OAS. The Bolivarian Republic of Venezuela declared its decision to file a complaint against the American Convention on Human Rights on September 10, 2012. In July of 1999, Peru withdrew its recognition of the jurisdiction of the Inter-American Court, but later reinstated the Court’s competence in January of 2001.
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of Human Rights, the mission of which is to reinforce the protection of human rights. In this context of interrelation between national judges and jurisdictional bodies, it must be emphasized that the Inter-American Court of Human Rights has promoted the struggle against impunity in cases of major, systematic violations of human rights, including cases of forced disappearances, amnesty, the protection of judicial independence, and others.2 In terms of conventionality control, the Court has controlled legislative omissions of the typification of the offenses of forced disappearance and torture, the promulgation of amnesty laws, and laws that violate judicial independence, among others. At the same time, it could be said that the IHRS has been going through a second stage in the process for the consolidation of human rights standards, since the Court not only rules on cases involving offenses committed by the State that have affected the right to life, but also cases involving the positive contents of rights like the right to health, nationality, freedom of expression, etc. As such, the following text contains an analysis of the impact of conventionality control on the Peruvian legal system, based on the different rulings issued by the Court, and its application by the national judicial branch. However, it must be borne in mind at all times that conventionality control undoubtedly transcends the national experience of Peru, and therefore calls for a more regional analysis (as opposed to a merely national one). For example, in a ruling by the Mexican Supreme Court, it was established that judges have the obligation to apply conventionality control. Indeed, the ruling goes so far as to compare this normative test to constitutional control. “1) The judges of the Judicial Power of the Federation, when hearing constitutional disputes, actions for unconstitutionality, and suits for the protection of constitutional rights (amparo), can declare the invalidity of laws that contradict the Federal Constitution and/or the international treaties that recognize human rights; 2) The other national judges, in the matters under their jurisdiction, can establish the non-applicability of those laws that violate the Constitution and/or international treaties that recognize human rights, only for effects of the specific case, without declaring the invalidity of the provisions; and 3) The national authorities who do not exercise jurisdictional duties shall interpret human rights in the most favorable manner. However, they are not authorized to declare the invalidity of laws, in order to deem them inapplicable to the specific case. Justices Aguirre Aguiano, Pardo Rebolledo, and Aguilar Morales voted against, arguing that this was not the correct instance in which to conduct this analysis.”3
2 I/A Court H.R., Velásquez Rodríguez Case, Judgment dated July 29, 1988, Series C No. 4, Paragraph 143; I/A Court H.R., Godínez Cruz Case, Judgment dated January 20, 1989, Series C No. 5; I/A Court H.R., Castillo Páez Case, Judgment dated November 3, 1997, Series C No. 34; I/A Court H.R., Case of La Cantuta v. Peru. Merits, Reparations and Costs, Judgment dated November 29, 2006, Series C No. 162; I/A Court H.R., Case of González, et al. (“Cotton Field”) v. Mexico. Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Judgment dated November 16, 2009, Series C No. 205. 3 Supreme Court of Justice of the Nation (Mexico). Judgment issued by the Full Court in Docket No. 912/2010 and dissenting votes of Justices Margarita Beatriz Luna, Sergio Salvador Aguirre Anguiano, and Luis María Aguilar Morales; as well as individual concurring votes of Justices Arturo Zaldívar Lelo de Larrea and Jorge Mario Pardo Rebolledo, October 4, 2011.
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It must be noted here that conventionality control is not necessarily identical to constitutional control in its traditional form, since not all national judges are authorized to perform this type of normative exam, whereas they are indeed authorized to perform a comparison between Inter-American and national laws (conventionality control). In the same way, identifying conventionality control with constitutionality control necessarily leads us to question whether the Court takes on the role of a supra-constitutional tribunal when performing this type of normative control (even more so if it is taken into consideration that this tribunal’s rulings have involved processes of constitutional reform, such as in the case of Chile).4 As noted by Jorge Contesse: “In Chile and Colombia, they have models in which constitutional control is concentrated in a single, specialized court with the power to disregard laws that contravene their Constitution. The Inter-American Court of Human Rights completely ignores the distinction between diffuse and concentrated models of constitutional control.” In fact, Hitters has established a comparison between conventionality control and the control of constitutionality.5 The analysis of the effects of conventionality control on national legal system, whether carried out by a national judge or the Inter-American Court of Human Rights, does not allow us to demonstrate the dynamic relationship between national law and international law. Thus, constitutionality control is rather a form of normative examination that runs parallel to conventionality control. In fact, in the case of Trabajadores Cesados del Congreso v. Perú, it was determined that these were two different types of normative control, but which were also parallel and coincident. “In other words, the organs of the Judiciary must apply not only a control of constitutionality, but also of conventionality, ex officio between domestic laws and the American Convention, evidently in the context of its respective competencies and procedural regulations.”6
Although it is true that, in certain legal systems, conventionality control and the control of constitutionality can be used synonymously, such a comparison is contingent.7 In any case, if we seek to establish a parallel with the concepts derived from constitutionalism, it is necessary to study them from a multifaceted perspective. In other words, we must assume that the IHRS is also a normative system of a constitutional order, without implying that it is above the national legal systems. Thus, in the order for the execution of a ruling issued by the Inter-American Court in regard to the case of Gelman v. Uruguay, the Court states that convention4 I/A Court H.R., Case of “The Last Temptation of Christ” (Olmedo-Bustos et al.) v. Chile. Merits, Reparations and Costs. Judgment dated February 5, 2001, Series C No. 73. 5 Juan Carlos Hitters, Control De Constitucionalidad Y Control De Convencionalidad. Comparación (Criterios Fijados Por La Corte Interamericana De Derechos Humanos). Talca: Estudios Constitucionales, 2009, pp. 109–128. 6 I/A Court H.R., Case of Trabajadores Cesados del Congreso (Aguado-Alfaro et al.) v. Peru. Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs. Judgment dated November 24, 2006, Series C No. 158. 7 Natalia Torres, El control de convencionalidad. Deber complementario del juez constitucional peruano y el juez interamericano (similitudes, diferencias y convergencias). Saarbrücken: Editorial Académica Española, 2013, p. 19.
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ality control and control of constitutionality are exercised in a complementary manner. In fact, in some cases, the control of constitutionality is unenforceable against the conventionality control performed by the Inter-American tribunal, which demonstrates that in certain cases, a situation of tension between both types of control may arise. “The intention to challenge the duty of the national tribunals to apply the control of constitutionality to the conventionality control exercised by the Court is in fact a false dilemma, since once the State has ratified the international treaty and recognizes the competence of its controlling bodies, precisely through its constitutional mechanisms, these come to form part of its legal system. As such, the control of constitutionality necessarily implies a conventionality control, carried out on a complementary basis.”8
Rather, it must be assumed that, in Latin America, a structure is currently forming based on coexistence and coordination between normative systems, in which there is no primacy on the part of either international law or national law. Indeed, this is consistent with a situation of constitutional or normative pluralism, in which it is assumed that there exist two bodies of law within a constitutional order. This apparent antagonism is resolved through normative integration, without one prevailing over another, or even worse, one excluding the other.9 This means identifying the norms of the Inter-American Human Rights System as constitutional, i.e., they shall be considered constitutional not because of their relation to the concept of constituent power (which is not applicable in international law), but because of material criteria that are tied to the same object of protection: the human being (which, at the same time, is the premise and ultimate purpose of the Constitutional State). However, in this region, the use of human rights treaties in court is often tied to constitutional proceedings, in the traditional sense of the concept, as it has occurred in Mexico and Peru. Perhaps this is the best way to comprehend the normative pluralism being articulated in Latin America, i.e., by situating the human rights treaties at the top of Kelsen’s pyramid (even though this model itself is becoming increasingly obsolete). In any event, the fact that, in particular Latin American legal systems, the treaties have the force and importance of a constitutional law is a big step toward guaranteeing rights. This is the starting point for the progressive development of the contents of fundamental rights.
II. Conventionality Control: General Scope Conventionality control originally derives from the Article 2 of the American Convention on Human Rights, which establishes that the States must adopt the legislative I/A Court H. R., Case of Gelman v. Uruguay. Order for Execution of a Judgment. Order issued by the Inter-American Court of Human Rights on March 20, 2013, Paragraph 88. 9 Javier García Roca, El Diálogo entre los Sistemas Europeo y Americano de Derechos Humanos. Navarra: Civitas-Tomson Reuters, 2012, p. 92. 8
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or other measures necessary to effectively guarantee the rights and liberties recognized by the American Convention on Human Rights. In the Almonacid Arellano case, conventionality control was defined as the judges’ obligation to apply ex officio the national laws when ruling on a case they have heard. “But when a State has ratified an international treaty such as the American Convention, its judges, as a part of the State’s apparatus, are also subject thereto, thus obligating them to ensure that the effects of the Convention’s provisions are not lessened by laws running contrary to their objectives, which lack all legal effect a priori. In other words, the Judiciary must implement a kind of conventionality control between the national legal norms applied to specific cases and the American Convention on Human Rights.”10
Thus, conventionality control as conceptualized by the Inter-American Court is an examination of comparison based on the controlling parameter or norm of the American Convention on Human Rights. In principle, it is an obligation shared by the national court and the Inter-American Court of Human Rights itself, although the latter acts in accordance with the principle of subsidiarity, and therefore, its control is rather incidental. As such, conventionality control must be performed, in the first place, by the national judges, and eventually by the Inter-American Court of Human Rights in the exercise of its jurisdiction. In the order for the execution of a judgment in the case of Gelman v. Uruguay, the Court stated that the conventionality control it applies is subsidiary (in accordance with the provisions established in the Preamble to the American Convention on Human Rights). In effect, this is consistent with said tribunal’s declarations with regard to the nature of the work it performs (i.e., it is not about a judicial control of fourth instance).11 In this regard, it states that: “The Court believes it relevant to specify that the concept of conventionality control is closely linked to the ‘principle of complementarity,’ by virtue of which the State’s responsibilities under the Convention can only be enforced at the international level after the State has had the opportunity to declare an offense and repair the damages through its own means.”12
Now then, there are certain doubts with regard to this matter in terms of what is to be defined as conventionality control, given that, in the Gelman case, the Inter-American Court has established that this is an obligation that must be carried out not only by judges, but any public authority. This means that even administrative authorities must take into consideration the instruments of the Inter-American Human Rights System, in order to determine the scope of their decisions in the application of a law. Indeed, in Latin America, the process of conventionalization that is now occurring not only involves judges, but administrative authorities and even legislators.13
10 I/A Court H.R., Case of Almonacid Arellano et al. v. Chile. Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs. Judgment dated September 26, 2006, Series C No. 154. 11 I/A Court H.R., Case of Cabrera García and Montiel-Flores v. Mexico. Preliminary Objection, Merits, Reparations, and Legal Costs. Judgment dated November 26, 2010, Series C No. 220. 12 I/A Court H. R., Case of Gelman v. Uruguay. Order for Execution of a Judgment. Order issued by the Inter-American Court of Human Rights on March 20, 2013, Paragraph 70. 13 I/A Court H.R., Case of Gelman v. Uruguay. Merits and Reparations. Judgment dated February 24, 2011 Series C No. 221.
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Therefore, the concept of conventionality control, in the broadest sense, possesses a relevance that transcends the principle of legality – to which the administrative authorities are subject – and which is exercised as from the moment at which a law is issued, or to prevent a legislative omission from infringing on the Convention. In effect, this reading is derived from the structure given to the concept by the Court in the Gelman case. The enforcement order established that conventionality control is applied to all levels of the State’s structure, ex officio, thus ratifying what had already been set forth in the ruling on the same case.14 However, it must be pointed out that the examination of conventionality involves not only the American Convention on Human Rights, but all the instruments of the Inter-American Human Rights System, including the American Declaration of the Rights and Duties of Man, given that it has the force of common law (although the Inter-American Court has not expressly established this affirmation).15 The foregoing is in agreement with García Ramírez with regard to the fact that the canon of conventionality consists of: “In the matter at hand, when referring to a ‘control of conventionality,’ the Inter-American Court has considered the applicability and application of the American Convention on Human Rights – Pact of San José. However, the same function is carried out, for the same reasons, with regard to other instruments of a similar nature, which comprise the corpus juris arising from the human rights conventions to which the State is a party: the Protocol of San Salvador; the Protocol to Abolish the Death Penalty; the Convention to Prevent and Punish Torture; the Convention of Belém do Pará on the Eradication of Violence against Women; the Convention on the Forced Disappearance of Persons, etcetera.”16
Indeed, Article 2 of the American Convention on Human Rights in fact reflects the provisions established in Article 27 of the Vienna Convention on the Law of Treaties, such that conventionality control is an obligation established with regard to any treaty of international law. It is for this reason that the rest of the treaties of the Inter-American Human Rights System form part of the canon of conventionality, even though the InterAmerican Court does not always exercise jurisdiction over them. The fact that the violation of a treaty cannot be subject to analysis by the Inter-American Court during litigation does not mean that the States do not have the obligation to carry out this type of normative exam. It must be specified that although the subject matter of the conventionality control is the laws, this examination also applies to legislative omissions and interpretations of the provisions of a law or a Constitution. In fact, international responsibility is incurred through the action or omission of the legislative body and the bodies that 14 I/A Court H. R., Case of Gelman v. Uruguay. Order for Execution of a Judgment. Order issued by the Inter-American Court of Human Rights on March 20, 2013, Paragraph 66. 15 Article 29.d of the ACHR establishes that: “No provision of this Convention shall be interpreted as: […] d. excluding or limiting the effect that the American Declaration of the Rights and Duties of Man and other international acts of the same nature may have.” 16 I/A Court H.R., Case of Trabajadores Cesados del Congreso (Aguado-Alfaro et al.) v. Peru. Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs. Judgment dated November 24, 2006, Series C No. 158. Opinion of Justice Sergio García Ramírez.
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apply the law. Although Article 27 of the Vienna Convention specifically states that “a part may not invoke the provisions of its internal law as justification for its failure to perform a treaty,” this must be interpreted in a more assertive manner, i.e., establishing that the unenforceability of internal law against obligations of international law involves both the omissions and the interpretations of the provision in question.
III. Conventionality Control in the Peruvian Legal System While it is true that the first reference to conventionality control is found in the Almonacid Arellano case, the fact is that both the Inter-American Court and the Peruvian justice system have exercised this type of normative control since the nineties (although not under this specific name). The application of this technique of normative control has been highly relevant, given that it controlled the effects of national laws that infringed on the guarantees of due process and the fight against impunity under a dictatorship, namely the one in place during the 1990s under the government of Alberto Fujimori. In 1997, Justice Saquicuray struck down the law of self-amnesty in order to continue with the criminal investigation of the killings in Barrios Altos and La Cantuta. Specifically, the judge established that said law affected the guarantees of due process and jurisdictional protection set forth in Articles 8 and 25 of the American Convention on Human Rights. Thus: “[…] in reference to the application of the aforementioned Law 26479, it must be noted that said law is incompatible with the Constitution and the abovementioned International Treaties, given that Article 1, Point 1 of the American Convention establishes that the States Parties – such as Peru – have the obligation to investigate human rights violations and punish those responsible, principles and laws from which the Peruvian State is not immune, and which violate […] Article 139 of our Constitution, which establishes, as a guarantee of Jurisdictional Function, the observance of due process. Consequently, the legal provision in question, by withdrawing the jurisdictional protection of these fundamental rights, violates the Constitutional provisions referred hereinabove.”17
Likewise, in 1998, the Inter-American Court (in the case of Castillo Petruzzi v. Peru) found the Peruvian State guilty of issuing Decree Law 25659, which prevented those detained for terrorism from filing guarantee actions in their favor. Thus, even though the law had been amended by Decree Law 26248 – which did allow for the filing of guarantee actions – the Inter-American Court found the Peruvian State guilty of violating Articles 25 and 7.6 of the American Convention on Human Rights. “The Court understands that the force of Decree Law 25659 – at the time at which the alleged victims were arrested, and during much of the internal proceedings – legally prohibited the possibility of filing a writ of habeas corpus on their behalf. The amendment introduced by Decree Law 26248 did not benefit the detainees, since theirs was a ‘proceeding […] currently underway.’ […] 17 César Landa, El control constitucional difuso y la jerarquía de los tratados internacionales, a propósito de la sentencia de la jueza Saquicuray, Ius et Veritas, No. 11 (1995), p. 174.
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Among the essential legal guarantees that must be respected, habeas corpus represents the ideal means to control respect for the life and integrity of a person, prevent his disappearance or the keeping of his whereabouts secret, and protect him against torture or other cruel, inhuman, or degrading punishment. For these reasons, the Court finds that the State denied the victims the possibility of filing protective measures in their favor. Thus, the State violated the provisions of Article 25 and 7.6 of the Convention.”18
In this sense, both the national and international jurisdiction played an essential part in the defense of the guarantees of due process and the fight against impunity, even though the national jurisdiction in many cases abdicated to the power in turn. However, with the arrival of the new century, conventionality control acquired another dimension, as a result of the issuing of iconic rulings in the Inter-American Human Rights System and the return of democracy to Peru. In the Peruvian normative system, conventionality control has been assumed as a synonym for the control of constitutionality, although carried out without giving this specific name to it.19 While it is true that the Constitution of 1993 has not established the rank of human rights treaties, it does contain an interpretive provision that establishes out that “those laws on rights and liberties shall be interpreted in accordance with the Universal Declaration of Human Rights and the international treaties and agreements on the same matters ratified by Peru” (Fourth Temporary and Final Provision), as well as a clause on implicit rights set forth in Article 3 of Constitution, which establishes that: “The list of rights established in this chapter does not exclude those others guaranteed by the Constitution, nor others of a similar nature or those based on the dignity of man, or the principles of sovereignty of the people, the democratic state of law, and the republican form of government.”
On the basis of these provisions, it has been recognized that human rights treaties have a constitutional rank, and have thus acquired passive and active force with regard to those statutes of internal law that run contrary to the standards of the Inter-American System of Human Rights. In the ruling contained in Docket No. 0025-2005-PI/TC, the Court states that: “Their constitutional rank entails that such treaties are endowed with the active and passive force inherent to all sources of constitutional rank; i.e., active force, in according to which these treaties have updated our legal system, incorporating into it, as existing law, the rights recognized in said treaties, not conditionally, but as constitutional rights. Their passive force involves their ability to withstand laws from infra-constitutional sources, i.e., they cannot be amended or violated by infra-constitutional laws, or even a constitutional amendment to do away with a right recognized by a treaty or that affects the rights protected therein.”20
As such, the Constitutional Court has thus established this form of determining that human rights treaties have constitutional rank and all that this implies. The fact that they have active and passive force means that they can be applied directly to the ju I/A Court H.R., Case of Castillo Petruzzi et al v. Peru. Preliminary Objections. Judgment dated September 4, 1998, Series C No. 4, Paragraphs 182, 187–188. 19 Torres, op. cit., p. 201. 20 Peruvian Constitutional Court judgment file No. 0025-2005-PI/TC, Paragraph 33. 18
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risdictional proceedings of a concentrated constitutional nature, or proceedings in which a diffuse review is applied, i.e., in ordinary proceedings or constitutional proceedings involving liberties. In this sense, the effects of the conventionality control performed by Peruvian judges can be general or specific, depending on the type of proceeding in which it is implemented, in accordance with Constitution of 1993 and the Code of Constitutional Procedure. However, it has also been of great importance that the Constitutional Court has established that the rulings of the Inter-American Court are binding, even though the State has not taken part in the proceeding. “The binding nature of the rulings of the Inter-American Court of Human Rights is not limited merely to the operative part (which, it should be noted, applies only the State that is party to the proceeding), but includes its grounds or ratio decidendi, with the added note that, by virtue of the FTFP of the Constitution and Article V of the Preliminary Title of the Code of Constitutional Procedure, in said scope the judgment is binding for all national public powers, even in those cases in which the Peruvian State was not a party to the proceeding. Effectively, the IACHR’s power to interpret and apply the Convention, as set forth in Article 62.3 thereof, coupled with the mandate of the FTFP of the Constitution, means that the interpretation of the provisions of the Convention performed in all proceedings is binding for all internal public powers, including, of course, this Court.”21
Indeed, this idea coincides with the increasingly widespread position that holds that the jurisprudence of the Inter-American Court has ultra parte effects that give rise to the need for the jurisprudence of tribunals such as the Court to have a preventive and reparative scope, in keeping with the principle of the objective guarantee of the Inter-American Human Rights System.22 The Inter-American Court itself, starting with the Almonacid Arellano case and throughout subsequent rulings, has been largely responsible for the fact that States must also apply jurisprudence as an instrument for determining whether or not a law is compatible with the standards of the Inter-American Court. Also, the declarations of the Constitutional Court with regard to the binding force of the Inter-American Court’s jurisprudence is highly relevant, as an example of the national legal system’s openness to participating in the phenomenon of inter-judicial dialogue between national and international courts. Despite the foregoing, it is necessary to analyze whether the “theory of binding force” of the rulings of the Inter-American Court admits nuances or gradations between the State that is found guilty and those that, while not being party to the proceeding, are also bound by the ruling. For example, Peruvian constitutional law establishes a difference between the types of sentences issued by the Constitutional Court, as follows: normative rulings (müssen), binding precedents (sollen), and jurisprudential doctrine (können).23
Peruvian Constitutional Court judgment file No. 02730-2006-PA/TC, Paragraph 12. Argelia Queralt Jimenez, La interpretación de los Derechos: del Tribunal de Estrasburgo al Tribunal Constitucional. Madrid: Centro de Estudios Políticos y Constitucionales, 2008, p. 220. 23 César Landa, Los precedentes constitucionales, Justicia Constitucional 5 (2009), p. 62. 21
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The first of these have a practically untouchable character, since they are the product of an unconstitutionality proceeding in abstracto, while the latter two allow for greater discretion on the part of the judge who is identifying and applying the doctrine of the Constitutional Court. Therefore, what is left to determine is whether the Inter-American Court’s rulings admit this distinction between the normative and/or interpretive force of their impact on the countries found guilty that are party to a proceeding and those that are not. Indeed, in the order for the execution of a judgment in the case of Gilman v. Uruguay, Ferrer MacGregor established differences in the binding force of the rulings between a country found guilty and of countries that are party to the Inter-American Human Rights System but were not involved in the proceeding. In the opinion of the Justice Ferrer MacGregor, those States not found guilty in a specific case are subject to a more flexible degree of binding power, similar, in principle, to the case of constitutional doctrine (können), or possibly that of constitutional precedent (sollen); while in the case of guilty countries, the binding power of the Court’s ruling is rather of a normative order (müssen). “[…] this interpretive force is ‘relative,’ in that it exists provided there is no interpretation giving greater force to the conventional law at the national level. This is so because of the fact that national authorities can expand the interpretive standard, and even cease to apply the conventional law when there are other national or international laws that expand the force of the right or freedom at stake, in the terms of Article 29 of the American Convention.”24
However, the force of the rulings’ content also changes depending on the right to be protected. García Roca establishes a parameter of the binding force of European standards that could easily be replicated in the Inter-American Human Rights System. As will be seen further below, in those cases in which the right to life, for example, is in jeopardy, the discretion of the bodies applying the law will also lessen, and therefore, become more flexible. As such, it can be said that the binding power may be lax, strict, or intermediate. The lax or less intense end of this spectrum is made up of rights whose contents are mainly delimited by national law; for example, the right to property (except in cases involving indigenous territories). In terms of a strict binding power, this applies to cases involving the rights to life, equality, the prohibition of cruel, inhuman, and degrading treatments, and political rights (i.e., those that ensure democracy), among others. Finally, the intermediate cases involve rights not listed above, but which also form part of the Inter-American parameter.25 On the other hand, the affirmations made thus far with regard to the identical nature of conventionality control and the control of constitutionality are corroborated by the fact that, in the Peruvian legal system, the control of constitutionality is exercised by both the Constitutional Court and the ordinary courts, such that the
24 I/A Court H. R., Case of Gelman v. Uruguay. Order for Execution of a Judgment. Order issued by the Inter-American Court of Human Rights on March 20, 2013. Concurring opinion of Justice Eduardo Ferrer MacGregor, Paragraph 69. 25 Javier García Roca, El Margen de apreciación nacional. Navarra: Civitas-Tomson Reuters, 2010, pp. 205–206.
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conventionality control that they perform shall be automatically identified with first of the abovementioned concepts. As such, those who apply these two types of control and the way they do so coincide in full, i.e., conventionality control shall be carried out by the Constitutional Court or the ordinary judges in the regular exercise of their powers for diffuse review.
1. Conventionality Control of Constitutional Laws Laws of a constitutional rank have also been subject to reinterpretation or normative control by the Constitutional Court and the Inter-American Court of Human Rights itself. In fact, the case of Radilla Pacheco v. Mexico and the case of the Last Temptation of Christ v. Chile demonstrate that, in the Inter-American Human Rights System, conventionality control encompasses these types of national mechanisms, as well as the practice of the national tribunals. On one hand, it is now necessary to take into account that the fact that laws of constitutional rank are also adapted to the standards of the Inter-American Human Rights System does not necessarily mean that we are dealing with a case of supra-constitutionality. In effect, it should not be forgotten that the relationship between the normative systems is mainly one of coordination. As such, no right prevails over another in a predetermined way. Thus, with regard to constitutional laws, it becomes necessary to standardize normative sources of the same rank based on the principle of in dubio pro personae.26 This coincides with the declarations of the Inter-American Court in the case of Radilla Pacheco v. Mexico, wherein it stated that national judges have the duty to adapt their interpretations to the standards of the Inter-American System of Human Rights. “It is necessary for the constitutional and legal interpretations regarding the criteria of the material and personal competence of the military jurisdiction in Mexico be adapted to the principles established in the jurisprudence of this Court, which have been repeated in the case at hand.”27
However, in a more formal or classical sense, it could be said that conventionality control must be aligned with the provisions established in Article 57 of the Peruvian Constitution of 1993, in which it establishes that it is the supreme law of the national legal system. Nevertheless, it would be better to adapt the perspective on the relationship between constitutional laws and the parameter of conventionality based on the rules for multilevel protection of fundamental rights. Now, it is necessary here to emphasize the way in which the parameter of conventionality acts in a more rigid or flexible form, depending on the specific case. Indeed, while it is true that the standards of the Inter-American System of Human Right are César Landa, La invalidez del retiro del Perú de la Corte Interamericana de Derechos Humanos, Revista Peruana de Derecho Público 1 (2000), p. 45. 27 I/A Court H.R., Case of Radilla Pacheco v. Mexico. Preliminary Objections, Merits, Reparations, and Costs. Judgment dated November 23, 2009, Series C No. 209, Paragraph 239. 26
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binding for the Peruvian State, including the jurisprudence of the Inter-American Court in which Peru is not the guilty party, it is also possible for situations to arise such in which the deviation from the provisions established in the Inter-American Human Rights System is justified, but this ultimately depends on the content and type of right affected. Given that the work of the Inter-American Court is complementary, its relationship to the States is not one of hierarchy; as already mentioned, there are different degrees of binding power, from the standpoint of the coordination of national and international legal systems. This is reinforced by the argument based on the fact that international and national law relate to one another under the logic of the cession of the specific and limited sovereignty of the States in given matters of an international nature. Thus, for example, according to García Roca, it may be possible to identify in the practice of Peruvian constitutional justice examples of strict adherence in cases involving effects to rights such as life and the prohibition of impunity; and cases in which a more flexible margin of discretion is applied (as in the case of the pension regime), without this representing the annulment of the right in question.28 As such, bodies such as the Court must self-limit the scope of their rulings.29 While it is true that the Court has a creative and dynamic function that imbues the instruments of the IHRS with content, this does not give it carte blanche to reach beyond the competencies established in the treaty by virtue of which it was established. One very concrete example with regard to this matter is the case of former dictator Efraín Gómez Montt v. Guatemala, in which the Inter-American Commission on Human Rights dismissed the petition claiming infringement upon the right to access a public office under equal conditions. In this case, the victim had been barred from participating as a candidate in the presidential elections, in view of the fact that Article 186 of the Guatemalan Constitution established the permanent ineligibility of heads of political movements who violate the Constitution or assume the position of Head of State following such violation. The Inter-American Court of Human Rights recognized the variability of the rules of eligibility for popularly elected positions: “The Commission finds that the context the Guatemalan constitutional law and international law in which this condition of ineligibility is situated is the correct one for the analysis of the applicability of the Convention in general, and of its Articles 23 and 32.”30
On the other hand, in the case involving the reinterpretation of Article 140 of the Constitution of 199331, with regard to the death penalty, in the ruling contained in Docket No. 0489-2006-PHC/TC, the Constitutional Court strictly applied the interpretive criteria set forth by the Inter-American Court for the comprehension of the scope of the death penalty in countries party to the ACHR. García Roca, op. cit., pp. 205–206. Dragoljub Popovic, Prevailing of Judicial Activism over Self-Restraint in the Jurisprudence of the European Court of Human Rights, Creighton Law Review 42 (2009), pp. 361–396. 30 Report No. 30/93, Case 10.84, Guatemala, October 12, 1993, Paragraph 21. 31 Article 140: The death penalty shall only be applied for the crimes of treason in wartime and terrorism, in accordance with the laws and the treaties to which Peru is bound. 28 29
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This appears to be a case of the application of the standards of the Inter-American Human Rights System in a more normative form (müssen), given that the constitutional court has not strayed from the standards established by the Court with regard to the protection of the right to life. As in the case of Raxcacó v. Guatemala 32, the Constitutional Court stated that the causes for which a death penalty sentence is applied cannot be expanded. Rather, Article 140 should be interpreted in accordance with the content of Article 235 of the Constitution of 1979.33 As such, the application of the death penalty would only be possible in a context of external war. Specifically, Article 4.2 of the ACHR was used to conclude that a literal interpretation of Article 140 would have been unconventional, although they presented the issue in terms of unconstitutionality. Thus, the expanded assumptions established in Article 140 of the Constitution are not, in fact enforceable, due to the Court’s reinterpretation of this matter. However, in the case concerning the reform of the Peruvian pension system, which eliminated the “cédula viva” regime established in Decree Law 20530 – a regime based on the regulation of acquired rights, which established that pension amounts were not to exceed two (2) Tax Units (UITs) – the Constitutional Court diverged from the ruling issued in the case of the Cinco Pensionistas v. Peru. Effectively, in aforementioned Cinco Pensionistas case, the Inter-American Court found that the Peruvian Constitution had established the theory of “acquired rights” with regard to the pensions of former workers registered in the pension system implemented by Decree Law 20530. According to the Court, the amounts obtained for this concept “had formed part of the victims’ net worth as from the moment they made the contributions and met the respective legal requirements, for which reason they were protected under Article 21 of the Convention.” With regard to this matter, the ruling contained in Docket No. 0050-2004-PI/TC upheld the constitutionality of the Constitutional Reform Act – Decree Law 28389, thus ratifying the elimination of the right to leveling out, which was considered by the pensioners registered in this regime to be a violation of their right to property. The reasons cited by the Constitutional Court when declaring the law unconstitutional were based on the need to level out the gap between the pensions received by affiliates under Decree Law 20530 with regard to those received by pensioners affiliated with the regime established by Decree Law 19990, while at the same time promoting the sustainability of state pension system under the rules derived from the principle of solidarity. Thus, although Peru had been found guilty, with regard to the pension system, the Court diverged from this ruling. Even so, such circumstance did not involve any default on the part of the Peruvian State of the contents of the Cinco Pensionistas ruling. Effectively, although the ruling carried normative force (müssen), this does not mean it is impossible to deviate from it. The reasons, however, must be completely I/A Court H.R., Case of Raxcacó Reyes v. Guatemala. Merits, Reparations and Costs. Judgment dated September 15, 2005, Series C No. 133. 33 Peruvian Constitutional Court judgment contained in Docket No. 0489-2006-PHC/TC, Paragraph 20. 32
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sound, and shall not affect the essential content protected by the Inter-American standards.34 Indeed, although the reform promoted the regression of rights for pensioners registered in the system established by Decree Law 20530, it did not do away with their right to remuneration or property, given that it guaranteed access to a pension equivalent to more than the minimum living wage. However, although a group of pensioners under this regime resorted to the petition system, the Inter-American Commission on Human Rights decided to dismiss their petition, and thus, not to bring the case before the Inter-American Court. The reasons given for that decision are based on the State’s discretional powers with regard to the protection of the contents of certain rights. Above all, however, the main reason was that the essential content of the right to a pension had not been affected. In this regard, the IACHR ruled that, although the right to a pension had been restricted through the constitutional reform, the right to property had not been eliminated, since the petitioners continued to exercise their rights as owners of their pensions. Emphasis was also placed on the fact that the purpose of the constitutional reform did not run contrary to the ACHR, since it was implemented in order to reduce the excessive cost of the regime and the inequality generated by the coexistence of the “cédula viva” regime and the pensioners registered with the regime established in Decree Law 19990.35
2. The Impact of Conventionality Control on the Barrios Altos Case The case of Barrios Altos v. Peru is an important precedent in the IHRS, given that this ruling resulted in the incorporation of a new criteria of validity36 for Peruvian and Latin American sources of internal law, with regard to the validity of laws ratifying impunity or promoting the failure to sanction those responsible for serious human rights violations, as in the case of self-amnesty laws. Both the Inter-American Court and the Committee of the International Covenant on Civil and Political Rights37 have defined impunity as a violation of a State’s legal duty to investigate, prosecute, and judge those responsible for human rights violations and to ensure the right to truth.38 As such, impunity undermines the very essence of the model of a Constitutional State. 34 In case of the judgments issued in an unconstitutionality proceeding, it is possible to deviate from them provided objective circumstances exist in time and the primacy is given to constitutional loyalty, as a deciding factor in the judge’s decision. C. Landa, op. cit., p. 41. 35 Report No. 38/09. Case 12.670. Admissibility and Merits. National Association of Ex-Employees of the Peruvian Social Security Institute et al. v. Peru. March 27, 2009. 36 N. Torres, op. cit., p. 229. 37 General Observation No. 20. General comments adopted by the Human Rights Committee, Article 7: Prohibition of Torture and Other Cruel, Inhuman, or Degrading Punishment. 44th Session Period, UN Doc. HRI/GEB/1/Rev.7 at 173, 1992. 38 I/A Court H.R., Case of Maritza Urrutia v. Guatemala. Merits, Reparations and Costs. Judgment issued November 27, 2003, Series C No. 103, Paragraph 126; I/A Court H.R., Case of the Gómez
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Now then, in the Peruvian case, in accordance with the Constitution on 1993, only tax laws of a confiscatory nature lack legal effects, i.e., this is the only case in which a law is annulled. However, following the Barrios Altos case, even though the persons found responsible and/or tried for the extrajudicial execution of nine people in the district of Barrios Altos filed writs of habeas corpus to avoid the reopening of criminal proceedings against them, the Constitutional Court ratified that the self-amnesty laws enacted during the Fujimori government lacked all legal effects ab initio. “Amnesty Laws 26479 and 26492 are null and void, and lack, ab initio, all legal effects. Therefore, the court orders issued for the purpose of guaranteeing impunity for the human rights violations committed by the members of the so-called Grupo Colina are also null and void.”39
The fact that, in the ruling in question, the Inter-American Court had established that the self-amnesty laws lacked any legal effects has led the Supreme Court of Argentina to declare the nullity of the “Leyes de Punto Final” (Maesa Case). Likewise, in later cases, the Inter-American Court has found States such as Chile, Brazil, and Uruguay guilty of issuing and/or applying these types of provisions, reiterating that they lack all legal effects. Perhaps the most important aspect here is that the Court has reached guilty verdicts for States that had failed to observe the standards it had established in previous cases, especially in cases involving impunity for serious human rights violations. “As already noted, this Court has ruled on the incompatibility of amnesties with the American Convention in cases of serious human rights violations involving Peru and Chile. The Inter-American Human Rights System, to which Brazil is party by its sovereign decision, contains multiple rulings regarding the incompatibility of amnesty laws with the treaty obligations of States in the case of serious human rights violations.”40
Even in the case of Gelman v. Uruguay, the IACHR has determined that the protection of fundamental rights is a limit to the majority in a democracy. Thus, even if an amnesty law has been approved in the national legal system through a referendum, it would still be unconventional. As such, this case is a typical example of a sentence with a force similar to the normative. Indeed, by addressing boundary issues such as those of impunity and seeking out the punishment of serious human rights violations, it becomes difficult to diverge from the standards set by these rulings. The prohibition of self-amnesties in the IHRS is a minimum that must not be transgressed; otherwise, the very essence of this regulatory system becomes meaningless. It thus becomes a quite rigid standard. This is the only case in which the Court has held that a rule has no legal effect ab initio. Although without consequences of automatic expulsion in regard thereto, in Paquiyauri Brothers v. Peru. Merits, Reparations and Costs. Judgment issued July 8, 2004, Series C No. 110, Paragraph 148. 39 Peruvian Constitutional Court judgment contained in Docket No. 0679-2005-PA/TC, Paragraph 60. 40 I/A Court H.R., Case of Gomes Lund et al. (“Guerrilha do Araguaia”) v. Brazil. Preliminary Objections, Merits, Reparations, and Costs. Judgment issued November 24, 2010, Series C No. 219, Paragraphs 148–149.
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practice, legal systems have granted such effects at the time at which the judgment is enforced. Compared to matters such as prior censorship or military justice, in the cases at hand the Inter-American Court has stated that the laws are incompatible, but not that they have lacked all legal effect as from their entry into force. Thus, the Court itself has modulated the scope of its pronouncement regarding the effects of the unconventional law. Indeed, in the case of the Last Temptation of Christ v. Chile, the Inter-American Court argued that the State of Chile: “[…] must change its legal system in order to do away with prior censorship, in order to allow the cinematographic exhibition and publicity of the film The Last Temptation of Christ, since it is obligated to respect the right to freedom of expression and guarantee the free and full exercise thereof to all persons subject to its jurisdiction.”41
In this regard, the effects of the reform always tend to apply to the future, despite the fact that the matter of prior censorship falls under the concept of favored freedom, as defined in Article 13 of the ACHR. In other cases, the Inter-American Court has requested that, under certain circumstances, some proceedings be reinitiated or a sentence be re-issued in accordance with Court-established standards. Such is the case of Raxcaco, with regard to whom the Guatemala State had to issue a new ruling in accordance with the new law establishing a graduation of the punishments for the crime of kidnapping followed by death.
3. Conventionality Control Using the Instruments of the Universal Human Rights System Another topic been relevant to the Peruvian case is the conventionality control that has been exercised using the instruments of the Universal Human Rights System (UHRS). Indeed, given that conventionality control is an obligation derived from the general duty to adapt internal law to the standards of international law, it is not only based on the instruments of the Inter-American Human Rights System, but also those that fall outside this sphere, but to which Peru is in some way bound. Those cases involving the recognition of indigenous peoples’ right to consultation are one example of this. In the Aidesep case, the Constitutional Court used Convention No. 169 to analyze the legislative body’s omission in the approval of the Prior Consultation Act. “Although there is no law that has developed the consultation procedure, for which reason it appears that the duty of the Ministry of Energy and Mines has no duty to issue such regulations, this argument must be refuted by virtue of the fact that Convention 169 is binding on all public authorities and not just the legislature. As such, in the absence of legal regulation, it seems appropriate to assign responsibility to the respondent Ministry for the statutory regulations enforcing the provision of the Agreement, especially given that it is in this sector that 41 I/A Court H.R., Case of The Last Temptation of Christ (Olmedo-Bustos et al.) v. Chile. Merits, Reparations and Costs. Judgment dated February 5, 2001, Series C No. 73, Paragraph 97.
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the majority of measures that can directly affect the indigenous peoples occur (such as activities related to mining and hydrocarbon exploitation), for which reason, in accordance with Convention 169, they must be consulted.”42
This is a typical example in which an international law has been used as a parameter of direct control over a legislative omission, even though the legal system has not established a direct proceeding for such purpose, instead rerouting it through the filing of a writ of mandamus in order to request that the administrative authority regulate the subject matter under discussion. Likewise, the case involving the declaration of the unconstitutionality of Legislative Resolution 27998 – which ratified the Convention on the Non-Applicability of Statutory Limitations to War Crimes and Crimes against Humanity, but which established that this treaty was not applicable to cases prior to the act of ratification – is an example of the application of conventionality control. Although the Constitutional Court was unable to declare the unconstitutionality of the law, given that the suit was brought after the statutory limit for filing an action of this kind (six months, in the case of treaties), it ordered the ordinary judges not to apply the law, since it disregarded the non-applicability of statutory limitations to the crimes subject matter of the treaty in cases that had occurred prior to the date of ratification thereof. “The declaration in question contravenes the objective and purpose of the Convention on the Non-Applicability of Statutory Limitations to War Crimes and Crimes Against Humanity, given that said instrument establishes, in its Article I, that the crimes in question are not subject to any ‘statutory limitation […], irrespective of their date of commission.’ Consequently, the Peruvian State’s declaration limiting the rule of non-applicability of statutory limitations to those cases subsequent to the date of entry into force of the Convention (November 9, 2003) also involves the violation of international law, preventing the clarification of crimes of such nature that have occurred before November 9, 2003, resulting in a breach of the State’s international obligations to investigate and punish those responsible for these crimes.”43
The most relevant aspect of this case is that the Constitutional Court – without explicitly stating that what is being performed is a conventionality control – compares the legislative resolution to Article I of the treaty, which acts as a parameter of normative control. In this sense, the resolution and the related laws are incompatible, unconventional, and unconstitutional. However, the Court’s ruling does not stop at dismissing the suit, but also – in application to the powers vested in the constitutional judge – establishes that judges have the duty not to apply Resolution 27998, via diffuse review.
Peruvian Constitutional Court judgment contained in Docket No. 05427-2009-PC/TC, Paragraph 26. 43 Peruvian Constitutional Court judgment contained in Docket No. 0024-2010-PI/TC, Paragraph 74. 42
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IV. Setbacks in the Application of Conventionality Control in the Peruvian Legal System and the Future Agenda At present, there are certain issues pending in the Peruvian legal system. Although said legal system has undergone a stage for the progressive application of the standards of the Inter-American System of Human Rights by the Constitutional Court in order to protect fundamental rights and the Court’s interpretive duties (2002–2008), there have also been times at which the attitude of the supreme authority has instead been one of rejection or manipulation of international law (2008–2013). The clearest example of this is the case involving the structure of military justice in Peru. Despite the fact that, in the cases of Cesti Hurtado v. Peru and Ugarte v. Peru, the Inter-American Court of Human Rights had established that the creation of military courts by the Armed Forces was incompatible with the guarantees of independence and impartiality, it has not been possible to articulate a model of military jurisdiction aligned with the standards of the model of a Constitutional State and the Inter-American Human Rights System. With the return of democracy to Peru, the military legislation was declared unconstitutional, establishing a vacatio sententiae so that the Congress of the Republic could issue a law establishing adequate standards of independence and impartiality within the framework of a Constitutional State. As such, between 2005 and 2009, legislation was passed which, rather than adapting the standards of military justice, maintained the main characteristics of the preconstitutional regime. Law 28865, issued in 2005, was subject to a proceeding for unconstitutionality, since it established a regimen in which the judges were active members of the military, among other problems. In this regard, Rulings No. 0004-2006-PI/TC and No. 0006-2006-PI/TC established the partial unconstitutionality of Law 28865. This conclusion was reached in application of the jurisprudence from the cases of Palamara Iribarne v. Chile, and Durand and Ugarte v. Peru, as grounds for the declaration of the unconstitutionality of the law in question. In effect, the aforementioned jurisprudence establishes determined rules with regard to the guarantee of independence and impartiality, stating that judges who are also active members of the military are subordinated to the respective military chain of command, thus preventing them from exercising their jurisdictional function in accordance with the respective guarantees thereof. As such, the Constitutional Court cited the excerpt from the Palamara Iribarne case quoted below, as grounds for the unconstitutionality of certain provisions of Law 28865. “The Court finds that the organizational structure and makeup of the military courts [of the Chilean legal system] result, in general, in the members thereof being active members of the military, who are hierarchically subordinated to their superiors in the chain of command. Their appointment does not depend on their professional competence and suitability to exercise judicial duties, do not have sufficient guarantees of tenure, and they do not have the legal
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background necessary to hold the position of a judge or prosecutor. As such, this means that said courts lack independence and impartiality.”44
Likewise, in the ruling contained in Docket No. 006-2006-PI/TC, the Constitutional Court makes reference to the Durand and Ugarte case, noting that the active members of the military cannot serve as judges in a military jurisdiction. “As such, with regard to the claim of the partiality and dependence of the military justice system, it may be reasonably concluded that the officers of the military courts who acted in the proceeding […] lacked the impartiality and independence required, in accordance with Article 8.1 of the Convention, to investigate the facts in an effective and exhaustive manner and to sanction those responsible for them. As established hereinabove, the military members who formed part of those courts were also members of the Armed Forces on active duty, which is a requirement to form part of the military courts. Therefore, they were unable to reach an impartial and independent ruling.” [emphasis ours] 45
The standards of independence and impartiality also involve contents with normative force (müssen) in the case of Peru, as derived from the Durand and Ugarte case, but also because the conclusions reached by the Inter-American Court in reiterated jurisprudence is aimed at establishing an exceptional military jurisdiction with respect for all minimum guarantees of due process: a natural judge, independence, etc. Indeed, reference can also be made to the cases of Cesi Hurtado v. Peru and Las Palmeras v. Colombia, in which the Inter-American Court has addressed aspects tied to the minimum rules of military justice. In 2009, however, after all the progress made in the position of the Constitutional Court, a major setback occurred that altered the course of the Court’s position in previous rulings. At that time, the Constitutional Court performed an analysis of Law 29812, declaring its constitutionality despite the fact that it had incurred in the same defects as previous laws that were declared unconstitutional. The ruling contained in Docket No. 0001-2009-AI/TC noted that, in the jurisprudence issued by the Inter-American Court of Human Rights against Peru in matters of military justice (Durand and Ugarte), “no conclusions were reached with regard to the judgment, in military jurisdiction, of active members of the military for the commission of crimes while on duty. Neither has said supranational body ruled out the possibility of active officers holding the position of judges of military jurisdiction […].”46 As such, the Court manipulated some of the cited rulings, such as that of Durand and Ugarte v. Peru, to use the standards of international law in order to validate the Constitutional Court’s interpretation of the Inter-American Court’s rulings and to declare Law 29182 (Act on the Organization and Duties of the Military and Police Jurisdiction) constitutional.
44 Peruvian Constitutional Court judgment contained in Docket No. 0004-2006-PI/TC, Paragraph 70. 45 Peruvian Constitutional Court judgment contained in Docket No. 0006-2006-PI/TC, Paragraph 37. 46 Peruvian Constitutional Court judgment contained in Docket No. 0022-2001-PI/TC.
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In 2012, a complaint of unconstitutionality was admitted against Law 29548, which authorized the Executive Branch to pass laws on military and police justice, the use of force by the Armed Forces within national territory, and to establish exclusive procedural and penitentiary rules for members of the military accused of human rights violation; as well as against Executive Orders 1094 and 1095, published on September 1, 2010, as a result of the delegation of legislative faculties on said matters. This matter is still pending a ruling by the supreme interpreter of the Constitution. However, it must not neglect to apply the standards on the guarantees of independence and the exceptional nature of military jurisdiction.47 Another such problem is tied to the crime of forced disappearance. As already noted in the case of Gomez Palomino v. Peru, the Inter-American Court found the Peruvian State guilty of failing to completely typify the crime of forced disappearance. Despite this ruling, the typification of the crime in question has not yet been amended. The case of Artavia Murillo v. Costa Rica involves the matter of vitro fertilization, in which the Inter-American Court of Human Rights established that “conception” occurs at the moment the fertilized egg is implanted in the women’s uterus. For such reason, Article 4 of the American Convention on Human Rights is only applicable as from such time. This ruling also raises a series of questions regarding its implementation in the case of Peru.48 Some years ago, in Ruling No. 02005-2009-PA/TC, the Constitutional Court established a prohibition against distributing the morning after pill free of charge, basing its decision on the theory that the conception of a new human being occurs at the moment of the merging of the mother’s and father’s cells. With regard to this point, it is necessary to discuss the scope of the ruling. Although it is true that the rulings of the Inter-American Court are binding for Peru, their impact and force can vary, depending on the protected right or the offense to be repaired. Finally, reference must be made to the Barrios Altos case, in view of the fact that, in 2012, the Supreme Court issued an enforcement order in which it stated that the extrajudicial executions occurred in the Barrios Altos case (in which the First Criminal Division of the Appeals Court in and for Lima found the defendants responsible for the killings in question) did not constitute crimes against humanity, which led the Supreme Court to declare the challenge for the running of the statute of limitations filed by the convicted parties to be founded. This ruling was analyzed by the Inter-American Court in an order for the enforcement of a judgment in 2012. With regard to the matter, the Inter-American Court found that the Supreme Court’s decision runs contrary to the duties of the Peruvian state derived from Barrios Altos ruling. “The Court concurs with the parties in that said decision, unless corrected as a consequence of the amparo proceeding, would present serious obstacles for the performance of the ordered Peruvian Constitutional Court judgment contained in Docket No. 0022-2001-PI/TC. I/A Court H.R., Case of Artavia Murillo et al. (in vitro fertilization) v. Costa Rica. Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs. Judgment dated November 28, 2012, Series C No. 257. 47
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reparations, concerning the duty to investigate the facts of the case at hand. Following this train of thought, it can be determined that, in the event of the issuing of internal rulings that contravene or disregard the State’s prior acknowledgment, as well as the considerations of the Court and the judgments issued internally in accordance with the orders of this Court, then there continues to be a violation of the right of the victims or their families to obtain, from the competent State bodies, the clarification of the facts through the investigation, judgment, and punishment of those responsible, in accordance with the terms set forth by this Court in reference to the violation of Articles 8 and 25 of the Convention, and, therefore, the ruling is not being carried out.”49
In effect, the Court has stressed the need for the State to correct the effects of the enforcement order issued by the Supreme Court. In this regard, it has stated that the filing of the amparo demand by the Executive Branch against the ruling in question is a necessary step toward reversing the situation, and that the judges hearing the case have the duty to apply conventionality control, taking into consideration the standards derived from the Barrios Altos case.50 Notwithstanding the foregoing, it must be pointed out that the Criminal Division of the Supreme Court itself declared the nullity of the challenged enforcement order in question, by virtue of the ruling of the Inter-American Court.
V. Conclusions Conventionality control demonstrates the existence of a process of coordination and dialogue between the national courts and the Inter-American Court of Human Rights. Its application for the control of internal laws reinforces the protection of the rights recognized in the American Convention on Human Rights and other instruments of the Inter-American Human Rights System. Professor De Vergottini has described the process of jurisdictional dialogue existing between national and international judges. In this regard, he has made clear that this phenomenon in the Inter-American Human Rights System is a result of the process of constitutional openness and the establishment of a common normative and cultural space as part of the Inter-American Human Rights System.51 This control runs parallel to the control of constitutionality, although they are oftentimes used as synonyms, given the relevance of the examination of conventionality in determining the rules of validity in internal law, which reflects the fact that the perspective on the system of sources – that is, from the standpoint of hierarchical relationships and the primacy of the national legal system – is giving way to the existence of a normative pluralism. As such, the Constitutional State and its jurisdictional guarantees of the defense of the Constitution and fundamental rights, while still essential, are also articulated in 49 I/A Court H.R., Case of Barrios Altos v. Peru. Order for Enforcement of a Judgment. Order of the Inter-American Court of Human Rights issued on September 7, 2012, Paragraph 60. 50 I/A Court H.R., Case of Barrios Altos v. Peru. Order for Enforcement of a Judgment. Order of the Inter-American Court of Human Rights issued on September 7, 2012, Paragraph 35. 51 Giuseppe De Vergottini, Más allá del diálogo entre tribunales. Navarra: Civitas-Thomson Reuters, 2011, p. 161.
The Impact of Conventionality Control on Peruvian Law
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a process of multilevel protection process (or, from a procedural point of view, in a constitutional process of a transnational nature).52 Nevertheless, transnational protection will not always be absolute if it is based on the fact that there is a difference – one that is not merely formal – between the concept of fundamental rights (inherent to constitutionalism) and the concept of human rights (as derived from international law on human rights). Effectively, the differences run deeper than the respective names, given that fundamental rights are not universal in nature, while human rights are; and in view of the fact that the actions of the Inter-American Human Rights System have been primarily aimed at protecting certain rights to the extent that they are considered protected liberties. In all cases, the multilevel protection spoken of here involves the maximization of efforts to protect and guarantee rights, whether fundamental or human rights. In Latin America, conventionality control has played a vital role in establishing material limits for the legislative body and the development of the interpretative and creative duties of the national courts, even in a context in which States often cite their sovereignty in avoid certain obligations under international law. In Peru, the absolute application of conventionality control is still a pending task for both the ordinary judges and the Constitutional Court, especially if we consider that all of the advances and progress made up to this point are in danger, due to the lack of value which some authorities assign the standards of the Inter-American Human Rights System.
52 Carlos Ayala, Del amparo constitucional al amparo interamericana como institutos para la protección de los derechos humanos. Caracas: Jurídica Venezolana, 1998, p. 76.
The Subordination Principle as Foundation of the Constitutional State Its regulation in Argentina, Brazil, Colombia, Ecuador, and Mexico* von
Prof. Dr. Raúl Gustavo Ferreyra, Universität Buenos Aires Content I. Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 822 II. Theoretical Framework . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 824 III. Constitution – Fourth Element of the State . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825 IV. Constitutional Rules . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825 1. First Rule: Subordination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 826 2. Second Rule: Variation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827 3. Third Rule: Difference of Roles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827 4. Fourth Rule: Action. Basic Rights . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 828 V. Subordination Rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 828 1. Highest Rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829 2. Relation with ILHR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831 VI. Normative Design and Representation of the Subordination Rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 834 1. Argentina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 834 2. Brazil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 836 3. Colombia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839 4. Ecuador . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 841 5. Mexico . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 844 VII. Final Comments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847
* Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle in Dankbarkeit gewidmet für seine ständige Lehrtätigkeit und unvergängliche Freundschaft. I wish to thank legal translator Mariano Vitetta, who translated this essay from Spanish into English, and professors Sebastián Toledo, Mario Cámpora, Leandro E. Ferreyra, José E. Schuh, Enrique Javier Morales, Raúl Zaffaroni, and diplomé en philosophie Juan Ignacio Ferreyra for their valuable comments on the original version of this article.
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I. Introduction With the purpose of facilitating understanding by the reader and critical judgment, I will now present ten apodictic statements. First. Latin America has a diverse ethnic identity. Terminology is not an issue here, although it is true that some criticise this term as they consider it racist (imposed by the imperial dreams of Napoleon III) and others hold that not all of us are Latinos; this leaves outside black people, Indians, and so on and so forth. As this is an open discussion, here I will use “Latin America,” but anyone may change it for the term they prefer.1 Second. Being Latin American is not something difficult to discern, as in our mixture resides our wealth.2 There is a Latin American human being forging their way in history in permanent resistance against colonialism. Colonialism denies their dignity as human beings in a territory where many millions of human beings interact and exchange their global views; they are an expression of all cultures subdued and marginalised by colonialism throughout the world.3 Third. Even if at first sight it may look relatively simple, Latin America’s territorial delimitation is not devoid of complexity. This continent spans over more than twenty million square kilometres of land. Fourth. It has been recently stated that in the “distribution of global GDP in 2012,” Latin America’s share (calculated in millions of euros) is 9 %, similar to its population percentage at global scale.4 Fifth. A written compilation of all constitutional provisions currently in force in each Latin American nation would require more than two thousand pages. Considering the extension imposed for this academic paper, as a critical text, the intentions must be limited, notwithstanding any alleged witticism by the author. Sixth. “Constitutionalism”5 means the legal order of a political community, which is realised through a written constitution. The supremacy of such a constitution means that all acts produced by the branches of power are subordinated to it. Therefore, “constitutionalism” may be reserved to define the normative and nonnormative combination or conglomeration; in this case, the meaning will be the same as “constitutional law.” “Constitutionalism” (or “constitutional law”) means both the set of provisions set out in the constitutions and any provisions outside such text which are considered part of the constitution as they stem from international sources with constitutional ranking. The interpretation of these concepts by the courts should also be considered, provided that the order itself embraces, models and justifies such meaning.
Zaffaroni, E. Raúl: El Derecho latinoamericano en la fase superior del colonialismo, forthcoming, 3. Vargas Llosa, Mario (2015): Diccionario de América Latina, Barcelona, Paidós, 12. 3 Zaffaroni, E. Raúl, op. cit., 6. 4 See Piketty, Thomas (2014): El capital en el siglo XXI, translated by E. Cazenave and Tapie Isoard, Buenos Aires, Fondo de Cultura Económica, 78. 5 See, in a similar vein, Sánchez Viamonte, Carlos (1967): “Constitucionalismo,” in Enciclopedia Jurídica Omeba, volume III, Buenos Aires, Editorial Bibliográfica, 1041. 1 2
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Seventh. The doctrine I develop is aimed at distinguishing the normativity6 of constitutions and if such feature is adequate to characterize a given “law model.” This is of course generated or created normativity, which does not mean conciliation with its own and full realisation. Constitutional law as a whole should embrace the feasibility of its own realisation, as ideas which may not be translated into reality should not be subject to normative realisation. A decade ago, our theory was enriched with the contribution whereby differences were highlighted between Latin American comparative constitutional law and Latin American constitutional law.7 It has been said that Latin American comparative constitutional law deals with the constitutional universe (constitutions, laws, case law and constitutional custom) of the region’s States, their similarities and differences. On the other hand, Latin American constitutional law covers supra-state institutions, bodies and associations created by countries through international treaties, conventions and agreements, which the States undertake to observe. A large part of it is community law with specific institutions. This wide field covers economic and also political integration efforts, supranational courts and parliaments, as well as advice mechanisms in diverse aspects and matters.8 Eighth. This work focuses on a little fragment of Latin American comparative constitutional law – the constitutional law of five Latin American States:
6 “Normativity” means that constitutional rules and principles are directly applicable or applicable after building other legal provisions based on their provisions, principles and rules, as they satisfy such definition. 7 Latin America’s integration is present in several constitutional provisions. The 1991 Political Constitution of Colombia’s Preamble states “… to promote the integration of the Latin American community …” This is expressly set out under section 9: Likewise, Colombia’s foreign policy will aim to ensure integration in Latin America and the Caribbean. This purpose is reinforced under section 227: “The State shall promote economic, social and political integration with other nations, and especially with the nations in Latin America and the Caribbean, by entering into treaties which create supranational bodies based on equity, equality and reciprocity, with the purpose of creating a Latin American community of nations. The law may provide for direct elections for the Andean Parliament and the Latin American Parliament.” The 1988 Constitution of the Federal Republic of Brazil, in turn, has also regulated some aspects of this matter; for example, section 4, unnumbered subsection: “The Federal Republic of Brazil shall seek the economic, political, social and cultural integration of Latin American peoples, with a view to the creation of a Latin American community of nations.” In Argentina, the federal Constitution (hereinafter, AFC) has also followed this line. Actually, as from 1994, section 75(24) has set out the following as powers of the Congress: “To approve integration treaties delegating powers and jurisdiction to supra-state bodies under reciprocity and equality conditions, and which observe democratic and human rights order. Any regulations passed as a result therefrom rank higher than the laws. Approving these treaties with Latin American nations shall require absolute majority by all members of each House.” The Constitution of Ecuador has stated this in the Preamble: “We, the sovereign people of Ecuador … Decide to build … A democratic country, committed to Latin American integration – the dream of Bolívar and Alfaro –, peace and solidarity with all the peoples on earth …” This is also mentioned in chapter three, Title VIII, under thick section 423, the text of which starts as follows: “Integration, especially with countries in Latin America and the Caribbean, shall be a strategic purpose of the State.” 8 See Carpizo, Jorge (2005): “Derecho constitucional latinoamericano y comparado,” in Boletín Mexicano de Derecho Comparado, New Series, Year XXXVIII, No. 114, UNAM, September–December, 949–989.
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– Argentina, as it is the oldest constitutional system in force – with instances of rupture and amendment – since 1853. – Brazil, as it is the constitutional system which orders the State with the largest territory and population in the region, since 1988. – Colombia, as it represents one of the most important challenges for the constitutional organisation in the region, since 1991, and also considering the integration between constitutional law and human rights. – Ecuador, due to the recent creation of an alleged new paradigm in 2008. – Mexico, as it opened a paradigm shift towards social constitutionalism in 1917. I will specifically discuss the way each of these constitutions orders and subordinates. It may be alleged that probabilities are not adequate in the criterion followed to regulate estimations, which in turn determined the normative choices. However, even if I do not want to be axiomatic, I do not believe that the selection has been arbitrary. Ninth. The normal flow of intelligence, its very natural physiology, requires that a starting point be fixed for research; after the starting point is identified, the discussion may begin. It is not my intent to glorify the exercise of the narrative function in choosing the five States mentioned. Also, I do not want to underestimate or disregard the virtues of other legal orders which cannot be described here due to the reasons explained above. Tenth. The comprehensive reading of the texts discussed – mainly their principles and rules – shows the presence of almost all basic categories invented by constitutionalism, except for the parliamentary system of government and the possibility of transference or assignment of sovereign powers to inter-state institutions with a level similar to the constitution. Nowadays, for the first time since the independence from the European colonial yoke, the constitutional creation and order in each of these countries are at the peak of their entire historic development. Now I will sketch an initial path to define regularities and deviations, similarities and differences, in the ways the constitutions chosen establish order. My plan is the following. In section II, I introduce the theoretical framework of this article. Section III discusses the constitutional component, focusing on its justification based on the external approach. Section IV deals with the State’s constitutional grounds, as per the view I put forward here. Section V examines the subordination rule. Finally, section VI analyses the rule on subordination and its normative representation in the justifications of the States chosen. Finally, section VII includes my final comments.
II. Theoretical Framework The key assertion in this text is the following: “Constitutional State”9 means any entity with two natural constituent elements (territory and population) and two non-natural constituent elements (power and constitution). One of the non-natural constituent elements is the “basic device” – the supreme rule of state order, the stability and durability of which is intended to be established with sufficient hegemony. 9
Bonavides, Paulo (2011): Curso de Direito constitucional, 26th edition, Sao Paulo, Malheiro Editores.
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In the constitutional State, the law must be genuinely authorised by the basic positive rule of its coercive order. The constitution is the foundation (as source) and foundation (as reason) intended to order life in the State. These two foundations operate through four “inchoate” constitutional rules or constitutional principles of “progressive realisation” which form the basis of the State: subordination rule, variation rule, distinction rule, and rule about the action of basic rights.
III. Constitution – Fourth Element of the State The constitution is not an isolated worldly entity. It may be isolated for dogmatic study; i.e. to understand from an internal perspective its entity and describe its features. However, it performs its tasks with a higher or lower degree of effectiveness or achievement, within the State. As a result, there is also an external approach: the way in which the constitution is given and presented, how it rules and justifies the world of the elements of the State. Creating the constitutional structure of the State is not an easy endeavour. That is why the conceptual guidelines regarding its “organisation or order” are not a mere matter of faith or vocabulary – they are always open to delimitation and critical discussion. The elements of the State still are territory, population and power. Nevertheless, regarding the architecture of power and the demarcation between authority and citizenship, the constitution arises as the fourth and new element of the system. Considering the constitution as the fourth element entails a program presented – in Argentina, and possibly in Latin America, to favour a new model of actual integration – and intended to be developed step by step, because it does not aim to remove the “expressive force” from the elementary trilogy of State’s constituents.10 In principle, there should not be another “State” which is not created based on the pertaining “constitution.” There should not be state life outside the constitution, but there is. Although there is state law outside the constitution, there is no space here for proper discussion.11
IV. Constitutional Rules Selecting the constitutional device as foundation of the State is a political decision. This decision is taken before the state architecture and merges with its purposes. That is why the choice made is an interaction between the political decision and the very architecture of the system, where there is a circular relationship governing the entire future construction.12 See Häberle, Peter (2003): “La constitución en el contexto”, AIJC, CEPC, Madrid, No. 7, 225. For discussion of this matter, see Ferreyra, Raúl Gustavo: La constitución vulnerable. Crisis argentina y tensión interpretativa, Buenos Aires, Hammurabi, 2003 and also the essay “¿Tiempo constitucional? La constitución vulnerable,” at www.infojus.gov.ar, 29/4/2014, Infojus: DACF140220. 12 See Zaffaroni, E. Raúl et al.: Derecho penal, Buenos Aires, Ediar, 104–105. 10 11
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The term “foundation” is used with different meanings and in multiple contexts. For the sake of conceptual clarity, I shall select the meanings intended among the many possible ones. Here, “foundation” as “source” and “foundation” as “reason” are the paths chosen, in consistency with some of the lexical alternatives. “Constitutional foundations” means source because the entire legal construction of a community in a given space and time is or should be supported by or based on the law stemming from the constitution, or the validity of which is authorised by the constitution. “Constitutional foundations” means reason because the legal validity of the law of a community in a given space and time is or should be supported by or based on the law stemming from the constitution, or the validity of which is authorised by the constitution. The constitutional foundation of the State is realised or may be realised through four principles or rules: subordination, variation, distinction, and action. None of these rules or principles are fully realised; this is why these are “inchoate” rules or progressive-realisation rules, or relative-realisation rules. Moreover, I assume here that there are no ontological or structural differences between the principles and rules stemming from constitutional provisions. The differences are mostly based on style, while the legal literature generally prefers “rule.” To be clear: in every literary work style and ideas are essential.13 So, these four principles or rules stemming from the constitution may be described as inchoate, because they are used to justify the regulation of the State or the limitation of its inherent power. In their stage of state foundation each of these constitutional principles or rules are active, whether as source or as justification for a reason. These are “structural materials,” “pillars,” or, better, “elements of the internal architecture of the State” positively established, included in the constitution. However, to maintain the analytical rigor unscathed, I prefer to group them in two orders, just like “constitutional foundations.” Hence, the variation or change rule and the rule regarding subordination fall within the framework of constitutional foundations considered as source. Instead, the rule about the distinction and the rule about action correspond to each other or, better said, are the manifestation of the constitutional foundations considered as reason and justification for the exercise of state force. These principles or rules which arise from the constitution have the content to be explained below.
1. First Rule: Subordination One of the definitions of “subordination” (‘being subject to the orders, direction or instructions of somebody’) clearly reflects what I say. In fact, in the “constitutional 13 I do not assume the distinction between principles and rules based on their strength or weakness, respectively. This does not mean that the distinction is meritless. It must be said that its explanatory content is much more reduced than the one traditionally associated with it, as most principles tend to behave like rules, because they are “law about law,” which represent sound normativity. I generally follow the view of Luigi Ferrajoli (2012), included in “Constitucionalismo principialista y constitucionalismo garantista,” in Un debate sobre el constitucionalismo, translated by N. Guzmán, Madrid, Marcial Pons, 11–50.
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State,” the subordination of the State to the key order established under the constitution binds the very concept of State. The rule of the legal subordination of the State through each of the instances set out in the constitution (normative supremacy, relationship with international law of human rights – ILHR – and constitutionality control14) is intended to ascertain certainty, i.e. reliable knowledge by citizens and public officials about the determination of the field governed by the law and the other free field, a world without legal rules. Citizens and public officials must realise the law of the constitution.
2. Second Rule: Variation The constitution is certain about something: its methodical writing may only be expanded, restricted or revised through the procedure set out in the instrument itself. Only one language is authorised, through a self-referring model. The amendment procedure sets forth that the constitution may be amended with due respect for its specific provisions, which may never be considered useless. The constitutional instrument structures and strengthens the structure of the State, as it allows for the change of the highest rule, which is not a copy or imitation of any perfect or ideal entity. This is why we have to accept the constitution’s own metamorphosis. I am discussing the real procedure each legal system regulates and sets forth with its own nuances, but the citizens are always involved as they choose their representatives and, indirectly, pass the rules prepared by the constitutional body, as well as the determination of certain constitutional bodies to proceed to the amendment. Arguably, reform is a key foundation on which the certainty of the continuing building of the State’s legal order rests.
3. Third Rule: Difference of Roles To erect a building it is necessary that an architect makes the drawings; afterwards, workers and technicians take care of the material work. To write a novel or any kind of story, it is necessary to know grammar and possibly to be aware that the reader will have to share the author’s written code. To legally create and maintain the collective body known as “State,” some men will have to give orders, with powers to give adequate directions, and others will have to abide by such orders, whether by conviction or any other reason with some impact and determining the domination status. Power is the first non-natural element of the State. Power here is understood as the authority vested in certain State bodies with the capacity to rule or give orders, grant permission or set prohibitions. Power is a basic matter in constitutional law which
This mechanism is one of the largest inventions to preserve the strict legality and maximum subordination of the State to the law of the constitution. In other words: to preserve constitutional supremacy. The limitations of this work, detailed in section I, prevent a description of the system and its theoretical elements. Such reasons also prevent a description in the proper framework under section VI. 14
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orders the State, with a different view, but with the same significance as liberty, which is the other key question. The difference between State powers – both constituent and constitutional – is aimed at contributing to obtain what seems impossible or utopian everyday: to subject power to the observance of legal rules established beforehand. This is about preventing the concentration of powers. Fractioning the State’s power is a fantastic shield for the liberty of the population.
4. Fourth Rule: Action. Basic Rights There are constitutions which, as foundation of “support” and “validity” of legal systems, are not limited to scheduling a set of procedures to enable the planning and deployment of coercion, which is a responsibility of constitutional powers. Moreover, accepting that constitutions are not ends but means, the basic rights included in them govern the basic environment of a free community life; they are considered not only as enforceable rights, but also as objective rules of the system and, as such, formally and not materially, lines of action which must ensure the correct use of state force. Naturally, this demarcation may never be complete. It is almost impossible for the constitution to establish all the orientations of its realisation. In the constitutional State, the radical elimination of discretion is insurmountable; discretion is a prevailing feature of the human species. Ultimately, basic rights are significant rules or lines for state and citizen action.
V. Subordination Rule Constitutional law and State are not equivalent entities, but they are inextricably related: constitutional law is a special combination of rules, while the State is a domination entity and an association of men situated in a given territory, with the intention to remain there, and at the peak of its legal order is the law stemming from the constitution. The necessary connection between these two instruments should be that the State is subordinated to the constitution. Subjecting the State to a set of constitutional provisions does not mean that the State is on its knees. The true subordination of the State to constitutional law entails a dependence relation between the two entities. From a legal standpoint, subordination here means any arguments which make it possible that the State be subject to the law stemming from the constitutional system. One of the enlightened ideas of the last part of the 18th century and the beginnings of the 19th century has been the assertion that citizens and public officials are subordinated to the highest rule – the constitution.15 There is no relation, however, be15 Luigi Ferrajoli points out that there are multiple concepts of the constitution and legal constitutionalism. A common element in all of them is the idea of the subordination of public powers – including the Legislature – to a set of higher rules, which are the ones that in current constitutions establish basic rights (Ferrajoli, Luigi: “Constitucionalismo garantista y constitucionalismo principialista”, op. cit., 11–13). The statement is true but only partially, as it is not enough to reach the discourse of public
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tween the ease to discuss the advantages of such matter and the continuing difficulty due to the disadvantageous specific realisation in every state community. Many times, the constitutional order itself seems to be in gradual disintegration or decomposition, affected by the repellent energy stemming from the chaos of different state communities. Be it as it may, the constitution is the only “basic device”16 invented so far to attain some regulation, limitation and specific control of the State’s power. Setting founding and fixed rules which govern the political process is a substantial agreement on which to base the state community and the convictions of the citizenship. I dare justify the view discussed about the legal subordination of the State with special scepticism. Based on the reasons explained above and without excessive statements, I assert that, after the set of constitutional rules is enacted by the body authorised to create such rules or after the rules are created by the body with the pertaining authority – always representing the citizenship –, their “essential contents and procedures”17 allow to identify a model of State based on the appropriate, logical subordination to the law, to a certain point. At this point, I repeat: the State is made up by the constitution and all the law of the State must be authorised under the constitution. There is a notable exception, which sometimes is extensive and not less pathetic or evident: certain aspects of political, economic, social and financial emergency tend not to be consistent with the constitution. In such cases, a state law outside the constitution arises, as I have already suggested. Applying all necessary resources to eliminate or reduce the police state – the most characteristic model opposite to the constitutional State – should not be a concern and all means should be devoted to that purpose, because the police state destroys or undermines the subordination rule.
1. Highest Rule Men have spent long years learning about and enjoying the advantages of a given legal order where there is a supreme rule, with the highest, unquestionable supremacy of the constitution over the rest of the rules and regulations which are part of the state legal system and rank lower than it. The set of constitutional-law provisions has almost always included a supreme rule, i.e. the constitution as a rule justifying the entire legal system, “both due to its creation form and its content.”18 When the idea of constitutional supremacy19 was conceived with the pertaining hierarchical distinction within the system, a phrase with a few words was believed to powers. It also has to contain the inevitable duty of citizens to observe the constitution, the normative provisions of which are the structure to cover and contain any behaviours of interest for the law. 16 Loewenstein, Karl (1979) believes a constitution is a “basic device” for the control of the power process (in Teoría de la constitución, translated by A. Gallego Anabitarte, Barcelona, Ariel, 149–151). 17 See Häberle, Peter (2003): El Estado constitucional (introductory study by Diego Valadés, translated by H. Fix-Fierro, México, D.F., IIJ), 1. 18 See Bidart Campos, Germán J. (1995): El Derecho de la constitución y su fuerza normativa, Buenos Aires, Ediar, 92. 19 Regarding the normative supremacy of the constitution, the oldest legal instrument still in force mentions this feature under article VI, section 2 (1787 U.S. Constitution): “This Constitution, and the Laws of the United States which shall be made in Pursuance thereof; and all Treaties made, or
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create a superior rule, which must be clearly understood: “supreme, highest and with no superior.” The constitutional rule is created within the legal system and is appointed as the highest rule, as no regulation may ever be above it. The special advantage of ubiquity may be analysed, i.e. if the creation and subsequent location amount to a self-referring action by the constitutional rule regarding itself. It should be noted that the positioning of the constitutional rule in the system and even its determination as supreme law, even if based on itself, does not entail a contradiction in logic, because handling with care self-referent statements is something very different from asserting that every statement of this kind is meaningless.20 There is no mystery: to justify the supremacy of the constitutional rule, the arguments rest on the text itself and it is not necessary to resort to a higher rule but to the constitution itself. The supremacy stems from provisions included in the constitution itself; there are no assumptions because it is constituent law included by the drafter of the rule. A constitution will be the indeterminate coordination of all circumstances before the constitution is drafted, even if the definition of a constitution entails that it is the highest rule for citizen life in the state community. Therefore, considering that it is the “highest rule” means pointing to its inherent “normative supremacy”21 or to make reference to its most harmonious significance as “supremacy theorem.”22 “Supremacy” means something similar to “highest”: that there is nothing above it, because there is nothing above the basic rule of the State. Constituent power, made up by the representatives of the citizens who are the people of the State, prepares and establishes the constitutional rule, and this sometimes also entails the approval of the electoral body. At the constituent moment of the originary legal creation or at the constituent moment of amendment, powers are also established to create rules ranking below the constitution. It is apparent that a legal system includes multiple rules with different rank and the only known way to maintain consistency in such system will entail that all its rules be reduced to the standard consistency under the constitution. Resorting to consistency will only be fully poswhich shall be made, under the Authority of the United States, shall be the supreme Law of the Land; and the Judges in every State shall be bound thereby, any Thing in the Constitution or Laws of any State to the Contrary notwithstanding.” It is enough to pronounce such sentence out loud to believe in the powerful nature of the highest rule, especially considering the reference to the judiciary in Article III, Section 1: “The judicial Power of the United States, shall be vested in one supreme Court, and in such inferior Courts as the Congress may from time to time ordain and establish.” Section 2: “The judicial Power shall extend to all Cases, in Law and Equity, arising under this Constitution. …” 20 The sensitive theoretical issue of self-reference in constitutional law has been discussed in Ferreyra, Raúl Gustavo: Reforma constitucional y control de constitucionalidad. Límites a la judiciabilidad de la enmienda, Buenos Aires, Ediar, 2007, 437–450. Reference is made to this text for the sake of brevity. Basic literature about this matter: Ross, Alf: (i) Sobre el Derecho y la justicia, Buenos Aires, Eudeba, 1994, 80–82; (ii) “On Self Reference and Puzzle in Constitutional Law,” in Mind, vol. 78, Issue 309, Oxford University Press, January 1969, 1–24; Hart, H. L. A.: “Self-referring laws,” in Essays in Jurisprudence and Philosophy, Oxford, Clarendon Press, 1985 (reprinting of the first edition 1983), 170–178, originally published in a work as tribute to Karl Olivecrona, 1964; and Guibourg, Ricardo: “La autorreferencia normativa y la continuidad constitucional,” Several Authors: El lenguaje del Derecho. Homenaje a Genaro R. Carrió, Buenos Aires, Abeledo Perrot, 1983, 182–195; among others. 21 See Sagüés, Néstor (2004): Teoría de la constitución, Buenos Aires, Astrea, 98–99. 22 See Ekmekdjian, Miguel Á. (1993): Tratado de Derecho constitucional, v. I, Buenos Aires, Depalma, 31.
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sible if and only if there is a rule from which all other rules derive their normative nature, directly or indirectly.23 Consistency in the state legal system is a key task performed by the constitution, as it subordinates legal production and realisation to a given order of ranking, procedures and contents, to a certain point. The constitution, as benchmark for formal and material validation, defines the membership of lower rules of the state order. The basis citizenship agreement means that in the hierarchical order of legal rules, in principle, nothing is above the constitutional rule. Any act or rule produced or created outside the procedure or contents stipulated under the constitutional rule entail a non-authorised variation or a change forbidden by the system itself. Violation gives rise to inconsistency – a defect known as unconstitutionality. The legal ranking mentioned places each rule at different levels. Lower rules are subordinated to higher rules, and the entire legal order of the State is subordinated to the constitution. At this point, we can assert that the legal order of the State must be consistent. Without making any prophecies, a constitutional historian would say in the 22nd century that the normative supremacy, enshrined in the highest constitutional rule – invented during the 18th century – was the basis of consistency in State legal orders during the 19th century, a mechanism which consolidated itself during the 20th century and which at the beginning of the 21st century was a sound paradigm.
2. Relation with ILHR In the nations of Latin America, constitutions became a reality after the independence from colonial power. There is a long list of constitution models drafted in Latin America since the 19th century.24 There were hundreds of written instruments with different fate. They were imperfect works, maybe tautological, because the only existing legal model in writing back then was the U.S. Constitution, approved in Philadelphia in 1787. I will not summarise nor comment on such texts here. They are real documents, even if in many cases they could not be anything but a mere program or were valid for a very short period. Nevertheless, in their original, precocious language they provided for the relation between domestic law and international law. Here I will deal with the legal location of ILHR within the legal order of the constitutional State in a given time,25 not the way it was enacted, progressed and evolved within the domestic system. The above paragraph accounts for the primacy, as revealed in the subordination to the rule of law, as the validity of its legal order is tied to the reference, formal, and substantial framework provided for in the constitutional rule. The choice for a written constitution, the amendment of which must be made via procedures other than the ones applicable to ordinary laws, sets forth a paradigm in the system of sources in the legal order. Such doctrine contains an idea with significant theoretical importance: through constitutional primacy, the States tried to design, develop and com See Bobbio, Norberto (1998): Teoría general del Derecho, Bogotá, Temis, 168–173. See Gargarella, Roberto: 200 años de constitucionalismo en América Latina 1810-2010, unpublished. 25 Bidart Campos, Germán J.: Manual de la constitución reformada, op. cit., 371. 23 24
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plete the monopoly of force, regulating authority and centralising the tasks of production and realisation of the law. More than 70 years have passed since the creation of the United Nations Organization (UN), which should have been named “United States” as it has been pointed out26 given its inter-state order nature. One of the most significant features of the UN is the normative nature of its rule at a global scale, with constituent law of the highest nature regarding ILHR. Article 1 of the Universal Declaration of Human Rights (adopted by the General Assembly on 10 December 1948), which states “All human beings are born free and equal in dignity and rights. They are endowed with reason and conscience and should act towards one another in a spirit of brotherhood,” shows that the human species is extremely original. It took them thousands of years to write, with global scope and legal normativity, that to respect life and to “help to live”27 with certain degree of well-being,28 not to harm 29 another, to be “guided by knowledge”30 and to be caring whenever possible, within a framework of deep and everlasting respect for others, is the basis for human life development. I wish to underscore three features, because they summarise relevant aspects regarding the relation between ILHR and domestic law. Feature 1. ILHR is the result of meetings, debates, events, conferences or assemblies, always at the international level. Therefore, it is inter-state law. The paradigm of state monopoly in the creation of law has been changed, but constitutional primacy remains unchallenged. Feature 2. It is appropriate to update and extend the content of constitutional law. The connection with ILHR is unavoidable and cannot be postponed. In this area, the method of insertion and positioning of ILHR within the state system is of the essence. Feature 3. ILHR gives rise to two matters in connection with the primacy of the state constitution. To make understanding easier, I will label the first of them “text enshrinement.” The constitutions of Latin America may be divided into two groups: a first group of constitutions with a specific “normative formulation” about the hierarchical relation between ILHR and constitutional law, and constitutions with no express provisions in that regard. Harmony is often dangerous. To be accurate and careful, I should 26 See Bunge, Mario A.: Filosofía política. Solidaridad, cooperación y democracia integral, translated by R. González del Solar, Barcelona, Gedisa, 331. This author also states that USA should have been called “United Provinces.” 27 Idem, 193. 28 In 1852 Ramón Ferreira wrote that the State’s purpose is to provide men with conservation means and to secure happier lives. “The general purposes of a good government are wealth, education, citizen security and public morality.” See Ferreira, Ramón: Manual de Derecho Natural (Escrito en 1852 para el Colegio de Tacna en el Perú), op. cit., 32 & 35. Years before, Thomas Jefferson had also written about the same matter: “The care of human life and happiness, and not their destruction, is the first and only legitimate object of good government”. See The Writings of Thomas Jefferson, To The Republican Citizens of Washington County, Maryland, Assembled at Hagerstown On the 6th Instant [Monticello, March 31, 1809], v. VIII, Taylor and Maury, Washington D.C. 1854, 165. A happy world is among the main purposes of the State. However, the merits of Jefferson are to be assessed by the reader. 29 Popper, Karl (1992): La sociedad abierta y sus enemigos, Buenos Aires, Paidós, 479. 30 Russell, Bertrand (2004): “Lo que creo”, en Por qué no soy cristiano, Barcelona, Edhasa, 86.
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write: all constitutions contain express statements in this regard, with the exception of Uruguay, whose constitution has “no express reference to the interaction between ILHR and constitutional law.”31 A second distinction is also enlightening. There are four hierarchical orders. First, texts prescribing the “primacy or prevalence” of ILHR over domestic law; second, texts setting out the “equivalence” of normative orders, both international and domestic; third, constitutions setting forth that ILHR “is below the constitution,” and, finally, the case of Uruguay, which due to the lack of express mention invites the expert or the citizen to a fairly illegible “travel,” maybe due to the discretion in the realisation of law. Latin American nations show an evident effort by constituent powers. Whether tolerated or recommended, the progressive and substantial advance of ILHR entails a new order of the system of sources. Every constitutional system undoubtedly has “certain identity features,”32 even if many times the texts do not reach a consistent realisation. Ranks in the legal order are different; the implementation of a double system of sources is not indifferent – domestic law and international law. It has been even warned that if the constitution declined its higher ranking, i.e. its specific primacy in favour of ILHR, that would not deprive the constitution from its normative force.33 The DNA of international law is transmitted uninterruptedly in the body of ILHR; it aims to prevail over domestic law, including constitutional law. However, if I had to choose, I would rather adopt the absorption mechanism, with a relevant and restricted margin of state appreciation, with equivalent rank and the possibility of denouncing the exit from the international system. So that my position does not look exaggerated or orthodoxically internationalist, I prefer to observe the common home, the republic, without pause and with strength, to give place in a near future to a law of human rights for all Latin Americans. It should be noted that this is a perspective based on the “insurmountable difficulty of basing the unity of the order on the supremacy of international law”34 ; this would cease to exist fully or partially the day we could talk about the existence of full globalisation of law, the existence of only one State or legal order, thereby doing without the concept of State we use nowadays. The comment is optimistic, because it relegates the full supremacy of international law to its positioning at the top of the legal order, which would then have the devices needed to create and realise a global legal order in the entire world. Meanwhile, the citizens of every community should be fully free to decide if in the future of the South American village35 it would be embraced by the foundational 31 See Machado Cyrillo Da Silva, Carolina: “La posición jerárquica del Derecho Internacional de los Derechos humanos en las constituciones sudamericanas,” in Contextos, No. 5, 124–135. 32 See Dolabjian, Diego A.: “Constitución y derechos humanos. 75.22. Modelo para armar,” in Contextos, No. 5, 89–123. 33 See Bidart Campos, Germán J.: El Derecho de la constitución y su fuerza normativa, op. cit., 456. 34 See Aláez Corral, Benito (2012): “Nacionalidad y ciudadanía ante las exigencias del Estado constitucional”, v. 7, Fundamentos. Cuadernos monográficos de Teoría del Estado, Derecho Público e Historia Constitucional, Universidad de Oviedo, 130. 35 On 22 June 1856, Francisco Bilbao proposed the creation of a South American Congress, to which each republic would send the same number of representatives. The Congress, a symbol of union and initiation, would be specifically in charge of turning several proposals by each state into specific laws, including: “(1) Universal citizenship. Every republican may be considered a citizen in every re-
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primacy of certain ILHR instruments, ranking higher over the rest of the law, including domestic constitutional law.
VI. Normative Design and Representation of the Subordination Rule 1. Argentina Argentina’s Federal Constitution (hereinafter, AFC) is the oldest Latin American constitution in force. On 25 May 1853, Provisional Director of the Argentine Confederation Justo José de Urquiza ordered: Section 1: The federal Constitution approved by the Constitutional Convention on May 1st this year in the City of Santa Fe shall be the Supreme Law throughout the entire territory of the Argentine Confederation. Section 2: Be this printed and distributed among provincial governments, so that the Constitution be promulgated and sworn to in public meetings.
Together with the decree, the provincial governors also received a note signed by the Director: “… The political Constitution has been approved …” Section 12 of the San Nicolás de los Arroyos Agreement required the Provisional Director to promulgate and enforce the Constitution after its approval. For this provision to be effective, Your Excellency shall order the distribution of printed copies in towns and territories of such province, and that in every leading section of each district the Constitution shall be read in public, with the presence of territorial authorities … After the reading is finished, the oath act shall begin … with the following statement: “We, Argentine citizens who make up the people of the province of … swear … that we shall observe and defend the political Constitution of the Argentine Confederation, approved by the Constitutional Convention on 1 May 1853.36
Allegiance was sworn to the AFC throughout the entire Confederation on 9 July 1853, with the exception of the province of Buenos Aires, which only expressed its public where he or she lives; (2) To submit an international code bill; (3) A federal and commercial partnership pact; … (12) To present the reform political plan, including the contribution system, decentralisation, and liberty reforms which restore to all citizens the functions seized or being seized by the oligarchic constitutions in South America; … (14) Congress shall set a place and date for meetings, shall determine its budget, and shall create an American newspaper. This is how we believe a true South American lawmaker will arise; (15) After setting the unifying powers of the American Congress and ratified by all republics, the Congress may have powers over the armed forces of the South United States, whether for war or for any of the substantial ventures required by the future of the Americas; (16) Any expenses required by the Confederation shall be set by the Congress and distributed among the republics in proportion to their budgets. (17) In addition to federal elections for Congress representatives, separate elections may be held in all republics, whether to appoint a representative for America, a supreme commander in chief of its armed forces, or to vote for the universal proposals in the Congress. (18) In every general election about Confederation’s matters, a majority shall mean the addition of individual votes, and not the addition of national votes. This measure shall further unify spirits.” See Bilbao, Francisco: “Iniciativa de la América. Idea de un Congreso Federal de las Repúblicas. Post-dictum”, op. cit. 36 Ravignani, Emilio (1939): Asambleas Constituyentes Argentinas, 6th, 2nd part, Buenos Aires, Peuser, 837–838.
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adherence to the AFC in 1860.37 Afterwards, the text was amended in 1866, 1898, 1957, and 1994. Its binding and non-binding provisions are included in a “Preamble,” two “Parts,” and “Temporary Provisions.” The “First Part” contains “First Chapter: Declarations, Rights and Warranties” and “Second Chapter: New Rights and Warranties.” The “Second Part: Nation’s Authorities” is made up by “First Title: Federal Government” and “Second Title: Provincial Government.” Permanent principles and rules are under 129 constitutional sections, plus “Section 14 bis” (social rights) distributed in the first two parts, respectively. Finally, “Temporary Provisions” cover 17 sections. It is correct to say that the 1853–1860 AFC recognises the normative supremacy of the highest rule and the corresponding hierarchical ranking of any rules and regulations below the AFC. Section 31 reads: This Constitution, the laws of the Nation enacted by Congress in pursuance thereof, and any treaties with foreign powers are the supreme law of the Nation; and the authorities of each province are bound thereby, notwithstanding any provision to the contrary included in the provincial laws or constitutions, except for the treaties ratified after the 11 November 1859 Pact for the province of Buenos Aires.
Therefore, we see that constitutional law has a unique way of ordering and organising community life. The fact that the rule of law is based on the AFC is a clear, reliable, and rigorous mechanism. As it has been enacted long ago, the AFC requires specific and qualified understanding. The AFC amended in 1994 determines the supplementary constitutional nature of the ILHR under the conditions of Section 75(22), in order to get a proper idea of supremacy: “Congress is empowered … subsection 22: to approve or reject treaties concluded with other nations and international organisations, and concordats with the Holy See. Treaties and concordats rank higher than the laws. The American Declaration of the Rights and Duties of Man; the Universal Declaration of Human Rights; the American Convention on Human Rights; the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights; the International Covenant on Civil and Political Rights and its Optional Protocol; the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide; the International Convention on the Elimination of all Forms of Racial Discrimination; the Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination against Women; the Convention against Torture and other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment; the Convention on the Rights of the Child. Such treaties, as approved, have constitutional status, and do not repeal any section of the first part of the Constitution and shall be deemed supplementary to the rights and warranties enshrined in the Constitution. They shall only be denounced, if appropriate, by the National Executive Branch with the approval of two-thirds of all the members of each House. The original constituent power went through an open period from 1853 until 1860. The incorporation of the province of Buenos Aires meant a significant contribution to the construction of the Argentine State. Although 1853 was a key moment for the Argentine constitutional democracy, we have to think of that time as 1853–1860 because, even if a reform took place in 1860, the actual event from a legal point of view was the consolidation of the original constituent power – a period which started back in 1853 (along the same lines, Bidart Campos, Germán J.: Tratado elemental de Derecho Constitucional, v. I-A, op. cit., 476 et seq.). This is why it is correct to refer to the date of the Argentine foundational instrument as 1853–1860, when most of the time – mainly due to simplification reasons – reference is made simply to 1853. 37
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In order to attain constitutional ranking, the other treaties and conventions on human rights shall require the vote of two-thirds of all the members of each House, after their approval by Congress.”
Law No. 24820 – published in the Argentine Official Gazette of 29 May 1997 – granted constitutional ranking to the Inter-American Convention on Forced Disappearance of Persons, adopted at the 24th OAS General Assembly, under section 75(22) of the AFC. Law No. 25778 – published in the Argentine Official Gazette on 3 September 2003 –, granted constitutional ranking to the Convention on the Non-Applicability of Statutory Limitations to War Crimes and Crimes Against Humanity, adopted by the United Nations General Assembly on 26 September 1998 and passed by law No. 24584. Law No. 27044 – published in the Official Gazette on 22 December 2014 – assigned constitutional ranking under the terms of Section 75(22), AFC, to the Convention on the Rights of Persons with Disabilities (UN). Nowadays ILHR instruments with constitutional ranking are fourteen. The relationship between constitutional law (at domestic level) and ILHR (at international level) with constitutional ranking, as enshrined in Argentina under source-equivalence terms (AFC and ILHR, under Section 75(22)) paves the way for an interesting and rich space for complementarity, the only requirement of which is the margin of state reserve stipulated under the AFC. Seven arguments are in point in this case: (1) The rationality ordered for every act by the departments exercising the republican power, under Section 28, and distributed throughout the entire constitutional text; (2) The indisputable fact that “The Federal Government shall consolidate its peace and trade relationships with foreign powers through treaties consistent with the principles of public law under the Constitution,” under Section 27; (3) The very relative nature of constitutional rights, all of which may be regulated by the lawmaker, provided that their core is not altered; (4) The prohibition to give extraordinary powers, all public power, submission or supremacy and utmost legality, regulated under Section 19, setting the specific powers of public power; (5) the principle of strict and maximum legality, under Section 19, establishing the specific powers of public power; (6) Horizontal distinction of power and the establishment of reserve areas for constituted powers, as mandated by sections 1, 44, 87, 108 and related sections; (7) the very weight of Section 75(22) in stating that ILHR with constitutional rank, under its “validity conditions,” does not repeal “any section of the first part of this Constitution and shall be understood as supplementary of any rights and safeguards recognised under the Constitution.” (It is unnecessary to highlight that the sections mentioned by the AFC in the “First Part” include the contents of Sections 1–33 thereof.)
2. Brazil The text in force was promulgated on 5 October 1988.38 It has a “Preamble” and nine Titles, to wit: I. “Basic Principles”; II. “Basic Rights and Safeguards”; III. “State The original constituent power in 1988 stipulated a normative statement highly original and
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Organisation”; IV. “Organisation of Branches of Power”; V. “Defence of the State and Democratic Institutions”; VI. “Tax and Budget”; VII. “Economic and Financial Order”; VIII. “Social Order,” and IX. “General Constitutional Provisions.” Brazil’s Constitution has 250 sections and a very long text with other 100 provisions of “constitutional temporary” nature. In more than 25 years, the foundational, original constitutional system of 1988 has been amended many times: 88 changes, as of May 2015,39 through the “Emendas” mechanism.40 Most normative changes may reasonably lead to think that the ideology instituted by the constituent power in 1988 was modified; they may also suggest that the legal vocation of the original text is compromised by such radical historicity of “Emendas.” Whether or not it has shifted from positions favouring the intervention by the State in the economy towards strong opposite positions, the constitution’s guidelines have been maintained. More importantly, it interprets an awareness state centred in the citizenship. This stability of general constitutional principles may be regarded as one of the elements which have supported the development and growth of the economy, finance, progress in scientific research and technological development which may be seen in Brazil and its consequences in the community of States. This reflection may seem exaggerated, but the 1988–2015 period has been unique in the history of the Brazilian State since its independence in 1822. I must underscore the uninterrupted validity of a text which, as established under section 1, provides that the Federal Republic of Brazil is a democratic State, based on sovereignty, citizenship, the dignity of human persons, social values of work, free initiative and political pluralism. The value of the Preamble is a matter of discussion in Brazilian legal theory. Regardless of its legal merits, the content of the Preamble is a unique revelation of the intention to subordinate the state order to the foundations of the Constitution:
never seen before among the “Temporary constitutional provisions (ADCT)”: Section 2: “On 7 September 1993 the electorate shall define through a plebiscite the form (republic or constitutional monarchy) and system (parliamentary or presidential) of government to be adopted in the country.” The plebiscite established by the original constituent was modified by constitutional amendment No. 2/92, whereby the date was changed to 21 April 1993, and it was provided that the form and system of government defined under the plebiscite would enter into force as from 1 January 1995. As a result of the plebiscite, the republican form of government won with 66.26 % of votes and the presidential system won with 55.58 %. 39 Most recent amendment available at: http://www.planalto.gov.br/ccivil_03/constituicao/Emen das/Emc/emc88.htm. 40 “Section 60. The Constitution may be amended through proposal: (I) of at least one third of the members of the House of Representatives or the Federal Senate; (II) by the President of the Republic; (III) by more than half of the Legislatures of the Federation’s units, each of them by a relative majority of their members. (1) The Constitution shall not be amended during federal intervention, state of emergency or state of siege. (2) The proposal shall be discussed and voted in each House of the National Congress, in two shifts, and the proposal shall be approved if it obtains three fifths of the votes from their members. (3) The amendment to the Constitution shall be promulgated by the House of Representatives and the Federal Senate, with their pertaining order number. (4) The following matters shall not be included in the amendment proposal: (I) the federative form of the State; (II) the direct, secret, universal, and periodical vote; (III) the separation of powers; (IV) individual rights and safeguards. (5) If a matter submitted for constitutional amendment is rejected, it shall not be presented as a new amendment in the same legislative session.”
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We, the representatives of the Brazilian People, convened in the national constituent assembly to institute a democratic state for the purpose of ensuring the exercise of social and individual rights, liberty, security, well-being, development, equality and justice as supreme values of a fraternal, pluralist and unprejudiced society, founded on social harmony and committed, in the internal and international orders, to the peaceful settlement of disputes, promulgate, under the protection of God, this Constitution of the Federative Republic of Brazil.
In my view, the correct interpretation is in the Preamble itself. To avoid any ambiguities, Section 1 of the Brazilian Constitution of 1988 contains a specific and categorical normative formulation, as it determines the source of the State’s power and its subordination. It specifically provides: “All power comes from the people, which exercises it through elected representatives or directly, under the terms of this Constitution.” The realisation of the formulation included in Section 1 of the Brazilian Constitution should exclude the discussion about the normative nature of the developments of any of the applications of the rule about the subordination of the State to constitutional law. Representing certainty in the state world – past, present and above all future – is subordinated to an artificial rule, the Constitution, which is not metaphysical at all in nature. Certainty is always “certainty by somebody regarding something”; 41 in this case, it is certainty by men about the legal order on which the State is based. This is why Brazil’s Constitution orders: “under the terms of this Constitution.” After considering the subordination of constitutional law, a few words must be said in connection with the location of international law of human rights. In the 1988 Constitution of the Federal Republic of Brazil, Section 5, LXXCII, Subsection 2, reads: “The rights and safeguards in this Constitution do not exclude others in the legal system and the principles adopted by the Constitution, or the international treaties signed by the Federal Republic of Brazil.” This normative formulation resulted in that some authors assessed the realisation of an equivalence or source integration system, within the context of the 1988 Constitution and pursuant to the keys which may be inferred from the rule being discussed. Instead, other guidelines have suggested the prevalence of domestic-source constitutional law. Afterwards, in 2004, through constitutional amendment No. 45/2004, this text was introduced as Section 5, LXXVIIII, Subsection 3: “Any international treaties and conventions on human rights which are approved, in each House of the Federal Congress, in two shifts, by three fifths of the votes from the pertaining members, shall be tantamount to constitutional amendments.” There is no doubt that the rule contained in the originary text calls for an open interpretation of the system of sources. However, it must be taken into account that an amending act, 16 years afterwards, suggested a normative formulation. Maybe and given the scarce activity in the scope promoted by the 2004 amendment (I mean the scope created as a result from the new formulation under Section 5, LXXVIII, Subsection 3) it is appropriate to activate the original comprehension of the equivalence or source integration system. 41
Bunge, Mario A. (2001): Diccionario de Filosofía, Mexico, Siglo XXI, 213–214.
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3. Colombia The Colombian Constitution now in force was promulgated and published in the Constitutional Gazette in July 1991. Since then, it has been amended many times (in 38 instances, notwithstanding Colombia’s unique mechanism for the declaration of unconstitutional amendments), without affecting the original provisions in the principles and rules throughout its 380 permanent sections. First we find a “Preamble.” Then, 13 Titles, to wit: I. “Basic Rights”; II. “Rights, Safeguards and Duties”; III. “Population and Territory”; IV. “Democratic Participation and Political Parties”; V. “State Organisation”; VI. “Legislative Branch”; VII. “Executive Branch”; VIII. “Judicial Branch”; IX. “Elections and Electoral Organisation”; X. “Control Bodies”; XI. “Territorial Organisation”; XII. “Financial System and Public Funds” and XIII. “Constitutional Amendment.” Finally, “Temporary Provisions” cover 60 nonpermanent sections. The subordination rule is clearly and briefly included in the 1991 Political Constitution of Colombia, one of the most modern constitutions in the region. Let us see the provisions which form the structure of the State and their subsequent and immediate legal connection with constitutional law. Notwithstanding the certain or uncertain flexibility of mere statements, the Preamble states the following with clear normative purposes: The People of Colombia, exercising their sovereign power, represented through its delegates to the National Constitutional Assembly, invoking the protection of God, and with the purpose of strengthening the Nation’s unity and ensuring for their members life, coexistence, work, justice, equality, knowledge, liberty and peace, within a legal, democratic and participatory framework securing a fair political, economic and social order, and with the commitment to promote the integration of the Latin American community, decrees, approves and promulgates this Political Constitution of Colombia.
The first words of the constitutional provisions, specifically Section 1, read: Colombia is a Social State ruled by the law, organised as a unitarian, decentralized republic with autonomy from its territorial entities, and a democratic, participatory and pluralist nation based on the respect for human dignity, work and solidarity of the persons who are part of it and on the prevalence of the general interest.
Section 3 contains a key legal provision: “Sovereignty rests with the people only, and public power comes from the people. The people exercises sovereignty directly or through its representatives, under the terms of the Constitution.” Section 113 provides that “the branches of the Public Power are the Legislature, the Executive and the Judiciary.” These provisions account for the idea of designing a State, the origin of power and the criteria for the exercise thereof. Being subject to the rule of law is one of the rules which are certainly included in there. This is further underscored in Section 121 of the Colombian Constitution: “No State authority may exercise functions other than those provided for under the Constitution and the law.” Since 1991, the Colombian State has one of the leading rules regarding the issue being discussed. I am specifically thinking of Section 4 and the normative realisation of constitutional supremacy:
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The Constitution is the rule of rules. In the event of inconsistency between the Constitution and the law or any other legal regulation, constitutional provisions shall prevail. Nationals and foreigners in Colombia must observe the Constitution and the laws, and respect and obey authorities.
Two aspects of the originality of section 4 need to be highlighted. First, even if the idea of constitutional supremacy was one of the constitutional ideas spread in Latin America since the 19th century, the statement “The constitution is the rule of rules” is original in the language of constitutional powers. Section 4, in determining that the Constitution is the highest rule in the system, entails the legal order of the State, as it provides that it is not logically possible to go from the upper rule to the lower rule without crossing the hierarchical distance between them. Denying that distance would be contradictory, because one cannot go from the highest to the lowest without crossing the distances in between. This simple example shows the Constitution’s logical supremacy. The second aspect covered by section 4 which is also original has to do with its observance or duty of deference. Any constitution, as a rule,42 is part of the real world as something written, published and observed. The design proposed by the Constitution, as any other rule, has a production background and a realisation background. Once the rule is produced – following rational understanding – then observance comes next, that is, the rule is realised by citizens and by the branches of State power. Nevertheless, there are different situations in which the realisation of the law arising from the constitution will require an interpretation which will be exclusively made by the judiciary. The realisation of constitutional law, then, will always be performance or execution of law as created. Section 4 of the Political Constitution of Colombia opens up the political process for the citizens who are part of the community and, at the same time, the duty to follow its statements is assumed. After accepting the subordination of the State to the 1991 Political Constitution, we shall now analyse the legal treatment of the ILHR, considering the approach of Section 93:
42 Section VII.1, commenting on AFC, includes the description of its paradigmatic Section 31, created in 1853. The normative nature of this section is not subject to discussion, due to its transparent structure and value. In 2014, the Argentine Supreme Court of Justice ruled in “Vizzotti” that the AFC is a legal rule, see “Vizzotti, Carlos A. v. AMSA S.A.,” CSJN, Fallos, 327:3677, whereas clause No. 8, signed by Justices Enrique S. Petracchi, Augusto C. Belluscio, Carlos S. Fayt, Antonio Boggiano, Juan C. Maqueda, E. Raúl Zaffaroni and Elena I. Highton de Nolasco, 14 September 2004. Section 31 was certainly created in 1853–1860 and is still in force: “This Constitution, the laws of the Nation enacted by Congress in pursuance thereof, and any treaties with foreign powers are the supreme law of the Nation. …” But throughout history the prescriptive nature of the law, i.e. the determination of human behaviour – individuals and public officials – through the AFC has been questioned, attacked and degraded. The normative strength of the constitution has also been provided for in Latin America. This is how the “Colombian way” has been followed by Venezuela in 1999 – Section 7 of its Constitution sets forth: “The Constitution is the supreme rule and it is the basis of the legal system. …” In 2008, Ecuador included Section 424 of its Constitution: “The Constitution is the supreme rule and it prevails over any other rule of the legal system.” Similarly, in 2009 Bolivia confirmed the trend towards the written statement of constitutional supremacy; Section 410(II): “The Constitution is the supreme rule of the Bolivian legal system and it prevails over any other normative rule.”
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International treaties and conventions ratified by Congress, recognising human rights and prohibiting their restraint in states of emergency, prevail in the domestic order. The rights and duties enshrined in this Constitution shall be construed in consistency with human rights international treaties ratified by Colombia.
The emergence of this positive rule in the constitutional legal world of Latin America has resulted in new changes. The system of sources has changed as a result of the specific approach of the 1991 Political Constitution. This Constitution adopts the prevalence of ILHR in the “domestic order” approach. But in the case of the rights and duties enshrined by the 1991 Colombian Constitution, they are an interpretation pattern, as they should be construed “in consistency with” human rights international treaties ratified by Colombia. I do not want to digress here on whether or not the 1991 Constitution should be framed within domestic law. This entails the question of whether or not the prevalence of ILHR is a fact. We have to see that the constitutional language “in consistency with” is far from a mere reference – this indicates a standard for constitutional realisation. The only concrete difficulty for citizens and public officials could be that prior research would be needed to find any “treaties and conventions” recognising human rights and which have been ratified by the Colombian Congress. In comparison, the model adopted by Argentina in 1994, under Section 75(22), which may be extended through the Congress, is more restricted than the Colombian model, but its universe may be more restricted due to its self-limitation in the description of any ILHR instrument with constitutional ranking. (In the beginning, 11 instruments had constitutional ranking. Afterwards, the Congress extended that figure to 14.)
4. Ecuador Ecuador has had a large number of constitutions. It has had a hectic constitutional history. Since the inception of the Ecuadorian State as an independent republic in 1830, there have been approximately twenty instruments, with different fate. The constitution now in force was approved in 2008.43 In extension and normative details, it is only beat by the Brazilian Constitution. It is not an irrelevant matter, as the territories and populations of Mexico, Argentina and Colombia are larger than Ecuador’s. The constitutional power has needed to establish the rules and set constitutional rules outside the daily community political deliberation. The “Preamble” includes a celebration of the Pacha Mama (a goddess revered by some indigenous peoples) and the declaration of “a new way of citizen coexistence, in diversity and in harmony with nature, to live well, and reach the sumak kawsay.” The rest of the constitutional provisions are spread throughout nine “Titles,” to wit: 43 Since its approval, the 2008 Montecristi Constitution has been amended twice. In July 2011 a package of amendments to the constitutional text approved three years before was approved through a plebiscite. The most significant issue was the change in the judiciary – the Judiciary Council, responsible for the administrative affairs of the courts. Four years later, in December 2015, the National Congress amended the Constitution through the amendment procedure (Section 441) after submitting a package of amendments to the Constitutional Court. The most important change in this second amendment was the unlimited reelection of authorities chosen in popular elections.
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I. “Basic Elements of the State”; II. “Rights”; III. “Constitutional Safeguards”; IV. “Participation and Organisation of Power”; V. “Territorial Organisation of the State”; VI. “Development Framework”; VII. “Welfare Framework”; VIII. “International Relations” and IX. “Constitutional Supremacy.” There are 444 sections covering a wide array of principles and rules of a permanent nature. Also, there are thirty “Temporary Provisions,” one “Repealing Provision”; a “Transition Framework” made up by thirty sections, and a “Final Provision” – “This Constitution, passed through a plebiscite by the Ecuadorian people, shall become effective on the date it is published in the Official Gazette.”44 The definition of the State model chosen comes next. Section 1 reads: Ecuador is a constitutional State of rights and justice, which is social, democratic, sovereign, independent, unitary, inter-cultural, plurinational, and secular. It is organised as a republic and is governed in a decentralized manner. Sovereignty lies with the people, whose will is the basis for authority, and is exercised through the bodies of public power and the direct participation ways provided for in the Constitution.
Section 1 is clear about the source of power and about the fact that power is subject to the constitutional framework. It may be inferred from the same rule that the power of the State in Ecuador stems from and is supported by the individual power of each citizen. The sovereignty of the citizens who are part of the people is the foundation of the power of the State, because without such power it is unimaginable and impossible to think of the different activities which are part of community life. The design of the constitutional State is established under constitutional law. The legal existence of the State results from the 2008 Constitution. It would seem correct to hold that State and constitutional law are tied in an indissoluble manner, probably like a living being. Another point to highlight is that the Ecuadorian Constitution, in the constitutional State, is the source of law par excellence. Section 424 reads: The Constitution is the supreme rule and it prevails over any other rule of the legal system. The rules and actions of public bodies must be consistent with constitutional provisions; if not, they shall have no legal effect.
The subordination to the imperative framework of the 2008 Ecuadorian Constitution is ratified in Section 426: “All persons, authorities and institutions are subject to the Constitution.” Naturally, the rule of the subordination of the State to constitutional law also requires an honest specification of the ranking of the provisions which are part of the State system. Section 425. The hierarchical order for the application of legal rules shall be as follows: the Constitution; international treaties and conventions; organic laws; ordinary statutes; regional regulations and district ordinances; decrees and regulations; ordinances; agreements and resolutions; and any other acts and decisions made by public authorities. In the event of any conflict between rules of different hierarchical levels, the Constitutional Court, judges, administrative authorities, and public servants shall resolve the same by applying the rule with 44
Made on 20 October 2008.
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the highest ranking hierarchy. The rule with the highest ranking hierarchy shall take into consideration, as applicable, the principle of jurisdiction, especially the exclusive jurisdictional rights of decentralized autonomous governments.
The second part of Section 424 covers global constitutionalism, i.e. ILHR: The Constitution and the international treaties on human rights ratified by the State which acknowledge rights more favourable than those included in the Constitution shall prevail over any other legal rule or act by a public body.
The provision included in Section 425, however, does not contribute to identify the “equivalence of sources”: “The hierarchical order for the application of legal rules shall be as follows: the Constitution; international treaties and conventions. …” The semicolon after “Constitution” has to be harmonised with the correct understanding offered by Section 424. To save such normative disagreement – which could have been avoided – it would be necessary to get a correct interpretation with the second part of Section 426: The rights consecrated in the Constitution and international law of human rights instruments shall be immediately applicable and binding. Lack of regulation or ignorance of the rules shall be no defence to justify the violation of rights and safeguards under the Constitution, to disregard any action filed to defend them, or to reject the recognition of any such rights or safeguards.
In 2008, the constituent power in Ecuador chose the system of source equivalence, in the understanding provided by the second part of Section 424, which is consistent with Section 426. It would seem that the equivalence of sources would apply with the condition that rights more favourable than the rights in the Constitution be recognised. It is certainly a reasonable constitutional standard, but one may not advocate the adoption of a plain equivalence model without any restrictions. In legal terms, the 2008 Ecuadorian Constitution has just been launched. It contains some interesting innovative points, some of which have already been discussed. Other points, for example Section 95,45 show a clear intent to build a state order from a wider and better approach than the one applied by liberal constitutionalism, which was only concerned with the freedom of the individual. The actual realisation of the model will show the involvement of citizens in the design of the order promoted by the Ecuadorian Constitution. To conclude with, the 2008 Constitution of the Republic of Ecuador subordinates the state order. Its statements support this assertion – ILHR is also part of the highest level of legal rules.46 “Section 95. Citizens, individually and collectively, shall have a preponderant role in the decision making, planning and management of public affairs, and in the popular control of the institutions of the State and society, and their representatives, in a permanent process to build citizen power. Participation shall be guided by the principles of equality, autonomy, public deliberation, respect for differences, popular control, solidarity and interculturality. Participation of citizens in all matters of public interest is a right, which shall be exercised through the mechanisms of representative, direct and community democracy.” 46 This issue is not exhausted; instead, it is still open for discussion. As this is a modern and ambitious law, the challenges in the strictly normative dimension are surprising. I cannot disregard Section 438: 45
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5. Mexico The Political Constitution of the United Mexican States became effective in 1917. In a few months it will be one hundred years old. Only the Argentine Constitution, enacted 162 years ago, is older. During 1917–2015, the Mexican Constitution has been amended 642 times, as a result of 225 decrees,47 while during that period the AFC has only been amended three times, and one of the reforms (1949) was annulled. In Mexico, the rule to amend the Constitution is widely resorted to.48 These constitutional amendments have been heterogeneous, as their scope is different. Maybe the prevailing view has been that the constitution is a worldly entity, so it must not be worshipped or be judged as the unattainable product of wise or unwise people, most of whom are dead today. Nevertheless, the intensity and depth of the changes do not give grounds to analyse here if original normative material has been lost or if this has resulted in maintaining the constitutional architecture adopted in Queretaro almost one century ago. The constitution in force nowadays is structured as follows: – First Title. Chapter I: “Human Rights and Their Safeguards.” Chapter II: “Mexicans.” Chapter III: “Foreigners.” Chapter IV: “Mexican Citizens.” – Second Title. Chapter I: “National Sovereignty and Form of Government.” Chapter II: “Parts of the Federation and National Territory.” – Third Title. Chapter I: “Separation of Powers.” Chapter II: “Legislature.” Chapter III: “Executive.” Chapter IV: “Judiciary.” – Fourth Title. “Accountability of Public Servants and Financial Liability of the State.” – Fifth Title. “States of the Federation and the Federal District.” – Sixth Title. “Work and Social Security.” – Seventh Title. “General Provisions.” “The Constitutional Court shall issue a prior and binding opinion regarding constitutionality in the following cases, in addition to the cases established under the law: 1. International treaties, before they are ratified by the National Legislature.” Therefore, the following could be an interpretation possibility, in consistency with the arguments included in the main body of this text. The Constitution of Ecuador and ILHR “already ratified” (Section 424) have the same constitutional ranking, which does not prevent that the ILHR “to be ratified” (Section 438) be considered as instruments ranking below the Constitution to the extent that they are subject to prior judicial review. To be honest, I should only discuss the hierarchical ranking between rules in force. This is why it is not accurate to say that ILHR instruments “to be ratified” rank below the Constitution as they are simply not in force yet. But it is appropriate to discuss the constitutional ranking of ILHR instruments “already ratified.” In this case, the ranking would be equivalent. I believe that the Ecuadorian lawmaker adopted a system of equivalence between the Constitution and ILHR already ratified. I must insist: the normative formulation has not been the best. Even if the instrument in general is full of provisions, it is not easy to get a harmonic realisation out of the decisions taken by the convention members in Montecristi, considering the lack of concision and the fragmentation of diverse criteria which are not always consistent. Finally, the heading of Title IX: “Constitutional Supremacy” (Sections 424–444) may even show that ILHR ranks below the Constitution. 47 Valadés, Diego and Fix Fierro, Héctor (2016): Constitución Política de los Estados Unidos Mexicanos, 3. 48 In average, Brazil has a bit more than three amendments per year; Mexico is near that figure and Colombia has approximately two amendments a year. With the same logic, Argentina has waited for more than 32 years to change the rules of its Constitution.
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– Eighth Title. “New Amendments to the Constitution.” – Ninth Title. “No Violation of the Constitution.” The Constitution has 136 sections, with a diverse collection of “Temporary Sections.” Constitutionalism may be understood based on its relation with or reference to the conditions of human existence. After assuming that the monopoly of force rests with the State – as well as the centralisation of legal provisions – the rational aim is that the relation among people and between people and the State be developed within pacific coexistence. We have to see if the constitutional provisions are connected with the construction of a society of equally-free citizens or if the Constitution promotes a society of citizens socially equal or with certain material equality of opportunities. In other words, liberal constitutionalism has focused on providing stability and not deteriorating basic conditions. Its view favours a State respecting life, liberty and dignity. Social constitutionalism introduces a unique variant, because it is built from the perspective of a State promoting human condition development or enhancement. Its aim is to promote and protect the function of, inter alia, property, education, health, work, nature, and the environment. The original 1917 Mexican Constitution incorporates many points discussed before. For example, provisions on education (Section 3); the determination that the land and water within the national territory originally belong to the State, as well as direct ownership over all minerals “… or substances which in veins, seams or fields are deposits whose nature is different from the components of the pieces of land” (Section 27); and the same section sets out the right of the State to impose on private property “any modalities ordered by public interest.” Probably the most outstanding provision in this instrument is the Sixth Title: “Work and Social Security,” because this is the first time that 2,000 words in Latin America are devoted to create a real code of the social issue with constitutional ranking, all in one single section (Section 123): duration of working hours; vacation; child labour; women labour; salary; equal salary for equal work “without considering sex or nationality”; work accidents and professional diseases of workers contracted as a result of or in the exercise of the profession and work being executed; rights of workers and employers to join with the purpose of defending their interests, by forming work unions and professional associations; recognition of workers and employers to strikes and lockouts; among others. The legal subordination of the State is defined in Section 39: National sovereignty rests essentially and originally with the people. All public power stems from the people and is to be used for the benefit of the people. The people always have the inalienable right to amend or modify their form of government.
Next, Section 40 sets out the obligation of the State to be subject to constitutional law. It is the will of the Mexican people to become a representative, democratic, secular, federal Republic, made up by States which are free and sovereign regarding their domestic affairs, but united under a federation created according to the principles of this Constitution.
The legal hierarchy is provided for under 113. This section makes it clear that the Mexican Constitution is the foundation of the State.
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This Constitution, any laws passed by the Congress of the Union and any Treaties in consistency with the Constitution executed or to be executed by the President of the Republic, with approval by the Senate, shall be the Supreme Law for the entire Union. The judges in each State shall decide in consistency with the Constitution, laws and treaties, notwithstanding any provisions to the contrary which may be contained in the Constitutions or laws of the States.
The supremacy of the constitutional order, as explained below, assumes a new structure as from 2011, as a result of the validation of the ILHR, and has remained untouched since then. The basis of the state legal order is not subject to debate, as Section 113 is clear about it. Since 1917, the Mexican Constitution has a very original rule by the time it was drafted which was subsequently imitated by many States. The Ninth Title is about “No Violation of the Constitution,” and it includes Section 136: This Constitution shall not cease to be in force even if its observance is interrupted due to some kind of rebellion. In the event that as a result from any kind of public turmoil a government is established which is against the principles of the Constitution, as soon as the people recover their liberty, the observance of the Constitution shall be restored, and the members of the government installed as a result of the rebellion and any collaborators therewith shall be prosecuted under the Constitution and the laws passed by virtue of the Constitution.
This rule is tantamount to a “closure”49 rule regarding the established order, i.e. a rule assuming the existence of a decision procedure to identify the normative consequences of the system and to disqualify any actions which are not qualified by the constitutional order. Since 2011, there has been a relevant change in Mexico in the order authorised under its Constitution, as there is an express definition of the ILHR scope. Regardless of the accuracy or deficiency in the very normative formulation, the place to include such a type of provisions is Section 1 of any constitution. This is what the Mexicans decided: In the United Mexican States, all persons shall have the human rights recognised in this Constitution and in any international treaties signed by the Mexican State, as well as any safeguards for their protection, the exercise of which may not be restricted or suspended, except for the cases provided for and under the conditions established by this Constitution. Human rights rules shall be construed in accordance with this Constitution and any human rights international treaties, always favouring the widest protection. The authorities, to the extent of their powers, shall have the obligation to promote, observe, protect and guarantee human rights in accordance with the principles of universality, interdependence, indivisibility and progressiveness. Therefore, the State has to prevent, investigate, punish and remediate any human rights violations, under the terms established by the law.50
See Alchourrón, Carlos and Bulygin, Eugenio (1998), Introducción a la metodología de las ciencias jurídicas y sociales, Buenos Aires, Astrea, 189–196. 50 Compare the difference in wording with the similar reference included in Section 93, first paragraph, of the Colombian Constitution. See § VII.3. 49
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The Mexican State has chosen a system of equivalence of sources regarding ILHR. Also, always securing people the widest protection eliminates the possibility of thinking of a restriction of the equivalence standard adopted.
VII. Final Comments First. State, law and constitution are all artificial entities, and so is the constitutional State. The natural order, if any, does not require control procedures, but it may certainly attract the spectator or anybody trying to understand it. Conversely, social order, invented by man, requires control procedures indeed. But the basic orders developed by the creations for social control established by it should not be analysed without criticism; as they are not natural objects, they reflect a series of force relations in constant change. Identifying inequality in men is a priority task to analyse the origin and development of the constitutional State. Second. The constitution is the fourth element of the State. This is an original approach: there is a connection between the Constitution and the entity it supports, the State. In a State ordered or organised based on a Constitution, the inclusion of constitutional provisions is never comprehensive. Third. The constitutional rules supporting the State establish the certain subordination of its legal order, the detailed authorisation for its formalised change, the difference of the functions of each governmental power and a set of basic rights. So far, it should be enough to say that the description is the result of prior analytical understanding, which has a basic feature or preferential statement of its own entity. Fourth. The Constitution, in fixing certain procedures, has the most valuable function which may be assigned to a legal rule – to promote peace. The subordination rule is intended to be eminently procedural, because the tension between individuals and the State, the conflict between citizens and authorities, which may not be solved definitively, is dissolved in favour of specific procedures. There is certainty attached to the decision of subordinating state action to constitutional law. The procedural nature is clearly established with the subordination rule. In the five States analysed here, the sovereignty of community life is provided for under a written constitutional rule. The normative value of the subordination rule is an undisputable truth. Without fear of being wrong, such view may be extended to all Latin American States, though with some little changes in some cases, because the distance between the constitutional idea and the political and constitutional reality affects the rule of the subordination to the law by the State. Fifth. The constitutional State, especially in Latin America, may mean something much more than its correct realisation in the political and community life, as the distance between the constitutional idea and the political reality is significant. Years ago it was said that a “constitution does not make a State at all, except in the most literal meaning of the term, a true constitutional State.”51 I believe the crude description is the most appropriate approach, without the indulgent veneration of certain interpreters which have faith in a nonexistent official constitutional religion. That Loewenstein, Karl: Teoría de la constitución, op. cit., 161.
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way they forget about the possibility given by the open society: either all of us realise constitutional law or constitutional law becomes just another arbitrary and irrational form of domination. To conclude with, without constitution there is no constitutional State. The fact that the State is legally subordinated to the law of the constitution promotes the illusion that citizens are equally free and that the constituted power is an area of limited powers subject to rational control. As of today, the ideal of the constitutional State is the best tool invented by men to live in community and is unrivalled.
II. Asien
Die demokratische Legitimation der Verwaltung in Japan* von
Prof. Dr. Ryuji Yamamoto, Universität Tokyo Inhalt I. Die demokratische Legitimation der Verwaltung: ihre Bedeutung und Herausforderung . . . . . . . . . . 850 1. Die demokratische Legitimation im deutschen, europäischen und internationalen Kontext . . . . . . 850 2. Differenzierung und Verschränkung von Legitimationsmodi und -prinzipien . . . . . . . . . . . . . . 851 3. Die Bedeutung des Rechtsvergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 852 II. Das Konzept der demokratischen Legitimation in der japanischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 853 1. Personell-organisatorische Legitimation und Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 853 2. Sachlich-inhaltliche und institutionell-funktionelle Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 854 3. Partizipative Elemente auf der kommunalen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 855 III. Unabhängige Verwaltungseinheiten in Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 856 1. Unabhängige Verwaltungsausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 856 a) Geschichte und Typen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 856 b) Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 858 c) Ausschüsse auf der kommunalen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859 2. „Selbständige juristische Personen der Verwaltung“ (Dokuritsu Gyôsei Hôjin) . . . . . . . . . . . . . 860 a) Geschichte und Typen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 860 b) Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 861 c) Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 862 3. Andere durch den Staat errichtete juristische Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 862 a) Nationalbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863 b) Staatliche Rundfunkanstalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 864 (1) Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 864 (2) Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 864 (3) Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 865 4. Funktionale Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 866 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 866 b) Selbstverwaltung der staatlichen Hochschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 866 * Der vorliegende Aufsatz entstand im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes an der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg. Ich danke herzlich Wolfgang Kahl für Rat und Anregungen.
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(1) Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 866 (2) Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 867 (3) Verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 868 IV. Diskussion über die demokratische Legitimation der Verwaltung in Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 869 1. Über die Verfassungsmäßigkeit der unabhängigen Verwaltungsausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . 869 2. Über das demokratische Distanzgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 870 V. Gesamtschau und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 871 1. Prägende Aspekte der demokratischen Legitimation der Verwaltung in Japan . . . . . . . . . . . . . . 871 a) Dekonzentration der Befugnisse und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 871 b) Neutralität durch Ausdifferenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 872 c) Neutralität und Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873 d) Unmittelbare Beziehungen mit dem Parlament und institutionalisierte Kommunikation mit der Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 874 2. Perspektiven: Prinzipienbasiert-integrative Legitimationsstrukur der Verwaltung . . . . . . . . . . . . 875
I. Die demokratische Legitimation der Verwaltung: ihre Bedeutung und Herausforderung 1. Die demokratische Legitimation im deutschen, europäischen und internationalen Kontext Die demokratische Legitimation ist einer der Schlüsselbegriffe des öffentlichen Rechts in Deutschland. Sie ist zuerst in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als die Rechtsfigur der „Legitimationskette“ in Erscheinung getreten1 und dann in der Literatur um das Jahr 1990 rechtsdogmatisch ausgefeilt worden.2 Seitdem hat sie zur juristischen Verarbeitung der Staatsorganisation, nicht zuletzt der Verwaltungsorganisation, wie etwa der funktionalen Selbstverwaltung, beigetragen.3 Gegenwärtig stellt sie vor allem ein Thema der EU-Verwaltung (z.B. Regulierungsagenturen)4 und der internationalen Organisationen (z.B. WTO) 5 dar. Diese ausgedehnte Tragweite der demokratischen Legitimation ist zum einen aus der Perspektive der demokratischen Einzelstaaten unvermeidbar, weil staatliche Entscheidungen nicht selten durch die EU oder internationale Organisationen determiniert sind, weshalb die demokratische Legitimation eines Staats ohne Anschluss an die europäische und internationale Struktur nicht mehr verwirklicht würde.6 Zum anderen ist die 1 BVerfGE 47, 253 (275) – Gemeindeparlamente [1978]; 52, 95 (130) – Schleswig-Holsteinische Ämter [1979]; 77, 1 (40) – Neue Heimat [1987]. 2 Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. 1, 1. Aufl. 1987, § 22; Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), S. 329 ff. Daran anschließend BVerfGE 83, 60 (71 ff.) – Ausländerwahlrecht II [1990]; 93, 37 (66 ff.) – Mitbestimmungsgesetz Schleswig-Holstein [1995]. Aber auch schon Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, 1974, S. 71 ff. 3 Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 152 ff. 4 Aus der neueren Literatur Groß, Die Legitimation der polyzentralen EU-Verwaltung, 2015; Kröger/Pilniok (Hrsg.), Unabhängiges Verwalten in der Europäischen Union, 2016. 5 Aus der neueren Literatur Bogdandy/Venzke, In wessen Namen?, 2014; Engelhardt, Die Welthandels organisation (WTO) und demokratische Legitimität, 2016. 6 Über ein Steuerungs-, Kontroll-, Rechtsstaats- und Demokratiedilemma Kahl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. 11, 3. Aufl. 2013, § 253 Rn. 5 m.w.N.
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demokratische Legitimation auch aus der europäischen und internationalen Perspektive zu erörtern, sollen die EU und die internationale Gemeinschaft schrittweise den Weg von funktionellen Organisationen zur Konstitutionalisierung gehen.7
2. Differenzierung und Verschränkung von Legitimationsmodi und -prinzipien Freilich wäre ein Konzept einer einzigen ununterbrochenen Legitimationskette aus einer einzigen Legitimationsquelle auf der europäischen und internationalen Ebene, wo die Vielfalt der Staaten zu beachten ist, mit der demokratischen Legitimation der Einzelstaaten inkompatibel. Daher sind die Legitimationsstränge der EU-Organe von vornherein dual konzipiert (vgl. Art. 10 EUV) und sollen ferner durch die Bürgerbeteiligung ergänzt und verstärkt werden (vgl. Art. 11 EUV).8 Auf der internationalen Ebene hat die Idee eines Weltparlaments als Legitimationsvermittler (noch) gar keine reale Aussicht auf Verwirklichung.9 Deswegen ist auf diesen Ebenen notwendigerweise ein Konzept der Verschränkung von verschiedenen Legitimationsmodi sowie -quellen zu entwickeln. Die europäische und internationale Perspektive veranlasst zugleich zu einem Nachdenken über die Rechtsdogmatik der demokratischen Legitimation in Deutschland.10 Zwar hat die deutsche Legitimationslehre zweifellos einen Vorteil, soweit sie in den Prozess der organisatorischen Gemeinwohlverwirklichung das dafür unentbehrliche Element der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie einbetten will, ohne es mit einer konturenlosen Figur wie „accountability“ oder „good governance“ zu vermischen.11 Aber sie ist von der Gefahr, die Vorstellung der Legitimationskette zu isolieren und schematisch zu verabsolutieren, nicht völlig frei. Es ist daher der Legitimationslehre aufgegeben, eine ganze Palette von Rechtsprinzipien wie das Rechtsstaatsprinzip, das Gewaltengliederungsprinzip und das Prinzip prozeduraler Rationalität als gemeinsame Schicht des Rechtsstaats- und Demokratieprinzips12 in der Legitimationsdogmatik zu verorten und ihre Verbindung mit der parlamentarisch-demokratischen Legitimation präzise zu analysieren. Einen Ansatz in diese Richtung beinhaltet schon die klassische Lehre mit Begriffen wie der institutionellfunktionellen Legitimation, der autonomen Legitimation oder des Legitimations niveaus.13 Die neuere Rechtsprechung des BVerfG über die funktionale Selbstverwaltung sowie die öffentlich-rechtlichen Anstalten ging mit der Legitimationsanfor7 Allerdings ist die „Konstitutionalisierung“ auf der europäischen und internationalen Ebene ein sehr umstrittenes Thema. Vgl. die jeweiligen Referate von F. C. Mayer, Heinig, Tschentscher und Krieger, in: VVDStRL 75 (2016), S. 7 ff., S. 65 ff., S. 4 07 ff., S. 439 ff. 8 Ruffert, in: Callies/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV Komm., 5. Aufl. 2016, Art. 10, Art. 11 EUV. 9 Perspektivisch Groß, Postnationale Demokratie – Gibt es ein Menschenrecht auf transnationale Selbstbestimmung?, RW 2011, S. 125 ff. (S. 146 ff. m.w.N.). 10 Kersten, „System verflochtener Demokratie“, in: FS Papier, 2013, S. 103 ff.; Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 389 ff., S. 588 ff. 11 Schmidt-Aßmann (Fn. 3 ), S. 154. 12 Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, 2/75 ff., 2/96, 2/102, 2/106. 13 Böckenförde, HStR I (Fn. 2), § 22 Rn. 15, 23, 33; Schmidt-Aßmann (Fn. 2 ), S. 363 ff., S. 366 f., S. 376 ff.
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derung flexibel um.14 Und in der neueren Literatur ist ein differenziert-pluralistisches Gesamtkonzept der Legitimation im Vordringen.15
3. Die Bedeutung des Rechtsvergleichs Gerade an dieser Stelle hilft nun der Rechtsvergleich.16 Er erschließt Perspektiven darüber, wie und inwieweit die parlamentarisch-demokratische Legitimation und andere Rechtsprinzipien oder Legitimationsmodi verschränkt werden können. Er trägt damit zur Enwicklung der Legitimation als „Ordnungsidee“ des internationalisierten Verwaltungsrechts oder als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Völkerrechts (Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut)17 bei. Für Japan ist dabei vorab festzuhalten, dass die Wissenschaftler des öffentlichen Rechts das Wort „demokratische Legitimation“ oder „demokratische Legitimität“ nicht so bewusst als Fachwort verwenden wie in Deutschland, jedenfalls außerhalb der neueren rechtsvergleichenden Diskussion über deutsches und japanisches Recht (s.u. IV. 2.). In der Sache kann man aber auch in Japan rechtliche Regelungen und Diskussionen zu diesem Thema finden, die im Folgenden behandelt werden sollen. Zuerst sind die verfassungsrechtlichen Bestimmungen über die demokratische Legitimation darzustellen (II.). Dann seien aufgrund Gesetzes errichtete typische unabhängige Verwaltungseinheiten erläutert (III.), bevor wir auf die bisherige Diskussion über die Legitimation dieser Einheiten und über die allgemeine Bedeutung der demokratischen Legitimation eingehen (IV.). Zum Schluss werde ich die Bedeutung und Probleme des japanischen Rechts hinsichtlich der demokratischen Legitimation der Verwaltung zusammenfassen (V.). Die Gerichte in Japan haben zu der demokratischen Legitimationskette noch keine klare Stellung genommen,18 daher verzichte ich auf ein eigenständiges Kapitel über die Rechtsprechung. 14 BVerfGE 107, 59 (86 ff.) – Lippeverband [2002]; 135, 155 (221 ff.) – Filmförderungsanstalt [2014]; 136, 194 (261 ff.) – Weinfond [2014]. 15 Trute, Die demokratische Legitimation der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle (Hrsg.), GVwR, Bd. 1, 2. Aufl. 2012, § 6 Rn. 15 ff. Zurückhaltend Gärditz, in: R. Schmidt/ Wollenschläger (Hrsg.), Kompendium Öffentliches Wirtschaftsrecht, 4. Aufl. 2016, § 4 Rn. 32 ff. Aus einer anderen Perspektive konzipiert Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 41 ff. „individuelle Legitimation“. 16 Z.B. Ruffert (Hrsg.), Legitimacy in European Administrative Law, 2011. 17 Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, 2011, S. 617 ff. wertet die Konstitutionalisierung einschließlich der Demokratie als allgemeine Rechtsgrundsätze. Petersen, Demokratie als teleologisches Prinzip, 2009, S. 80 ff. wertet das Demokratieprinzip als einen allgemeinen Rechtsgrundsatz. 18 Was die Legitimationsquelle betrifft, stellte der Oberste Gerichtshof (OGH) in Japan mit Urteil vom 28.2.1995 fest, dass die gesetzliche Aberkennung des kommunalen Ausländerwahlrechts in Japan verfassungsmäßig ist (Minshû [Entscheidungssammlung des OGH, Zivilsache] 49-2, 639). Nach diesem Urteil seien die Einwohner, denen das kommunale Wahlrecht nach Art. 93 Abs. 2 jVf (s.u. II. 3.) zu gewährleisten ist, auf die Staatsangehörigen begrenzt, während der Gesetzgeber de lege ferenda denjenigen ausländischen Einwohnern das kommunale Wahlrecht verfassungsmäßig anerkennen könne, die v.a. durch eine unbefristete Aufenthaltsberechtigung, eine besonders enge Beziehung zu der kommunalen Körperschaft hätten. Aber das spätere Urteil des OGH vom 26.1.2005, in dem die beschränkte Beförderungsmöglichkeit von ausländischen Beamten in der Präfektur Tokyo nicht als Verletzung des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes beurteilt wurde, zeigt eine andere Nuance (Minshû 59-1, 128). Nach diesem Urteil sei eine Beteiligung eines Ausländers an der „Ausübung der öffentlichen Gewalt
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II. Das Konzept der demokratischen Legitimation in der japanischen Verfassung Die japanische Verfassung (jVf ) von 1946 enthält keine Bestimmung über Strukurprinzipien wie Art. 20 GG. Die Präambel ist die einzige Stelle, wo das Demokratieprinzip explizit erwähnt ist. Zu beachten ist jedoch, dass Art. 15 und 65 jVf jeweils auf einen demokratischen Legitimationsmodus hinweisen (1., 2.). Zudem verstärkt Art. 93 jVf im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung die Unmittelbarkeit der demokratischen Legitimation (3.).
1. Personell-organisatorische Legitimation und Menschenwürde Art. 15 jVf lautet: (1) Es ist das eigene Recht des Volks, öffentliche Organwalter zu wählen und abzuwählen. (2) Alle öffentlichen Organwalter dienen der Allgemeinheit und nicht deren Teil. (3) Die allgemeine Wahl von öffentlichen Organwaltern durch Erwachsene ist gewährleistet. (4) …. Der Begriff „öffentliche Organwalter“ wird in einem so weiten Sinne interpretiert, dass er nicht nur das Personal des öffentlichen Dienstes, sondern auch Abgeordnete des Parlaments umfassen soll. Und die Forderung nach „Wahl“ ist als erfüllt anzusehen, wenn eine „Kette“ zwischen den unmittelbar Gewählten, typischerweise Parlamentsabgeordneten, und einem jeweiligen Organwalter durch eine Ernennung oder mehrstufige Ernennungen besteht.19 Nach der Nomenklatur der deutschen Rechtsdogmatik fordert Art. 15 jVf die personell-organisatorische demokratische Legitimation. Dabei ist auch zu beachten, dass dieser Artikel im Kapitel der Verfassung über „Grundrechte und Grundpflichten des Volks“ steht. Er steht hinter Art. 13 jVf über die Menschenwürde und allgemeine Handlungsfreiheit sowie Art. 14 jVf über die Gleichheit. Diese Systematik unterstreicht, dass der demokratischen Legitimation die Menschenwürde und die Idee der Selbstbestimmung der Menschen zugrundeliegen
und den wichtigen staatlichen oder kommunalen Entscheidungen“ in der japanischen Verfassung „nicht vorgesehen“, weil es das Volk sei, das aufgrund seiner Volkssouveränität die Entscheidungen des Staats und der kommunalen Körperschaften letztlich verantworten solle. Man könnte aus dieser Rechtsprechung schließen, dass das kommunale Ausländerwahlrecht verfassungsrechtlich nicht zulässig wäre. Aber in diesem Urteil häufen sich viele Unklarheiten: Was bedeutet „eine Beteiligung an der Ausübung der öffentlichen Gewalt, den wichtigen staatlichen oder kommunalen Entscheidungen“ in diesem Kontext? Wie bezieht sich die Qualifikation der einzelnen kommunalen Beamten auf die Volkssouveränität? Ist dieses Urteil mit dem früheren Urteil vom 28.2.1995 kompatibel? Vermutlich hat der OGH noch kein abschließendes Bild über die demokratische Legitimation. Vgl. Yamamoto, Hanrei kara Tankyû suru Gyôseihô [Systembildung des Verwaltungsrechts anhand neuerer Rechtsprechung], 2012, S. 122 ff. 19 Miyazawa/Ashibe, Nihonkokukenpô [ Japanische Verfassung], 1978, S. 218 f.
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sollen, was auch das Konzept der demokratischen Legitimation in Deutschland betont.20 Welche staatlichen Organe sollen vom Volk unmittelbar gewählt werden? Unmittelbar zu wählen sind die Abgeordneten der beiden Kammern des Parlaments. Die zweite Kammer ist weder durch föderale oder regionale Repräsentation noch korporastisch organisiert: Japan ist kein Bundesstaat. Die Besonderheit der zweiten gegenüber der ersten Kammer liegt nur in der längeren und zweiteiligen Wahlperiode,21 größeren Wahlkreisen,22 keiner Auflösungsmöglichkeit und der Nachrangigkeit ihrer Beschlüsse in bestimmten Angelegenheiten, wie etwa der Wahl des Ministerpräsidenten (Art. 59 Abs. 2, Art. 60, Art. 61, Art. 67 Abs. 2 jVf ). Der Ministerpräsident soll durch das Parlament, bei einem Meinungsunterschied allein durch den Beschluss der ersten Kammer ernannt werden und die Regierung organisieren (Art. 67, 68 jVf ). Die japanische Verfassung kennt keinen Präsidenten, sei es amerikanischer Art oder deutscher Art. Wenn die erste Kammer der Regierung das Misstrauen ausspricht, muss die Regierung entweder zurücktreten oder die erste Kammer auflösen (Art. 69 jVf ). In der Praxis ist eine Auflösung der ersten Kammer durch die Regierung nicht auf diese Misstrauensfälle beschränkt, sondern verfassungsrechtlich voraussetzungslos möglich,23 von ihr wird oft Gebrauch gemacht.24
2. Sachlich-inhaltliche und institutionell-funktionelle Legitimation Die nächste Verfassungsbestimmung, die für unser Thema interessiert, ist Art. 65 jVf. Er lautet: Die Verwaltungsgewalt ist der Regierung zugeordnet. Vom Wortlaut her scheint dieser Artikel eine Allgegenwart der Regierung, mindestens eine Weisungsmöglichkeit der Regierungsmitglieder (Minister) im gesamten Bereich der Verwaltung zu fordern. Berücksichtigt man aber die Struktur der Verfassung, ergibt sich ein anderes Bild. Die japanische Verfassung enthält nach dem Kapitel über „die Grundrechte und Grundpflichten des Volks“ drei Kapitel über einzelne Staatsgewalten: „das Parlament“, „die Regierung“ und „die Justiz“. Art. 65 jVf steht am Anfang des Kapitels über „die Regierung“. Schlägt man einen Bogen zu den beiden anderen Artikeln, die die Kapitel über „das Parlament“ und „die Justiz“ einleiten (Art. 41, Art. 76 jVf ), wird deutlich, dass Art. 65 jVf das Gewaltengliederungsprinzip und damit die institutionell-funktionelle Legitimation bezeichnet. 20 BVerfGE 107, 59 (92) – Lippeverband [2002]; 123, 267 (341) – Lissabon [2009]. In der Literatur Trute (Fn. 15), § 6 Rn. 19 m.w.N. 21 Die Amtsdauer der Abgeordneten der zweiten Kammer beträgt 6 Jahre und jedes dritte Jahr wird die Hälfte der Abgeordneten gewählt (Art. 46 jVf ). Die Amtsdauer der Abgeordneten der ersten Kammer beträgt dagegen 4 Jahre (Art. 45 jVf ), aber wegen der Auflösungsmöglichkeit ist ihre wirkliche Amtszeit noch kürzer (vgl. Fn. 24). 22 Über die Wahlkreise gibt es in der Verfassung keine Vorgaben. Sie sind ausschließlich im Wahlgesetz geregelt. 23 Die voraussetzungslose Auflösung durch die Regierung ist allerdings in der Verfassung nicht explizit anerkannt, deswegen ist es in der Literatur umstritten, ob und gegebenenfalls wie sie zu rechtfertigen ist. Nonaka/Nakamura/Takahashi/Takami, Kenpô [Verfassungsrecht] II, 5. Aufl. 2012, S. 213 ff. 24 Von 1947 bis 2015 ist die voraussetzungslose Auflösung durch die Regierung 19 Male durchgeführt worden.
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Art. 41 jVf lautet: Das Parlament ist das höchste Organ der Staatsgewalt und das einzige Gesetzgebungsorgan des Staats. Art. 76 Abs. 1 jVf lautet: Alle Justizgewalt ist dem Obersten Gerichshof und den durch das Gesetz zu errichtenden Gerichten unterer Instanz zugeordnet. Damit erschließt sich zugleich eine andere Bedeutung des Art. 65 jVf, nämlich dass die Regierung für die gesamte Verwaltungstätigkeit gegenüber dem Parlament als dem „höchsten Organ“ verantwortlich ist (Art. 66 Abs. 2 jVf ) und dementsprechend die sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation vermitteln soll. Aber die Art und Weise, wie die Regierung die parlamentarische Verantwortung wahrnimmt und sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation vermittelt, ist je nach Verwaltungsfunktion fein zu differenzieren und nicht mit einer allgegenwärtigen Weisungsmöglichkeit gleichzusetzen. Dies wird durch die Doppelbedeutung des Art. 65 jVf für die sachlich-inhaltliche und die institutionell-funktionelle Legitimation erhellt. Zugleich deutet der Umstand, dass die sachlich-inhaltliche und die personell-organisatorische Legitimation in der japanischen Verfassung durch unterschiedliche Bestimmungen geregelt werden, auf ein nicht einfach austauschbares Verhältnis zwischen den beiden Legitimationsmodi hin (s.u. IV. 1.). Ergänzend ist zu bemerken, dass die japanische Verfassung keine Bestimmung wie Art. 88 GG kennt, die ausdrücklich einzelne konkrete Verwaltungseinheiten institutionell-funktionell legitimieren könnte.25 Auch de lege ferenda wären solche Formen institutionell-funktioneller Legitimation schwer realisierbar, weil eine Verfassungsänderung in Japan nach einem Vorschlag durch zwei Drittel aller Abgeordneten jeder Parlamentskammer einer Mehrheit in einer Volksabstimmung bedarf (Art. 96 Abs. 1 jVf ), was bisher noch nie der Fall war.
3. Partizipative Elemente auf der kommunalen Ebene Schließlich ist Art. 93 Abs. 2 jVf zu erwähnen: Das Oberhaupt, die Räte und andere durch Gesetze bestimmte Organwalter der kommunalen Körperschaften sollen durch ihre Einwohner unmittelbar gewählt werden. Es gibt in Japan zwei Arten „kommunaler Körperschaften“: die Gemeinde und die mehrere Gemeinden umfassenden, insgesamt 47 Präfekturen. Es gibt keine „präfekturfreie“ Gemeinde. Die Präfektur hat, anders als der Landkreis in Deutschland (Art. 28 Abs. 2 GG),26 verfassungsrechtlich dieselbe Autonomie und gesetzlich nahezu dieselbe Organstruktur wie die Gemeinde.27 Folglich sollen nach Art. 93 Abs. 2 jVf das Oberhaupt der Gemeinde, die Gemeinderäte, das Oberhaupt der Präfektur und die Mitglieder ihres Rats durch die Einwohner jeweils unmittelbar gewählt werden.28 Außerdem sollten auch die Ausschüsse für die Schulerziehung, die zu den Brosius-Gersdorf, Deutsche Bundesbank und Demokratieprinzip, 1997, S. 4 0 f. Röhl, Kommunalrecht, in: Schoch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2013, 1/211. 27 Umstritten ist allerdings der verfassungsrechtliche Bestandsschutz des Systems der Präfektur, nämlich ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Abschaffung des Systems der Präfektur verfassungsrechtlich zulässig ist. Vgl. Shiono, Gyôseihô [Verwaltungsrecht], Bd. 3, 4. Aufl. 2012, S.151 ff. 28 Kritisch Shiono (Fn. 27), S. 170 ff., der das verfassungsrechtliche Gebot zur unmittelbaren Wahl 25
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später zu erläuternden unabhängigen Verwaltungsausschüssen der kommunalen Körperschaft gehören (s.u. III. 1. c),29 durch unmittelbare Wahl der Einwohner zustande kommen. Diese unmittelbare Wahl wurde 1956 abgeschafft, weil die Neutralität der so gewählten Ausschussmitglieder in Frage gestellt wurde.30 Zurzeit kennt kein Gesetz mehr eine unmittelbare Wahl „anderer Organwalter“ durch die Einwohner im Sinne des Art. 93 Abs. 2 jVf. Dagegen schweigt die japanische Verfassung zur Möglichkeit direkter Demokratie, abgesehen von Sonderfällen wie der Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung (s.o. II. 2.). Zwar sind im Kommunalgesetz (KG) das Bürgerbegehren, die Abrufung des Oberhaupts, der Räte oder des gesetzlich bestimmten leitenden Personals und die Auflösung des kommunalen Rats durch die Bürger vorgesehen (§§ 74 ff.). Zudem werden manchmal unverbindliche Bürgerabstimmungen aufgrund kommunaler Satzungen praktiziert 31. Aber verbindliche Bürgerentscheide sind im geltenden Recht nicht vorgesehen, geschweige denn auf der staatlichen Ebene, wo die Volksabstimmung weder institutionalisiert ist noch praktiziert wird.
III. Unabhängige Verwaltungseinheiten in Japan Betrachten wir nun die aufgrund Gesetze errichteten unabhängigen Verwaltungseinheiten in Japan, deren demokratische Legitimation problematisiert werden kann. Zu nennen sind unabhängige Verwaltungsausschüsse (1.), „selbständige juristische Personen der Verwaltung“ (Dokuritsu Gyôsei Hôjin) (2.), andere durch den Staat errichtete juristische Personen (3.) und funktionale Selbstverwaltungseinheiten (4.).
1. Unabhängige Verwaltungsausschüsse a) Geschichte und Typen Unabhängige Verwaltungsausschüsse haben sich in Japan seit der Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt.32 Die „Demokratisierung“ von Japan durch eine Zerschlagung des Machtmonopols, also durch eine verwaltungsinterne Gewaltenteilung sowie eine gesellschaftliche Machtverteilung, war ein Credo der amerikanischen Besatzungsmacht (General Head Quarter (GHQ)). Ein wesentliches Instrument hierfür war die Einrichtung verschiedener unabhängiger Verwaltungsausschüsse.33 Manche Ausschüsse wurden durch die Aufteilung vorhandener Ministerien geschafdes Oberhaupts als heute nicht mehr nötige Bevormundung der kommunalen Körperschaften ansieht und für mehr Autonomie der kommunalen Körperschaften hinsichtlich ihrer Organisation plädiert. 29 §§ 2 ff. Gesetz über die kommunale Organisation und Verwaltung für die Schulerziehung. 30 Uga, Chihôjichihô Gaisetsu [Grundriss des Kommunalrechts], 6. Aufl. 2015, S. 294. 31 Uga (Fn. 30), S. 353 ff. 32 Zur Geschichte der unabhängigen Verwaltungsausschüsse s. allgemein Ito, Nihongata Gyôsei Iinkai Seido no Keisei [Gestaltung des unabhängigen Verwaltungsausschusswesens japanischer Art], 2003. 33 Tanaka, Gyôseihô no Kihongenri [Grundprinzipien des Verwaltungsrechts], 1949, S. 107 ff., S. 111 ff., S. 131 ff.
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fen, vor allem durch die Auflösung des Innenministeriums, das dem GHQ als zu mächtig und „Demokratie hemmend“ erschien. Hierzu zählt die Nationale Kommission für öffentliche Sicherheit, die die Aufsicht über die Polizeiorganisation führen soll (seit 1948).34 Der Personalhof, der Sachkunde sowie Unparteilichkeit des Beamtentums gewährleisten und Rechte von Beamten einschließlich der Besoldung behördenübergreifend schützen soll (seit 1948),35 kann ebenfalls diesem ersten Ausschusstyp zugeordnet werden. Andere Ausschüsse wurden für die Offenheit des Marktes und gegen Monopolbildung eingesetzt, z.B. die Kommission für Gerechten Handel (Monopolkommission, seit 1947).36 Dieser zweite Typ entspricht den amerikanischen Independent Regulatory Commissions.37 Eher von japanischer Seite initiiert wurde dagegen der dritte Typ von Ausschüssen, die auf die Konfliktschlichtung entweder zwischen Privaten untereinander oder zwischen diesen und dem öffentlichen Sektor zielen, z.B. die Zentrale Kommission für (kollektive) Arbeitsstreitigkeiten (seit 1946)38 oder die Kommission zur Konfliktschlichtung über Immissionen (früher: Kommission zur Konfliktschlichtung über Bergrecht, seit 1951).39 Im Jahr 1951 zählte Japan 23 derartige Ausschüsse. Jedoch hat sich die Ministerialverwaltung nach Auf hebung der Besatzung, insbesondere 1952, ohne weiteres neu gebildet. Die Ministerien berufen sich auf das Ressortprinzip, mit dem sie ministerialfreien Organe kritisch begegnen, obwohl die japanische Verfassung, anders als Art. 65 S. 2 GG, dieses Prinzip nicht ausdrücklich verankert hat.40 Das ehemalige Amt für Verwaltungsmanagement, das jetzige (seit 2001 erneut errichtete) Innenministerium, hat die ineffiziente und inflexible Organisation unabhängiger Ausschüsse kritisiert. Schließlich sind Verwaltungsausschüsse für die Industrie sowie für die Politik zu starr und bei ihnen unbeliebt. Folglich wurden viele Ausschüsse entweder abgeschafft (z.B. Statistikkommission) oder zu normalen, weniger unabhängigen und mit weniger Befugnissen ausgestatteten Gremien degradiert (z.B. Funk- und Rundfunkausschuss anstelle früherer Funk- und Rundfunkkommission). Immerhin existieren noch immer neun unabhängige Verwaltungsausschüsse auf der staatlichen Ebene. Manche Kommissionen haben überlebt, manche sind sogar inzwischen neu errichtet worden. Die 2008 errichtete Transportsicherheitskommission,41 die bei Seenot, Flugzeug- oder Eisenbahnunfällen die Ursachen ermitteln soll, folgt dem Konzept der Beschlüsse der International Civil Aviation Organization (ICAO) und International Maritime Organization (IMO)42, wonach das Wissen und die Informationen zur Vorbeugung von Unfällen möglichst umfassend verarbeitet werden §§ 4 ff. ( japanisches) Polizeigesetz ( jPolG). §§ 3 ff. Staatsbeamtengesetz (SBG). 36 §§ 27 ff. Gesetz gegen Monopol (GgM). 37 Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, 1997, S. 68 ff.; ders., in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, § 1 Rn. 35 ff. 38 §§ 19 ff. Gewerkschaftsgesetz. 39 Vgl. Gesetz zur Gründung der Kommission zur Konfliktschlichtung über Immissionen. 40 Kritisch gegenüber der Praxis Fujita, Gyôseisoshikihô [Verwaltungsorganisationsrecht], 2005, S. 123 ff.; Shiono (Fn. 27), S. 64 ff. 41 Vgl. Gesetz zur Gründung der Transportsicherheitskommission. 42 Annex 13 to the Convention on International Civil Aviation; IMO Assembly Resolution A. 849 (20), A. 884 (21). 34 35
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sollen. Die Atomkraftregulierungskommission43 wurde 2012 anlässlich der Nuklearkatastrophe von Fukushima errichtet. Am neuesten ist die Datenschutzkommission,44 deren Errichtung im Jahr 2015 vom EU-Recht45 beeinflusst wurde. Dagegen wird der Einsatz unabhängiger Ausschüsse im Regulierungsrecht – anders als in der EU46 – wenig diskutiert.
b) Struktur Der unabhängige Verwaltungsausschuss ist ein auf gesetzlicher Grundlage errichtetes Kollegialorgan, dessen Mitglieder durch den Ministerpräsidenten (Personalhof: durch die Regierung) und mit Zustimmung des Parlaments für vier oder fünf Jahre ernannt werden.47 Eine Amtsenthebung ist nur in Fällen von Vergehen, Krankheit o.ä. möglich. Allerdings gibt es keine präzise gesetzliche Regelung über die Qualifikation sowie die Zusammensetzung der Ausschussmitglieder. Eine Ausnahme bilden die Datenschutzkommission und die Kommission für Arbeitsstreitigkeiten. Einzelne Fachgebiete der Mitglieder der Datenschutzkommission sind gesetzlich bezeichnet: So soll die Kommission aus den Sachkundigen für den Datenschutz sowie die Datenbenutzung, für den Verbraucherschutz, für die Informationstechnik, für das Identifikationsnummern verwendende Verwaltungsgebiet (z.B. Steuerrecht), für die Praxis der Privatunternehmen und demjenigen bestehen, den die Verbände der kommunalen Körperschaften empfehlen (§ 63 Abs. 4 jDSG). Die Kommission für Arbeitsstreitigkeiten ist ebenfalls pluralistisch organisiert: Sie besteht aus interessenrepräsentierenden Mitgliedern, die „aufgrund der Empfehlung“ von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, aber ohne parlamentarische Zustimmung, jeweils in derselben Zahl ernannt werden einerseits, und aus neutralen Mitgliedern ebenfalls in gleicher Zahl andererseits, deren Kandidaten der Sozial- und Arbeitsminister mit Zustimmung der interessenrepräsentierenden Mitglieder auswählt (§ 19-3 GewerkschaftsG).48 Dabei lässt sich die personell-organisatorische demokratische Legitimation der interessenrepräsentierenden Mitglieder und damit der Kommission im Ganzen problematisieren (s.u. IV. 1.). Jeder unabhängige Verwaltungsausschuss außer dem Personalhof gehört formaliter zu einem Ministerium.49 Aber er hat normalerweise die Befugnis sowohl zum Erlass von Rechtsverordnungen (quasi-legislative Funktion) 50 als auch zur verbindlichen Vgl. Gesetz zur Gründung der Atomkraftregulierungskommission. §§ 59 ff. ( japanisches) Datenschutzgesetz ( jDSG). 45 Vor allem Art. 16 Abs. 2 S. 2 AEUV, Art. 25, Art. 28 RL 95/46 EG (gültig bis 24.5.2018. Art. 94 DSGVO). 46 Gärditz (Fn. 15), § 4 Rn. 29 ff. m.w.N. 47 Es sei denn, die Amtsfrist der Transportsicherheitskommission und der Kommission für Arbeitsstreitigkeiten zählt 3 bzw. 2 Jahre. Die Mitglieder jener Kommission werden vom Bau- und Verkehrsminister ernannt. 48 Die General Conference und der Governing Body der ILO sind auch pluralistisch zusammengesetzt. Art. 3 (1), Art. 7 (1) ILO Constitution und dazu Möllers (Fn. 15), S. 299 ff. 49 § 49 Gesetz über das Sonderministerium für die Regierung (RMG), § 3 Staatsverwaltungsorganisationsgesetz (SVOG). 50 § 16 SBG, § 58 Abs. 4 RMG, § 13 SVOG. 43
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Einzelfallentscheidung, vor allem durch ein quasi-gerichtliches Verfahren in seinem eigenen Namen. Jeder Ausschuss außer der Kommission für öffentliche Sicherheit hat sein eigenes Sekretariat, dessen Personal er selbst ernennen kann.51 Nach dem Gesetz übt jedes Ausschussmitglied sein Amt selbständig aus, eine Weisungsbefugnis der Minister ist gesetzlich nicht vorgesehen.52 Einige Ausschüsse53 sollen allerdings der Regierung sowie dem Parlament einen Jahresbericht vorlegen. Der Minister behält sich die Kompetenz zum Vorschlag des Haushaltplans des Ausschusses vor.54 Der Personalhof, der in kein Ministerium eingegliedert ist, kann selbst der Regierung Haushaltsvorschläge vorlegen. Wenn die Regierung die Haushaltsvorschläge des Personalhofs modifiziert, muss sie dem Parlament die modifizierten und die ursprünglichen Vorschläge gleichzeitig vorlegen (§ 13 Abs. 3, Abs. 4 SBG). Der Personalhof kann ferner gegenüber dem Parlament zu dem Gesetzgebungsbedarf Stellung nehmen (§ 23 SBG).55 Zusammengefasst ist der unabhängige Verwaltungsausschuss ein ministerialfreies Organ par excellence, dessen sachlich-inhaltliche Legitimation in Frage gestellt werden kann (s.u. IV. 1.).
c) Ausschüsse auf der kommunalen Ebene Das japanische Kommunalgesetz sieht seit seinem Erlass im Jahr 1947 die Ausschüsse, die die kommunalen Körperschaften aufgrund Gesetze errichten müssen, als vom kommunalen Oberhaupt unabhängige Behörden vor (§§ 180-5 ff. KG). Nach dem geltenden Gesetz sollen Präfekturen und Gemeinden acht bzw. fünf Ausschüsse errichten. Für manche Ausschüsse ist die Auswahl oder die Zusammensetzung ihrer Mitglieder charakteristisch. Die Präfekturkommission für Arbeitsstreitigkeiten ist wie die entsprechende Nationale Kommission (oben b) pluralistisch organisiert (§ 1912 GewerkschaftsG). In der Meeresfischereikommission sollen drei Fünftel der Mitglieder unter bzw. von betroffenen Fischern ausgewählt werden (§§ 85 ff. Fischereigesetz), was der Kommission ein Element der funktionalen Selbstverwaltung (s.u. III. 4.) verleiht. In der Agrarkommission wurde ein solches Wahlsystem der funktionalen Selbstverwaltung jedoch 2015 abgeschafft. Hierdurch erhofft man sich mehr Distanz und Innovation. Die Bauernverbände können nun dem Gemeindeoberhaupt die Ausschussmitglieder lediglich empfehlen, das Gemeindeoberhaupt muss die Ausschussmitglieder öffentlich ausschreiben, die Mehrheit der Ausschussmitglieder soll von als innovativ anerkannten Landwirten gestellt werden und mindestens ein Aus51 § 55 SBG. Ausnahmsweise wird das Personal des Sekretariats der Kommission für Arbeitsstreitigkeiten vom Sozial- und Arbeitsminister mit Zustimmung des Vorsitzenden der Kommission ernannt (§ 19-11 Abs. 1 GewerkschaftsG). 52 Allerdings wird in der Kommission für öffentliche Sicherheit der Minister zum vorsitzenden Mitglied ernannt, der (nur) bei Stimmengleichheit unter den anderen Mitgliedern ein Stimmrecht hat (§ 6 Abs. 1, § 11 Abs. 2 jPolG). 53 Personalhof, ( japanische) Monopolkommission, Kommission zur Konfliktschlichtung über Immissionen, Atomkraftregulierungskommission und Datenschutzkommission. 54 § 20 Abs. 2 ( japanische) Haushaltsordnung. 55 Auch die ( japanische) Monopolkommission ist zur Stellungnahme gegenüber dem Parlament befugt (§ 4 4 Abs. 2 GgM).
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schussmitglied soll keine Beziehung zur Landwirtschaft in der Gemeinde haben (§§ 8 f. Agrarkommissionsgesetz). Die kommunalen unabhängigen Ausschüsse unterstehen der staatlichen Aufsicht (§§ 245-4 ff. KG), was in der Praxis paradoxerweise zu ihrer Abhängigkeit vom Staat führen kann. Nach kritischen Stimmen sind die Ausschüsse nicht in ihre eigene kommunale Körperschaft eingegliedert, sondern in das Ministerium.
2. „Selbständige juristische Personen der Verwaltung“ (Dokuritsu Gyôsei Hôjin) a) Geschichte und Typen „Selbständige juristische Person der Verwaltung“ (Dokuritsu Gyôsei Hôjin, im Folgenden: DGH) ist eine neuere Organisationsform für die öffentliche Verwaltung, vor allem öffentlich-rechtliche Anstalten und öffentliche Unternehmen. Dieser Organisationstyp wurde 2001 durch das Allgemeine Gesetz über die DGH (im Folgenden: AG-DGH) eingeführt. Die Gesetzeszwecke waren dreierlei: 56 Erstens sollte das damals international in Mode gekommene New Public Management (NPM), Neues Steuerungsmodell in Deutschland,57 rechtlich ausgeformt und verbreitet werden. Dabei wurde vor allem auf das System der Next Steps Executive Agency verwiesen, das die Regierung von Margaret Thatcher in Großbritannien vorangetrieben hatte.58 Zweitens sollten Ineffektivität, Ineffizienz und Intransparenz vorhandener juristischer Personen mit Beteiligung der öffentlichen Hand überwunden werden. Drittens sollte ein Teil der Organisation der Ministerien durch die Umorganisierung zur DGH ausgegliedert und dessen Personal entbeamtet werden, um die Organisation der Ministerien und die Zahl der Beamten zu verkleinern. Inzwischen wurden viele Organisationen der öffentlichen Verwaltung in DGH umgeformt. Folglich wurden die Aufgaben einzelner DGH zu vielfältig, um sie in eine einzige Organisationsform zu gießen. Deswegen teilte die Novelle des AGDGH 2014 die DGH in drei Typen ein (§ 2 ): Erstens „die am mittelfristigen Ziel orientierte juristische Person“ als Standardtyp des DGH (im Folgenden: Standard-DGH), worauf sich die vorliegende Abhandlung konzentrieren wird; zweitens „die staatliche juristische Person für Forschung und Innovation“ (F-DGH), zu deren Zielsetzung und Evaluation der sachverständige Ausschuss jedes Ministeriums Stellung nehmen soll (§ 35-4 Abs. 4, § 35-6 Abs. 6, § 35-7 Abs. 2 ) und bei der die Befugnis des Ministers zur Aufsicht damit etwas begrenzt wird59; drittens „die juristische Person für Verwaltungsvollzug“ (V-DGH), die umgekehrt weniger Selbständigkeit
Yamamoto, Dokuritsu Gyôsei Hôjin, Jurist Bd. 1161 (1999), S. 127 ff. Kahl, Begriff, Funktionen und Konzepte von Kontrolle, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR, Bd. 3, 2. Aufl. 2013, § 47 Rn. 173 ff.; Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: GVwR, Bd. 1, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 53 ff. 58 Allerdings hat die Agency keine eigene juristische Persönlichkeit. Uga, Gyôseihô Gaisetsu [Grundriss des Verwaltungsrechts], Bd. 3, 4. Aufl. 2015, S. 266 f. 59 Zurzeit sind 27 außeruniversitäre Forschungsinstitute einschließlich Ressortforschungsinstituten diesem Typ zugerechnet. 56 57
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gegenüber der Ministerialverwaltung besitzt (§ 35-12).60 Jedoch sind die Aufgaben einzelner Standard-DGH, denen zurzeit 54 juristische Personen zugerechnet werden, noch immer vielfältig. Erfasst werden so unterschiedliche Einheiten, wie z.B. verschiedene Fonds, Kreditinstitute, Förderungsinstitute für Forschung oder Studium, Museen, Einrichtungen für Ausbildung, Institute für Sozialleistungen, Krankenhäuser, „das Zentrum für Verbraucherschutz“ und Institute für internationale Investition, Entwicklungshilfe oder Kulturaustausch. Für die kommunalen Körperschaften wurde 2003 das Gesetz über kommunale DGH erlassen. Gegenwärtig gibt es aber nur noch etwa 130 kommunale DGH (die Hälfte davon umfasst allein die kommunale Hochschule), weil bevorzugt die Privatisierung vorangetrieben wird.
b) Struktur Kernelemente des New Public Management, dessen Vorbild die Privatunternehmen sind, sind der globale Haushalt (Budgetierung), Zielvereinbarungen und die Evaluation der Organisation nach ihren quantifizierten Leistungen (Produkte).61 Nach dem AG-DGH soll jede Standard-DGH62 dieses Verfahren innerhalb einer „mittleren Frist“ durchführen, die der zuständige Minister zwischen 3 und 5 Jahren festsetzen soll (§ 29 Abs. 1).63 Für diese Frist ernennt der zuständige Minister den Direktor der DGH, allerdings kann er ihn jederzeit entlassen, wenn er ihn für ungeeignet hält (§ 20 Abs. 1, § 21 Abs. 1, § 23 Abs. 2, Abs. 3). Das weitere leitende Personal wird vom Direktor ernannt, abgesehen vom Aufsichtführenden, der als monokratisches Organ vom Minister ernannt wird (§ 20 Abs. 2, Abs. 4 ). Sowohl der Direktor als auch das andere Personal der Standard-DGH sind nicht verbeamtet.64 Ferner setzt der zuständige Minister das „mittelfristige Ziel“ der DGH fest. Dann entwirft die DGH selbst ihren konkreteren „mittelfristigen Plan“, der aber vom Minister „genehmigt“ werden muss. Außerdem soll die DGH die unbefristete Geschäftsordnung beschließen, die ebenfalls die „Genehmigung“ des Ministers braucht (§ 28, § 29 f.). Innerhalb des so gesetzten Rahmens kann die DGH in eigener Verantwortung Ressourcen verwenden und sich autonom betätigen (vgl. § 3 Abs. 3 ). Die Weisungsbefugnis des Ministers ist auf die Rechtsaufsicht und krasse Fälle von Gemeinwohlschäden65 begrenzt (§ 35-3). Allerdings sollen die DGH selbst und der zuständige Minister jedes Jahr die Leistungen der DGH „evaluieren“. Zudem überprüft der Minister am Ende der erwähnten mittleren Frist den Geschäftsbereich und die Zurzeit sind 7 juristische Personen diesem Typ zugerechnet. Vgl. Fn. 57. 62 Zur Struktur der selbständigen juristischen Person ausf. Gresbrand, Die Corporate Governance der dokuritsu gyôsei hôjin. Eine deutsche Perspektive, ZJapanR Nr. 4 0 (2015), S. 59 ff. 63 Für die F-DGH ist die „mittlere Frist“ verlängert (zwischen 5 und 7 Jahren: § 35-4 Abs. 1 AGDGH). Im Gegenteil erfolgt das Verfahren in der V-DGH nicht mittelfristig, sondern jährlich (§§ 35-9 ff. AG-DGH). 64 Nur das Personal der V-DGH ist verbeamtet (§ 51 AG-DGH). 65 Genauer: „Wenn die Geschäftsführung der Standard-DGH so erheblich unangemessen ist, dass es offenkundig zu einem Gemeinwohlschaden führt, und eine Gegenmaßnahme besonders nötig ist“. 60 61
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Organisation der DGH, einschließlich der Möglichkeit ihrer Verkleinerung oder Auflösung (§ 32, § 35).
c) Probleme Würde die Idee des NPM „eins zu eins“ umgesetzt, wäre die demokratische Legitimation zu problematisieren.66 Aber das japanische AG-DGH sieht statt einer Vereinbarung umfassende Kontrollinstrumente des Ministers mit der Befugnis zu einseitiger Zielsetzung, Genehmigung und Evaluation vor. Diese systematische Kontrolle kann effektiver funktionieren als bloße Weisung. Deswegen wird im japanischen Schrifttum kritisch gefragt, ob der Name „selbständige juristische Person“ nicht täuscht.67 Die demokratische Legitimation der DGH wird aber nicht ernsthaft thematisiert. Im Gegenteil, liegt ein Problem in einer zu weitgehenden Hierarchisierung der DGH, mit anderen Worten, in einer Konzentration der Befugnis und der Verantwortung beim zuständigen Minister und dem Direktor der DGH. Das AG-DGH sieht kein Kollegialorgan der DGH für ihre Geschäftsführung oder Aufsicht vor, das ein Privatunternehmen errichten müsste. Es sieht aber auch kein ständiges Verfahren für die Beteiligung von Betroffenen (nach der Nomenklatur des NPM: „Kunden“) an der Geschäftsführung oder der Evaluation der DGH vor, obwohl die „Erhöhung der Qualität von Bürgern anzubietenden Dienstleistungen“ der DGH nach dem Zielen des NPM wichtig ist und daher nach dem AG-DGH mittelfristig angestrebt wird (§ 29 Abs. 2 Nr. 2, § 30 Abs. 2 Nr. 1). Aufgrund von Einzelgesetzen haben nur sechs Standard-DGH einen beratenden Rat und zwei Standard-DGH beratende Fachausschüsse.68 In vier dieser Standard-DGH ist die Beteiligung der Betroffenen als Ratsoder Ausschussmitglieder gesetzlich vorgesehen69.
3. Andere durch den Staat errichtete juristische Personen Es gibt in Japan noch zahlreiche andere juristische Personen, an denen die öffentliche Hand beteiligt ist. Hier sollen nur einige Beispiele, die für das Thema der demokratischen Legitimation der Verwaltung speziell interessieren, ausgewählt und erläutert Mehde, Neues Steuerungsmodell und Demokratieprinzip, 2000, S. 291 ff. Selbst die Regierung schlug 2012 vor, durch eine Gesetzesnovelle das Wort „Dokuritsu (selbständig)“ im Namen der DGH zu streichen, was freilich wegen des Regierungswechsels nicht verwirklicht wurde. Vgl. Uga (Fn. 58), S. 276. 68 §§ 13 f. Gesetz zur Gründung der DGH für die nationale Wissenschaftsförderung, §§ 14 f. Gesetz zur Gründung der DGH für die Hochschulevaluation, § 12 f. Gesetz zur Gründung der DGF für die Nationaltheater, §§ 15 ff. Gesetz zur Gründung des Reservefonds für die Rente. Vgl. auch die folgende Fußnote. 69 §§ 67 ff. Gesetz über die Genossenschaft von Klein- und Mittelbetrieben für Pensionärzuschuss, §§ 11 ff. Gesetz zur Gründung der DGH für die Arbeitsförderung von Alter, Behinderten und Arbeitslosen, §§ 11-2 ff. Gesetz zur Gründung des Fonds für Landwirtschaft und Fischerei, § 10 Gesetz zur Gründung der DGH für die Problemlösung über die nordliche Staatsgrenze. 66 67
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werden: die Nationalbank (a), die staatliche Rundfunkanstalt (b) und die staatlichen Hochschulen (4. b).
a) Nationalbank Das japanische Nationalbankgesetz (im Folgenden: NBG) wurde 1997 völlig novelliert. Das Gesetz erklärt nun ausdrücklich, dass die „Selbständigkeit“ der Japanischen Nationalbank (Nihon Ginkô) „zu achten ist“ (§ 3 Abs. 1). Bei genauerer Lektüre des Gesetzes stellt sich aber auch heraus, dass die Nationalbank zur Kommunikation mit der Regierung (§ 4 ) und mit dem Parlament verpflichtet ist. In der Nationalbank ist der Vorstand, der aus dem Präsidenten, zwei Vizepräsidenten und sechs weiteren Mitgliedern besteht, für die wichtigen Entscheidungen zuständig (§§ 14–16). Alle Vorstandsmitglieder werden mit Zustimmung des Parlaments von der Regierung für fünf Jahre bestellt und nur in Fällen von Vergehen, Krankheit o.ä. entlassen (§ 23 Abs. 1, Abs. 2, §§ 24 f.). Nach dem früheren Gesetz sollten die Fachgebiete der (damals vier) Mitglieder (außer Präsident und Vizepräsidenten) die Großbank, die Bank in der Gegend, das Gewerbe und die Landwirtschaft sein. Eine solche Begrenzung des Fachgebiets wurde jedoch mit der Gesetzesnovelle 1997 gestrichen.70 An der Vorstandssitzung über ein Thema der Geldpolitik kann der Finanzminister, der Minister für Wirtschaftspolitik oder ein den Minister vertretender Beamter teilnehmen. Der zuletzt genannte Teilnehmer hat ein Äußerungs- und Vorschlagsrecht, aber kein Stimmrecht (§ 19). Die Änderung der Satzung der Nationalbank bedarf der Genehmigung des Finanzministers. Im Falle der Ablehnung der Genehmigung muss der Minister die Ablehnungsgründe veröffentlichen (§ 11, § 7 Abs. 4 ). Ferner bedarf der Haushaltsplan der Nationalbank der Genehmigung des Finanzministers. Will dieser die Genehmigung ablehnen, muss er den vorgelegten Haushaltsplan und die Ablehnungsgründe veröffentlichen, worauf hin die Nationalbank eine Stellungnahme veröffentlichen kann (§ 51). Die Weisungsbefugnis des Finanzministers oder des Ministerpräsidenten ist auf die Rechtsaufsicht und Fälle der Satzungswidrigkeit begrenzt (§ 56). Gegenüber dem Parlament muss die Nationalbank alle sechs Monate einen Bericht vorlegen und möglichst erklären. Ferner muss der Präsident, der Vorstandsvorsitzende oder der Vertreter am Plenum oder Ausschuss des Parlaments teilnehmen, wenn er dazu aufgefordert wird, um das Geschäft oder die Vermögenslage der Nationalbank zu erklären (§ 54). Vor diesem Hintergrund lässt sich die sachlich-inhaltliche Legitimation der Nat io nalbank problematisieren (s.u. IV. 1.). Allerdings sei schon hier zu bemerken, dass die Antinomie der Aufsicht der Regierung einerseits und der Selbständigkeit der Nationalbank andererseits durch deren institutionalisierte, gegebenenfalls zu veröffentlichende Kommunikation mit der Regierung und durch die unmittelbare Beziehung zum Parlament entschärft wird (s.u. V. 1. d). 70 Nihon Ginkô Kinyû Kenkyûsho [Finanzforschungsinstitut der Nationalbank] (Hrsg.), Nihon Ginkô no Hôteki Seikaku [Rechtsnatur der Nationalbank], 2001, S. 155 f.
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b) Staatliche Rundfunkanstalt (1) Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlage Die japanische Verfassung hat keine Sonderbestimmung über die Rundfunkfreiheit wie Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG, aber der Schutzbereich des Art. 21 Abs. 1 jVf über das Recht der freien Meinungsäußerung erstreckt sich auch auf den Rundfunk.71 Deswegen sollte das Gebot der demokratischen Legitimation der staatlichen Rundfunkanstalt an sich, wie in Deutschland, schon verfassungsrechtlich durch die Belange der Gewährleistung der Distanz und Vielfalt des Rundfunks eingeschränkt werden.72 Aber die japanische staatliche Rundfunkanstalt ist nach dem geltenden Gesetz sogar stärker demokratisch legitimiert als in Deutschland, was wiederum in Hinblick auf das Distanz- und Vielfaltsgebot problematisch ist. Die staatliche Rundfunkanstalt, Nihon Hôsô Kyôkai (NHK), wird durch das Rundfunkgesetz (im Folgenden: RFG) errichtet (§§ 15 ff.). Die Organisationsstruktur der NHK ist seit dem Erlass des RFG 1950 nicht grundsätzlich geändert worden.
(2) Struktur In der NHK ist der Aufsichtsrat für die wichtigen Entscheidungen zuständig. Die zwölf Mitglieder des Aufsichtsrats werden mit Zustimmung des Parlaments durch den Ministerpräsidenten für drei Jahre bestellt (§§ 28 ff. RFG) und nur in Fällen von Vergehen, Krankheit o.ä. entlassen (§§ 36 f. RFG). Hinsichtlich der Zusammensetzung des Rats stellt das Gesetz fest, dass die Erziehung, die Kultur, die Wissenschaft, die Industrie und andere Sachgebiete ebenso wie verschiedene Regionen ausgewogen repräsentiert sein sollen (§ 31 Abs. 1 RFG). Obwohl eine solche gesetzliche Regelung über die Zusammensetzung eines staatlichen Kollegialorgans ein seltener, daher interessanter Fall in Japan ist (s.o. II. 1. b), 3. a)), bleibt sie noch sehr vage. Die Aufsichtsräte dürfen sich ohne gesetzliche Grundlage mit der Redaktion einzelner Rundfunkprogramme und anderen Geschäften der NHK weder beschäftigen noch in die Redaktion eingreifen (§ 32 RFG). Der Aufsichtsrat bestellt stattdessen im Wege des Beschlusses mit der Mehrheit von acht Stimmen den Intendanten, der seinerseits mit Zustimmung des Aufsichtrats einen Vizeintendanten und Geschäftsräte ernennt und mit ihnen den Geschäftsrat organisiert. Der Geschäftsrat hat allerdings keine Entscheidungsbefugnis, sondern diskutiert nur über die Geschäftsführung der NHK (§§ 49 ff. RFG). Ferner errichtet die NHK Ausschüsse, die über Fernsehprogramme beraten: den Zentralausschuss und die regionalen Ausschüsse. Die Mitglieder dieser Ausschüsse werden vom Intendanten ernannt, und zwar im Fall des Zentralausschusses mit Zustimmung des Aufsichtsrats. Abgesehen davon, dass die Mitglieder der regionalen Ausschüsse Einwohner der jeweiligen Region sein
OGH Beschl. v. 26.11.1969, Keishû [Entscheidungssammlung des OGH, Strafsache] 23-11, 1490. BVerfGE 73, 118 (152 f.) – Rundfunkentscheidung [1986]; 74, 297 (324) – Landesmediengesetz Baden-Württemberg [1987]. 71
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müssen, regelt das Gesetz die Zusammensetzung der Ausschüsse jedoch nicht konkret (§ 82 RFG). Die Rundfunkgebühr wird auf der Grundlage eines privatrechtlichen Vertrags erhoben, zu dessen Abschluss mit der NHK jeder Fernsehgerätsbesitzer gesetzlich verpflichtet ist (§ 64 Abs. 1 RFG). Die allgemeinen Geschäftsbedingungen einschließlich Rundfunkgebühr, die Satzung und einige Geschäfte außer innerstaatlichem Rundfunk der NHK bedürfen der Genehmigung des Innenministers, den der Funk- und Rundfunkausschuss (s.o. II. 1. a) insoweit beraten soll (§ 18 Abs. 2, § 20 Abs. 8, Abs. 9, Abs. 14, § 64 Abs. 3, § 177 Abs. 1 Nr. 2 RFG). Der Haushaltsplan der NHK bedarf der Billigung durch das Parlament. Er soll zuerst dem Innenminister vorgelegt werden, der ihn seinerseits zusammen mit seiner Stellungnahme dem Parlament vorlegt. Zu der Stellungnahme wird der Minister vom Funk- und Rundfunkausschuss beraten. Wenn der Minister eine Änderung des Haushaltsplans verlangt, soll der zuständige Parlamentsausschuss die NHK anhören (§ 70, § 177 Abs. 1 Nr. 3 RFG). Ferner muss die NHK dem Innenminister ihren Jahresbericht vorlegen. Hierüber berichtet der Minister zusammen mit seiner Stellungnahme dem Parlament (§ 72 RFG).
(3) Probleme Welche Rechtsprobleme ergeben sich aus dieser Organisationsstruktur der NHK? Die personell-organisatorische demokratische Legitimation der NHK wird, anders als beim Runkfunkrat in Deutschland (z.B. Art. 6 BayRG, § 5 HessRG), nicht durch die Entsendung von privaten Verbänden berührt, geschweige denn unterbrochen. Vielmehr ist umgekehrt die Frage zu stellen, ob die Pluralität der Zusammensetzung des Aufsichtsrats, seine Distanz gegenüber der Regierung und die Kontrollfunktion des Geschäftsrats in Japan genügend gewährleistet sind. In der Tat gab es einen intensiven politischen Streit über eine „(regierungsfreundliche) Tendenz“ einiger von der jetzigen Regierung ausgewählter Aufsichtsratsmitglieder und des durch sie ausgewählten Intendanten.73 Die sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation der NHK ist zwar ausgedünnt, aber die Sach- und Finanzkontrolle der NHK durch das Parlament und den Minister bleiben eng. Hier wäre eine (Wieder-)Errichtung der Funk- und Rundfunkkommission denkbar, um eine stärkere Distanz zur Politik zu gewährleisten (s.o. II.1.a)). Aber ein solcher Vorschlag fand in der Praxis bislang kein Gehör.74
73 Davon zeugt, dass der letzte vorsitzende Aufsichtsrat Hamada in seiner Amtszeit vom September 2012 bis Juni 2016 65 Tage zum Parlament aufgerufen wurde. 74 Das RFG, das Telekommunikationsgesetz und das Funkgesetz wurde in Japan 2010 umfassend novelliert, aber ohne Reform der Regulierungsverwaltungsorganisation, über die im Schrifttum immer wieder diskutiert wurde, vgl. Uga (Fn. 58), S. 191 f., S. 195.
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4. Funktionale Selbstverwaltung a) Allgemeines Die funktionale Selbstverwaltung war in Deutschland, nicht zuletzt in der Rechtsprechung des BVerfG, in den letzten Jahren eines der Hauptthemen der demokratischen Legitimation (s.o. I. 1., 2.). Dagegen wurde in Japan die funktionale Selbstverwaltung, gerade im Gegensatz zur Entwicklung des unabhängigen Ausschusses, in der Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg stark abgebaut, weil sie als eine Grundlage für die totalitäre Mobilisierung des Volks galt. Seither herrscht ein Ton des Misstrauens gegen die funktionale Selbstverwaltung in Japan, zumal die Ansicht vorherrscht, sie tendiere zum Status quo und sei innovationsfeindlich (s.o. III. 1. c) zur Reform der Agrarkommission). Zurzeit ist die funktionale Selbstverwaltung nur in zwei Bereichen eingesetzt. Der eine Bereich ist das Kammerwesen, das mit der Justiz, der öffentlichen Verwaltung oder der gesellschaftlichen Selbstkontrolle zu tun hat (z.B. Rechtsanwaltskammer, Wirtschaftsprüferkammer).75 Dagegen wurden die Kammern im medizinischen Bereich sowie im Bereich der Industrie abgeschafft und in privatrechtliche Verbände umgewandelt. Der andere Bereich betrifft die Verbände, die als Alternative zu staatlichen oder kommunalen Organen durch eine private Initiative errichtet werden, dann aber die Betroffenen zur Mitgliedschaft zwingen und eine bestimmte baurechtliche oder sozialrechtliche Aufgabe wahrnehmen (z.B. Realkörperschaft für Umlegung, Krankenversicherungsverband von Privatunternehmern).76 Jedoch werden diese Verbände nur gelegentlich errichtet und ihr Aktivitätsbereich ist begrenzt. Deswegen gibt es in Japan kaum einen Diskurs über die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung.
b) Selbstverwaltung der staatlichen Hochschulen (1) Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlage Freilich nimmt die Selbstverwaltung der staatlichen Hochschulen eine verfassungsrechtliche Sonderstellung ein. Der Oberste Gerichtshof in Japan erkannte in seinem Urteil vom 22.5.196377 ihre Selbstverwaltung als Ausstrahlung von Art. 23 jVf (Wissenschaftsfreiheit) an. Allerdings ging es in diesem Fall nur darum, inwieweit ein Betreten der Universität durch die Polizei erlaubt ist. Auf die wissenschafts(-freiheits-)adäquate Organisationsstruktur78 ging das Urteil des OGH nicht ein. Auch die rechtswissenschaftliche Literatur in Japan hat die organisationsrechtliche Dimension des Grundrechts bislang nicht genügend erörtert. §§ 31 ff. Rechtsanwaltsgesetz, §§ 43 ff. Wirtschaftsprüfergesetz. §§ 14 ff. Umlegungsgesetz, §§ 8 ff. Gesetz über die Krankenversicherung für Arbeitnehmer. 77 OGH Keishû 17-4, 370. 78 Aus der neueren Rspr. in Deutschland: BVerfGE 127, 87 (115 f.) – Hamburgisches Hoschschulgesetz [2010]; 136, 338 (362 f.) – Medizinische Hochschule Hannover [2014]. Grundlegend Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche Systembildung, 2009, S. 358 ff.; Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 288 ff. 75 76
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Als Organisation waren die staatlichen Hochschulen früher ohne eigene juristische Persönlichkeit dem Kultusministerium zugeordnet. Ihre Organisationsstruktur wurde gesetzlich nicht eingehend geregelt, jedoch betätigte sie sich weitgehend autonom. Erst durch das Gesetz über die juristische Persönlichkeit der staatlichen Hochschulen (SHG) von 2003 wurde das Organisationsgefüge der staatlichen Hochschulen detailliert geregelt und die Hochschulen als juristische Personen ausgeformt. Dahinter standen mehrere Motive:79 Erstens ging es um eine Reduzierung der Beamten des Kultusministeriums durch Entbeamtung der Professoren und des anderen Personals der Hochschulen (vgl. auch III. 2. a). Zweitens sollte die (angeblich) reformfeindliche Struktur der Hochschulen, vor allem die Macht der Fakultät, abgebaut werden. Drittens sollten sich die staatlichen Hochschulen, insbesondere durch die Einführung des Hochschulrats,80 mehr an der gesellschaftlichen Nachfrage orientieren.
(2) Struktur Nach dem SHG wird das Modell des New Public Management nach dem AG-DGH (s.o. III. 2. b) auf die Beziehung zwischen den staatlichen Hochschulen und dem Kultusministerium grundsätzlich entsprechend angewendet. Das SHG sieht nur kleinere Modifikationen vor, z.B. eine längere „mittlere Frist“ (sechs Jahre), die Anhörung sowie Berücksichtigung der Stellungnahme der Hochschulen bei der mittelfristigen Zielsetzung durch den Minister und die Evaluation durch den fachlichen Ausschuss im Ministerium statt durch den Minister (§ 9, §§ 30 ff., § 34-2, § 35). Mögen die staatlichen Hochschulen damit auch hinreichend sachlich-inhaltlich demokratisch legitimiert sein, kann man jedoch zweifeln, ob nicht das Selbstverwaltungsrecht der Hochschulen (z.B. durch die Zielsetzungsbefugnis des Ministers) verletzt wird. Im Binnengefüge der Hochschule sollen einige Kollegialorgane errichtet werden, was eine Abweichung vom Modell der DGH zu sein scheint. Aber bei genauerem Zusehen kann man einen starken Einfluss des AG-DGH feststellen, indem das SHG zur hierarchischen Konzentration der Befugnisse und Verantwortung beim Rektor neigt. Das SHG sieht als Kollegialorgane der staatlichen Hochschule das Rektorat, den Hochschulrat, den Senat und die Fakultätsräte vor. Das Rektorat besteht aus dem Rektor, den von ihm ernannten Prorektoren und den vom Kultusminister ernannten zwei Aufsichtsführenden. Mindestens ein Prorektor und ein Aufsichtsführender sollen Nicht-Mitglieder der Hochschule (im Folgenden: Dritte) sein. Das Rektorat berät den Rektor über die wichtigsten Angelegenheiten der Hochschule (§§ 10 f., § 12 Abs. 9, § 13 f.). Der Hochschulrat besteht aus dem Rektor, den von ihm ausgewählten Prorektoren oder Mitgliedern der Hochschule und den Dritten, die der Rektor nach Anhörung des Senats ernennen soll. Die Dritten sollen die Mehrheit im Hochschulrat haben. Der Hochschulrat soll über die wichtigen wirtschaftlichen Angelegenhei79 Yamamoto, Abbau von Staatlichkeit in der Organisation der Wissenschaft?, in: Kitagawa/Murakami/Nörr/Oppermann/Shiono (Hrsg.), Regulierung – Deregulierung – Liberalisierung: Tendenzen der Rechtsentwicklung in Deutschland und Japan zur Jahrhundertwende, 2001, S. 261 ff. 80 Zu den Legitimationsproblemen der Hochschulräte in Deutschland, vor allem Baden-Württemberg, Kahl, Hochschulräte – Demokratieprinzip – Selbstverwaltung, AöR 130 (2005), S. 225 ff.
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ten der Hochschule diskutieren, also weder entscheiden noch beraten (§ 20). Der Senat besteht aus dem Rektor, den von diesem ausgewählten Prorektoren, den vom Senat ausgewählten Dekanen und nach den Regelungen des Senats vom Rektor ernannten Mitgliedern der Hochschule. Der Senat soll über die wichtigen Angelegenheiten der Lehre und Forschung diskutieren (§ 21). Fakultätsrat soll über die Lehre und Forschung diskutieren und gegenüber dem Rektor oder dem Dekan Stellung nehmen, zur Auswahl des Dekans ist er nicht befugt.81 Nach dem Gesetz sollen alle Organe außer den durch den Kultusminister demokratisch legitimierten Aufsichtsführenden durch den Rektor personell-organisatorisch legitimiert werden. Auch sachlich-inhaltliche Entscheidungsbefugnisse und Verantwortung sind beim Rektor konzentriert, ohne dass sie zwischen der zentralen Ebene und den dezentralen Forschungseinheiten klar verteilt werden. Wie wird der übermächtige Rektor ausgewählt? Der Rektor wird auf Vorschlag des Auswahlkomitees der Hochschule vom Kultusminister ernannt und bei Ungeeignetheit von diesem entlassen werden. Das Auswahlkomitee besteht aus den vom Hochschulrat und vom Senat jeweils entsandten Mitgliedern. Die beiden Mitgliedergruppen müssen paritätisch vertreten sein. Zusätzlich können der Rektor oder die Prorektoren auch Komiteemitglieder sein, allerdings darf diese Gruppe nicht größer sein als ein Drittel der Mitglieder (§ 12, § 17). Selbst wenn man voraussetzt, dass die faktisch von jedem Fakultätsrat ausgewählten Dekane die Mehrheit im Senat bilden, erreichen die vom Senat entsandten, autonom legitimierten Mitglieder nicht die Mehrheit des Auswahlkomitees. Daher ist der Rektor personell-organisatorisch weder demokratisch noch autonom legitimiert, sondern grundsätzlich nur durch den Vorgänger. Er ist damit ohne Anschluss an eine Legitimationskette und sozusagen „entfesselt“. Hierin liegt an sich ein Verstoß gegen das Prinzip der Legitimation.
(3) Verfassungskonforme Auslegung Wer dieses Ergebnis vermeiden will, muss das SHG verfassungskonform82 so interpretieren, dass es jeder staatlichen Hochschule eine autonome Entscheidung darüber überlässt, wie die gesetzliche Regelung durch Elemente autonomer Legitimation ergänzt und damit modifiziert wird. Mindestens wäre irgendein Verfahren notwendig, um den Dekan durch den Fakultätsrat und den Rektor durch den Senat oder unmittelbare Wahl zu bestimmen und zu legitimieren.83 In der Tat praktizieren einige staatliche Universitäten weiterhin solche Verfahren unter Berufung auf Gewohnheitsrecht.
§ 93 Schulerziehungsgesetz. Zur „verfassungskonformen Auslegung“ in Japan Nonaka/Nakamura/Takahashi/Takami (Fn. 23), S. 312 ff. 83 Yamamoto, Mineika matawa Hôjinka no Kôzai [Rechtsprobleme der Privatisierung und Ausgliederung der Verwaltungsorganisation], Jurist Bd. 1358 (2008), S. 42 ff. Aus der deutschen Perspektive BVerfGE 136, 338 (365, 374 ff.) – Medizinische Hochschule Hannover [2014] und dazu Groß, Kollegialprinzip und Hochschulselbstverwaltung, DÖV 2016, S. 4 49 ff. (453 f.). 81
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IV. Diskussion über die demokratische Legitimation der Verwaltung in Japan In Japan ist die demokratische Legitimation der Verwaltung kein so kontroverses Thema wie in Deutschland. Aber die Verfassungsmäßigkeit der unabhängigen Verwaltungsausschüsse wird seit langem diskutiert (1.). Außerdem hat der aus dem deutschen Schrifttum stammende Begriff des „demokratischen Distanzgebots“ neuerdings einen Meinungsstreit in Japan hervorgerufen (2.).
1. Über die Verfassungsmäßigkeit der unabhängigen Verwaltungsausschüsse Solange wie es den unabhängigen Verwaltungsausschuss gibt, wird die Frage erörtert, ob seine Ministerialfreiheit gegen Art. 65 jVf verstößt oder nicht. Die Verfassungsmäßigkeit wird dabei fast übereinstimmend bejaht. Unterschiedlich erzählt sind aber die Gründe für die Verfassungsmäßigkeit. Sie lassen sich vier Kategorien zuordnen: – Früher wurde die (noch) hinreichende demokratische Legitimation des unabhängigen Ausschusses damit begründet, dass die Befugnisse zur Ernennung von Ausschussmitgliedern und zur Vorlage des Haushaltplans des Ausschusses an das Parlament immerhin in der Hand der Regierung verbleiben. Heute wird diese Begründung nicht mehr als ausreichend angesehen, weil der Mangel an sachlichinhaltlicher Legitimation allein durch solche personell-organisatorische Legitimation und grobe finanzielle Steuerung nicht kompensiert werden kann.84 – Zum Teil wurde auf die Zustimmungsbefugnis des Parlaments zur Auswahl von Ausschussmitgliedern als Verstärkung der demokratischen Legitimation hingewiesen.85 In den USA, dem Mutterland des unabhängigen Verwaltungsausschusses, bedeutet dessen Errichtung zwar eine partielle Verschiebung der Gewalt vom Präsidenten zum Kongress, und damit eine steigende Abhängigkeit der Verwaltung vom Kongress.86 Aber dies trifft nicht auf das japanische Rechtssystem zu, in dem nicht das präsidentielle, sondern das parlamentarische Regierungssystem gilt (s.o. II. 1.). Hier entschärfen unmittelbare Beziehungen mit dem Parlament vielmehr die Antimonie der demokratischen Kontrolle und der Unabhängigkeit des Verwaltungsausschusses (s.u. V. 1. d). – Neuerdings greift man oft auf das Ermessen des Gesetzgebers hinsichtlich der Ausgestaltung der Verwaltungsorganisation als Argument für die Errichtung von unabhängigen Ausschüssen zurück.87 Allerdings diskutiert man gleichzeitig die gesetzgeberischen Ermessensgrenzen. 84 Sato, Gyôseisoshikihô [Verwaltungsorganisationsrecht], 2. Aufl. 1987, S. 270; Shiono (Fn. 27), S. 78 f. Auch die neuere Lehre in Deutschland verhält sich zurückhaltend gegenüber einer solchen Kompensation, vgl. Kahl (Fn. 80), S. 241 f.; Trute (Fn. 15), § 6 Rn. 14. 85 Sato (Fn. 84), S. 270. 86 Möllers (Fn. 15), S. 125 ff. 87 Shiono (Fn. 27), S. 76; Uga (Fn. 58), S. 194 f.
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– Letztlich berufen sich viele Wissenschaftler auf die Besonderheit der Aufgaben des jeweiligen Verwaltungsausschusses. Eine solche „Besonderheit“ wird eher großzügig angenommen. Seit langem betont wird die Notwendigkeit der Distanz gegenüber der Politik für die Wahrnehmung der Verwaltungsaufgaben.88 Diese Distanz ist – erstens – in der kulturbezogenen Verwaltung wie bei den kommunalen Ausschüssen für Schulerziehung (s.o. II. 3.) verfassungsrechtlich geboten. Zweitens ist die Distanz auch bei quasi-justizieller Funktion oder Konfliktschlichtung (z.B. Kommission zur Konfliktschlichtung über Immissionen) notwendig. Eine Reduzierung der personell-organisatorischen Legitimation durch die Entsendung von privaten Verbänden (z.B. Kommission für Arbeitsstreitigkeiten) ist auch erlaubt, soweit es zur Artikulation der betroffenen Interessen beiträgt. Aber die Notwendigkeit der Distanz ist darüber hinaus nicht zuletzt auch empirisch begründet, was wohl auch zur großzügigen Anerkennung der unabhängigen Verwaltungsausschüsse in Japan beigetragen hat. Das ist der Fall, wo die Politik – drittens – zu missbräuchlicher Machtkonzentration (z.B. Polizeigewalt) neigen kann oder wo die politisch geleitete Ministerialverwaltung – viertens – in einer bestimmten Richtung (z.B. Industrieförderung) tendenziell „befangen“ ist. So werden z.B. die Kommission für öffentliche Sicherheit und die (japanische) Monopolkommission gerechtfertigt. Die Unabhängigkeit der Nationalbank wird mit der Tendenz der Regierung zur inflationären Politik begründet.89 Neben diesem Distanzgebot wird in der Literatur das Erfordernis der Sachkunde als „Besonderheit“ der Aufgaben von unabhängigen Verwaltungsausschüssen (z.B. Atomkraftregulierungskommission) erwähnt.
2. Über das demokratische Distanzgebot Am Anfang dieses Jahrhunderts entzündete sich in Japan eine Auseinandersetzung über die demokratische Legitimation auf einer theoretischeren Ebene. Toru Mori hat den Begriff des „demokratischen Distanzgebots gegenüber Sonderinteressen“90 kritisiert.91 Nach seiner Kritik sei eine Verwendung des Begriffs der Distanz im Kontext der Demokratie sowohl schädlich, weil sie mehr Öffnung der Verwaltungsorganisation und mehr Partizipation von Einzelnen sowie Verbänden an der öffentlichen Verwaltung in Frage stelle und eine Abschottung der Verwaltung ermögliche, als auch inkonsequent, weil selbst der Vertreter des Distanz-Begriffs die Idee der geschlossenen hierarchischen Verwaltung als Grundmodell kritisiere. Für die Demokratie seien, nach Mori, offene Diskurse und die Transparenz nicht nur im Parlament, sondern auch in verschiedenen Foren einschließlich Verwaltungsverfahren notwendig, aber auch ausreichend. Sato (Fn. 84), S. 212 f., S. 275 f.; Shiono (Fn. 27), S. 75 f.; Uga (Fn. 58), S. 192 f. Nihon Ginkô Kinyû Kenkyûsho (Fn. 70), S. 147 ff. Dort ist die Rechtsaufsicht und die personell-organisatorische Legitimation auch herangezogen. 90 Schmidt-Aßmann (Fn. 12), 2/3. 91 Mori, Gyôsei Hôgaku niokeru „Kyori“ nitsuiteno Oboegaki [Bemerkungen zum Begriff der „Distanz“ in der Verwaltungsrechtswissenschaft], in: ders., Tôchikôzô no Kenpôron [Verfassungstheorie über die Staatsstruktur], 2014, S. 281 ff. Der Aufsatz wurde ursprünglich 2001 publiziert. 88 89
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Freilich greift diese Kritik, wie ich anderorts dargelegt habe,92 zu kurz. Juristen sollten nicht so optimistisch sein zu meinen, dass das Gemeinwohl nur mit der Gestaltung transparenter Diskussionsforen verwirklicht würde. Es braucht vielmehr verschiedene Verfahrens- und Organisationsgestaltungen und deren effektive Verschränkung, wobei es die Eigenschaft jeder Legitimationsform zu beachten gilt. Die Eigenschaft der parlamentarisch-demokratischen Legitimation besteht aber gerade in der Distanzschaffung durch das egalitäre Wahlrecht der Staatsangehörigen und der thematischen Unbegrenztheit (Allgemeinheit) des Gesetzes. Jedenfalls ist bemerkenswert, dass die Kritik an der Idee der demokratischen Distanz die Lage der Rechtspraxis sowie der Lehrmeinungen in Japan widerspiegelt. Sie ist zum einen ein Ausdruck eines Unbehagens von Wissenschaftlern an der Rechts praxis, die gegenüber einer Verstärkung der Partizipation (zu) zurückhaltend ist (s.u. V. 1. c). Nach Yoichi Ohashi sei die Partizipationsmöglichkeit in Japan weit davon entfernt, von einer Gefahr für die demokratische Distanz sprechen zu können.93 Zum anderen ist die Kritik an der demokratischen Distanz bezeichnend für ein anderes Meinungsspektrum hinsichtlich der demokratischen Legitimation in der japanischen Rechtswissenschaft als in Deutschland. Plakativ gesagt, ist die maßgeblich von der früheren Rechtsprechung des BVerfG und von Böckenförde geprägte formal-etatistische Demokratiekonzeption94 in Japan weniger vertreten, während zugleich es eine noch individualistisch-pluralistischere Demokratiekonzeption als in Deutschland existiert.
V. Gesamtschau und Ausblick Zum Schluss möchte ich zusammenfassen, welche Ausprägungen das Recht und die Lehre über die demokratische Legitimation der Verwaltung in Japan bislang gefunden haben, worauf sie hinweisen und welche Rechtsprobleme noch zu lösen sind (1.). Dann versuche ich, die Perspektive des japanischen Rechts mit der des deutschen Rechts zu verknüpfen, um das Gesamtbild demokratischer Legitimation von Verwaltung weiterzuentwickeln (2.).
1. Prägende Aspekte der demokratischen Legitimation der Verwaltung in Japan a) Dekonzentration der Befugnisse und Demokratie Wir kommen nun auf die Feststellung vom Anfang dieses Aufsatzes zurück, dass die Rechtswissenschaftler in Japan von der demokratischen Legitimation der Verwal92 Yamamoto, Nihon niokeru Kôshikyôdô [Staatliche Steuerung gesellschaftlicher Selbstregulierung in Japan], in: FS T. Fujita, 2008, S. 171 ff. (Anm. 74). 93 Ohashi, Seido Henkakuki niokeru Gyôseihô no Riron to Taikei [Theorie und System des Verwaltungsrechts im Zeitalter seines Umbruchs], in: ders., Toshikûkan Seigyo no Hôriron [Rechtstheorie der stadtplanungsrechtlichen Steuerung], 2008 (ursprünglich 2003), S. 355 f. 94 Vgl. die Zusammenfassung des Meinungsspektrums in Deutschland bei Ingold, Das Recht der Oppositionen, 2015, S. 267 ff.
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tung als präzise definiertes Fachwort wenig reden (s.o. I. 3.). Jetzt können wir einigermaßen verstehen, warum das so ist. In der Rechtswissenschaft in Japan herrscht eine Vorsicht gegenüber einer Konzentration der Staatsgewalt bei der Regierung, sei diese durch das Parlament legitimiert oder nicht. Vielmehr sah man in der Besatzungszeit in der Dezentralisation eine Demokratisierung der Staatsverwaltung. Folglich wurden die Errichtung der unabhängigen Ausschüsse (s.o. III. 1.), die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung und das sachkundige, Distanz gegenüber der Politik wahrende Beamtentum als demokratiefördernd angesehen.95 Ein Grund für diese bis heute fortwirkende Sichtweise könnte in der politischen Situation liegen, dass eine Partei ( Jiyûminshutô [ japanische FDP]) seit 60 Jahren fast immer die Mehrheit im Parlament besitzt (predominant party system) und die Kontrolle der Regierung durch das Parlament bzw. die Parlamentswahl damit praktisch begrenzt ist. Vor diesem Hintergrund hat es in Japan weniger Anlass gegeben, die demokratische Legitimation im deutschen Sinne klar zu formulieren und zu betonen. Freilich wäre eine Gleichsetzung von Demokratie alleine mit Dezentralisation problematisch, weil sie eher ein Negativum bezeichnen und keinen ausreichenden positiven Maßstab anbieten könnte. Es ist aber nicht zu übersehen, dass eine Konzentration der Befugnisse, die die Kapazität des jeweiligen Organs, sei es der Regierung oder des Parlaments, übersteigt, keinen „echten“ (materiellen), sondern nur einen formalen demokratischen Mehrwert besitzt. Wie die Einführung der DGH zeigt, kann die Ausdünnung der Weisungsbefugnisse des Ministers vielmehr zu einer effektiveren demokratischen Kontrolle führen.96 Es ist daher inkonsequent, dass das AG-DGH gleichwohl in der Binnenorganisation der DGH die Befugnisse bei dem monokratischen Direktor konzentriert (s.o. III. 2.).
b) Neutralität durch Ausdifferenzierung Der Überblick über die Gesetze und Diskussionen zu den unabhängigen Verwaltungseinheiten in Japan hat ferner gezeigt, dass viele Einheiten nicht zuletzt zur Sicherung der Grundrechte, zur Artikulation der rechtlich geschützten Interessen und/ oder zur Distanzierung gegenüber der Politik errichtet und damit gerechtfertigt werden (s.o. IV. 1.). Diese Gründe für die Unabhängigkeit setzen voraus, dass ein demokratisch legitimiertes Organ seine Aufgabe nicht immer ohne weiteres neutral, d.h. Interessen gleichgewichtig berücksichtigend, wahrnehmen kann. Im Zweifelsfall ist die organisatorische Ausdifferenzierung zur neutralen ausgewogenen Interessenberücksichtigung nützlich, gegebenenfalls nötig.97 Allerdings dringt die Idee der „Neutralität durch Ausdifferenzierung“ in der Binnenorganisation der unabhängigen Einheiten nicht durch. Hier stellen die japanischen Gesetze fast ausschließlich auf die Gewährleistung der Neutralität jedes einzelnen Organwalters ab. So bestimmen die Gesetze als persönliche Voraussetzung der 95 Tanaka (Fn. 33). Dazu Shiono, Gyôsei Iinkai Seido nitsuite [Über das unabhängige Ausschusswesen], in: ders., Gyôseihô Gainen no Shosô [Verschiedene Aspekte des Verwaltungsrechtsbegriffs], 2011, S. 4 47 ff. (457 f.). 96 Hier ist eine interdisziplinäre Analyse geboten, vgl. Schmidt-Aßmann (Fn. 12), 1/49. 97 Ausf. Fehling, Verwaltung zwischen Unparteilichkeit und Gestaltungsaufgabe, 2001, S. 251 ff.
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Mitglieder des Kollegialorgans meistens nur, dass jedes Mitglied für die Aufgabe des Organs sachkundig oder erfahren sein soll, ohne die weitere Zusammensetzung des Organs zu konkretisieren (s.o. III. 1. b), c), 3. a), b)), dort auch zu den Ausnahmen).98 Aber es ist manchmal illusorisch zu denken, dass der einzelne Sachverständige ohne weiteres „neutral“ ist. Eine Balancierung von unterschiedlichen Gesichtspunkten durch ausgewogene Zusammensetzung des Kollegialorgans ist deswegen wichtig. Zwar wäre eine pluralistische Zusammensetzung des Kollegialorgans in Japan schwieriger als in Deutschland, weil in Japan mächtige mobilisierungsfähige Verbände nicht in allen Gesellschaftssektoren existieren. Z.B. sind Gewerkschaften und NGOs deutlich schwächer. Eine Beteiligung einer Religionsgemeinschaft muss wegen der strengen Trennung von Staat und Religion nach Art. 20 sowie Art. 89 jVf außer Betracht bleiben. Aber selbst wenn man eine pluralistische Besetzung von Verbänden, die ihrerseits schwierige Rechtsprobleme hinsichtlich der personell-organisatorischen Legitimation aufwirft, nicht voraussetzt, kann ein Kollegialorgan aufgrund seiner pluralistischen Zusammensetzung differenziertere Gesichtspunkte berücksichtigen. In der Praxis ist die Ausgewogenheit der Zusammensetzung des Kollegialorgans normalerweise beachtet. Aber eigentlich ist das Parlament verantwortlich, den Rahmen der Zusammensetzung des Kollegialorgans und damit sein Profil zu bestimmen. In der jetzigen Atomkraftregulierungskommission sitzt z.B. weder ein Jurist noch ein Sozialwissenschaftler, was die Arbeitsweise der Kommission prägt. Die Zusammensetzung sollte daher durch das Gesetz geregelt werden.99
c) Neutralität und Partizipation Die japanischen Gesetze verhalten sich zurückhaltend gegenüber der autonomen Legitimation, allgemeiner gesagt, der organisatorischen Partizipation der Betroffenen. Diese Haltung kommt von der Skepsis in der Praxis, dass gleichgewichtige Interessenartikulation und angemessene Interessenabwägung durch eine gestärkte Betroffenenpartizipation bedroht würden. Die geringe Bedeutung der Bürgerabstimmung (s.o. II. 3.) hat ihre Ursache in derselben Wurzel. Zudem ist die Tradition der funktionalen Selbstverwaltung in Japan nicht fortgeführt worden (s.o. III. 4. a). Ihre Wiedereinrichtung ist nicht leicht, weil die Voraussetzungen der funktionalen Selbstverwaltung, nämlich Homogenitäts- und Korrespondenzgebot,100 in der Standardkonstellation der heutigen Verwaltung nicht erfüllt sind, in der verschiedene Interessen beteiligt sind und/oder der Kreis der Betroffenen schwer zu begrenzen ist. Aber die autonome Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung ist in den staatlichen Hochschulen verfassungsrechtlich geboten. Hier leidet das japanische Gesetz unter der konzeptionslosen „Entfesselung“ des Rektors (s.o. III. 4. b). Im Übrigen ist die Bereitstellung der funktionalen Selbstverwaltung für die zukünftige Entwicklung eine wichtige Aufgabe der Dogmatik. Deshalb sind Konzept, Bedeutung 98 Zudem ist als negative Voraussetzung für die Zusammensetzung des Kollegialorgans oft gesetzlich gereglt, dass nicht mehr als eine bestimmte Zahl von Mitgliedern derselben Partei angehören darf. Aber diese Bestimmung hat in Japan eine eher geringe praktische Bedeutung. 99 Ausf. Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, 1999, S. 250 ff. 100 Schmidt-Aßmann (Fn. 12), 5/43.
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und Grenzen der Betroffenenpartizipation auch in Japan zukünftig eingehender zu diskutieren.
d) Unmittelbare Beziehungen mit dem Parlament und institutionalisierte Kommunikation mit der Regierung Was die demokratische Legitimationskette betrifft, kann man im japanischen Recht Regelungen finden, dass unabhängige Verwaltungseinheiten (z.B. Verwaltungsausschüsse, Nationalbank) ohne oder neben der Einschaltung der Regierung unmittelbar mit dem Parlament Beziehungen haben sollen. Diese Regelungen lockern einerseits die Stärke der Kontrolle durch die Regierung gegenüber der unabhängigen Verwaltungseinheit. Als Beispiele zu nennen sind die Notwendigkeit der parlamentarischen Zustimmung zur Auswahl der Kollegialorgansmitglieder durch die Regierung (s.o. III. 1. b), 3. a), b)) und die Möglichkeit, dem Parlament die von der unabhängigen Einheit entworfene, nicht durch die Regierung modifizierte Fassung der Haushaltsvorschläge vorzulegen (s.o. III. 1. b), 3. b)). Andererseits wird die reduzierte Regierungskontrolle gegenüber der unabhängigen Einheit durch deren unmittelbare Beziehung zum Parlament teilweise kompensiert. Als solche Kompensation funktioniert die Pflicht der unabhängigen Einheiten zur Vorlegung des Berichts an das Parlament oder zur Erklärung im Parlament (s.o. III. 1. b), 3. a), b)). Ein antinomisches Verhältnis zwischen der Regierungskontrolle und der Unabhängigkeit einer Verwaltungseinheit kann so durch deren unmittelbare Beziehungen mit dem Parlament entschärft werden.101 Denselben Effekt hat eine institutionalisierte, gegebenenfalls veröffentlichte Kommunikation zwischen der Regierung und der unabhängigen Verwaltungseinheit, was man nicht zuletzt im Recht der Nationalbank beobachten kann (s.o. III. 3. a). Allerdings ist die Gefahr nicht zu übersehen, dass die unmittelbaren Beziehungen mit dem Parlament eventuell für ein parteipolitisches Manöver eingesetzt werden. So gab es einmal pathologische Phänomene, dass die damalige Oppositionspartei, die aber in der zweiten Kammer des Parlaments eine Mehrheit hatte, strategisch immer wieder Vorschläge der Regierung über die Auswahl des Personals der unabhängigen Verwaltungseinheiten abgelehnt hat.102 Gleichzeitig muss man aber auch umgekehrt die erhöhte Gefahr sehen, dass die Regierung die Befugnis zur Auswahl des Personals missbraucht, wenn die Regierungspartei über die Mehrheit im Parlament verfügt und die Zustimmungsbefugnis des Parlaments praktisch scheitert, was früher bei der Auswahl der Aufsichtsratsmitglieder der staatlichen Rundfunkanstalt der Fall war (s.o. III. 3. b).
Derselbe Befund könnte im Fall einer detaillierten materiell-rechtlichen Regelung durch das parlamentarische Gesetz gelten. Jedoch ist die gesetzliche Regelungsdichte bezüglich der unabhängigen Verwaltungseinheiten meistens gering. 102 So blieb z.B. der Posten des Präsidenten der Nationalbank vom 20.3.2008 bis 8.4.2008 unbesetzt. 101
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2. Perspektiven: Prinzipienbasiert-integrative Legitimationsstrukur der Verwaltung Würde man die Rechtslage und Diskussion in Japan mit der in Deutschland zusammenbringen, könnte man sich ein folgendes Gesamtbild hinsichtlich der demokratischen Legitimation der Verwaltung vorstellen: – Die parlamentarisch-demokratische Legitimation der Verwaltung, ihre personell-organisatorische und sachlich-inhaltliche Komponente sind als solche eigenständig zu fordern. Dies ist auch in Japan verfassungsrechtlich geboten (s.o. II. 1., 2.). Allerdings sind die Kapazitätsgrenzen des Organs bzw. Organwalters (s.o. V. 1. a) zu beachten, ebenso die Kompensationsfunktion einer unmittelbaren Beziehung der Verwaltung zum Parlament (s.o. V. 1. d). – Im Weiteren müssen andere Rechtsprinzipien in Betracht gezogen werden, die Unabhängigkeit der Verwaltung von der parlamentarisch legitimierten Regierung verlangen. Man kann drei Prinzipien nennen: (1) Gleichgewichtige Artikulation und angemessene Abwägung der Grundrechte und Interessen, (2) Wissensgenerierung und -verarbeitung für die öffentliche Entscheidung und (3) Partizipation.103 Das erste Element wird im japanischen Recht an den unabhängigen Ausschüssen, das dritte Element im deutschen Recht an der autonomen Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung ersichtlich. Das zweite Element hat in Japan zur Errichtung etwa der Transportsicherheitskommission und der Atomkraftregulierungskommission (s.o. II. 1. a) geführt. Die Selbstverwaltung der staatlichen Hochschulen (in Deutschland) umfasst alle drei Elemente par excellence. Die ersten zwei Elemente sind schon in Deutschland als Leitprinzipien des Verwaltungsverfahrens in wichtigen Referenzgebieten aufgrund des Rechtsstaatsprinzips anerkannt. Das Abwägungsgebot im Stadtplanungsrecht104 und das Gebot wissensbasierten Entscheidens im Risikoverwaltungsrecht105 sind zu nennen. Das dritte Element liegt nicht zuletzt „in den ideellen Schichten der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit“.106 Schon in Standardverfahren und -organisation der Verwaltung gelten diese drei Prinzipien. Aber je nach Verwaltungsaufgaben rechtfertigen, gegebenenfalls gebieten sie ferner unabhängige Verwaltungseinheiten. – Die drei Elemente wirken nicht alternativ, sondern kumulativ bei der Gestaltung von unabhängigen Verwaltungseinheiten. So erwähnte das BVerfG zur Begründung für die Verfassungsmäßigkeit der funktionalen Selbstverwaltung der Wasserverbände nicht nur das partizipative Element, sondern auch die Aktivierung des verwaltungsexternen Sachverstands sowie die angemessene Berücksichtigung be103 Damit ist nicht der Output im Sinne der Politikwissenschaft, sondern die Organisations- und Verfahrensstruktur gemeint. Freilich ist eine interdisziplinäre Betrachtung notwendig, um eine treffende Organisations- und Verfahrensstruktur zu ermitteln. Vgl. Trute (Fn. 15), § 6 Rn. 53. 104 BVerwGE 41, 67 (68) [1972]; 48, 56 (63) [1975]; 64, 33 (35) – Westliche Baugrenzen [1981]. Ferner zur rechtsstaatlichen Unbefangenheit Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG Komm., 8. Aufl. 2014, § 20 Rn. 1. 105 Trute, Wissenschaft und Technik, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. 4, 3. Aufl. 2006, § 88 Rn. 35. Allgemeiner Voßkuhle, Sachverständige Beratung des Staates, in: HStR, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 43 Rn. 1. 106 Schmidt-Aßmann (Fn. 12), 2/106.
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troffener Interessen.107 Ferner gelten die drei Elemente übergreifend, d.h. nicht nur als Argumente für die Verselbständigung einer Verwaltungseinheit nach außen gegenüber der Regierung, sondern auch als Maßstab für die interne Organisation der verselbständigten Verwaltungseinheit. Sonst könnten das Außen- und Innenverhältnis einer verselbständigten Verwaltungseinheit inkonsequent gestaltet werden, wie die unabhängigen Ausschüsse und die DGH in Japan zeigen (s.o. V. 1. a, b). In diesem Sinne muss man die drei Elemente als integrativ verstehen. – Die Errichtung, die Organe der unabhängigen Verwaltungseinheiten und ihre Beziehung zur Regierung müssen durch das Gesetz geregelt werden, um die demokratische Legitimation mit den anderen, oben genannten Prinzipien zu verbinden. Dies wird in Deutschland unter dem Stichwort der „Legitimationsverantwortung“ pointiert.108 Bei alledem geht es perspektivisch darum, den Begriff der demokratischen Legitimation der Verwaltung durch den Austausch der Ideen sowie Erfahrungen verschiedener Länder noch stärker zu verklammern, damit er nicht nur auf der nationalen, sondern auch auf der internationalen Ebene eine Weiterentwicklung erfährt.
107 BVerfGE 107, 59 (92 f.) – Lippeverband [2002]. Vgl. auch BVerfGE 135, 155 (227 f.) – Filmförderungsanstalt [2014]. 108 Trute (Fn. 15), § 6 Rn. 58 f. Der Gedanke der Legitimationsverantwortung wird typischerweise im Kooperationsbereich von Staat und Gesellschaft herangezogen. Ferner ist dieser Gedanke in Japan nutzbar, um die Organisationen zu regeln, die zwar gesetzlich und satzungsgemäß als privat qualifiziert sind, aber wegen der kontinuierlichen personellen und finanziellen Unterstützung des Ministeriums faktisch als staatlich angesehen werden könnten. Es existieren in Japan viele solche sozusagen „informellen“ Trabanten.
Rule of Law oder Rule by Law? Eine methodische Reflexion zur Rechtsstaatsfrage in China von
Prof. Dr. Teng-Chieh Yang, Peking* Inhalt A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 878 B. Umstellung von Realität auf Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 881 I. Der normative und ideale Charakter der Verfassung und Leitbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 882 II. Rechtsstaat chinesischer Prägung als verfassungsrechtliches Konzept und normatives Leitbild . . . . 884 III. Theorie über etwas Normatives statt Theorie der Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 887 C. Verbindung von allgemeiner Theorie und Chinaforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 888 I. Kontextübergreifende Allgemeinheit trotz kontextspezifischer Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . 888 1. Beschränkung auf die Unterscheidung verschiedener Varianten des Rechtsstaates? . . . . . . . . 889 2. Eine rein deskriptive Beschreibung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 891 3. Ein radikaler Partikularismus oder Kontextualismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 892 II. Infragestellung eines zeitlosen universalen Rechtsstaatsgehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893 III. Rückgriff auf den Kerngehalt des Rechtsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 895 IV. Dialektisches Verhältnis von allgemeiner Theorie und Chinaforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 896 D. Theorie als Reflexionsmedium der Beschreibungsfolie und als Beitrag zur Praxis . . . . . . . . . . . . . . . 898 I. Theorie als Reflexionsmedium der Beschreibungsfolie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 898 II. Theorie als Beitrag zur Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 899 III. Wahrung der Normativität durch Kommunikation, nicht durch Effektivität . . . . . . . . . . . . . . . 900 1. Soziale Wirksamkeit und Normativität des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 900 2. Normativität und gesellschaftliche Bedeutung der chinesischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . 903 IV. Theorie als Beitrag zur systeminternen Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 904 E. Abschließende Bemerkungen: Ein kurzer Ausblick auf die theoretisch-konzeptionelle Reflexion . . . . . 905
* Associate Professor an der Beihang University in Peking. Die vorliegende Arbeit ist im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts „Rechtsstaat oder rule of law im Spannungsfeld zwischen Universalität und Partikularität – China im Fokus“ entstanden.
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A. Einleitung Im Bericht des 15. Parteitags der Kommunistischen Partei Chinas (KP Chinas) im Jahre 1997 wurde das „Regieren des Staates nach Recht“ beziehungsweise die „Herrschaft nach Recht“ (依法治国 , yı¯fazhiguo) und der Auf bau eines „sozialistischen Rechtsstaates“ (社会主义法治国家 , shehuizhuyi fazhiguojia) erstmals in der Volksrepublik China zum Maßstab der Politik und Grundsatz des Staates erklärt. Im Jahre 1999 wurde dieser Grundsatz in die chinesische Verfassung hineingeschrieben.1� Verwendet wurde dabei der Ausdruck „Regieren des Staates nach Recht“ (依法治国 , yı¯fazhiguo) zur Abgrenzung vom bis dahin offiziell üblichen Ausdruck „Regieren des Staates mithilfe des Rechts“ oder, anders übersetzt, „Regieren des Staates durch Recht“ (以法治国 , yıˇfazhiguo).2 Ein wichtiger Meilenstein in der neueren Entwicklung ist das im Jahre 2014 abgehaltene 4. Zentralkomitee-Plenum des 18. KP-Parteitags. Zum ersten Mal machte die KP Chinas die Rechtsstaatlichkeit zum Hauptthema einer Plenarsitzung ihres Zentralkomitees. Das Abschlusskommuniqué hat das Ziel des Auf baus eines sozialistischen Rechtsstaates bekräftigt, ein umfangreiches Programm dafür aufgestellt und unter anderem die Verbesserung des Mechanismus der Verfassungskontrolle, die Sicherung der Rechte der Bürger, die Unabhängigkeit der Rechtsprechung und eine Justizreform thematisiert.3 Nach diesem Kommuniqué soll jede Organisation und Person, auch die Partei, im Rahmen der Verfassung und Gesetze agieren. Keiner Organisation oder Person stehe das Privileg zu, über der Verfassung und dem Gesetz zu stehen.4 In solchen Selbstbekundungen der chinesischen KP und Regierung schwingt also ein Bekenntnis zur Rechtsbindung der Staatsgewalt mit der Zeit immer stärker mit. Nicht nur die Bürger, sondern auch alle Staatsorgane und Amtsträger sollen sich ans Recht halten. Das kennzeichnet eben, was man Rechtsstaat oder Rule of Law nennt. Jedoch hegen Beobachter vor allem im Westen Misstrauen oder Skepsis gegen dieses Bekenntnis. Man stellt zum Beispiel den Primat der Politik beziehungsweise der Partei fest, die über dem Gesetz und der Verfassung stehe,5 oder es wird konstatiert, dass die Dominanz der Partei im Widerspruch zur Wertschätzung des Rechts stehe,6 Art. 5 Abs. 1 der Verfassung der Volksrepublik China. Vgl. zu dieser terminologischen Abgrenzung Randall Peerenboom, China’s Long March toward Rule of Law, 2002, 64. Diese Abgrenzung wird mitunter nicht ernst genommen und schon in der Übersetzung neuerer chinesischer Schlagworte „依法治国 “ (yı¯fazhiguo) und „法治国家 “ (fazhiguojia) kommt die Skepsis gegenüber dem chinesischen Rechtsprojekt zum Ausdruck; siehe hierzu den übernächsten Abschnitt. 3 Eine englische Übersetzung des Kommuniqués ist online verfügbar unter http://chinacopy rightandmedia.wordpress.com/2014/10/28/ccp-central-committee-decision-concerning-some-ma jor-questions-in-comprehensively-moving-governing-the-country-according-to-the-law-forward/ (abgerufen am 10.11.2016). 4 Teil 1 und Teil 7 Abschnitt 1 des Kommuniqués. 5 Introduction to the Roundtable on the Future of „Rule According to Law“ in China, Asia Policy 20 (2015), 2 (3); Donald Clarke, China’s Legal System and the Fourth Plenum, Asia Policy 20 (2015), 10 (10 f.); Stanley Lubman, Conclusion: Stronger and More Professional Courts – But Still Under Party Control, Asia Policy 20 (2015), 38 (38 f.); Kjeld Erik Brødsgaard, Assessing the Fourth Plenum of the Chinese Communist Party: Personnel Management and Corruption, Asia Policy 20 (2015), 30 (34 f.). 6 Stanley Lubman, Bird in a Cage: Chinese Law Reform after Twenty Years, Nw. J. Int’l L. & Bus. 20 (2000), 383 (399). 1 2
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oder dass die Rede von Rule of Law in China auf die Billigung eines Autoritarismus des Parteiapparats mit wenig Raum an den Rändern für technische Rechtsreformen hinauslaufe.7 Dabei knüpft man häufig an die Unterscheidung von Rule of Law und bloßer Rule by Law an. Rule of Law ist vor allem durch das Festhalten an der Unverbrüchlichkeit des Rechts gekennzeichnet. Von bloßer Rule by Law spricht man dagegen, wenn das Recht bloß als Instrument der Politik in Anspruch genommen oder – als wichtigster Ausdruck dieser Instrumentalisierung – die Rechtsbindung zu politischen Zwecken aufgeweicht wird.8 Dem Projekt des sozialistischen Rechtsstaates chinesischer Prägung wird dann ein Programm bloßer Rule by Law zugeschrieben.9 Die Skepsis gegenüber diesem Projekt schimmert bisweilen schon in der Übersetzung der eben erwähnten chinesischen Schlagworte „依法治国 “ (yı¯fazhiguo) und „法治国家 “ (fazhiguojia) durch. Bei der Übersetzung werden nämlich die Termini Rule by Law, Governing by Law und Gesetzesherrschaftsstaat statt der Termini Rule of Law, Governing according to Law und Rechtsstaat benutzt.10 Nur wenige Beobachter gönnen dem „Regieren des Staates nach Recht“ den Titel Rechtsstaat beziehungsweise Rule of Law11 oder kennzeichnen es als einen Übergang zur Rule of Law12 oder weisen darauf hin, dass die Auffassung der chinesischen Regierung und Regierungspartei über den Rechtsstaat viel differenzierter und komplexer sei als Skeptiker gemeinhin unterstellen.13 Die markante Diskrepanz zwischen den Selbstbekundungen der chinesischen KP und Regierung und den westlichen Fremdbeschreibungen scheint den Mainstream der westlichen öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurse über Recht und Politik in China nicht zu stören. Bei der Beschreibung und Analyse des Rechts und der Politik in China lässt man seine Konzeption und seine normativen Prämissen des Rechtsstaates als zugrunde liegende Beobachtungs- und Beschreibungsfolie weitgehend ungeprüft gelten. Das geschieht manchmal unbewusst, manchmal mit Selbstsi7 Carl Minzner, What Does China Mean by ‘Rule of Law’?, online verfügbar unter http://foreign policy.com/2014/10/20/what-does-china-mean-by-rule-of-law/(abgerufen am 10.11.2016). 8 Peerenboom (Fn. 2 ), 8 f., 23, 64, 74 f., 107; Teng-Chieh Yang, Eine starke oder eine schwache Konzeption der Rechtsstaatlichkeit? – Auch zur Problematik der Universalität der Rechtsstaatlichkeit, Der Staat 54 (2015), 375 (378 f.). 9 Etwa Clarke (Fn. 5 ), 10, 16; Robert Heuser, Gegenwärtige Lage und Entwicklungsrichtung des chinesischen Rechtssystems. Eine Skizze, VRÜ 38 (2005), 137 (147 f.). Heuser weist aber auch darauf hin, dass innerchinesische Rechtsdiskurse ein Meinungsspektrum aufweisen, das über eine bloße Rule by Law hinausgeht; dazu vgl. ebd., 148 ff.; ders., Fazhi in China, in: Matthias Koetter/Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Understandings of the Rule of Law in Various Legal Orders of the World, Rule of Law Working Paper Series Nr. 9, 2009, 3 f., online verfügbar unter http://wikis.fu-berlin.de/down load/attachments/22347874/Heuser+China.pdf (abgerufen am 10.11.2016). 10 Lubman (Fn. 5 ), 38; Robert Heuser, What “Rule of Law”? The Traditional Chinese Concept of Good Government and Challenges of the 21st Century, ZaöRV 64 (2004), 723 (723); ders., Gegenwärtige Lage (Fn. 9 ), 139, 142. 11 Larry Cata’ Backer, Party, People, Government and State: On Constitutional Values and the Legitimacy of the Chinese State-Party Rule of Law System, B.U. Int´l L. J. 30 (2012), 331 ff. 12 Peerenboom (Fn. 2 ), 9, 140 f., 558; ähnlich Jianfu Chen, Chinese Law: Context and Transformation, 2008, 699. 13 Paul Gewirtz, What China Means by „Rule of Law“, The New York Times, 19.10.2014, online verfügbar unter http://www.nytimes.com/2014/10/20/opinion/what-china-means-by-rule-of-law. html?_r=0 (abgerufen am 10.11.2016).
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cherheit. Nicht selten ist der Inhalt einer solchen Konzeption oder Prämisse unklar und diffus. Bei fehlender Reflexion der eigenen Beschreibungsfolie ist es kein Wunder, dass man von der Diskrepanz zwischen den chinesischen Selbstbekundungen und den westlichen Fremdbeschreibungen unbeirrt bleibt. Denn unter diesen Umständen tendiert man leicht dazu, die Diskrepanz als Ausdruck einer Pathologie oder Abweichung seitens chinesischer Darstellung oder Praxis anzusehen, statt westliche Fremdbeschreibungen infrage zu stellen. Die Diskrepanz wird nämlich in manchen Fällen daraus erklärt, dass der Begriff des Rechtsstaates in China als ideologisches Täuschungsmanöver und reine Schaufensterdekoration benutzt werde.14 In anderen Fällen wird die Diskrepanz darauf zurückgeführt, dass dort ein vom westlichen Ideal abweichender Rechtsstaatsbegriff verwendet werde.15 In diesen Fällen fällt der Ton zwar nicht tadelnd, aber oft noch misstrauisch aus. Dahinter versteckt sich häufig die nicht näher begründete normative Bewertung, dass das westliche Ideal vorzugswürdig sei. Diese Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit des öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurses ist beunruhigend. Es besteht der Verdacht, dass die kritische Haltung gegenüber China von der unkritischen Haltung gegenüber eigenen Prämissen lebt. Es wird höchste Zeit, in der Forschung über Recht und Politik in China eine kritische Distanz und wissenschaftliche Reflexivität gegenüber „ungedachten Denkkategorien“ zu entwickeln, „die das Denkbare wie das Gedachte vorab bestimmen und begrenzen.“16 Gängige Deutungsmuster über den chinesischen Rechtsstaat sind unter die Lupe zu nehmen. Dabei sollte man in die Tiefe gehen, sich mit dem zugrunde liegenden Rechtsstaatsprinzip überhaupt und den darauf bezogenen Vorannahmen, Erwartungen und Unklarheiten auseinandersetzen. Als Ausgangspunkt dieser Reflexion eignet sich die Frage, ob der behauptete Rechtsstaat chinesischer Prägung – entgegen den kritischen Stimmen – mit der wohlverstandenen Rechtsstaatlichkeit beziehungsweise Rule of Law theoretisch-konzeptionell übereinstimmen kann. Angesichts des derzeitigen Forschungsstandes ist eine solche theoretisch-konzeptionelle Reflexion aber erst vielversprechend, wenn man vorher eine methodische Reflexion vornimmt. Denn wie unten zu zeigen sein wird, fehlt eine derartige theoretisch-konzeptionelle Reflexion weitgehend oder ist nur in Ansätzen vorhanden und dieser Mangel hängt mit den üblichen methodischen Vorgehensweisen zusammen. Selten wird die eben genannte Frage in Bezug auf ihren erkenntnistheoretischen Ort präzisiert und als eine theoretisch-konzeptionelle Fragestellung herausgearbeitet, also in ihrer methodischen Bedeutung erkannt. Eine tiefe theoretisch-konzeptionelle Reflexion setzt folglich eine gründliche methodische Reflexion voraus. Die vorliegende Untersuchung wird sich deswegen auf die methodische Reflexion konzentrieren, um sich auf die zukünftig anzustellende theoretisch-konzeptionelle Reflexion sorgsam vorzubereiten. 14 Auf diese Ansicht weist Heuser, Fazhi in China (Fn. 9 ), 5 ablehnend hin; zum Einwand gegen diese Ansicht unten D. III. 15 Brødsgaard und Grünberg etwa weisen darauf hin, dass sich die chinesische Rule of Law von einem westlichen Typ der Rule of Law unterscheidet; siehe Kjeld Erik Brødsgaard/Nis Grünberg, The Fourth Plenum of the CPC Makes an Important Decision on Law Reform in China, Copenhagen Journal of Asian Studies 32:2 (2014), 122 (124). 16 Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und „Klassen“, 2. Aufl. 1991, 51.
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Es wird nämlich für eine methodische Neuorientierung in der Forschung über die Rechtsstaatlichkeit in China argumentiert. Es geht um eine methodische Untermauerung eines Horizontwechsels vom Rechtsstaat als Realität zum Rechtsstaat als zu verwirklichendes Projekt. Dabei werden die Umstellung von Realität auf Theorie (B), die Verbindung von allgemeiner Theorie und Chinaforschung (C) und die Theorie als Reflexionsmedium der Beschreibungsfolie und als Beitrag zur Praxis (D) behandelt. Eine gründliche theoretisch-konzeptionelle Reflexion an sich wird nicht angestellt, ein kurzer Ausblick auf sie wird aber zum Schluss (E) gegeben.
B. Umstellung von Realität auf Theorie In der westlichen Forschung über Recht und Politik in China bemüht man sich vor allem um zweierlei. Zum einen analysiert man konkrete, detaillierte Regelungen, Entscheidungen und Maßnahmen des Gesetzgebers, der Regierung, der Verwaltung, der Gerichte und auch der KP Chinas.17 Zum anderen geht man auf diejenigen gesellschaftlichen Wirklichkeitsausschnitte ein, die sich dem Rechtssystem oder dem politischen System zuordnen lassen oder mit dem Recht oder der Politik im Zusammenhang stehen, kurzum auf die gegenwärtige rechtliche und politische Wirklichkeit. Zum ersten Fall gehören die Analyse von Gesetzen, die vom Nationalen Volkskongress oder seinem Ständigen Ausschuss erlassen oder geändert worden sind, und die Analyse von „Justiziellen Auslegungen“ (司法解释 , sifa jieshi) und anderen Dokumenten des Obersten Volksgerichts. Der zweite Fall liegt vor, wenn die Aufmerksamkeit etwa auf die Weiquan-Bewegung (维权运动 , Bewegung zum Schutz der Rechte), die Antikorruptionskampagne oder die aktuelle Lage der Meinungs- und Pressefreiheit gerichtet ist. Solche Arten von Forschung sind zweifelsohne wichtig, wenn die Chinaforschung ohne ideologische Vorurteile betrieben werden soll. Die Forschung kann aber nicht wirklich oder vollständig von ideologischen Vorurteilen befreit sein, wenn zwei anderen Sachen von allgemeiner und grundsätzlicher Natur in der Forschung zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Diese zwei Sachen sind die chinesische Verfassung und chinesische politische und rechtliche Leitbilder. Sie beide sind eng miteinander verwoben und aufeinander verwiesen. Einerseits finden politische und rechtliche Leitbilder in China ihren Ausdruck außer in den Berichten der Parteitage und den Beschlüssen der Zentralkomitee-Plenen der KP vor allem in der chinesischen Verfassung. Diese ist das rechtliche und politische Basis- und Rahmendokument. Andererseits bestimmen Leitbilder, die sich den Grundbegriffen der Verfassung anheften, den Inhalt der Verfassung wesentlich mit.18 Zu solchen Leitbildern gehört der sozialistische Rechtsstaat chinesischer Prägung. Zu oft werden solche Leitbilder und die chinesische Verfassung vorurteilhaft als ideologischer Schein oder als Scheinverfassung oder semantische Verfassung abgetan.19 Ihr 17 Von der Konkretheit und Detailliertheit staatlicher und parteilicher Regelungen, Entscheidungen und Maßnahmen wird hier deshalb gesprochen, weil die Verfassung und Leitbilder im Vergleich zu ihnen im Großen und Ganzen von allgemeinerer und grundsätzlicherer Natur sind. 18 Vgl. zu Leitbildern in der Verfassung Uwe Volkmann, Leitbildorientierte Verfassungsanwendung, AöR 134 (2009), 157 ff. 19 Kritik dazu unten D. III.
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Inhalt und ihre mögliche Funktion als echte normative Orientierung werden wissenschaftlich nicht ernst genommen.
I. Der normative und ideale Charakter der Verfassung und Leitbilder Freilich lassen sich die Verfassung und politische und rechtliche Leitbilder einerseits und Detailregelungen, -entscheidungen, -maßnahmen und die rechtliche und politische Wirklichkeit andererseits nicht scharf voneinander trennen. Ihre Interpretation oder Analyse ist vielfach aufeinander bezogen und angewiesen. Dieser Zusammenhang ist dennoch nicht immer und nicht notwendig gegeben. Außerdem kann ein Zusammenhang zwischen den beiden Seiten nur festgestellt und von einem Zusammenhang nur gesprochen werden, wenn sie sich voneinander unterscheiden lassen.20 In der Tat unterscheiden sie sich in folgender Weise. Zugegebenermaßen kann sich aus der Handlungs- und Entscheidungspraxis der Staatsorgane und in China auch der Parteiorgane oder aus der rechtlichen und politischen Wirklichkeit eventuell ein ungeschriebenes Verfassungsrecht oder Verfassungsgewohnheitsrecht herauskristallisieren.21 Nicht alle solche Praxis oder Wirklichkeit kann aber verfassungsmäßig sein, geschweige denn Verfassungsrang erlangen. Nach der Idee der Verfassung im modernen Sinne ist die Verfassung von normativer, nicht von deskriptiver Natur.22 Rechtlich gilt sie als höchste Norm. Politisch hat sie einen utopischen Gehalt gegenüber der vorgefundenen Praxis.23 Die Verfassung richtet Anforderungen an die Praxis der Staatsorgane und die rechtliche und politische Wirklichkeit, ist in sie umzusetzen und ihnen – trotz ständiger Konkretisierung durch sie – gegebenenfalls entgegenzuhalten. Diese Praxis oder diese Wirklichkeit wird gelegentlich als Verfassungswirklichkeit oder als empirische, tatsächliche oder wirkliche Verfassung bezeichnet.24 Die Frage, ob und wann solche 20 Rechtliche Detailregelungen und -entscheidungen einerseits und die rechtliche und politische Wirklichkeit andererseits können wiederum als verschiedene Forschungsgegenstände oder als Gegenstände unter verschiedenen Fragestellungen oder unter Verwendung verschiedener Forschungsansätze oder -methoden, wie etwa als Gegenstände einer rechtsdogmatischen Analyse und einer empirisch-sozialwissenschaftlichen Forschung, unterschieden werden. Im Vordergrund steht hier aber nicht ihre Unterscheidung voneinander, sondern ihre gemeinsame Abgrenzung gegenüber der Verfassung und politischen und rechtlichen Leitbildern. 21 Vgl. zum ungeschriebenen Verfassungsrecht und Verfassungsgewohnheitsrecht Christian Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?: Eine Untersuchung zum Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1972; Heinrich Amadeus Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz, 2000; Bernd Grzeszick, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, 417 ff. 22 Dieter Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 3. Aufl. 2003, § 1 Rn. 1 ff. 23 Christoph Möllers, Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2. Aufl. 2009, 227 (232 f.). 24 Vgl. Ferdinand Lassalle, Über Verfassungswesen, in: ders., Gesammelte Reden und Schriften, hrsg. von Eduard Bernstein, Bd. II, 1919, 23 (38, 43, 52); Wilhelm Hennis, Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit: Ein deutsches Problem, 1968; Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 2. Aufl. 1994, 11 (17 ff.); Uwe Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, 2013, 9 ff.
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Bezeichnungen berechtigt und sinnvoll sind, kann hier dahinstehen. Festzuhalten ist jedenfalls, dass sie nicht gegen die Verfassung im normativen Sinne auszuspielen sind, dass der Verfassung ein kontrafaktischer Geltungsanspruch gegenüber der Verfassungswirklichkeit zusteht, obwohl sie beide eine Wechselbeziehung haben und gegenseitig aufeinander wirken.25 Dieses allgemeine Verhältnis zwischen dem Verfassungsrecht und der Wirklichkeit gilt auch für China. Die heutige chinesische Verfassung ist schriftlich niedergelegt, im Jahre 1982 in Kraft getreten und seitdem viermal geändert worden. Einerseits soll und kann diese Verfassung als normative Kategorie höchster Stufe von der Praxis der Staats- und Parteiorgane und von der rechtlichen und politischen Wirklichkeit in China unterschieden werden. Die Differenz soll nicht, wie oft geschehen, in Richtung dieser Praxis und dieser Wirklichkeit so eingeebnet werden, dass diese ohne Weiteres als Konkretisierung und Operationalisierung der Verfassung oder sogar vorbehaltlos als ungeschriebenes Verfassungsrecht oder Verfassungsgewohnheitsrecht, das eventuell die geschriebene Verfassung bricht oder unterläuft, angesehen werden. Die Einebnung geht häufig entweder mit einer pauschalen Kritik gegenüber der chinesischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit oder mit ihrer pauschalen Billigung einher. Im Falle der pauschalen Billigung will man mit der Einebnung die Legitimationsfunktion der Verfassung ausnutzen und die gegenwärtige Staats- und Parteipraxis so weit wie möglich rechtfertigen, ja beschönigen.26 Im Falle der pauschalen Kritik lässt man die Kritik der Verfassung in der Kritik der Staats- und Parteipraxis aufgehen. Ein Beispiel dafür ist die Kritik der Führungsrolle der KP Chinas. Bei dieser Kritik verwischt man oft die Unterscheidung zwischen der verfassungsrechtlich vorgeschriebenen oder zugelassenen Führungsrolle der Partei und der gegenwärtigen Praxis. Statt solcher pauschaler Betrachtungsweisen ist mit der normativen Verfassung und der tatsächlichen Praxis oder empirischen Wirklichkeit differenziert umzugehen. Andererseits ist die chinesische Verfassung kein bloßes Blatt Papier mit bloßem Geltungsanspruch und ohne Geltungskraft, auch wenn ihre Wirkkraft in vielen Fällen schwach ausfällt oder ausbleibt. Ihre normative Geltung wird in gesellschaftlicher, auch politischer Kommunikation immer öfter angesprochen und bekräftigt. Dieses Phänomen lässt sich mit Begriffspaaren wie „normative Verfassung/nominelle Verfassung/semantische Verfassung“ und „law in books/law in action“ nicht adäquat beschreiben. Darauf wird näher zurückzukommen sein.27 Ähnlich wie die Verfassung stehen politische und rechtliche Leitbilder auch in einem gewissen Spannungsverhältnis zu Detailregelungen, -entscheidungen, -maßnahmen und zur rechtlichen und politischen Wirklichkeit. Leitbilder sind Ziele oder Ideale, auf die sich das Handeln aller Beteiligten ausrichten soll. Sie sind keine Abbildungen der Gegenwart, sondern drücken Zukunftsvisionen aus, die Distanz zur Gegenwart beziehen. Die Distanz wird besonders auffallend, wenn Leitbilder im Zuge eines großen gesellschaftlichen Transformationsprozesses, wie er zurzeit in China Grimm (Fn. 24), 19; Volkmann (Fn. 24), 11, 26 ff. Diese Tendenz zeigt sich bei Jiang Shigong, Written and Unwritten Constitutions: A New Ap proach to the Study of Constitutional Government in China, Modern China 36: 1 (2010), 12 ff. 27 Unten D. III. 25
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stattfindet, formuliert werden. Besonders charakteristisch für den chinesischen Umgang mit politischen und rechtlichen Leitbildern ist außerdem, dass sich ihr Inhalt in einem inkrementellen Prozess ständig weiter entwickelt und deswegen oft im Fluss befindet. Üblicherweise werden sie anfangs nur ansatzweise und fragmentarisch skizziert, erst im Laufe der Zeit auch unter Mitwirkung gesellschaftlicher Kräfte stückweise konkretisiert, korrigiert und vervollständigt, wie es bei der Ein- und Durchführung der Reformen in China seit 1978 typisch ist. Ein solches Leitbild ist der sozialistische Rechtsstaat chinesischer Prägung, wie er im eingangs erwähnten Beschluss des Zentralkomitee-Plenums formuliert ist, nicht aber, wie er in der gegenwärtigen rechtlichen und politischen Wirklichkeit zum Ausdruck kommt. Allzu oft werden diese Eigenschaften der Leitbilder verkannt. Politische und rechtliche Leitbilder in China werden häufig als ideologischer Schein abgetan oder nur anhand der gegenwärtigen politischen und rechtlichen Wirklichkeit interpretiert oder ihre Anfangs- oder Zwischengestalt wird als endgültige Endgestalt behandelt. All dies kann der Eigenart der Leitbilder im Allgemeinen und in China im Besonderen nicht gerecht werden.
II. Rechtsstaat chinesischer Prägung als verfassungsrechtliches Konzept und normatives Leitbild In der derzeitigen Forschung über Recht und Politik in China finden staatliche und parteiliche Detailregelungen, -entscheidungen, -maßnahmen und die rechtliche und politische Wirklichkeit mehr Beachtung. Im Vergleich dazu werden chinesische Verfassungsnormen und politische und rechtliche Leitbilder vernachlässigt. Dieses Ungleichgewicht führt dazu, dass Forscher oft nicht oder wenig über ihre eigenen Konzeptionen der Rechtsstaatlichkeit oder Rule of Law reflektieren, die als Verstehensrahmen und Beschreibungsfolien in Diskussionen über China dienen. Denn zum einen, wenn die Interpretation oder Analyse von Detailvorgaben und -maßnahmen im Mittelpunkt steht, rücken gängige Deutungsmuster für Rechtsstaatsfragen in China dann in den Hintergrund, obwohl sie die Interpretation oder Analyse mitbestimmen. Sie werden typischerweise ohne nähere Prüfung einfach verwendet. Für ihre systematische theoretische Aufarbeitung fehlt unter diesen Umständen ein geeigneter Rahmen. Zum anderen, wenn der Blick auf die gegenwärtige rechtliche und politische Wirklichkeit fokussiert ist, finden sich wohl kaum starke Anhaltspunkte gegen die Annahme, dass es in China keine Rule of Law gibt oder auf jeden Fall diesbezüglich große Defizite bestehen. Das gilt unabhängig davon, welche Konzeption der Rule of Law dabei zugrunde gelegt wird.28 Diese Frage ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidend. Infolgedessen wird kein großes Diskussionsinteresse über diese Frage geweckt. Der Blickhorizont gibt also wenig Anlass, eigene Vorannahmen und Erwartungen in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip genau unter die Lupe zu nehmen und infrage zu stellen. Selbst nach Peerenboom, der neben einer liberal-demokratischen auch eine kommunitarische, eine neoautoritäre und eine etatistisch-sozialistische Spielarten der Rule of law anerkennt, verdient das gegenwärtige chinesische Rechtssystem nicht die Bezeichnung Rule of Law, sondern befindet sich nur im Übergang zur Rule of Law; vgl. dazu Peerenboom (Fn. 2 ), 140. 28
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Es verhält sich anders, wenn man den Blick auf chinesische Verfassungsnormen und politische und rechtliche Leitbilder lenkt. Denn sie sind in hohem Maße abstrakt, inhaltsoffen, interpretationsfähig und -bedürftig. Der Rechtsstaat chinesischer Prägung als verfassungsrechtliches Konzept und als politisches und rechtliches Leitbild lässt folglich eine Vielfalt an Interpretationsmöglichkeiten zu. Diese Vielfalt wird zum einen durch den inkrementellen Entwicklungsprozess der Leitbilder, zum anderen durch den normativen oder idealen Charakter der Verfassung und Leitbilder gestärkt. Die Verfassung und politische und rechtliche Leitbilder sind normative Maßstäbe oder Idealvorstellungen, an denen sich staatliche und parteiliche Detailvorgaben, -maßnahmen und die rechtliche und politische Wirklichkeit orientieren und messen sollen. Ihre Interpretation kann und soll deswegen zu diesen Distanz halten und gegebenenfalls von diesen abweichen. Ihre Interpretation kann und soll in gewissem Sinne über die Gegenwart und den Status quo hinausgehen und eine Zukunfts- oder Alternativperspektive aufzeigen. Deshalb ist der Rechtsstaat chinesischer Prägung als verfassungsrechtliches Konzept und normatives Leitbild keine Abbildung, Zusammenfassung oder Abstraktion der gegenwärtigen rechtlichen und politischen Praxis und Wirklichkeit in China, sondern ein zu realisierendes Projekt mit einem idealisierenden Charakter. Er ist kontrafaktisch zu rekonstruieren. Eine ersthafte Beschäftigung mit dem Rechtsstaat chinesischer Prägung als einem solchen Projekt setzt voraus, dass man über seine kontrafaktischen Interpretationsmöglichkeiten nachdenkt und sie auf ihre Plausibilität überprüft. Das erfordert wiederum eine Reflexion über den Bedeutungsgehalt der Rechtsstaatlichkeit oder Rule of Law überhaupt, über ihre Unterscheidung zur Rule by Law und über das Verhältnis des chinesischen Rechtsstaatsprojekts zur Rule of Law einerseits und zur Rule by Law andererseits. Die Auseinandersetzung mit dem Rechtsstaat chinesischer Prägung als verfassungsrechtliches Konzept und normatives Leitbild eröffnet somit Chancen für eine kritische theoretische Reflexion über gängige Deutungsmuster für Rechtsstaatsfragen in China, über das zugrunde liegende Rechtsstaatsprinzip überhaupt und über die darauf bezogenen verschiedenen Konzeptionen, Vorannahmen, Erwartungen und Unklarheiten. Auch die chinesische Prägung im rechtsstaatlichen Zusammenhang kann auf der verfassungsrechtlichen und leitbildlichen Ebene untersucht werden. Mit einer solchen Untersuchung erhöht sich das Potenzial an theoretischer Reflexion. Nehmen wir als Beispiel die Führungsrolle der KP Chinas, ein Kernelement der chinesischen Prägung. Obwohl diese Führungsrolle in der Praxis eine bestimmte Form annimmt und von zentraler Bedeutung ist, wird sie in der chinesischen Verfassung nur an einer einzigen Stelle kurz erwähnt, und zwar nicht im operativen Teil, sondern in der Präambel. Die Verfassung selbst eröffnet somit einen sehr großen Interpretationsraum für die Führungsrolle der Partei. Obwohl vieles dafür spricht, dass die Praxis der Führung durch die Partei dem Rechtsstaatsprinzip oft widerspricht, ist dieses Prinzip in der chinesischen Verfassung fest verankert. Darüber hinaus verspricht die KP Chinas die Rechtsstaatlichkeit als ihr Leitbild und spricht von der organischen Vereinigung der Führungsrolle der Partei und dem Regieren des Staats nach Recht.29 Infolgedessen können Teilnehmer des chinesischen Rechtssystems versuchen, auf der 29
Unter anderen Teil 1 des Kommuniqués des 4. Zentralkomitee-Plenums des 18. Parteitags.
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verfassungsrechtlichen und leitbildlichen Ebene die Rechtsstaatlichkeit und die Führungsrolle der Partei kontrafaktisch zu konzipieren und theoretisch-konzeptionell miteinander in Einklang zu bringen – und sie tun dies auch. Ähnlich können Beobachter der chinesischen Rechtsordnung zwischen Theorie und Praxis unterscheiden und fragen, ob eine von vielen möglichen Konzeptionen der Führungsrolle der Partei doch mit einer durchdachten Rechtsstaatskonzeption theoretisch vereinbar ist. Der eingangs schon erwähnten Frage, ob der Rechtsstaat chinesischer Prägung der wohlverstandenen Rechtsstaatlichkeit entspricht, kommt eine große theoretische Bedeutung daher nur zu, wenn „der Rechtsstaat chinesischer Prägung“ in dieser Frage als normative Kategorie, und zwar als verfassungsrechtliches Konzept und normatives Leitbild aufgefasst wird. Erst so verstanden, hat diese Frage großes Potenzial, die eben besprochenen grundlegenden theoretisch-konzeptionellen Reflexionen sowie kontroverse Diskussionen darüber und über die Antwort auf diese Frage auszulösen. Sie wird intellektuell spannend und herausfordernd. Deswegen wurde sie eingangs durch den Zusatz „theoretisch-konzeptionell“ dahin präzisiert, ob der behauptete Rechtsstaat chinesischer Prägung mit der wohlverstandenen Rechtsstaatlichkeit theoretisch-konzeptionell übereinstimmen kann. Wenn man den Zusatz weglässt, kann die Frage einen anderen Sinn haben. Der Rechtsstaat chinesischer Prägung kann nämlich empirisch verstanden werden, also so verstanden, wie er in der gegenwärtigen rechtlichen und politischen Wirklichkeit zum Ausdruck kommt. Dann wird die Frage seiner Vereinbarkeit mit der wohlverstandenen Rechtsstaatlichkeit wohl weitgehend verneint, und zwar, wie oben bemerkt, unabhängig davon, von welcher Rechtsstaatskonzeption man ausgeht. Diese Frage wird also intellektuell relativ uninteressant, obwohl sie politisch wichtig sein kann. Zu häufig wird verkannt, dass diese Frage zwei verschiedene Bedeutungen haben kann, dass der Begriff Rechtsstaat chinesischer Prägung auf zwei verschiedenen epistemologischen Ebenen, nämlich einmal der normativen und zum anderen der empirischen Ebene, angesiedelt werden kann. Die Grenze zwischen den beiden Ebenen wird oft verwischt, und zwar zugunsten der empirischen Ebene. Damit verpasst man die Chance zu einer differenzierten, tiefer gehenden theoretisch-konzeptionellen Reflexion und Diskussion. In der Verkennung der Grenze besteht auch ein Grund für die eingangs besprochene Diskrepanz zwischen den chinesischen Selbstbekundungen und den Fremdbeschreibungen. Diese werden den normativen Komponenten der chinesischen Selbstbekundungen häufig nicht gerecht. Etwas Normatives und Zukünftiges wird als oder durch etwas Empirisches und Gegenwärtiges verstanden oder interpretiert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Wirklichkeitsanalyse zwar wichtig, das Überdenken der theoretisch-konzeptionellen Grundlagen zurzeit aber noch wich tiger ist. Freilich braucht man in Bezug auf Recht und Politik in China mehr Forschung über staatliche und parteiliche Detailregelungen, -entscheidungen und -maßnahmen sowie über die rechtliche und politische Wirklichkeit. Noch dringender nötig ist jedoch die Forschung, die zum einen von Realität auf Normativität und zum anderen vom von Staatsorganen geschaffenen Recht auf das ihnen übergeordnete Verfassungsrecht und die sie orientierenden Leitbilder umstellt. Die beiden Umstellungen schaffen mehr Raum, einen breiteren Horizont und bessere Bedingungen für theoretische Reflexion über konventionelle Deutungsmuster und über rechtliche
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und politische Grundbegriffe und -prinzipien. Sie bedeuten zusammen die Umstellung von Realität auf Theorie, und zwar eine Theorie über etwas Normatives. Sie lenken den Blick von der fehlenden Rechtsstaatlichkeit in der Realität auf die Rechtsstaatlichkeit als normatives Leitbild.
III. Theorie über etwas Normatives statt Theorie der Realität In der westlichen Forschung über die Rechtsstaatlichkeit in China mangelt es weitgehend an dieser Umstellung und diesem Blickwechsel. Es gibt wenige Autoren, die sich intensiv mit den theoretisch-konzeptionellen Grundlagen auseinandersetzen. Auch sie stellen kaum konsequent von Realität auf Theorie um. Meistens stellen sie keine Theorie über etwas Normatives auf, die hier gewünscht wird, sondern eine Theorie der Realität, obwohl die letztere gleichfalls wichtig ist und möglicherweise zur Erarbeitung der ersteren beitragen kann. Peerenboom etwa entwirft einen begrifflichen Rahmen für die Erörterung der Rule of Law. Dieser Rahmen hat zuerst eine Struktur konzentrischer Kreise. Um den Kreis einer schwachen Konzeption (a thin conception) der Rule of Law herum liegt der größere Kreis einer starken Konzeption (a thick conception). Zu den Spielarten der letzteren, die sich alle von der Rule by Law unterscheiden, gehören dann ein liberal-demokratischer, ein kommunitarischer, ein neoautoritärer und ein etatistisch-sozialistischer Typ der Rule of Law.30 Peerenbooms konzeptionelle Reflexion vollzieht sich dennoch im Rahmen seiner Analyse der Rechtswirklichkeit. Diese Analyse soll die These bestätigen, dass China sich im Übergang zur Rule of Law befindet. Die hier vermisste theoretischkonzeptionelle Reflexion, die ein größeres Reflexionspotenzial verspricht, bezieht sich aber nicht auf die verwirklichte oder entstehende oder fehlende Rechtsstaatlichkeit in der gegenwärtigen oder prognostizierten zukünftigen Realität, sondern auf die Rechtsstaatlichkeit chinesischer Prägung als verfassungsrechtliches Konzept und normatives Leitbild. Dieser Vorgehensweise ist Backers Erarbeitung einer Theorie des chinesischen Rechts- und Verfassungsstaates mit dem Einparteiensystem vom methodischen Ansatz her insofern ähnlich,31 als er sagt: „The article has not suggested that such constitutionalism [damit ist der einparteiliche Verfassungsstaat gemeint] is as yet deeply embedded or adequately practiced throughout the Chinese governance system. Still, theory is important […]. Issues of implementation, crucial to the maturing of the Chinese political system, do not serve as a substitute for a theory of Chinese constitutionalism. Nor should it necessarily serve as an indictment of its failures as a rule of law system. The American experience suggests the difficulties of transposing constitutional ideals into applied governance. The two aspects of constitutionalism are important, but not the same thing.“32
In der Umsetzung dieses Ansatzes erkennt und nutzt Backer aber nicht in genügendem Maße das in diesem Ansatz enthaltene Potenzial der kontrafaktischen Interpre Peerenboom (Fn. 2 ), 65 ff. Diese methodische Ähnlichkeit bedeutet keine inhaltliche Übereinstimmung. 32 Backer (Fn. 11), 402 f. 30 31
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tation der chinesischen Verfassung sowie chinesischer politischer und rechtlicher Leitbilder. Er orientiert sich zu sehr an der gegenwärtigen Gestalt, in der er die Führungsrolle der KP Chinas annimmt, so dass die von ihm selbst anerkannte Differenz zwischen der normativen Verfassung und der tatsächlichen Praxis zugunsten der Letzteren wieder verwischt zu werden droht.
C. Verbindung von allgemeiner Theorie und Chinaforschung Oft wendet man ein allgemeines Rechtsstaatsprinzip oder eine allgemeine Rechtsstaatstheorie als fertigen Maßstab einfach auf Verhältnisse in China oder anderen Schwellen-, Entwicklungs- oder nichtwestlichen Ländern an, ohne vorher oder gleichzeitig über einen solchen Maßstab zu reflektieren oder über die Rückwirkung solcher Verhältnisse auf ihn nachzudenken. In letzter Zeit ist zwar zunehmend Interesse an einer solchen Reflexion entstanden,33 Sinn und Bedeutung der Verbindung von allgemeiner Theorie und Chinaforschung bezüglich der Rechtsstaatlichkeit sind aber weder in genügender Schärfe herausgestellt noch in der Wissenschaft allgemein erkannt, anerkannt und berücksichtigt worden. Im Folgenden geht es darum, Sinn und Bedeutung dieser Verbindung zu explizieren. Es wird deutlich gemacht, dass diese Verbindung keine Einbahnstraße, sondern ein dialektisches, wechselseitig bedingendes und verstärkendes Verhältnis darstellt. Zuerst ist auf die Bedeutung einer allgemeinen Theorie für die Chinaforschung einzugehen. Dann wird umgekehrt nach der Bedeutung der Chinaforschung für eine allgemeine Theorie gefragt.
I. Kontextübergreifende Allgemeinheit trotz kontextspezifischer Besonderheiten Fragen zur chinesischen Rechtsstaatlichkeit können nur fundiert beantwortet werden, wenn gängige allgemeine Deutungsmuster über den Rechtsstaat sorgfältig überprüft werden und wenn über den Rechtsstaat überhaupt gründlich nachgedacht wird. Darauf deutet vor allem die in der theoretisch-konzeptionellen Reflexion zentrale Frage hin, ob der behauptete Rechtsstaat chinesischer Prägung theoretisch-konzeptionell mit dem wohlverstandenen Rechtsstaat übereinstimmen kann. Denn soll diese Frage überhaupt Sinn ergeben, kann sich die Deutung des wohlverstandenen Rechtsstaates letztlich nicht an je spezifischen rechtsstaatlichen Ausgestaltungen oder Anforderungen in einzelnen Ländern oder Gruppen von Ländern orientieren. Sie muss – aus der Perspektive des jeweiligen Interpreten – auf einen kontextübergreifenden allgemeinen Rechtsstaatsgehalt abgestellt sein.
33 Vgl. etwa Peerenboom, Varieties of Rule of Law: An Introduction and Provisional Conclusion, in: ders. (Hrsg.), Asian Discourses of Rule of Law, 2004, 1 ff.; speziell in Bezug auf den Verfassungsstaat vgl. Li-Ann Thio, Constitutionalism in Illiberal Polities, in: Michel Rosenfeld/András Sajó (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, 2012, 133 ff.; außerdem verschiedene Beiträge in: Tom Ginsburg/Alberto Simpser (Hrsg.), Constitutions in Authoritarian Regimes, 2014.
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1. Beschränkung auf die Unterscheidung verschiedener Varianten des Rechtsstaates? Der Rückgriff auf einen allgemeinen Rechtsstaatsgehalt oder eine allgemeine Theorie, die sich mit ihm befasst, wird aber hin und wieder mit dem Vorwurf belastet, dass er im Grunde Werte, Normen und Institutionen westlicher Länder, die stark von deren eigentümlichen historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten geprägt sind, als allgemeingültig ausgebe und nichtwestlichen Ländern wie etwa China oktroyieren wolle. Anscheinend wird man (in der Tat aber nur vorerst) nicht mit diesem Vorwurf konfrontiert, wenn man statt von einem einheitlichen, allgemeinen Rechtsstaatsbegriff nur von verschiedenartigen Varianten, Konzeptionen oder Formen des Rechtsstaates spricht. Zum Beispiel kann man der westlichen Rechtsstaatlichkeit die chinesische Rechtsstaatlichkeit gegenüberstellen.34 Innerhalb der westlichen Länder kann der deutsche Rechtsstaat und die anglo-amerikanische Rule of Law voneinander unterschieden werden. Was die letztere angeht, kann wiederum zwischen der englischen und der US-amerikanischen Rule of Law unterschieden werden. Man kann aber auch abstrakter vorgehen und in einer allgemeinen Theorie eine Typologie der Rechtsstaatlichkeit entwickeln. So lässt sich etwa zwischen einer liberalen und einer illiberalen Rechtsstaatlichkeit oder noch feiner zwischen einer liberal-demokratischen, einer kommunitarischen, einer neoautoritären und einer etatistisch-sozialistischen Rule of Law unterscheiden.35 Wie einleuchtend und sinnvoll solche Unterscheidungen an sich auch sein mögen, können sie die Problematik eines einheitlichen allgemeinen Rechtsstaatsbegriffs nicht aus der Welt schaffen, sondern nur auf eine andere Ebene oder an eine andere Stelle verschieben und damit vorübergehend invisibilisieren. Sie können den Vorwurf des Westzentrismus oder Kulturimperialismus nur teilweise entschärfen. Herausforderungen, die dieser Vorwurf an eine Rechtsstaatstheorie stellt, können sie allein nicht in einem zufriedenstellenden Maße bewältigen. Denn solche Unterscheidungen müssen entweder einen ihnen übergeordneten allgemeinen Rechtsstaatsbegriff oder -gehalt voraussetzen oder können uns immerhin nicht für immer vor der Konfrontation mit den Fragen hüten, die sich ihrerseits nur mithilfe eines allgemeinen Rechtsstaatsbegriffs oder -gehalts beantworten lassen, es sei denn, dass man eine radikale Position bezieht, die sich nur schwer konsequent aufrechterhalten lässt. Ein kontextübergreifender allgemeiner Rechtsstaatsgehalt wird vorausgesetzt, wenn man bei der Kategorisierung in unterschiedliche Varianten des Rechtsstaates von ihrer Zuordnung zur gemeinsamen Oberkategorie Rechtsstaat und damit zusammenhängend von ihrer begrifflich notwendigen Verbindung ausgeht. Häufig So etwa Katrin Blasek, Rule of Law in China: A Comparative Approach, 2015. Vgl. zur Unterscheidung vom liberalen und illiberalen Verfassungsstaat Thio (Fn. 33), 133 ff.; zur Unterscheidung von hier genannten vier Typen der Rule of Law Peerenboom (Fn. 2 ), 71 ff. Thio (Fn. 33), 134 geht aber davon aus, dass liberaler und illiberaler Verfassungsstaat beide Ausdrucksformen des Verfassungsstaates überhaupt sind. Nach Peerenboom (Fn. 2 ), 2, 64 ff. ist die rechtlich auferlegte sinnvolle Bindung des Staates und der staatlichen Akteuren die Kernbedeutung der Rule of Law. Ihm zufolge stellen diese Kernbedeutung und eine schwache Konzeption (a thin conception) der Rule of Law den gemeinsamen Sockel der genannten vier Typen der Rule of Law dar. Die beiden Autoren setzen also bei der Kategorisierung in unterschiedliche Varianten des Verfassungs- oder Rechtsstaates doch einen einheitlichen, allgemeinen Gehalt des Verfassungs- oder Rechtsstaates voraus. Eine solche methodisch-konzeptionelle Voraussetzung wird gleich unten erläutert. 34 35
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wird außer Acht gelassen, dass etwas, das ihnen inhaltlich gemeinsam und für sie alle konstituierend sein soll, sie erst begrifflich verbindet und in die Oberkategorie Rechtsstaat eingliedert. Diesen gemeinsamen Nenner kann man den Kerngehalt des Rechtsstaates nennen. Verschiedene Varianten des Rechtsstaates stellen Konkretisierungen und Entfaltungen seines Kerngehalts in verschiedenen geschichtlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten dar. Manchmal lassen sie sich sogar als im jeweiligen Kontext angemessene Lösungen für die Verwirklichung des Kerngehalts bewerten. Dieser Kerngehalt ist die Einheit, die das Unterschiedene zusammenführt und ihrerseits durch das Unterschiedene geprägt wird. Die Besonderheit der Varianten und die Allgemeinheit des Kerngehalts schließen einander nicht aus. Sie sind nicht nur kompatibel, sondern auch konstitutiv aufeinander bezogen und komplementär miteinander vermittelt. Unter diesen Umständen impliziert die Kategorisierung in unterschiedliche Varianten des Rechtsstaates, wenn auch oft unausgesprochen oder sogar unbewusst, die Beantwortung des folgenden Fragenpaars. Bei diesem Fragenpaar geht es darum, eine behauptete Variante des Rechtsstaates einer Prüfung zu unterziehen. Die erste Frage ist, ob sich eine behauptete Variante als echte, anerkennungswürdige Variante des Rechtsstaates qualifizieren und kategorisieren lässt. Die zweite Frage ist, ob sich eine behauptete Variante dem wohlverstandenen Rechtsstaat berechtigterweise zuordnen lässt. Die beiden Fragen hängen voneinander ab. Sie sind zwei Seiten einer gleichen Medaille. Die Antwort auf die eine impliziert die Antwort auf die andere. Der Schlüssel für die Beantwortung der beiden Fragen liegt im allgemeinen Kerngehalt des Rechtsstaates. Die beiden Fragen werden bejaht, wenn sich eine zu prüfende Variante als mit dem Kerngehalt des Rechtsstaates übereinstimmend und als seine tragfähige Konkretisierung erweist. Wenn das nicht der Fall ist, wird sie aus der Oberkategorie Rechtsstaat ausgeschlossen. Gleichzeitig werden ihr die Qualifikation und Bezeichnung als eine Variante des Rechtsstaates abgesprochen. Eventuell wird sie etwa der Rule by Law zugeordnet. Logisch impliziert die Kategorisierung in Varianten des Rechtsstaates diesen Prüfungsvorgang. In der Realität präsentiert man aber häufig nur das Ergebnis der Kategorisierung, ohne den Prüfungsvorgang systematisch zu durchlaufen oder darzulegen. Unter diesen Umständen kann nur umgekehrt vom gegebenen Ergebnis der Kategorisierung auf die Bejahung oder Verneinung des Fragenpaars zurückgeschlossen werden. Freilich kann der Kerngehalt des Rechtsstaates unterschiedlich verstanden und definiert werden. Dadurch wird seine kontextübergreifende Allgemeinheit aber nicht widerlegt. Denn wer bei der Kategorisierung in Varianten des Rechtsstaates von ihrer Zuordnung zur Oberkategorie Rechtsstaat ausgeht, setzt Einheit in Vielfalt voraus. Er muss dann den einheitsstiftenden Kerngehalt des Rechtsstaates, wie dieser von ihm verstanden wird, als gemeinsames Substrat verschiedener Varianten des Rechtsstaates ansehen. Selbst wenn ein faktisch allgemein anerkannter Kerngehalt nicht vorhanden ist, muss es konsequenterweise aus der Perspektive der jeweiligen Person, die die Kategorisierung vornimmt, einen normativ anerkennungswürdigen Kerngehalt mit einer kontextüberschreitenden Geltung geben. Ein allgemeiner Rechtsstaatsgehalt, welchen Inhalt er auch immer haben mag, ist also eine unentbehrliche normative, kontrafaktische Unterstellung in der kommunikativen und sozialen Praxis.
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2. Eine rein deskriptive Beschreibung? Bei der Unterscheidung von Varianten des Rechtsstaates kann es aber eine andere, rein deskriptive Vorgehensweise geben. Es kann vorkommen, dass man vermeiden will, die Welt durch die eigene Brille zu sehen. In der Erwartung von mehr Objektivität und Neutralität will man Varianten des Rechtsstaates, wie sie in der Realität anzutreffen sind, darstellen und nicht nach eigenen normativen Vorstellungen einund aussortieren und kategorisieren. Es wird nicht von der Zuordnung verschiedener Varianten zu einem gemeinsamen substantiellen Oberbegriff ausgegangen. Es kann sich durchaus um den gleichen Namen Rechtsstaat ohne allgemeinen, gemeinsam geteilten Gehalt handeln. Das in der vorigen Vorgehensweise implizierte Fragenpaar, das die Zuordnung einer anerkennungswürdigen Variante des Rechtsstaates zum wohlverstandenen Rechtsstaat betrifft, stellt sich (vorerst) nicht. Eine normative Bewertung einer vorgefundenen Variante des Rechtsstaates ist aber manchmal schon in den Ausführungen, die der rein deskriptiven Vorgehensweise zu folgen behaupten, versteckt und lässt sich aus ihnen herauslesen. In solchen Fällen wird sie nicht offengelegt, sondern durch die behauptete objektive und neutrale Vorgehensweise verdeckt. Hinter einer scheinbar gleichgeordneten Gegenüberstellung von der chinesischen Variante und der westlichen Variante des Rechtsstaates versteckt sich nicht selten etwa die normative Bewertung, dass die erstere der letzteren gegenüber nicht gleichwertig oder gar kein echter Rechtsstaat ist. Es kann hier dahin stehen, ob die rein deskriptive Vorgehensweise überhaupt konsequent durchgeführt werden kann und ob mit ihr mehr Objektivität und Neutralität gewonnen werden kann. Fest steht jedenfalls, dass mit ihr eine normative Bewertung einer vorgefundenen Variante des Rechtsstaates, wenn nicht verdeckt, doch nur zurückgestellt, nicht für immer ausgeschlossen wird. Weil das menschliche Interesse nicht nur darin liegt, sich über das Weltgeschehen zu informieren, sondern auch darin, es bewertend zu analysieren, stellt sich bestimmt irgendwo und irgendwann das erwähnte, vorerst beiseitegelassene Fragenpaar oder eine ihm ähnliche Frage der Gleichwertigkeit: Entweder wird gefragt, ob sich eine zu bewertende Variante des Rechtsstaates, wie etwa der Rechtsstaat chinesischer Prägung, dem wohlverstandenen Rechtsstaat plausibel zuordnen lässt und ob es sich bei ihr um eine anerkennungswürdige Variante des Rechtsstaates handelt, oder man ist daran interessiert, ob sie einer anderen, bereits als anerkennungswürdig angenommenen Variante des Rechtsstaates, wie etwa einem westlichen Typ des Rechtsstaates, gleichwertig ist. Das Fragenpaar bei der ersten Alternative kann, wie erläutert, nur mithilfe eines allgemeinen Kerngehalts des Rechtsstaates beantwortet werden. Auf ihn ist auch bei der Beantwortung der Frage der Gleichwertigkeit bei der zweiten Alternative zurückzugreifen. Denn es geht bei dieser Frage um einen Vergleich zwischen einer zu bewertenden und einer bereits positiv bewerteten Variante des Rechtsstaates. Die letztere muss sich als solche dadurch ausweisen können, dass sie einen allgemeinen Kerngehalt des Rechtsstaates angemessen konkretisiert. Bei der Beurteilung, ob die erstere der letzteren gleichwertig ist, sollte man daher nicht über die Frage hinweggehen, ob sie ihrerseits auch in tragfähiger Weise diesen Kerngehalt
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konkretisiert, obwohl es auch falsch zu sein scheint, die Beurteilung ausschließlich von dieser Frage abhängig zu machen.36 In Diskussionen über den Rechtsstaat und seine weltweiten Varianten, darunter auch über den chinesischen Rechtsstaat und seinen Vergleich mit anderen Varianten des Rechtsstaates kann also nicht ganz auf einen einheitlichen allgemeinen Rechtsstaatsgehalt verzichtet werden. In vielen Fällen ist der Rückgriff auf ihn sogar notwendig. Für solche Diskussionen ist deshalb von großer Bedeutung, in einer allgemeinen Rechtsstaatstheorie oder anderen passenden Zusammenhängen den kontextübergreifenden allgemeinen Rechtsstaatsgehalt zu verdeutlichen oder zu klären.
3. Ein radikaler Partikularismus oder Kontextualismus? Um die Bedeutung eines allgemeinen Rechtsstaatsgehalts und der entsprechenden allgemein-theoretischen Behandlung noch bestreiten zu können, bleibt nun nur eine Möglichkeit übrig. Diese besteht darin, die besprochene Kompatibilität und Komplementarität von Allgemeinheit und Besonderheit abzulehnen und einen radikalen, reinen Partikularismus oder Kontextualismus zu vertreten.37 Dieser geht von der richtigen Prämisse aus, dass jede normative Vorstellung in einem konkreten, spezifischen gesellschaftlichen, kulturellen und sprachlichen Kontext artikuliert wird. Daraus wird aber dann die zweifelhafte radikale Schlussfolgerung gezogen, dass jede normative Vorstellung in einem solchen Kontext fest verankert ist und in ihm gefangen bleibt. Ihre Begründung ist auf ihn angewiesen. Ihre normative Geltung ist an ihn gebunden. Ihr Inhalt lässt sich ohne Verzerrung nur unter seiner Einbeziehung verstehen und interpretieren. Sie ist einzigartig und unvergleichbar, selbst wenn sie in der Übersetzung den gleichen Namen – wie etwa den Rechtsstaat oder die Rule of Law – trägt wie eine andere normative Vorstellung in einem anderen Kontext. Die kontextüberschreitende Normativität ist, in welcher Art und in welchem Umfang sie sich auch immer darstellt, eine Illusion. Diese radikale Position konsequent zu vertreten ist aber mit einem hohen Preis verbunden. Auf viele Anliegen, Bestrebungen und Vorhaben, die wir in unserer kommunikativen, sozialen und wissenschaftlichen Praxis schätzen, müssen wir verzichten. Nicht nur werden der Suche und Diskussion von etwas Allgemeinem im Bereich des Normativen ihr Sinn und ihre Legitimation abgesprochen, sondern selbst der Vergleich zwischen zwei oder mehreren Ländern, Gesellschaften oder Kulturen hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede wird ein dubioses Geschäft. Konsequent gedacht sind nicht nur die chinesische und „die westliche“ 36 Selbst wenn sich die Gleichwertigkeit von zwei Rechtsordnungen im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip nicht feststellen lässt, sollte man noch fragen, ob sich die Gleichwertigkeit aus einer allgemeineren Perspektive, wie etwa der Perspektive der Gerechtigkeit oder Menschlichkeit, unter Berücksichtigung der jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen doch bejahen lässt. 37 Vgl. zum Kontextualismus Keith DeRose, The Case for Contextualism: Knowledge, Skepticism and Context, Vol. 1, 2009; Richard Rorty, Contingency, Irony and Solidarity, 1989; ders., Sind Aussagen universelle Geltungsansprüche?, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42 (1994), 975 ff.; vgl. außerdem zur Kritik am Kontextualismus Thomas Göller, Sind Kulturen und kulturelle Realitätssichten inkommensurabel?, in: Matthias Kaufmann (Hrsg.), Wahn und Wirklichkeit – Multiple Realitäten: Der Streit um ein Fundament der Erkenntnis, 2003, 269 ff.
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Rechtsstaatlichkeit, sondern auch die deutsche Rechtsstaatlichkeit und die US-amerikanische Rule of Law miteinander nicht vergleichbar. Von „der westlichen“ Rechtsstaatlichkeit als einer allgemeinen Kategorie, die sich über verschiedene Kontexte in westlichen Ländern spannt, kann ja nicht die Rede sein. Gegen die These der Unvergleichbarkeit zwischen verschiedenen Ländern, Gesellschaften und Kulturen spricht außerdem, dass es unter dieser Prämisse schwer einzusehen ist, warum sie voneinander lernen sollen und können. Das wird aber weltweit allgemein geschätzt. Selbst wenn die chinesische KP und Regierung chinesische Charakteristika der Rechtsstaatlichkeit hervorheben und es ablehnen, rechtsstaatliche Ideen und Modelle anderer Länder unreflektiert und undifferenziert zu übernehmen, bekräftigen sie gleichzeitig ihre Bereitschaft, von nützlichen rechtsstaatlichen Erfahrungen anderer Länder zu lernen.38 Wer – wie es wohl überwiegend der Fall ist – die genannten unbehaglichen Konsequenzen des reinen Partikularismus oder Kontextualismus nicht akzeptieren will, dem bleibt nichts anderes, als kontextübergreifende Allgemeinheit und kontextspezifische Besonderheit irgendwie miteinander zu verbinden und zu vermitteln und neben je partikulären rechtsstaatlichen Ausprägungen in vielfältigen Kontexten einen allgemeinen Rechtsstaatsgehalt anzuerkennen. Der Rückgriff auf ihn und die Beschäftigung mit ihm sind notwendig und unverzichtbar in der theoretisch-konzeptionellen Reflexion über die chinesische Rechtsstaatlichkeit. Der Vorwurf des Westzentrismus oder Kulturimperialismus, den ein allgemeiner Rechtsstaatsgehalt nach sich ziehen kann, lässt sich daher nicht durch dessen Auf hebung zerstreuen. Die Lösung besteht vielmehr in seiner angemessenen, unvoreingenommenen und fundierten Bestimmung und – nicht weniger wichtig – seiner angemessenen, kontextsensiblen Anwendung.39 Dabei sind unter anderen drei Sachen von großer Bedeutung: die Infragestellung eines zeitlosen universalen Rechtsstaatsgehalts, der Rückgriff auf den Kerngehalt des Rechtsstaates und das dialektische Verhältnis von allgemeiner Theorie und länderspezifischer Forschung, im hiesigen Zusammenhang also Chinaforschung.
II. Infragestellung eines zeitlosen universalen Rechtsstaatsgehalts Häufig wird dem Rechtsstaatsprinzip eine ubiquitäre und zeitlose Geltung unterstellt. Eine solche Geltung wird gemeinhin als normative Universalität bezeichnet. Diese Annahme kann aber in Frage gestellt werden – und das ist nicht unplausibel. Denn die Rechtsstaatlichkeit lässt sich als ein Aspekt oder eine Konsequenz der Ausdifferenzierung des Rechtssystems in der funktional differenzierten modernen Ge38 Siehe unter anderem den Abschnitt „Beharren darauf, von der chinesischen Realität auszugehen“ im Teil 1 des Kommuniqués des 4. Zentralkomitee-Plenums des 18. Parteitags; vgl. zur chinesischen Position zum wechselseitigen Austausch und Lernen zwischen Zivilisationen überhaupt die Rede des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping auf der Generaldebatte der 70. UN-Vollversammlung, online verfügbar unter http://gadebate.un.org/sites/default/files/gastatements/70/70_ZH_en.pdf (abgerufen am 10.11.2016). 39 Die Bestimmung des allgemeinen Rechtsstaatsgehalts und seine kontextbezogene Anwendung sind aber aufeinander angewiesen. Das wird unten noch näher dargelegt werden.
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sellschaft betrachten.40 Davon ausgehend kann man argumentieren, dass nicht nur die faktische Wirksamkeit, sondern auch die normative Geltung des Rechtsstaatsprinzips von bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen oder, genauer, von der Existenz oder Entstehung der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft abhängt.41 Seine Normativität ist dann zeitgebunden. In der traditionellen Gesellschaft geht es etwa im Gericht nicht selten weniger um das Festhalten an legitimen normativen Erwartungen und ihren Schutz, also eine für die Rechtsstaatlichkeit unverzichtbare Aufgabe. Vielmehr steht die Auslotung konsens-, lebens- und durchsetzungsfähiger Lösungen oft im Mittelpunkt.42 Berücksichtigt man die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen das geschieht, kann man sagen, dass das nicht ohne Grund geschieht und nicht einfach vom Standpunkt der modernen Gesellschaft aus als rechtsstaatswidrig zu verwerfen ist. Unter dieser Betrachtungsweise ist die Güte einer traditionellen Gesellschaftsordnung nicht am Rechtsstaatsprinzip als Gesamtpaket, das viele Anforderungen an Normen, Institutionen und Verfahren stellt, zu messen.43 Ihr kann eine Legitimation eigener Art zukommen. Das bedeutet aber nicht, dass das Rechtsstaatsprinzip nicht kontextübergreifend gelten kann. Es gilt schließlich für moderne Gesellschaften, in denen die funktionale Differenzierung existiert, und für Übergangsgesellschaften, die im Zeichen der Entstehung der funktionalen Differenzierung zu modernen Gesellschaften fortschreiten. Es gibt also einen allgemeinen Rechtsstaatsgehalt, der sich in solchen Gesellschaften durch besondere Ausprägungen konkretisiert. Zurückgewiesen wird lediglich ein absolut universaler Rechtsstaatsgehalt, der von allen Kontexten abstrahiert, überall und zeitlos gilt und sowohl auf moderne Gesellschaften als auch auf traditionelle Gesellschaften bezogen ist. Er geht bei der Verallgemeinerung zu weit. Ihm wird Anachronismus vorgeworfen. Diese kurzen Ausführungen sollen zeigen, dass die Infragestellung eines zeitlosen universalen Rechtsstaatsgehalts nicht unbegründet und deswegen bei der theoretisch-konzeptionellen Reflexion über den Rechtsstaat ernsthaft zu erwägen ist. Eine solche Erwägung kann von großer Bedeutung für die Beschäftigung mit der chinesischen Rechtsgeschichte und mit dem chinesischen Transformationsprozess von einer traditionellen zu einer modernen Gesellschaft sein. Entsprechend wird hier statt von einem universalen durchweg von einem kontextübergreifenden oder allgemeinen Rechtsstaatsgehalt gesprochen.44 Auf diese Problematik kann hier im Rahmen der methodischen Reflexion aber nicht näher eingegangen werden. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, 422 f. Näher dazu Yang (Fn. 8 ), 390 ff. 42 Luhmann (Fn. 4 0), 160 f., 167 f.; speziell bezüglich des alten Chinas Teng-Chieh Yang, Rechtstheoretische Grundlagen und gesellschaftliche Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit: Aus der Perspektive der Ausdifferenzierung des Rechts betrachtet, 2013, 174 f. 43 Einen anderen Weg gehen etwa Brian Z. Tamanaha, The Rule of Law and Legal Pluralism in Development, Hague Journal on the Rule of Law 3 (2011), 1 ff.; Matthias Kötter/Gunnar Folke Schuppert, Rule of Law: Leitbild und Maßstab auch jenseits des staatlichen Rechts, VRÜ 47 (2014), 369 (377 ff.). Dort wird eine traditionelle Gesellschaftsordnung auch im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit oder Rule of Law diskutiert und bewertet. 44 Eine andere Strategie verfolgt der Verfasser in einem anderen Aufsatz, vgl. Yang (Fn. 8 ), 394 f. Dort wird zwar die zeitlose Universalität des Rechtsstaatsprinzips bestritten, seine kontextbezogene Universalität aber bejaht. Weil die Universalität gemeinhin die völlige Kontextunabhängigkeit bedeutet, 40 41
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III. Rückgriff auf den Kerngehalt des Rechtsstaates Beim Kerngehalt des Rechtsstaates soll es sich um einen Grundgedanken höchsten Abstraktionsgrades oder eine noch nicht ausgeformte Leitidee handeln. Diese Leitidee soll sehr unspezifisch und konkretisierungsfähig und -bedürftig sein. Damit sie in einem konkreten Kontext operationalisiert und für die Bewältigung konkreter Probleme leistungsfähig werden kann, muss sie noch in Form gebracht und in Gestalt von ausdifferenzierten Normen und Institutionen institutionalisiert werden. Mit dieser Eigenschaft ist der Kerngehalt des Rechtsstaats in der Lage, sich über verschiedene gesellschaftliche und kulturelle Kontexte zu spannen. Er lässt sich zudem nicht nur als gemeinsamer Kern unterschiedlicher Ausprägungen des Rechtsstaates in verschiedenen Kontexten, sondern auch als Kern des kontextübergreifenden allgemeinen Rechtsstaatsgehalts betrachten. Damit spaltet sich der allgemeine Rechtsstaatsgehalt in zwei Teile auf, nämlich in denjenigen, welcher den Kerngehalt bildet, und denjenigen, welcher zwar noch kontextübergreifend gültig ist, aber nicht zum Kerngehalt gehört. Wie oben erläutert, ist der Kerngehalt des Rechtsstaates eine normative, kontrafaktische Unterstellung. Diese Aussage kann allgemein auf einen allgemeinen Rechtsstaatsgehalt bezogen sein. Er kann also ohne Einbuße an seiner Allgemeinheit unterschiedlich verstanden und definiert werden. Ein faktischer Konsens ist keine notwendige Voraussetzung für seine Formulierung und Begründung. Mit der Frage nach dem Kerngehalt des Rechtsstaates befindet man sich jedoch auf der abstraktesten Ebene. Folglich muss man zwar nicht, kann sich aber zur Beantwortung dieser Frage auf einen breiten Konsens trotz des unterschiedlichen Rechtsstaatsverständnisses in anderen Hinsichten stützen.45 Diese Frage ist viel weniger umstritten als die Frage nach anderen allgemeinen Elementen des Rechtsstaates, die nicht zum Kerngehalt gehören. Die Frage nach diesem Kerngehalt soll hier zwar nicht als begrifflich-konzeptionelle Frage ausführlich behandelt werden, zum Zwecke der methodischen Diskussion kann aber in Übereinstimmung mit einem breiten Konsens eine vorläufige kurze Antwort gegeben werden: Der Kerngehalt des Rechtsstaates besteht in der Bindung der öffentlichen Gewalt an das Recht.46 Die Aufspaltung des allgemeinen Rechtsstaatsgehalts in einen Kerngehalt und andere kontextübergreifende Elemente leistet einen wichtigen Beitrag zu seiner kritischen und fundierten Bestimmung. Anhand des wenig umstrittenen Kerngehalts sind andere allgemeine Elemente des Rechtsstaates zu überprüfen und zu begründen. Es wird gefragt, ob ein Postulat, wie etwa die Gewaltenteilung oder die Unabhängigkeit des Richters oder noch konkreter die Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit des Richters, eine notwendige, unerlässliche Konkretisierung oder Weiterentwickwird hier zur Vermeidung des Missverständnisses auf den Terminus Universalität verzichtet und stattdessen nur von kontextübergreifender Allgemeinheit gesprochen. 45 Darauf weisen Peerenboom und Reitz hin; siehe Peerenboom (Fn. 2 ), 2, 148; John C. Reitz, Export of the Rule of Law, Transnational Law & Contemporary Problems 13 (2003), 429 (435). 46 Vgl. zu diesem oder ähnlichen Gedanken Joseph Raz, The Rule of Law and its Virtue, in: ders., The Authority of Law, 1979, 212 f.; Reitz (Fn. 45), 435 f.; Brian Z. Tamanaha, On the Rule of Law: History, Politics, Theory, Cambridge 2004, 114 ff., 137 ff; Peerenboom (Fn. 33), 2; Dieter Grimm, Stufen der Rechtsstaatlichkeit: Zur Exportfähigkeit einer westlichen Errungenschaft, JZ 2009, 596 (596 f.).
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lung der Idee der Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt als Kerngehalt des Rechtsstaates darstellt und damit als allgemeines Rechtsstaatspostulat qualifiziert ist. Es wird gefragt, ob stattdessen jenes Postulat nur eine mögliche, aber nicht notwendige Konkretisierung des Kerngehalts ist und deshalb keine Allgemeinheit beanspruchen kann. Eine solche Prüfung hilft zu verhindern, ein Postulat, das hic et nunc gilt, unreflektiert und unkritisch als kontextübergreifendes allgemeines Element vorauszusetzen, wie etwa ein in westlichen Ländern anerkanntes Postulat unhinterfragt auf chinesische Verhältnisse anzuwenden. Eine kritische Funktion kommt dem Rückgriff auf den Kerngehalt des Rechtsstaates also nicht nur dort zu, wo es um die oben besprochene Prüfung der Anerkennungswürdigkeit einer Rechtsstaatsvariante geht, sondern auch dort, wo es um die Prüfung der Anerkennungswürdigkeit eines allgemeinen Rechtsstaatselements geht.
IV. Dialektisches Verhältnis von allgemeiner Theorie und Chinaforschung Das Problem, wie man den unverzichtbaren allgemeinen Rechtsstaatsgehalt angemessen und unvoreingenommen bestimmen kann, wird zwar durch Rückgriff auf den Kerngehalt des Rechtsstaates präzisiert, strukturiert, stärker reflektiert und zum Teil entschärft, aber nicht völlig gelöst. Denn selbst wenn man sich über eine grobe Umschreibung dieses Kerngehalts wie etwa als Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt weitgehend einig ist, kann die weitere Interpretation einer solchen Umschreibung umstritten sein. Es stellen sich zum Beispiel die Fragen, was man in der Rede von Rechtsbindung unter „Recht“ versteht, ob ungerechtes Recht auch darunter fällt, ob das Recht auch überpositive Normen wie etwa die Menschenrechte umfasst und ob es, selbst wenn überpositive Normen begrifflich aus dem Recht ausgeklammert werden, beim Rechtsstaatsprinzip um ein qualifiziertes Recht, um das Recht mit bestimmten Eigenschaften geht. Noch schwieriger scheint die Frage zu sein, wie man feststellt, ob ein zu prüfendes Postulat eine notwendige oder nur eine mögliche Konkretisierung des Kerngehalts darstellt. Die Notwendigkeit des Abschieds vom ptolemäischen,47 westzentrischen oder sogar deutschzentrischen Weltbild rückt heutzutage zwar immer stärker ins Bewusstsein, es bleibt aber eine zu bewältigende Aufgabe, zu verhindern, dass sich kontextspezifische Elemente in kontextübergreifende allgemeine Elemente einschleichen. Nicht selten wird die Lösung im Ausgriff auf etwas Allgemeines oder Universales jenseits gesellschaftlicher und kultureller Kontexte und oberhalb der gesellschaftlichen und kulturellen Vielfalt gesucht. Zum Beispiel werden die Menschenrechte oft als ein universales Rechtsstaatsgebot angesehen. Häufig wird gefordert, ihre Begründung von kulturspezifischen Elementen zu reinigen.48 Erst nach der kulturneutralen Begründung soll eine kontextsensible und -angemessene Auslegung und Umsetzung folgen. Ein solcher direkter Sprung in das Reich der Allgemeinheit oder Universali Christoph Schönberger, Verfassungsvergleichung heute: Der schwierige Abschied vom ptolemäischen Weltbild, VRÜ 43 (2010), 6 ff. 48 Etwa Otfried Höffe, Vernunft und Recht: Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, 1996, 61. 47
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tät läuft jedoch große Gefahr, dass man sich nicht genug vom eigenen oder vertrauten fremden Rechtssystem, das für vorzüglich oder sogar für vorbildlich gehalten wird, distanziert und dessen Vorstellungen unbemerkt zu allgemeinen Postulaten überhöht werden. Die fehlende Distanzierung vom eigenen System geschieht oft in westlichen entwickelten Ländern, die fehlende Distanzierung vom vertrauten fremden System dagegen in den Entwicklungs- oder Schwellenländern, in denen das Recht westlicher entwickelter Länder häufig als musterhaft angesehen wird. Eine vorschnelle Verallgemeinerung oder ein naiver Universalismus verfehlt das Ziel und wird schlimmer als Provinzialismus. Die erstere Einstellung führt letztlich zu einem beschränkten Horizont, in dem die letztere auch verharrt, ist aber im Gegensatz zu dieser zusätzlich von Übermut und Dünkel geprägt. Um dieser Gefahr entgegenzutreten, ist ein Zwischenhalt nötig, der einen direkten Sprung vom als vorzüglich geltenden Rechtssystem ins Reich der Allgemeinheit verhindert. Einen solchen Zwischenhalt bietet die Auseinandersetzung mit rechtlichen und politischen Vorstellungen und Normen anderer Länder, die relativ unvertraut sind oder nicht beachtet oder geschätzt werden, für westliche Länder etwa die Auseinandersetzung mit der chinesischen Rechtsstaatlichkeit als normativer Kategorie. Diese Auseinandersetzung kann als Irritation durch das Fremde oder Unbekannte dienen und neue Fragestellungen und Denkhorizonte eröffnen, die sich sowohl auf das als vorzüglich vorausgesetzte Rechtssystem wie auch auf eine allgemeine Rechtsstaatstheorie beziehen. Sie kann das aber nur, wenn man das Andersartige nicht vorschnell in eine vorgegebene allgemeine Schablone presst, wenn man eine allgemeine Rechtstheorie nicht einfach als fertigen wissenschaftlichen Bestand auf das Andersartige anwendet,49 sondern in dessen Welt eintaucht und dessen Vorstellungen und Argumentationen ernst nimmt. Dieses Ernstnehmen bedeutet, dass man nicht lediglich von der Warte des Beobachters über das Andersartige sprechen sollte.50 Die Begegnung mit dessen Denken sollte eigenes Denken von innen heraus verwandeln dürfen.51 Durch einen solchen reflektierten Umgang mit dem Andersartigen kann man dann erkennen, welche und in welchem Umfang Lösungen des als vorzüglich geltenden Rechtssystems kontingent sind und nur mögliche, aber keine notwendige Konkretisierungen des Kerngehalts des Rechtsstaates darstellen. Vieles kann auch anders sein. Auf dieser Grundlage kann man eine unberechtigte Erhebung solcher Lösungen zu allgemeinen Postulaten, die auch für andere Rechtssysteme gelten sollen, kritisieren oder vermeiden. Vorstellungen und Argumentationen anderer Rechtssysteme können Denkanstöße zur Entwicklung einer besser fundierten allgemeinen Rechtsstaatstheorie liefern. Der allgemeine Rechtsstaatsgehalt ist folglich nicht oberhalb der gesellschaftlichen und kulturellen Vielfalt, sondern durch tiefe Einblicke in sie zu suchen. Erst durch tiefe Einblicke in die Vielfalt und Unterschiede, gewinnt man Einsicht in die Einheit und Allgemeinheit. Das nimmt viel Zeit und Geduld in Anspruch. Die allgemeine Rechtsstaatstheorie und die Forschung über rechtsstaatliche Vorstellungen Schönberger (Fn. 47), 18, 26. Mathias Obert, Begegnung mit der chinesischsprachigen Welt heute: Weder komparativ noch interkulturell!, Zeitschrift für Kulturphilosophie 3 (2009), 313 (316). 51 Obert (Fn. 50), 320 f. 49
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und Normen in einzelnen Ländern, darunter insbesondere auch die chinesische Rechtsstaatlichkeit, die sich in vielen Hinsichten von der westlichen Rechtsstaatlichkeit zu unterscheiden scheint, bilden kein einfaches Anwendungsverhältnis des allgemeinen Wissens in besonderen Umständen. Sie sind vielmehr dialektisch aufeinander bezogen. Die länderspezifische Rechtsforschung wie etwa die Forschung über die chinesische Rechtsstaatlichkeit als normative Kategorie bedarf der Anleitung durch eine allgemeine Rechtstheorie, die ihrerseits durch die länderspezifische Forschung kritisiert, korrigiert, verfeinert und weiterentwickelt werden soll. Es erfolgt nicht zuerst die inhaltliche Bestimmung des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips und dann seine kontextangemessene Anwendung. Sie sind vielmehr aufeinander angewiesen, bedingen und verstärken sich wechselseitig. Die Anwendung des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips setzt seinen allgemeinen Gehalt voraus, der aber durch die Anwendung verdeutlicht und verbessert werden soll. Wer sich theoretisch-konzeptionell mit der chinesischen Rechtsstaatlichkeit auseinandersetzen will, sollte diese wechselseitige Bedeutung von allgemeiner Theorie und Chinaforschung erkennen und berücksichtigen.
D. Theorie als Reflexionsmedium der Beschreibungsfolie und als Beitrag zur Praxis Gegen den hier vertretenen methodischen Ansatz, der den Blick von der fehlenden Rechtsstaatlichkeit in der chinesischen Realität auf die Rechtsstaatlichkeit als normatives Leitbild und zu verwirklichendes Projekt lenkt, könnte man einwenden, dass man damit nur über reine Theorie grübelt. Eine danach konstruierte kontrafaktische Vision über den Rechtsstaat chinesischer Prägung, wie immer ansprechend sie sein mag, ist nur eine Utopie und stillt nur ein rein intellektuelles Interesse. Die Antwort auf die Fragen, ob der Rechtsstaat chinesischer Prägung als verfassungsrechtliches Konzept und normatives Leitbild nach einer denkbaren tragfähigen Interpretation mit dem wohlverstandenen Rechtsstaat vereinbar sein und wie eine solche Interpretationsmöglichkeit aussehen kann, hat mit der Rechtswirklichkeit nichts zu tun, ist unrealistisch und nutzlos für die Praxis. Dieser Einwand hat aber eine falsche Vorstellung von der Rechtswirklichkeit und vom Verhältnis der Theorie zur Praxis.
I. Theorie als Reflexionsmedium der Beschreibungsfolie Die Rechtswirklichkeit präsentiert sich uns nur durch Beobachtung und Beschreibung. Der Begriff des Rechtsstaates dient als Beobachtungs- und Beschreibungsfolie, anhand derer man einen bestimmten Ausschnitt der Rechtswirklichkeit bestimmt und beschreibt. Eine Theorie über den Rechtsstaat chinesischer Prägung als normative Kategorie kann dann ihrerseits als Reflexionsmedium für diese Beschreibungsfolie dienen. Denn bei der Beschreibung der Rechtswirklichkeit, die im Zusammenhang der Rechtsstaatlichkeit gesehen wird, ist die Zuordnung, Klassifizierung oder Bewertung anhand eines kontextübergreifenden allgemeinen Rechtsstaatsbegriffs,
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wie oben ausgeführt, unvermeidlich und kann höchstens nur vorübergehend zurückgestellt, aber keinesfalls aus der Welt geschafft werden. Die angemessene Bestimmung eines solchen Begriffs ist ihrerseits, wie gerade besprochen, auf die Auseinandersetzung mit rechtsstaatlichen Vorstellungen und Normen in einzelnen Ländern, also auch auf die Auseinandersetzung mit dem Rechtsstaat chinesischer Prägung als normativer Kategorie angewiesen. Diese Auseinandersetzung und ihre Auswirkungen auf einen allgemeinen Rechtsstaatsbegriff können dann die Beschreibung der Rechtswirklichkeit prägen und beeinflussen. Die Führung durch die Kommunistische Partei etwa ist ein auffallendes Prinzip, das den sozialistischen Rechtsstaat chinesischer Prägung kennzeichnet oder mit ihm eng verbunden ist. Nur anscheinend rein theoretisch ist die Frage, ob dieses Prinzip in einer bestimmten Variante oder Form, die keine Wirklichkeit ist oder noch nicht zur Wirklichkeit wird, doch mit einer durchdachten Rechtsstaatskonzeption vereinbar sein kann.52 Je nachdem, welche Antwort man auf diese Frage gibt, können sich seine Beschreibung und Bewertung der gegenwärtigen oder prognostizierten zukünftigen rechtlichen und politischen Wirklichkeit in China ändern. Diejenigen, die diese Frage bejahen, werden diese Wirklichkeit positiver sehen als diejenigen, die diese Frage verneinen. Als ein anderes Beispiel kann das Verhältnis zwischen der Führungsrolle der Partei und der Unabhängigkeit der Rechtsprechung53 angeführt werden. Wer davon ausgeht, dass die beiden Prinzipien theoretisch-konzeptionell unter bestimmten Bedingungen miteinander vereinbar sein können, wird die chinesische Gegenwart und Zukunft im rechtsstaatlichen Sinn positiver einschätzen als derjenige, der diese Vereinbarkeit für unmöglich hält. Es ist deswegen keinesfalls so, dass eine kreative Beschäftigung mit Interpretationsmöglichkeiten des Rechtsstaates chinesischer Prägung als normativer Kategorie und im Zusammenhang damit des Rechtsstaates überhaupt mit der Rechtswirklichkeit nichts zu tun hat.
II. Theorie als Beitrag zur Praxis Trotzdem könnte man sagen, dass Überlegungen über eine kontrafaktische normative Vision des chinesischen Rechtsstaates höchstens als Reflexionsmedium für die Beschreibungsfolie der Rechtswirklichkeit dienen. Sie seien an sich wirklichkeitsfern und irrelevant für die Praxis. Sie seien nur Phantasievorstellungen eines Utopisten. 52 Vgl. zur Diskussion über das Verhältnis der Führungsrolle der Partei zur Rechtsstaatlichkeit Backer (Fn. 11); Peerenboom, Social Foundations of China’s Living Constitution, in: Tom Ginsburg (Hrsg.), Comparative Constitutional Design, 2012, 138 (155 ff.); Xin He, The Party’s Leadership as a Living Constitution in China, in: Constitutions in Authoritarian Regimes (Fn. 33), 245 ff.; Jacques deLisle, Law and Democracy in China: A Complex Relationship, in: Kate Xiao Zhou/Shelley Rigger/Lynn T. White III (Hrsg.), Democratization in China, Korea, and Southeast Asia?: Local and National Perspectives, 2014, 126 ff.; Pan Wei, Toward a Consultative Rule of Law Regime in China, in: Shisheng Zhao (Hrsg.), Debating Political Reform in China: Rule of Law vs. Democratization, 2006, 3 ff. 53 Vgl. dazu Zhu Suli, The Party and the Courts, in: Randall Peerenboom (Hrsg.), Judicial Independence in China: Lessons for Global Rule of Law Promotion, 2010, 52 ff.; Randall Peerenboom, Judicial Independence in China: Common Myths and Unfounded Assumptions, in: Judicial Independence in China (ebd.), 69 ff.
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Diese Auffassung lässt den Wert einer wissenschaftlichen Forschung von ihrem unmittelbaren Nutzen für die Praxis abhängen. Das ist schon problematisch. Ein anderer, noch schwerwiegenderer Irrtum dieser Auffassung besteht darin, dass sie die Bedeutung der Theorie für die Praxis verkennt. Eine kontrafaktische normative Theorie ist nicht notwendig kraftlos und wirkungslos in der Praxis. Sie bleibt nur irrelevant für die Praxis, wenn sich alle, die am Rechtssystem teilnehmen oder darüber kommunizieren, in der Realität verfangen und für theoretische Kreativität und Phantasie, die eine solche Theorie erfordert, nicht interessieren. Je mehr sie sich aber dafür interessieren und über eine solche Theorie kommunizieren, umso stärker kann eine solche Theorie das Potenzial entfalten, die Praxis zu orientieren oder konstruktiv zu beeinflussen. Eine Theorie über den Rechtsstaat chinesischer Prägung als normative Kategorie kann also einen wichtigen Beitrag zur Praxis leisten, sogar ein Teil der Praxis werden.
III. Wahrung der Normativität durch Kommunikation, nicht durch Effektivität Um den obigen Irrelevanz-Einwand vollständig zu entkräften, muss man tiefer gehen und sich mit der Normativitätsfrage befassen. Denn die Verkennung der Bedeutung der Theorie für die Praxis hängt mit der Verkennung der Normativität der Verfassung und des Rechts überhaupt zusammen.
1. Soziale Wirksamkeit und Normativität des Rechts Diese Verkennung nimmt ihren Ausgang vom seinerseits durchaus legitimen Ansatz, die Normativität des Rechts beziehungsweise der Verfassung nicht rein juristisch, sondern soziologisch oder wirklichkeitsbezogen aufzufassen. In der Rechtssoziologie weist man etwa mit der Unterscheidung von „law in books“ und „law in action“54 auf die Diskrepanz zwischen dem geschriebenen und gelebten Recht, zwischen Rechtsanspruch und Rechtswirklichkeit, zwischen dem, was im Text als Recht vorgeschrieben und verstanden wird, und dem, was im gesellschaftlichen Leben als tatsächlich wirksame Regeln praktiziert wird, hin. In der Verfassungstheorie gibt es bezüglich der Normativität der Verfassung auch Kategorisierungen und Begrifflichkeiten, die auf die tatsächliche Wirksamkeit der Verfassung abstellen. Karl Loewenstein etwa unterscheidet nach der Fähigkeit der Verfassung zur effektiven Politikregulierung zwischen einem normativen, einem nominellen und einem semantischen Verfassungstyp. Eine normative Verfassung ist durch die Übereinstimmung der Verfassungsnormen mit der Wirklichkeit des Machtprozesses, eine nominelle dagegen durch die fehlende Übereinstimmung aufgrund des Fehlens entsprechender gesellschaftlicher Bedingungen gekennzeichnet. Schließlich ist eine semantische Verfassung eine Verfassung, die nicht der Begrenzung der politischen Macht und der Ermöglichung des freien Spiels der sozialen Kräfte als eigentlichen Aufgaben der Verfassung dient. Sie ist nichts anderes als die Formalisierung der bestehenden Roscoe Pound, Law in Books and Law in Action, Am. L. Rev. 44 (1910), 12 ff.
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Machtsituation zum ausschließlichen Nutzen der faktischen Machtinhaber.55 Außerdem wird eine Verfassung, die keine reale Bindungswirkung gegenüber der Politik entfalten kann, gelegentlich als Schein-56 oder Pseudoverfassung57 oder als bedeutungsloses Stück Papier58 abgetan. Es stellt sich die Frage, was sich ergibt, wenn solche Kategorisierungen auf die chinesische Verfassung angewendet werden. Ohne Zweifel ist die reale Bindungswirkung der chinesischen Verfassung gegenüber der Politik ziemlich schwach. Die Kluft zwischen der Verfassung und der Verfassungswirklichkeit ist enorm. Das scheint dafür zu sprechen, die chinesische Verfassung als semantische oder nominelle Verfassung,59 als Schein- oder Pseudoverfassung oder als bedeutungsloses Stück Papier oder bloßes „law in books“ zu charakterisieren. Eben von dieser Annahme geht der erwähnte Zweifel an der Relevanz einer Theorie des chinesischen Rechtsstaates aus, die sich auf chinesische Verfassungsnormen bezieht und mit ihnen beschäftigt. Diese Charakterisierung der chinesischen Verfassung birgt aber Probleme. Zuerst werden die ihr zugrunde liegenden Kategorien häufig nicht nur nach einem einzigen Unterscheidungskriterium gebildet. Ins Gewicht fällt nicht nur das Kriterium, ob sich die Verfassung in der gesellschaftlichen Realität durchsetzt, sondern oft auch das Kriterium, ob die Verfassung der Machtbegrenzung in der Art freiheitlicher Demokratie (im üblichen westlichen Sinn) dient, oder das Kriterium, ob die Verfassung die politische Herrschaft umfassend regelt, so dass „weder extrakonstitutionelle Kräfte Herrschaft ausüben noch bindende Entscheidungen aus extrakonstitutionellen Verfahren hervorgehen können.“60 Es geht beim ersten Kriterium um die soziale Wirksamkeit des Rechts, beim zweiten und dritten um den Begriff und die Funktion der Verfassung. Die Nichterfüllung irgendeines dieser Kriterien bei einer Verfassung führt nicht selten zu ihrer negativen Charakterisierung mit ein und derselben Kategorie. Diese Kriterien sind zwar als Unterscheidungskriterien jeweils legitim, es ist aber zumindest problematisch, bei der Kategorisierung das erste und das zweite oder das erste und das dritte Kriterium gleichzeitig und gemischt zu verwenden. Selbst wenn die genannten Kategorisierungen von Verfassungen und Rechtsnormen überhaupt ausschließlich auf deren soziale Wirksamkeit abstellen und damit die begriffliche Unklarheit und Mehrdeutigkeit vermeiden können, sind die dabei verwendeten Begriffe oder Ausdrücke und eine unreflektierte Fokussierung auf die Effektivitätsfrage problematisch. Sie können der falschen Ansicht Vorschub leisten, dass eine Rechtsnorm in der Gesellschaft nur Bedeutung hat, wenn ihre Forderung zur gesellschaftlichen Realität wird. Entsprechend kann die Normativität sogar irrtümlich mit der sozialen Wirksamkeit der Norm gleichgesetzt werden. Karl Loewenstein, Verfassungslehre, 3. Aufl. 1975 (1959), 151 ff. Loewenstein (Fn. 55), 156. 57 Dieter Grimm, Types of Constitutions, in: Michel Rosenfeld/András Sajó (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, Chapter 4, 2012, 98 (128). 58 Zu einem skeptischen Hinweis auf diese Charakterisierung Tom Ginsburg/Alberto Simpser, Introduction: Constitutions in Authoritarian Regimes, in: Constitutions in Authoritarian Regimes (Fn. 33), 1 (1). 59 Eine schwierige Frage wird es sein, ob die chinesische Verfassung eher dem semantischen oder eher dem nominellen Verfassungstyp zuzuordnen ist. Loewenstein (Fn. 55), 421 spricht selbst von einer Annäherung zwischen den beiden Verfassungstypen im Geltungskreis des Kommunismus. 60 So ein Element des Verfassungsbegriffs nach Grimm (Fn. 22), Rn. 58. 55
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Die Normativität sollte aber nur das Festhalten bestimmter Erwartungen auch im Enttäuschungsfall bedeuten. „Die Norm verspricht nicht ein normgemäßes Verhalten, sie schützt aber den, der dies erwartet.“61 „Ohne die Möglichkeit des Normbruchs gibt es keine Normativität.“62 Die Kluft zwischen dem Versprechen des Rechts und seiner Einlösung ist selbst in einem funktionsfähigen Rechts- und Verfassungsstaat allgegenwärtig.63 „Die Funktion des Rechts besteht nur darin, Erwartungssicherheit zu ermöglichen, und zwar gerade angesichts von absehbaren, nicht zu verhindernden Enttäuschungen.“64 Das Festhalten an Erwartungen, die vom Recht selektiert und geschützt werden, erfolgt durch gesellschaftliche Kommunikationen, die aneinander anschließen und sich gemeinsam auf das Recht beziehen.65 Zu solchen Kommunikationen gehören sowohl Entscheidungen oder Aussagen des Gesetzgebers, der Exekutive und der Rechtsprechung als auch Kommunikationen in anderen Bereichen der Gesellschaft. Entscheidend für die Wahrung der Normativität des Rechts ist nicht erst seine soziale Wirksamkeit im Sinne der Übereinstimmung seiner Forderung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern schon die Kommunikation über seine Geltung. Sobald eine Rechtsnorm ordnungsgemäß gesetzt ist, erhebt sie einen Geltungsanspruch. Nur mit einem solchen kann sie zugestandenermaßen gesellschaftlich bedeutungslos sein. In der Gesellschaft gewinnt sie aber nicht erst Bedeutung, wenn sie in die Wirklichkeit umgesetzt wird und in diesem Sinne sozial effektiv ist und ihre Wirkkraft zeigt, sondern schon, wenn in gesellschaftlicher Kommunikation ständig an ihr festgehalten und ihre Geltungskraft damit bewiesen und konsolidiert wird. Selbst wenn man die Normativität des Rechts nicht rein juristisch, sondern soziologisch oder wirklichkeitsbezogen begreifen will, ist es verfehlt, sich ausschließlich der Effektivitätsfrage zuzuwenden und das Kommunikationsphänomen außer Acht zu lassen. Das bedeutet freilich nicht, dass die Effektivität des Rechts überhaupt keinen Einfluss auf seine Normativität hat. Sie hat einen Einfluss, aber nur einen indirekten über die Kommunikation. Denn wenn eine Norm keine Aussicht auf Durchsetzung hat, kann es vorkommen, dass man kein Interesse hat, gegen die Realität an ihr festzuhalten und über ihre Geltung und ihren Sinn zu kommunizieren, sondern entweder sich der Realität beugt und anpasst66 oder eine solche Norm ganz beseitigt und eventuell eine neue Norm einführt. Ob das tatsächlich vorkommt, hängt von vielen Faktoren ab. Es ist durchaus möglich, dass eine Norm gegen eine massiv andersgerichtete Realität durchgehalten wird.67 Es bleibt also festzuhalten, dass für die Wahrung der Normativität die Kommunikation über das Recht, nicht seine Effektivität entscheidend ist.
Luhmann (Fn. 4 0), 135. Christoph Möllers, Die Möglichkeit der Normen, 2015, 110. 63 Ginsburg/Simpser (Fn. 58), 8. 64 Luhmann (Fn. 4 0), 152 f. 65 Vgl. zur Herausbildung des Rechtssystems aus solchen Kommunikationen Luhmann (Fn. 4 0), 40 ff. 66 In diesem Sinne Luhmann (Fn. 4 0), 118, 153. 67 So auch Luhmann (Fn. 4 0), 135. 61
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2. Normativität und gesellschaftliche Bedeutung der chinesischen Verfassung Ausgehend von diesen allgemeinen Ausführungen kann man sagen, dass die chinesische Verfassung in der gegenwärtigen chinesischen Gesellschaft nicht bedeutungslos ist. Denn auch wenn ihre Umsetzung in die Wirklichkeit schwach ausfällt oder ausbleibt, wird in der Gesellschaft über ihren Sinn kommuniziert und ihre Geltung bekräftigt, und zwar sowohl von Trägern der Staatsgewalt und Parteimacht wie auch, und das ist wohl wichtiger, in der Wissenschaft und in der Zivilgesellschaft. Die chinesische Verfassung ist kein bloßes Stück Papier mit bloßem Geltungsanspruch und ohne Geltungskraft. Ihre Geltungskraft wird viel öfter durch Kommunikation gezeigt als ihre Wirkkraft durch ihre Verwirklichung. Ihre Normativität fällt stärker aus als ihre Effektivität. Die Kommunikation über die Verfassung rückt in manchen Fällen sogar in den Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Das führt, obwohl nur in wenigen Fällen, sogar zur Veränderung des politischen Prozesses und zur Korrektur der Politik, einer Gesetzesregelung oder -vorlage. Solche Fälle wie etwa der Fall von Sun Zhigang im Jahre 200368 und die Debatte um die Vereinbarkeit des Sachenrechtsentwurfs mit der Verfassung vom Jahre 2005 bis 200769 werden auch in der westlichen Literatur diskutiert. In Bezug auf diese Debatte fragt etwa Björn Ahl unter dem Aufsatztitel „Normative oder semantische Verfassung?“, „ob die Verfassung durch die Debatte über die Vereinbarkeit des Sachenrechtsentwurfs mit der Verfassung an Normativität im Sinne soziologischer Normgeltung gewonnen bzw. ob sie einen solchen Wandel sichtbar gemacht hat“70. Er beobachtet diese Debatte also aus dem Gesichtspunkt der sozialen Wirksamkeit der Verfassung. Dieser Gesichtspunkt ist zwar unverzichtbar, man sollte sich aber davor hüten, die Normativität und die gesellschaftliche Bedeutung der chinesischen Verfassung allein von diesem Gesichtspunkt aus zu beurteilen. Denn nicht erst das Ergebnis dieser Debatte macht die Verfassung gesellschaftlich wichtig und stärkt deren Normativität, sondern schon die Debatte an sich. Es gibt eine verfassungsspezifische Eigenschaft, die für gesellschaftliche Kommunikation und gegen soziale Wirksamkeit als Schlüssel für die Wahrung der Normativität der Verfassung spricht. Diese Eigenschaft ist der utopische Charakter der Verfassung.71 Die Verfassung enthält nicht selten Vorschriften, die eine Zukunftsvision vorstellen. Eine solche Zukunftsvision kann als langfristiges Ziel nicht sofort verwirklicht werden. Manchmal ist selbst eine schrittweise Annäherung schwierig und ein Rückschlag unvermeidlich, vor allem wenn das Ziel ehrgeizig und anspruchsvoll ist und seine Verwirklichung bestimmte begünstigende gesellschaftliche Bedingungen erfordert. Das gilt etwa für China, das eine große Transformation von einer traditionellen zu einer modernen Gesellschaft, von einer Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft und von einer revolutionären Rechtlosigkeit zum Rechtsstaat anstrebt. Wenn man unter diesen Umständen die Bekräftigung der Normativität der Verfassung nicht bereits in der Vergewisserung durch Kommunikation, sondern erst Vgl. Ginsburg/Simpser (Fn. 58), 11. Vgl. Björn Ahl, Normative oder semantische Verfassung?: Der Diskurs in der Volksrepublik China um die Vereinbarkeit des Sachenrechtsgesetzes mit der Verfassung, VRÜ 41 (2008), 477 (488 ff.). 70 Vgl. Ahl (Fn. 69), 507. 71 Vgl. zur Funktion der Verfassung als „blueprint“ Ginsburg/Simpser (Fn. 58), 8. 68 69
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in einem ständigen großen Fortschritt bei der Umsetzung oder sogar erst in einer sofortigen vollständigen Umsetzung sieht, ist es kein Wunder, dass die chinesische Verfassung nur als ideologisches Täuschungsmanöver und reine Schaufensterdekoration abgetan wird. Mit Kategorien, die auf die Effektivität des Rechts abstellt, wie etwa law in books/ law in action, normative Verfassung/nominelle Verfassung/semantische Verfassung, Schein- oder Pseudoverfassung, lässt sich also gesellschaftliche Kommunikation über die Verfassung in China nicht adäquat beobachten und beschreiben. Die Normativität und die gesellschaftliche Bedeutung der chinesischen Verfassung können damit verkannt werden. Folglich kann einer kontrafaktischen Theorie des chinesischen Rechtsstaates als verfassungsrechtliches Konzept ihre Relevanz für die Praxis abgesprochen werden. Wer dagegen seinen Blick auf gesellschaftliche Kommunikation über die Verfassung lenkt, wird die gesellschaftliche Bedeutung und die Normativität der chinesischen Verfassung viel stärker einschätzen. Er muss dann einräumen, dass eine solche kontrafaktische Theorie nicht wirklichkeitsfern und irrelevant für die Praxis ist.
IV. Theorie als Beitrag zur systeminternen Reform Es muss aber sofort hinzugefügt werden, dass eine solche Theorie nicht völlig kontrafaktisch ist. Sie betrachtet rechtliche und politische Detailvorgaben und Wirklichkeit zwar nicht als Gegebenheiten, die sie voraussetzen oder erklären muss, nimmt von ihnen Abstand und ist ihnen gegenüber kritisch. Sie stellt aber auf verfassungsrechtliche Vorgaben und bestehende politische Leitbilder ab und setzt sich mit ihren Interpretationen auseinander. Sie kann einer Praxis zur Verfügung stehen, die zwar systemkritisch sein, aber systemintern bleiben will, also keine radikal systemstürzende Revolution, sondern eine gemäßigte, systemverbessernde Reform verfolgt. Somit kann man sagen, dass eine solche Theorie wohl sogar praxisnäher ist als eine Theorie, die sich nur der chinesischen rechtlichen und politischen Wirklichkeit widmet. Denn während die erstere Theorie nach einer theoretisch möglichen Konstruktion fragt, in der der behauptete Rechtsstaat chinesischer Prägung dem wohlverstandenen Rechtsstaat entsprechen kann, ist die letztere Theorie häufig von Anfang an ohne Differenzierung zwischen der theoretischen Möglichkeit und der gegenwärtigen Wirklichkeit pauschal sehr kritisch gegenüber dem Rechtsstaat chinesischer Prägung und sieht darin einen Widerspruch zum wohlverstandenen Rechtsstaat. Das bedeutet, dass für diese Theorie die Verwirklichung des Rechtsstaates systemintern unmöglich ist und nur durch die Abschaffung der Verfassung, die die Führungsrolle der KP anerkennt, erreicht werden kann. Die praktische Konsequenz dieser Theorie ist also – was ihr oft nicht bewusst ist – der Ruf nach der Revolution. Das ist aber, obwohl ein kühler Realismus beabsichtigt wird, unter den gegenwärtigen Bedingungen unrealistischer als eine systeminterne Reform. Am Ende schließt ein kühler Realismus mit einem unrealistischen Radikalismus eine merkwürdige Allianz. Wenn er diese Allianz ablehnt, kann er gegenüber der Praxis dann nur hilflos und jammernd dastehen. Er kann dem Schicksal nicht entgehen, zwischen dem Radikalismus und dem Pessimismus zu oszillieren.
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E. Abschließende Bemerkungen: Ein kurzer Ausblick auf die theoretisch-konzeptionelle Reflexion In der oben angestellten methodischen Reflexion wurden die Bedeutung und die Notwendigkeit der theoretisch-konzeptionellen Reflexion über den Rechtsstaat chinesischer Prägung und im Zusammenhang damit den Rechtsstaat überhaupt als normative Kategorien ausgeführt. Bei dieser Reflexion geht es um einen Horizontwechsel von der fehlenden Rechtsstaatlichkeit in der Realität zum Rechtsstaat chinesischer Prägung als verfassungsrechtliches Konzept und normatives Leitbild. Im Mittelpunkt dieser Reflexion steht die Frage, ob der behauptete Rechtsstaat chinesischer Prägung mit dem wohlverstandenen Rechtsstaat theoretisch-konzeptionell übereinstimmen kann. Welchen Erkenntnisgewinn die Beschäftigung mit dieser Frage bringen kann, kann hier nur am Beispiel der Führungsrolle der KP Chinas kurz angedeutet werden. Die Führungsrolle der Partei wird in der chinesischen Verfassung nur in der Präambel kurz erwähnt, aber politisch immer wieder bekräftigt. Dieses Prinzip bringt viele dazu, die Berechtigung des Rechtsstaates chinesischer Prägung als Rechtsstaat im wohlverstandenen Sinne zu bezweifeln. Man könnte etwa das von der KP aufgestellte Prinzip der organischen Vereinigung von der Führung durch die Partei, dem Volk als Herr im eigenen Haus und dem Regieren des Staats nach dem Recht kritisieren. Von dieser organischen Vereinigung wird auch im eingangs besprochenen Abschlusskommuniqué des Zentralkomitee-Plenums gesprochen.72 Kritiker könnten sagen, die Vereinigung dieser drei Postulate bedeute die Ablehnung des Primats des Rechts gegenüber der Politik als Wesen des Rechtsstaatsprinzips und stehe folglich mit diesem Prinzip im Widerspruch. Zugestandenermaßen kann das Verhältnis von der Führung durch die Partei und dem Volk als Herr im eigenen Haus, also das Verhältnis von der Führungsrolle der Partei und der Demokratie problematisch sein. Diese Problematik könnte aber im Zusammenhang des Rechtsstaates irrelevant oder minder wichtig sein. Zum Forschungszweck in diesem Zusammenhang können die beiden Postulate zu einem Postulat über die Zuordnung der politischen Souveränität zusammengelegt werden. Dann könnte man feststellen, dass im Prinzip der organischen Vereinigung der richtige Gedanke zum Ausdruck kommt, dass Recht und Politik gleichrangig sind und nicht ohne Differenzierung pauschal für das eine und gegen das andere zu entscheiden ist. Das Prinzip der organischen Vereinigung ist keineswegs abwegig, soweit es das Verhältnis von Recht und Politik formuliert. Hinter der Kritik dieses Prinzips könnte dagegen eine naive Vorstellung des Primats des Rechts stehen. Freilich fordert das Rechtsstaatsprinzip, dass der Staat sich nicht über das Recht hinwegsetzen darf. Allerdings ist der Staat selbst Urheber des Rechts. Er kann das Recht auf heben oder abändern.73 Was die Gesetzgebung betrifft, muss man selbst im Rechtsstaat den Primat der Politik gegenüber dem Recht feststellen. Nur was die Rechtsanwendung und Rechtsprechung betrifft, kann man grundsätzlich vom Primat des Rechts gegenüber der Politik sprechen. Aber selbst hier tritt das prekäre Verhältnis von Recht und Politik dort auf, wo das Recht einen Teil 1 des Kommuniqués des 4. Zentralkomitee-Plenums des 18. Parteitags. Grimm (Fn. 46), 596.
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erheblichen Interpretationsspielraum hinterlässt.74 Man könnte aber entgegnen, dass im Rechtsstaat die Gesetzgebung ihrerseits an die Verfassung gebunden ist, dass die Politik, die über das Recht disponiert, wiederum unter dem höheren Recht steht. Das ist zwar richtig, die Verfassung ist aber ihrerseits politisch gesetzt. Sie wird von einer verfassunggebenden Gewalt in Geltung gesetzt, die selbst nicht rechtsgebunden ist. Auch die Grundrechte in der Verfassung verdanken ihre Geltung dieser politischen Macht. Schon diese kurze Erörterung zeigt das große theoretische Potenzial der hier durch methodische Reflexion untermauerten theoretisch-konzeptionellen Auseinandersetzung mit dem Rechtsstaat chinesischer Prägung als normativer Kategorie. Man weiß zwar noch nicht, welche Antwort man aus dieser Auseinandersetzung auf die Frage geben wird, ob der Rechtsstaat chinesischer Prägung eine Rule of Law oder eine bloße Rule by Law ist. Man kann jetzt aber schon von dieser Auseinandersetzung neue Fragestellungen und Perspektiven und eine stärkere Wechselbeziehung von allgemeiner Theorie und Chinaforschung erwarten.
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Vgl. Dieter Grimm, Politik und Recht, in: ders., Die Verfassung und die Politik, 2001, 13 (22 ff.).