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German Pages 312 Year 2019
Jasmin Donlic, Elisabeth Jaksche-Hoffman, Hans Karl Peterlini (Hg.) Ist inklusive Schule möglich?
Pädagogik
Jasmin Donlic, geb. 1990, stammt aus Bosnien und Herzegowina und ist Universitätsassistent am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung, Arbeitsbereich für Allgemeine Erziehungswissenschaft und diversitätsbewusste Bildung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Seine Forschungsschwerpunkte sind inter-/transkulturelle Bildung im Kontext von Migration und Inklusion, Mehrsprachigkeit an Schulen und jugendliche Identitätsbildung in regionalen transnationalen Räumen. Elisabeth Jaksche-Hoffman, geb. 1967, ist Professorin an der Pädagogischen Hochschule Kärnten – Viktor Frankl Hochschule. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Inklusion in der Schule, inter- und transkulturelle Pädagogik sowie interkulturelle Kommunikation und Dialog. Hans Karl Peterlini, geb. 1961, stammt aus Italien/Südtirol und hat in Klagenfurt die Professur für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Interkulturelle Bildung inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind ethnische und sprachliche Diversität in nationalstaatlichen Kontexten, personales und soziales Lernen in Schule und Gesellschaft sowie inklusive Prozesse in migrantisch geprägten Gesellschaften.
Jasmin Donlic, Elisabeth Jaksche-Hoffman, Hans Karl Peterlini (Hg.)
Ist inklusive Schule möglich? Nationale und internationale Perspektiven
Veröffentlicht mit Unterstützung des Forschungsrates der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.
Veröffentlicht mit Unterstützung der Fakultät für Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.
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Inhalt
Jasmin Donlic, Elisabeth Jaksche-Hoffman & Hans Karl Peterlini Die Vielfalt des Andersseins – Perspectives of Diversity | 9
THEORETISCHE GRUNDLAGEN Patricia Stošić & Isabell Diehm Integration oder Inklusion? Ein Systematisierungsversuch der Debatte um die Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit ›Migrationshintergrund‹ | 21
Hans Karl Peterlini Falsche Kinder in der richtigen Schule – oder umgekehrt? Auslotungen eines Perspektivenwechsels von selektiven Normalitätsvorstellungen hin zu einer Phänomenologie des ›So-Seins‹ | 41
STRUKTURELLE FRAGESTELLUNGEN UND BEDINGUNGEN Ewald Feyerer Kann Inklusion unter den Strukturen des segregativen Schulsystems in Österreich gelingen? | 61
Dario Ianes, Heidrun Demo & Silvia Dell’Anna Historical steps and current challenges for the Italian inclusive education system | 77
Ernst Kočnik, Rahel More & Marion Sigot Exklusion inklusive Be-hinderungen im schulischen Alltag | 91
Niels Anderegg Auf die Schulleitung kommt es an! Schweizer Perspektive auf den Zusammenhang zwischen Schulführung und Inklusion | 111
Bettina Fritzsche & Andreas Köpfer (Para-)Professionalität im Umgang mit Ungewissheitsstrukturen Eine kulturvergleichende Rekonstruktion von Interviews mit Assistenzkräften im inklusionsorientierten Unterricht | 133
Michelle Proyer, Gertraud Kremsner, Camilla Pellech & Michael Doblmair Ankommen reloaded Zur teil-partizipativen Entwicklung und Installierung einer pädagogischen Bildungsmaßnahme für ›forced migrant‹-Lehrerinnen und Lehrer | 161
FELDBEZÜGE UND PRAXISERFAHRUNGEN Elisabeth Jaksche-Hoffman Diversität und Inklusion in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung Phänomenologische Vignetten als Zugang | 181
Simon Reisenbauer Herstellung und Bearbeitung von Differenzen im Unterricht Lehrerinnen- und Lehrerperspektiven auf inklusiven Unterricht in Addis Abeba (Äthiopien) und Bangkok (Thailand) | 197
Peter Holzwarth, Doris Kuhn & Sabrina Marruncheddu Krause Life Skills und Medien | 213
Yalız Akbaba & Anja Hackbarth Repräsentationen von Disability Was zwei Bilder über die diskursive Ordnung von Behinderung zu zeigen wissen | 233
Marianne Vardalos From Residential Schools to Indigenous-Perspective Schools Transforming Canada’s colonial history into a future of truth and reconciliation | 249
Emina Osmandzikovic Inclusive Education: American Dream or Elusive Reality for Undocumented Migrants? Shifting the foundations of the American dream | 259
Jasmin Donlic ›Two Schools Under One Roof‹ Visible Segregation in the Education System in Bosnia and Herzegovina | 273
Martina Jalšovec Eine Minderheit am Rande des Bildungssystems Zur Marginalisierung von Kindern aus Roma-Familien | 289 Autorinnen und Autoren | 307
Die Vielfalt des Andersseins – Perspectives of diversity Jasmin Donlic, Elisabeth Jaksche-Hoffman & Hans Karl Peterlini
EINE EINFÜHRUNG Inklusion ist wohl die zentrale gegenwärtige Herausforderung für Schule und Gesellschaft, dies zum einen in Folge der UN-Behindertenrechtskonvention 2006, aber ebenso aufgrund der vielfältigen Herausforderungen einer pluralen, sozioökonomisch ungleichen und migrantisch geprägten Gesellschaft. Den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und pädagogisch-didaktischen Bemühungen um eine inklusive Ausrichtung von Bildungspolitiken, Bildungsstrategien und Schulstrukturen bis hinunter auf die Ebene von Unterricht stehen vielfach Irritationen, Klärungsbedürfnisse sowie konzeptuelle und begriffliche Missverständnisse entgegen. Ebenso stoßen Bemühungen um inklusive konzeptionelle Veränderungen auf das Festhalten an selektiven schulischen und gesellschaftlichen Strukturen, auf eingefahrene Unterrichtspraktiken und Lehr-Lern-Verständnisse. Die Frage »Ist inklusive Schule möglich?« verweist demnach nicht auf eine binäre Ja-Nein-Antwort-Möglichkeit, dies allein schon deshalb nicht, weil davon ausgegangen wird, dass inklusive Schule sehr wohl möglich ist. Sie versteht sich vielmehr als eine Suche nach Antworten, wie inklusive Schule möglich sein kann, welche Problemstellungen dabei zu berücksichtigen sind, welchen Widerständen begegnet werden muss, welche kreativen Lösungen denkbar sind und welche Erfahrungen und Erprobungen es bereits gibt. Angesichts der Vielzahl an theoretischen Zugängen und praxeologischen Handlungsebenen, der unterschiedlichen Voraussetzungen auf internationaler Ebene und angesichts der vielfältigen Anforderungen in Bezug auf zunehmend heterogen wahrgenommene Differenzlinien wäre es ein anmaßendes Konzept, wollte dieses Buch eindeutige und systematisierte Antworten auf die Frage geben, ob und wie eine inklusive Schule
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möglich ist. Entsprechend der Definition der Vereinten Nationen (Unesco 2014) wird in diesem Buch von einem weitgespannten Inklusionsverständnis ausgegangen, das für alle Menschen unabhängig von Geschlecht, sozioökonomischen Bedingungen und unterschiedlichen Lernbedürfnissen gleiche Bildungschancen einfordert. Differenz wird, über die mit dem Inklusionsgedanken gern assoziierte Gruppe von Menschen mit Behinderung hinaus, als eine nicht einfach kategorisierbare Vielfalt des Anders-Seins verstanden, das ständiger Auslotungen und Aushandlungen bedarf, wer nun wie anders ist. Der Leitgedanke, dass »jede/r anders anders« ist (Arens/Mecheril 2010: 11), vermeidet einerseits vorschnelle und sehr schnell auch diskriminierende oder zumindest besondernde (vgl. Mecheril 2006: 319f.) Wahrnehmungen von Differenz entlang weniger dichotomer Konstrukte (behindert – normal, begabt – minderbegabt, hochbegabt – normalbegabt, bildungsbürgerlich – bildungsfern etc.). Andererseits erschwert eine solche Sichtweise auch theoretisch-konzeptionelle Schärfe und interventionistische Klarheit (vgl. Hinz 2013, Grosche 2015). Wenn jede/r anders anders ist, könnte es auch sein, dass niemand mehr als anders empfunden wird und besondere Aufmerksamkeit oder Zuwendung einfordern kann; oder dass das Anderssein aller die doch spezifischen Bedürfnisse mancher, die auf eine ganz bestimmte Weise anders sind, relativierend unterschlägt. Die vorliegende Publikation versucht dem Anspruch einer nicht von vornherein definierten Differenz insofern entgegenzukommen, als sie sich zu einer fragmentarischen Herangehensweise bekennt. Sie versucht unterschiedliche Diskurse und Fragestellungen im deutschsprachigen Raum sowie auf internationaler Ebene aufzugreifen, ohne sie in ein einheitliches System einzuordnen. Die Heterogenität der Beiträge sowohl in Bezug auf theoretische Hintergründe als auch auf bildungsformierende Strukturen und Feldzugänge würde dies gar nicht erlauben; wohl aber ermöglicht sie es, in Form von Streif- und Blitzlichtern unterschiedliche Problemstellungen und Möglichkeiten für mehr Inklusion und weniger Exklusion in Bildungseinrichtungen aufzuzeigen und zur Diskussion zu stellen. Anstatt uns mit der Frage aufzuhalten, wie Inklusion theoretischkonzeptionell über tiefgreifende Widersprüche und Ambivalenzen hinweg klar definiert werden kann und wie ein weitgespanntes Aufgabengebiet einheitlich pädagogisch-didaktisch bearbeitet werden könnte, stellen wir einzelne Definitionsansätze, Denkangebote, Erfahrungsberichte, Praxisbezüge aus unterschiedlichen Kontexten und in unterschiedlichen Handlungsfeldern zur Disposition. Der Herausforderung, dass »jede/r anders anders« ist, stellen wir uns nicht mit dem Versuch, dieses Anders-Sein doch noch begrifflich-praxeologisch zu fassen, sondern bekennen uns zur unüberschaubaren Vielzahl von Zugängen, Fragestellungen, Handlungsebenen. In diesem Sinne sind auch die Beiträge dieser Publi-
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kation je anders anders – als Anstöße für das nie abgeschlossene Weiterdenken und Weiterarbeiten an einer differenzsensiblen, teilhabeorientierten, chancengerechten Schule und Gesellschaft.
AN INTRODUCTION It is safe to say that inclusion presents the central challenge for school and society today. On the one hand, this is a consequence of the 2006 UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities, but on the other hand, it is also a result of the manifold challenges posed by a plural, socio-economically disparate society shaped by migration. Scientific explorations and pedagogical-didactic endeavours geared towards an inclusive orientation of educational policies, educational strategies and school structures all the way down to the level of school instruction often conflict with irritations, clarification needs as well as conceptual and terminological misunderstandings. Similarly, efforts aimed at bringing about inclusive conceptual changes come up against the adherence to selective schoolbased and social structures, and against entrenched teaching practices and teaching-learning notions. Thus, the question »Is inclusive school possible?« does not indicate a binary yes/no answer option, for the very simple reason that it is assumed that indeed, inclusive school is possible. Rather, it is a search for answers about how inclusive school might be possible, which problems should be considered, which forms of resistance have to be met, which creative solutions are conceivable, and which experiences and experiments already exist. In view of the multitude of theoretical approaches and praxeological levels of action, the wide range of different prerequisites at the international level, and given the manifold demands in relation to lines of difference which are increasingly perceived as heterogeneous, it would be a presumptuous concept, should this book claim to provide clear and systematic answers to the question of whether and how inclusive school is possible. In line with the definition set out by the United Nations (Unesco 2014), this book is based on a comprehensive concept of inclusion that calls for equal educational opportunities for all people irrespective of gender, socio-economic conditions and different learning needs. Looking beyond the group of people with disabilities frequently associated with the notion of inclusion, difference is understood as a not easily categorizable variety of being different, which requires the continuous exploration and negotiation of who is different and how this difference manifests itself. The publication’s guiding principle that »everyone is differently different« (Arens/Mecheril 2010: 11), avoids premature and all too
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quickly also discriminating or at the very least individuating (cf. Mecheril 2006: 319f.) perceptions of difference along less dichotomous constructs (disabled – normal, gifted – less gifted, highly gifted – normally gifted, educated middle class – educationally disadvantaged etc.). Then again, a view such as this may also hamper theoretical-conceptual acuity and interventionist clarity (cf. Hinz 2013, Grosche 2015). If everyone is differently different, it could also mean that nobody is perceived as different and can therefore claim particular attention or care; or it could mean that the otherness of all misappropriates, in a relativizing manner, the rather specific needs of some, who are different in a very particular way. The present publication strives to accommodate the claim of a difference that is not pre-defined, insofar as it is committed to adopting a fragmentary approach. It attempts to take up different discourses and questions in the German-speaking world as well as on an international level, without classifying them into a single standardized system. The heterogeneity of the contributions, both in terms of theoretical backgrounds and with regard to educational structures and types of field access, would not allow this in any case. However, taking the form of flashlights and glancing lights, our approach does allow us to reveal and discuss different problems and opportunities for more inclusion and less exclusion in educational institutions. Instead of dwelling on the question of how inclusion can be clearly defined theoretically and conceptually while spanning profound contradictions and ambivalences, and how a wide-ranging field of work can be processed in a uniform pedagogical-didactic way, we place individual attempts at definition, thinking offers, experience reports, practical references from different contexts and in different fields of action at the reader’s disposal. We do not face the challenge that »everyone is differently different« by insisting on attempting to conceptualize this otherness in a conceptual-praxeological manner, but rather we stand by our commitment to an incalculable multiplicity of approaches, questions, and levels of action. In this spirit, each and every contribution in this publication is also differently different – thus serving as impetus for the neverending deliberation and work towards a difference-sensitive, participatory, and equitable school and society. Patricia Stošić/Isabell Diehm: Integration oder Inklusion? Public and scientific discourses on school success of pupils with a so-called migration background do not use the term or concept inclusion. With regard to this special group, the common indication concerning questions of education is integration. Against this background, the contribution focusses on a conceptual comparison of both terms. In order to analyze them, we firstly differentiate be-
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tween a sociological descriptive and an educational normative perspective. Secondly, we point out reasons in order to understand how discourses concerning integration in school with regard to migration, on the one side, and discourses on inclusion in case of disability, on the other side, run. Hans Karl Peterlini: Falsche Kinder in der richtigen Schule – oder umgekehrt? The article examines the pedagogical prerequisites of inclusive schooling from the perspective of a dichotomous understanding of normality that divides children into normal and non-normal. An inclusive approach, in contrast, requires an understanding of normality that does not emanate from children and adolescents as hypothetical ideal products of educational processes, but as they are and will be. If difference is no longer defined a priori by attributive categories, normality concepts also tend to elude preconceived judgments. The goal of education is no longer an imaginary ideal that exposes all those who do not fit into the picture to painful experiences of adaptation or selective exclusion. The given diversity itself becomes normality. Ewald Feyerer: Kann Inklusion unter den Strukturen des segregativen Schulsystems in Österreich gelingen? The school system in Austria is highly segregating. There are curricula for different school types that define very detailed aims for each school year. Many students have to repeat a year and at the age of ten years, that means after the 4th grade, the students are divided into two school types: the lower and the upper secondary school. Furthermore, Austrian law stipulates ten different types of special school. The article describes the development of inclusive schools in Austria to date and discusses if, and under which conditions, an inclusive school system could be successful within these segregating structures. Dario Ianes/Heidrun Demo/Silvia Dell’Anna: Historical steps and current challenges for the Italian inclusive education system The chapter presents the Italian school system and its commitment towards inclusive education, reflecting on its structure, positive outcomes and challenges. Firstly, it illustrates the policies designed to support achievement and participation of vulnerable groups of students, in particular students with disabilities, with learning difficulties and with other special educational needs. Then, positive outcomes, regarding for example school careers of students with disabilities and teachers‹ professional experiences and development, are briefly outlined. Finally, current challenges, suggested by research as well as academic and political
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debate, are taken into account in relation to possible implications for future research and implementation. Ernst Kočnik/Rahel More/Marion Sigot: Exklusion inklusive This chapter focuses on potentials and barriers for the social inclusion of students with disabilities, connecting the current state of the art in this field of research with empirical findings from one of the authors research projects (Sigot 2017) as well as current insights into local developments in inclusion discourse. The mostly underrepresented perspectives of (former) students with disabilities and a sociocultural understanding of disability are central to our contribution. Thus, we define disability as a result of labeling, barriers and attitudes, contrary to common preoccupations with disability as personal tragedy. We conclude that recent changes in educational policy endanger social inclusion and might even promote a fallback into outdated practices of segregation. Niels Anderegg: Auf die Schulleitung kommt es an! Switzerland has committed to an inclusive school system and yet it struggles with the implementation. The paper explores the question of why inclusion in Switzerland is not progressing and what could be done about it. The thesis of the author is that it depends on the principal. In a complex system of different influencing actors, the principals are at the interface between politics and practice, as well as education and economics. Their task is to enable a common sense and conception of an inclusive practice in the network of different actors and interests. If they succeed, inclusion will succeed. Bettina Fritzsche/Andreas Köpfer: (Para-)Professionalität im Umgang mit Ungewissheitsstrukturen – eine kulturvergleichende Rekonstruktion von Interviews mit Assistenzkräften im inklusionsorientierten Unterricht In this contribution we focus on the issue of teaching assistants‹ and comparable (para)professionals‹ roles in the international project of increasing inclusion in schools. On the basis of interview data collected in the UK, Canada and Germany especially the varying conditions of (para-)professionals‹ practice in inclusion-oriented lessons and their professional self-perception is interpreted and compared. Referring to the theoretical concept of professionalism by Ulrich Oevermann (1996), the significance of the working alliance between teaching assistants and students for (para-)professionals‹ self-perception is analysed. As the interpretations make clear, teaching assistants‹ professional roles strongly depend on local variations.
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Michelle Proyer/Gertraud Kremsner/Camilla Pellech/ Michael Doblmair: Ankommen reloaded Adopting a widened understanding of the concept of inclusion and a participatory approach, the Centre of Teacher Education and the Department of Education of the University of Vienna started a research project about and with forced migrant teachers exploring their educational biographies. Research findings flowed into a requalification programme framed as the certificate course »Educational basics for teachers with refugee background«. The paper guides through the participatory process depicting the various phases with the stage model of participation according to Von Unger (2014) and agrees on a semi-participatory outcome. Obstacles encountered during the implementation and further potential shall be discussed. Elisabeth Jaksche-Hoffman: Diversität und Inklusion in der LehrerInnenausbildung This article describes some framework conditions for the introduction of the course »Diversity and Inclusion« in teacher education in Austria. After a short definition of »Inclusion« and »Diversity«, challenges in teaching appropriate theories and models are outlined. A great challenge is the skepticism of the students how to put inclusion into practice. The use of vignettes, based on phenomenological vignette research (Schwarz/Schratz 2014), is explained in the work with students as a possible connection to practice and illustrated with two concrete vignette examples. Getting involved in a tightly described situation helps students not only to reflect their experiences during their observations in practice on a cognitive level, but also on an empathic level. Simon Reisenbauer: Herstellung und Bearbeitung von Differenzen im Unterricht This chapter discusses links between the construction of differences and the planning and implementation of inclusive education. From a theoretical perspective, practices of difference are an inherent aspect of educational practices. Material collected in Addis Ababa (Ethiopia) and Bangkok (Thailand) using classroom observation and interviews with two teachers shows that the construction and management of differences related to achievement plays a central role in teaching-learning-interactions in both settings. To minimize negative effects on students, teachers need to be able to reflect differences inherent in their educational planning and practice.
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Peter Holzwarth/Doris Kuhn/Sabrina Marruncheddu Krause: Life Skills und Medien Inclusion can be initiated in various ways. The following article refers to two international projects that are based on the Life Skills concept of the WHO. It reflects on the connection between media use and the development of life skills. Both projects are about strengthening self-confidence and developing transversal skills. FACE (Families and Children in Education) primarily addresses children and adolescents from Roma communities in Romania, Kosovo and Macedonia. CORE (Children of Refugees in Education) is about promoting life skills for young refugees by using learning environments on mobile devices. Both projects are carried out by the Department of International Projects in Education (IPE) of the Zurich University of Teacher Education. Yaliz Akbaba/Anja Hackbarth: Repräsentationen von Disability How is disability represented in society? What can inclusive school teaching staff learn from the ways we can and cannot talk about disability? The paper analyzes the interplay of image and text within two photograms displaying disability, both insinuating to vouch for the acknowledgment of differences in an egalitarian way, thus advocating inclusion. However, while one photogram creates the ambivalent perception of disability between unconditional acknowledgments with yet ableist effects on the pictured person, the other photogram succeeds in representing the pictured persons beyond restricted representations of disability. We apply theoretical perspectives from Disability Studies and the Cultural Studies approach of Representation Regimes. Marianne Vardalos: From Residential Schools to IndigenousPerspective Schools: Transforming Canada’s colonial history into a future of truth and reconciliation Canada’s changing relationship with indigenous peoples is reflected in the changing role of the education system in teaching the world who Canada’s First Nations were, and who they are today. This article looks at the progression from Canada’s notorious Indian Residential Schools (IRS), to present-day IndigenousPerspective Schools (IPS) including programs mandatory at Canadian universities and Indigenous Immersion pilot projects intended to counter the enduring trauma of the residential schools. We argue that while Indigenous-Perspective university programs have been instrumental in establishing that Indigenous people were here when the Europeans arrived, it is Indigenous Immersion schools that will be instrumental in establishing that Indigenous people are here today.
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Emina Osmandzikovic: Inclusive Education: American Dream or Elusive Reality for Undocumented Migrants? The focus of this chapter is inclusive education in the U.S., with a special emphasis on post-secondary educational paths of undocumented immigrants. Children of undocumented immigrants, popularly known as DREAMers, do not have equal access to education, which is both a necessary and sufficient condition for upward social mobility. Tension between grassroots initiatives, volatile public acceptance and the lack of political will, complicate the uncertain future of this vulnerable group. Progress has been present in recent decades and more states have started to increase flexibility towards undocumented immigrants, however uncertainty lies in the absence of a permanent solution. Jasmin Donlic: ›Two Schools Under One Roof‹ – Visible Segregation in the Education System in Bosnia and Herzegovina The article explores the contentious phenomenon of ›two schools under one roof‹ – one of the most significant problems affecting the education system in Bosnia and Herzegovina following the Dayton Agreement, with severe consequences for the affected youth. It explores the reasons behind the established system of segregated education, capturing the voices of the young students in the process, along with their demands. By exploring the question of how to safeguard peace in the spirit of Alexander Langer’s »ten steps of togetherness« through measures targeted at the educational sphere it asks the question: Is inclusive school feasible in Bosnia and Herzegovina? Martina Jalšovec: Eine Minderheit am Rande des Bildungssystems Education is the key for better integration of marginalised Roma minority members in modern European society, as shown in the countries Croatia and Austria. The EU Commission and Roma Education Fund have funded many tailor-made projects for the integration of marginalised groups in the regular education system in order to create conditions of equal educational possibilities. Their goals are being set on overcoming the language barrier, improvement of the educational structure in the Roma population and strengthening the intercultural competence of all participants in the educational process (as shown by means of the good practice example – Primary school Podturen, Croatia).
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LITERATUR Arens, Susanne/Mecheril, Paul (2010): »Schule – Vielfalt – Gerechtigkeit. Schlaglichter auf ein Spannungsverhältnis, das die erziehungswissenschaftliche Diskussion in Bewegung gebracht hat«, in: Lernende Schule, 13 (49), S. 9-11. Grosche, Michael (2015): »Was ist Inklusion? Ein Diskussions- und Positionsartikel zur Definition von Inklusion aus Sicht der empirischen Bildungsforschung«, in: Poldi Kuhl/Petra Stanat/Birgit Lütje-Klose/Cornelia Gresch/Hans Anand Pant/Manfred Prenzel (Hg.): Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Schulleistungserhebungen, Wiesbaden: Springer VS, S. 17-39. Hinz, Andreas (2013): »Inklusion – von der Unkenntnis zur Unkenntlichkeit!? – Kritische Anmerkungen zu einem Jahrzehnt Diskurs über schulische Inklusion in Deutschland«, in: Zeitschrift für Inklusion – Online, 1. Verfügbar unter: www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/ 26/26 Mecheril, Paul (2006): »Das Besondere ist das Allgemeine. Überlegungen zur Befremdung des ›Interkulturellen‹, in: Tarek Badawia/Helga Luckas/Heinz Müller (Hg.): Das Soziale gestalten. Über Mögliches und unmögliches der Sozialpädagogik und Sozialarbeit, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 311-326. UNESCO: (Hg.): (2014). Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik. Bonn: Deutsche UNESCO-Kommission. Verfügbar unter: https://www.unesco.de/ sites/default/files/2018-05/2014_Leitlinien_inklusive_Bildung_0.pdf
THEORETISCHE GRUNDLAGEN
Integration oder Inklusion? Ein Systematisierungsversuch der Debatte um die Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit ›Migrationshintergrund‹1 Patricia Stošić & Isabell Diehm
EINLEITUNG Die erziehungswissenschaftliche und bildungspolitische Debatte zur schulischen Eingliederung und zur Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit ›Migrationshintergrund‹ greift nach wie vor überwiegend auf den Begriff der Integration zurück. Eine Frage, die sich hier stellen lässt (so auch Diehm 2011), ist, warum es eigentlich der derzeit so populäre Begriff der Inklusion nicht schafft, sich in Auseinandersetzungen um Schule und Bildung im Migrationskontext zu etablieren? Denn zumindest der aktuelle erziehungswissenschaftliche Diskurs zur Inklusion schließt – im Anschluss an einen sogenannten ›weiten‹ Inklusionsbegriff – nicht nur Schülerinnen und Schülern mit zugeschriebenem sonderpädagogischem Förderbedarf ein, sondern bezieht sich explizit auch auf andere Ziel-
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Dieser Text ist ein leicht veränderter und gekürzter Wiederabdruck eines bereits veröffentlichten Textes. Diese Erstveröffentlichung ist demnächst unter der folgenden Quellenangabe zu finden: Stošić, Patricia/Hackbarth, Anja/Diehm, Isabell (2019): »Inklusion versus Integration im Kontext von Migration und Behinderung: Zur Herstellung ableistisch codierter Differenz in der Schule«, in: Jürgen Budde/Andrea Dlugosch/Petra Herzmann/Argyro Panagiotopoulou/Lisa Rosen/Tanja Sturm/Monika Wagner-Willi (Hg.): Inklusionsforschung im Spannungsfeld von Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik, Opladen; Berlin; Toronto: Verlag Barbara Budrich.
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gruppen entlang weiterer Differenzmerkmale wie eben auch jenen sogenannten ›Migrationshintergrund‹ (z.B. Hinz 2002). Neben dieser Beobachtung fällt außerdem auf, dass Semantiken der Integration und Inklusion in den unterschiedlichen Debatten auf verschiedenste Arten und Weisen verwendet werden. Unterscheiden lassen sich hier insbesondere sozialwissenschaftliche und pädagogischnormative Fassungen von Integration ebenso wie von Inklusion. Diese Überlegungen und Beobachtungen bilden den Ausgangspunkt des vorliegenden Textes. Er geht zunächst der Frage nach, welche gesellschaftstheoretischen Grundannahmen den Begriffen Integration und Inklusion unterliegen. Von dieser theoretischen Ausgangslage unterschieden werden kann dann, wie beide Begrifflichkeiten in bildungspolitischen und pädagogischen Kontexten normativ aufgeladen und inhaltlich eingesetzt werden. Dementsprechend schließt sich hier im Text eine erziehungswissenschaftliche, historisch-systematische Reflexion des Diskurses um die Beschulung (neu) zugewanderter Kinder und Jugendlicher an. Im Rahmen eines Exkurses folgt die Betrachtung der Verwendung der Begriffe Integration und Inklusion im Kontext von Behinderung. Kritisch beleuchtet wird der vielfach aufgerufene Paradigmenwechsel von der Integration zur Inklusion ebenso wie die den aktuellen Inklusionsdiskurs prägende Differenzierung zwischen einem sogenannten ›engen‹ und einem ›weiten‹ Inklusionsverständnis. Ein abschließender Vergleich und ein Ausblick beschließen den Text. Hier werden die herausgearbeiteten Differenzen zwischen sozialwissenschaftlichen und pädagogisch-normativen Integrations-/Inklusionsbegriffen systematisch aufeinander bezogen und im Horizont der Debatte um schulische Bildung von Schülerinnen und Schülern mit ›Migrationshintergrund‹ sowie im Hinblick auf methodologische Implikationen reflektiert.
GESELLSCHAFTSTHEORETISCHE PERSPEKTIVIERUNGEN: INTEGRATION UND INKLUSION Gesellschaftstheoretische Perspektivierungen: Integration So stark der Integrationsbegriff insbesondere den öffentlich geführten Migrationsdiskurs beherrscht (u.a. Diehm 2011), so schwer lässt er sich bestimmen oder fassen. Es handelt sich um einen schillernden Begriff, der unterschiedliche Funktionen erfüllt und verschiedene Bedeutungsebenen aufruft (vgl. ebd.: 37f.; Hoesch 2018: 79ff.). Aus gesellschaftstheoretischer Sicht sind dabei mindestens zwei Perspektivierungen möglich: Zum einen lässt sich theoretisch-analytisch
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beschreiben, was Integration strukturell für Gesellschaft(en) oder für Individuen bedeutet. Zum anderen lässt sich aus einer Beobachterebene zweiter Ordnung untersuchen, wie Integrationsbegriffe und -konzepte in der gesellschaftlichen Kommunikation und im Kontext gesellschaftlicher Funktionssysteme politisch, pädagogisch etc. oder auch alltagstheoretisch semantisch gefüllt und normativ aufgeladen werden (vgl. ebd.: 80). Innerhalb integrationstheoretischer Ansätze, die sich mit der Frage ›Was ist Integration?‹, beschäftigen, wäre wiederum zu unterscheiden, ob der Schwerpunkt auf der Integration (von Individuen und/oder Gruppen) in die Gesellschaft oder auf der Frage der Integration der Gesellschaft als Ganzes liegt. Mit der Integration von Individuen und/oder Gruppen in die Gesellschaft beschäftigen sich etwa die klassischen Assimilationstheorien. Während man zunächst davon ausging, dass sich Assimilationsprozesse quasi automatisch im Verlauf der Generationenabfolge vollziehen (vgl. Park/Burges 1969/1921; Hoesch 2018: 85), räumen spätere Ansätze ein offenes Ende und eine mögliche Reversibilität von Assimilation ein (zum Überblick ebd.: 86ff.). Schließlich wurden auch die stark kritisierte Fokussierung auf die Mehrheitsgesellschaft, auf die so genannte weiße core society, sowie eine Deutung von Integration als ›Bringschuld‹ der Migrantinnen und Migranten in Frage gestellt. Auch der Umgang der aufnehmenden Gesellschaften mit Migrantinnen und Migranten fand schließlich theoretische Berücksichtigung (z.B. Esser 2001). Von Assimilationstheorien abzugrenzen sind (aktuellere) Integrationstheorien, die sich auf einen ethnischen Pluralismus und Multikulturalismus beziehen. Sie zeichnen sich durch dezidierte Kritik an und Abgrenzung von assimilationstheoretischen Konzepten aus. Vor dem Hintergrund der Ermächtigung bislang diskriminierter ethnischer Gruppierungen angesichts anhaltender struktureller Ungleichheit und Gewalt (Empowerment) wurde das Paradigma der klassischen Einwanderungsländer, der so genannte melting pot, außer Kraft gesetzt (vgl. Hoesch 2018: 93ff.). Nicht die Anpassung der Migrantinnen und Migranten, sondern die politischrechtliche Aushandlung des Verhältnisses von Individualrechten und Gruppenrechten bzw. zwischen positiven versus negativen Freiheitsrechten, und damit verknüpft die Anpassung der Institutionen und der Abbau struktureller Ungleichheit, standen nun im Fokus. Gemein ist all diesen Integrationskonzepten und -vorstellungen, dass ihnen das Paradigma des methodologischen Nationalismus zugrunde liegt (vgl. Wimmer/Glick Schiller 2002; Bommes/Thränhardt 2010). Als Bezugsgröße der Integration gilt der jeweilige Nationalstaat; ihm wird Gesellschaft gleichgesetzt. Den theoretischen Hintergrund bilden dabei mehr oder weniger explizit strukturfunk-
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tionalistische Anleihen: Dominant ist dann die Vorstellung, dass eine (national verfasste) Gesellschaft durch einen Wertekonsens stabilisiert und integriert wird. In der soziologischen Theorielinie des Strukturfunktionalismus, die auf Emile Durkheim, Max Weber, maßgeblich aber auf Talcott Parsons (1951) zurückgeht, steht die Integration der Gesellschaft, also die Kontinuität und der Bestandserhalt sozialer Systeme im Zentrum. »In Frage steht«, so Diehm (2011: 38, Herv. i. O.). »Wie arbeitsteilig verfahrende, funktional differenzierte Gesellschaften integriert, d.h. trotz divergierender und konkurrierender Interessen zusammengehalten werden, und wie Individuen so in diese, durch Partikularinteressen wie von Zentrifugalkräften bedrohten Gesellschaften eingebunden werden, dass trotz aller Differenzierungen das Ganze erhalten bleibt.«
Um die Koordination der verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssysteme (Politik, Ökonomie, Recht, Erziehung etc.) und die Handlungen ihrer Mitglieder zu koordinieren, sehen strukturfunktionalistische Ansätze allgemein geteilte Werte vor – und sei es in Form eines Credos der Toleranz im Kontext des Multikulturalismus. Diese Werte sollen die »Akteure nach innen so binden, dass sie sich nicht gegenseitig stören oder ihre Operationen wechselseitig verunmöglichen, sondern das Ganze der Gesellschaft funktionsfähig erhalten« (ebd.). In dieser Perspektive können nur wertintegrierte Systeme stabile Systeme sein, deren Integration dann, »dem Erhalt und der Stabilität des Gesamtsystems der Gesellschaft« dient (ebd.: 39). Gesellschaftstheoretische Perspektivierungen: Inklusion Anders verhält es sich bei dem Gesellschaftsbegriff der Inklusion, den insbesondere Niklas Luhmann in seiner Theorie sozialer Systeme und Rudolf Stichweh im Anschluss daran ausarbeiten. Während es bei Parsons »ein starkes, fast vortheoretisches Präjudiz [gibt], Gesellschaft als territorial basiert und national limitiert anzusehen« (Stichweh 2005: 183), kann es für Niklas Luhmann nur eine Gesellschaft und zwar die der Weltgesellschaft geben. Dieses umfassendste soziale System schließt alle sozialen Kontakte, alle Kommunikationen ein (vgl. Luhmann 1981: 309) und lässt sich nur losgelöst von territorialen oder auch politischen Gebilden denken. Teil dieses Gesellschaftssystems sind die Funktionssysteme, wie das Wissenschaftssystem, das Politiksystem, das System der Massenmedien oder das Erziehungssystem. Die Frage der Integration der Gesellschaft, also die der Koordination der Teilsysteme, wird mit Verweis auf gesell-
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schaftliche Evolution beantwortet: Die evolutive Ausdifferenzierung der autopoietisch operierenden Funktionssysteme findet in Auseinandersetzung mit ihren Umwelten statt, indem sich die Umwelt ändert, ändert sich auch das System. Dadurch nehmen Abhängigkeiten zwischen den Teilsystemen aber nicht etwa ab, sondern zu (Luhmann 1997: 745). Zugleich gilt für Luhmann die funktionale Gleichheit ungleicher Systeme – zwischen den Systemen gibt es keine Hierarchien. Entsprechend gibt es keine zentrale Steuerung oder Koordination ebenso keinen Konsens in einem wertintegrierenden Sinne. Auch die Frage der Integration von Individuen in die moderne funktionaldifferenzierte Gesellschaft stellt sich unter der Prämisse einer systemtheoretischen Betrachtung entsprechend anders dar als in der strukturfunktionalistischen Variante: Weder wird das Individuum unter Bedingungen funktionaler Differenzierung als ganze Person, in die Gesellschaft integriert, noch ist es ausreichend, sich an entsprechende Verhaltenserwartungen wertintegrierender Art anzupassen. Es finden vielmehr immer, nur‹ Teilinklusionen in die entsprechenden Funktionssysteme statt – vermittelt über zeitweise oder synchron verlaufende Adressierungen durch die systemzugehörigen Organisationen und im Kontext systemspezifischer Interaktionen und dazu meist rollenförmig vermittelt über Leistungs- und Publikumsrollen (vgl. Stichweh 2009: 30f.; 2016). Alltagssprachlich, integriert‹ in die Gesellschaft ist, wer an möglichst vielen Teilsystemen – je nach Bedarf oder sonstigen Gesichtspunkten – teilnehmen kann (vgl. auch Radtke/Stošić 2008: 85). Exklusion vollzieht sich dabei als Nicht-Adressierung und nimmt die Form eines Nicht-Ereignisses an. Dies jedoch, so Stichweh (2009: 31), lässt sich empirisch nur schwer nachvollziehen, zumindest, wenn Exklusion im Kontext von Interaktionssystemen (z.B. Unterricht, s.u.) gemeint ist. Exklusion auf der Ebene von Organisationen lässt sich wiederum anhand nicht gewährter Mitgliedschaft ablesen (z.B. Anrecht auf Schulbesuch). Mit Blick auf (globale) Ungleichheitsverhältnisse ist hier zum einen virulent, dass in der funktional-differenzierten (Welt-)Gesellschaft Bevölkerung und Funktionssysteme tendenziell entkoppelt sind. Zum anderen operieren die Funktionssysteme mit wechselndem Personal. Das Wirtschaftssystem2 ist mithin keinesfalls auf alle Menschen in seiner Umwelt angewiesen, um seine Operationen
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Anders als im Falle des Erziehungs- oder auch das Gesundheitssystems (people processing systems) hängt die Frage der Inklusion und Exklusion in Bezug auf das Wirtschaftssystem nicht davon ab, entsprechende Rollen und damit verknüpfte Erwartungen zu erfüllen, sondern vom Zugang zum generalisierten Kommunikationsmedium Geld (vgl. Stichweh 2009: 34).
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durchzuführen. Anders als in der traditionalen Gesellschaft, deren Gruppenintegration über Solidarität funktioniert, sind Individuen in der modernen, funktional-differenzierten Gesellschaft vielmehr aufgefordert, sich Zugang zu den zentralen Funktionssystemen und deren Leistungen zu verschaffen (vgl. Diehm/ Radtke 2011: 77). Der Wohlfahrtsstaat übernimmt dann die Funktion der Bearbeitung und Kompensation der Folgen gesellschaftlicher funktionaler Differenzierung. Dabei geht es um die Aufgabe, die Inklusionschancen Einzelner oder auch bestimmter Gruppen zu steigern und damit gleichzeitig die Risiken einer teil- bzw. zeitweisen oder auch dauerhaften Exklusion abzuschwächen. Vor allem dem Zugang zum Wirtschafts- und Beschäftigungssystem kommt in einer von Erwerbsarbeit dominierten Gesellschaft eine Schlüsselrolle zu. Eine erfolgreiche Inklusion in das Wirtschaftssystem erhöht die Chance auf weitere Inklusionen und minimiert Exklusionsrisiken. Strategisch kann die Politik dazu einerseits auf der Seite der Funktionssysteme im Sinne einer Funktionsertüchtigung ansetzen (z.B. Anreize und Strukturen so setzen, dass Arbeitsplätze geschaffen werden). Oder aber es lässt sich auf der Seite der Individuen und deren Ertüchtigung und Perfektibilität ansetzen. Genau an dieser Stelle spielt das Erziehungssystem eine wichtige Rolle. Bildungspolitisch geht es darum, die Funktionsertüchtigung des Erziehungssystems so voranzutreiben, dass »herkunftsunabhängig die Inklusionschancen aller Kinder in die Organisationen des Bildungssystems […] gewährleiste[t sind]« (Radtke/Stošić 2008: 85). Die Inklusion von Individuen im Kontext von Erziehung ist damit doppelt aufgeladen: Einmal geht es um die (erfolgreiche!) Inklusion in die entsprechenden Erziehungs- und/oder Ausbildungsorganisationen, zum anderen um die (daraus folgenden) Inklusionschancen in gesellschaftliche Funktionssysteme durch Erziehung und (Aus-)Bildung. In der systemtheoretischen Betrachtung wird der Migration weder in Bezug auf die Integration der Gesellschaft noch in Bezug auf die Integration in die Gesellschaft eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Das Problem der Inklusion stellt sich vielmehr universell allen Individuen in der modernen funktionaldifferenzierten Gesellschaft. Migration und die damit verknüpfte Mobilität und Flexibilität sind Ausdruck des Versuchs oder auch des Zwangs, Inklusionschancen dort zu suchen, wo sie sich finden. In diesem Sinne gilt der Migrant in der Soziologie schon lange als Prototyp des Fremden in der modernen Gesellschaft (Simmel 1992/1908; vgl. auch Diehm 2011).
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INTEGRATION UND INKLUSION DER ›MIGRANTENKINDER‹ IN DAS ERZIEHUNGSUND BILDUNGSSYSTEM Wie angedeutet, kommt dem Erziehungssystem in der funktional-differenzierten Gesellschaft die Aufgabe zu, die Inklusionschancen jeder und jedes Einzelnen qua (Aus-)Bildung und/oder durch sozialpädagogische Maßnahmen zu erhöhen. Erziehung und Bildung können daher als Inklusionshilfe und im Kontext von Migration auch als Einwanderungshilfe gelesen werden (vgl. Diehm/Radtke 1999: 174f.; Stichweh 2016: 65ff.). Dabei geht es im Schulsystem zunächst und primär um den Erwerb von Zertifikaten, die den formalen Zugang zu höheren Ausbildungsinstitutionen oder auch zum Arbeitsmarkt regeln. Es geht aber auch um die Möglichkeiten der individuellen Teilnahme an von Erwartungen gesteuerten Kommunikationszusammenhängen (eine Rolle spielen hier dann z.B. sogenannte Schlüsselkompetenzen/soft skills oder auch Sprachkenntnisse). Die Inklusion in das Erziehungs- und Bildungssystem, also die Möglichkeit, überhaupt von Bildungsorganisationen als Schülerin oder Schüler adressiert und in Anspruch genommen zu werden, hängt in modernen Nationalstaaten von politisch-rechtlichen Vorbedingungen ab. Der historischen und regionalen Kontingenzen unterworfene Rechts- und Aufenthaltsstatus bestimmt, wer der Schulpflicht unterliegt (vgl. Puskeppeleit/Krüger-Potratz 1999 a/b; Radtke 2004). Nach Klärung der rechtlichen Voraussetzungen, die Aufschluss darüber geben, ob (überhaupt, wie lange, als Pflicht oder optional etc.) beschult (also systembezogen inkludiert) wird, steht sodann in Frage, wie die Organisationen des Bildungs- und Erziehungssystems die sogenannten Kinder mit ›Migrationshintergrund‹ inkludieren und in Interaktionen adressieren. In Frage steht auch, welche Beschulungsmaßnahmen und Etikettierungen, programmatischer und/oder organisatorischer Art, bereitgestellt und vollzogen werden. National gerahmte und öffentlich verantwortete Bildungssysteme haben es daher strukturell immer schon mit der Inklusion eben jener Bevölkerung zu tun, für die sie rechtlich zuständig sind; die Frage der Heterogenität bzw. Homogenität stellte sich damit auch immer schon (vgl. Radtke 2004). Hinsichtlich der Beschulung von ›Ausländerkindern‹ oder ›Kindern nicht deutscher Herkunftssprache‹ bzw. ›Kindern mit Migrationshintergrund‹ dominierte insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren der Begriff der Assimilation die entsprechenden (Fach-)Diskurse; seit Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre setzte sich zunehmend der Begriff der Integration durch. Der Begriff der Inklusion wird dagegen mit Bezug auf diese Schülerinnen- und Schülergruppe bis heute nur selten verwendet – am ehesten noch im Kontext der aktuellen wissenschaftlichen De-
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batten um einen ›weiten‹ Inklusionsbegriff, der, wie noch auszuführen ist, seinen Ursprung jedoch in der Sonderpädagogik hat. Semantisch verweist dies u.a. darauf, dass es bei der Beschulung besagter Schülerinnen- und Schülergruppe vor allem darum ging und immer noch geht, wie die betreffenden Schülerinnen und Schüler in das bestehende System und seine Organisationen (erfolgreich) eingegliedert werden können. In diesem Zusammenhang bezeichnend ist der Aspekt, dass es bildungspolitisch sehr lange gedauert hat, bis das Thema der Beschulung (neu) zugewanderter Kinder und Jugendlicher in Deutschland überhaupt als ein relevantes erkannt worden ist. Bis Mitte der 1970er Jahre existierte diesbezüglich wenig Aufmerksamkeit, dominierte doch die Vorstellung von einer alsbaldigen Rückkehr der ›Gastarbeiter‹ in ihre Herkunftsländer (vgl. Diehm/Radtke 1999; Powell/Wagner 2014: 179). Die zunächst verfolgte ausländerpädagogische Doppelstrategie sollte entweder die Assimilation und/oder die Rückkehrfähigkeit der Kinder gewährleisten. Umgesetzt wurde diese bildungspolitische Maßgabe allzu oft in Form einer separierenden oder auch segregierenden Inklusion, indem nationale Sonderklassen und Sonderbeschulungsmaßnahmen eingerichtet wurden. Mit der Etablierung einer interkulturellen Perspektive wurde dieses Parallelschulsystem mit seinen nationalen Sonderklassen sukzessive abgeschafft. Was folgte, war wiederum eine alternative Doppelstrategie, welche durch die Veröffentlichung der ersten PISA-Studie im Jahr 2001 noch bestärkt wurde: Bildungspolitisch bevorzugt wird heute eine Mischung aus segregierender und/oder integrierender Inklusion auf der organisatorischen Ebene. Kinder nicht-deutscher Herkunftssprache werden kompensatorisch in eigens geschaffenen Sonderformaten (z.B. in Vorklassen oder in spezifischen Sprachförderkursen) vorbereitet, um sie sodann in den (monolingual ausgerichteten) Regelunterricht zu integrieren. Hier besteht jedoch weiterhin die Gefahr einer exkludierenden Inklusion (vgl. Stichweh 2009; 2016) im Kontext des Interaktionssystems Unterricht. Auch wenn die betreffenden Kinder und Jugendlichen formal in das Bildungssystem und dessen Organisationen inkludiert sind, kann es passieren, dass »das Sozialsystem Schulklasse einige der ihm eigentlich zugehörigen Schüler gleichsam als ›lebende Tote‹ behandelt, von denen man nichts mehr erwartet und deren kommunikative Adressierung nach Möglichkeit vermieden wird« (Stichweh 2016: 164).
Diese Konstellation kann selbstverständlich auch Schülerinnen und Schülern mit deutscher Herkunftssprache treffen, das Risiko ist jedoch für Kinder mit nichtdeutscher Erstsprache und für Kinder mit zugeschriebenem sonderpädagogischem Förderbedarf ungleich größer. Die Schule ist strukturell, programmatisch
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und personell nach wie vor nicht in gebührendem Maße auf die (sprachliche) Diversität ihrer Klientel aus- und eingerichtet: Institutionelle Diskriminierung erweist sich hier noch immer nicht als dysfunktional (vgl. Gomolla/Radtke 2002) und der »monolinguale Habitus« (Gogolin 1994) zeichnet die eigentlich multilinguale Schule noch immer nahezu ungebrochen aus. Umstellungen sind jedoch auf der semantischen Ebene zu erkennen, wenn etwa die Kultusministerkonferenz in ihrer Neuauflage der Empfehlung »Interkulturelle Bildung« (KMK 2013) Mehrsprachigkeit als Normalfall ausweist. Verbindliche strukturelle Umsteuerungen sind hiermit jedoch weder auf der organisatorischen oder programmatischen noch auf der Ebene der Lehrerinnen- und Lehrerbildung impliziert. Etablierte Leistungsnormen und das nationalstaatlich gerahmte Selbstverständnis der Organisation von Schule und Unterricht bleiben unangetastet. Gerade hier wären aber aus institutionentheoretischer Perspektive die Ursachen für ungleichen Bildungserfolg zu suchen. Problematisiert werden müssten dann nicht die Herkunftssprachen und/oder Deutschdefizite der Schülerinnen und Schüler, sondern die rechtlich und organisatorisch legitimierte »Gleichbehandlung von Ungleichen« (Diehm/Radtke 1999; Gomolla/Radtke 2002), die im Effekt zu einer exkludierenden Inklusion führt und mitunter weitere (Teil-)Exklusionen und Brüche in den Bildungsbiographien sowie Ungleichheiten nach sich zieht.
EXKURS: INTEGRATION UND INKLUSION IM KONTEXT VON BEHINDERUNG Inklusion als bildungspolitisches Konzept konnte sich in Deutschland vor allem mit der Ratifizierung der UN-BRK im Jahre 20093 etablieren. Gleichzeitig avancierte Inklusion zu einem viel und breit diskutierten, auch reklamierten Begriff in Pädagogik und Erziehungswissenschaft; bisweilen wird er gar als »neuer Leitbegriff« (Bielefeldt 2012: 157) vorgestellt.4 Der erziehungswissenschaftli-
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Die Forderung nach Inklusion und nach der Abschaffung einer segregierenden Beschulung behinderter Kinder wurde bereits 1994 auf der »World conference on special needs education« (UNESCO 1994) in Salamanca formuliert. Interessanterweise entfachte diese Salamanca-Erklärung in Deutschland keine mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) vergleichbare bildungspolitische Wirkung.
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Dies steht allerdings in eigentümlichem Widerspruch dazu, dass in der deutschen (und auch französischen) Übersetzung der UN-BRK weiterhin von Integration bzw. intégration die Rede ist.
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chen Debatte im Anschluss an die Ratifizierung der UN-BRK unterlegt ist die Formulierung eines Paradigmenwechsels von der Integration zur Inklusion (u.a. Hinz 2002; Hinz et al. 2008; Reiser 2003; Schnell/Sander 2004; Katzenbach 2015). Dieser (behauptete) Paradigmenwechsel ist auf einer pädagogischnormativen Ebene zu verorten: Eine als neu verstandene Inklusionsperspektive wird teilweise in starker Abgrenzung zur Integration und so genannten Integrationspädagogik konstatiert. Integration, so die Prämisse, verweise auf eine Eingliederung von Schülerinnen und Schülern ›mit Behinderung‹ in den gemeinsamen Unterricht. Leitend sei eine binäre Codierung von Behinderung und NichtBehinderung, die sogenannte »Zwei-Gruppen-Theorie« (Hinz 2002: 357). So erscheine Behinderung als individuelles Merkmal, wobei soziale Kontexte und diskriminierende Strukturen ausgeblendet blieben. Kritisiert wird zudem, dass das Leitbild der Integration gültige und dominierende Formen der Leistungsnormierung fortschreibe. Heimlich et al. (2016: 121) etwa führen aus, im Modus der Integration würden nur Kinder in den Regelunterricht integriert, die auch eine Chance auf Erreichung der jeweiligen Schulabschlüsse erwarten ließen. Integration stelle in diesem Verständnis eine »individuumsbezogene Maßnahme (dar), die die Strukturen eines separierenden Bildungssystems nicht angetastet hat.« (Ebd.: 118) Das ›neuere‹ Inklusionsverständnis beziehe sich dagegen in Abgrenzung zu diesem Integrationsbegriff auf das »Einbezogensein als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft […], unabhängig von Fähigkeiten und Unfähigkeiten.« (Hinz 2002: 356) Damit einher gehe ein Negieren jener binären Kodierung (behindert und nicht-behindert), die als überholte Perspektive der Integration bewertet wird. Im Anschluss an die Semantik der Vielfalt habe es die Inklusion insofern, so Hinz (ebd.: 357), »mit einer einzigen, untrennbar heterogenen Gruppe zu tun […] Pädagogisch ist dann nicht mehr feststellbar, wo im kontinuierlichen Spektrum von Gleichheit und Verschiedenheit ›das deutsche Kind‹ endet und ›das ausländische Kind‹ beginnt, wo ›die weibliche Rolle‹ endet und die ›männliche‹ beginnt oder wo der Beginn von ›sozialer Benachteiligung‹, ›sonderpädagogischem Förderbedarf‹ oder anderem ›Anderssein‹ auszumachen wäre.«
Dieses Zitat verweist auf eine weitere Umstellung, die mit jenem festgestellten Paradigmenwechsel von der Integration zur Inklusion verknüpft ist: die Gegenüberstellung eines sogenannten ›weiten‹ (auf mehrere Heterogenitätsdimensionen) bezogenen Verständnisses von Inklusion und eines ›engen‹ (auf Behinderung reduzierten) Verständnisses. Mit einem solchen Inklusionsbegriff im Ver-
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ständnis von Vielfalt sind zugleich gesellschaftliche Veränderungen assoziiert. Der »Integration – im Sinne der lediglich räumlichen Verlagerung von Sonderpädagogik in die Allgemeine Schule ohne weitere Veränderung« (ebd.: 354) wird angelastet, dass sie eher das bestehende sonderpädagogische System stabilisiere und damit einen tiefgreifenden bildungspolitischen Paradigmenwechsel verhindere (ebd.; vgl. auch Löser/Werning 2015; Katzenbach 2015). Demgegenüber sei mit Inklusion eine andere pädagogische Grundorientierung verbunden, die genau das bewirken soll, was der Integration nicht gelang: »die Schule als System zu verändern.« (Ebd.: 118) Nach Lindmeier und Lütje-Klose (2015: 7f.) besteht allerdings auch im Falle eines engen, auf Behinderung bezogenen Inklusionsverständnis das vorrangige »Interesse nicht mehr darin […], Menschen mit Behinderungen an die vorhandenen Bildungsinstitutionen anzupassen, sondern diese umgekehrt so zu verändern, dass sie an die Lernbedürfnisse behinderter Menschen nach Bedarf angepasst werden können.« Ein Rückblick auf die Integrationspädagogik der 1990er Jahre zeigt zudem, dass sich bereits damals, z.B. im Kontext einer Pädagogik der Vielfalt, affirmative Vielfaltssemantiken finden, welche die Adressierung aller Kinder und Jugendlichen und gleichzeitig strukturelle Veränderungen des Schulsystems reklamieren (Prengel 1993; Hinz 1993; Preuss-Lausitz 1993). Auch wird eingeräumt, dass Inklusion in »einer theoretischen Kontinuität« (LütjeKlose/Urban 2014: 114) zum Begriff der Integration steht. Und zwar insofern, als »bereits in den 1990er Jahren ein Verständnis von Integration entwickelt wurde, das sozialwissenschaftlich fundiert ist und über die Differenzkategorie von Behinderung/Nicht-Behinderung respektive (k)ein sonderpädagogischer Förderbedarf hinausgeht.« (Sturm 2016: 135) Der nachdrücklich aufgerufene Unterschied zwischen einer integrativen und einer inklusiven Pädagogik auf Seiten des ›neuen‹ Inklusionsdiskurses erscheint daher teilweise eher als eine semantische Setzung denn als profunder Paradigmenwechsel. Wie nahe sich der ›alte‹ Integrations- und der ›neue‹ Inklusionsdiskurs sind, zeigen auch theoretische Auseinandersetzungen mit einer subjekt- und humanwissenschaftlichen Pädagogik, die bereits in den 1980er Jahren Entwürfe für einen gemeinsamen, ausdrücklich alle Kinder und Jugendlichen einschließenden Unterricht liefert (Feuser 1981; Eberwein 1988; Reiser 1990). So betrachtet Feuser (1995: 173f.) integrative Prozesse als eine Kooperation am gemeinsamen Gegenstand, die für alle Kinder und Jugendlichen gilt. Auch Moser (2017) verweist darauf, dass der De-Kategorisierungsansatz, der gemeinhin der inklusiven Pädagogik zugeschrieben wird (Biewer 2016), bereits in die Anfänge der Integrationsforschung eingelassen ist (ebd.: 21). Auf eine ähnliche Tendenz im US-amerikanischen Diskurs macht Biewer (2016) aufmerksam: Mit Blick auf
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den Anspruch einer heterogenitätsbezogenen Perspektivierung sei schon in der ersten Hälfte der 1990er Jahre eine ›engere‹ Fassung von ›inclusion‹ zu finden gewesen mit der eigentlichen Zielgruppe: Kinder mit ›special educational needs‹ (SEN), zugleich aber seien bereits zu dieser Zeit weitere marginalisierte Gruppen gemeint gewesen. Neben dieser eher pädagogisch formierten Auseinandersetzung um den Adressatinnen- und Adressatenkreis einer Inklusionspädagogik lässt sich innerhalb des erziehungswissenschaftlichen Diskurses eine weitere Entwicklung identifizieren, die Sturm (2016: 135) als eine Verschiebung der »Adressatenorientierung hin zu einer situationsbezogenen Perspektive auf Behinderung« beschreibt. Entwickelt hat sich ein analytischer Inklusionsbegriff, der vor allem im Anschluss an die britische Forscherinnen- und Forschergruppe um Mel Ainscow (2008; Booth/Ainscow 2002) aufgerufen und als Minimierung von Diskriminierung und Maximierung von Teilhabe für Schule und Unterricht verstanden wird (vgl. Heinrich et al. 2013; Lindmeier/Lütje-Klose 2015; Sturm 2016). Exklusion bildet hier den Komplementärbegriff zur Inklusion und verweist auf die Behinderung bzw. auf die Barrieren von Teilhabe und Partizipation, die in den Strukturen und Praktiken von Unterricht und Schule verortet werden (Ainscow et al. 2006; Dyson 2010; Booth/Ainscow 2019; Wagner-Willi/Sturm 2015; Sturm 2016). In diesem Sinne weisen auch Budde und Hummrich (2015: 33) Inklusion als ein analytisches Konzept aus. Allerdings führen sie an, dass eine Engführung des Teilhabebegriffs auf Menschen mit Behinderungen Gefahr laufe, einseitig und affirmativ zu sein. Inklusion als rein sonderpädagogisches Thema zu fassen, münde in eine »unterkomplexe Schieflage« mit dem Effekt, dass »neben der Differenzkategorie Behinderung/Nichtbehinderung […] andere exklusionsrelevante Differenzkategorien systematisch und in ihrer Wechselbeziehung« ausgeblendet blieben (ebd.: 36); auch würden die exkludierenden Effekte pädagogischer (inklusionsorien-tierter) Institutionen nicht beleuchtet. Sie fordern dazu auf, Inklusion in einem analytischen Verständnis zum einen stets im Verhältnis zu Exklusion zu fassen, zum anderen aber vor allem intersektional zu denken. Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive wird Inklusion so als empirische Frage markiert, die entlang verschiedener Differenzkategorien das Verhältnis von Inklusion und Exklusion zu rekonstruieren versucht (ebd.: 37).
ABSCHLIEßENDER VERGLEICH UND AUSBLICK Es sollte deutlich geworden sein, dass verschiedene und nur schwer miteinander zu vergleichende Begriffe von Integration und Inklusion im Umlauf sind. So
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unterscheidet sich ein sozialwissenschaftliches Verständnis von Inklusion, das im Sinne eines Forschungsparadigmas als Heuristik an Schule und Unterricht angelegt werden kann, stark von einer normativ-pädagogischen Fassung von Inklusion, die allererst darauf zielt zu definieren, wie oder was Inklusion sein soll, welche Ziele Inklusion verfolgt und welche Zielgruppe(n) unter inklusionspädagogischer Sicht adressiert sind. Veranschaulichen lässt sich diese Differenz an der Einrichtung segregierender Institutionen wie der Förderschule oder so genannter Nationalklassen: Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive liegt hier nicht ein Fall von Exklusion, sondern von segregierender Inklusion vor – die so gesehen zunächst weder positiv noch negativ zu deuten wäre. Aus inklusivpädagogischer Perspektive hingegen wird die Förderschule stark kritisiert und als ein Ort der Exklusion beschrieben (u.a. Pfahl 2012), gleiches ließe sich etwa für Nationalklassen oder auch so genannte Vorbereitungsklassen im aktuellen Fluchtkontext konstatieren. Auch die Diskurse um Integration und Inklusion im Kontext von Behinderung und Migration unterscheiden sich: Integration im Kontext von Behinderung verweist auf der semantischen Ebene immer schon auf eine (schulische) Teilhabe der betreffenden Schülerinnen und Schüler. Zwar gab es auch hier Einpassungstendenzen, bei denen es um die Frage ging, welche Kinder ›trotz‹ ihrer Behinderung erfolgreich im regulären Schulsystem bestehen könnten (vgl. Heimlich et al. 2016: 121). Doch eine alle Kinder umfassende individuelle ›Zurichtung‹ im Hinblick auf das bestehende Schulsystem und seine Anforderungen, wie dies z.B. bei ausländerpädagogischen Maßnahmen der Fall war, wurde nicht gefordert. Ein weiterer Unterschied ist, dass schulische Integration sich im Fall ›Behinderung‹ vornehmlich auf eine pädagogische Ebene bezieht. Umgekehrt war und ist die Auseinandersetzung um die schulische Integration der ›Migrantenkinder‹ stark verschränkt mit gesamtgesellschaftlichen Integrationsdebatten, in denen es immer auch um ›kulturelle Differenzen‹ sowie Zugehörigkeits- und Fremdheitskonstruktionen geht. Als Adressatinnen und Adressaten einer inklusiven Beschulung tauchen ›Migrantenkinder‹ lediglich in (erziehungs-)wissenschaftlichen pädagogischen Meta-Reflexionen auf. Den Rahmen bilden dann ein ›weites Inklusionsverständnis‹ und entsprechende Vielfaltssemantiken, die neben Behinderung, Geschlecht etc. auch Migrationskontexte als Heterogenitätsdimension mitdenken. Obwohl eben jenes weite Inklusionsverständnis im erziehungswissenschaftlichen ›Mainstream‹ angekommen ist, scheint die bildungspolitische Debatte um Inklusion jedoch nach wie vor ›nur‹ auf Schülerinnen und Schüler mit zugeschriebenem sonderpädagogischen Förderbedarf zu rekurrieren. Die Ursache für die Ausklammerung der ›Migrantenkinder‹ aus bildungspolitischen Inklusionsbestrebungen kann, so die These, in den verschiedenen
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Erwartungsstrukturen liegen, die an die Schülerinnen- und Schülergruppen jeweils herangetragen werden. Damit verbunden stellt sich die Frage, inwiefern deren Inklusion in einem pädagogisch-normativen Sinne jeweils etablierte Leistungsnormen und Bewertungsroutinen tangiert. Leistungskonstruktionen sind auf den Vergleich und damit auf Vergleichbarkeit angewiesen. Insofern bildet ein zugeschriebener sonderpädagogischer Förderbedarf die Legitimationsbasis für ein Außer-Kraft-Setzen normierter und standardisierter Leistungserwartungen. Vor dem Hintergrund der Vorgabe eines (ziel-)differenzierten Unterrichts irritiert dies die etablierten Erwartungsstrukturen der Schule jedoch nicht unbedingt. Denn diese basieren auf der Annahme, dass ein festgestellter sonderpädagogischer Förderbedarf auf (vergleichsweise) verminderten Leistungs-, Fähigkeits- oder auch Begabungspotentialen beruht.5 Insofern sind auch ungleiche Bildungserfolge der betroffenen Kinder angesichts bestehender Leistungs- und Bewertungsnormen legitimierbar – sie gelten nicht zwangsläufig als ungerecht. Bei ›Migrantenkindern‹ liegt der Fall anders: Als legitime Begründung für Schulmisserfolg werden bei ihnen vor allem ›unzureichende‹ Kenntnisse der deutschen Sprache aufgerufen. Diese Umgangs- und Argumentationsweise kann als Ausdruck Institutioneller Diskriminierung beschrieben werden, weil hier, wie ausgeführt, der Mechanismus einer »Gleichbehandlung von Ungleichen« greift (Gomolla/Radtke 2002; Diehm et al. 2013). Im Modus eines ›Schicksalstopos‹ werden Erwartungen an die Leistungsfähigkeit dieser Schülerinnen- und Schülergruppe teilweise schon vor Schulbeginn aufgegeben und deren schulisches Scheitern als zwar bedauerlich, aber unausweichlich beschrieben (z.B. Steinbach 2015; Stošić 2017).6 Analog zu ausländerpädagogischen Ansätzen wird vor allem der Kompensation von Sprachdefiziten – also Defiziten im Deutschen – eine Problemlösung zugeschrieben, dementsprechend konzentrieren sich bildungspolitische Versuche einer Funktionsertüchtigung der Schule hier auf systematische Sprach- bzw. Deutschförderung. Strukturelle Änderungen im Sinne einer Anpassung der Leistungs- oder auch Bewertungsnorm an die mehrsprachigen und translingualen Vorerfahrungen der Kinder finden bislang nur wenig Zustimmung in bildungspolitischen Auseinandersetzungen. Auch organisatorische Anpassungen, die ein Aufbrechen eines monolingualen Habitus
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Dies betrifft insbesondere Förderbedarfe, die sich auf kognitive oder auch starke so-
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Dass diese Legitimationsfunktion natürlich auch im Zuge der Zuschreibung sonderpä-
ziale Beeinträchtigungen beziehen. dagogischer Förderbedarfe greift, haben wir u.a. in der längeren erst gedruckten Version dieses Textes herausgearbeitet (vgl. Stošić/Hackbarth/Diehm 2019).
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der Schule (Gogolin 1994) nach sich zögen, sind bislang nicht zu beobachten – dies aber würde einem emphatisch pädagogischen Inklusionsverständnis entsprechen, insofern sich die schulischen Erwartungsstrukturen an ihrer Klientel und nicht umgekehrt orientierten. Dies bedeutete in der Konsequenz dann allerdings, eine erhebliche Irritation des Systems zuzulassen und etablierte Erwartungs- und Bewertungsnormen zu hinterfragen.
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Falsche Kinder in der richtigen Schule – oder umgekehrt? Auslotungen eines Perspektivenwechsels von selektiven Normalitätsvorstellungen hin zu einer Phänomenologie des ›So-Seins‹ Hans Karl Peterlini
»Und jeder der sich nicht anpasst Wird zum Problemkind erklärt Und jede, die zu lebhaft ist Kriegt ʼne Pille, damit sie nicht stört Und damit betrügt ihr euch selber, denn Kein Kind ist ein Problem.« Sarah Lesch, Lied »Testament«, 2016
DAS HIDDEN CURRICULUM DER SELEKTIVEN SCHULE »Inklusion ist ja gut, aber wie kriegt man eine homogene Klasse zusammen?« Die Frage, oder eher der Stoßseufzer, einer Studierenden im Rahmen der Lehrveranstaltung »Schulische Sozialisation und soziale Ungleichheit« (Universität Klagenfurt, Master Schulpädagogik, Sommersemester 2018) verdichtet in ihrer Sorge um eine gute Unterrichtsgestaltung gleich mehrere Missverständnisse um Inklusion. Als erstes springt wohl die Vorstellung ins Auge, dass das Ziel einer inklusiven Unterrichtsgestaltung, eine ›homogene Klasse‹ sein kann, dass also die Heterogenität, die Schülerinnen und Schüler in eine Schulklasse mitbringen, zu Homogenität vereinheitlicht werden müsste, durch welche pädagogischen und didaktischen Anstrengungen auch immer. Zwischen diesem vermeintlichen Auf-
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trag und der Sorge, wie (nicht ob) das gehen kann, schimmert als weiteres Missverständnis der Glaube an die didaktische und pädagogische Machbarkeit von Lernen durch – eine Kausalitätsannahme, dass jedes Lernen, also auch inklusives soziales Lernen durch geeignete Lehrmethoden bewerkstelligt werden kann. Lehren stößt an eine Grenze, wo es etwas hinkriegen muss, das sich einer so gedachten Machbarkeit schlicht entzieht. Und über den ganzen Satz gespannt ist ein – unausgesprochenes – Verständnis von Normalität, in die alle in der Klasse gegebenen Abweichungen durch Homogenisierung eingepasst werden müssten – das ideale Kind, das es nicht gibt. Der Schatten dieses als hidden curriculum (Sambell/McDowell 1998: 391) tiefsitzenden Anspruchs, durch Inklusion eine homogene Klasse zusammen zu kriegen, ist die damit implizit verbundene Vorstellung, dass es eine solche Klasse leichter geben könnte, wenn nur richtig selektiert würde. Dies hat im genannten Seminar zu einem Denkspiel geführt: Man nehme eine Schulklasse aus einer hypothetischen Einheitsmittelschule, wie es sie in Italien aufgrund der dortigen nicht-aussondernden Erziehung seit gut 40 Jahren tatsächlich gibt (vgl. Peterlini J. 2015: 90f.; vgl. Peterlini HK 2018; vgl. Beitrag von Ianes et al. in diesem Buch). Dann beginne man nacheinander unterschiedliche Kategorien von Kindern oder Jugendlichen auszusondern, um zu schauen, ob sich am Ende eine homogene Klasse ergibt: Man lasse zum Beispiel zuerst alle Kinder mit Behinderung1 weg, weil deren Anders-Sein in stereotypen Vorstellungen als erstes ins Auge fällt; es folgen Schülerinnen und Schüler, die früher als geistig behindert bezeichnet worden wären; im nächsten Schritt könnten Begabungsraster eingeführt werden, um Kinder mit Lernschwächen und solche mit Spitzenbegabungen auszusortieren, die dann in andere schulische Settings – Hochleistungsklassen und Förderklassen – überführt werden könnten; das Raster würde sehr schnell nach einer Verfeinerung rufen, da Begabungen, sofern sich diese so ohne weiteres feststellen lassen, je nach Fächern und Disziplinen sehr unterschiedlich sind. So könnte in einer hypothetischen homogenen Klasse das Rechengenie, dessen Deutschaufsätze eher spröde ausfallen, schwerlich in einer Klasse mit der Schreibkünstlerin oder dem Schreibkünstler unterrichtet werden, sofern das Ziel eine homogene Klasse ist, das Sport-As kaum mit der oder dem etwas weniger sportlichen Intelligenzbestie in eine Leistungsgruppe kommen – man verzeihe die platten Typisierungen, sie dienen der Zuspitzung des Vorhabens, durch Se-
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Der Begriff ›Behinderung‹ wird hier anstelle von Beeinträchtigung verwendet, um die dahinterstehenden Diskriminierung evident zu machen; der Autor verwendet ansonsten bevorzugt Beeinträchtigung im Sinne eines sozialen Behinderungsbegriffes.
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lektion eine homogene Klasse zu bilden. Schließlich könnte es noch jemandem einfallen, die Kinder nach – sozialer und/oder regionaler – Herkunft auszusortieren, da diese Faktoren gemeinhin einer homogenen Klassenbildung ebenfalls im Wege stehen. Es bliebe, so die im angesprochenen Seminar sehr schnell gemeinsam gewonnene Erkenntnis des Denkspiels, kein Kind übrig. Die homogene Klasse wäre eine Klasse ohne Kinder. Trotz der greifbaren Absurdität ist die Vorstellung von Homogenität als zu erreichendes Schulziel den Zweifeln, ob eine inklusive Schule möglich ist, ebenso eingeschrieben wie aktionistischen Ansätzen dazu. Als jüngeres Beispiel sei die Einführung von Sprachförderklassen in Österreich für Schülerinnen und Schüler genannt, die »über keine oder nur sehr eingeschränkte Kenntnisse der Unterrichtssprache Deutsch verfügen« (BMBWF 2018; Kurier 2018). Eine solche Maßnahme mag sprachdidaktische Vorteile und Nachteile haben. Jenseits didaktischer Abwägungen verrät sich dahinter aber auch die Vorstellung, dass in homogenen Klassen leichter und besser gelernt wird, nämlich einerseits dann, wenn alle Schülerinnen und Schüler mit mangelhaften Deutschkenntnissen einen Sonderunterricht bekommen, andererseits dann, wenn alle normalen von den sprachlich schwächeren Schülerinnen und Schülern verschont werden und es wieder rein deutsche Klassen gibt. Dies zeigt sich beispielsweise an der allerersten Reaktion einer Leserin auf einen Medienbericht (Standard 2014), in dem die Auslese von Kindern migrantischer Herkunft durch die Sprachtests kritisiert worden war. Die Leserin entgegnete: »Alle meine FreundInnen mit Familie sind in NÖ Umland gezogen. Die homogenen Klassen bilden sich von allein.« (Ebd.) Die hier durchklingende Idee, dass die durch Wegzug zurückbleibenden Migrationsklassen im negativen Sinne und die angestrebten niederösterreichischen Umlandschulen im positiven Sinne tatsächlich homogen sind, verweist auf die Engführung von Homogenitätsvorstellungen auf ein einziges Abweichungsmerkmal, nämlich jenes, das als erstes ins Auge springt: Das ist für die eine Hälfte der vermeintlich homogenisierten Klassen der Migrationshintergrund als vereinheitlichendes Merkmal, worin sich die Problematik dieses sozialwissenschaftlich letztlich wenig aussagekräftigen Begriffes zeigt (vgl. Hamburger 2010: 17), da sich dahinter die Annahme verbirgt, die Kinder migrantischer Herkunft oder Familiengeschichte seien alle gleich (vgl. Peterlini 2016: 132). Für die andere Hälfte ist es der simple Umstand, nicht migrantisch zu sein (vgl. Huxel 2014: 71). Dass dies weder hier noch dort Homogenität bedeutet, verrät sich erst auf jenen »zweiten Blick«, den Niklas Luhmann als Beginn wissenschaftlichen Hinterfragens bezeichnet, mit dem »neue Fragen und Bedenken hoch[kommen]« (Luhmann 1981: 170). Diese Fragen und Bedenken könnten sein:
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• Lässt es sich denken, dass in Schulklassen, die nicht von Migration mitgeprägt
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sind, tatsächlich alle Kinder dieselbe sprachliche Kompetenz aufweisen? Und würde jemand für sprachlich schwächere Kinder aus – sagen wir – niederösterreichischen Familien eine Sprachförderklasse verlangen? Ist es vorstellbar, dass bei Aussonderung aller sprachlich nicht für ausreichend kompetent bewerteten Kinder und Jugendlichen die solcherart homogenisierten Klassen wirklich homogen wären, etwa in Bezug auf bildungsbezogene, herkunftsbedingte, familiale, soziale, ökonomische Unterschiede, aber auch in Bezug auf die Kompetenz in unterschiedlichen Fächern inklusive der Sprache? Ist es gesichert, dass Kinder, die durch den Sprachtest von den Regelklassen ausgeschlossen werden, in diesen nicht sehr schnell aufholen und aufblühen würden, während sie durch die Aussonderung und drängende Förderung, die auch Druck macht, möglicherweise »geknickt [werden], bevor sie aufstehen können« (Müller 2018: 10)? Entspricht ein schulpolitisches Programm, das auf eine – auch für inländische Kinder gar nicht erreichbare – perfekte Einsprachigkeit setzt, den bildungspolitischen Erfordernissen in einer Migrationsgesellschaft? Oder hält ein solches Programm verkrampft am monolingualen Habitus (Gogolin 2008) fest, der die Schule des Nationalstaates geprägt hat und weiterhin prägt, obwohl sowohl Gesellschaft als auch Schule des Nationalstaates in einer globalisierten Gesellschaft und Ökonomie längst multilingual sind? Müsste Schule nicht sinnvoller Weise eher dahingehend konzipiert werden, den vorhandenen sprachlichen Reichtum und die gegebene Mehrsprachigkeit als besondere Kompetenz (vgl. Gnutzmann 2004: 45ff.) zur Kenntnis zu nehmen, wertzuschätzen und entsprechend curricular zu verankern (vgl. Gogolin 2008: 23), statt diese weiterhin als störende Abweichung von der gewünschten Homogenität abzuwerten und zu verwerfen? Und schließlich: Wer kann ernsthaft behaupten, dass in homogenen Klassen besser gelernt wird als in heterogenen?
INKLUSIVE ÖFFNUNGEN UND NEUE SCHLIESSUNGEN Die Einführung von eigenen Sprachförderklassen in Österreich mit Beginn des Schuljahres 2017/18 geht wohl nicht zufällig mit der im internationalen Diskurs allmählich durchgesetzten Öffnung des Inklusionsgedankens einher. Nicht erst seit der Forderung der UNESCO (2014), dass alle Menschen »unabhängig von besonderen Lernbedarfen, Geschlecht, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen« gleichberechtigte Teilhabe an Bildung haben müssen, wurde das Inklu-
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sionsverständnis im vergangenen Jahrzehnt über die UN-Behindertenrechtskonvention (vgl. Vereinte Nationen 2016) hinaus ausgedehnt (vgl. Biewer/Schütz 2016). Es geht damit nicht mehr allein um die Frage, wie Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigung in die Regelschulen integriert werden können, sondern wie Schule und Unterricht gestaltet sein müssen, »um der Verschiedenheit der Voraussetzungen und Bedürfnissen aller Nutzer/innen gerecht zu werden« (Biewer 2010: 193). Am österreichischen Beispiel zeigt sich, dass diese konzeptionelle Öffnung für nicht mehr a priori und per klinischer Diagnose definierbare Diversitätsaspekte die institutionellen Widerstände gegen Inklusion eher verstärkt als abzubauen hilft. Ging es im herkömmlichen Inklusions- oder noch Integrationsverständnis darum, Regelungen und Maßnahmen sowie Aus- und Fortbildung auf bestimmte benennbare Gruppen abzustimmen, sind Schule und Schulpolitik durch ein Verständnis von Inklusion, das alle betrifft, völlig neu herausgefordert und teilweise im Inklusionsverständnis offenbar überfordert. »Erhalt und Stärkung des Sonderschulwesens« sowie »Wiedereinführung der sonderpädagogischen Ausbildung« (BKA 2017: 62) waren nur die besonders hervorstechenden Vorhaben der ÖVP-FPÖ-Koalition 2017-2019, die auf ein zumindest gewünschtes Zurückrudern zu einem selektiven Schulsystem hinweisen. Ausgegangen wird dabei von einem auf den ersten Blick diversitätsbewussten Gedanken: »Denn jede Schülerin und jeder Schüler in diesem Land verfügt über unterschiedliche Talente und Begabungen, hat besondere Interessen und möglicherweise in gewissen Bereichen Förder- und Aufholbedarf.« (BKA 2017: 59) Diesen »differenzierten Anforderungen« soll nun aber »durch eine differenzierte Struktur an Schultypen« begegnet werden (ebd.). Wie schnell spezifische Förderung über gesonderte Angebote zu Selektion und Ausgrenzung geraten kann, zeigt sich an den Sprachförderklassen. Die Aussonderung von Kindern, die sprachlich aus welchen Gründen auch immer Schwierigkeiten haben, führt konsequent das ohnehin noch präsente (vgl. Feyerer/Holzinger 2017) Paradigma der sonderpädagogischen Selektion weiter, indem diese nun auch auf neue Gruppen übertragen wird. Die Gruppe von Kindern aus Familien mit migrationsgeprägter Geschichte ist eine erste Zäsur, der weitere folgen könnten. Wenn Kinder aus sprachlichen Gründen vom Regelunterricht ferngehalten werden können, würde konsequent gedacht nichts dagegensprechen, auch jene auszusondern, die nicht gut genug rechnen können oder andere Lernschwierigkeiten haben – der Weg von der Sonderpädagogik hin zur inklusiven Schule, wie er ausgehend von der Salamanca-Erklärung 1994 beschritten wurde, würde zumindest unterbrochen, wenn nicht gänzlich verlassen.
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Aus der Sorge, dass Homogenität in einer Schule für alle nicht erreichbar ist, würde der – zuvor fiktiv durchgespielte und zum Scheitern verurteilte – Versuch ansatzweise real, die Homogenität mittels Gruppen- und Kategorienbildung in einem System schulischer Selektion wiederherzustellen. Da dies selbstredend nur für große (und in sich inhomogene) und dichotom konstruierte Gruppen möglich ist – sprich Behinderte vs. Nicht-Behinderte, Lernschwache vs. Normale, Normale vs. Begabte, Migrationshintergrund vs. Einheimische – würde zwar das Ziel homogener Lerngruppen nicht erreicht, wohl aber eine neue Grundlage für institutionelle Diskriminierung geschaffen. Der bereits für erreicht gehaltene internationale Konsens, dass Schule nicht ausschließend sein darf, sondern möglichst inklusiv gestaltet sein soll, wird – zumindest in Österreich – durch die Ausdehnung auf unterschiedliche Differenzlinien neu auf die Probe gestellt. Sollte inklusive Pädagogik gemäß ihrer gegenwärtigen Konzeption »Etikettierungen und Klassifizierungen ablehnen« (Biewer 2010: 193), um für alle Kinder und Jugendlichen eine »Minimierung von Diskriminierung und Maximierung sozialer Teilhabe« (Werning 2016: 229) zu erreichen, scheint gerade dies alte Widerstände zu wecken und neue Ablehnungstendenzen hervorzurufen. Mit den aufzugebenden Etikettierungen und Kategorisierungen gehen (vermeintliche) Sicherheiten verloren, die bisherige und weiterhin dominante Selbstverständnisse von Schule, Bildung, Lernen ausmachen.
NORMALITÄTSANNAHMEN ALS GEGENSTAND EINER BEGRIFFLICHEN »POLEMIK« Im Zentrum der verunsicherten Selbstverständnisse, wie Schule zu sein hat oder sich entwickeln sollte, steht nichts weniger als die Frage der Normalität. Diese hat lange – wenn auch sprachlich meist verschleiert – die Unterscheidung zwischen behindert und normal bestimmt – die Regelschule für die Normalen, die Sonderschule für die Nicht-Normalen. Ein inklusiver Ansatz, der diese Dichotomie dadurch angreift, dass er die Unterscheidungen letztlich ins Endlose vervielfältigt, nährt zwangsläufig Restaurationswünsche nach der verloren gegangenen Ordnung. Wenn »jede/r anders anders ist« (Arens/Mecheril 2010: 11), kommt – radikal zugespitzt – die Vorstellung abhanden, was nun normal ist und was nicht. Sich darauf einzulassen, erfordert ein neues Verständnis von Normalität, das nicht von Kindern und Jugendlichen als hypothetische Idealprodukte von Bildungsprozessen ausgeht, sondern von Kindern und Jugendlichen, wie sie eben sind und werden. Dem traditionellen, historisch tief wurzelnden Normalisierungsauftrag der Schule, nämlich Kinder und Jugendliche an normativ gesetzte
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gesellschaftliche Wunschvorstellungen anzupassen (vgl. Foucault 1976, vgl. Sohn/Mehrtens 1999), kämen damit die zentrale Zielvorgabe (eine als homogen imaginierte Normalität) und das wirkmächtigste Leitinstrument (eine dichotom konstruierte Normalitätsvorstellung) abhanden. Im Versuch, die alte Ordnung durch neue Selektion zu restaurieren, zeigen sich Kompensationstendenzen gegen den befürchteten Orientierungsverlust. Schule – und mit ihr die Pädagogik als Reflexionswissenschaft von Bildungs-, Sozialisations- und Lernprozessen in Schule, Familie, Gesellschaft – steht damit einmal mehr vor einem Dilemma, das ihr von ihren Anfängen her anhaftet. Wiewohl Bildung mit der Renaissance und noch einmal nachdrücklich mit der Pädagogik der Aufklärung ein Angebot für alle sein sollte und soll, ist sie genau damit auch zu einer Institution der Zurichtung auf gesellschaftliche Anforderungen an das Subjekt und an dessen ökonomischer Verwertbarkeit geworden (vgl. Ribolits 1997: 19-25). Die mehr oder weniger explizite Zielvorgabe aller Bildungsanstrengungen war der funktionierende Mensch, gemessen an Normvorstellungen, die nur dadurch hervorgebracht werden konnten, dass das Normale vom Nicht-Normalen unterschieden wurde, oder wie Peter Gstettner in seinem ungebrochen aktuellen Werk über »Die Eroberung des Kindes durch die Wissenschaft« zur Dynamik von Normalitätsherstellung schreibt: »Diese Dynamik ist stets von einer Polemik getragen, die ›das Normale‹ dem Menschen aufzwingt, um ihm gleichzeitig ›das Abnormale‹ (als Negativ) vorzuhalten.« (Gstettner 1981: 66, Herv. i. O.) Ein wichtiger Ausgangpunkt dafür ist George Canguilhems Analyse des Definitionsaktes, mit dem Normalität hervorgebracht wird: »Eine Norm, ein Richtmaß, dient dazu, geradezumachen, zu richten und wieder aufzurichten. Normieren und normalisieren, das bedeutet: einem Daseienden, Gegebenen eine Forderung aufzwingen, von der aus sich Vielfalt und Disparatheit dieses Gegebenen als ein nicht bloß fremdes, sondern feindliches Unbestimmtes darstellen. Polemisch ist der Begriff gerade darin, daß er den der eigenen Geltung nicht unterworfenen Bereich des Gegebenen negativ qualifiziert und doch auf seiner Einbeziehung beruht.« (Canguilhem 1977: 163; zit.n. Gstettner 1981: 66, Herv. i. O.)
Bemerkenswert an einem so verstandenen Normalisierungsakt ist, dass die Normalität zum Abstraktum wird. Nicht der Alltag des Kindes und dessen konkretes So-Sein waren (und sind) »empirische Grundlage für das ›Idealtypische‹ und ›Normale‹ in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen (und an ihren Lebensläufen)« (Gstettner 1981: 81), sondern Vorstellungen von Naturgegebenheit und Reinheit, »d.h. ein aus der Wunsch- und Wunschverdrängungsvorstellung
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der Erwachsenen zustande gekommenes Bild« (ebd.). Einer solchen Normalisierung, die psychoanalytisch als Verdrängung (vgl. Freud 1973 [1911]: 189) von allem gesellschaftlich Unerwünschten (Erdheim 1984: 25) gedeutet werden kann, stellt Gstettner eine Forschungshaltung entgegen, die Normalität als das begreift, »was alltäglich passiert; alltäglich ist also auch jener Prozeß, in dem etwas als ›abnorm‹ bezeichnet wird« (Gstettner 1981: 82). Wissenschaft hat dementsprechend den Auftrag, Normalitätsherstellungen in ihrer Alltäglichkeit zu durchschauen und zu kritisieren, indem ›Abnormes‹ nicht als etwas per se Ausgegrenztes, als eine naturgesetzlich gegebene Fehlform, sondern als eine von interagierenden Menschen bewerkstelligte Definition« (ebd.) verstanden wird: »Als ›abnormal‹ konstituieren sich Phänomene deshalb erst dann, wenn sie von interagierenden Personen als solche wahrgenommen und/oder dargestellt, d.h. berichtet werden.« (Ebd.) Die damit eingeforderte Forschungshaltung stützt Gstettner auf den von Harold Garfinkel begründete Ethnomethodologie (Garfinkel 1967; vgl. Weingarten/Sack/Schenkein 1976; Smith 1976). Die kontinuierlich hervorgebrachten Annahmen über die Welt (»ongoing accomplishment«, Garfinkel 1967: 1) bedürfen einer ebenso kontinuierlichen Überprüfung von gesichertem Wissen, von Alltagspraktiken und begrifflichen Kategorien – und damit auch von Annahmen über das Normale und das Nicht-Normale. Erst durch eine Fremdmachung vertrauter Grundannahmen über die Welt werden diese einer kritischen Auseinandersetzung zugänglich, nämlich damit, wie Mitglieder einer Gesellschaft die Annahmen über die Welt hervorbringen und konstruieren (vgl. Garfinkel 1980). In der Entwicklung der Ethnomethodologie orientierte sich Garfinkel unter anderem an der sozialwissenschaftlichen Umsetzung der Husserl’schen Phänomenologie durch Alfred Schütz (vgl. Eberle 2009: 97). Gemeinsam ist den Ansätzen die »Einklammerung« (έποχή, Epoché) von Vorannahmen, wie sie Edmund Husserl als Ausgangspunkt seiner Phänomenologie als Forschungshaltung als »eine gewisse Urteilsenthaltung« (Husserl, 2010 [1913]: 140) postuliert hatte. Darin liegt keine – wie Husserl präzisiert – Leugnung der Wirklichkeit von Welt und Dingen, sondern eine Enthaltung von letztgültigem Wissen darüber und damit ein Verzicht auf »jedes Urteil« (ebd.: 142) zugunsten des Hinschauens und Hinhörens, wie sich die Phänomene der menschlichen Wahrnehmung und dem menschlichen Bewusstsein zeigen. In einer kritischen Auseinandersetzung mit Konstrukten von Normalität und Abweichung kann ein solcher Ansatz sowohl auf der Ebene wissenschaftlicher Auseinandersetzung als auch praxeologischer Umsetzung durch pädagogische Angebote fruchtbar gemacht werden für genau jene Überforderung, die eine Auflösung von Richtig-Falsch, Normal-Nichtnormal-Kategorien mit sich ge-
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bracht hat. Wenn Anders-Sein nicht mehr von vornherein mittels zuschreibender Kategorien definiert ist, entziehen sich auch Normalitätsvorstellungen einer Festlegung a priori. Das Ziel von Lernen und Bildung ist nicht mehr eine normativ als normal gesetzte Wunschwirklichkeit, der alle Abweichungen eingepasst werden müssen bzw. zu deren Erreichung störende Abweichungen selektiert werden müssen. Die gegebene Vielfalt wird stattdessen selbst zur Normalität. Normalisierung besteht nicht darin, dass Abweichungen diagnostiziert und therapiert oder aussortiert werden müssen, sondern das So-Sein von Kindern und Jugendlichen wird – weil es die gegebene und erfahrbare Wirklichkeit ausmacht – in seinem So-Sein wahrgenommen und keiner Abgrenzung von einer imaginierten Normalität unterworfen, weil es eine Seinsweise von vielen innerhalb einer ausgedehnten Normalität ist. Ein solches Verständnis von Normalisierung verlangt nach pädagogischen Wahrnehmungen von Differenz anstelle von klinischen Diagnosen. Eine davon sich abhebende pädagogische Diagnostik, wie sie etwa in Österreich in einer gemeinsamen Initiative von »Schulqualität Allgemeinbildung Sektion 1« (SQA) und dem Bundesministerium für Bildung (BMB) operationalisiert wurde (SQA/BMB 2017), neigt schon von der Begrifflichkeit her dazu, eine offene Wahrnehmungshaltung der diagnostischen Schärfe unterzuordnen, wie sich auch an der begrifflichen und operationalen Zusammenführung von »Förderdiagnostik« und »Selektionsdiagnostik« zeigt (ebd.: 6, Tabelle). Die hier vorgeschlagene pädagogische Perspektive auf Normalisierung erschöpft sich weder in Selektionsmaßnahmen, noch in – je nach Problemstellung weiterhin nötigen – individualisierten Förderungsmaßnahmen, mit denen die durch Exklusions- und Diskriminierungspraktiken hervorgebrachten Benachteiligungen minimiert werden sollen (vgl. Dietrich 2017: 125). Vielmehr betrachtet sie die gegebene und phänomenologisch sich zeigende Lebenswirklichkeit konkreter Menschen als Normalität, um von dieser Voraussetzung ausgehend – im Sinne einer differenzsensiblen Schule – dem jeweiligen Anders-Sein Raum und Aufmerksamkeit zu geben. Gleichheit und Differenz, als pädagogische Forderung und phänomenologisch wahrnehmbare Gegebenheit, bilden damit den Spannungsbogen ein und derselben Normalität, sofern Anderssein als konstitutiv für eine »inkludierende Normalität« (ebd.) erkannt wird.
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PHÄNOMENOLOGISCHES EMPFÄNGLICHSEIN ALS PERSPEKTIVE FÜR EIN INKLUSIVES VERSTÄNDNIS VON LERNEN Wie Schule mit Heterogenität umgehen kann, wenn diese nicht als Beeinträchtigung einer wünschenswerten Homogenität, sondern – gemäß einer vielstrapazierten und wenig beherzigten Formel – als Reichtum betrachtet wird, ist Aufgabenstellung unterschiedlicher Ansätze für pädagogische Theorie und Praxis, für Schul- und Bildungspolitik, Schulleitung, Didaktik, Lehrerinnen- und Lehrerbildung und -fortbildung. Ein gemeinsamer lohnender Ausgangspunkt könnte die Rehabilitierung einer der beiden menschlichen Grundhaltungen sein, die Wilhelm von Humboldt in ihrer Wechselwirkung in das Zentrum seiner Überlegungen über Mensch und Bildung gestellt hat (vgl. Humboldt 1980 [1783], zit.n. Meyer-Drawe (2018: 38), nämlich Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit. Während die Selbsttätigkeit unter unterschiedlichen Namen bis hin zum Kompetenzbegriff eine dominante Rolle eingenommen hat, ist das Empfänglichsein für die Welt und ihre Erscheinungen in den Hintergrund getreten (vgl. Meyer-Drawe 2018: 38). Hier konkurrieren zwei Grundhaltungen, die unterschiedliche – aber einander bedingende – Aspekte von Lernen betonen: auf der einen Seite das aktive Aneignen von Welt, ihrer Gegenstände und Begriffe als Selbsttätigkeit, die sich schulisch als Kompetenzerwerb, als Beherrschung von kanonisiertem und in seiner Nützlichkeit geranktem Wissensstoff äußert; auf der anderen Seite eine ungesicherte Offenheit für die Welt, wie sie immer neu, unberechenbar, nicht kanonisiert, überraschend, sich Normierungen und festgelegten Vorstellungen entziehend in Erscheinung treten kann, wenn dies – in der Haltung der Empfänglichkeit – zugelassen und wahrgenommen wird. Die Husserl’sche Epoché ist – als Einklammerung gewohnter Annahmen über die Welt, um für neue Annahmen offen zu werden (vgl. ebd.) – dafür die Voraussetzung, ein Innehalten, das erst ein Hinschauen, Hinhören, Hinfühlen auf die Vielfalt und das konstitutive Anders-Sein der Welt und der Anderen ermöglicht. Nachstehend eine Vignette2 aus dem Forschungsprojekt »Personale Bildungsprozesse in heterogenen Lerngruppen«, in der das Unterrichten als gedrängtes Abfragen und Vermitteln taub ist für das Bedürfnis nach Innehalten:
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Die phänomenologisch orientierte »Vignettenforschung« ging von der School of Education der Universität Innsbruck aus (Leitung Michael Schratz), 2012/13 wurde sie als Projekt der »Brixener Vignettenforschung« mit Unterstützung des Deutschen Schulamtes der Autonomen Provinz Bozen sowie der Freien Universität Bozen (Fakultät für
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Einige Schülerinnen und Schüler haben Aufgaben vergessen. Frau Fassneider bittet um Ideen, was man tun könnte, um dies zu vermeiden. Die Schülerinnen und Schüler erzählen, wie sie die Aufgaben planen, die Lehrperson fährt nach jeder Wortmeldung mit einem »gut«, »super« dazwischen, um ohne Atem zu holen »weitere Vorschläge« einzufordern. Franz ist dran: »Die Aufgaben an jenem Tag zu machen, an dem sie erteilt werden.« »Super«, ruft die Lehrkraft, »wer schafft das? Alle Hände hinauf!« Florian wendet zögerlich ein: »Aber in Mathe sind so viele Rechnungen, dass man nur jeden Tag eine schafft.« Frau Fassneider: »Richtig, da kommt es darauf an, dass man täglich übt!« Mit ausholender Geste ruft sie »weiter!«. Sie lässt kaum eine Sekunde zwischen Antworten der Schülerinnen und Schüler und ihren Kommentaren, um sofort andere Schülerinnen und Schüler aufzurufen: »Franziska!«, »Fritz!«… Freino will erklären, warum er keine Aufgabe hat: »I hon die Aufgob net vergessen, ich hon sie lei net gmocht, weil i gfahlt hon.« Frau Fassneider: »Freino, wie redet man mit mir?« Freino wiederholt: »I hon …« Die Lehrperson: »Wiiie redet man mit mir?« Freino versteht und wechselt in die Hochsprache: »Ich habe die Aufgabe nicht vergessen, ich habe gefehlt.« »Passt«, sagt Frau Fassneider und greift übergangslos den Stoff für die laufende Unterrichtseinheit auf: »Was ist ein Umstandswort?«, ruft sie in die Runde. Mehrere Kinder zeigen auf. Frau Fassneider wendet sich abrupt Fiona zu, die mit der Schere spielt: »Fiona, zuhören, weil morgen ist Test, da kommt genau das!« Fiona richtet sich auf, legt die Schere weg, schiebt aber bald darauf die Griffelschachtel hin und her, nimmt den Spitzer heraus, schaut in die schmale Öffnung, blickt damit auf Frau Fassneider, die im Stakkato weiter die Klasse abfragt. Ruckartig zeigt Fiona bei einer Frage auf, kommt aber nicht dran. Sie greift unter ihre Bank und holt den Stundenplan heraus. Frau Fassneider wirft weiter im selben Tempo Frage um Frage in den Raum, lässt aber kaum einmal jene Schülerinnen und Schüler zu Wort kommen, die aufhalten, sondern überrascht mit ihren Zurufen: »Flocky!«, »Frida!«. »Fiaba«, »Ferdinand« – nach jeder Antwort erfolgt prompt eine neue Frage. Fiona hält wieder die Hand hoch, diesmal kommt sie dran: »Ja, Fiona, jetzt Du!« Zögernd beginnt Fiona: »Äh…« … Frau Fassneider fährt sie an: »Nicht äh … los!« Fiona schluckt kurz, dann sagt sie leise: »Frau Professor, wann gehen wir in die Bibliothek?« Frau Fassneider schaut sie kurz verdutzt an, für einen Augenblick ist es still in der Klasse, dann sagt sie in strengem Ton: »Glaubst du, das ist für das Lernen förderlich, wenn du jetzt etwas mitten in den Stoff etwas hineinsagst, was damit nichts zu tun hat? Darüber reden wir am Ende der Stunde.« Fiona blickt auf die Bank, Frau Fassneider ruft Fabian auf. (B0_FS03)
Bildungswissenschaften in Brixen) in Südtirol/Italien weitergeführt und hat mittlerweile an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt einen weiteren Standort gefunden (vgl. et al. Schratz/Schwarz/Westfall-Greiter 2012, Baur & Peterlini 2016).
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Die Vignette zeigt exemplarisch das Tempo schulischer Wissensvermittlung auf, die trotz interaktiver Ansätze der Lehrkraft zu schierer Atemlosigkeit führt. Schule und alle daran Mitwirkenden stehen unter dem Druck von funktionaler Kompetenzsteigerung, der Zeit und Raum für Innehalten und Abschweifen engmacht. Wenn kanonisierter Wissensstoff nach überbordenden Lehrplänen und Jahresprogrammen abgearbeitet werden muss, wird aus Schule jene Muße vertrieben, die ihrem antiken Vorläufermodell Pate stand, nämlich die altgriechische σχολή für »Innehalten« (Duden 2007: 742). Dies hat auch den kompetenzorientierten Unterricht gemäß Europäischem Qualifikationsrahmen (vgl. Europäische Kommission 2008), der nach seiner ursprünglichen Intention das exemplarische Verstehen über die Anhäufung von Wissensstoff stellen wollte, von Beginn an eingebremst und teilweise in sein Gegenteil verkehrt, wie sich in einer Pilotstudie zur Implementation der neuen Rahmenrichtlinien für kompetenzorientierten Unterricht an Schulen der Sekundarstufte in Südtirol exemplarisch zeigt: »Also bei uns haben sie wahnsinnig viel Wert daraufgelegt, die Schüler müssen das können und das können […], also bei uns haben sie wirklich viel reingetan! Wir könnten ja schon 20 Berufe ausbilden!« (LF1/B/1) »Ich für mein Fach muss sagen, da ist alles so detailliert und genau vorgegeben, da sind die Fertigkeiten und die Kenntnisse und dann können wir Inhalte hineintun, ob wir jetzt Goethe oder Schiller nehmen, Dürrenmatt oder Frisch, aber wieviel von etwas und wann ich was machen will, steht mir überhaupt nicht mehr offen, weil das Curriculum ist so kompakt und voll, da kann ich nur noch schauen, was lasse ich aus, weil ich muss ja alles machen, komplett, die Rahmenrichtlinien sind so umfangreich, dass ich kaum sagen kann, da mache ich mehr und dort weniger, ich muss fast überall das Minimalste machen, sonst komme ich nicht hin, zeitlich und inhaltlich nicht.« (LF1/F/5)
Damit Lehrkräfte sich auf Vielfalt einlassen können, die nicht in normativ gesetzte Normalitätsvorstellungen passt, bedarf es eines grundlegenden Perspektivenwechsels im Blick auf das Lernen selbst. Das – teils offenkundige, teils unbewusste – Homogenisierungsstreben nährt sich an einem Lernverständnis, das vom Ergebnis hergedacht ist, das alle möglichst in der gleichen Zeit und in gleicher Perfektion erreichen sollen. Dem widersetzt sich ein Lernverständnis, das »Lernen als Erfahrung« begreift (Meyer-Drawe 2003, Herv. i. O.). Erfahrungen lassen sich weder curricular planen noch steuern, sie sind Widerfahrnisse (Waldenfels 2004: 66), die auf dem Weg geschehen, in denen das Unvorhergesehene und Aus-der-Reihe-Springende zum Aha-Erlebnis wird oder – als Voraussetzung für »Lernen als Umlernen« (Meyer-Drawe 1986) – bisherige Annahmen über die
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Welt und die Dinge durchkreuzt. Erst wenn Lernen aus dem Korsett des kanonisierten (und entsprechend bewerteten) Endergebnisses entlassen wird, wenn also auch jedes Lernen anders anders ist, können die Lernenden in ihrer Heterogenität nicht mehr als defizitär gegenüber einem vorgegebenen Sollziel wahrgenommen werden, sondern in ihrem Anders-Sein, Besonders-Sein und So-Sein Würdigung erfahren. Nicht die Lernenden müssen sich einem Normalitätskonzept des Lernens anpassen, sondern die Normalitätsvorstellungen müssen sich so weiten, dass die gegebene Wirklichkeit darin Äußerungs- und Gestaltungsraum findet (vgl. Peterlini 2018). Um solches Lernen überhaupt wahrnehmen zu können, bedarf es einer Haltung des Empfänglichsein. Nach Laing (1995: 12) ist Erfahrung zwar die einzige Evidenz, auf die menschliches Verstehen letztlich zurückgreifen kann, sie lässt sich aber im Unterschied zu Verhalten nicht beobachten. Dies verlangt nach einer existenziellen Anstrengung, ohne die Menschen füreinander in ihren Erfahrungen schlicht unsichtbar blieben: »Ich kann nicht anders – ich muss versuchen, deine Erfahrung zu verstehen. Denn wenn ich deine Erfahrung nicht erfahre, da sie unsichtbar (unkostbar, unfaßbar, unriechbar, unhörbar) für mich ist, so erfahre ich dich doch als Erfahrenden.« (Ebd.)
Erst über diese Brücke, dass wir andere als Erfahrende miterfahren können (Peterlini 2015: 49), wird die Erfahrung anderer vielleicht nicht unbedingt dem Verstehen zugänglich, wie Laing es sich erhofft (siehe oben), wohl aber einem Nach- und Mitfühlen zugänglich. Auf der Suche nach einem Lernbegriff, der dieses Geschehen jenseits des Vorgegebenen, Angeleiteten und Erwarteten fassen möge, schlägt Schratz (2009) eine »lernseitige« Perspektive vor (vgl. auch Schratz/Schwarz/WestfallGreiter 2012: 21-30). Eine »lernseitige« Perspektive bezieht Lehrende und Lernende ein und »orientiert sich konsequent an der Einzigartigkeit, d.h. an den Lernerfahrungen der Schülerinnen und Schüler« (Schratz 2012: 18). Dies bedingt und ermöglicht die angesprochene Weitung des Normalitätsverständnisses für eine Wahrnehmung von Differenz. Dazu Meyer-Drawe: »[A]us der Perspektive fertiger Wertordnungen wird der Beitrag kindlicher Weltsicht als bloß defizitär zum Verschwinden gebracht. In einer phänomenologischen Analyse des Erziehungs- und Unterrichtsgeschehens wird dieses nicht von seinem Ende her, also aus der Maßgeblichkeit der postulierten Ziele, sondern vom Handeln als Sinnkonstituierungsvollzug her thematisiert. In dieser Sicht zeigt sich pädagogisches Handeln eher als ein Konfliktgeschehen als ein Anlagesystem.« (Meyer-Drawe 1987: 71)
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Ein solches Verständnis von pädagogischem Handeln »eher als ein Konfliktgeschehen als ein Anlagesystem« (ebd.) bricht die festgelegte Hierarchie zwischen Lehrenden und Lernenden. In einem Konfliktgeschehen können sich beide Seiten ihrer Position nicht mehr sicher sein, es verlangt ein Sich-Einlassen auf die oder den Andere/n. Wie sich dieser oder diese Andere je zeigt, ist nicht vorgegeben, das Anders-Sein entzieht sich konstitutiv dieser Berechenbarkeit, die als Sicherheitsbedürfnis dem Wunsch nach Homogenität von Schulklassen eingeschrieben sein mag. Die oder der Andere ist per definitionem anders als erwartet. Lehrseits bedeutet dies, sichere Positionen preiszugeben für das »Wagnis einer Beziehung« (Schiedeck 2000: 70), zugleich aber sich für jene Bereicherung des eigenen Lernens von und mit Schülerinnen und Schülern zu öffnen, die Meyer Drawe als »Belehrbarkeit des Lehrenden durch den Lernenden« (MeyerDrawe 1987) benannt hat. Die heterogene Schulklasse ist dann ein Lernfeld für Empfänglichsein und Selbstaktivität, das keiner Homogenisierung bedarf, sondern seinen Wert in der Verschiedenheit der gemeinsam Lernenden hat.
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STRUKTURELLE FRAGESTELLUNGEN UND BEDINGUNGEN
Kann Inklusion unter den Strukturen des segregativen Schulsystems in Österreich gelingen? Ewald Feyerer
AUSGANGSLAGE Seit den 1960er Jahren weist das österreichische Schulsystem seine jetzige segregative Struktur auf. Seit den 1970er-Jahren wird die Idee einer Gesamtschule auf der Sekundarstufe 1 in unterschiedlichsten Ausprägungen und unter unterschiedlichen Begriffen diskutiert, erprobt und evaluiert. Letztlich haben wir aber noch immer ein zweigliedriges System1, heute zwischen (Neuer) Mittelschule (NMS) und Gymnasium/Allgemeinbildender Höherer Schule (AHS), früher zwischen Hauptschule (HS) und AHS. Auch die erfolgreiche gesetzliche Verankerung der Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SpF) in den 1990er-Jahren änderte nichts an der selektiven Grundstruktur des gesamten Schulsystems. Obwohl die Integrationsbewegung mit dem Anspruch der Unteilbarkeit2 antrat, musste sie sich nämlich mit der additiven Verankerung parallel zum Sonderschulsystem zufriedengeben, da sie nur erfolgreich sein konnte, indem die bestehende Gliederungssystematik nicht angetastet, elementare bildungspolitische und pädagogische Fragestellungen ignoriert und tabuisiert wurden. So hat sich in den 1980er-Jahren eine Art Grundkonsens durchgesetzt, dass die Beschäftigung
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Eigentlich müsste man von Dreigliedrigkeit sprechen, da es ja noch das Sonderschulsystem parallel dazu gibt. Da dies aber im deutschsprachigen Diskurs nicht üblich ist, bleibe ich beim Begriff der Zweigliedrigkeit.
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These 3: »Integration ist unteilbar. Sie lässt keine Ausnahmen zu.« (Muth 1992: 186)
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mit Strukturfragen der Vernichtung von Zeit- und Arbeitsressourcen gleichkommt, man sie also am besten gar nicht erst auf die Tagesordnung nimmt: »Schulautonomie, Schulentwicklung, Evaluation und Qualitätssicherung am Standort – dies waren die Entwicklungsthemen im Zeichen der Tabuisierung der Strukturfrage. […] Zentrale Voraussetzung für den letztlichen Erfolg dieser Bewegung [der Integrationsbewegung; Anm. d. Autors] war, dass man sie aus der Parteipolitik heraushielt. Jede Politisierung war bis zum vorletzten Jahr mit dem verfassungsgesetzlichen Status des Schulorganisationsgesetzes fast gleichbedeutend mit dem Scheitern der jeweiligen Inhalte. Demnach konnte das Bestreben der Behindertenintegration nur erfolgreich sein, wenn es (a) sich ausdrücklich auf die Integration Behinderter beschränkte und keine weiter gehenden integrativen Ansprüche stellte, und (b) sich grundsätzlich nicht auf die Gliederungssystematik der Schulformen auswirkte. Letzteres bedeutete vor allem auch, dass die Integration Behinderter die Existenz der Sonderschulen nicht antasten durfte, sondern dass ein integratives und ein segregatives System grundsätzlich nebeneinander bestehen mussten. Diese Junktimierungen führten in der Folge zu teilweise grotesken Auswüchsen. Unter anderem beispielsweise dazu, dass Schüler mit Behinderungen – auch mit Lernbehinderungen – an einer integrationsbereiten AHS Aufnahme finden konnten, Schüler ohne sonderpädagogischen Förderbedarf, die den Aufnahmekriterien der AHS nicht entsprachen, dagegen nicht.« (Specht 2008: 7f.)
Somit ist in Österreich das Schulsystem ebenso wie in Deutschland und der Schweiz immer noch strukturell von Selektion und Ausgrenzung bestimmt: unterschiedliche Schulformen ab der ersten Schulstufe, Jahrgangsstufenlehrpläne, Sitzenbleiben, Rücküberweisungen, Ausschulungen. »Die Absteigerquoten von einer Schulform zur anderen überwiegen die Aufsteigerquoten bei weitem. Angesichts der hohen Absteigerquoten spricht die PISA-E-Studie (für Deutschland) von ›strukturbedingten Demütigungen‹. […] Solange Lehrerinnen und Lehrer gezwungen sind, Kinder auf allen Stufen des Bildungssystems zu sortieren, solange die Klassen so groß sind wie sie sind, solange Schulen wenig selbständig arbeiten dürfen, solange wird bei vielen Lehrkräften ein Aussonderungsblick vorherrschen vor dem Willen, für jedes Kind Verantwortung zu übernehmen und kein Kind zurückzulassen.« (DeppeWolfinger 2008: o.S.)
Kann unter solchen Bedingungen Inklusion gelingen? Die Antwort darauf hängt davon ab, was man unter Inklusion versteht und an welchen Kriterien man den Erfolg misst.
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KRITERIUM INTEGRATIONS- UND SEGREGATIONSQUOTIENT 3 Versteht man unter Inklusion vor allem die gemeinsame Beschulung behinderter und nichtbehinderter Schülerinnen und Schüler, dann könnte man sagen, dass auch unter den segregativen Bedingungen des österreichischen Schulsystems Inklusion möglich ist. So weist die Steiermark z.B. einen Integrationsquotienten von 80 % und einen Segregationsquotienten von sage und schreibe nur mehr 0,6 % auf (Bruneforth et al. 2016). Dies ist ein weltweit beachtlich geringer Wert, und kein Schulsystem wird es schaffen, Sonderbeschulungen ganz zu vermeiden. Aber auch die Kennwerte der anderen österreichischen Bundesländer sind im deutschsprachigen Raum vorbildhaft. Grundlage dafür war die Verankerung der Integration als Elternwahlrecht und als Aufgabe aller Schularten sowie eine klare politische Strategie seitens des Unterrichtsministeriums in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre. So meinte z.B. der zuständige Bundesminister Rudolf Scholten (1992: o.S.) in einer Grundsatzerklärung: »Die Situation erfordert, dass das Unterrichtsministerium die weitere Entwicklung nicht nur dem freien Spiel der freien Kräfte überlässt […] In Abkehr von der bisher verfolgten Zielsetzung, in gesonderten Bildungseinrichtungen die beste mögliche Schule für behinderte Kinder zu entwickeln, sieht das Unterrichtsministerium die Entwicklung der Schule zu einer Schule unter Einschluss aller Kinder als zentrale Notwendigkeit zur Wahrung des Wohles behinderter wie nichtbehinderter Kinder.«
Diese Haltung wirkte auf alle Ebenen durch, so dass es bereits in den 1990erJahren zu einem starken Rückgang der Sonderbeschulung kam und im Jahre 2013/14 im österreichweiten Durchschnitt nur mehr 1,6 % aller Pflichtschülerinnen und -schüler in Sonderschulen oder angeschlossenen Sonderschulklassen beschult werden, wobei es starke regionale Unterschiede gibt – von, wie bereits erwähnt, 0,6 % in der Steiermark bis zu 2,5 % in Vorarlberg (Bruneforth et al. 2016). Abb. 1 macht den Erfolg der De-Segregation und Integration deutlich. So werden 2014 im Durchschnitt in Deutschland noch immer 4,3 % der Schülerin-
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In deutschen Publikationen wird hier gerne von Inklusions- und Exklusionsquotient gesprochen. Da die Kinder, die in einer Sonderschule beschult werden, aber nicht exkludiert, sondern nur segregiert sind, und jene Kinder mit SpF, die die Regelschule besuchen, am besten als integriert zu benennen sind, bleibe ich bei den in Österreich schon lange üblichen Bezeichnung.
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nen und Schüler segregativ beschult, also fast dreimal so viel wie in Österreich, und nur zwei deutsche Bundesländer, nämlich die Hansestadt Bremen und Schleswig-Holstein, schaffen es, in die Reihe der österreichischen Bundesländer einzubrechen. Abbildung 1: Anteil von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in österreichischen (fett) und deutschen Bundesländern, sortiert nach Segregationsquotient, dunkel; hell ist der Anteil an Pflichtschülern und Pflichtschülerinnen mit SPF, die integrativ, also im Gemeinsamen Unterricht beschult werden.
Daten KMK und BMBF 2014 (erstellt von Christine Pluhar, Ewald Feyerer)
Ist Inklusion im Vergleich zu Deutschland also gelungen? So erfreulich diese zahlenmäßige Entwicklung ist, denn der Abbau von Segregation ist eine unbedingt notwendige Bedingung für Inklusion, muss festgehalten werden: »Die Verankerung des Elternwahlrechts bei Beibehaltung der selektiven Grundstruktur des Schulsystems mit einer Vielfalt der Förderorte und einer gymnasialen Unterstufe führt(e) nur zu einem integrativen Schulsystem, also zu einer Parallelverankerung (›multi track system‹) von gemeinsamer Beschulung und Sonderbeschulung. Die Entwicklung der Inklusion im Sinne einer Schule für alle (›one track system‹) stößt an strukturelle Grenzen. Die eigentlich notwendige Diskussion über eine äußere Schulreform war und ist immer noch tabu.« (Feyerer/Altrichter 2018: 78)
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Im Rückblick betrachtet muss sogar gesagt werden, dass die erfolgreiche Integration sich als ein großes Hemmnis für die Weiterentwicklung zur Inklusion herausstellt. Die nun schon sehr lange praktizierte Parallelität verhindert(e) nämlich eine grundsätzliche Diskussion über die angeblichen Grenzen der Integration/Inklusion aufgrund von Art und Schweregrad der Beeinträchtigung, über die geringe Effektivität von Sonderschulen, die strukturelle Neuordnung der Sonderpädagogik und die prinzipielle Ungerechtigkeit des österreichischen Schulsystems. Klicpera/Gasteiger-Klicpera (2004: 15-18) zeigen für Österreich, dass bei Schülerinnen und Schülern, die nach dem Lehrplan der Allgemeinen Sonderschule (ASO) unterrichtet werden, der sozioökonomische Status eine umso größere Rolle spielt, je niedriger der Integrationsquotient des Bundeslandes ist. In Ländern mit höherem Integrationsquotienten wird nicht so schnell ein SpF wegen schwierigem Verhalten ausgestellt und die Unterrichtspraxis in der Regelklasse bei der Feststellung des SpF stärker berücksichtigt. Da die Inklusionsfähigkeit meist noch immer am Kind und nicht an der Schule festgemacht wird, finden sich schwerer beeinträchtigte Kinder mit sehr hohem Assistenzbedarf, vor allem solche mit Kommunikationsproblemen, überall eher in der Sonderschule (Klicpera 2007: 65-78). Kottmann (2007: 103-106) spricht in diesem Zusammenhang von institutioneller Diskriminierung durch schülerbezogene Feststellungsverfahren. Durch die flexible Anwendung unscharfer Kriterien und die Koppelung von Förderdiagnostik, Etikettierung und Ressourcenvergabe werden speziell die sozial Schwachen, die Kinder mit Migrationshintergrund und die Jungen benachteiligt. Auch wenn die österreichischen Schulgesetze überall dort, wo das von der Schulbehörde, den Leiterinnen und Leitern, Lehrerinnen und Lehrern gewollt wird, eine umfassende und qualitativ hochwertige inklusive Bildung ermöglichen, muss festgehalten werden, dass damit das hierarchisch gegliederte Schulsystem und eine weitgehend schichtenspezifische Wahrung von Bildungsprivilegien fortgeschrieben wird. Dieses System benachteiligt eine Vielzahl von Kindern und Jugendlichen, nicht nur solche mit Beeinträchtigungen, sondern auch solche mit Migrationshintergrund, solche aus sozial benachteiligten Familien und die Buben. PISA und Folgestudien (z.B.: Bacher 2007) zeigen klar auf, dass in gegliederten Schulsystemen die Bildungschancen maßgeblich von der sozialen Herkunft abhängen, die individuelle Förderung weniger gut gelingt und die Anzahl der Risikoschülerinnen und Risikoschüler höher ist als in Gesamtschulsystemen. Damit werden auch in Österreich persönliche Lebenschancen vertan und Potentiale vergeudet, auf die mit Blick auf die wirtschaftliche Lage und die gesellschaftliche Entwicklung nicht verzichtet werden kann. Teile der Bevölke-
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rung werden durch Bildungsarmut von Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Gleichzeitig wird allen Kindern die Vielfalt der Gesellschaft in der Schule vorenthalten. Sie können so nicht lernen, respektvoll und konstruktiv mit den anderen umzugehen. »Die Bildungsdefizite der Herkunftsfamilie werden durch die Schule in Österreich nicht behoben, sondern fortgeschrieben. […] Wer »oben« ist und daher eine gute soziale Ausgangsposition hat, fällt nur sehr selten nach unten. Angehörige sozial schwacher Schichten haben es hingegen schwer, die Bildungsleiter hinaufzuklettern, unabhängig von jeglicher Begabung. […] Als ChristInnen müssen wir in diesem Fall von einer strukturellen Sünde sprechen, an der die Angehörigen der oberen sozialen Schichten beteiligt sind. Um sich von dieser Sünde zu befreien, bedarf es des aktiven Engagements für ein anderes, gerechteres Bildungssystem.« (Katholische Aktion Österreich 2009: 1 und 12)
Unser Schulsystem muss somit als segregativ, leistungsfeindlich und sozial ungerecht eingestuft werden. Wer dies ändern will, muss Schule radikal, also von Grund auf neu, nämlich wirklich inklusiv, denken und strukturell neu ordnen. »Pseudo-Inklusion« (Wocken 2018) im Sinne von »Integration der Inklusion in die Segregation« (Feuser 2018: 25) kann nicht erfolgreich sein, denn:
INKLUSION IST MEHR ALS DE-SEGREGATION UND INTEGRATION Der gemeinsame Schulort ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Voraussetzung für gelingende Inklusion. Dazu bedarf es auch der sozialen und der unterrichtlichen Integration, also eines gemeinsamen Unterrichts auf der Basis von Individualisierung und Differenzierung. Gemäß der Definition der UNESCO (2008) umfasst Inklusion eine ständige Qualitätsentwicklung, um allen Kindern unter Berücksichtigung der Diversität und unter Vermeidung von Diskriminierung optimale Teilhabe an qualitativ hochwertiger Bildung zu ermöglichen. Dies beinhaltet eine ständige Qualitätsentwicklung der Schulen. Weder die österreichischen noch die deutschen Schulen haben eine solche Tradition. Die Politik setzt aber, oft unter Berufung auf Hattie (2013), vor allem auf innere Schulreform, gibt damit den Lehrerinnen und Lehrern die Hauptlast der Veränderung und strebt keine Strukturveränderung aktiv an. Weiters hat Hattie (ebd.: 101115) wesentliche Faktoren inklusiver Bildung wie Team Teaching, Innere Differenzierung, Jahrgangsübergreifender Unterricht und Offenen Unterricht als für die Leistungsentwicklung nicht erfolgreich, Integration/Inklusion, Entdeckendes
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Lernen, Individualisiertes Lernen und Reduzierung der Klassengröße als nur wenig erfolgreich eingestuft. Wozu also Strukturen in Richtung inklusiver Bildung ändern, wenn sich die Schülerinnen- und Schülerleistung dadurch nicht verbessern lässt? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich exemplarisch den Einflussfaktor Offener Unterricht näher beleuchten. Laut Hattie-Studie (2013: 105-106; 229230), die Offenen Unterricht und Freiarbeit mit einem Effektmaß von praktisch 0 als weder nützlich noch schädlich einstuft, könnten die pädagogischen Bemühungen, Offenen Unterricht in der Schullandschaft zu verankern, als blauäugig und nicht empirisch gestützt abgelehnt, und, verstärkt mit dem Hinweis auf die hohe Wirksamkeit von z.B. direkter Instruktion, regelmäßigen Tests, eine Beibehaltung traditionellen Lernens gefordert werden. Schaut man aber genauer hin, kann diese Schlussfolgerung sicher nicht aufrechterhalten werden. Warum? Auch in meiner Studie »Behindern Behinderte?« (Feyerer 1998), die wahrscheinlich in die Metaanalyse einbezogen worden wäre, wenn Hattie auch deutschsprachige Studien analysiert hätte, hat sich herausgestellt, dass der Offene Unterricht, das hohe Ausmaß an Individualisierung und innerer Differenzierung in Integrationsklassen keinerlei Auswirkungen auf die Schülerinnen- und Schülerleistung hatte, denn diese unterschieden sich nicht zwischen den nichtbeeinträchtigten Schülerinnen und Schülern der Integrationsklassen und den Schülerinnen und Schülern der Parallelklassen. Sehr wohl unterschieden sich aber Merkmale, die ich ebenfalls als wichtige Indikatoren guter Schulen erhoben habe: die Zufriedenheit, das Wohlbefinden und die Selbsteinschätzung waren in den Integrationsklassen signifikant höher als in den Parallelklassen. Sieht man wie Hattie nur auf die Schülerinnen- und Schülerleistung, könnte getrost auf Offene Unterrichtsformen verzichtet werden. Versteht man unter guter Schule aber mehr als die Schülerinnen und Schüler zu intellektuellen Höchstleistungen zu bringen, dann muss sehr wohl auch über die Unterrichtsform und die Schulstruktur geredet werden. Weiters sind in Hatties Ergebnissen sehr viele Hinweise darauf zu finden, dass Offener Unterricht auch für kognitive Lernleistungen wirksam sein kann, wenn er gründlich vorbereitet, ausgewogen umgesetzt und über seinen Verlauf penibel gewacht wird. Offener Unterricht heißt ja nicht, dass die Schülerinnen und Schüler ausschließlich nach ihrem Belieben verfahren können. Guter Offener Unterricht verlangt in Wirklichkeit eine sehr gute Planung, ein Abstecken von Eckpfeilern, eine ausgewogene Balance zwischen direkter und indirekter Instruktion und regelmäßiges Abchecken des Lernzuwachses im Sinne einer Lernprozessdiagnostik, somit also formative Bewertung und regelmäßiges Feed-
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back, zwei der sehr wirksamen Erfolgsfaktoren auf der Hattie-Skala (2013: 206218). Die Ergebnisse der Hattie-Studie sind also insofern ernst zu nehmen, da sie darauf verweisen, dass bei Offenem Unterricht die Gefahr groß ist, Schülerinnen und Schüler zu wenig Ordnungsstrukturen und Orientierung erfahren, was insbesondere für kognitiv schwächere Schülerinnen und Schüler mit wenig Vorwissen problematisch sein kann. Diese Schülerinnen und Schüler benötigen eine engere Führung mit kürzeren Anleitungsintervallen, mit klaren Ordnungsstrukturen, um selbstständig lernen zu können. Darauf ist bei der Lehreraus-, fort- und -weiterbildung entsprechend zu achten. Weiters zeigen sie, dass es wirklich blauäugig wäre, sich mit der bloßen Einführung Offenen Unterrichts eine signifikante Verbesserung von Schülerinnen- und Schülerleistungen zu erhoffen. Aber das war ja auch nie wirklich das Ziel einer solchen Maßnahme. Vielmehr ging und geht es bei der Einführung von Offenem Unterricht darum, ein pädagogisches Gesamtkonzept umzusetzen, das die Diversität der Schülerinnen und Schüler nicht negiert, das einen gemeinsamen Unterricht von z.B. geistig beeinträchtigten und hochbegabten Schülerinnen und Schülern ermöglicht, ohne dabei eine Nivellierung von Schülerinnen- und Schülerleistungen zu bewirken und neben der Vermittlung kognitiven Wissens auch noch die Förderung von Kreativität, Selbständigkeit, Selbst- und Mitverantwortung, Demokratiefähigkeit und Mündigkeit zum Ziel hat. Es geht also bei guter inklusiver Schule um Menschenbildung und nicht nur um kognitive Leistungen. Ob diese umfassenden pädagogischen Ziele mit offenem Unterricht erreicht werden, kann auf Basis der HattieStudie überhaupt nicht argumentiert werden. Fest steht aber, und das ist das gute Ergebnis der empirischen Studien: Offener Unterricht hat keinen negativen Einfluss auf die Schülerinnen- und Schülerleistungen, obwohl viel Zeit für Selbstorganisation, Kooperation, soziales Lernen und Persönlichkeitsentwicklung zur Verfügung gestellt wird. Erfolgreiche Inklusion bedingt nicht nur das räumliche Dabeisein von Kindern mit SpF, sondern als wichtigsten Gelingensfaktor nach Dyson (2010) eine Schulkultur, zu deren Merkmalen die Anerkennung und Würdigung von Unterschiedlichkeit, die Bereitstellung von Bildungsangeboten für alle Schülerinnen und Schüler, eine starke Zusammenarbeit im Kollegium und die Förderung der Zusammenarbeit zwischen Schülerinnen und Schülern, Schulpersonal und Eltern zählen. Innere Schulreform ist daher eine notwendige, aber keine hinreichende Gelingensbedingung, denn: »Kulturveränderung benötigt auch eine Strukturveränderung und umgekehrt! Solange eine möglichst gerechte Selektion in verschiedene Schulformen das Hauptziel der Schule ist
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und die Mehrgliedrigkeit der Sekundarstufe 1 sowie Sonderschulen nicht abgeschafft werden, wird sich die Selektionskultur nicht in Richtung Förderkultur verändern.« (Feyerer/Altrichter 2018: 80)
Wie wichtig eine Veränderung der Kulturen und Strukturen ist, betonen auch die Vereinten Nationen (2016) mit ihrer Allgemeinen Bemerkung Nr.4 (2016) zum Recht auf inklusive Bildung, in dem die fünf kurzen Absätze des Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention 2006 ausführlich erläutert werden. Punkt 9 und 11 sagen z.B. dazu: »9
Die Gewährleistung des Rechts auf inklusive Bildung beinhaltet einen Wandel in
Kultur, Politikkonzepten und Praxis in allen formellen und informellen Bildungsumfeldern, um den unterschiedlichen Bedarfen und Identitäten der einzelnen Lernenden Rechnung zu tragen. Es geht mit der Verpflichtung einher, die Barrieren, die diese Möglichkeit behindern, abzubauen. Dazu gehört auch, die Kapazität des Bildungssystems so zu stärken, dass es alle Lernenden erreicht. Im Mittelpunkt steht die volle und effektive Teilhabe, Zugänglichkeit, Beteiligung und der Lernerfolg aller Lernenden, insbesondere jener, die aus unterschiedlichen Gründen ausgegrenzt oder gefährdet sind, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden. Inklusion beinhaltet Zugang zu und Fortschritt bei qualitativ hochwertiger formeller und informeller Bildung frei von Diskriminierung. Das Anliegen von Inklusion besteht darin, Gemeinschaften, Systeme und Strukturen für die Bekämpfung von Diskriminierung, einschließlich schädlicher Stereotype, zu befähigen, Vielfalt anzuerkennen, Teilhabe zu fördern und Lern- und Teilhabebarrieren für alle zu überwinden, indem der Schwerpunkt auf das Wohl und den Erfolg von Lernenden mit Behinderungen gelegt wird. Sie erfordert einen tief greifenden Wandel der Bildungssysteme in den Bereichen Gesetzgebung und Politikkonzepte sowie der Mechanismen zur Finanzierung, Verwaltung, Ausgestaltung, Erbringung und Überwachung von Bildung. […] 11
Der Ausschuss betont, wie wichtig es ist, die Unterschiede zwischen Exklusion,
Segregation, Integration und Inklusion anzuerkennen. Exklusion tritt auf, wenn Lernende direkt oder indirekt am Zugang zu Bildung in jeder Form gehindert werden, beziehungsweise wenn ihnen dieser Zugang verwehrt wird. Segregation tritt auf, wenn Bildung für Lernende mit Behinderungen in getrennten Umgebungen vermittelt wird, die so ausgelegt sind oder genutzt werden, dass sie auf bestimmte oder unterschiedliche Beeinträchtigungen eingehen und Lernende mit Behinderungen von Lernenden ohne Behinderungen isolieren. Integration ist der Prozess, Menschen mit Behinderungen in bestehenden allgemeinen Bildungsinstitutionen unterzubringen unter der Annahme, dass sie sich an die standardisierten Anforderungen solcher Institutionen anpassen können. Inklusion beinhaltet den Prozess einer systemischen Reform, die einen Wandel und Veränderun-
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gen in Bezug auf den Inhalt, die Lehrmethoden, Ansätze, Strukturen und Strategien im Bildungsbereich verkörpert, um Barrieren mit dem Ziel zu überwinden, allen Lernenden einer entsprechenden Altersgruppe eine auf Chancengleichheit und Teilhabe beruhende Lernerfahrung und Umgebung zuteilwerden zu lassen, die ihren Möglichkeiten und Vorlieben am besten entspricht. Lernende mit Behinderungen in allgemeinen Klassen ohne begleitende strukturelle Reformen, zum Beispiel in Bezug auf Organisation, Lehrpläne und Lehr- und Lernmethoden unterzubringen, stellt keine Inklusion dar. Darüber hinaus garantiert Integration nicht automatisch den Übergang von Segregation zu Inklusion.« (Vereinte Nationen 2016: 3-5; Herv. i. O.)
Den Anteil der Schüler und Schülerinnen, die in Sonderschulen bzw. Sonderschulklassen beschult werden, auf z.B. 0,6 % zu senken, reicht also eindeutig nicht aus, um Inklusion erfolgreich umzusetzen. Es müssten parallel dazu auch strukturelle Änderungen initiiert werden. Mit dem neuen Regierungsprogramm 2017-2022 (BKA, 2017) scheint eine strukturelle Veränderung des selektiven Schulsystems in Österreich aber in noch weitere Ferne gerückt zu sein als bisher. Mit dem Bildungsreformgesetz 2017 der Vorgängerregierung wurden zwar wichtige Bausteine wie die Errichtung von unabhängigen Pädagogischen Beratungszentren (PBZ) anstelle der bisherigen Zentren für Inklusions- und Sonderpädagogik (ZIS) an Sonderschulen oder eine stärkere Autonomie der Schulen verankert, andererseits wurde aber die Idee der Inklusion nicht konsequent weitergedacht und für die Erprobung einer gemeinsamen Schule4 der 10- bis 14Jährigen eine Beschränkung auf 15 % aller Standorte bzw. maximal 5000 AHSUnterstufenschüler/innen eines Bundeslandes eingeführt. Die Eltern und Lehrkräfte an den einzelnen Standorten müssen mit einfacher Mehrheit zustimmen. Damit ist ausgeschlossen, dass etwa Wien auch zur Modellregion wird. Für Vorarlberg, wo es bereits einen Fünf-Parteien-Beschluss im Landtag für die Gemeinsame Schule gab, heißt das, dass nun mit der konkreten Umsetzung begonnen werden kann. Eine echte gemeinsame Schule in Vorarlberg wird es aber frühestens 2025 geben. In welcher Form die Sonderschulen eingebunden werden, ist noch vollkommen offen. In allen anderen Bundesländern wird die gemeinsame Schule weiterhin nur ein zusätzliches Angebot zu den bestehenden Schularten der Sekundarstufe 1, den Sonderschulen, den Neuen Mittelschulen und den Gymnasien sein. Und im neuen Regierungsprogramm finden sich unter dem Titel »Bewährtes differenziertes Schulsystem erhalten und ausbauen – Lehrer und anderes Schul- und Bildungspersonal als Säulen des Bildungssystems stärken
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Der momentane Name für die Idee einer Gesamtschule.
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[…]« Punkte wie »Wiedereinführung der sonderpädagogischen Ausbildung – Ausbildungserfordernisse und Inhalte im Bereich der Sonderpädagogik definieren«, »Erhalt und Stärkung des Sonderschulwesens – Präzisierung der Kriterien für Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf in anderen Regelschulen […]« (BKA, 2017).
ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Österreich weiß seit der Evaluierung der Schulversuche zum gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern in den 1990er-Jahren, wie inklusiver Unterricht pädagogisch und didaktisch umgesetzt werden kann (z.B.: Feyerer/Prammer 2003) und welche strukturellen Rahmenbedingungen zur Entwicklung eines inklusiven Schulsystems günstig wären (z.B.: Specht et al. 2007; Feyerer 2009). Seit den 2000er-Jahren fehlt allerdings ein klarer politischer Wille, die notwendigen Maßnahmen zu initiieren und zu unterstützen. Daran änderten auch die einstimmige Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2008, der Nationale Aktionsplan Behinderung 2012-2020 (NAP; BMASK 2012) und der Erlass »Verbindliche Richtlinien zur Umsetzung inklusiver Modellregionen« (BMBF 2015) wenig, obwohl in den inklusiven Modellregionen durchaus wichtige Entwicklungen erprobt und evaluiert wurden. So hat z.B. Kärnten aufgezeigt, wie Sonderschulen reduziert und die sonderpädagogischen und therapeutischen Fachkräfte so dezentralisiert werden können, dass Kinder mit erhöhten Bedarfen möglichst nicht ausgeschlossen werden müssen. Tirol hat ein wirksames Konzept der pädagogischen Beratung aufgebaut, das Regelschulen und Lehrpersonen darin unterstützt, inklusive Bildungsangebote umzusetzen und als Modell für die neu aufzubauenden Strukturen im Rahmen der Bildungsdirektionen fungieren können. Die Steiermark hat z.B. ein Netzwerk Inklusion aufgebaut, das Schulleitungen, SQA5-Beauftragte und Inklusionsbeauftragte bei der internen Schulentwicklung mittels des Index für Inklusion unterstützt. Vorarlberg wiederum hat ein effektives System der inklusiven För-
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»SQA – Schulqualität Allgemeinbildung«: Initiative des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Sie will durch pädagogische Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung zu bestmöglichen Lernbedingungen für Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen beitragen. Das eigenständige Lernen von Schülerinnen und Schülern – unterstützt durch wertschätzende, sachlich fundierte Begleitung von Lehrkräften – soll zur weiteren Anhebung des Bildungsniveaus führen.
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derung aller Kinder mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten aufgebaut, auch wenn diese keinen SpF aufweisen. Sowohl in Vorarlberg als auch in Tirol und Kärnten finanziert jedoch die jeweilige Landesregierung zusätzliche Dienstposten, um eine ausreichende Unterstützung aller Schülerinnen und Schüler garantieren zu können. Als von der Regierung wirklich gut gelungenes Projekt im Sinne der Inklusion kann bisher nur die in Mitteleuropa als vorbildhaft zu bezeichnende Neustrukturierung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung genannt werden. Will man Inklusion, dann benötigt man nämlich keine besonderen Lehrerinnen und Lehrer für besondere Schulen, sehr wohl aber Lehrerinnen und Lehrer, die grundsätzlich in der Lage sind, auf die Vielfalt der Schülerinnen und Schüler didaktisch-methodisch richtig zu reagieren sowie sogenannte ›generalisierte Spezialistinnen und Spezialisten‹, die ausreichend sonderpädagogische Kompetenzen mitbringen, um gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen Schule und Unterricht so zu gestalten, dass Barrieren abgebaut und alle Schülerinnen und Schüler – also ›schwerstbehinderte‹ genauso wie ›schwerstbegabte‹, mit oder ohne Migrationshintergrund, aus bildungsnahen oder -fernen Milieus kommend – gemeinsam erfolgreich lernen können. Die oben genannten Ziele der jetzigen Regierung stehen dem Anliegen der Inklusion diametral gegenüber. Bildungsminister Heinz Faßmann hat zwar ein Consultingboard eingerichtet, das ihn dabei unterstützt, die Anliegen des Regierungsprogramms und der UN-Konvention zusammenzuführen. Die Hoffnung, dass diesem die Quadratur des Kreises gelingt und der nächste Prüfbericht der UNO Fortschritte – und keine Rückschritte – festhalten kann, ist aber nicht sehr groß. Bereits die bisherige, mehr als 30jährige Entwicklung des gemeinsamen Unterrichts in Österreich war, wie ich versucht habe aufzuzeigen, davon geprägt, Strukturdiskussionen tunlichst zu vermeiden. Dies wird sich wohl auch unter der neuen türkis-blauen Regierung nicht ändern. Es ist daher zu befürchten, dass Inklusion unter den segregativen Strukturen des österreichischen Schulsystems auch weiterhin nicht gelingen wird. Ja, es besteht sogar die Gefahr, dass das für alle Schülerinnen und Schüler sehr gute Konzept der Inklusion aufgrund immer schlechter werdender Rahmenbedingungen und des Fehlens einer klaren und eindeutigen politischen Willensäußerung pro Inklusion heute Gefahr läuft, als Sparprogramm bei den Schulen anzukommen, und damit letztlich vollkommen abgelehnt und negativ rekontextualisiert zu werden. Durch die Integration einer »Pseudo-Inklusion« (Wocken 2018) in die Segregation verliert die Idee der Inklusion ihren Sinnzusammenhang, wird aufgeweicht und zerstört. Die bisherige Strategie der »Freiwilligkeit innerhalb der bestehenden Ressourcen« (Feyerer/Altrichter 2018: 86) ist eindeutig zu wenig, um ein segregatives Schulsystem in ein inklusives umzuwandeln.
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»La scuola ha un problema solo: i ragazzi che perde.« »School has only one problem: the students it loses.« 1967, Scuola di Barbiana, »Lettera ad una professoressa«
WHAT MAKES THE ITALIAN EDUCATION SYSTEM INCLUSIVE? This chapter rests upon a broad idea of inclusion that is in line with the idea proposed in the document »Reaching Out to All Learners« by IBE-UNESCO (2016). Inclusion is defined as a constant process of developing ways to respond to all student diversity issues, and one that aims at granting presence, participation and achievement to all by means of identifying and removing barriers in the school culture, policies and practices. This definition puts emphasis on:
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The contents of this chapter have been conceived and planned together by the three authors.
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a) diversity as an all learners‹ characteristic b) the equal importance of the learning and participation processes c) the decisive importance of context. Furthermore, we share the idea put forward by the document that looking at education through this perspective also implies a moral responsibility to carefully look at groups of persons that are more at risk of experiencing exclusion and underachievement. Against this background, there are at least two aspects of the Italian education system that lead us to state that it has a clearly inclusive orientation: its unitary structure and the specific attention to certain particularly vulnerable groups of students within a school for all. The unitary structure In Italy, schooling2 is compulsory between the ages of 6 and 16. At the same time, there is also a 12-year compulsory education right and duty until the age of 18 that can be completed though school attendance or an apprenticeship. The education system is organised into four main levels. Level 1 is nursery and Kindergarten for children aged 0-6. This level is not compulsory; 22.8 % of children aged 0-3 attend a nursery (ISTAT 2017), whereas 96.2 % of children aged 4-6 attend Kindergarten (Directorate-General for Education and Culture 2017). At Level 2, the first cycle of compulsory schooling begins. This consists of 5 years of primary school and 3 years of lower secondary school. Level 2 is completed with the first State Exam; graduation is a prerequisite for attending the second cycle of education. After lower secondary school, usually at the age of 14, students and their families can choose among different pathways. At Level 3, the education system is split up into lyceums, technical institutes and vocational institutes; alternatively, students can attend vocational training courses. Lyceums, technical and vocational institutes last for 5 years and are completed with the second State Exam. Graduation from all school types gives the student the opportunity to access university. The three school types differ in the curriculum: lyceums offer a broad range of general education that is considered the basis for university; technical institutes focus on technical and economical subjects; vocational institutes are more practical and job oriented.
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General information about the Italian Education System can be found in Eurydice (2014).
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Vocational training courses can last 3 or 4 years. The first 2 years of upper secondary school are compulsory; therefore, for all school types, the State Ministry has defined a set of competences all students in all school types are expected to develop by the end of compulsory schooling. Finally, at Level 4, higher education is offered by universities and polytechnics. It is important to underline that actual school law accords to every student the right to attend all levels and all school types regardless of the student’s personal and social characteristics, including physical or intellectual impairments. With the term integrazione scolastica, we describe the policy initiated in the 1970s in Italy that led to abandoning the idea of a specific placement for pupils with impairments and introduced mainstreaming: one school where everyone is welcome, regardless of cultural, economic or individual background. In those years, special schools were almost completely shut down. Nowadays, no separate schools or classes for students with physical disabilities or learning disabilities, or for so-called foreign students, are formally seen within this education system. We think that this structure can be interpreted as unitary from two points of view. Firstly, the fact that all pupils and students aged 6-14 attend the same mainstream class in their neighbourhood together with their peers assures a place where everyone’s presence is granted and social participation within the community is encouraged. Secondly, all pupils and students have the right to access all school grades and school types: the students‹ and their families‹ choices play a crucial role in their education, especially in terms of upper secondary schools, because no individual characteristics represent an essential prerequisite for school enrolment. To us, the unitary structure of a school system is relevant in terms of inclusion because, from an individual perspective, it provides access to all, and from a social perspective, it endows the school with heterogeneity. Neither aspect is a guarantee in terms of realising inclusion, but they represent important conditions for the development of inclusion in schools. The specific attention to vulnerable groups of students Historically in Italy, the openness of the school system to all pupils as defined by general school norms has been accompanied by specific legislation devoted to some specific categories of students. These norms define differentiation measures that the pupils belonging to these categories are entitled to. The most longstanding group that has received specific attention is the group with sensorial, motoric and intellectual disabilities. In primary and lower secondary school, these subgroups as a whole represent 3.2 and 4 % of the total student
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population (ISTAT 2018). The Italian Framework Law on the rights of persons with disabilities (no. 104/92) regulates the integration of pupils with disabilities and describes the measures and the resources required to ensure that students with disabilities have access to high quality learning and participation processes within mainstream schools. The entitlement to these measures is based on a medical diagnosis that officially recognises a person as having a disability: that is, »a person suffering from any physical, mental or sensorial impairment, whether stable or progressive, that causes difficulties with learning, relationships or integration in the workplace, to the extent that it leads to social disadvantage or marginalisation« (Framework Law 104/1992, Art. 33). Students who have obtained a statement have the right to follow an Individualized Educational Plan (IEP) that is based on the class curriculum, but adapted to the pupils‹ specific needs, and to be placed in a class that has a support teacher assigned to it in addition to the class teachers. All teachers – class teachers and the support teacher – are equally responsible for all pupils in the class, with and without a disability. Specific learning difficulties (or learning disabilities, as they are called in other countries) are not considered part of the disability category. Only in more recent years, with the passage of Law 170/2010, have specific measures been defined for pupils with dyslexia, dysorthography, dysgraphia and dyscalculia. This group represents 1.95 % of the total student population in primary school, 5.40 % in lower secondary school and 4.03 % in upper secondary school (MIUR 2018). In this case, a clinical entitlement is also needed in order to be recognised as part of the category. Students with specific learning difficulties also follow an IEP, but in these cases, they are expected to reach the class learning goals, but by means of differentiated teaching and learning methods. In particular, ›compensative measures‹ are considered. Compensative measures refer to alternative learning strategies that ›bypass‹ the effects of the specific learning difficulty: for example, a student with dyslexia may carry out reading activities using Text to Speech software. Classes with pupils with specific learning difficulties are not assigned any extra personal support teachers. Class teachers are responsible for planning differentiated and compensative measures. In 2012, the Italian Ministry for Education, University and Research published a directive that extends the right to individualised learning to all pupils with special educational needs. ›Special educational needs‹ are defined as an umbrella category that encompasses all difficulties a pupil may experience in his
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Translation from Italian (as quoted in Cattoni/Cramerotti/Ianes 2017).
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or her learning process. This category is divided into three subcategories: 1. Disability, 2. Specific learning difficulties and 3. Socio-economic, cultural or linguistic disadvantages. Measures and resources connected with the first two subcategories are regulated by the specific legislative frameworks described above. The third subcategory introduces a new perspective: for the first time, the idea of special educational needs is not linked to a medical diagnosis. These students also follow an IEP. Similarly to students with specific learning difficulties, they are expected to reach the class learning goals, but by means of adapted teaching and learning strategies. Specific guidelines also exist for so-called ›foreign students‹ (MIUR 2014). These guidelines are based on the principle that all minors, regardless of whether or not they and their families are regular citizens, have the right to education, and thus the right to attend Italian schools. Specific measures for this group of students focus on the support of L2 language acquisition and on school guidance, involving families and trying to support the recognition of students‹ strengths and avoiding underestimation. The attention to groups at risk of exclusion and underachievement are well established through the described norms. It is clear that the considered categories are strongly influenced by the Italian tradition of integrazione scolastica, the focus of which has always been disability.
SOME POSITIVE OUTCOMES The discourse about inclusion in Italy is characterised by bias due to the coexistence of a broad definition of inclusion and the narrow focus on disabilities and special educational needs. Moreover, research tradition is strongly rooted within the borders of the scientific field of Special Education, from which the discourse about inclusive education arose and in which research has been conducted. Therefore it is still strongly focused on disabilities, whereas inclusive education would require an interdisciplinary perspective. It is mainly data about the integration of pupils with disabilities that will be the focus of our discussion. Some studies have investigated teachers‹ attitudes and opinions about the integration policy of pupils with disabilities. These results showed an overall positive orientation (Canevaro/d’Alonzo/Ianes/Caldin 2011; TreeLLLe/Caritas/ Agnelli Foundation 2011). For example, the survey conducted by the Agnelli Foundation that involved 7,700 teachers from 12 Italian regions showed that 88 % of the class teachers and 95 % the support teachers perceived that the presence of a pupil with disabilities had a positive effect on the social and
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emotional class climate. Very similar percentages of the sample also identified the presence of pu-pils with disabilities as an opportunity for professional development (TreeLLLe/Caritas/Agnelli Foundation 2011). The nearly 40-yearold experience of school integration seems to have contributed to the construction of a positive attitude towards it. Another positive result of the long tradition of school integration is visible in the school careers of persons with disabilities that get longer (TreeLLLe/ Caritas/Agnelli Foundation 2011; Canevaro/d’Alonzo/Ianes 2009). Research data show that between the 2001/2002 and 2011/2012 school years, the number of students with disabilities attending upper secondary school had increased by 118 %, and that this growth trend was also particularly notable in Kindergarten, which had experienced an increase of 49 % (TreeLLLe/Caritas/Agnelli Foundation 2011). These results suggest that the school careers are getting longer because persons with disabilities and their families also seize the opportunities offered by the education system beyond compulsory schooling that is in effect both before and after the ages of 6-16. Finally, research involving teachers revealed the positive effects of integration on the variety and student-centeredness of teaching methods and on pupilsʼ learning and socialisation results. 3,230 teachers from primary to lower secondary school were given a questionnaire and asked to describe the ways in which integration was put into practice in a class they worked in. Comparing classes where the students with disabilities were always in the class with other classes where the students were sometimes inside and sometimes outside, two significant differences emerged: 1) In fully integrative classes, teaching methods were more varied and made a major use of strategies based on peer learning and concrete actions. 2) In fully integrative classes, teachers‹ perceptions about the learning and socialisation results of pupils with and without disabilities were higher than in the other classes (Ianes/Demo/Zambotti 2013). 3) Even if research data are limited, the positive outcomes of the Italian tradition of integrazione scolastica are witnessed via numerous and interesting narrative productions, such as books and movies about best practices and individual experiences of teachers and people with disabilities and their families.
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THE CURRENT CHALLENGES The long tradition of integrazione scolastica, which made Italy a pioneer of the international commitment towards inclusive education, has mainly been fostered by ideals and principles at the political level – a fundamental step towards developing a wide social consensus to support the implementation of policies. In recent years, research has not only revealed positive outcomes, but has also highlighted some critical issues that need to be addressed in order to reinforce the idea of an inclusive education system. These results can be useful for recognising weaknesses and challenges, with the aim of introducing measures able to stem backlashes and improve the quality of the system. Three main areas of development can be taken into account in this discussion: • the identification and the activation of non-discriminatory interventions for
pupils with disabilities and, in general, with special educational needs; • the valorisation of the essential professional role of support teachers
(insegnante di sostegno), both in terms of competences and social recognition, as well as the enhancement of other systemic actions towards inclusion, such as self-evaluation and improvement; • the availability of research data on important aspects of inclusion, such as the impacts on pupils and students, together with the impacts on the school and the social community. The thin line between responding to diversity and discriminating Italian legislation acknowledges the importance of responding to individual needs, putting particular emphasis on the needs of students with disabilities (Law 104/1992), with specific learning difficulties (Law 170/2010) and with socioeconomic and cultural disadvantages (D.M. 27/12/2012), such as students with a migration background (MIUR 2014). The identification of students with disabilities through a medical statement is required for access to support measures and resources for the individualisation of education (see Law 104/1992, Art. 12). As discussed by other authors (see, for example, D’Alessio 2011), despite the good intentions, the Italian policies regarding students with disabilities are dominated by a medical model which undermines the complexity of the condition and tends to stigmatise it. This approach constitutes a deviation from inclusive principles, which distance them-
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selves from individual categorisation in favour of systemic approaches (IBEUNESCO 2016). Shakespeare (2017) has described disability through an interactional model, stressing the importance of considering both individual and social aspects together with an understanding of their reciprocal relationships. Recently, the Italian government (D. Lgs. 66/2017) has expressed the intention to introduce the global and relational ICF model (WHO 2001, 2007) as a way to consider all the dimensions of the individual functioning of students with disabilities and to reduce the effects of medical labelling, which risks to trap into the onedimensional perspective of the deficit. The evolution of the current approaches regarding the identification of individual needs towards a relational model is consistent with the necessity to overcome hidden forms of exclusion that emerged from research studies. Exclusion is often associated with being physically outside of the classroom or the school context, but in reality, students with disabilities experience other forms of exclusion and marginalisation. Research has underlined that the separation of students with disabilities from their peers, defined by Simona D’Alessio (2011) as micro-exclusion, is a common practice that mostly involves pupils with disabilities, especially those with severe impairments and limited levels of autonomy (Ianes/Demo/Zambotti 2013; ISTAT 2016). Exclusion does not only happen when students are physically outside of the classroom or the school, but can take place through different subtle means, such as being physically present but doing completely different things or not experiencing valorisation. These types of exclusion are less visible and require a high level of awareness to be identified, as they are constructed in relation to class activities. As discussed in previous works (see Demo 2014; Nes/Demo/Ianes 2017), ›push‹ and ›pull-out phenomena‹ are the products of teachers‹ choices regarding individualisation and class teaching strategies, and they can be amplified by approaches that favour teacher-centered classes compared to more flexible and decentralised methodologies such as group work, tutoring and cooperative learning (see Ianes/Demo/ Zambotti 2010: 75). Systemic changes towards (effective) inclusive education The current model of support in the Italian school system is primarily based on the role of support teachers who are assigned to the classes where pupils with legally ascertained disabilities are present. Their role is characterised by a paradox: even if the law clearly states that these professionals are meant to be coteachers and collaborate with class teachers on class planning and management
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(Law 107/1992, Art. 13, comma 6), in the current praxis, it is interpreted in a completely different way. Although support teachers are expected to take responsibility for the whole class, their role becomes bound to the one-to-one relationship with the student whose statement of disability made obtaining the additional professional resource possible. As a foreseeable consequence, many studies describe these professionals as marginalised and stigmatised, facing low levels of social recognition and high levels of dissatisfaction, which translate into an early career change (see, for example, TreeLLLe/Caritas/Agnelli Foundation 2011). The severity of this situation has generated both a debate at political and academic levels regarding the possible evolution of the role in terms of competences and collaboration (Ianes 2015) and some empirical experimentation surrounding a new role for support teachers (see Ianes, 2016). More recent legislation has recognised the importance of enhancing the quality of support for inclusive education, creating services and cooperation between the school and territorial levels (see C.M. 8/2013, D. Lgs. 66/2017). Underlining that inclusion must be a responsibility of all, as multiple competences and actions are essential for the success of the process. These changes regarding the support for inclusive education can be seen in relation to other systemic changes, such as those involving self-evaluation and school development. From the beginning of this century, national school legislation (e.g. DPR 275/1999, Directive 18 September 2014 no. 11) has developed towards higher levels of school autonomy, together with a stronger attention to both evaluation at the national level (such as INVALSI) and self-evaluation of school institutions (e.g. RAV and PAI, see Demo 2017). The interest in inclusive education is mainly concerning students‹ achievement on the one hand, and the quality of the overall system on the other. These measures provide information about the implementation of national policies and can constitute a basis for future improvements. When analysing recent legislation (e.g. Law 66/2017, Law 107/2015, Nota Ministeriale 2563/2013, CM 8/2013) we can notice the emerging tendency to separate two processes which are meant to be homogeneous and coherent: actions regarding self-evaluation and school development referring to the general functioning of the school system (i.e. INVALSI, »Rapporto di Autovalutazione«, »Piano Triennale dell’Offerta Formativa«, »Piano di Miglioramento« etc.). And those specifically referring to inclusion (i.e. »Piano Annuale per l’Inclusione«, together with other documents drawn up for students with special educational needs, such as »Piano Educativo Individualizzato« required by Law 104/1992 and »Piano Didattico Personalizzato« regulated by C.M. 8/2013).
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The implementation of recent national normatives requires time, and given that we are considering policies from the last one or two decades, processes are currently under development. In this early stage, there is still the possibility of closing the erroneous but growing gap between ›general‹ and ›inclusive‹ processes, promoting more interrelation between the different levels of evaluation and improvement, both external and internal, as well as between national, regional and school levels. A virtuous circle between practices, research and future development The Italian school system underwent very little research and evaluation regarding the quality of inclusion and the impacts on students, teachers and other members of communities, such as parents. We can mention very few studies at the national level (e.g. TreeLLLe/Caritas/Agnelli Foundation 2011; Canevaro /d’Alonzo/Ianes, 2009; Ianes/Demo/Zambotti 2010; ISTAT 2018), which are mostly based on teachersʼ or parentsʼ self-perceptions and are focused on teachersʼ attitudes or beliefs, or on parentsʼ satisfaction. Compared to the international literature in the field (see, for example, Ruijs/Peetsma, 2009; Szumski/Smogorzewska/Karwowski 2017; Yu/Ostrosky/ Fowler 2012; Zekele 2004), there is a significant lack of studies focusing on the impacts on both pupils with and without disabilities in terms of achievement and other noncognitive outcomes, such as social skills, self-esteem, self-efficacy, attitudes and beliefs. The same research gap can be identified when considering other types of impacts, such as the efficacy of teaching strategies for inclusive education and effective individualisation (Cottini/Morganti 2015). This information is essential in order to recognise the limitations of current models at the school and class levels, and to plan adequate future actions. Moreover, there is a need to understand whether ideals and principles can be set on a robust basis of empirical evidence regarding positive effects of an inclusive school system, placing these outcomes in relation to the quality of the system to foster systemic strengths and take actions against ineffective strategies or implementations.
CONCLUSIONS Italian experience suggests to us that inclusion is possible and rewarding, but we need to find solutions in order to avoid the influences of a medical/special model
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which survives in legislation, schools and services. For example, current problems include acquiring a medical statement as a way to obtain additional resources that usually only amount to bringing in a support teacher, or the consequent delegation of responsibilities regarding pupils with disabilities and special educational needs to support professionals without also enhancing adequate systemic actions that would spread competences to all other teachers. Moreover, other issues threaten the quality of inclusion, such as the inability to transform traditional teaching strategies into more flexible, active and participative teaching activities, as well as the limited dialogue between research and practices regarding the efficacy of different teaching methods and inclusive strategies.
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Exklusion inklusive Be-hinderungen im schulischen Alltag Ernst Kočnik, Rahel More & Marion Sigot Dieser Beitrag skizziert Möglichkeiten und Barrieren für soziale Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen in diversen schulischen Settings anhand eines Überblicks über den Forschungsstand, empirischen Erkenntnissen einer Habilitationsschrift (Sigot 2017) sowie eines Problemaufrisses aktueller regionaler Entwicklungen im Inklusionsdiskurs. Ein erster Auszug aus der Fachliteratur fokussiert vorwiegend soziale Kontakte, Interaktionen, Kommunikationsdynamiken sowie Anerkennungen in den Beziehungen mit Peers aus den Perspektiven von (ehemaligen) Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen, welche, konträr zu den Positionen von Lehrpersonen und Eltern sowie anderer Erwachsener, bislang kaum Beachtung fanden (Buchner/Gebhardt 2011; Deckert-Peaceman 2009; Köbsell 2012). Der internationale State of the Art zeichnet ein Stimmungsbild von sozialer Inklusion im schulischen Umfeld, zu welchem sich deutliche Parallelen in retrospektiven Erfahrungen von jungen Frauen mit Lernschwierigkeiten aus Sigots (2017) Forschung in Österreich finden. Um zentrale Erkenntnisse dieser Herangehensweise für einen Ausblick auf zukünftige Herausforderungen von sozialer Inklusion in der Schule fruchtbar zu machen, werden diese mit aktuellen regionalen Entwicklungen im schulischen Inklusionsdiskurs in Verbindung gebracht. Grundlegend für ein Verständnis der hier behandelten sozialen und politischen Dynamiken ist die Differenzierung zwischen soziokulturell bedingt be-hindert zu werden und behindert zu sein (vgl. Waldschmidt 1998: 15). Demnach verstehen wir Behinderung in erster Linie als Ergebnis von Zuschreibungen, Barrieren und Einstellungen, konträr zu einer immer noch verbreiteten, individualistisch-defizitären Sichtweise, welche Behinderungen als persönliche Tragödien, begründet durch physische oder psychische Merkmale einzelner Personen, versteht (vgl. Oliver 2004: 6).
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SOZIALE INKLUSION UND BILDUNG Im Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Convention on the Rights of Persons with Disabilities, kurz UNCRPD), welches Österreich 2007 unterzeichnet und 2008 ratifiziert hat (Naue 2009), wird die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen des Lebens gefordert, das heißt auch in allen Angelegenheiten betreffend Bildung, auf welche sich Artikel 24 der UN-CRPD bezieht (vgl. Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz 2011). Abgesehen vom grundsätzlichen Recht aller Menschen mit Behinderungen auf Bildung und Zugang zum Bildungssystem auf allen Schulstufen gleichberechtigt mit anderen Bürgerinnen und Bürgern, finden sich im Artikel 24 auch einige Anmerkungen zur »sozialen Entwicklung« von Menschen mit Behinderungen, zu welcher das Bildungswesen beitragen soll. Diese Formulierungen deuten auf eine Ausdehnung beziehungsweise Flexibilisierung des traditionellen, formalen Bildungsbegriffes hin, welchen jedoch die UN-CRPD nicht explizit definiert. Sting (2010) weist etwa darauf hin, dass an Bildungsorten, welche tendenziell mit einer bestimmten Auslegung des Bildungsbegriffes assoziiert werden, wie etwa Schulen, im Grunde diverse Bildungsformen zusammentreffen können. Der konventionelle, schulische Bildungsbegriff wird erweitert auf jenen der Lebensbildung (Thiersch 2008: 239), welche als informelles Lernen, unter anderem durch soziale Kontakte mit Peers stattfindet (Harring 2007). Ein beachtlicher Teil dieser Beziehungen zwischen Gleichaltrigen spielt sich nach wie vor im Rahmen des Schulbesuches ab. Während die Inklusion von Frauen, Männern und Kindern mit Behinderungen in den diversen Lebensbereichen laut Köbsell (2012) ein zentrales Thema der Disability Studies (vgl. Waldschmidt/Schneider: 12) ist, wird die schulische Inklusion aber innerhalb dieser bisher eher randständig behandelt. In den letzten Jahren trugen die interdisziplinären, internationalen Disability Studies jedoch schließlich unter anderem dazu bei, dass die Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern als zentrale Akteurinnen und zentrale Akteure schulischer Inklusion zunehmend in Studien auf internationaler Ebene fokussiert werden (Köbsell 2012). Vor allem im deutschsprachigen Raum besteht aber nach wie vor hoher Forschungsbedarf in Hinblick auf die Sichtweisen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen auf das schulische Umfeld, nicht zuletzt auf die sozialen Beziehungen. Dieser Bedarf ist auch darin begründet, dass die Perspektiven von Kindern im Allgemeinen, und insbesondere von Kindern mit Behinderungen, in der Pädagogik fortlaufend einen geringeren Stellenwert als jene von Erwachsenen zu haben scheinen (Deckert-Peaceman 2009).
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PERSPEKTIVEN VON (EHEMALIGEN) SCHÜLERINNEN UND SCHÜLERN MIT BEHINDERUNGEN Erkenntnisse der quantitativ immer noch überschaubaren Studien, welche sich explizit mit den schulischen Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen beschäftigen, weisen etwa darauf hin, dass Lehrpersonen sowohl unterstützend als auch diskriminierend agieren, Peers (sowohl nichtbehinderte als auch Kinder und Jugendliche mit Behinderungen) eine hohe Bedeutung beigemessen wird sowie die Relevanz von Peers mit Behinderungen innerhalb inklusiver Settings für einen Austausch »auf Augenhöhe«, unter anderem zu Behinderungserfahrungen betont wird (Köbsell 2012). Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Köbsells deutscher Studie (ebd.) machten während ihres Besuches von Regelschulen in ihren Beziehungen zu Peers unterschiedliche Erfahrungen, welche von Freundschaften über Akzeptanz bis hin zu Mobbing reichten. Cook, Swain und French (2001) kamen durch ihr Forschungsprojekt mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in einer britischen Sonderschule ebenfalls zu der Erkenntnis, dass das Vorhandensein von Peers mit ähnlichen Beeinträchtigungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen relevant sein kann. Sie beziehen sich dabei vorrangig auf gegenseitige Vorbildfunktionen. Gleichzeitig wurde durch die Stimmen der teilnehmenden Kinder die zentrale Rolle von Inklusion für das Zugehörigkeitsgefühl von Schülerinnen und Schülern deutlich, das Hin- und Hergeschobenwerden zwischen verschiedenen Schultypen hingegen wurde als verunsichernd empfunden. In Spanien (sowie im Rahmen einer Vorstudie auch in Australien, siehe Whitburn 2014) erforschte Whitburn (2016) die Perspektiven von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen in inklusiven Schulsettings. Die Ergebnisse jener Studie deuten darauf hin, dass die teilnehmenden Jugendlichen mit diversen Beeinträchtigungen größtenteils freundschaftliche Beziehungen zu ihren Peers pflegen und soziale Interaktionen auch außerschulisch stattfinden. Einerseits erleben die Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen sich vorrangig als Personen, unabhängig von einem ihnen zugeschrieben »Label« (vgl. Taylor 2008: xiv), andererseits beschreiben manche Teilnehmenden der Studie ein konstantes »Risiko«, aufgrund physischer Differenzen oder aber aufgrund eines abwiechenden Curriculums bloßgestellt zu werden. Diese Erkenntnisse stehen in klarem Kontrast zu den Ergebnissen der australischen Vorstudie, in welcher Schülerinnen und Schüler mit Sehbeeinträchtigungen sonderpädagogische Praktiken als Barriere für ihre soziale Inklusion im schulischen Umfeld sehen (Whitburn 2014).
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Bisher haben die Vorgehensweisen von Forschungsprojekten, welche die Perspektiven von Kindern miteinbeziehen, eine überwiegend dichotome Ausrichtung, das heißt, werden die Erfahrungen von Kindern überhaupt berücksichtig, reproduziert das Forschungsdesign meist die Kategorisierung behindert und nichtbehindert (Deckert-Peaceman 2009). Während Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen bisher tendenziell eher objektiviert denn als aktive Akteurinnen und Akteure gesehen werden, finden sich in vielen biographischen Erzählungen von erwachsenen Menschen mit Behinderungen Hinweise auf Inklusion im schulischen Alltag. So wurden etwa im Rahmen eines lebenslauforientierten Projektes auch schulische Bildungserfahrungen von Menschen mit Behinderungen erforscht (Buchner/Gebhardt 2011). In einigen der Narrativen, welche das genannte Projekt hervorbrachte, berichten junge Menschen mit Behinderungen von ihren sozialen Inklusions- und Exklusionserfahrungen in der Regelschule, welche zum Teil eng verknüpft sind mit Normalitätskonstruktionen und Normalisierungsprozessen im schulischen Umfeld. Eine junge Frau erlebte etwa sogenannte ›integrative‹ Praktiken als sozial exkludierend, da diese von der Norm abwichen und unter anderem in Mobbing durch die Mitschülerinnen und Mitschüler resultierten, weiter verschärft durch die guten schulischen Leistungen des Mädchens. Ein junger Mann machte ähnliche soziale Erfahrungen, auch er wurde vorerst in der Schule von Peers gemobbt, was sich jedoch später durch seine exzellenten Leistungen sowie Bewunderung der Mitschülerinnen und Mitschüler aufgrund von physischen Anpassungsprozessen (einer Operation) relativierte. In den Erzählungen einer dritten Person, die an derselben Studie teilnahm, finden sich ebenso Hinweise auf Konflikte mit Gleichaltrigen in der Schule, welche jedoch – verglichen mit den anderen beiden Personen – aufgrund von weniger diskriminierenden Rahmenbedingungen sowie eines außerschulischen Vorbildes mit einer ähnlichen Beeinträchtigung nicht dieselbe Bedeutung für den Betreffenden hatte (Buchner 2011). Die Erzählungen von Frauen und Männern mit Behinderungen in einem Sammelband (Fischer/Ott/Schwarz 2010) beinhalten ebenfalls Erinnerungen der Autorinnen und Autoren an die Schulzeit. Berichtet wird sowohl von sozialer Inklusion als auch Exklusion, in Beziehungen zu Lehrpersonen ebenso wie zu Mitschülerinnen und Mitschülern. So beschreibt etwa Galla (2010: 12) seine Schulzeit als »die Hölle für mich« und verweist auf Sticheleien und Mobbing, hebt aber trotzdem hervor, dass unter den Peers ein paar »Vernünftige« dabei gewesen seien, »nennen wir sie Freunde«, von denen einige wenige zu nahen Freunden wurden, »die mit mir durch dick und dünn gehen«. Die Schulzeit und die Bildung sozialer Kontakte in dieser waren demnach für Galla sowohl eine
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Belastung (»Hölle«) als auch eine Bereicherung aus der heraus enge Freundschaften entstanden. Er musste sich jedoch die Anerkennung seiner Mitschülerinnen und Mitschüler erst erarbeiten, was er schließlich zum Ende der 8. Klasse als geschafft betrachtet. In einem weiteren Beitrag des genannten Sammelbandes berichtet Lenz (2010: 94) unter anderem von sozialen Interaktionen mit Lehrpersonen, ihr wurde etwa bezüglich eines Wechsels von der Sonder- in die Realschule von Lehrkräften der »Körperbehindertenschule«, welche sie besucht hatte, prophezeit, dass sie den Wechsel »auf keinen Fall schaffe«.
SCHULISCHE ERFAHRUNGEN VON FRAUEN MIT LERNSCHWIERIGKEITEN Wie bereits ausgeführt, werden schulische Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen bislang in der Forschung kaum berücksichtigt. Jene von Schülerinnen und Schülern mit Lernschwierigkeiten bleiben in einem besonders starken Maß unbeachtet, obgleich diese besonders gut in partizipativen Projekten erhoben werden könn(t)en. Im Folgenden werden ausgewählte schulische Bildungserfahrungen sowie Inklusions- und Exklusionserfahrungen in Sonder- und Regelschulen von Frauen mit Lernschwierigkeiten in einem partizipativen Forschungsprojekt im Zusammenhang von Fremd- und Selbstbestimmung dargestellt (vgl. Sigot 2017). Partizipation im Projekt erfolgte über die Beteiligung einer sogenannten Referenzgruppe, die aus Frauen mit Lernschwierigkeiten bestand, die selbst »in ihrer Sozialisation die Erfahrung des Behindert-Werdens gemacht« (Flieger 2007: 22) haben, an Planung, Erhebung und Auswertung einer qualitativen Studie. Dabei wurden über die Analyse1 von erzählgenerierenden Interviews mit betroffenen Frauen, auch vielfältige schulische Erfahrungen im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion, Selbst- und Fremdbestimmung sichtbar, auf die im Folgenden fokussiert wird.
1
Diese Interviews wurden mit der dokumentarischeren Methode unter Beteiligung der Referenzgruppe ausgewertet.
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SCHULE ALS ORT SOZIALER BEGEGNUNGEN UND BEZIEHUNGEN Schule wird von Frauen mit Lernschwierigkeiten in der Retrospektive als Ort sozialer Begegnungen und Beziehungen grundsätzlich überwiegend positiv konnotiert. So beschreibt etwa Anna (anonymisiert) die Schule rückblickend als Ort, auf den sie sich aus diesem Grund zunächst sehr gefreut habe: »[…] also ich weiß nur, dass ich mich sehr auf die Schule gefreut habe« (IA 140-141). Isolde beschreibt Schule als einen vertrauten Ort, in dem sie über Alltagshandlungen wie Essen und gemeinsame Aktivitäten wie Kochen oder Spazierengehen mit Mitschülerinnen und Mitschülern, Lehrerinnen und Lehrern soziale Inklusion erlebte (vgl. II 170-178). Zur Sprache kommen dabei insbesondere Beziehungen zu Peers, aber auch zu Lehrkräften. Als zentral für Anna erweisen sich wahrgenommenes Interesse und Anerkennung als Person. Im Vergleich positiver und negativer Erfahrungen mit Lehrkräften stellt sich in Annas Argumentation, von diesen nicht wie »Luft« (IA 315) behandelt zu werden, als ein Rahmen dar, der Wohlbefinden, Lernerfolg und Entwicklungsmöglichkeiten fördert.
EXKLUSIONSERFAHRUNGEN IN DER SCHULE Bei dieser positiven Grundeinstellung zur Schule wird grundsätzlich kaum zwischen Sonderschule und Regelschule unterschieden. In beiden werden Erfahrungen der Inklusion, aber auch der Exklusion gemacht. Dabei wird deutlich, dass Exklusionserfahrungen sich insbesondere auf das Hinausgedrängt-Werden aus bestehenden sozialen Bezügen beziehen und als sehr schmerzhaft erlebt werden. So berichtet Anna: »Und dann haben sie mich eben von dort dann weggetan, ich bin mir vorgekommen wie der letzte Dreck« (IA 169). Anna macht eindrucksvoll deutlich, dass sie Erfahrung mit Abwertung und Aussonderung im schulischen Zusammenhang in Sonderschule und Regelschule gemacht hat. Aus der Beschreibung ihrer Gefühle im Zusammenhang damit wird ersichtlich, wie wichtig für sie Teilhabe ist und wie schmerzlich Ausgrenzung erlebt wird. Als Konsequenzen der Exklusionserfahrung dokumentieren sich massive Selbstzweifel, so etwa, »eine komplette Versagerin« und nicht gewollt (IA 184-186) zu sein. Die Erfahrung der Exklusion findet sich auch bei Melanie. Sie beschreibt die Erfahrung als prägend, aufgrund der eigenen »späten Entwicklung« (IMe 259) vom Regel- in den Sonderkindergarten »geschickt« (vgl. IMe 264) worden zu sein. Die in diesem Projekt berichteten Erfahrungen fremdbestimmter Schulwechsel ähneln hier stark jenen aus der bereits ange-
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führten Studie von Cook, Swain und French (2001), wonach insbesondere das Hin- und Hergeschobenwerden zwischen verschiedenen Schultypen als verunsichernd empfunden wird.
STIGMATISIERUNG UND DISKRIMINIERUNG Obgleich Sonderschule und Regelschule grundsätzlich als Orte sozialer Beziehungen hervorgehoben und wertgeschätzt werden, werden in diesen neben den beschriebenen Exklusionserfahrungen auch Stigmatisierung, Diskriminierung, Mobbing und Übergriffe erlebt. So berichtet Angelika, dass sie »Tag ein Tag aus, behindert=behindert=behindert, jedes Mal das Wort behindert« (IAng 846) gehört habe. Schülerinnen und Schüler aus ihrer eigenen Klasse und den Nebenklassen hätten sie »alle verarscht von A bis Z, die haben alle gesagt: da kommt die Behinderte daher« (IAng 829-830), dies habe »weh getan, das war das einzige, das hat weh getan« (IAng 842). Eine von Angelika in diesem Zusammenhang beschriebene Szene macht deutlich, dass Lehrkräfte im Ansinnen, Stigmatisierung entgegenzuwirken, diese durch implizite negative Zuschreibungen sogar verstärken können. Sie beschreibt, dass ein Mitschüler zur Strafe zehn Mal »sag zu der armen Angelika nicht behindert!« (IAng 850) schreiben musste, sich aber dadurch an dessen Verhalten ihr gegenüber nichts geändert habe. Die abwertenden Erfahrungen in der Schule wirken sich bei Angelika zunehmend negativ auf ihr Befinden aus, in der Folge wechselt sie die Schule. Abwertung und Mobbing durch Gleichaltrige im schulischen Kontext werden auch bei Alina dokumentiert. Wie Angelika berichtet sie darüber, in der Schule ausgelacht und »verarscht« (IAl 400) worden zu sein und sich dadurch »scheiße« gefühlt zu haben. Melanie berichtet davon, von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern ausgelacht und verspottet worden zu sein (IMe 212). Anna wiederum erzählt, dass einige Mitschülerinnen und Mitschüler in der Sonderschule etwas gegen sie gehabt hätten (vgl. IA 173), was sie »vom Verhalten her« (IA 204) gemerkt habe. Sie führt aus, von den Mitschülerinnen und Mitschülern nur mehr »sekkiert und genervt« (IA 219) worden zu sein. Neben Mobbing kann es in der Schule auch zu körperlichen Übergriffen kommen. So beschreibt Marlene, dass sie in der Schule nicht nur verbal, sondern auch körperlich von Mitschülerinnen und Mitschülern angegriffen worden sei und versucht habe, sich durch »Wegschupfen« zu wehren (vgl. Marl 238-242). Marlene beschreibt sogar körperliche Übergriffe durch eine Lehrperson (IMarl 258-265). In Annas Fall gehen Mobbing-Erfahrungen mit der als unzureichend wahrgenommenen Unterstützung durch die Lehrerin einher. Marlene scheint
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nicht nur keine Unterstützung, sondern sogar körperliche Übergriffe durch die Person der Lehrkraft selbst zu erleben. Es wird deutlich, dass von Schülerinnen als unzureichend erlebte Unterstützung und (auch implizit wahrgenommene) Defizitorientierung von Lehrkräften Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung verstärken können. Lehrende können auch – oftmals mit ihrem Ansinnen, inkludierend zu wirken – Exklusionserfahrungen begründen, wie das Beispiel Angelikas dokumentiert und auch die Erkenntnisse von Whitburns (2014) sowie Buchners (2011) Studien zeigen. Auch körperliche Übergriffe durch Lehrkräfte werden wahrgenommen. Ergebnis von Stigmatisierung, Diskriminierung, erlebten Übergriffen und unzureichender Unterstützung ist nicht selten ein (erzwungener) Schulwechsel der betroffenen Schülerin, wodurch die erlebten Erfahrungen verstärkt werden können. In der Folge können daraus massive Selbstzweifel und das Gefühl eigener Wertlosigkeit resultieren.
RESPEKT, AKZEPTANZ, ANERKENNUNG UND UNTERSTÜTZUNG Werden die zuvor beschriebenen Erfahrungen sehr negativ erlebt, so stellen jene des Respektiert-, Akzeptiert- und Anerkannt-Werdens, verbunden mit einem erlebten Interesse an der eigenen Person über soziale Beziehungen, sehr positive Erlebnisse dar. Wie etwa an Annas Ausführungen deutlich wurde, werden diesbezügliche Erfahrungen im Vergleich zu den bisherigen Rahmenbedingungen als zentrale Momente und als Ausgangspunkte eigener Weiterentwicklung beschrieben. So beginnt Anna ihre Beschreibung einer sehr förderlichen Lehrerin: »Also die Lehrerin, die werde ich so nie vergessen. […] Das ist eine total super, kamote Lehrerin« (IA 295-296). Auch Eva merkt zur erstmals gemachten Erfahrung des Wahrgenommen-Werdens als Person mit eigenen Interessen an, dass sie diese Situation »nie vergessen« werde. In ihrer Ähnlichkeit dokumentieren diese Formulierungen auch, dass die in diesem Kontext gemachte Erfahrung nicht Alltag für Schülerinnen mit Lernschwierigkeiten zu sein scheint. Auch schulischer Erfolg ist aus der Perspektive betroffener Schülerinnen stark von der Art der erlebten Unterstützung abhängig. In Annas Erzählung ist Schulerfolg das Ergebnis der Erfahrung, als Person wahrgenommen und anerkannt zu werden. Erfolg oder Misserfolg hängen in ihrer Argumentation sehr stark von der passenden Unterstützung und von der Person der Lehrkraft ab. Zu schnelles Vorgehen wird als unpassender Zugang erlebt, der zu schulischem Misserfolg führt. Dies dokumentiert sich an der Hervorhebung der Bemühungen der Lehrerin beim Vermitteln der schulischen Inhalte unter Berücksichtigung des
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persönlichen Lerntempos als Basis für schulische Erfolgserlebnisse. Dieser erlebte Zugang durch eine Lehrerin, die Anna »nie vergessen« (IA 295) wird, führt zu verstärkten schulischen Bemühungen und mündet in der Folge in die Beschreibung: »[…] ich habe zwar wohl auch noch Fehler gehabt und so […] ich habe gelernt, also wie eine Verrückte auf gut Deutsch gesagt, dass ich alles ja gute Noten kriege. Und das habe ich. Also ich habe tadellos, super Noten gekriegt.« (IA 295-301)
AUSWIRKUNGEN VON INKLUSIONS- UND EXKLUSIONSERFAHRUNGEN Deutlich wird auch, dass die gemachten Erfahrungen zu einer Bewertung des gesamten Kontextes führen können. Über ihre diesbezüglichen positiven Erfahrungen mit einer Lehrerin in der Sonderschule und dem Vergleich zu negativen Erfahrungen in der Regelschule, insbesondere dem Fehlen angemessener Unterstützung, empfiehlt Anna die Sonderschule grundsätzlich als Lernort, an dem man aus ihrer Perspektive nicht – wie für die Regelschule implizit hervorgehend – vernachlässigt wird. Tamara erlebt in der Regelschule wiederholt die Zuschreibung, »einfach zu langsam« (IT 155) zu sein. Nach einem Wechsel in die Sonderschule und der dort erlebten Erfahrung, »mitgekommen« (IT 179, 181) zu sein, bewertet sie diesen auch Jahre später noch positiv. Verhalten von Mitschülerinnen und Mitschülern im Sonderschulbereich wiederum, das sich durch Annas Beschreibung als Mobbing darstellt, führt zu einer positiven Bewertung der Erfahrungen im Regelschulbereich. Regelschule wie Sonderschule bergen in sich also vielfältige Momente und Facetten, in denen in sozialen Bezügen positive wie negative Erfahrungen gemacht werden. Dies betrifft nicht nur Beziehungen mit Peers, die wie in Köbsells Studie (2012) teils freundschaftlich, teils akzeptierend oder aber von Mobbing geprägt sind. Dabei sind indirekte Prozesse nicht weniger negativ wirksam als etwa direkt erlebte Abwertung. So etwa, wenn Personen aus dem sozialen Umfeld, von denen eigentlich Unterstützung erwartet wird, diese vorenthalten und eventuell sogar durch eigene Äußerungen oder Handlungen die erfahrene Abwertung noch verstärken. In den Beschreibungen der betroffenen Frauen wird allerdings mitunter auch ein Anhaften an Beziehungen deutlich, die zwar durch schmerzliche Erfahrungen belastet sind, aber offenbar jedenfalls als soziale Bezüge wahrgenommen werden, die zumindest eine Form der ›Zuwendung‹ beinhalten.
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Die hier skizzierten Ergebnisse bestätigen den bereits einleitend präsentierten Befund, dass sowohl Sonder- als auch Regelschulkontexte prinzipiell mit inkludierenden und exkludierenden Erfahrungen verbunden sein können. Inklusive Schule im organisatorischen Sinn kann durch ausgrenzende Praktiken, Stigmatisierung und Diskriminierung ebenso als sozial ausgrenzend erlebt werden wie Sonderschulkontexte. In beiden Kontexten stellen gute Beziehungen Grundvoraussetzung persönlicher »Entwicklungs- und Lernprozesse« (vgl. Prengel 2013: 123) und einer positiven Einschätzung des Rahmens dar.
MÖGLICHE SOZIALE KONSEQUENZEN DES SONDERSCHULBESUCHS Was allerdings den Sonder- und Regelschulkontext deutlich unterscheidet, sind die Folgen, die der Besuch der jeweiligen Schulform für deren Absolventinnen und Absolventen haben kann. Alleine die soziale Position der ehemaligen Sonderschülerin/des ehemaligen Sonderschülers kann von jungen Menschen mit Lernschwierigkeiten als Stigma empfunden werden, welches ihnen nach dem Sonderschulabschluss weiter folgt (Pfahl 2012). Dies geht häufig einher mit defizitorientierten Zuschreibungen in Gutachten für sonderpädagogischen Förderbedarf. Klee weist bereits 1980 darauf hin, dass defizitorientierte Äußerungen von Fachleuten in unterschiedlichen Kontexten einen stark diskriminierenden Faktor darstellen können, indem damit zur Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen beigetragen wird (vgl. Klee 1980: 180). Nicht selten sind mit defizitorientierten Prognosen in Gutachten negative Konsequenzen für die betroffenen Personen verbunden. Insbesondere die Klassifizierung »geistig behindert« kann zu einem »Leben in Ausgrenzung« führen, indem dadurch Schullaufbahn, Bildungsangebote, Wohnform und Arbeitsmöglichkeit festgelegt werden (vgl. Feuser 1995: 35). Schülerinnen und Schüler, die mit dem Etikett einer »geistigen Behinderung« belegt werden, müssen daher auch mit geringeren Chancen zur Teilhabe am Arbeitsleben (vgl. Niehaus 2006: 181) oder an Wohnprojekten (vgl. Jantzen 2004: 161) rechnen. Denn die Zuschreibung einer »geistigen Behinderung« überdeckt häufig alle anderen Charaktereigenschaften, »sie färbt alle Aussagen, welche über die Person gemacht werden, selbst dort, wo sie von keinerlei Belang wäre« (Radtke 1994: 110). Deutlich werden diese Zusammenhänge auch an Erfahrungen mit Übergängen von Schule oder Ausbildung in das Berufsleben. So zeigt sich in Pfahls Studie (Pfahl 2012), dass mit dem Einstieg in inklusive Ausbildungssettings
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nach dem Abschluss die Hoffnung der jungen Leute auf Nicht-Diskriminierung und Akzeptanz verbunden ist, welche sich teils erfüllt, teils verwehrt bleibt. Die jungen Frauen und Männer entwickeln eigene Techniken, um sozialen Anschluss zu finden und die stigmatisierende Wirkung des Status der Sonderschülerin und des Sonderschülers zu entschärfen, welche von Unterordnung und erhöhter Einsatzbereitschaft bis hin zu Eindrucksmanipulation und Gegenstigmatisierung reichen. Sonderschulen werden in diesem Zusammenhang als »behindernde Subjektivierungsinstanz« (ebd.: 428) gesehen. In Whitburns (2014) australischer Studie empfinden Schülerinnen und Schüler mit Sehbeeinträchtigungen sonderpädagogische sowie andere als »Unterstützungsformen« ausgelegte Praktiken in der Regelschule entgegen ihrer Intention ebenso als Barriere. Auch in Buchners (2011) Projekt, werden in Narrativen sogenannte ›integrative‹ Praktiken als sozial exkludierend erlebt. Diese Erkenntnisse lassen darauf schließen, dass eine intendierte Inklusion im schulischen Umfeld häufig nicht die gewünschten Erfolge erzielt, vor allem dann nicht, wenn anstelle eines vorsichtig differenzierten Ansatzes eine Sonderbehandlung stattfindet, die Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen im Endeffekt ausgrenzt. Somit stellt sich die Frage, wie der Exklusion bedingt durch spezifisch inklusionsorientierte Settings für junge Menschen mit Behinderungen vorzubeugen wäre. Eine zentrale Erkenntnis bildet jedenfalls die stigmatisierende sowie in Folge ausgrenzende Tendenz von Zuschreibungen im Bildungsbereich, welche somit ihr Ziel von gleichberechtigten Bildungschancen im weitesten Sinne verfehlen. In schulischen Settings kann daher dieselbe Problematik illustriert werden, die auch andere Bereiche des Lebens buchstäblich behindert: eine Kategorisierung von Menschen gerechtfertigt durch einen menschenrechtlich verbrieften Anspruch auf Gleichstellung. Folgend wird anhand aktueller Entwicklungen des Inklusionsdiskurses im österreichischen Bundesland Kärnten aufgezeigt, wie seitens der Politik versucht wird, der Gleichstellung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen gerecht zu werden. Von den skizzierten politischen und strukturellen Entwicklungen lassen sich sowohl Möglichkeiten als auch Barrieren für die soziale Inklusion im schulischen Umfeld ablesen.
AKTUELLE REGIONALE ENTWICKLUNGEN IM INKLUSIONSDISKURS Mit der Ratifizierung der eingangs erwähnten UN-CRPD 2008 haben sich die Republik Österreich sowie die weiteren Vertragsstaaten dazu verpflichtet, ein in-
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klusives Bildungssystem auf allen Ebenen umzusetzen. Die Republik hat dafür zu sorgen, dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund ihrer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden, sondern gleichberechtigt an Bildungsprozessen teilhaben können. Um dies zu erreichen, sieht der Nationale Aktionsplan des Bundes (NAP) die Errichtung von Inklusiven Modellregionen in den Ländern bis 2020 vor (vgl. Sozialministerium 2012: 66). Auch das Land Kärnten bekennt sich dazu und hat mit dem Landesetappenplan (LEP) 2014 einen eigenen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-CRPD gerufen, der sich seit dem Jahr 2017 in der Umsetzungsphase befindet. Sehr unterschiedlich interpretiert wird die tatsächliche Bedeutung von Inklusion auch im Bildungsbereich. Die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung sieht darin ganz klar die Notwendigkeit der Auflösung aller Sonderschulen. Dies reicht von der Kritik an einzelnen Aspekten bis hin zur Einschätzung der Aktivistin Theresia Degener, wonach man »aus Sonderschulen behinderter rauskommt, als man hineingeht2«. Gänzlich anders ist die Sichtweise der Politik, von Bildungsverantwortlichen, aber auch von Eltern behinderter Schülerinnen und Schüler. So ist die ehemalige österreichische Unterrichtministerin Schmied der Auffassung, dass »Sonderschulen neben einem voll ausgebauten inklusiven System als zusätzliche Angebote bestehen dürf(t)en« (vgl. Flieger: 2012). Gemäß Unterrichtsministerin Schmied ist die »durchgehende Integration nur einer von vielen Aspekten der schulischen Förderung behinderter Kinder« und ihrer Meinung nach »steht es den Staaten grundsätzlich frei, wie sie ihre Schwerpunkte zur Erreichung der Ziele der Konvention setzen wollen.« Sie steht auf dem Standpunkt, wonach es »entscheidend ist, dass die gesetzten Schritte konkret, glaubhaft und nachvollziehbar sind und die Lage behinderter Kinder sukzessive verbessert wird« (vgl. Parlamentarische Anfragebeantwortung Nr. 9900/J-NR/2011). Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass sich der Inklusionsgedanke noch nicht ganz durchgesetzt hat, sich die derzeitigen Bildungsmodelle noch auf den Integrationsbegriff stützen und zudem noch sehr von sonderpädagogischen Ansätzen geprägt sind. Hinz meint zur Inklusionsdebatte in Deutschland, die zweifellos auch auf Österreich übertragbar ist, dass diese dadurch kompliziert wird, »dass sie auf zwei unterschiedlichen Verständnissen von Integration basiert, die einerseits als sonderpädagogischer Ansatz auf einem gestuften Modell aufbauen und andererseits als integrationspädagogischer Ansatz vom Bürgerrecht auf Integration für alle ausgehen« (Hinz 2006: 149).
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Zitiert in der Badischen Zeitung vom 15. Dezember 2014 (Prosinger 2014: o.S.).
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Nicht gerade erbauend sind die Aussichten für Inklusion im schulischen Bereich in Österreich seit im Dezember 2017 die neue Koalitionsregierung zwischen der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) die Regierungsgeschäfte übernommen hat. Im Regierungsprogramm 2017-2022 ist nachzulesen, dass das Sonderschulwesen erhalten und gestärkt sowie die sonderpädagogische Ausbildung für Lehrerinnen und Lehrer wiedereingeführt werden soll (vgl. ÖVP-FPÖ 2017: 62).
»INKLUSION LIGHT« IN KÄRNTEN In Kärnten haben die Diskussionen rund um das Sozialpädagogische Zentrum – bfz, die sogenannte »Gutenbergschule« für Aufregung gesorgt. Im Jahr 2012 sollte diese aufgelöst und durch Inklusionszentren in den einzelnen Landesbezirken ersetzt werden. 2013 wurde, nicht zuletzt aufgrund massiver Elternproteste, zurückgerudert und sogar ein Ausbau der Gutenbergschule ins Auge gefasst. Letztlich ist es jedoch nicht zum Ausbau der Sonderschule gekommen, sondern Kärnten hat den Weg einer Inklusion light gewählt und baut seither sukzessive gemäß dem vom Landesschulrat Kärnten in Kooperation mit der Abteilung 4 – Soziales des Landes Kärnten erstellten Maßnahmenplan Bereich Bildung/Pflichtschulbereich Kärnten das Angebot regionaler Inklusionszentren aus. In der Überarbeitung des Konzepts wird nun nicht mehr von Inklusionszentren bzw. Inklusionsklassen, sondern von Kooperativen Kleinklassen gesprochen. Mit dieser Änderung wurde der Kritik Rechnung getragen, wonach man bei dieser Maßnahme nicht von Inklusion sprechen kann, da an Regelschulen verortete Kleinklassen trotzdem segregierend wirken. Die Autorinnen des Maßnahmenplans gehen von einer Gesamtzahl von 2075 Schülerinnen und Schülern in Kärnten mit Sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) im Schuljahr 2017/18 aus. Davon werden 1895 (91,3 %) integrativ im Klassenverband mit nichtbehinderten Kindern und 180 (8,7 %) in Sonderschulen unterrichtet. Die 8,7 % Sonderschülerinnen und Sonderschüler teilen sich in etwa zu gleichen Teilen in solche mit schwersten Behinderungen (hohem Assistenzbedarf) und solche mit »schweren Störungen des Sozialverhaltens« auf. Die Schülerinnen und Schüler mit hohem Assistenzbedarf werden in den Kooperativen Kleinklassen und jene mit Verhaltensstörungen in sogenannten TimeOut-Gruppen unterrichtet (Werner/Zöhrer 2017).
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KOOPERATIVE KLEINKLASSEN Die Kooperativen Kleinklassen sind an Volksschulen und Neuen Mittelschulen angesiedelt, mittlerweile gibt es in den meisten Bezirken zumindest einen Standort. Das heißt, Kooperative Kleinklassen sind zwar an Regelschulstandorten verortet, die fünf bis sieben behinderten Schülerinnen und Schüler dieser Klassen werden aber in separaten Klassenräumen unterrichtet. Der gemeinsame Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Schülerinnen und Schülern hält sich in Grenzen und die verpflichtenden kooperativen Unterrichtseinheiten (einzeln oder in Gruppen) beschränken sich zumeist auf gemeinsame Feierlichkeiten und den Gesangsunterricht. Die Beschulung und Unterrichtsform in kooperativen Kleinklassen darf »keinesfalls als vollständige schulische Inklusion missverstanden werden« (vgl. Anwaltschaft für Menschen mit Behinderung 2016: 88). In Bezug auf die Räumlichkeiten wird auf Barrierefreiheit geachtet, und die personellen Ressourcen bezüglich Lehr- und Betreuungspersonals sind gegeben. Zusätzlich gibt es an allen Standorten Nachmittagsbetreuung und therapeutische Versorgung. Dieses ›Rundum-Servicepaket‹ macht diese ›neuen Sonderschulen‹ natürlich sehr attraktiv für Eltern, die ihre behinderten Kinder gut versorgt wissen wollen. Im Prozess der Etablierung dieser Inklusionsschulen wurde besorgten Eltern von der zuständigen Behörde und von politischen Entscheidungsträgern versichert, dass »sie bzw. ihre Kinder durch die Schließung der Sonderschulen keine Nachteile haben« würden, da es neben einer Nachmittagsbetreuung auch kostenlose Therapieangebote geben werde (vgl. Anwaltschaft für Menschen mit Behinderung 2016: 87). Kritisch zu sehen ist im Zusammenhang mit den Inklusionszentren auch, dass dadurch selbstverständlich der barrierefreie Ausbau der übrigen Schulstandorte verzögert wird. Behinderte Kinder werden von den wohnortnahen Schulen aufgrund mangelnder Barrierefreiheit der Schulgebäude an die Inklusionszentren verwiesen, und nur wenige Eltern beharren auf dem Recht auf Beschulung ihres Kindes an der wohnortnächsten Schule. Das heißt, dass auch sehr viele Kinder mit Sonderpädagogischem Förderbedarf, die nicht den Kriterien für die Kooperativen Kleinklassen unterliegen, die Regelschulen der Inklusionszentren besuchen, wodurch die von den Autorinnen des Maßnahmenplans genannte Zahl von 1895 (91,3 %) integrativ im Klassenverband unterrichteter Schülerinnen und Schüler mit Sonderpädagogischem Förderbedarf kritisch zu betrachten ist. Der Zulauf zu diesen »neuen Sonderschulen« könnte zudem noch verstärkt werden, wenn die Kritik der Anwaltschaft für Menschen mit Behinderung aufgegriffen würde, dass Therapieleistungen in den Inklusionszentren, die derzeit ausschließlich den Schulkindern in den kooperativen Kleinklassen angeboten
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werden, künftig auch für die behinderten Kinder der Regelschulen zugänglich gemacht würden (vgl. ebd: 87). Die für die Kärntner ›Inklusion light‹-Lösung verantwortlichen Personen »werden nicht müde, zu betonen, dass es sich hierbei lediglich um Übergangslösungen auf dem Weg zu einem inklusiven Bildungssystem handelt« (Kočnik 2013). Liest man nun das Regierungsprogramm der neuen ÖVP-FPÖKoalition, könnte man leicht annehmen, dass dies nicht der Fall sein wird, sondern das Kärntner Modell durchaus zu einem Österreich Modell avancieren und somit zu einer Dauerlösung mutieren könnte. Erhärtet wird diese Annahme durch die Erklärung im Regierungsprogramm, dass im Zuge der geplanten Stärkung des Sonderschulwesens eine »Präzisierung der Kriterien für Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf in anderen Regelschulen« erfolgen soll (OVP-FPÖ 2017: 62). Es ist zu befürchten, dass es ein Ausleseverfahren geben soll, das bestimmten Gruppen behinderter Schülerinnen und Schüler nicht mehr die freie Schulwahl ermöglicht.
EXKLUSION INKLUSIVE? Zweifellos ist Inklusion das Ziel, das die meisten Vertreterinnen und Vertreter der Disability Studies verfolgen und auch der Wunsch der meisten Menschen mit Behinderungen. Trotz allem aber gibt es auch unter behinderten Menschen Zweifel, ob umfassende Inklusion – insbesondere im schulischen Kontext – erstrebenswert ist (vgl. Dederich 2006: 33). Dabei handelt es sich in erster Linie um gehörlose Menschen. Nach Barnes und Mercer verstehen sich viele gehörlose Menschen als sprachliche und kulturelle Minderheit, die ausgeschlossen wird, weil sie die dominierende Sprache nicht fließend beherrscht (vgl. Barnes/Mercer 2001: 527). Dieses Selbstverständnis hat zu einer deutlichen Ablehnung der Identifikation mit anderen Menschen mit Behinderungen geführt. So werden eigene Schulen für gehörlose Kinder als wesentlich zur Wahrung der Gehörlosenidentität und -kultur gesehen, und wird »Integration« eher als Bedrohung wahrgenommen (vgl. Dederich 2006: 33). Ausschlaggebend für diese Haltung sind in erster Linie Ressourcenfragen, in diesem Fall, dass in speziellen Gehörlosenschulen Gebärdensprachdolmetscherinnen und Gebärdendolmetscher zur Verfügung stehen, in anderen Schulen derzeit jedoch noch nicht in ausreichendem Maße. Dennoch ist angesichts aktueller bildungspolitischer Entwicklungen aus wissenschaftlicher Perspektive vor dem Zurückfallen in eine Praxis der Zuweisung von Schülerinnen und Schülern in eine, oft einer Behinderungsart ent-
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sprechenden Sonderschule zu warnen. Schon lange ist nachgewiesen, dass einmal vorgenommene Separierung in Spezialeinrichtungen die Rückführung in integrative Unterrichtsformen verhindert (vgl. Eberwein 1997: 56). In diesem Sinne be-hindert die Sonderschule die Chancengleichheit von Menschen mit Behinderungen (vgl. Powell/Pfahl 2008). Vielmehr ist – insbesondere auch auf Basis der in diesem Beitrag skizzierten Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung – schulische Inklusion mit den erforderlichen Ressourcen für eine angemessene Unterstützung auszustatten, sodass sie für alle Schülerinnen und Schüler optimale Rahmenbedingungen für soziale Teilhabe bieten kann.
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Auf die Schulleitung kommt es an! Schweizer Perspektive auf den Zusammenhang zwischen Schulführung und Inklusion Niels Anderegg
INKLUSION IN DER SCHWEIZ In Bezug auf Inklusion und Bildung ist die politische beziehungsweise rechtliche Situation in der Schweiz eigentlich geklärt. 2014 hat die Schweiz die UNBehindertenrechtskonvention unterschrieben und sich damit verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen einzurichten (UN-Behindertenrechtskonvention, Art. 24). Diese späte Ratifizierung hat weniger damit zu tun, dass vor der Ratifizierung eine intensive politische Diskussion stattgefunden hat, als vielmehr damit, dass politische Prozesse in der Schweiz in der Regel länger dauern. Die Gleichberechtigung aller Menschen wurde bereits am Ende des vergangenen Jahrhunderts in die Schweizerische Bundesverfassung festgeschrieben. Diese hält explizit fest, dass in der Schweiz niemand wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung diskriminiert werden darf (vgl. Schweizerische Bundesverfassung, Art. 8, Abs. 2). Kinder und Jugendliche haben das in der Verfassung verbürgte Recht, sich nach ihren Fähigkeiten ausund weiterbilden zu können (ebd., Art. 41, Abs. 1f). Konkretisiert wurde dieser Verfassungsartikel in einem Behindertengleichstellungsgesetz, welches seit 2002 in der Schweiz gilt. Dieses verpflichtet unter anderen die Kantone1 alle Schülerinnen und Schüler wenn möglich integrativ in der Regelschule zu schulen.
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In der Schweiz liegt die Bildungshoheit bei den Kantonen und nicht bei der Eidgenossenschaft (analog zu Deutschland, wo die Bildung Ländersache ist).
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Unklar wird die Situation, wenn man die kantonalen Gesetzestexte und Gerichtsentscheide betrachtet. Dort finden sich häufig Wendungen wie ›in der Regel‹ oder ›wenn zumutbar‹. Und hier beginnt der Interpretationsspielraum und die Unklarheit: Wann ist es für die Schule und das Kind zumutbar integrativ in der Regelklasse gefördert zu werden? Und wann soll es doch separativ in eine Sonderschule übertreten, welche weiterhin besteht? So entschied beispielsweise im Mai 2017 das Bundesgericht2, dass ein Kind mit Trisomie 21 nach einer integrativen Schulung im Kindergarten gegen den Willen der Eltern separativ geschult werden soll. Begründet wurde der Entscheid mit dem Wohl des Kindes: Integration darf nicht dazu führen, dass entgegen dem Wohl des Kindes dieses in eine Regelklasse integriert wird, so die Urteilsbegründung. Interessant an diesem Urteil ist neben der rechtlichen Interpretation die Tatsache, dass das Bundesgericht damit der Argumentation der Schule und nicht jener der Eltern folgte. Die Schule argumentierte entgegen den Eltern, dass das Kind in einer Sonderschule besser gefördert werden kann.
EIN LAND MIT SECHSUNDZWANZIG BILDUNGSSYSTEMEN Stand das Thema Inklusion zu Beginn der Jahrtausendwende schweizweit auf der bildungspolitischen Agenda weit oben, so wird es mittlerweile eher gemieden, und Pragmatismus hat sich breit gemacht. Dies hat auch mit der Frage der politischen Verantwortung in der Schweiz zu tun. In der politischen Landschaft der Schweiz gibt es im Bereich der Bildung drei wesentliche Ebenen: die nationale, kantonale und kommunale. Grundsätzlich sind in der Schweiz, ähnlich wie in Deutschland, die Kantone für die Bildung zuständig3. Dabei liegt im Bereich der obligatorischen Schulpflicht4 das
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BGE 2C_154/2017.
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Was zur Folge hat, dass es in der Schweiz 26 verschiedene Bildungssysteme gibt. Dies bedeutet zum Beispiel, dass die nachfolgenden Ausführungen immer nur allgemein sein können, da es in jedem Kanton Unterschiede und Ausnahmen gibt.
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Die obligatorische Schulpflicht umfasst zwei Jahre Kindergarten, sechs Jahre Primarschule und drei Jahre Sekundarschule. Während der Kindergarten und die Primarschule keine äußere Differenzierung kennt, findet nach der 6. Klasse der Primarschule eine Selektion statt. Die meisten Kantone differenzieren an der Oberstufe mittels drei oder vier unterschiedlichen, leistungsdifferenzierenden Schultypen. Die Selektionsent-
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Betreiben der einzelnen Schule in der Verantwortung der Kommunen.5 Auf nationaler Ebene werden die grundsätzlichen Fragen wie beispielsweise die Ratifizierung der UN-Behindertenkonvention bestimmt. Die in den Kantonen für die Bildung verantwortlichen Regierungsmitglieder koordinieren sich in der ›Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren‹ (EDK). So wird innerhalb der EDK seit einigen Jahren auf nationaler Ebene versucht, die Schulsysteme der einzelnen Kantone zu harmonisieren6 und anzugleichen. Der Kanton ist für die Bildungsangebote in seinem Gebiet zuständig. Er gibt die Strukturen, den organisatorischen Rahmen und die gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen vor. Die einzelnen Schulen werden dann von den Kommunen direkt geführt und betrieben. Für die politische Führung der einzelnen Schulen gibt es in jeder Kommune eine politische Behörde (Schulpflege, Schulkommission). Diese ist einerseits die vorgesetzte Behörde der Schulleitung und damit für die Auswahl, Beurteilung und allenfalls auch Entlassung der Schulleitung zuständig. Andererseits ist sie für die strategische und in einzelnen Bereichen finanzielle Führung der Schule zuständig, so beispielsweise auch für die Frage der Finanzierung der zusätzlichen Ressourcen, welche Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung benötigen. Die Schulen selbst werden von einer Schulleitung operativ geführt, wobei die Schulleitungen im Vergleich zu ihren Kolleginnen und Kollegen in Deutschland und Österreich wohl eine größere Autonomie und mehr Handlungsspielraum haben.7 Vereinfachend ausgedrückt regelt die nationale Ebene generelle Fragen, während der Kanton die Struktur, Inhalte und Rahmenbedingungen vorgibt und die Kommunen diese eigenverantwortlich an ihren Schulen umsetzen.
scheidung liegt bei der kommunalen Schulbehörde (Schulpflege) wobei im Dialog zwischen Schülerinnen und Schülern, Eltern und Lehrperson ein Konsens gesucht wird. Für die höchste Stufe, das Gymnasium, muss in den meisten Kantonen eine Aufnahmeprüfung gemacht werden. 5
Auf der nachobligatorischen Ebene, der Sekundarstufe 2, werden die Schulen, wie auch die Fachhochschulen und Universitäten (ausgenommen die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH), von den Kantonen betrieben.
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So wird beispielsweise momentan in der deutschsprachigen Schweiz mit dem Lehr-
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So sind beispielsweise die Lehrpersonen in der Schweiz nicht mehr Beamte. Sie wer-
plan 21 in allen Kantonen ein (mehr oder weniger) gemeinsamer Lehrplan eingeführt. den von den Schulleitungen beurteilt und können bei mangelnder Leistung auch entlassen werden.
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Betrachtet man das Thema Inklusion auf den drei Ebenen, zeigen sich unterschiedliche Schwierigkeiten. Auf nationaler Ebene scheint die Frage der Inklusion geklärt. Mit dem Verfassungsgrundsatz, dem Behindertengleichstellungsgesetz und der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention sind alle politischen und rechtlichen Weichen in Richtung Inklusion gestellt. Politisch und gesellschaftlich wurde das Thema national jedoch wenig diskutiert. Dies hängt wohl damit zusammen, dass das Thema der Umsetzung die kantonale und kommunale und kaum die nationale Ebene betrifft.8 Anders sieht es auf der kantonalen und kommunalen Ebene aus. Die Kantone mussten für den Bereich Inklusion eigene sonderpädagogische Konzepte schreiben und die Frage der Förderung von Schülerinnen und Schülern mit »besonderem Bildungsbedarf« (SKBF 2014) bzw. »Behinderung«9 neu regeln (bspw. für den Kanton Aargau Sisti-Wyss 2012). Dabei besteht zwischen den verschiedenen Konzepten der Kantone eine beachtliche Unterschiedlichkeit (Kummer-Wyss 2012). Diese kantonalen Konzepte sind nun seit rund zehn Jahren in der Umsetzung, und es zeigen sich verschiedene Schwierigkeiten. Beispielsweise, wie sich später zeigen wird, die Frage nach den benötigten Ressourcen für Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung.
INTEGRATION ODER INKLUSION? Die Ambivalenz dem Thema Inklusion gegenüber zeigt sich auch in der Begrifflichkeit. Wie in wahrscheinlich allen deutschsprachigen Ländern wird auch in der deuschtsprachigen Schweiz sowohl von Integration als auch von Inklusion gesprochen. Wurde sowohl in der Praxis als auch in der wissenschaftlichen Dis-
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Die einzige nennenswerte Veränderung auf nationaler Ebene betraf die Finanzierung der Sonderschulung. Diese wurde im Rahmen einer allgemeinen Finanzvorlage von der nationalen Ebene auf die kantonale verschoben. Diese Verschiebung war politisch unbestritten, da bis anhin die nationale Invalidenversicherung für die Finanzierung zuständig war und es als richtig angesehen wurde, dass die Kosten neu innerhalb des kantonalen Bildungsbudgets ausgewiesen werden. Gleichzeitig wurden Kosten in einem anderen Bereich von den Kantonen zum Bund verschoben, so dass weder für die Kantone noch für den Bund zusätzliche Kosten anfielen.
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Im Folgenden wird jeweils der Begriff der »Behinderung« verwendet um zu unterstreichen, dass betroffene Schülerinnen und Schüler in ihrem Lernen durch etwas massiv behindert werden (vgl. Weisser: 2005).
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kussion der Begriff der Integration verwendet (bspw. Haeberlin/Bless/ Moser/Klanghofer 2003), kam der Begriff der Inklusion erst in jüngster Zeit stärker in den Fokus. Während Integration meint, dass etwas in etwas integriert wird und sich in Opposition zur Separation befindet, steht die Inklusion ausserhalb dieser Dichotomie und meint den gleichwertigen Umgang mit jeglicher Art von Diversität (Allemann-Ghionda 2013). Inklusion ist aus dieser Perspektive eher Vision als konkrete Realität (Hinz 2015). Nimmt man diese Begrifflichkeit von Integration und Inklusion, so findet in der deutschsprachigen Schweiz in der Praxis wohl großmehrheitlich Integration und nicht Inklusion statt. Ein Indiz dafür ist beispielsweise, dass in den vergangenen Jahren, trotz Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention, kaum Sonderschulen geschlossen wurden. Ein anderes interessantes Indiz ist die Art und Weise, wie das Konzept von Schulinseln (Volksschulamt 2015), eine mögliche organisationale Form der Umsetzung der integrativen Förderung, eingesetzt werden. Die Idee von Schulinseln ist, dass Schülerinnen und Schüler phasenweise ihre Klasse verlassen und in einem separativen Setting innerhalb der Schule spezifisch gefördert werden können. Während in den einen Schulen die Schulinsel nur dann eingesetzt wird, wenn eine Schülerin oder ein Schüler in spezifischen Situationen aus pädagogischen Gründen ein separatives Setting benötigt, besuchen an anderen Schulen die betroffenen Schülerinnen und Schüler die Schulinsel während der ganzen Schulzeit. Im zweiten Fall unterscheidet sich die Schulinsel kaum von den separativen ›Kleinklassen‹10, welche vor der Einführung der Inklusion bestanden haben. Interessant ist, dass viele Schulen mit Schulinseln in ihren Leitbildern von Inklusion oder inklusiven Werten sprechen. Die leitende Absicht ist Inklusion, die Praxis häufig Integration und teilweise sogar Separation. Insofern ist Integration meist nicht ohne Inklusion zu denken. Vielmehr ist die
10 Vor der Einführung der Inklusion wurde in vielen Kantonen der Schweiz ein dreistufiges Klassensystem angeboten: Die Regelklasse für die Schülerinnen und Schüler, welche keine besondere Förderung benötigten; die Kleinklassen waren in die Schulhäuser integriert und standen Schülerinnen und Schülern mit einem besonderen Förderbedarf zur Verfügung. Sie hatten eine kleinere Anzahl Schülerinnen und Schüler und wurden von einer ausgebildeten Heilpädagogin, einem ausgebildeten Heilpädagogen unterrichtet. In vielen Gemeinden gab es unterschiedliche Kleinklassen für unterschiedliche Förderschwerpunkte. Für Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung standen Sonderschulen und Heime zur Verfügung. Diese wurden (und werden auch heute noch) als eigene Institutionen geführt.
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Frage, wie Inklusion in der Praxis gelingen kann beziehungsweise wie sich Schulen dieser Vision annähern können. Generell wird heute in den deutschsprachigen Schulen hauptsächlich von Integration und nicht von Inklusion gesprochen. Und auch die politischen Absichten zielen eher auf Integration als Inklusion. So spricht der Kanton Zürich konsequent von Integration und integrativer Schulung. Dies zeigt sich auch im Förderkonzept, welches von drei Kategorien von Schülerinnen und Schülern ausgeht.
INTEGRATION GESCHEITERT? Der Kanton Zürich führt wie die meisten Kantone in der deutschsprachigen Schweiz ein dreistufiges Förderkonzept durch. Mittels diesem Förderkonzept sollen alle Schülerinnen und Schüler nach ihren Bedürfnissen gefördert werden können. Die erste Förderstufe umfasst alle Schülerinnen und Schüler, welche keinen besonderen Förderbedarf ausweisen und im regulären, binnendifferenzierten Unterricht ohne zusätzliche Unterstützung gefördert werden. Der Kanton Zürich geht davon aus, dass ca. 80 % aller Schülerinnen und Schüler zu dieser Stufe gezählt werden können. In der zweiten Förderstufe brauchen die Schülerinnen und Schüler trotz eines binnendifferenzierten Unterrichts zusätzliche, heilpädagogische Unterstützung. Auch diese Schülerinnen und Schüler – der Kanton Zürich spricht von ca. 17 Prozent – besuchen den Regelunterricht, werden aber zusätzlich von einer Heilpädagogin, einem Heilpädagogen unterstützt. Diese Unterstützung findet häufig mittels Teamteaching zwischen einer Regellehrperson und einer schulischen Heilpädagogin, einem schulischen Heilpädagogen statt. Manche Schulen haben für diese Förderangebote auch schulinterne separative Angebote wie beispielsweise Schulinseln eingerichtet. Für die Förderung der Schülerinnen und Schüler erhalten die Schulen zusätzliche Ressourcen, welche jedoch pauschal nach der Gesamtzahl der Schülerinnen und Schüler berechnet werden. Wie diese heilpädagogischen Ressourcen eingesetzt werden, liegt in der Verantwortung der Schulleitung.
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Die dritte Förderstufe umfasst alle Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung11. Diese Schülerinnen und Schüler – der Kanton geht von ca. 3 % aus – besuchen entweder eine Sonderschule oder werden integrativ in der Regelschule unterrichtet. Bei einer integrativen Schulung erhält die Schule zusätzliche Ressourcen.12 Die Höhe der zusätzlichen Ressourcen bemisst sich am Förderbedarf der Schülerin, des Schülers und wird von der örtlichen Schulpflege bestimmt. Dieses dreistufige Förderkonzept ist unter anderem ein Ressourcensteuerungsinstrument. Die Vorstellung dahinter ist, dass Schülerinnen und Schüler mit erhöhtem Förderbedarf zusätzliche Ressourcen benötigen. Während für die Schülerinnen und Schüler der Förderstufen eins und zwei die Ressourcen pauschal verrechnet werden, erhalten die Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung (Stufe drei) Ressourcen nach individuellem Bedarf. Dies führt unweigerlich, wie gleich dargestellt wird, zu einem Ressourcen-Etikettierungseffekt. Je mehr Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung eine Schule besuchen, desto mehr Ressourcen stehen dieser Schule zur Verfügung. Der Ressourcen-Etikettierungseffekt hat dazu geführt, dass die Anzahl von Schülerinnen und Schülern mit einer Behinderung in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen ist, wie die folgende Grafik zeigt.
11 Die Frage, ob ein Kind behindert ist, wird mittels einem standardisierten Abklärungsverfahren (Hollenweger & Lienbard, 2011) durch den Schulpsychologischen Dienst festgestellt. Das Führen eines Schulpsychologischen Dienstes liegt im Kanton Zürich in der Verantwortung der einzelnen Schulen (Schulgemeinden). Häufig betreiben mehrere Schulen gemeinsam einen Schulpsychologischen Dienst in Form eines Zweckverbandes. 12 Damit können die Schulleitungen zusätzliche schulische Heilpädagoginnen, Heilpädagogen, Therapeutinnen und Therapeuten und/oder Schulassistenzen anstellen.
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Abbildung 1: Entwicklung der Sonderschulquoten (vertikale Spalte) im Kanton Zürich von 2001 bis 2015 (horizontale Spalte) Quelle: Volksschulamt Kanton Zürich
Die Sonderschulquote (vertikale Spalte) gibt an, wie hoch der Prozentsatz von Schülerinnen und Schülern mit einer Behinderung im Kanton Zürich liegt. Die Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung hat sich von 2001 bis 2015 verdoppelt. Ist die Anzahl der Schülerinnen und Schüler, welche separativ an einer Sonderschulung geschult werden, relativ stabil, hat die Anzahl der Schülerinnen und Schüler, welche integrativ geschult werden, massiv zugenommen. Die Zahlen zeigen deutlich, dass mit der Einführung des integrativen Schulsystem die Separation nicht abgenommen, sondern die Integration zusätzlich zur Separation dazugekommen ist. Oder mit anderen Worten: Die Integration hat dazu geführt, dass es im Kanton Zürich nun doppelt so viele Schülerinnen und Schüler mit einer ausgewiesenen Behinderung gibt. Die Resultate sind noch deutlicher, wenn man die Zahlen einzelner Schulen miteinander vergleicht. So gibt es im Kanton Zürich Schulen, welche eine Sonderschulquote von 10 % und mehr aufweisen. An diesen Schulen hat jede 10. Schülerin, jeder 10. Schüler eine Behinderung. Dies ist eine Entwicklung, welche aus finanzieller, aber auch aus pädagogischer und gesellschaftlicher Perspektive alarmierend ist. Betrachtet man diese Zahlen, so kann die bisherige
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Entwicklung der Integration auf der Ebene der Sonderschulung13 im Kanton Zürich als gescheitert angesehen werden. Dabei müssen zwei Punkte kritisch betrachtet werden. Einerseits stellt sich die Frage, ob die Integration tatsächlich der richtige Weg ist oder ob sich der Kanton nicht doch für Inklusion und damit für eine Entkategorisierung der Schülerinnen und Schüler entscheiden muss. Und andererseits muss die Frage der Steuerung und damit der Führung in den Blick genommen werden.
KATEGORISIERUNG VON SCHÜLERINNEN UND SCHÜLERN UND DER SCHULLEITUNG Das dreistufige Förderkonzept und die damit verbundene Frage der Ressourcensteuerung kann auch als Kategorisierung von Schülerinnen und Schülern verstanden werden. Diese Kategorisierung steht in der Logik der Integration, welche in der Dichotomie von Integration und Separation steht. Integration benötigt eine Entscheidung darüber, welche Schülerinnen und Schüler innerhalb der Regelklasse sind und welche außerhalb. Diejenigen, welche sich außerhalb befinden, können entweder in die Regelklasse integriert werden oder werden separativ geschult. Selbst bei einem integrativen System ohne Separation gibt es Schülerinnen und Schüler, welche dazu gehören, und solche, welche integriert werden. Link (2013) spricht von einem Normalfeld, zu dem man dazugehört oder eben nicht dazugehört und allenfalls hinein integriert wird. Die Frage der Kategorisierung zeigt sich auch auf der Ebene der Schulleitung. In den vergangenen Jahren fand im Kanton Zürich eine Spezialisierung der Schulleitungen statt. Viele Schulen haben begonnen, Themen der besonderen Förderung von Schülerinnen und Schülern auszulagern und eine ›Schulleitung Sonderpädagogik‹ einzurichten. Diese ist einerseits für die Personalführung der Schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen als auch des Therapie-
13 Etwas anders sieht es auf der Ebene der Schülerinnen und Schüler der zweiten Förderstufe aus. Diese Schülerinnen und Schüler wurden früher in separativen Klassen (Kleinklassen) gefördert. Diese wurden mit der Integration flächendeckend abgeschafft und die Schülerinnen und Schüler werden integrativ geschult. Wie das Beispiel der Schulinseln jedoch zeigt, gibt es durchaus Schulen, welche für sich Wege gefunden haben, wie diese Schülerinnen und Schüler weiterhin separativ geschult werden können. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass diese Schulen eher die Ausnahme sind.
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personal und andererseits auch für die Fallführung bei Schülerinnen und Schülern mit besonderen Förderbedarf zuständig. Diese Entwicklung hat damit zu tun, dass die Komplexität bei der Frage der Zuweisung und der Förderung von Kindern, welche integrativ geschult werden, massiv gestiegen ist. Eine solche Aufteilung der Schulleitungsaufgaben läuft jedoch Gefahr, auf der Ebene der Schulleitung die Kategorien einzelner Schülerinnen und Schüler zu festigen. Dadurch liegt der Fokus stärker bei der Förderung einzelner Schülerinnen und Schülern, welche in den Regelunterricht integriert werden, und weniger bei der Weiterentwicklung eines Unterrichts, in dem alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam lernen können. Hier zeigt sich ein unauflösbares Spannungsfeld. Inklusion geht sowohl davon aus, dass der Unterricht auf der Seite des Kollektivs so gestaltet wird, dass alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam gut lernen können, und benötigt gleichzeitig auf der individuellen Ebene gute Settings für die einzelnen Schülerinnen und Schüler, so dass alle ihren Lernbedürfnissen entsprechend gefördert werden. Es ist ein Spannungsfeld, welches jeweils nur situativ gestaltet werden kann und muss. Verfolgt eine Schule die Werte der Inklusion, so muss sie dieses Spannungsfeld in den Blick nehmen und bewusst gestalten. Sie steht gewissermaßen im Dilemma zwischen individueller Förderung und dem gemeinsamen Lernen. Ein Spannungsfeld, das gerade die Schulleitung beschäftigt und beschäftigen muss. Wenn Inklusion davon ausgeht, dass jeder Mensch »anders anders« (Mecheril 1999) ist und Schulen sich so organisieren, dass alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam lernen können, dann kann sowohl das dreistufige Förderkonzept als auch die Aufteilung der Schulleitungsaufgaben der Idee von Inklusion widersprechen. Beide gehen von Kategorien aus, welche Inklusion negieren. Insofern wird aus Sicht der Inklusionsbefürwortung häufig kritisiert, dass diese Dreiteilung der Schülerinnen und Schüler gerade weg von der Inklusion führt und und die Separation in neuen Formen fördert. Boger (2015) zeigt jedoch mit dem »Trilemma der Inklusion«, dass sich das Problem der Kategorien nie auflösen kann. Immer zwei der drei Strategien ›Empowerment‹, ›Dekonstruktion‹ und ›Normalismus‹ schließen eine davon aus, so Boger. So kann man beispielsweise behinderte Schülerinnen und Schüler stärken (Empowerment) und ihre Anwesenheit in der Regelklasse als normal ansehen (Normalismus). Dann ist jedoch die Dekonstruktion von Behinderung nicht möglich. Das gleiche gilt auch für die beiden anderen Kombinationsmöglichkeiten. Stärkt man die einzelnen Schülerinnen und Schüler und dekonstruiert die verschiedenen Kategorien, dann kann es keine Behinderung und dadurch auch keinen besonderen Förderbedarf geben. Umgekehrt gilt, wenn Behinderung als normal angesehen und gleichzeitig dekonstruiert wird, kann es keine Stärkung
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von Kindern mit besonderen Förderbedarf mehr geben, da es diese nicht mehr gibt. Das Trilemma der Inklusion zeigt, dass sich in der Umsetzung von Inklusion immer Dilemmata und Trilemmata ergeben und situativ vor Ort gelöst werden müssen. Je nachdem welche Perspektive eingenommen wird, ergeben sich für die Praxis unterschiedliche Logiken und Handlungen. Hier sind Schulleitungen gefordert, zusammen mit den Lehrpersonen immer wieder Lösungen zu finden und die Spannungsfelder und Trilemmata zu gestalten. Wir werden darauf zurückkommen, wenden uns jedoch zuerst der Frage der Steuerung zu.
STEUERUNG DURCH VERSCHIEDENE AKTEURE UND AKTEURINNEN Der hohe Anstieg der Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung hat mit der Frage des Zuweisungsentscheides und der Führung an einer Schule zu tun. Zur Feststellung der Behinderung und der Festlegung der zusätzlichen Ressourcen sind verschiedene Akteure miteinbezogen. Die Lehrpersonen sind zusammen mit den Eltern meist die ersten Personen, welchen die besondere Förderbedürftigkeit einer Schülerin, eines Schülers auffällt. Dabei orientiert sich die Einschätzung der besonderen Förderbedürftigkeit eines Kindes vorwiegend an der Frage, inwieweit die Schülerin, der Schüler mit den bestehenden Ressourcen innerhalb des Klassenverbandes gefördert werden kann. Sind die Lehrpersonen der Meinung, dass sie bei den bestehenden Möglichkeiten und Ressourcen einem Kind nicht mehr gerecht werden, informieren sie die Schulleitung. Die Schulleitung analysiert zusammen mit den Eltern und den Lehrpersonen14 die Situation. Im Kanton Zürich gibt es dafür das Instrument des Schulischen Standortgesprächs. Ist die Schulleitung der Meinung, dass hier tatsächlich ein besonderer Förderbedarf bestehen könnte und die Lehrpersonen zusätzliche Ressourcen benötigen, meldet die Schulleitung die betreffende Schülerin, den betreffenden Schüler beim Schulpyschologischen Dienst an. Dieser führt ein standardisiertes Abklärungsverfahren durch und stellt in Kooperation mit den Eltern und den Lehrpersonen einen Bericht zusammen. Dieser beantwortet einerseits die Frage, ob die Schülerin, der Schüler einen besonderen Förderbedarf aufweist und, wenn dies der Fall ist, welche zusätzlichen Maßnahmen empfohlen werden. Mittels dieses Berichts beantragt die
14 Häufig auch mit der betreffenden Schülerin, dem betreffenden Schüler.
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Schulleitung bei der Schulpflege das Festlegen des besonderen Förderbedarfes und die zusätzlichen Ressourcen. Die Schulpflege entscheidet darüber, ob ein erhöhter Förderbedarf besteht und welche zusätzlichen Ressourcen bewilligt werden. Nach diesem Entscheid hat die Schulleitung die Ressourcen zu organisieren, so dass die Lehrpersonen die betreffende Schülerin, den betreffenden Schüler den Bedürfnissen entsprechend fördern können. Es kann die Hypothese gewagt werden, dass Schulen mit einer hohen Sonderschulquote den Weg des geringsten Widerstandes gehen. Wenn Lehrpersonen einen Förderbedarf bei einer Schülerin, einem Schüler feststellen, ist es einfacher zusätzliche Ressourcen zu beantragen, als den Unterricht zu verändern. Wenn Lehrpersonen zusätzliche Ressourcen wollen, ist es für die Schulleitung einfacher, eine Abklärung beim Schulpsychologischen Dienst zu bewilligen statt genauer zu analysieren, wie die Schülerin, der Schüler allenfalls mit den bestehenden Ressourcen besser gefördert werden kann. Wenn eine Schule der Meinung ist, dass für eine Schülerin, einen Schüler zusätzliche Ressourcen benötigt werden, ist es für den Schulpsychologischen Dienst einfacher, diese in der Abklärung zu berücksichtigen statt der Schule zurück zu melden, dass diese Schülerin, dieser Schüler durchaus im bestehenden Setting gut gefördert werden kann. Und wenn am Ende des Prozesses die Schulpflege einen Antrag auf dem Tisch hat, ist es einfacher diesen zu bewilligen als genauer hinzuschauen und zu fragen, ob diese zusätzlichen Ressourcen tatsächlich benötigt werden. Und wenn sie dies tut, dann hat sie als Laienbehörde einen schweren Stand. Dies hat finanzielle Folgen, kostet die Integration einer Schülerin, eines Schülers zusätzlich um die 30.000-40.000 Franken pro Schuljahr und Schülerin und Schüler. Sie hat aber auch gesellschaftliche und pädagogische Konsequenzen. Das »Normalfeld«, um den Begriff von Link (2013) zu verwenden, wird durch die Integration enger und nicht breiter. Immer mehr Schülerinnen und Schüler gelten als behindert und brauchen spezifische Unterstützung, um zusammen mit den anderen Schülerinnen und Schülern gefördert zu werden. Für die Schulentwicklung kann dies bedeuten, dass durch die Integration, wie sie im Kanton Zürich momentan umgesetzt wird, die Entwicklung hin zur Inklusion verhindert wird. Statt den Unterricht dahin zu verändern, dass möglichst alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam lernen können, werden die Schwierigkeiten im Unterricht mit zusätzlichen Ressourcen gelöst. Dabei wären genau diese Schwierigkeiten, welche sich im Unterricht zeigen, wesentliche Anhaltspunkte um Schul- und Unterrichtsentwicklung voranzutreiben. Betrachtet man die Situation der Inklusion an den Zürcher Schulen aus diesen Prämissen, so könnte man durchaus ein kritisches Bild zeichnen. Dieses Bild bestätigt sich teilweise, wenn man die Resultate der Externen Schuleva-
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luation15 betrachtet. Von den 91 im Schuljahr 2016/17 beurteilten Schulen, wurden bei gut der Hälfte der Schulen die Schulqualität im Bereich Sonderpädagogische Angebote mit gut, bei knapp 40 Prozent mit genügend und bei knapp 7 % mit ungenügend beurteilt (FSB 2018: 11). Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich auch in anderen Bereichen. So gibt es im Kanton Zürich einige Schulen, welche gerade auch im Bereich Inklusion sehr weit fortgeschritten sind und beispielsweise keine Schülerinnen und Schüler mehr separieren. Und andere Schulen haben sich kaum in Richtung Inklusion bewegt. Eine Hypothese, um diese Unterschiedlichkeit zu erklären, ist, dass die Schulleitungen den Unterschied ausmachen. Je nachdem wie eine Schulleitung eine Schule führt, wie es ihr gelingt die Lehrpersonen in den Entwicklungsprozess einzubeziehen und ein gemeinsames Verständnis von Inklusion herzustellen, desto stärker entwickelt sich eine Schule in Richtung Inklusion. Oder eben nicht. Dies die Hypothese, welche im folgenden diskutiert werden soll.
STARKE SCHULLEITUNG ALS ANTWORT? Dass der Schulleitung eine Schlüsselfunktion in der Schulentwicklung zukommt, ist mehrfach wissenschaftlich belegt (bspw. Bonsen 2010). Andy Hargreaves und Dennis Shirley verwenden dafür die Metapher der glühenden Zigarre: »Leadership is the afterthought of educational change. It’s the cigarette that smokes after the reform has been consummated – or at last, that’s how it often seems« (Hargreaves/Shirley 2009: 95). Für sie ist eine der wesentlichen Elemente von Schulführung die Frage der Nachhaltigkeit im Sinne von ›Sustainable Leadership‹. Die Schulleitung sorgt dafür, dass Entwicklungen nach dem Anstoßen weitergehen und nachhaltig umgesetzt werden. Einen anderen Schwerpunkt legen Louise Stoll und Dean Fink. Sie sprechen im Zusammenhang von Schulentwicklung und Schulführung von der einladenden Schulleitung, der es gelingt die Lehrpersonen für gemeinsame Ziele und Entwicklungen zu gewinnen (Stoll/Fink 2003). Letztlich geht es um die Frage der Sinnhaftigkeit, wie Weick (1995) in seinen Arbeiten herausgearbeitet hat. Das Ziel ist das Herstellen einer gemeinsamen Vorstellung, eines »collecitve minds« (Weick/Roberts, 1993), welche zu Handlungen und Entwicklungen führt.
15 Im Kanton Zürich werden alle Schulen in einem Turnus von vier Jahren nach vorgegebenen Schwerpunkten durch die Fachstelle Schulbeurteilung evaluiert.
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Der Weg dorthin führt nach Stoll und Fink über Vertrauen, Optimismus und Respekt (Stoll/Fink 2003: 115). Es gibt unterschiedlicheste Führungsmodelle und Hinweise, welche Gelingensbedingungen der Führung die Entwicklung von Schulen positiv beeinflussen. In Bezug auf Inklusion ist ein Befund aus einer großangelegten Studie aus England interessant. Chris Day (2010) hat zusammen mit Kolleginnen und Kollegen an erfolgreichen Schulen das Handeln der Schulleitung untersucht. Aus der Untersuchung haben sich zehn Merkmale von erfolgreicher Schulführung herauskristallisiert. Das dritte Merkmal besagt: »Headteachersʼ values are key components of their success.« (Day et al. 2010: 7) David Scheer (2017), der die Rolle der Schulleitung in der inklusiven Schulentwicklung an den Schulen in rheinland-pfälzischen Schwerpunktschulen untersucht, kommt zu einem ähnlichen Schluss: »… die Entwicklung schulischer Inklusion an der Einzelschule vor Ort [wird] wesentlich davon mitbestimmt, wie die Schulleitung diesbezüglich rechtliche Rahmenbedingungen interpretiert und auch durch das, was sie selbst unter den damit verbundenen Begriffen (wie z.B. Inklusion) versteht« (Scheer, 2017: 217). Verschiedene Studien verweisen darauf, dass bei der Entwicklung von Inklusiven Schulen bei der Frage der Haltung und Einstellung die Schulleitung eine zentral Rolle einnimmt (Ainscow, Dyson/Weiner 2013; Kullmann, Lütje-Klose, Textor, Berard/Schitow 2014; Waldron, McLeskey/ Reed 2011). Tanja Sturm und Kollegen (2015) sprechen dann auch davon, dass der Schulleitung eine »Schlüsselgrösse« (Sturm et al., 2015: 203) zukommt. Betrachtet man die Situation im Kanton Zürich, so ergeben sich für die Schulleitenden zwei Herausforderungen in Bezug auf die Umsetzung von Inklusion. Einerseits geht es um die strategische und andererseits um die pädagogische Schulführung. Die Strategische Führung befasst sich unter anderem mit der Frage der Umsetzung von politischen Vorgaben, wie beispielsweise die Frage der Umsetzung von Inklusion. Politische Vorgaben werden an den Schulen nicht linear umgesetzt. Sie bedürfen einer, wie Fend (2008) schreibt, Rekontextualisierung. Politische Vorgaben der Makroebene (Altrichter/Maag Merki 2016) müssen für die Handlungen an der eigenen Schule (Mesoebene) und im Unterricht (Mikroebene) übersetzt und umgesetzt werden. Stephan Ball, Meg Maguire und Annette Braun (2012) sprechen auch von einem dritten Raum, in welchen die politischen Vorgaben vorher interpretiert und dann in Handlungen transformiert werden müssen. Die Interpretation der politischen Vorgaben ist für sie ein »initial reading, making sense of policy … – a ›decoding‹ which is both retrospective and prospective.« (Ball et al. 2012: 43). Es geht einerseits um das Herstellen von Sinnhaftigkeit und andererseits um die Verknüpfung der
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bisherigen Erfahrungen und Entwicklungen sowie der Zielvorstellung, des Zukünftigen. Scheer (2017), auf dessen Untersuchung bereits oben verwiesen wurde, konnte aus den Interviews mit den Schulleitungen Rekontextualisierungen in drei Bereichen identifizieren. Erstens stellt sich die Frage, nach dem Begriffsverständnis von Inklusion. Zweitens geht es um die Bewertung der Möglichkeiten und Grenzen schulischer Inklusion. Und als dritten Punkt nennt Scheer die Gestaltung von Organisations-, Unterrichts- und Teamentwicklung. Je nachdem, welches Verständnis eine Schulleitung von Inklusion hat und wo sie die Möglichkeiten und Grenzen der Inklusion sieht, entwickeln sich Schulen unterschiedlich. Je klarere Vorstellungen eine Schulleitung hat, desto gezielter können die oben genannten Spannungsfelder und Trilemmata gestaltet werden. Die Rekontextualisierung (Fend 2008) gibt den Schulen im Allgemeinen und der Schulleitung im Besonderen die Freiheit und gleichzeitig die Pflicht der Gestaltung. Dies bedeutet für die strategische Führung, dass die Schulleitungen sowohl mit den vorgesetzten Behörden und Stellen als auch mit den Lehrpersonen und den anderen Mitarbeitenden klären müssen, welche Vorstellung sie und die Schule von Inklusion haben, welche Ziele sie verfolgen wollen und welche persönliche und organisationale Sinnhaftigkeit hinter dieser Vorstellung und hinter diesen Zielen verbirgt. Es geht letztlich um ein Bild von Inklusion, hinter dem die Schulleitung mit Überzeugung steht, das im Verlauf der Entwicklung von möglichst vielen Personen geteilt wird und das sich im Rahmen der rechtlichen Vorgaben16 bewegt. Es geht letztlich, wie Michael Schratz (2009) sagt, um die »Arbeit am und im System.« Dazu benötigen Schulleitungen einerseits spezifisches Wissen über Inklusion und andererseits Kreativität für das Suchen und Finden von Lösungen innerhalb des Systems. Und damit gestalten sie die pädagogische Führung an ihrer Schule.
NETZWERKTHEORETISCHE SICHT AUF FÜHRUNG Die Vorstellung von Inklusion der Schulleitung ist noch keine Vorstellung, welche von den verschiedenen Personen im System getragen wird, und von daher für die Entwicklung einer Schule noch wenig hilfreich. So wie die Rektonextualisierung von poltischen Vorgaben innerhalb der Schule passieren,
16 Schulleitungen sprechen in diesem Zusammenhang teilweise auch von ›GraubereichManagement‹. Sie meinen damit das Ausloten der rechtlichen Möglichkeiten um die eigene Vorstellung von Schule innerhalb des rechtlichen Rahmens zu realisieren.
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so geschehen diese auch bei den einzelnen Personen. Auch auf dieser Ebene findet eine Übersetzung und Umsetzung statt. Oder, um es plakativ auszudrücken, hinter den Klassenzimmertüren macht jede Lehrperson sowieso das, was sie will. Dies kann man negativ als Beliebigkeit oder positiv als Professionalität der Lehrpersonen ansehen. Unterrichten ist kein linearer Herstellungsprozess, sondern eine Ermöglichungshandlung, welche immer wieder situativ und individuell angepasst werden muss. Insofern ist es wesentlich, dass die Lehrpersonen von dem, was sie machen, auch überzeugt sind und die Sinnhaftigkeit dahinter verstehen. Inklusion bedeutet nicht, dass politische Vorgaben umgesetzt werden müssen, sondern dass alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam möglichst gut lernen und sich bilden können. Dies bedingt auch, dass nicht einfach die Werte und Vorstellungen der Schulleitung innerhalb eines Systems angenommen werden, sondern dass eine Auseinandersetzung über diese stattfindet. Aus diesem Grund gehört es zur Professionalität einer Lehrperson, die Sinnhaftigkeit hinter ihrem Tun immer wieder zu hinterfragen und ihr Handeln im Schulzimmer dementsprechend auszurichten. Es reicht nicht, wenn die Schulleitung eine Vorstellung von Inklusion für sich alleine hat. Diese Vorstellung muss über diskursive Prozesse ins System hineingetragen werden, so dass eine gemeinsame Vorstellung von Inklusion entstehen kann. Diese Vorstellung muss zu einer gemeinsamen pädagogischen Haltung (Solzbacher 2014) werden, welche für die einzelnen Personen handlungsleitend wird. Zum Verstehen, wie solche handlungsleitenden Haltungen entstehen können, kann die Netzwerktheorie von Harrison C. White (1992, 2008) hilfreich sein. Schulen können als Netzwerke von Akteurinnen und Akteuren verstanden werden, innerhalb dieser eine gemeinsame Haltung und Vorstellung von Inklusion entsteht. Organisationen im Sinne von Netzwerken unterscheiden sich von hierarchischen Organisationen dadurch, dass es kein ›oben‹ und ›unten‹ gibt, wo Aufträge vergeben bzw. erfüllt werden. Soziale Netzwerke sind fluide Gebilde, in welchen verschiedene Akteurinnen und Akteure sich aufeinander beziehen. Es finden gegenseitige Beeinflussungen zwischen den verschiedenen Akteurinnen und Akteuren statt. White (1992, 2008) geht in seiner Netzwerktheorie davon aus, dass die Welt aus sozialer Unsicherheit besteht und die einzelnen Akteurinnen und Akteure über Control17 eine kurzfristige, gemein-
17 White verwendet eine sehr eigene Begrifflichkeit, welche sich sowohl von der Alltags- als auch Wissenschaftssprache unterscheidet. Die Begriffe sind kaum ins Deutsche zu übersetzen, weshalb im Folgenden jeweils die Originalbegriffe in kursiver Schreibweise abgedruckt (vielleicht besser dargestellt) werden.
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same Identity herstellen, um soziale Sicherheit zu erlangen. Dieses Zusammenspiel von Control und Identity kann, vereinfacht dargestellt, beobachtet werden, wenn beispielsweise zwei Lehrpersonen über eine Schülerin, einen Schüler sprechen. Vorsichtig, da man die Sichtweise des Gegenübers noch nicht kennt, werden die eigenen Einschätzungen und Beobachtungen ausgetauscht. Die Hinwendung zu einer gemeinsamen Vorstellung kann als Identity angesehen werden. Control und Identity bedingen sich gegenseitig und führen immer wieder zu kurzfristigen Stabilitäten, welche bei einer nächsten Unsicherheit wieder in Frage gestellt werden. Interessant an der Netzwerktheorie von White ist, dass er nicht nur Personen, sondern auch Dinge als Akteurinnen und Akteure betrachtet. So findet das Wechselspiel zwischen Control und Identity nicht nur zwischen Personen, sondern auch zwischen Personen, Gegenständen, Situationen und vielem mehr statt. So wird, um das obenstehende Beispiel nochmals aufzugreifen, nicht nur zwischen den beiden Lehrpersonen, sondern auch zwischen ihnen und beispielsweise dem Verhalten einer Schülerin, einem Schüler über Control eine gemeinsame Identity hergestellt. Bespricht nun eine der beiden Lehrpersonen mit der Schülerin, dem Schüler ihr Verhalten, so entsteht über Control zwischen diesen drei Akteurinnen und Akteuren (Lehrperson, Schülerin, Verhalten) eine neue Identity. Entstehen in einem größeren Netzwerk stabilere Identities, so spricht White von Disciplines. Disciplines sind für White stabilere Sozialbeziehungen, welche sich aus Control und Identity herauskristallisieren und eine höhere Stabilität gegenüber Identity aufweisen und von einer großen Anzahl von Akteurinnen und Akteuren getragen wird. Ein viertes Element der Netzwerktheorie von White18 sind die Stories. Stories tragen die Sinnhaftigkeit ins Netzwerk hinein. So ist beispielsweise entscheidend, wie über einzelne Schülerinnen oder Schüler gesprochen wird, welche Stories man sich erzählt. Betrachtet man die Frage von Inklusion und Schulführung aus der Perspektive der Netzwerktheorie von White, so ergeben sich einige Hinweise, wie es einer Schulleitung gelingen kann, Inklusion an einer Schule »einladend« (Stoll/Fink 2003) und »nachhaltig« (Hargreaves/Shirley 2009) zu betreiben. Über Control stellt die Schulleitung immer wieder mit unterschiedlichsten Akteurinnen und Akteuren eine gemeinsame Identity her. Sie nehmen innerhalb des Netzwerkes Einfluss, so dass die Werte und Haltung der Inklusion als
18 Die Netzwerktheorie von White ist wesentlich komplexer und besitzt noch etliche weitere Elemente. Im Rahmen dieses Aufsatzes reicht es jedoch, diese vier Elemente hervorzuheben.
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gemeinsame Disciplines an der Schule entstehen. So entsteht eine »geteilte kulturelle Überzeugung« (Hinz/Kruschel 2014), die die nachhaltige Entwicklung einer Inklusiven Schule ermöglicht. Führung in diesem Verständnis ist ein relationaler Akt (Uhl-Bien/Maslyn/Ospina 2012), der auch Phänomene wie »laterales Führen« (Thomann/Zellweger 2016) einbezieht. Führung definiert sich immer noch als »zielbezogene Einflussnahme« (von Rosenstiel 2009), eine Einflussnahme, welche jedoch auf Gegenseitigkeit beruht und die verschiedenen Akteurinnen und Akteure miteinschliesst. Eine solche Konzeptionierung von Führung ist zwar systemisch, muss jedoch nicht, wie neuere systemische Führungsmodelle wie »Holocracy« (Robertson 2016) oder »Reinventing Organisations« (Laloux 2015) suggerieren, hierarchiefrei sein. Sehr viel mehr geht es um Fragen von ›geteilter Führung‹ (Distributed Leadership) (Spillane 2006), bei der unterschiedliche Akteurinnen und Akteure Einfluss nehmen und strukturell und/oder kulturell eine Führungsaufgabe inne haben. Modelle, in welchen Teacher Leadership (York-Barr/Duke 2004) eine wesentliche Rolle spielt, werden die pädagogische Schulführung (Anderegg 2016) im Allgemeinen und die Inklusion im Speziellen in den nächsten Jahren hoffentlich fördern und weiterentwickeln. Insofern muss die Entwicklung von Inklusiven Schulen auch als eine Weiterentwicklung von Schulführungsmodellen gesehen werden. Diese Chance hat im Besonderen die Schweiz, da die Schulleitungen an den obligatorischen Schulen auf eine noch kurze Tradition blicken.
DIE ZARTE PFLANZE INKLUSION Will die Schweiz ein inklusives Bildungssystem, zu dem sie sich mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention eigentlich verpflichtet hat, braucht es auf der politischen Ebene ein deutlicheres Bekenntnis. Wie die Frage der Sonderschulquote im Kanton Zürich zeigt, kann der Weg über die Integration hin zur Inklusion kaum gelingen. Würde Integration die Zwischenstation auf dem Weg zur Inklusion sein, müsste sich das Feld, das als normal angesehen wird, vergrößern. Momentan ist im Kanton Zürich das Gegenteil passiert. Statt dass Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung von der Sonderschule in die Regelschule integriert werden, ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den Sonderschulen relativ stabil oder, je nach Betrachtungsweise, leicht rückläufig. Die massive Zunahme von Schülerinnen und Schülern der Förderstufe 3, welche in die Regelklasse integriert werden, sind Schülerinnen und Schüler, denen neu ein besonderer Förderbedarf, eine Behinderung, zugesprochen wurde. Oder anders ausgedrückt: Seit es die Integration gibt, hat die Anzahl
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der Schülerinnen und Schüler ohne besonderen Förderbedarf abgenommen. Diese Resultate sind ernüchternd. Erfreulich ist, dass die Entwicklung der einzelnen Schulen jedoch sehr unterschiedlich verläuft. Einzelnen Schulen gelingt es sehr gut Inklusion zu leben und ihre Schule in Richtung Inklusion weiterzutreiben. Andere Schulen verharren in der Separation. Ein wesentlicher Gelingensfaktor sind die Schulleitungen. Hier besteht Hoffnung, dies umso mehr, als die Einführung der Schulleitungen in der Schweiz mit der Hoffnung auf Verbesserung von Schulqualität einher ging. Mit diesem ›Leadership Turn of School Reform‹ (Riveros/Verret/Wie 2016) und der Erhöhung der Autonomie für die Einzelschule (Salokangas/Ainscow 2018), wie weltweit beobachtet werden konnte, besteht die Hoffnung, dass durch die Stärkung der Führung an der Einzelschule Inklusion gelingen kann. Auf die Schulleitung kommt es an!19
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19 Wobei selbstverständlich nicht nur.
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(Para-)Professionalität im Umgang mit Ungewissheitsstrukturen Eine kulturvergleichende Rekonstruktion von Interviews mit Assistenzkräften im inklusionsorientierten Unterricht Bettina Fritzsche & Andreas Köpfer
EINLEITUNG Spätestens seit der UN-Behindertenrechtskonvention ist Inklusive Bildung bzw. inclusive education zu einem internationalen Leitthema im Bereich Bildung avanciert, das Teilhabemöglichkeiten und Ausgrenzungsgefahren fokussiert und Fragen von Ein- und Ausschluss virulent macht (vgl. Powell 2018). Im Kontext von Bildungsorganisationen wird u.a. die Institutionalisierung von inklusionsorientierten Unterstützungsmaßnahmen und -rollen diskutiert, die international variiert und bislang selten Gegenstand international vergleichender Forschung ist (ebd.). Gesamthaft ist eine internationale Tendenz in Richtung subsidiärer Unterstützungsleistungen erkennbar, die als Folge einer Flexibilisierung sonderpädagogischer Dienstleistungen zur Transformation professioneller Rolle und zur Herausbildung von Unterstützungsrollen in Bildungsorganisationen führt (vgl. Weisser 2017). Vor diesem Hintergrund rücken zunehmend (para-)professionelle Assistenzrollen1 in den Blick der Fachdiskussion und werden dort kontrovers diskutiert.
1
Oftmals werden pädagogische Assistenzrollen als paraprofessionell bezeichnet. Da wir es für eine offene und letztlich nur empirisch zu klärende Frage halten, inwiefern Assistenzrollen als professionell oder paraprofessionell zu bezeichnen sind, sprechen wir in diesem Beitrag von (para-)professionellen Assistenzrollen.
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Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf unterschiedliche ambivalente Charakteristika dieser Rollenkonstruktion. Zum einen zeigt sich – auf Deutschland bezogen sowie auch international – ein deutlicher Anstieg des (para-)professionellen Unterstützungspersonals in inklusiven Schulen (vgl. Kißgen et al. 2013; Dworschak 2016; Sharma/Salend 2016) – mit unterschiedlichen Bezeichnungen wie z.B. Teacher Assistants, Teaching Assistants oder in Deutschland Schulassistenz, Schulbegleitung, Integrationshelferinnen und Integrationshelfern, Teilhabe-Managerinnen und Teilhabe-Manager (vgl. Knuf 2012). Es wird jedoch eine Kluft zwischen der im Diskurs um Selbstbestimmung und selbstbestimmtes Leben geführten emanzipativ verorteten Rolle von Assistenz und einer im Bereich Schule tendenziell dependenzfördernd verorteten Rolle von Schulassistenz im schulpädagogischen Diskurs deutlich (vgl. Köpfer 2016). Eine theoretische Verknüpfung dieser beiden Diskurse hat bislang nicht stattgefunden. Angesichts der hier skizzierten Entwicklungen möchten wir in unserem Beitrag das (para-)professionelle Selbstverständnis von Schulassistentinnen und Schulassistenten aus drei verschiedenen Ländern rekonstruieren und aus strukturtheoretischer Sicht nach ihrer Professionalisiertheit bzw. Professionalisierungsbedürftigkeit fragen. Hierbei sollen insbesondere die Bedingungen (para-) professionellen Handelns in den Blick geraten, weshalb wir auch dessen variierende Rahmenbedingungen berücksichtigen werden. Unter Bezug auf die professionalisierungstheoretischen Überlegungen zum pädagogischen Handeln von Oevermann (1996) werden wir insbesondere den Stellenwert des Arbeitsbündnisses von (para-)professioneller Assistenz und Schülerinnen und Schülern für deren professionelles Selbstverständnis empirisch untersuchen und international vergleichen. Dabei beziehen wir uns auf empirisches Datenmaterial aus Interviewstudien mit Teaching Assistants (UK), Teacher Assistants (Can) und Schulassistenten und Schulassistentinnen (D) aus zwei unterschiedlichen Forschungsprojekten. Da die empirische Grundlage unserer Analyse (noch) recht klein ist, werden wir lediglich erste Hypothesen zu unserer Forschungsfrage formulieren und auf weitergehende Desiderate verweisen.
(PARA-)PROFESSIONELLE ASSISTENZ IM INTERNATIONALEN DISKURS Mit Blick auf den internationalen Kontext zeigt sich, dass Assistenzrollen eine gängige und weitreichende personelle Maßnahme im Zuge inklusions- und unterstützungsorientierter Schul- und Unterrichtsentwicklung darstellen (vgl. Rouse 2011; Mulholland/O’Connor 2016). Sie können daher als Tertium Com-
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parationis für internationale und interkulturelle Vergleiche von Systemen der Bildung und Erziehung herangezogen werden. Wenngleich rezente Forschungen zunehmend die Rolle und Praxis von (para-)professioneller Assistenz adressieren, waren diese bislang selten Gegenstand für Vergleichsanalysen (vgl. Sharma/Salend 2016; Devecchi et al. 2012). Im Folgenden geben wir einen kurzen Einblick in internationale Diskurslinien und Forschungsbefunde zu (para-)professioneller Assistenz in inklusionsorientierten Schulen, zu denen inzwischen umfassende (inter-)nationale StudiesReviews bestehen (vgl. Sharma/Salend 2016; Schmidt 2016; Lübeck/Demmer 2017; darüber hinaus Butt/Lowe 2012; Blatchford et al. 2009). Ein wichtiger Forschungsbefund ist, dass die Erwartungen an die formale Qualifikation von (para-)professionellen Assistenzkräften in unterschiedlichen Ländern – oder auch deutschen Bundesländern (vgl. Henn et al. 2014) – stark variieren. Während zum Beispiel in England, Australien oder Deutschland keine formalen Vorqualifikationen zur Ausübung der (para-)professionellen Tätigkeit erforderlich sind, wird in den USA eine zweijährige Qualifikation bzw. Ausbildung vorausgesetzt (vgl. Butt/Lowe 2012; Butt 2016). Insgesamt werden Teaching bzw. Teacher Assistants mangelnde Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten zugestanden (Ashbaker/Morgan 2012; Porter/Au Coin 2012). Daher werden z.B. auch in Deutschland Stimmen laut, die bemängeln, dass der Anstieg der Zahlen nicht mit einem gleichen Maß an Professionalisierung verbunden ist und die Professionalisierungsbestrebungen nun erst initiiert werden (vgl. Heinrich 2016). Analysen des internationalen Forschungsstands verweisen auch kritisch auf die oftmals diffusen Rollen und unklaren Verantwortlichkeiten von Schulassistentinnen und Schulassistenten, wobei uneinheitlich weit oder eng ausgerichtete Handlungsoptionen bzw. -spielräume zu Konfusionen hinsichtlich der Ausübung von Assistenz führen können (vgl. Giangreco 2010; Heinrich/Lübeck 2013; Dexel 2017). Zudem sind die Positionierung und Verantwortlichkeiten innerhalb eines multiprofessionellen Teams einer inklusiven Schule weitgehend ungeklärt und es scheint zwischen formaler Rolle und unterrichtlicher Handlungspraxis der (para-)professionellen Assistenzkräfte eine Kluft zu geben (vgl. Egilson/ Traustadottir 2009). Als problematisch im Blick auf den Inklusionsgedanken wird in vielen Studien angeführt, dass Schulassistenz oft als Einzelförderung realisiert wird (Blatchford et al. 2009; Dworschak 2012; Kremer 2012; Lindmeier/Polleschner 2014; Heinrich 2016). In England durchgeführte Studien zeigen, dass besonders eine Einzelförderung durch Teaching Assistants außerhalb des Klassenverbandes und des Unterrichtsgeschehens (sog. »Pull-Out«) sich als nicht lernförderlich für die entsprechenden Schülerinnen und Schüler erweist (vgl. Blatchford et al.
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2009). Auch kann eine 1:1-Begleitung von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf zu einer verminderten Interaktion zwischen diesen und den Lehrkräften führen (Giangreco et al. 1997; Sharma/Salend 2016). Dies konnte auch in einer ethnographischen Studie in der kanadischen Provinz New Brunswick herausarbeitet werden. Hier zeigte sich, dass die Assistenzrolle qua Nomenklatur ›Teacher Assistant‹ als schulinterne Assistenzrolle für die Lehrkraft designt wurde (vgl. MacKay 2006; Porter/AuCoin 2012), die Handlungspraxis jedoch in einem hohen Maße von Einzelförderung und territorialer Separation von Schülerinnen und Schülern mit hohem Unterstützungsbedarf gekennzeichnet war (Köpfer 2013, 2014). Zunehmend rücken auch Untersuchungen ins Zentrum des Interesses, die die Beziehung zwischen Schülerinnen und Schülern und (para-)professioneller Assistenzrolle untersuchen. Erste Studien im internationalen Kontext aus der Perspektive von Schülerinnen und Schülern mit Assistenzerfahrung zeigen, dass diese rückblickend die Schulassistenz häufig als »Beschützerinnen und Beschützer vor Bullying« oder »Mutter« beschreiben, was auf eine asymmetrisch angelegte, aber enge Beziehung verweist (Broer et al. 2005). Dies konnte in qualitativ-rekonstruktiven Fallstudien in Deutschland bestätigt werden (vgl. Lindmeier/Ehrenberg 2017; Köpfer/Böing 2017). Darüber hinaus konnte rekonstruiert werden, dass die Schülerinnen und Schüler bei gleichzeitiger latenter, emanzipationsbedingter Abwehr der ständigen Begleitung die Assistenz funktional nutzen (z.B. in fachlicher Hinsicht zur Lösung von Aufgaben oder auch in sozialer Hinsicht als ›willkommenes Schutzschild‹) (vgl. Köpfer/Böing 2017). Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass sich (para-)professionelle Assistenz in inklusiven Schul- und Unterrichtssettings bislang durch ein geringes Maß an rollen- und tätigkeitsbezogener Definition auszeichnet. Darüber hinaus ist sie geprägt durch ein prekäres Anstellungsverhältnis, ein geringes Maß an Qualifikation und Professionalisierung sowie durch eine Ambiguität von Nähe und Distanz, Emanzipation und Dependenz. Einige Studien verweisen außerdem darauf, dass es weit mehr Frauen als Männer sind, die Assistenzrollen einnehmen (Henn et al. 2014; Mansaray 2012: 20). Vor dem Hintergrund der in der skizzierten Forschung herausgearbeiteten problematischen Aspekte des professionellen Handelns von Assistenzkräften rekonstruiert unser Beitrag auf den Grundlagen der Selbstaussagen von Assistenzkräften in ausgewählten Länderkontexten (England, Kanada, Deutschland) deren professionelles Selbstverständnis. Zentraler theoretischer Bezugspunkt sind dabei die strukturtheoretischen Überlegungen zu pädagogischer Professionalität von Ulrich Oevermann (1996).
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PROFESSIONELLES HANDELN NACH OEVERMANN In seiner theoretischen »Skizze einer revidierten Theorie professionellen Handelns« (ebd.) diagnostiziert Oevermann einen Konstruktionsfehler klassischer Theorien und Ansätze zur Professionalisierung in Tätigkeitsfeldern des Sozialen, da diese die Handlungs- und Strukturlogik des professionalisierten Handelns nicht ausreichend erfassten (ebd.: 70f.). Er argumentiert weiterhin, dass die Professionalisierungsnotwendigkeit »des pädagogischen Handelns nicht […] aus ihrem Kern – der Vermittlung von Wissen und Werten – sondern aus dessen therapeutischer Dimension erwachse.« (Reh 2004: 362) Zwar bestehe in pädagogischen Handlungssettings der spezifische Auftrag der Vermittlung von Wissen und Normen. Gleichzeitig seien jedoch die Akteurinnen und Akteure unauflöslich in einen reziproken Handlungsrahmen und in eine diffuse Interaktionspraxis verwickelt, die sich insbesondere durch die noch unabgeschlossene Entwicklung der Schülerinnen und Schüler als bedeutsam für deren persönliche Integrität erweise (vgl. ebd). Eine weitere Version des pädagogischen Handelns sei insofern die implizit therapeutische (ebd.: 146). Vor diesem Hintergrund plädiert Oevermann für eine handlungstheoretische Betrachtung der »diffusen Sozialbeziehungen« innerhalb von pädagogischen Arbeitsbündnissen (ebd.: 110), die sich in nicht-rollenförmigen Beziehungen zwischen den ganzheitlich zu betrachtenden Personen vollzögen. Eine fehlende Professionalisierung des pädagogischen Handelns von Lehrkräften zeige sich insbesondere darin, dass diese die widersprüchliche Einheit von Diffusität und Spezifität in diesen Beziehungen nicht ausbalancieren könnten und Schülerinnen und Schüler entweder distanzlos verkindlichten oder eine verwaltungsrechtliche Experteninnen- und Expertenrolle einnähmen (Oevermann 1996: 155). Tendenzen zur Professionalisierung pädagogischer Praxis sieht Oevermann am ehesten im Bereich der Sonder- und Heilpädagogik, da in deren Praxis angesichts ihrer Zuständigkeit für eine Vielfalt fallspezifisch ausgeprägter Störungen unvermeidlich ein fallspezifisches Arbeitsbündnis eingegangen werde. Dadurch, dass die Normalpädagogik alle Fälle, die als manifeste Abweichung konstituiert würden, an die Heil- und Sonderpädagogik delegiere, entziehe sie sich ihrer eigenen Professionalisierungsbedürftigkeit und reserviere sie für den sonderpädagogischen Bereich (ebd.: 151). Angesichts der vielfältigen Funktionen pädagogischen Handelns in Schulen lässt sich unter Bezug auf Oevermann auch von dessen allgemeiner Zuständigkeitsdiffusität sprechen (Silkenbeumer et al. 2017: 153). Die Aufgabenbereiche der im Kontext Schule tätigen Sonder- und Heilpädagoginnen sowie der Sonder-
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und Heilpädagogen umfassen dabei ebenfalls die Funktionen der Wissens- und Normenvermittlung sowie die implizit therapeutische Funktion (ebd.: 147), wobei Oevermann suggeriert, dass die in diesem Tätigkeitsfeld eingegangenen fallspezifischen Arbeitsbündnisse mit als abweichend konstituierten Schülerinnen und Schülern eine besondere Professionalisiertheit dieses Bereichs mit sich bringt. Wie bereits erläutert, sind (para-)professionelle Assistenzkräfte nicht im gleichen Maße und nicht qua Rolle zuständig für die Wissens-, Normen- und Wertvermittlung wie Lehrkräfte. In das implizit therapeutische Handeln, das in der Interaktionspraxis mit den Schülerinnen und Schülern am Schulort eröffnet wird, sind sie allerdings stark eingebunden. Oevermanns professionalisierungstheoretische Perspektive birgt im Blick auf diese Berufsgruppe das Potenzial, sie nicht aufgrund der oftmals mangelnden formalen Qualifizierung von vornherein als in defizitärer Weise professionalisiert zu verstehen. Eine Erkundung des »therapeutischen Potenzials« (Silkenbeumer et al. 2017: 91) im Handeln der paraprofessionellen Assistenz birgt stattdessen die Möglichkeit, die strukturtheoretische Problematik klientenbezogener Professionalisierung offenzulegen. Im Anschluss an Oevermann lassen sich die von Assistenzkräften mit ihrer Klientel eingegangenen Arbeitsbündnisse sowie deren Stellenwert für ihr Selbstverständnis einer struktur- und handlungstheoretischen Analyse unterziehen, die die »widersprüchliche Einheit von Autonomie und Abhängigkeit« (Oevermann 1996: 123) in den Blick nimmt. Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Reflexionsfläche werden im Folgenden exemplarisch die handlungspraktische Ausformung der (para-)professionellen Assistenzrolle und das pädagogische Selbstverständnis der entsprechenden Akteure und Akteurinnen auf der Grundlage von Interviews rekonstruiert. Um die Auswirkungen der jeweiligen formalen und institutionellen Kontextbedingungen erfassen zu können, nehmen wir hierbei eine kulturvergleichende Analyse vor und binden die rekonstruierten Merkmale des pädagogischen Selbstverständnisses der Assistenzkräfte an die jeweiligen landesspezifischen Rahmenbedingungen ihres pädagogischen Handelns zurück.
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DER KONTEXT DES DATENMATERIALS UND DIE DOKUMENTARISCHE METHODE DER TEXTINTERPRETATION Bei den im Folgenden interpretierten Interviewausschnitten mit (para-) professionellen Assistentinnen und Assistenten aus drei verschiedenen Länderkontexten handelt es sich um Datenmaterial aus zwei verschiedenen Studien: Die Interviews mit Schulhelferinnen und Schulhelfern in Berlin und mit Teaching Assistants in London wurden im Kontext des Forschungsprojekts »Anerkennungsverhältnisse in urbanen Grundschulen« erhoben (Fritzsche 2017a; 2017b). Dieses Projekt basierte auf einer an einer primary school in London und einer Grundschule in Berlin durchgeführten kulturvergleichenden ethnographischen Untersuchung der Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern und es wurde von 2010-2015 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert. Im Laufe dieser Studie zeigte sich, dass die jeweiligen Lehrkräfte-Schülerinnen und Schüler-Verhältnisse stets stark von der Anwesenheit anderer pädagogischer Professioneller im Klassenzimmer abhängig sind. Deshalb wurden Interviews sowohl mit den in den untersuchten Klassenzimmern anwesenden Assistenzkräften als auch mit den entsprechenden Lehrkräften zu den verschiedenen professionellen Rollen und ihren Kooperationen durchgeführt. Die Interviews mit Teacher Assistants in Kanada entstammen der Dissertationsstudie »Inclusion in Canada« (Köpfer 2013). Im Rahmen dieser ethnographischen Studie wurden Unterrichtsprozesse, Unterstützungsstrukturen und Rollen in kanadischen Schulen der Provinzen New Brunswick, Prince Edwards Island und Québec untersucht. Neben Beobachtungen wurden (Expertinnen und Experten-)Interviews mit pädagogischem und administrativem Personal der Schulen und School Boards durchgeführt sowie ein Forschungstagebuch (log book) zur Dokumentation genutzt. Die Studie zeigte, dass im Zuge inklusionsorientierter Schulentwicklung an kanadischen Schulen dekategoriale und flexible Unterstützungssysteme für Vielfalt eingerichtet wurden, die personell ausgestattet (z.B. Resource Teams, Teacher Assistants) die Lehrkraft unterstützen. Für die Interpretation des in beiden Projekten erhobenen Datenmaterials wurde jeweils die Dokumentarische Methode gewählt. Dieses in der praxeologischen Wissenssoziologie fundierte rekonstruktive Verfahren fokussiert das ›Wie‹ der Herstellung von Wirklichkeit (Bohnsack 2003: 31ff). In der Analyse von Interviews erlaubt es die Dokumentarische Methode, den Zusammenhang von Orientierungen und Erfahrungen zu rekonstruieren (Nohl 2006: 7). Bei der Interpretation wird dabei zwischen dem wörtlichen und expliziten immanenten Sinn-
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gehalt und dem Dokumentsinn des Gesagten unterschieden. Das zentrale Ziel der Methode besteht in der Rekonstruktion dieses Dokumentsinns, der auf die Herstellungsweise, den modus operandi der jeweiligen Schilderung verweist und sich auf der Ebene impliziten Wissens äußert (ebd: 8). Bei den im Folgenden vorgestellten Rekonstruktionen von Interviews mit an Schulen tätigen Assistenzkräften geht es uns in diesem Sinne darum, das ›Wie‹ ihrer (para-)professionellen Rolle herauszuarbeiten, so wie es sich in ihren Selbstbeschreibungen artikuliert. Im Anschluss an Oevermann interessiert uns hierbei insbesondere eine Untersuchung der mit den zu betreuenden Schülerinnen und Schülern eingenommenen Arbeitsbündnisse in ihrer widersprüchlichen Einheit von Autonomie und Abhängigkeit sowie deren Funktion für das Selbstverständnis der (Para-)Professionellen, wobei wir auch auf die im Verhältnis zu anderen im Klassenzimmer anwesenden pädagogischen Professionellen eingenommenen Rollen und Zuständigkeiten eingehen werden.
SCHULASSISTENZ IN DEUTSCHLAND In Deutschlands föderalem System unterliegt die Organisation von Schulassistenz bundeslandspezifischen Vorgaben. Je nach Bundesland wird sie durch unterschiedliche Träger organisiert und von Kommunen oder Krankenkassen (misch-)finanziert (Lübeck/Demmer 2017; Schmidt 2016). Bundeslandübergreifend gilt, dass sie als Einzelfallhilfe im Rahmen der Eingliederungshilfe realisiert wird. Wie bereits für den internationalen Kontext aufgezeigt, wird auch in Deutschland die Umsetzung von Schulassistenz als Einzelfallhilfe stark kritisiert (Dworschak 2012; Heinrich 2016; Kremer 2012; Lindmeier/Polleschner 2014). Auch in Deutschland gibt es massive Unklarheiten in Bezug auf das Tätigkeitsprofil und die Weisungsbefugnisse von Schulassistentinnen und Schulassistenten. In den meisten Bundesländern liegen mehr oder weniger konkrete Bestimmungen des Aufgabenkatalogs seitens der Ministerien oder auch Verbände und Vereine vor. Diese Aufgabenbeschreibungen beziehen sich allerdings zumeist auf eine alltagspraktische, pflegerische und psychosoziale Betreuung (Schmidt 2016). Auch in Bezug auf die im Rahmen der Studie befragten Schulhelferinnen und Schulhelfer in Berlin heißt es in der entsprechenden Rahmenvereinbarung: »die Tätigkeiten der Schulhelferin und Schulhelfer umfassen ausschließlich
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Maßnahmen der ergänzenden Pflege und Hilfe«2. Allerdings zeigen Studien, dass Schulassistentinnen und Schulassistenten de facto oftmals auch pädagogische und unterrichtliche Aufgaben übernehmen, wenngleich sie qua Rolle hierfür nicht befugt sind. In der Praxis ist die strikte Trennung zwischen pädagogischer und pflegerischer Unterstützung insofern nicht tragfähig (Dworschak 2010, 2012; Kremer 2012; Schmidt 2016; Lübeck/Demmer 2017). Vielmehr kann die Handlungspraxis von Schulassistentinnen und Schulassistenten als diffus bezeichnet werden, da sie variable Positionen und Funktionen im Unterricht einnehmen und oftmals eine Scharnierfunktion zwischen verschiedenen Gruppierungen bilden (vgl. Blasse 2017). In den Studien wird zudem ein geringer Grad an Kooperation zwischen Lehrkräften und paraprofessioneller Assistenz ausgewiesen. Gründe hierfür werden zum Beispiel dahingehend formuliert, dass Assistenzkraft und Schülerin bzw. Schüler eine »unnahbare Einheit« (Heinrich/Lübeck 2013) darstellten. Die im Folgenden dargestellten empirischen Rekonstruktionen des professionellen Selbstverständnisses von Schulassistentinnen und Schulassistenten in Deutschland basieren auf zwei Interviews, die mit an einer Berliner Grundschule mit Inklusionsanspruch tätigen Schulhelferinnen und Schulhelfern im Rahmen der oben genannten Studie durchgeführt wurden. Die hier Lea Roderi genannte Schulhelferin ist im jahrgangsübergreifenden Unterricht der Klasse 1-3 tätig, die andere Interviewte, hier Marianne Flamm genannt, arbeitet in der Klasse 4-6. In der komparativen Analyse der Interviews zeigt sich deutlich, dass die beiden Befragten sich nicht als Assistentinnen der Lehrkräfte verstehen, sondern ihr professionelles Handeln über die Unterstützung der ihnen zugewiesenen Schülerinnen und Schüler definieren. So betont Marianne Flamm ihre Autonomie in der Ausgestaltung ihrer Rolle, die vorrangig in der Adaption des jeweiligen Unterrichtsstoffes und seiner Erarbeitung mit ›ihrem‹ Kind besteht: »zum Beispiel jetzt Thema (.) Atmung (.) Herzkreislauf dann: setz ich mich hin (.) such mir Material wo ich denke mein Kind (.) versteht das (.) äh und arbeite das dann mit ihm
2
Rahmenvereinbarung zur Leistungserbringung und Finanzierung der ergänzenden Pflege und Hilfe von schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen an öffentlichen Schulen und Ersatzschulen in Berlin von 2011/2017, § 4, Abs. 5. Verfügbar unter: https://www.berlin.de/sen/bjf/inklusion/fachinfo/2017_rv_schulhelfer .pdf (zuletzt abgerufen am 26.02.18).
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durch angelehnt an den (.) Nawiunterricht in der Klasse der für das Kind (.) zu schwer wäre zu komplex dann wird es einfach ein bisschen rausgenommen un:d äh vereinfacht«3
Lea Roderi grenzt sich explizit von der Vorstellung einiger Lehrkräfte ab, sie sei eine ihnen zugeordnete Hilfskraft: »also wir sind etwas sehr Undefiniertes sehr eh Unklares, das führt ja auch dazu, dass es gerade in Schulen an denen sehr sehr viel Leistung gebracht wird (…) die Träger der Hauptlast des Bildungsauftrages, des Erziehungsauftrages und so weiter (.) durchaus dazu neigen, auch dann diese undefinierte Kraft auch als eine ähm Hilfskraft anzusehen. Wir sind aber nicht als Hilfs- Hilfskräfte, also ich persönlich lege großen Wert darauf meine Rolle jederzeit beizubehalten, also diese Grundfunktion eben zu erfüllen und (.) ich will nicht eine Hilfslehrerin werden, ich will nicht eine Hilfserzieherin werden, ich möchte wirklich in dieser speziellen Rolle, die mir zugewiesen ist auch äh bleiben.«
In beiden Interviews wiederum wird deutlich, dass die hier erwähnte »spezielle Rolle, die mir zugewiesen ist« gleichzeitig überaus schwer zu bestimmen ist. Beide Befragten nehmen Bezug auf die formale Vorgabe, dass sie nur Pflegetätigkeiten ausfüllen sollten. Marianne Flamm erläutert, dass diese Vorgabe nichts mit ihrer professionellen Realität zu tun habe, es aber andere Schulhelferinnen und Schulhelfer gebe, die für körperlich schwerstbehinderte Kinder zuständig seien und durchaus pflegerische Aufgaben erledigten. Lea Roderi setzt sich ausführlich mit der Prekarität des unklaren Status von Schulassistentinnen und Schulassistenten auseinander: I: »Mhm, mhm, mhm (2) U:und ähm (.) wie sehen Sie ihre (.) ihre eigene Rolle als Schulhelferin in der Klasse im (.) auch im Vergleich zu den zu den Rollen der anderen Pädagoginnen die da tätig sind?« LR: »Ähm das ist natürlich eine (1) äh etwas heikle (.) Angelegenheit finde ich, weil (.) Schulhelfer (1) äh (1) per se sind wir ja:: (1) primär (2) wie Pflegekräfte. Die pädagogische Förderung der Kinder (.) gehört nicht zu unserem Aufgabenbereich (.) unser (.) primäres (1) Aufgabengebiet beinhaltet (.) jede Form der Unterstützung von behinderten
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Das hier verwendete Transkriptionssystem ist orientiert an dem in der Regel im zusammen mit der »Dokumentarischen Methode« verwendeten System »Transkription in Qualitative Research (TIQ)« (Bohnsack 2003: 235): wirklich=betont gesprochen; un:d= gedehntes Sprechen; (.)=kurze Pause; (1)=Pause von einer Sekunde; (…)= Auslassung im Transkript.
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Kindern (.) äh (1) im Rahmen (.) ihrer (.) Einschränkungen. Das heißt (.) ist der Besuch der Regelschule eines behinderten Kindes davon abhängig dass bestimmte medizinische Maßnahmen durchgeführt werden (.) haben wir dafür zu sorgen, dass diese auch durchgeführt werden (…) Fehlt einem Kind eine Hand, dann zum Beispiel am Gymnasium, da hab ich wirklich ganz viel mitgeschrieben, (.) also zum Beispiel für einen Schüler der (.) äh aufgrund einer schweren Erkrankung regelrecht verkrüppelt war, extrem deformierte Glieder hatte u:nd (1) ich fand das aber toll, also da hab ich wirklich gemerkt, dass selbst diese ganz einfachen Einsatzmomente sehr viel bedeuten.«
Auf einer impliziten Ebene verhandelt Lea Roderi in diesem Interviewausschnitt die mit der Selbstbeschreibung »per se sind wir ja:: (1) primär (2) wie Pflegekräfte« verbundene gesellschaftliche Abwertung. Indem sie betont, dass den betreuten Kindern nur durch ihre pflegerischen Unterstützungsleistungen der Schulbesuch überhaupt erst ermöglicht wird, beschreibt sie die eigene professionelle Arbeit wie eine Prothese: Sie ist unabdingbar, um den Betroffenen überhaupt Bildungserfahrungen zu ermöglichen, gleichzeitig ist sie dann eben auch auf »ganz einfache Einsatzmomente« und diese unmittelbare Hilfeleistung beschränkt, insofern auch durch eine stark heteronome Struktur charakterisiert. Während Marianne Flamm für sich beansprucht, die formale Einschränkung auf pflegerische Tätigkeiten zu ignorieren, wertet Lea Roderi diese Form der Aufgabenbeschreibung für sich auf und nutzt sie, um sich einer Adressierung als Hilfslehrerin zu entziehen. An anderer Stelle im Interview macht sie deutlich, dass sie, obwohl sie nicht für eine pädagogische Unterstützung im Klassenzimmer zuständig ist, nicht nur das ihr zugewiesene Kind, sondern auch andere Schülerinnen und Schüler auf einer anderen Ebene unterstützen kann: »beim behinderten Kind, (.) muss man sich dabei dann immer sehr stark mit dem Kräftehaushalt beschäftigen, muss man immer reflektieren okay, also wie viel schaff ich denn überhaupt auf einmal. (.) U::nd das ergibt sich auf ganz natürliche Weise, dass eben die Kinder bei mir eben weniger so (.) die pädagogische Leistung suchen, die sie bei den Lehrern zum Beispiel suchen, wenn sie eine Frage haben.«
Lea Roderi präsentiert sich hier als Expertin für den Umgang mit eigenen (möglicherweise beschränkten) Kräften im schulischen Kontext, deren Leistungen von allen Kindern in Anspruch genommen werden können. Sie hat somit für sich ein eigenes Zuständigkeitsfeld gefunden, mit dem sie sich einer möglichen Fremdpositionierung als Hilfslehrerin entziehen kann, der formalen Vorgabe entspricht, nicht pädagogisch tätig sein zu dürfen, und gleichzeitig als potentielle
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Ansprechpartnerin nicht nur für ein als besonders konstituiertes Kind, sondern für alle Schülerinnen und Schüler der Klasse fungiert. Die in diesen Interviews beschriebenen Arbeitsbündnisse sind von Seiten der Schulhelferinnen von starken Abhängigkeiten in Bezug auf die jeweils zuständigen Lehrkräfte und den von diesem gewählten Unterrichtsstoff, jedoch auch von den Bedürfnissen der zu begleitenden Schülerinnen und Schüler geprägt. Es zeigt sich zugleich ein Ringen um Autonomie sowohl in der klientenbezogenen und fallspezifischen Zuwendung als auch im Verhältnis zu den Lehrkräften.
»TEACHING ASSISTANTS« IN ENGLAND In England werden Teaching Assistants seit den1980er Jahren systematisch in Schulen eingesetzt, seitdem kam es zu einer steten Expansion ihrer potentiellen Zuständigkeiten (Mansaray 2012: 17). Aktuell konstituieren sie rund ein Viertel der an durchschnittlichen Schulen eingestellten Professionellen (Webster et al. 2012: 79). Ebenso wie in Deutschland gibt es keine Standards in Bezug auf eine erforderliche formale Qualifikation von Teaching Assistants. In der Vergangenheit wurden oftmals gezielt Eltern als Teaching Assistants für Mitschülerinnen und Mitschüler ihrer Kinder angeworben4, was dazu führte, dass Ainscow die Assistenzkräfte 2000 kritisch als ›mum’s army‹ bezeichnete. Jedoch, so CookJones (2006), wird ihrer Rolle eine immer höhere Bedeutung zugemessen und es gebe einen Anstieg entsprechender Qualifizierungsangebote, in diesem Sinne spricht sie unter Bezug auf Teaching Assistants von »up-and-coming role in the education system.« Vom Bildungsministerium wurde 2000 die folgende Definition von Teaching Assistants vorgegeben: »The term ›teaching assistant‹ (TA) is the government’s preferred generic term of reference for all those in paid employment in support of teachers in primary, special and secondary schools. That includes those with a general role and others with specific responsibilities for a child, subject area or age group.« (Department for Education and Employment, 2000, zit.n. Tyrer et al. 2009: 9)
In dieser Beschreibung zeigt sich deutlich, dass es in England im Unterschied zu Deutschland einerseits keine Scheu gibt, Assistenzkräfte für pädagogische Auf-
4
Vgl. www.bbc.co.uk/schools/parents/teaching_assistant/, abgerufen am 27.2.2018.
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gaben einzusetzen und dass andererseits ihre Funktion im Klassenzimmer zentral über ihre Unterstützung für die Lehrkräfte definiert wird. Ganz in diesem Sinne äußern sich auch die beiden, in einer Londoner primary school tätigen, interviewten Teaching Assistants. Die hier Tory Robinson genannte Teaching Assistant ist in der Jahrgangsstufe fünf eingesetzt. Sie beschreibt ihre Tätigkeit wie folgt: »you assist the teacher (.) in everything they need (…) I (.) started off working with Darcy (.) who’s autistic and I worked here from last year in 4b. (.) But it means that I mainly support him because of (.) funding in fact that he is special needs, he has special funding, (.) he has (got) certain amount of hours, where he has to have somebody so I mainly work with him (.) (.) because of the (level) he said he can’t really follow the year five (.) (quickly) (.) so: (.) find out what they’re doing in class and then try find something else for him to do which is adapted to his level. (…) and also behaviour management as well so Miss is obviously teaching. (.) And she’s got obviously to control the classroom, but there are times when you know you see children talking and mocking about and you kind of picture that (.) so everything to run smoothly.«
Auch durch das hier angedeutete Finanzierungssystem (Kinder mit einer bestimmten Diagnose bekommen für eine bestimmte Anzahl von Stunden die Unterstützung durch eine Teaching Assistant finanziert, hierdurch bekommt diese ihre Zuweisungen an eine bestimmte Klasse) besteht eine ihrer zentralen Aufgaben in der Unterstützung von Darcy, der eine entsprechende Diagnose hat. Obwohl Tory Robinson, ähnlich wie Marianne Flamm mit dem ihr zugewiesenen Schüler auch eigenständig herausgesuchtes Material erarbeitet, konstituiert sie in dieser Sequenz die Lehrkraft als für die Wissensvermittlung zuständige Kraft (»so Miss is obviously teaching«). Jenseits ihrer Zuweisung zu Darcy beschreibt sie ganz in diesem Sinne als eine ihrer zentralen Aufgaben, der Lehrkraft einen reibungslosen Ablauf des Unterrichts zu ermöglichen. Eine solche Referenz auf ein hierarchisch strukturiertes Unterstützungssystem findet sich auch im Interview mit dem hier Dave Rogers genannten Assistenten wieder, der in einer zweiten Klasse arbeitet: »you just do what you’re told really (.) I mean (.) it can be difficult (.) cause you get a lot of work to do, (…) I don’t know my relationship is pretty good, (.) it can be testing because (.) we we’re expected to do certain things but we can’t, (.) there are things that we can’t get done without the teachers, (.) doing a certain thing.«
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Dave Rogers verdeutlicht, dass die Weisungsabhängigkeit der Teaching Assistants sowohl bedeutet, dass sie darauf angewiesen sind, ein gutes Verhältnis zur jeweiligen Lehrkraft zu haben, als auch, dass es im alltäglichen Handeln wenig Spielraum für eigenständige Entscheidungen gibt, sondern sie oftmals erst abwarten müssen, was die Lehrkraft vorgibt. Sein Arbeitsbündnis mit den Schülerinnen und Schülern beschreibt Dave Rogers mit den folgenden Worten: »personally (.) I like to treat them as friends (.) you know (.) a:nd I think you get a good response from that, (.) well=obviously you have to be firm with the children, (1) it does really depend in the individual and the experiences with the children. (.) For me: they are children so (.) you can’t you can’t really (.) ((atmet laut aus)) (.) there’s a thing where (.) you get angry (.) or you get annoyed (1) because they’re not doing what they’re supposed to be doing (.) or (.) yeah (.) they’re just being naughty and obviously (…) So (1) I don’t know (.) you just kind of have to (.) not let them go (.) you can’t let them get away with that (.) because they have to learn what is right and wrong but (.) you know (.) I think you can’t blame them (.) for their behaviour (.) °you know° (.) not at this age anyway (.) about seven (.) there is a lot going on mentally (1) ((atmet aus)) there’s a lot (.) °you know° that happens. (.) So yeah just trying to treat them like friends really, (.) trying to keep them on the right track, (.) be positive as much as possible which is difficult. (3) yeah I think is you get a good reaction if you’re nice to the children you know (1) and (.) or they respond well if you’re (.) in a good mood as well (1) °which is good° (2) yeah.«
Seine Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern beschreibt der Teaching Assistant hier als von persönlichen (»personally«) Wünschen und Gefühlen bestimmt, ohne in irgendeiner Weise Bezug auf Normen seiner Profession oder auch der Institution Schule zu nehmen. Die von ihm genannten Motive sind eher als sozial-fürsorgerische zu bezeichnen denn als pädagogische (»trying to keep them on the right track«). Die hier implizit vorgenommene Distanzierung von Schule als Institution und von der Wissensvermittlung als Funktion pädagogischen Handelns in der Beschreibung des eigenen pädagogischen Arbeitsbündnisses lässt sich aus unserer Sicht ebenfalls als Ringen um Autonomie in einem von vielfältigen Abhängigkeiten bestimmten professionellen Handeln lesen.
›TEACHER ASSISTANTS‹ IN KANADA In Kanada wurde (para-)professionelles Assistenzpersonal insbesondere seit der durch die Canadian Charter of Rights and Freedoms (1982) angestoßene inklu-
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sionsorientierte Schulentwicklung eingestellt (vgl. Perner/Porter 2012) und expandierte fortan. Aufgrund der Bildungshoheit der Provinzen haben sich in der Folge unterschiedliche Nomenklaturen (et al. Integration Aides; Educational Assistants; Teacher Assistants) herausgebildet. Wenngleich bereits früh Richtlinien für die Arbeit von Assistenzpersonal entwickelt wurden (vgl. Teacher Assistant Guidelines, Government of New Brunswick 1994), gibt es nach wie vor keine einheitlichen Qualifikationsanforderungen, und es besteht in keiner Provinz die Erfordernis einer Qualifikationszertifizierung. Die Bezahlung von Teacher Assistants liegt weit unterhalb des Lohndurchschnitts (vgl. MacKay 2006). In der östlichen Provinz New Brunswick wird die Rolle von Teacher Assistants von offizieller Seite folgendermaßen definiert: »Teacher assistants support students, and assist teachers and counsellors with teaching and non-instructional tasks. They assist in areas of personal care, teaching and behaviour management under the supervision of teachers or other child care professionals.« (Government of New Brunswick 2013) Eine hohe Varianz der Tätigkeitsbereiche wurde 2006 im sog. »MacKayReport« (MacKay 2006) festgestellt. Insbesondere wurde dabei den Teacher Assistants eine Fokussierung auf das zu unterstützende Kind mit der Gefahr der Stigmatisierung attestiert (ebd.). Um die Unterstützung der Lehrkraft ins Zentrum zu rücken, wurden als Ergebnis des Reports prospektiv folgende Tätigkeitsbereiche für Teacher Assistants vorgeschlagen (ebd.: 242): »Leading activities with small groups of students under the direction of a teacher Activities that support a teacher Good student role modeling […] Monitoring and supervision during testing, recreation, lunch etc. Other tasks that support the general functioning the school or classroom as directed by a teacher or principal Participating as a member of school strategic teams.«
Jedoch weisen Porter und AuCoin (2012: 148) in einem wiederholten Evaluation-Report darauf hin, dass Teacher Assistants »should be clearly defined with attention to the range of duties for the position elaborated.« Hierdurch wird das scheinbar diffuse und wenig abgegrenzte Tätigkeitsspektrum der Teacher Assistants markiert. In einer ethnographischen Studie zeigte sich zudem, dass die Assistenzrolle zwar qua Nomenklatur ›Teacher Assistant‹ als schulinterne Assistenzrolle für die Lehrkraft designt wurde (vgl. MacKay 2006; Porter/AuCoin 2012), die Handlungspraxis jedoch in einem hohen Maße von Einzelförderung und territorialer Separation von Schülerinnen und Schülern mit hohem Unterstützungsbedarf gekennzeichnet ist (Köpfer 2013, 2014).
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Im Folgenden werden die professionellen Selbstverständnisse aus zwei Interviews mit Teacher Assistants an zwei Elementary Schools (K-6) zweier Kleinstädte in der Provinz New Brunswick angeführt, die im Rahmen der genannten ethnographischen Studie »Inclusion in Canada« (Köpfer 2013) durchgeführt wurden. Beide Teacher Assistants, Betty Folk und Mia Kenneth, sind jeweils unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern mit »Priority one« (hohem Unterstützungsbedarf) in unterschiedlichen Schulen zugewiesen. In der komparativen Analyse der Interviews zeigen sich deutliche Homologien hinsichtlich der Fokussierung der Assistenztätigkeiten auf ein spezifisches Kind mit Special Educational Needs. Hierin offenbart sich der Horizont einer intendierten sozialen und spatialen Partizipation im Klassengeschehen – vor dem Hintergrund einer vorausgesetzten individuellen Behandlung des Kindes. So elaboriert Mia Kenneth ihre Tätigkeit im Klassenraum als Aufgabe der Ermöglichung möglichst lange währender räumlicher (auch: visueller und auditiver) Eingebundenheit im Klassenraum für Momente sozialer Partizipation: I: »And your role in the classroom?« MK: »My role – (.) I try (.), we try to keep the children in the classroom as much as possible, for the children to participate with the class where they can. (.) Sometimes we stay in the classroom, but we might move to a different section of the classroom – just so that the child can (.) do their individual activities, but still be in the classroom and hearing what’s going on with the other children and being visible to the other children. (2) Well, as far as – (.) most of the time, I think, they like being in the regular classroom with the other children. There are certain times when, you know, you need to go out.«
Hinsichtlich des Arbeitsbündnisses zeigt sich ein Horizont der engen bzw. festen Zusammengehörigkeit bei variablen Partizipationsgraden im Klassenraum – bis hin zur stellvertretenden Meinungsbildung. Letztlich wird durch die Entscheidungshoheit über das Pull-Out (Herausnehmen aus der Klasse) auch eine autoritäre und asymmetrische Rollenkonstellation deutlich. Betty Folks professionelles Verständnis ist dabei interventionistisch, mit Fokus auf Unterstützungsleistung, angelegt. Dies drückt sich auch außerhalb des Unterrichts aus – hier bezogen auf soziale Partizipation: »I would even encourage some of the children, like, – because I’ve been here for a long time and a lot of the kids know me and they feel free to come up to me and talk to me on the playground and I say ›someone is on the swings why don’t you go see if they need some help or if they need someone who gives him a push or (.) or if someone wants to slide with you‹, and the kids are really open to that.«
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Hierin wird deutlich, dass das erfahrungsbasierte Handeln sowie die vertraute Beziehung und das Kennen aller Schülerinnen und Schüler von Betty Folk als eine Qualität des professionellen Handelns herausgestellt wird. Danach gefragt, wie sie zu Einzelfördersituationen steht, elaboriert sie zum Beispiel: »I might get more out of her, than you would, because she knows me and we’ve worked, – she’s had me for so long. So, therefore another teacher assistant could come in and not get that work some people look at this as a bad thing (.) because – she gets to depending on you. But I’m the other way, because I feel if there is growth, don’t –, why take it away? That’s – that’s where I see the difference.«
Hierin dokumentiert sich ihr Selbstverständnis einer (para-)professionellen Tätigkeit als Förderung des individuellen Lernzuwachses der jeweils zu betreuenden Schülerinnen und Schüler – möglichst auf Basis einer persönlichen Bindung/Beziehung, um einen Bildungsprozess (growth) zu ermöglichen. In der expliziten Auseinandersetzung mit der – auch im MacKay-Report (2006) formulierten – Gefahr einer Dependenz der Schülerinnen und Schüler in Bezug auf die Teacher Assistant verstärkt sich der positive Horizont einer notwendigen persönlichen Bindung. Auch Mia Kenneth beschreibt ihre Assistenztätigkeit, indem sie auf einen routinehaften und erfahrungsbasierten Unterricht unter besonderer Berücksichtigung einer Schülerin mit »Priority one« rekurriert: »So, I start with her first thing in the morning and it’ll have calendar. So when we sit at the back table so it is just one on one so we sit back and she has calendar so we do what is the day today, the date, the month. (.) Then it might be telephone, so she is learning her telephone number her home skills, which is gonna –, you know which she needs for her independance. Then it may have (.) she is learning in maths, so she’s (.) there again is your clothes-pin. She puts five in and two and then she has two – that’s all independent, so all of this is just her and I and then she gets a five minute reward, which is do whatever she wants to do, that could be play a game she’ll ask Sally, to play. That’s not with me, that’s with someone of the students, with someone in the class. Then it goes back to three more working activities then it’s playtime with another peer. Then at 9.40 (.) she has, say health or guidance or, then she goes –, sits at her desk where she is among the other, the whole class and I am nowhere near I just walk around and I don’t (.) she is with all the class and the teacher like she is, she is a student at that time.«
Auch hier zeigt sich das professionelle Selbstverständnis im Horizont eines zu erfüllenden Bildungsauftrages, der in Form von verantwortungsvoller (Einzel-)
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Förderung dem Kind nähergebracht wird – möglichst in sozialer Nähe zu anderen Schülerinnen und Schülern der Klasse. Die eigene Tätigkeit wird dabei implizit als therapeutische bzw. kompensatorische Fördertätigkeit elaboriert, indem der Fördermaßnahmen erhaltenden Schülerin erst zu jenem Zeitpunkt (»at that time«) der Status einer Schülerin zugeschrieben wird, wenn sie in das Unterrichtsgeschehen inkludiert ist und keine assistierende Tätigkeit durch Mia erfolgt, sondern sie selbst unabhängige Positionen im Unterrichtsgeschehen einnehmen kann (»will walk around«). Sie sieht sich auf Basis ihrer Erfahrung als befugt (»entitled«) an und prozessiert eine selbstbewusste Inanspruchnahme der Förderung des Kindes – auch unter Anwendung ›spannender‹ kindgerechter Methoden (z.B. Adaptation) sowie Anwendung von Strategien des Classroom Managements (z.B. positive Rückverstärkung). Es deutet sich hier ein auf Autonomie basiertes Verständnis von Assistenzhandeln unabhängig von der Lehrkraft vor dem Hintergrund des positiven Horizonts einer kognitiven Weiterentwicklung der einzelnen Schülerin/des einzelnen Schülers an. Die Ambivalenzen einer auf Unabhängigkeit abzielenden Förderung bei gleichzeitigem engen double bind (»that’s all independent, so all of this is just her and I«) bleiben unreflektiert. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass, wenngleich die schulinterne Rolle der ›Teacher Assistants‹ in formaler Hinsicht als lehrkraftunterstützende Rolle ausgewiesen ist, sich auf der handlungspraktischen Ebene ein Arbeitsbündnis zeigt, das sich innerhalb eines formal diffusen Rahmens als enge, autonome Rollenausübung mit Fokus auf eine Schülerin bzw. einen Schüler mit Special Educational Needs darstellt. Hier zeigen sich deutliche Schnittmengen mit den professionellen Selbstverständnissen der englischen und deutschen Assistenzkräfte, insbesondere hinsichtlich des Autonomiebestrebens. Gleichzeitig dokumentierte sich bei den kanadischen Assistenzkräften eine erhöhte Diskrepanz von lehrkraftunterstützender Nomenklatur (›Teacher Assistant‹) und relativ hohem Autonomiegrad. Das Arbeitsbündnis mit der Schülerin bzw. dem Schüler zeichnete sich dabei tendenziell als double bind ab – mit einem selbstverständlichen Zuständigkeitsfeld der pädagogischen Fördertätigkeit bezogen auf ein Kind innerhalb eines wenig reglementierten Handlungsrahmens.
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ARBEITSBÜNDNISSE IM VERGLEICH Im Vergleich der drei Länderperspektiven und der entlang der Interviews exemplarisch herausgearbeiteten Praktiken der Assistenzkräfte aus englischen, deutschen und kanadischen Schulen zeigen sich im Blick auf die konkreten Tätigkeitsfelder der Assistenzkräfte deckungsähnliche Strukturen in allen drei Länderkontexten. In erster Linie wird die Assistenzkraft als Unterstützungsrolle zur Erfüllung eines geregelten Unterrichtsablaufs vor dem Hintergrund integrierter Schülerinnen und Schüler mit hohem Unterstützungsbedarf implementiert – mal in formaler Hinsicht stärker als Einzelfallhilfe (Deutschland) definiert, mal stärker im Design einer lehrerin- und lehrerunterstützenden Rolle (England, Kanada). Vor diesem Hintergrund zeigen sich bisweilen heterologe Orientierungen hinsichtlich der (para-)professionellen Handlungspraktiken: Das ausgemachte Streben nach Autonomie im deutschen Sample rankt stark um das offizielle Verbot, pädagogische Aufgaben zu übernehmen. Dies entweder, indem eine explizite Abgrenzung von der Festlegung von Schulhelferinnen und Schulhelfern auf pflegerische Tätigkeiten vorgenommen, oder, indem der nicht-pädagogische Bereich in eigenständiger Weise neu definiert und aufgewertet wird. Gerade der formale Ausschluss vom pädagogischen Bereich kann dabei als Grundlage für eine Autonomieerklärung gegenüber den Lehrkräften dienen. Eine solche, von einer deutschen Schulhelferin explizit formulierte Abgrenzung gegenüber der Positionierung als ›Hilfslehrerin‹ markiert einen deutlichen Unterschied zum englischen Sample, in dem beide Befragten deutlich machen, dass die Unterstützung der Lehrkräfte ihre zentrale Aufgabe ist. Autonomiebestrebungen finden sich hier allerdings genauso. Sie äußern sich jedoch eher in der Konzentration auf das jeweils zugewiesene Kind und einer eigenständigen Organisation von dessen Bildung und in einer impliziten Abgrenzung von der Schule als Institution und der Gestaltung eines Arbeitsbündnisses jenseits schulischer Normen. Die in Kanada interviewten Teacher Assistants rekurrieren in ihrem rekonstruierten Selbstverständnis weniger stark auf ein hierarchisches Abhängigkeitsverhältnis von den Lehrkräften, als ihre englischen Kolleginnen und Kollegen dies tun. Angesichts sehr ähnlicher formaler Festlegung ihres Berufsfeldes und der Bezeichnung ›Teacher Assistants‹ überrascht dies. Hilfreich für dieses Selbstbewusstsein sind möglicherweise aktuelle Diskussionen zur Notwendigkeit der schulischen Inklusion aller Kinder, die es ihnen ermöglichen, sich selbst als bedeutsame Gestalterinnen und Gestalter der Bildung und Inklusion des zugewiesenen Klientels zu entwerfen. Dies findet sich auch bei der in Berlin interviewten Lea Roderi wieder, die sich jedoch vor dem Hintergrund der formalen
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Festlegung auf pflegerische Aufgaben im Unterschied zu ihren Kolleginnen in Kanada als für nicht zuständig für den Bildungsbereich erachtet. In allen drei Ländern zeigen sich Homologien dahingehend, dass trotz Bezugnahme und Kenntnis eines formalen Rahmens (der in den Ländern von einer auf die Lehrkraft bis hin zu den Schülerinnen und Schülern orientierten Assistenz divergiert) das professionelle Selbstverständnis sich weniger auf die Unterstützung und Assistenz der Lehrkräfte fokussiert, sondern vielmehr auf Tätigkeiten der Einzelfallhilfe ausgerichtet ist. Dabei dokumentiert sich eine homologe Orientierung auf pädagogische und therapeutische Tätigkeiten in unterrichtlichen oder außerunterrichtlichen Fördersituationen. Hierin ist ein Bestreben nach Autonomie erkennbar, um das eigene Zuständigkeitsfeld zu erweitern – tendenziell auch in Abwehr zur Lehrkraft. Das professionelle Selbstverständnis orientiert sich dann an methodisch-didaktischen Strategien der Lehrkraft (z.B. gegenstandsbezogene Adaptionen), wie dies am Beispiel der kanadischen Kollegin besonders deutlich wird. Insgesamt zeigt sich, dass sich die Assistenzkräfte um die Kreierung eines eigenen Zuständigkeitsfeldes für das Kind bemühen – vor dem Hintergrund des Bewusstseins, dass eine Fortführung des bestehenden Unterrichts durch die Lehrkraft ohne ihre Assistenztätigkeit nicht möglich wäre. Sie sehen sich demnach als ›Türöffner‹ bzw. ›Garanten‹ für eine reibungslose Umsetzung von Inklusion. Zugespitzt lässt sich vor dem Hintergrund der kulturübergreifenden Analyse als These formulieren, dass das jeweils eingenommene Arbeitsbündnis mit den Schülerinnen und Schülern zwar je nach Länderkontext mehr oder weniger stark von den Lehrkräften abhängt und mit einem Bildungsauftrag verbunden ist, jedoch immer als Vehikel für eine Erweiterung der eigenen Autonomie genutzt wird.
FAZIT In unseren empirischen Rekonstruktionen zeigt sich kulturübergreifend eine hochgradig eigensinnige Gestaltung der interviewten Assistenzkräfte in Bezug auf ihre jeweilige professionelle Rolle. Diese ist zwar immer abhängig von den jeweiligen formalen Rahmenbedingungen, jedoch gleichzeitig von einem starken Ringen um Autonomie in einem durch heteronome Strukturen geprägten Arbeitsfeld charakterisiert. Eine solche Autonomie wird insbesondere über eine Selbstdefinition angestrebt, die eher über das Arbeitsbündnis mit den jeweils zugewiesenen Schülerinnen und Schülern als über die jeweilige Beziehung zu den hierarchisch hergestellten Lehrkräften läuft. Für das Arbeitsbündnis selbst nimmt
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dies, wie insbesondere in Bezug auf die Beispiele aus Kanada aufgezeigt, durchaus Double-Bind-Züge an. Aus der Perspektive von Oevermanns Professionalisierungstheorie zeigt sich jedoch auch, dass die Assistenzkräfte die therapeutische und fallbezogene Dimension des Arbeitsbündnisses wesentlich ernster nehmen, als die ihnen formal ebenfalls zugewiesenen Hilfstätigkeiten im Klassenzimmer. Dies bedeutet nicht notwendig, dass sie die jeweiligen Arbeitsbündnisse in einer für die Schülerinnen und Schüler durchgehend angemessenen sowie Bildung von Inklusion fördernden Weise ausgestalten. Allerdings kann vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse die Frage gestellt werden, ob ihre Tätigkeit wirklich als paraprofessionell zu bezeichnen ist oder ob ihrer Tätigkeit nicht eine eigenwillige Weise der Professionalisiertheit innewohnt. In den Interviews wird deutlich, inwiefern Assistenzkräfte in besonders dramatischer Weise von der eingangs unter Bezug auf Oevermann diagnostizierten generellen Zuständigkeitsdiffusion pädagogischen Handelns oder, anders ausgedrückt, von Antinomien pädagogischen Handelns betroffen sind: Einerseits sind sie individuellen Kindern zugewiesen und markieren durch ihre bloße Anwesenheit im Klassenzimmer deren Sonderstatus, sollen andererseits aber auch ihre Inklusion fördern. Als Professionelle im Klassenzimmer sind sie notwendig ständig in pädagogische Tätigkeiten eingebunden und bringen jedoch oftmals hierfür keine entsprechende Qualifikation mit, bzw. sind in Deutschland auch formal für den pädagogischen Bereich nicht zuständig. Das professionelle Handeln der Assistenzkräfte ist nicht unabhängig von den Aktivitäten der Lehrkräfte denkbar und soll dabei stets auch im Interesse des jeweils zugewiesenen Kindes stehen. Hierdurch können sie auch (ein Aspekt, den wir in diesem Beitrag nicht weiter beleuchten können) eine Scharnierfunktion zwischen Elternhaus und Schule (Blasse 2017: 11) darstellen. Gleichzeitig stehen sie sowohl in Bezug auf ihre arbeitsrechtliche Situation und ihre Bezahlung, als auch auf ihren niedrigen Status im Kontext schulischer Hierarchien wesentlich prekärer da als andere Professionelle in der Schule. Ursula Rabe-Kleberg (1996) spricht in Bezug auf die oftmals von Frauen eingenommenen prekären Dienstleistungsberufe (von Etzioni 1969 abschätzig als »semi-professionelle Berufe« bezeichnet) von einem »Arbeiten unter Ungewissheitsstrukturen«: »Berufe, die das Ungewissheitsproblem als ein konstituierendes Merkmal ihrer Struktur besitzen, sind daher Berufe, die in ihren Strukturen und Handlungsmustern in Bewegung bleiben müssen. Institutionalisierungen können nur vorübergehende sein. Soziale Räume für das Austragen des Widerspruchs, für auf Dauer gestellte inter- und innerprofessionelle Dispute über den ›Eigensinn‹ ihrer Arbeit und Auseinandersetzungen über die Bedingun-
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gen, diese zu realisieren, Verschiebungen in den Strukturen und Modalitäten der Handlungsstandards gehören zum notwendigen Handlungsrahmen von Professionen. Rückfälle in vorprofessionelle Strukturen und Standards sind dabei unvermeidlich, ja naheliegend. […] Mit dem Begriff ›Professionalität‹ wird an dieser Stelle die Ebene der Subjekte ›eingezogen‹. Professionalität wird dabei als die Fähigkeit und Bereitschaft verstanden, die oben entwickelten widersprüchlichen Strukturen professioneller Arbeit nicht nur zu ertragen, sondern aktiv zu balancieren.« (Rabe-Kleberg 1996: 297ff.)
Ein solches ›aktives Balancieren‹ ließ sich in den in diesem Beitrag erörterten Interviewstudien auf vielerlei Ebenen ausmachen. Die paraprofessionellen Assistenzkräfte leisten demzufolge eine höchst herausfordernde, da ambivalenzbehaftete Tätigkeit. Im Lichte der analysierten (para-)professionellen Selbstverständnisse deutscher, englischer und kanadischer Assistenzkräfte wird Oevermanns (1996: 151) These genährt, dass das »Selbstverständnis der Normalpädagogik […] sich auf die Funktion der Wissens- und Normenvermittlung beschränkt« und die therapeutische Dimension ihrer Praxis weitgehend ausblendet oder delegiert. Der international sichtbare massive Einsatz von Assistenzkräften scheint diese Tendenz noch zu verstärken und trägt möglicherweise in dieser Hinsicht zu einer weiteren Deprofessionalisierung von Lehrkräften bei. Aus der kulturvergleichenden Analyse zeigen sich – sowohl für den englisch, deutschen wie auch kanadischen Kontext – weiterführende Forschungsdesiderata, die in Relation zu den entsprechenden Rahmenbedingungen, den formalen Rollenkonstitutionen sowie den Kooperations- und Professionsmodellen der jeweiligen länderspezifischen Schulsysteme zu betrachten sind. So könnte die herausfordernde und ambivalenzbehaftete Assistenzrolle in Relation zu weiteren schulischen Rollen (insbes. der Lehrkraft oder auch der Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen) untersucht werden, um das in unserem Beitrag als autonom dechiffrierte Handeln der Assistenzkraft in seinem Verhältnis zu anderen Rollen zu verorten. Hierin könnten – neben Platzierungs- und Positionierungspraktiken – auch Radien professioneller Zuständigkeit, deren reziproke Aushandlung und hierin verortete Autonomiebestreben rekonstruiert werden. Dies ist in besonderem Maße relevant hinsichtlich der Rolle von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen, die – ebenso wie (para-)professionelle Assistenzkräfte – mitunter der »therapeutischen Dimension« zugesprochen wird (Oevermann 1996: 151) und bei der ebenso Pathologie der Ausgangspunkt für ihre pädagogische Praxis darstellt (ebd.). Gleichsam sollten im Gegenzug die professionalitätsspezifischen Charakteristika empirisch eruiert werden, die zur delegativen Praxis der Normalpädagogik beitragen, bzw. dazu, dass sie alle Fälle, die als manifeste Abweichung konstituiert werden, an die Heil- und Sonderpädagogik
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delegiert. Und schließlich scheint es notwendig, die sog. ›therapeutische Dimension‹ des (para-)professionellen Handelns der Assistenzkräfte auch in ihrer Interaktionspraxis mit den Schülerinnen und Schülern am Schulort zu analysieren.
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