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German Pages 310 Year 2015
Irka-Christin Mohr Islamischer Religionsunterricht in Europa
Irka-Christin Mohr hat im Fach Islamwissenschaft promoviert. Sie arbeitet im Bereich der Evaluation und wissenschaftlichen Begleitung islamischer Bildungsprogramme.
Irka-Christin Mohr
Islamischer Religionsunterricht in Europa Lehrtexte als Instrumente muslimischer Selbstverortung im Vergleich
D188
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© 2006 transcript Verlag, Bielefeld zugl. Diss., Freie Universität Berlin, 2005 Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Irka-Christin Mohr Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-453-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter [email protected]
INHALT
Vorwort Anmerkungen zur Schreib- und Zitierweise
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1. Eröffnung 1.1 Der islamische Religionsunterricht in der öffentlichen Schule 1.2 Lehrtexte als Objekte und Akteure 1.3 Die Verortung als Zweck der Lehrtexte 1.4 Unausgesprochene didaktische Entscheidungen 1.5 Zur Kontextualität von Verortung 1.5.1 Die Säkularität als Kontext islamischer Lehrtexte 1.5.2 Die Region als Kontext islamischer Lehrtexte 1.6 Fokus der Untersuchung: Auswahl, Anordnung und Bewertung der islamischen Quellen 1.7 Fokus der Untersuchung: Die Bedeutung von Gemeinschaft und Gesellschaft 1.8 Islam in Europa: Landkarte mit weißen Flecken 1.9 Aufbau der Untersuchung
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2. Rahmenbedingungen für den islamischen Religionsunterricht in Deutschland 3. Unterscheidung in Kern und Rand: Der Lehrplan für islamischen Religionsunterricht herausgegeben vom Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) 3.1 Der Lehrplan des ZMD als nordrhein-westfälisches Produkt 3.2 Der Konsens als Instrument für gemeinsames Handeln 3.3 Die Zugehörigkeit zur islamischen Gemeinschaft 3.3.1 Die Gottesfurcht als konstituierend für den inneren Kreis der Gemeinschaft 3.3.2 Die Bewertung von Handlungen als islamisch oder unislamisch 3.3.3 Die Unterscheidung von Innen und Außen 3.4 Das Andersdenken als Kriterium der Unterscheidung von Muslim und Nichtmuslim 3.5 Inhaltliche und formale Toleranz
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3.6 Die Glaubensgrundsätze als Kern der Gemeinschaft 3.7 Die Umma als Minderheit 3.8 Die Gemeinschaft in der Gesellschaft 3.9 Innermuslimische Vielfalt als Bereicherung und Zersplitterung 3.9.1 Einheit und Vielfalt in einer dialektischen Beziehung 3.9.2 Einheit und Vielfalt in einer polaren Beziehung 3.10 Kern und Rand der religiösen Quellen 3.10.1 Die vertraute Denkweise als Kriterium zur Auswahl von Interpretationen 3.10.2 Der ortlose Islam in Europa 3.10.3 Die Säkularisierung des Fiqh 3.10.4 Das Wissen: konstruiert mittels der Unterscheidung von Innen und Außen 3.10.5 Die Identität: konstruiert mittels der Unterscheidung von Innen und Außen 3.11 Fazit: Verortung in der und durch die Gemeinschaft 4. Erweiterung und Integration von Interpretationen: Die Lehrtexte des Instituts für Interreligiöse Pädagogik und Didaktik (IPD) 4.1 Die Texte: Rahmenplan, Materialien und Lehrbuch 4.2 Die koranische Didaktik als Variante des Korrelationsprinzips 4.2.1 Die Verortung gegenüber dem Koran 4.2.2 Die Verortung in der deutschen Sprache 4.2.3 Besser oder Schlechter: Der Elativ als Schutz vor dogmatischen Haltungen 4.2.4 Die Unterscheidung von Eng und Weit und ihre Anwendung im Fiqh 4.2.5 Die Zurückhaltung gegenüber dem Hadith 4.3 Die Integration von Welt im tau…ñd 4.3.1 Tau…ñd als Ausgangspunkt für Erziehung und Bildung 4.4 Argumente zur Gemeinschaft 4.4.1 Die Geschöpflichkeit 4.4.1.1 Die Identität als festes Grundwissen 4.4.2 Der Monotheismus als Grenze 4.4.3 Religion und Glaube in engeren und weiteren Bedeutungen 4.4.4 Exkurs: Das weibliche Geschlecht als Grund für Gemeinschaft 4.5 Der Einzelne und die Gemeinschaft: Eine spannungsreiche Beziehung gesteuert durch Verfahrenstechniken 4.6 Basis des islamischen dñn: Der verpflichtende Orientierungsrahmen 4.7 Der interreligiöse Dialog aus dem Koran heraus gelesen 4.8 Die deutsche Gesellschaft: Ein multireligiöses, pluralistisches Haus 4.9 Fazit: Der Islam als Wahrheit
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5. Exkurs: Der Rahmenplan des IPD in der Lesart der Islamischen Föderation in Berlin (IFB) 5.1 Der weite Weg der IFB in die öffentliche Schule 5.2 Die Verortungsbedürfnisse der IFB in den Rahmenplan des IPD hineingelesen 5.2.1 Die Unvereinbarkeit von Erweiterung und Eindeutigkeit 5.2.2 Die Bindung an die richtige Einstellung 5.2.3 Die Gottzentriertheit als Kehrseite der Geschöpflichkeit 5.2.4 Die Integration der Gemeinschaft im elementaren Wissen 5.2.5 Auf Platz eins der Agenda: Die Vermittlung eines Ethos 5.3 Fazit: Islamischer Religionsunterricht als niedrigschwelliges Breitenangebot 6. Ein Vergleich der Verortungsargumente des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD) und des Instituts für Interreligiöse Pädagogik und Didaktik (IPD) 6.1 Argumente zur Interpretation der Quellen 6.2 Argumente zur Säkularität 6.3 Argumente zur Gemeinschaft 6.4 Fazit: Unterschiedliche Lehrtexte für verschiedene Verortungsbedürfnisse 7. Islamischer Religionsunterricht in Österreich: Zwei Jahrzehnte Unterrichtspraxis 8. Universalisierung der hanafitischen Rechtsschule: Die Lehrtexte der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGgiÖ) 8.1 Die Texte: Lehrplan und Lehrbücher 8.2 Die Organisation von Wissen 8.2.1 Die ideale Lebenswelt 8.2.2 Die Einschulung in das gute Muslimsein 8.2.3 Lehrbücher als Lexika 8.2.4 Die Unterscheidung von richtigem und falschem Wissen 8.2.5 Der gerade Weg: Bild für die Ordnung des Lebens 8.2.6 Wissen im Wandel 8.2.6.1 Die IRPA als Garantin für die Kontinuität von Wissen 8.2.6.2 Die überlokale Verortung der IRPA 8.3 Die Verortung im islamischen Denken: Die Bevorzugung des Fiqh vor der Theologie 8.3.1 Die Theologie am Rande 8.3.2 Der Fiqh im Zentrum 8.4 Die Verortung in der Gemeinschaft 8.4.1 Formen der Zugehörigkeit: Prinzipiell, automatisch, definitiv 8.4.2 Die Priorität der Universalität im österreichischen Kontext 8.4.2.1 Die freundliche Assimilierung
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8.4.3 Die Universalisierung der hanafitischen Rechtsschule 8.4.3.1 Die Anerkennung der hanafitischen Rechtsschule durch die k. u. k. Monarchie 8.4.4 Die Monopolisierung der Interpretation 8.4.5 Die Organisation von Differenz am Beispiel der Schia 8.4.6 Der Hadith als Quelle des Fiqh 8.4.7 Der Koran als heiliges Buch 8.5 Die Gemeinde als Modus der Integration 8.5.1 Die Nachbarschaftlichkeit als Modus vivendi 8.6 Fazit: Religion als Obligation
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9. Die Lehrtexte aus Deutschland und Österreich im Vergleich 9.1 Die Lebenswirklichkeit der LehrplanerInnen als Kontext der Lehrtexte 9.2 Die Verortungsargumente des ZMD und der IGgiÖ im Vergleich 9.2.1 Der unausgesprochene Umgang mit den islamischen Quellentexten 9.2.2 Argumente zur Säkularität 9.2.3 Argumente zur Gemeinschaft 9.3 Fazit: Der gemeinsame Nenner
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10. Ein Ausflug in die niederländische Unterrichtslandschaft 10.1 Die Stadt Rotterdam und ihre Integrationspolitik
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11. Koordination muslimischer Interessen: Zwei Lehrtextsammlungen herausgegeben von der Stichting Platform Islamitische Organisaties Rijnmond (S.P.I.O.R.) 215 11.1 Die Verortung der S.P.I.O.R.: ausgesprochen sunnitisch 216 11.1.1 Die S.P.I.O.R. als Koordinatorin muslimischer Interessen 220 11.2 Die Genese der Lehrtexte 221 11.3 Argumente zur Gemeinschaft 228 11.3.1 Viele sunnitische Wege zu Gott 228 11.3.2 Instrumente für das Management von Differenz 230 11.3.3 Van Bommels Blick auf die Gemeinschaft und van Domburgs Blick auf deren Grenzen 232 11.3.4 Die agrarische moslimgemeenschap und ihre partikularen Interessen 234 11.4 Der Islam als Instrument der Integration 236 11.5 Das Universelle und das Partikulare als komplementäre Teile 239 11.6 Für eine kontextuelle Exegese des Koran 241 11.6.1 Die Prophetengeschichten traditionell erzählt 244 11.6.2 Eindeutige und mehrdeutige Quellentexte 246 11.6.3 Weltliche und religiöse Dimensionen des Islam 247 11.7 Fazit: Ein pragmatisches Nebeneinander verschiedener Interessen 250
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12. Schluss: Modi der Verortung sind Antworten auf Welterfahrung 12.1 Klassifikationen als Grundentscheidungen über die Ordnung der Welt 12.2 Zur Funktion von Leerstellen für die Praxis 12.3 Modi der Veränderung 12.4 Die Verortung der HerausgeberInnen 12.5 Ausblick auf die Entwicklung einer islamischen Fachdidaktik
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Anhang
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Literatur
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»Religion ist nicht das menschliche Denken vom Göttlichen; dazu wird sie nur, wo und inwiefern sie in Theologie übergeht. […] Religion ist vielmehr die Beziehung des Menschlichen zum Göttlichen. Diese Beziehung ist, in der Wirklichkeit des religiösen Lebens betrachtet, in die Gegenseitigkeit des Göttlichen und des Menschlichen eingeschlossen. Die Religionswissenschaft löst die Beziehung des Menschlichen zum Göttlichen, als das allein von ihr Erforschbare, aus der Gegenseitigkeit, und betrachtet sie für sich. Wenn sie weiß, was sie damit tut, handelt sie rechtmäßig, im Sinne der Rechtmäßigkeit jedes Erkenntnisstrebens, das seine normative Grenze nicht überschreitet, vielmehr sich dieser Grenze bewußt bleibt und seine Arbeit von ihr mitbestimmen läßt.« (Martin Buber: Nachlese, Gerlingen: Schneider 1993, S. 113f.)
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VORWORT
In den fünf Jahren, die ich über islamischen Religionsunterricht gearbeitet habe, bin ich immer wieder über die Frage gestolpert, wie der Anspruch der Wissenschaft auf Differenzierung angesichts der ganzheitlichen Perspektive der Gläubigen zu vermitteln ist. In manchen Gesprächen mit muslimischen LehrplanerInnen habe ich erlebt, dass sie zwischen einer historischen und metaphysischen Perspektive hin und her springen konnten. In anderen Begegnungen jedoch blieben Positionswechsel aus. In dem Fall geriet der Austausch über den gemeinsamen Gegenstand, den Religionsunterricht, spannungsreich, weil, wie Gudrun Krämer es beschreibt, die Bewegungsrichtungen des Denkens und Wollens einander entgegenliefen: »Yet even when we focus on plurality, polyphony and variation, major challenges remain, and they do so on several levels. Islamicists may insist on the plurality of Islam(s), they may use inverted commas to express their discomfort with essentializing terms, they may even deny that there is such a thing as Islam, or Islamic law, art or architecture. […] there still remains the fact that for ever so many Muslims, Islam is precisely the timeless, homogeneous and unique whole, the sum total of divinely ordained norms, values and aspirations Islamicists spend so much time and energy on ›deconstructing‹.«1
Das Dilemma besteht in der Unmöglichkeit, den Anderen so zu verstehen, wie er sich selbst versteht, und der Möglichkeit, ihn anders zu verstehen, als er sich selbst versteht.2 In meiner Untersuchung des islamischen Religionsunterrichts sind die Anderen die MuslimInnen, die einen Lehrtext entwickelt, herausgegeben oder zur Grundlage ihres Unterrichts gemacht haben. Die Frage, ob sie anders sind und sein dürfen und wie weit ihr Anderssein gehen darf, bewegt die europäischen Gesellschaften: Sie verhandeln darüber, wie weit MuslimInnen in einer pluralen Gesellschaft anerkannt werden sollen und wie weit ihre Fremdheit überwunden werden muss, um sie zu integrieren. Karl Ernst Nipkow warnt davor, unter der stillen Option der Angleichung an die Majoritätskultur zu schnell auf einen gemeinsamen Nenner zu drängen, das 1 Gudrun Krämer: »On Difference and Understanding. The Use and Abuse of the Study of Islam«, in: ISIM newsletter 5 (2000), S. 6f, hier S. 6. 2 Zur Möglichkeit, außenstehend Erfahrungen anderer in den Blick zu nehmen vgl. Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 145.
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Fremde sich anzueignen und ihm dadurch das Eigene zu enteignen.3 Friedhelm Kröll kritisiert diese Enteignung als fragmentierte Toleranz. Stattdessen solle man dem Reflex widerstehen, den Anderen zu etikettieren und zu katalogisieren, um ohne Angst verschieden sein zu können.4 Die Forderung nach Anerkennung des Wertes der Differenz steht heute auf vielen europäischen Agenden, auch auf muslimischen. Im Verlauf meiner Forschung habe ich erkannt, dass ich mein muslimisches Gegenüber als anders voraussetze.5 Dieser Prämisse war es geschuldet, wenn ich mit meinen Deutungen in einer Sackgasse landete. In solchen Fällen musste ich den Weg zurück bis zu den Daten gehen und noch einmal von vorne anfangen. Über meine Irrtümer habe ich gelernt, dass nicht Anerkennung von Differenz, sondern Offenheit den Anfang meines Dialogs markieren muss.6 An diesen Umwegen habe ich geübt, dem Reflex zu widerstehen, Lücken in der Argumentation eines Textes oder einer Person sofort mit meiner Interpretation zu schließen. Ich habe erfahren, dass ich überrascht werde, wenn ich die Lücken erst einmal offen lasse oder sie nicht als Lücke, sondern als Raum deute, der in der Logik eines Systems plausibel ist. Für diesen Schritt brauchte ich Distanz zu den eigenen Prämissen und Schlussfolgerungen, die ich – auch – der Geburt meiner Tochter Frida verdanke. In ihren ersten Lebensmonaten hat sie mich ganz und gar umgarnt, so dass ich später meinen Text neu betrachten und meine Aussagen neu gewichten konnte. Ich hatte viel Hilfe. Meine Doktormutter, Prof. Gudrun Krämer, hat ihren Finger behutsam auf Unstimmigkeiten, Redundanzen oder mäandernde Textläufe gelegt. Alexander Winker, Raimund Illing und Peter Ernst haben diesen Blick aufgenommen und meinen Texten zu einer klaren Sprache verholfen. Wenn ich in islamisch-theologischen und juristischen Debatten Orientierung suchte, habe ich Dr. Ralph Ghadban gefragt. Wollte ich Regional3 Vgl. Karl Ernst Nipkow: Bildung in einer pluralen Welt, Band 1: Moralpädagogik im Pluralismus, Gütersloh: Chr. Kaiser 1998, S. 192. 4 Vgl. Friedhelm Kröll: »Islamischer Schulunterricht in Wien«, in: Heinz Fassmann/Helga Matuschek/Elisabeth Menasse (Hg.), Abgrenzen, ausgrenzen, aufnehmen: Empirische Befunde zu Fremdenfeindlichkeit und Integration, Klagenfurt: Drava 1999, S. 221-252, hier S. 227. 5 Levinas spricht von der Anderheit des Anderen. Vgl. Emmanuel Levinas: Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, München, Wien: Hanser 1991, passim. 6 Silverman beschreibt den Einfluss der Annahme kultureller Differenz auf die Interpretation von Daten. Vgl. David Silverman: Interpreting Qualitative Data. Methods for Analysing Talk, Text and Interaction, London u.a.: Sage Publications 1993. S. 6; Zur offenen Strukturierung des Forschungsgegenstandes durch die Forschungssubjekte vgl. Werner Meinefeld: Realität und Konstruktion. Erkenntnistheoretische Grundlagen einer Methodologie der empirischen Sozialforschung, Opladen: Leske und Budrich 1995, S. 288f.
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VORWORT
spezifika diskutieren, also all die Fragen, die mit muslimischen Institutionen und Gesellschaften in Europa zu tun haben, blieb ich entweder bei Ralph sitzen, oder wandte mich an Prof. Jamal Malik, Dr. Gerdien Jonker und Dr. Nico Landman. Und schließlich hatte ich dort, wo meine Untersuchung des islamischen Religionsunterrichts naturgemäß immer wieder die Erziehungswissenschaft berührte, in Dr. Detlef Zöllner einen ausgewiesenen Schulpädagogen als Ratgeber. Ohne ihren Vater, die Tagesmutter und die Großeltern hätte meine Tochter nicht so eine gute Zeit und ich keine konzentrierte Zeit gehabt, um über Lehrtexten zu sitzen. Viele Köpfe und Hände haben dazu beigetragen, dass ich meinen Text nun auf den Weg schicke. Ihnen gilt mein besonderer Dank.
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ANMERKUNGEN ZUR SCHREIB- UND ZITIERWEISE
Aus dem Arabischen stammende islamische Termini oder Eigennamen sind in der vorliegenden Studie entweder den Regeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft folgend transkribiert oder, sofern sie auch der europäischen Öffentlichkeit geläufig sind, eingedeutscht. Dazu gehören Begriffe wie Scharia, Schia oder Fiqh. Arabische, türkische oder pakistanische Autorennamen sind so lange transkribiert, wie sie von den LehrplanerInnen nicht in einer deutschen oder englischen Übersetzung genannt beziehungsweise zitiert werden. In solchen Fällen habe ich die europäisierte Schreibweise ihrer Namen übernommen. Namen von Organisationen und Buchtitel, aber auch Begriffe, die den Lehrtexten entliehen werden, sind mindestens bei ihrer ersten Nennung im Text durch kursive Setzung kenntlich gemacht. Halbsätze und vollständige Sätze sind in Anführungszeichen zitiert.
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1. E R Ö F F N U N G
Am 4. November 1998 gab das Oberverwaltungsgericht Berlin dem Anspruch der Islamischen Föderation statt, an den öffentlichen Schulen der Stadt islamischen Religionsunterricht zu erteilen.1 Mit dem Urteil erhielt zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine islamische Religionsgemeinschaft Zugang zur öffentlichen Schule. Der Rechtsstreit rückte die Frage nach Form und Inhalt eines öffentlichen islamischen Unterrichtsangebots und, in der Folge, nach der Ausbildung der Lehrkräfte für das Fach islamische Religion ins Zentrum der Debatte um die Herausbildung eines deutschen Islam. Der muslimische Träger war gefragt, Ziele, Inhalte und eine Didaktik zu formulieren; Die Öffentlichkeit bewegte die Diskussion darüber, welche Forderungen an ein Unterrichtskonzept zu stellen sind, das vom Berliner Senat genehmigt werden muss. Auf Diskussionsveranstaltungen in Berlin wurde nach dem Urteil von 1998 immer wieder die Frage laut, wie denn in anderen europäischen Staaten an öffentlichen Schulen Islam gelehrt wird, und ob es Sinn mache, sich an den Erfahrungen der Nachbarn zu orientieren. Vor dem Hintergrund der Berliner Situation habe ich mich in Deutschland, Österreich und den Niederlanden auf die Suche nach originalen muslimischen Unterrichtskonzepten für die Schule gemacht. Ich wollte wissen, wie MuslimInnen in europäischen Kontexten ihre Religion organisieren, wohin sie Betonungen legen, was sie vernachlässigen, und wie sie meinen, islamische Inhalte am besten vermitteln zu können. Wissenschaftliche Literatur darüber, wie MuslimInnen in Europa Islam unterrichten, ist rar. In fast allen Fällen handelt es sich um Studien zu außerschulischen Angeboten einzelner Vereine, Verbände oder Moscheen. Systematisch betrachtet einzig die Schulbuchforschung einen Zusammenhang von Islam und Schule, und zwar mit der Frage, wie Islam in Fächern wie Geschichte, Sprache, Geographie oder Religion dargestellt ist. Allerdings bleibt hierbei der islamische Religionsunterricht als von MuslimInnen verantwortetes Fach unberücksichtigt. Die Schulbuchforschung trägt dazu bei, Vorurteile und Stereotypen in der Präsentation islamischer Inhalte aufzuzeigen und gibt Anstöße zur Revision von Lehrmaterialien und Curricula für die öffent-
1 Vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin: Urteil OVG 7 B, 4.98, verkündet am 4.11.1998.
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liche Schule.2 Für die Frage, wie MuslimInnen in Wien oder Rotterdam öffentlichen Religionsunterricht (mit)gestalten, musste ich mich den von ihnen entwickelten Lehrtexten zuwenden. Auf Reisen sammelte ich Rahmenpläne und Unterrichtsmaterialien, und fand beim Lesen bestätigt, dass sie mich an verschiedene Orte führen. Aus diesem ersten Eindruck entstand die noch offen formulierte Frage für die vorliegende rekonstruktiv angelegte Untersuchung: Welches Angebot machen Lehrtexte für den islamischen Religionsunterricht muslimischen SchülerInnen in Europa, um den Islam als Ressource für ein Leben in Gemeinschaft und Gesellschaft aufzuschließen? Wie diese Arbeit zeigen möchte, erzählen die Lehrtexte beispielhaft, wie MuslimInnen in Europa sich verorten, wie sie sich und die Welt entwerfen und erklären.
1.1 Der islamische Religionsunterricht in der öffentlichen Schule Wenn sich MuslimInnen in Europa mit einem religiösen Unterrichtsangebot in der öffentlichen Schule etablieren wollen, müssen sie ihre Inhalte und Ziele mit dem jeweils geltenden Schulrecht in Übereinstimmung bringen; Sie müssen den je aktuellen Standards religiöser oder religionskundlicher Bildung folgen – sei es im Bekenntnisunterricht, in der Religionskunde oder im interreligiösen Unterricht – und sind gezwungen, bei der Organisation ihres Unterrichts mit den Schulbehörden und -trägern zu kooperieren – ob nun auf kommunaler, föderaler oder staatlicher Ebene. Findet ein muslimischer Träger wie in Berlin die Form des konfessionsgebundenen Religionsunterrichts vor, ist er gefordert, den Islam parallel zu anderen Religionen oder Konfessionen zu systematisieren und zu klassifizieren. Bei aller strukturellen und pädagogisch-didaktischen Anpassung an eine spezifische Form religiöser Bildung verantworten die islamischen Gemeinschaften – je nach den gesetzlichen Bestimmungen der europäischen Staaten umfassender oder eingeschränkter – die Erziehungsziele und -vorstellungen, sowie theologische und anthropologische Inhalte, die der Unterricht transportiert. Der Religionsunterricht ist deshalb in der Terminologie Etienne Wengers
2 Vgl. die Publikationen des Georg-Eckert Instituts für Schulbuchforschung in Braunschweig, z.B. Abdoldjavad Falaturi/Udo Tworuschka: Der Islam im Unterricht. Beiträge zur interkulturellen Erziehung in Europa, Braunschweig: GeorgEckert-Institut für internationale Schulbuchforschung 1996; Vgl. auch Roger Foehrlé: L’Islam pour les Profs. Recherches pédagogiques, Paris: Éditions Karthala 1992.
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ERÖFFNUNG
ein boundary-subject, auf der Grenze verschiedener Einflüsse gelegen:3 Er gehört nicht allein in den Bereich der Autonomie einer Religionsgemeinschaft, sondern ebenso in den öffentlichen Raum der Schule. An der Schnittstelle zwischen islamischen Organisationen, Schulbehörden und -gesetzen sowie europäischen Gesellschaften gelegen, ist der islamische Religionsunterricht ihre gemeinsame Angelegenheit. Im deutschen und österreichischen Staatskirchenrecht kommt die gemeinsame Verantwortung von Staat und Religionsgemeinschaften für den Religionsunterricht im Terminus res mixta zum Ausdruck.
1.2 Lehrtexte als Objekte und Akteure Die Institution des öffentlichen Religionsunterrichts ist Anlass für die Bildung europäisch-islamischer Weltanschauungen. Diese, so wie sie in Lehr- und Rahmenpläne, Unterrichtsmaterialien und Kommentare gegossen sind, bilden in der vorliegenden Arbeit den Gegenstand der Betrachtung. Die Entscheidung, die Lehrtexte zum Dreh- und Angelpunkt der Analyse zu machen, erfolgte aus zwei Überlegungen heraus: 1. Das Phänomen des islamischen Religionsunterrichts in Europa ist so jung, dass es mancherorts zwar kaum Unterrichtspraxis, aber durchaus ein breites Angebot an Lehrtexten gibt – beispielsweise in Deutschland. In jedem Fall aber beanspruchen Lehrtexte, die Unterrichtspraxis grundzulegen. Es ist folglich plausibel, sich dem islamischen Religionsunterricht zuallererst über seine Texte zu nähern. 2. Die Lehrtexte erzählen bereits über eine Praxis: Sie geben Auskunft darüber, was zum Zeitpunkt ihrer Entwicklung und Herausgabe in einem bestimmten Kontext gebräuchlich war.4 Die didaktische Frage, auf die sie, ob reflektiert oder nicht, antworten, lautet: Was bedeutet ein Inhalt X heute und hier für die uns gestellte Aufgabe und für das von uns zu lebende Leben?5 3 Zum Begriff des boundary-subject vgl. Etienne Wenger: Communities of practice. Learning, meaning, and identity, Cambridge: Cambridge University Press 1998, S. 107. 4 »Jeder Versuch der Festsetzung eines Gültigen und Klassischen außerhalb der konkreten Situation und außerhalb des Lebensraumes, in dem die Bildung jeweils stattfindet, ist hoffnungslos, weil er eine metaphysische Einung voraussetzt, deren Fehlen alle unsere Überlegungen über die Auswahl und Konzentration der Bildungsinhalte gerade erst hervorgerufen hat.« Erich Weniger: Didaktik als Bildungslehre, Teil 1: Theorie der Bildungsinhalte und des Lehrplans, Weinheim: Verlag Julius Beltz 1963, S. 53. 5 Jeder Lehrtext stellt eine sozial konstruierte Auswahl aus einem kulturellen Erbe dar, ganz gleich ob es sich dabei um Wissensbestände, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Haltungen oder Werte handelt, durch die eine Gesellschaft oder Gemeinschaft sich selbst erhält und erfährt. Vgl. Stefan Hopmann/Rudolf Künzli: »Entschei-
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ISLAMISCHER RELIGIONSUNTERRICHT IN EUROPA
Ein Lehrtext transportiert die Bedeutung, die Menschen in einem spezifischen Kontext Ereignissen, Gegenständen und Symbolen geben. Damit LehrerInnen und SchülerInnen sich in Lehrtexten wiederfinden können, müssen diese die Bildungsgüter, auf die sich die lehrende Generation geeinigt hat, ebenso zum Ausdruck bringen wie die Fragen, die für das aktuelle und zukünftige Leben der SchülerInnen relevant sind beziehungsweise die Offenheit, diese Fragen immer wieder neu zu identifizieren. Lehrtexte veralten, wenn sich das Lehrgefüge verändert und das Verhältnis zu den als klassisch geltenden Bildungsgütern von den aktuellen Schlüsselfragen her neu definiert zu werden verlangt. »In the intervening years, some slogans have become risible, some words have become empty, and others too full, holding too much cruelty or bitterness to modern ears. Some names count for more, and others that count for less are due to be struck out. The revisionary effort is not aimed at producing the perfect optic flat. The mirror, if that is what history is, distorts as much after revision as it did before. The aim of revision is to get the distortions to match the mood of the present times.«6
Davon abgesehen, dass eine Momentaufnahme veraltet, entwickelt sie ein Eigenleben, das über ihren Entstehungskontext hinausgeht. Dies gilt auch für Lehrtexte. Sie erlangen eine graduelle Autonomie gegenüber ihrem Entstehungszusammenhang und -zweck.7 Bei der Analyse der Lehrtexte geht es zuerst einmal darum, sie als Produkte einer Praxis zu rekonstruieren, also diejenigen Verfahren und Methoden der Interpretation und Reflexion zu erkennen, die in den Texten zur Anwendung kommen.8 Teil dieser Rekonstruktion ist die Auseinandersetzung mit den AutorInnen und HerausgeberInnen der Lehrtexte, mit denjenigen also, deren Praxis – so ist anzunehmen – den Lehrtexten zugrunde liegt. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, wie die Lehrtexte von denjenigen, die sie im Unterricht anwenden, gelesen werden. Das ist umso wichtiger, als ein Lehrtext oft über mehrere Generationen hinweg bindend ist. Gerade für die islamischen Lehrtexte in Europa ist ja charakteristisch, dass ihnen die historische Tiefe fehlt. Sie haben weder Vorgänger noch Nachfolger.9 Zwar ist in
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dungsfelder der Lehrplanarbeit. Grundzüge einer Theorie der Lehrplanung«, in: Rudolf Künzli/Stefan Hopmann (Hg.), Lehrpläne: Wie sie entwickelt werden und was von ihnen erwartet wird. Forschungsstand, Zugänge und Ergebnisse aus der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland, Zürich: Rüegger 1998, S. 20. Mary Douglas: How Institutions Think, London: Routledge & Kegan Paul 1987, S. 69. Vgl. E. Wenger: Communities of practice, S. 61f. Vgl. Ralf Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden, Opladen: Leske + Budrich 2003, S. 25. Für die staatlich verantwortete Islamische Unterweisung in Nordrhein-Westfalen und Bayern sind 2005 neue Lehrpläne vorgelegt worden. Allerdings sind diese ersten Lehrpläne der zweiten Generation nicht muslimisch verantwortet.
ERÖFFNUNG
Österreich der islamische Religionsunterricht immerhin beinahe zwanzig Jahre alt. Aber auch in Wien arbeiten die muslimischen LehrerInnen noch mit den ersten Texten. In solchen Fällen die Lehrenden zu ihrer Sicht auf die Lehrtexte zu befragen, hilft, ihre von der Praxis der LehrplanerInnen zu unterscheiden. Zu der Frage schließlich, wie muslimische Kinder und Jugendliche im Religionsunterricht die Lehrtexte lesen, bleibt die vorliegende Untersuchung stumm. Sie ist eine eigene Studie wert.
1.3 Die Verortung als Zweck der Lehrtexte Friedhelm Kröll hat den islamischen Religionsunterricht eine Institution der Ortung und ein Organ der Selbst-Verortung genannt. Dort werden mit der nachwachsenden Generation Fragen, Probleme und Angebote verhandelt, die ihr helfen sollen, sich zu orientieren.10 Für die Analyse der Lehrtexte habe ich den Begriff der Verortung dem der Identität vorgezogen. Identität impliziert die Konstruktion des Selbst aus der Unterscheidung des Selben und des Anderen und betont somit zwangsläufig die Gemeinschaft und ihre Grenzen. Verortung ist offener. Sie kann, muss aber nicht mit der Grenze arbeiten wie die Identität. Verortung rekurriert auf einen Raum, den jemand besetzt, nicht ausschließend, dass auch andere ihn beleben.11 Die AutorInnen stellen sich in den Lehrtexten in einer bestimmten Weise gegenüber den Dingen und an verschiedenen Orten der Welt auf: Sie verorten sich. Der Begriff ermöglicht einen offenen Blick auf die Praxis muslimischer ExpertInnen. Besonders die räumliche Dimension der Verortung ist dem gewählten Gegenstand angemessen, denn sie erinnert daran, dass es sich bei den diversen Lehrtextsammlungen für den islamischen Religionsunterricht um lokale Produkte handelt. Auf der Suche nach geeigneten Instrumenten für die Analyse der Lehrtexte habe ich die Kategorie der Verortung mit der des Arguments gekoppelt. Argumente explizieren, wie die Welt organisiert wird. Sie rationalisieren Weltbilder. Wie Max Weber sagt, ist das, was von einem bestimmten Blickpunkt aus rational ist, von einem anderen aus betrachtet irrational.12 Mithin kann ein Gegenstand unter höchst verschiedenen Gesichtspunkten und Zielrichtungen rationalisiert werden. In der Analyse der Lehrtexte wird es darum gehen, anhand von Argumenten ihre innere Logik kennen zu lernen. 10 Vgl. Friedhelm Kröll u.a.: Integration oder Fremdenfähigkeit. Islamischer Schulunterricht in Wien: Problempotentiale. Kulturelle Relationen, unveröffentlichter Projektbericht, Wien 1998, S. 44. 11 Malik spricht von überlappenden oder oszillierenden Identitäten. Vgl. Jamal Malik: »Introduction», in: Jamal Malik (Hg.), Perspectives of mutual encounters in South Asian history 1760-1860, Leiden u.a.: Brill 2000, S. 4f. 12 Vgl. Max Weber: Die prostestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung, hrsg. von Johannes Winckelmann, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2000, S. 20, 84f.
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Verortung und Argumentation zusammen zu denken hilft, Verortungen nicht statisch, sondern kontextuell zu verstehen. Indem ich mich eines Arguments bediene, verorte ich mich, manchmal nur für die Dauer eines Gesprächs, manchmal nur in der ersten Version eines Textes. Verortungen so zu begreifen, führt ihre Veränderlichkeit, auch ohne die Plastizität historischer Tiefe, immer wieder vor Augen. Insofern ist das Argument ein probates Analyseobjekt, um möglichst heterogene Formen von Verortungsangeboten zu entdecken. Deshalb lautete die erkenntnisleitende Frage zu Beginn der Untersuchung, wie LehrplanerInnen sich mithilfe von Argumenten verorten, wie sie also in ihren Argumenten den Dingen einen Ort zuweisen, eine kognitive Landkarte erstellen. Ein gängiges Argument der befragten LehrplanerInnen beispielsweise lautete, über die Grundlagen des Islam sei man sich innermuslimisch sowieso einig, und nur diese seien im Rahmen des Religionsunterrichts relevant. Das Argument begründet, warum die Lehrtexte keine Angaben zu ihrer religiöstheologischen Ausrichtung enthalten. Es weist der Einigkeit unter MuslimInnen einen festen Ort zu. Das Argument trug dazu bei, nach der ersten Durchsicht der Texte im Verlauf der Engführung des qualitativen Vorgehens eine These zu korrigieren.13 Davon ausgehend, dass es eine zentrale Aufgabe des Religionsunterrichts ist, Kindern und Jugendlichen Orientierungen anzubieten, hatte ich erwartet, dass die Lehrtexte die religiös-theologischen Positionen des jeweiligen muslimischen Anbieters explizieren würden. Nachfragen an die LehrplanerInnen ergaben, dass das Argument zur Einigkeit über die Grundlagen des Islam auf das konkrete Lehrgefüge zurückweist: Da es in der Schule in der Regel nur ein Angebot für islamischen Religionsunterricht gibt, muss dieses offen genug sein, um alle muslimischen SchülerInnen einzubinden. Angesichts dieser Herausforderung sind in Lehrtexten und Kommentaren Formulierungen zum theologischen Ansatz, zur Art des Umgangs mit den Quellen oder Angaben zur Sekundärliteratur vermieden. Denn solche Positionierungen tragen Differenz. Gregory Starrett beschreibt dasselbe Vorgehen als charakteristisch für das öffentliche Erziehungswesen in Ägypten und Oman: Es ignoriere Unterschiede zwischen verschiedenen Strömungen und Schulen und stelle den Glauben vereinheitlicht, als mit einer Stimme sprechend, dar.14 Religiöstheologische Verortung findet trotzdem statt, aber nicht in objektivierten Kategorien, wie in der Zuordnung zu Schulen, Orden, Strömungen oder Gelehrten, sondern implizit, also in der Praxis der Auswahl von Quellen, in deren Inter13 Es gehört zu den Charakteristika qualitativer Methodologie, dass sie in einer frühen Forschungsphase Fragestellung, Instrumentarium und Hypothesen entwickelt. Vgl. D. Silverman: Interpreting Qualitative Data, S. 2. 14 Vgl. Gregory Starrett: Putting Islam to Work. Education, Politics and Religious Transformation in Egypt, Berkeley u.a.: University of California Press 1998, S. 9f.
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pretation und Gewichtung. Die Analyse der Argumente allein war folglich nicht ausreichend, um die Praxis der Texte zu beschreiben, sondern nur ein erster Schritt.
1.4 Unausgesprochene didaktische Entscheidungen Die Instrumente zur Analyse wurden im Verlauf der Untersuchung aus der Betrachtung des Gegenstandes und der Modifizierung von Thesen entwickelt. Den Ausgangspunkt markierte die Aussage von Peter L. Berger, Religion werde in jeweils aktuellen Lebensumständen beständig umgestaltet und reproduziert.15 Ihr folgend war anzunehmen, dass der Islam für die europäische Schule, für einen neuen Kontext, neu organisiert werden müsse. Die Akteure, die LehrplanerInnen, allerdings sind keineswegs immer MigrantInnen, die islamische Referenten in einen neuen Kontext übersetzen müssten. Die meisten sind einheimische MuslimInnen, die zwei vertraute Systeme, die öffentliche Schule und die islamische Religion, zu verbinden suchen. Die Aufbereitung des Islam für die europäische Schule zeigt sich nicht in einem elaborierten Code, in einem explizierenden Sprachstil, der die Übersetzung islamischer Inhalte in die Form des öffentlichen Religionsunterrichts gießt, und so eine neue Praxis begleitet und begründet.16 Wie bereits angesprochen, zeichnen sich die Lehrtexte überwiegend dadurch aus, dass wesentliche Grundannahmen und Regeln unausgesprochen sind. Zwar setzt die Aufbereitung des Islam für die Schule einen interpretativen Prozess voraus: »If religion is to be brought into and integrated with the national education, then this implies an interpretive, creative effort on the part of committed intellectuals so that religion not only is rescued from obscurantism and apologetics but helps make national life meaningful by giving it a new moral orientation.«17
Jedoch, Regeln und Prämissen zu explizieren ist Ergebnis von Reflexion und setzt voraus, dass ein Bruch zwischen Wirklichkeit und mentaler Landkarte empfunden wird. Zusätzlich muss der Kontext das Sichtbarwerden des Bruchs erlauben. Wo zum Beispiel eine explizite Neu-Verortung in der islamischen Geschichte – und zwar aus europäischer Sicht für die europäische Schule – dazu führen könnte, dass ein Lehrtext viele muslimische SchülerInnen und ihre Eltern erst gar nicht erreicht, wird sie wohl vernünftigerweise unterbleiben. 15 Vgl. Peter L. Berger: Dialektik von Religion und Gesellschaft, Frankfurt/Main: Fischer 1988, S. 122f. 16 Zum elaborierten Code vgl. Mary Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik, Frankfurt/Main: Fischer 1998. 17 Fazlur Rahman: Islam and Modernity. Transformation of an Intellectual Tradition, Chicago: University of Chicago Press 1982, S. 96, 124.
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Das Implizite jedenfalls, das dokumentieren die Lehrtexte, trägt nicht weniger Bedeutung als das Explizite. Das nicht bewusste, manchmal vergessene, manchmal ausgelassene praktische Wissen ist ebenso funktional wie das Explizite.18 Und es kann ebenso sichtbar gemacht werden. Ein Instrument zur Entdeckung der impliziten Logik habe ich bei Mary Douglas gefunden. Sie vergleicht Industriegesellschaften und Stammeskulturen anhand ihrer Klassifikationssysteme. Diese, so arbeitet Douglas heraus, enthalten Grundannahmen, die so lange unausgesprochen bleiben, wie sie ein kohärentes, also plausibles Weltbild einer Gruppe organisieren, wie sie auf einem Konsens beruhen, also gängige Praxis bilden. Jedes Argument, alles Explizite, ist deshalb umso plausibler, je naturalisierter die Vorannahmen sind, auf denen es beruht.19 Das Explizite ist Resultat implizit bleibender Prämissen und Regeln und bildet diese ab. Explizites und Implizites verhalten sich zueinander wie das Positiv und das Negativ in der Fotografie. Argumente auf die sie begründenden Klassifikationsmuster zur Ordnung der Welt zu befragen, erfordert, sie als Teile eines Systems zu betrachten, also Argumente zueinander und zu den Leerstellen im Text in Beziehung zu setzen. Die Praxis der Lehrtexte zu befragen hieße in der Formulierung des Sozialforschers David Silverman: »What do people have to do to be doing X?«20 Um also kommentarlos einen einzigen Gebetsritus darzustellen, müssen die LehrplanerInnen entscheiden, das Gebet in seinem Ablauf zu behandeln. Sie müssen außerdem übergehen, dass es außer dem abgebildeten Ritus weitere gibt. Die Didaktik ist zwar die wichtigste Gestaltungskraft von Islam für Schule und Unterricht, ihre Wirkungen jedoch sind so enorm, dass sie, mindestens in der ersten Generation der Lehrtexte, implizit bleibt. Die Modi der Auswahl von Unterrichtsinhalten werden nicht begründet, fundiert oder weiterentwickelt werden.
1.5 Zur Kontextualität von Verortung Um die Praxis der Lehrtexte zu entziffern, so kristallisierte sich im Forschungsverlauf heraus, hilft der Kontext. Deshalb ist er zu einem Instrument der Analyse geworden. Die Kontextualität der Lehrtexte stellt sich darin her, dass sie sich in Beziehung zu ihren Bedingungen setzen lassen. Die Bedingungen ihrer Entstehung erst lassen die Lehrtexte plausibel werden, erklären sie; Die Bedingungen derer, die später die Lehrtexte herausgeben oder lesen erst lassen ihre Lesarten plausibel werden. Die Argumente eines Textes, aber auch 18 Vgl. M. Douglas: How Institutions Think, S. 76. 19 Zu Kohärenz vgl. ebd., S. 90. 20 D. Silverman: Interpreting Qualitative Data, S. 29.
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seine Leerstellen, sind Antworten auf einen Kontext.21 Wenn es in der Schule nur ein islamisches Bildungsangebot geben kann, werden die Lehrtexte diese Bedingung verarbeiten. Ebenso zeigen sie, an welchen Vorbildern sie sich orientieren, ob etwa an dem nordrhein-westfälischen Rahmenplan für evangelische Religion oder an den Lehrbüchern für islamischen Religionsunterricht in türkischen Schulen. Die Praxis der Texte und ihr Kontext werden im Hin- und Her des Suchens und Befragens erkennbar. Allerdings kommt bereits Max Weber zu dem Schluss, dass sich religiöse Gedankeninhalte nicht ökonomisch deduzieren lassen, sondern eine Eigengesetzlichkeit in sich tragen.22 Es ist deshalb nicht zu erwarten, dass sich jeder Aspekt der Praxis wie ein Puzzlestück in einen Rahmen einordnen lässt. Unter die Überschrift der Kontextualität gehört auch die Frage nach dem Kräftespiel zwischen einer als universalistisch wahrgenommenen Religion und ihrer je lokalen Ausformung. Denn Kontextualität anerkennt ja die Beziehung zwischen Weltanschauung und Welt. Was jedoch wofür ursächlich ist, ob Religion für Kultur oder umgekehrt, ist im Rahmen dieser Untersuchung nicht zu entscheiden und müßig; ob es, wie Said Amir Arjomand resümiert, eher die universalistische Tradition ist, die auf eine bestimmte Lokalität einwirkt, oder umgekehrt.23 Meiner Erfahrung nach ist diese Entscheidung eine Frage der Perspektive des Betrachters. Außerhalb eines Glaubensystems stehend ist es einleuchtend, wie Clifford Geertz von der Wechselseitigkeit des Einflusses einer universalistischen Idee und einer spezifischen Lokalität auszugehen: »Rather, what we have is the examination of a set of independent yet connected developments – historically connected, spiritually connected, increasingly these days politically connected – none of them privileged, and each of them responsive at once to the great normative tradition originating in and centered on the Qur’an, the Hadith, and the Shari’a, and to local circumstances. The picture that is drawn is not one of the opposition of the first of these, the normative tradition, to the other, local circumstances – a pure creed surviving, if a bit tarnished and periodically repolished, in a corrupting environment. It is one of their interpenetration – creed and setting coinformed. Whether in a Tlemceni »school of thought«, an Algerian »house of science«, an Indo-Persian »Sufi order«, or a Nepalese »reformist movement«, the attempt is to see Islam as lived by particular peoples, at particular places, and particular times, while, at the same time, locating, precisely in these variations, the larger unities that make it a universal religion with a unique identity, a distinctive way of being in the world.«24 21 Silverman spricht sogar von der Produktion des Kontextes durch die Akteure. Vgl. D. Silverman, Interpreting Qualitative Data, S. 8. 22 Vgl. M. Weber: Die prostestantische Ethik I, S. 269. 23 Vgl. Said Amir Arjomand: »Postface«, in: Hassan Elboudrari (Hg.), Modes de transmission de la culture religieuse en Islam, Kairo: Institut Francais d’Archéologie Orientale du Caire 1993, S. 281, 285. 24 Clifford Geertz: »Préface«, in: Ebd., S. VI.
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1.5.1 Die Säkularität als Kontext islamischer Lehrtexte Ein Beispiel dafür, wie Texte über ihren Kontext Auskunft geben, ohne ihn zum Gegenstand zu machen, bieten die hier aufgerufenen Lehrtexte in ihrer Beziehung zu »Europa«. Die Durchsicht der Lehrtexte ergab, dass Argumente aus dem Diskurs über den Muslim und Europa, ob als Muslim in Europa oder als europäischer Muslim, gänzlich fehlen. Europa ist kein Unterrichtsgegenstand. Der fehlende argumentative Bezug zu Europa liegt darin begründet, dass Europa als gesellschaftlicher Horizont zu weit entfernt bleibt. Denn mindestens in der Grundschule gilt das didaktische Prinzip, sich vom Nahen zum Fernen zu bewegen: Also mit der Weltaneignung in der Klasse zu beginnen, sich dann ins Dorf beziehungsweise in den Kiez, in die Stadt und die Region vorzutasten und schließlich an die einzelstaatlichen Grenzen zu stoßen. Europa erreicht das Grundschulkind nicht. Wenn schon nicht Gegenstand der Lehrtexte, so hätte Europa doch Horizont und Raum für die Kooperation in der Curriculumentwicklung sein können. Immerhin spricht Muhammad Salim Abdullah davon, der eingewanderte Islam habe sich längst der politischen Geographie des europäischen Raumes angepasst und agiere entsprechend grenzüberschreitend. Deshalb sei es geradezu verhängnisvoll, wollte man in diesem Feld von nationalen Kategorien ausgehen.25 Dies trifft für den Aufbau von islamischen Organisationen zu. In der Entwicklung von Curricula und Lehrmaterialien allerdings lassen sich keine übernationalen Kooperationen feststellen. In diesem Bereich ist Europa kein Horizont für Austausch und Zusammenarbeit. Als solcher eignet sich Europa nicht, weil der schulische Religionsunterricht eng in ein kommunal, föderal und national verankertes Schul- und Verfassungsrecht eingebunden ist und auf dieses zugeschnitten sein muss. Betrachtet man im Gegensatz dazu die außerschulischen Unterrichtskonzepte einzelner islamischer Verbände, so findet man in diesem vereinsrechtlichen Rahmen durchaus grenzüberschreitende Modelle – wie Gerdien Jonker in ihrer Studie über den Verband Islamischer Kulturzentren (VIKZ) zeigt. Jonker bezieht sich zwar in erster Linie auf Gemeinden in Deutschland, findet jedoch in niederländischen Moscheen des VIKZ die gleichen Strukturen und Inhalte wieder.26 Es bleibt die Frage, inwiefern die hier berücksichtigten muslimischen HerausgeberInnen in ihrem Verortungsangebot dennoch auf einen europäischen Kontext verwiesen sind. Was haben Nordrhein-Westfalen, Wien und Rotterdam gemeinsam, dass es ermöglicht, sie mit Blick auf ihr islamisches Bildungsangebot für öffentliche Schulen zu vergleichen? Obwohl Europa weder als Gegenstand, noch als Rahmen für Austausch und Zusammenarbeit fun25 Vgl. Muhammad Salim Abdullah: Was will der Islam in Deutschland? Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1993, S. 20. 26 Vgl. Gerdien Jonker: Eine Wellenlänge zu Gott. Der ›Verband der Islamischen Kulturzentren‹ in Europa, Bielefeld: transcript 2002.
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giert, ist doch in den Staaten der Europäischen Union ein Verständnis von Säkularität verankert, das der Religion in der Schule einen spezifischen Ort zuweist. MuslimInnen in Europa sehen sich, anders als in arabischen Staaten oder in der Türkei, nicht einem staatlichen Islam und dessen Institutionen gegenüber. Religionsgemeinschaften in Europa sind entweder vereinsrechtlich oder körperschaftlich organisiert und in jedem Fall eigenständige Partner des Staates, so auch im öffentlichen Religionsunterricht. Ein von einer Religionsbehörde verantworteter Religionsunterricht wie in der Türkei oder in Ägypten ist mit dieser verfassten Säkularität unvereinbar. So verstanden bildet Europa einen Raum ähnlich organisierter, wenn auch unterschiedlich akzentuierter Säkularität. Sie ist Bedingung der islamischen Lehrtexte. In diesem durch Ähnlichkeiten geprägten Raum schieben sich sogleich die Unterschiede nach vorn, sobald eine konkrete Situation in den Blick gerät. Wenn in Wien die Evangelische Kirche zusammen mit der Islamischen Glaubensgemeinschaft eine Veranstaltung zum Thema »Religion und Schule« organisiert, sitzen die ZuhörerInnen womöglich einem evangelischen Religionslehrer und einer muslimischen Religionslehrerin gegenüber, die von den Tücken ihrer Praxis erzählen. Die beiden – so ist offensichtlich – haben viel gemeinsam. Sie gehören je einer Minderheitenreligion an, und müssen ihren Religionsunterricht, der ihnen de jure zusteht, am Nachmittag in verwaisten Schulgebäuden, ohne Kontakt zum Lehrerkollegium oder der übrigen Schülerschaft, in heterogenen Gruppen organisieren. In Österreich bekennen sich immer noch zirka 75 Prozent der Bevölkerung zum katholischen Glauben, die Evangelische Kirche wie die Islamische Religionsgemeinschaft zählen je weniger als 5 Prozent zu ihren Mitgliedern. Eine ähnliche Veranstaltung ist in Berlin unwahrscheinlich. Dort ist die Evangelische Kirche, stärkste Konfession in der Stadt, mal Ratgeber und Helfer, mal Kritiker der islamischen Vereine auf ihrem Weg in die Institutionalisierung. Die Beziehung ist eher hierarchisch als gleichberechtigt. Die Verschiedenartigkeit der Wiener und Berliner Situation ist offensichtlich. Dennoch, der Blick über die Grenze hilft zu verstehen, wie die Nachbarn ihre Situation organisieren und verspricht Anregungen – ohne dass deshalb die Wiener Lösung auf die Berliner Problematik übertragbar wäre. 1.5.2 Die Region als Kontext islamischer Lehrtexte Ausgehend von denjenigen europäischen Staaten, deren muslimische Bevölkerungen eine demographische und diskursive Bedeutung angenommen haben, waren sinnvolle Einheiten für einen Vergleich islamischer Lehrtexte zu wählen. Da der schulische Religionsunterricht vielerorts föderal oder sogar kommunal realisiert wird, wäre ein interstaatlicher Vergleich zu grob ausgefallen. Die Situation in Nordrhein-Westfalen ist ebenso wenig auf Deutschland insgesamt hochzurechnen wie diejenige in Rotterdam auf die gesamten Niederlande. »Regionen« wie Nordrhein-Westfalen, Wien und Rotterdam zu
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vergleichen, bot sich an, weil jede von ihnen einen Raum gleicher Bedingungen für den Religionsunterricht begründet: Nordrhein-Westfalen besitzt als Bundesland die Hoheit über das öffentliche Erziehungswesen. Dementsprechend wird der Religionsunterricht anhand von verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorgaben aus Düsseldorf gestaltet. In Österreich ist der Religionsunterricht wie die öffentliche Schule insgesamt zwar über Bundesgesetze geregelt. Der islamische Religionsunterricht in Wien unterscheidet sich folglich in seiner Konzeption nicht von demjenigen in Salzburg. Für die Analyse der österreichischen Lehrtexte ist dennoch der Hintergrund der Region Wien gewählt worden, um der Auswertung der immerhin zirka zwanzig Jahre alten Lehrtexte eine Befragung Wiener ReligionslehrerInnen zur Seite stellen zu können. Die Gespräche mit den Lehrenden versprachen Einblicke in die aktuelle Lesart der Texte. Die Religionsgemeinde Wien ist Trägerin der Islamischen Religionspädagogischen Akademie (IRPA), die im Prozess der Interpretation der Lehrtexte durch den Lehrkörper eine wichtige Rolle spielt. Wien verhält sich zu Österreich wie das Zentrum zur Peripherie. Die Kommune Rotterdam schließlich ist eine, wenn auch kleine Verwaltungseinheit im europäischen Sinne, insofern sie Trägerin der öffentlichen Schule und somit auch des islamischen Religionsunterrichts in der Stadt ist. Die drei ausgewählten Regionen mit ihren je spezifischen Rahmenbedingungen für den öffentlichen Religionsunterricht bilden eine kontrastreiche Vergleichsgruppe: Der föderal verfasste Religionsunterricht Nordrhein-Westfalens, der zentral geregelte Unterricht in Wien beziehungsweise in Österreich wie der kommunal verantwortete in Rotterdam zeigen ihre Charakteristika erst in der Gegenüberstellung. Sie sind einander Vergleichshorizonte.27 Für Nordrhein-Westfalen, Wien und Rotterdam als zu vergleichende Regionen sprach, dass die dort entwickelten islamischen Lehrtexte über ihren Entstehungs- und Wirkungsrahmen hinaus bekannt geworden sind. Die hier entstandenen Programme sind gekennzeichnet durch Originalität, das heißt, sie alle präsentieren eine kreative Lösung für eine als neu gewürdigte Situation. Dadurch exponieren sie sich. Das ist keinesfalls selbstverständlich. Denn wie Mohammed de Zeeuw in seiner Evaluation des niederländischsprachigen Materials für den islamischen Religionsunterricht resigniert feststellt, bieten die meisten islamischen Organisationen ausschließlich Übersetzungen von Unterrichtsmaterial aus der Türkei, aus arabischen Ländern oder Übersetzungen von Übersetzungen aus England oder den USA an.28
27 Vgl. R. Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 38. 28 Mohammed de Zeeuw: Islamitisch godsdienstlesmateriaal in Nederland, Nieuwegein: IPC 1998, o.S.
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1.6 Fokus der Untersuchung: Auswahl, Anordnung und Bewertung der islamischen Quellen Muslimische Anbieter für Religionsunterricht sind in ein Set von Texten eingebunden: In die religiösen Quellen des Islam, Koran und Sunna, die den autoritativen Ausgangspunkt für ihre Praxis bilden.29 Um verbindliche Verortungen zu organisieren, beziehen die Lehrtexte sich auf diese Quellentexte. Ein Fokus dieser Arbeit liegt deshalb auf der Art und Weise, wie die LehrplanerInnen welche (didaktischen) Entscheidungen treffen, wenn sie die islamischen Quellen bearbeiten: Mithilfe welcher Auswahl, Anordnung, Betonung oder Vernachlässigung von Texten, mittels welcher Methoden der Interpretation, mit Bezug auf welche Interpreten.30 Ein schönes Beispiel für eine Verortung gegenüber den Quellen bietet die Argumentation von Abdul Hadi Christian Hoffmann zum theologischen Konzept des ta™dñd – wörtlich: Erneuerung. Er versteht darunter die Grundhaltung, seine Handlungsweisen ständig daraufhin zu überprüfen, ob man sein tägliches Leben tatsächlich auf der Basis der universellen Botschaft des Islam führt, dabei annehmend, dass der Koran nicht jeden einzelnen Schritt normiert, sondern im Gegenteil der Anteil der rechtsnormierenden Vorschriften relativ gering ist und die Menschen selbst Verordnungen erarbeiten müssen. Hoffmann unterscheidet ta™dñd von Säkularismus zum einen und Traditionalismus zum anderen und begründet aus ihm heraus seine Haltung gegenüber den Quellen.31 Seine Argumentation stützt er ausschließlich auf koranische Texte. Die zweite Textquelle des Islam, den Hadith, ignoriert Hoffmann. Bei Hoffmann, aber auch in den Lehrtexten, um die es im Folgenden gehen wird, fällt auf, dass der Umgang mit den Quellen aus der Praxis erkennbar und nicht expliziert wird. Die LehrplanerInnen klären in der Regel nicht vorab, welche Natur sie den Texten zuschreiben: Ob sie diese grundsätzlich für 29 MacIntyre nimmt an, dass alle Religionen von autoritativen Texten ausgehen. Vgl. A. Macyntyre: Whose Justice? Which Rationality? London: Duckworth 1988, S. 383. 30 Rahman beschreibt, wie im Widerstand gegen die Kolonialherren besonders solche Verse betont wurden, die die Stärken und Potentiale der muslimischen Gemeinschaft hervorheben konnten. Vgl. F. Rahman: Islam and Modernity. Transformation of an Intellectual Tradition, S. 55. »[…] the genesis and development of the whole Islamic tradition – the way the Qur’an and the Sunna of the Prophet were approached, treated, and interpreted – was only one possible alternative among those available, which was chosen and developed.« Ebd., S. 101. Landman bezieht auch die Gründung islamischer Schulen in den Niederlanden auf eine je spezifische Verortung in den Quellen. Vgl. Nico Landman: Van mat tot minaret. De institutionalisering van de islam in Nederland, Amsterdam: VU Uitgeverij 1992, S. 267. 31 Vgl. Abdul Hadi Christian Hoffmann: »Islam und Luther«, in: Sonderdruck aus Orient 41, Hamburg: Deutsches Orient-Institut 2000, S. 153-168, hier S. 157.
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interpretierbar und somit ihre Religion für veränderbar halten; ob ihnen ein Text zwar im Wortlaut als unveränderlich gilt, aber als flexibel in der Konfrontation mit der menschlichen Vernunft – wie Nasr Hamid Abu Zaid sagt; und ob sie diese Natur für den Korantext insgesamt annehmen oder nur für Teile des Textes, die sie als unklar oder mehrdeutig markieren;32 oder wem sie die Fähigkeit zusprechen, die Quellen zu interpretieren. Die Lehrtexte geben überwiegend keine direkten Antworten auf diese Fragen. Der Bezug zu den Quellen, Koran und Sunna, ist explizit, nicht aber die Art und Weise des Bezugs. Die einzige Evaluation von Lehrmaterial für islamischen Religionsunterricht aus den Niederlanden kritisiert eben diesen Mangel an ausgesprochenen Positionen. Er verhindere, dass die LehrerInnen die präsentierten Inhalte einordnen können.33 Mohammed de Zeeuw plädiert in seiner Kritik für die Wahl des wissenschaftlichen Sprachspiels, in dem die Legitimierung der Aussagen wichtigstes Kriterium ist.34 Die Lehrtexte jedoch folgen, manche ungebrochen, manche teilweise, dem, was Jean-Francois Lyotard das Sprachspiel der Erzählungen nennt. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass es »[…] die Frage nach seiner eigenen Legitimierung nicht zur Geltung bringt, es beglaubigt sich selbst durch die Pragmatik seiner Übermittlung, ohne auf Argumentation und Beweisführung zurückzugreifen.«35 Dennoch, auch wenn die LehrplanerInnen sämtlich keine expliziten Verortungen gegenüber den Quellen vornehmen, wird die Praxis der Verortung in der Auswahl, Anordnung und Bewertung der Texte, in der didaktischen Praxis, erkennbar. Sie ist gerade aufgrund ihres Unausgesprochen-Bleibens so bedeutsam, weil sie nur auf diese Weise Regeln und Normen vermitteln kann, die unhinterfragt und unhinterfragbar sind.36 Die offene Fragestellung hat zu Tage gefördert, dass, wie Pierre Bourdieu es formuliert, das Eigentümliche einer Praxis gerade in der Tatsache begründet liegt, dass sie bestimmte Fragen ausschließt.37 Welche Fragen nicht gestellt und welche Aussagen nicht getrof32 Vgl. Nasr Hamid Abu Zaid: Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses, Frankfurt/Main: dipa-Verlag 1996, S. 86, 91. 33 Vgl. M. de Zeeuw: Islamitisch godsdienstlesmateriaal in Nederland, o.S. 34 »Der Wissenschaftler fragt nach der Gültigkeit narrativer Aussagen und stellt fest, dass sie niemals der Argumentation und dem Beweis unterworfen sind. Er ordnet sie einer anderen Mentalität zu: Wild, primitiv, unterentwickelt, rückständig, verwirrt, aus Meinungen bestehend […]« Jean-Francois Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien: Passagen 1999, S. 85. 35 Ebd., S. 84. 36 Die Bedeutung impliziter Regeln zeigt auch die Studie von Werner Schiffauer u.a. über die Stile politischer Enkulturation in der Schule. Vgl. Werner Schiffauer u.a. (Hg.): Staat – Schule – Ethnizität. Politische Sozialisation von Immigrantenkindern in vier europäischen Ländern, Münster u.a.: Waxmann 2002. 37 Die offene Fragehaltung bewahrt zugleich davor, sich nicht »in eine Suche nach Antworten auf Fragen zu stürzen, die die Praxis nicht stellt und nicht stellen
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fen sind, wird oft erst im Vergleich verschiedener Verortungsangebote sichtbar.
1.7 Fokus der Untersuchung: Die Bedeutung von Gemeinschaft und Gesellschaft In Zusammenhang mit der Frage, wie sich die LehrplanerInnen gegenüber den religiösen Quellen verorten, steht diejenige, wie sie sich in der Welt verorten. Muhammad Salim Abdullah schreibt im Vorwort zu der deutschen Koranübersetzung von Adel Theodor Khoury, die Frage, ob und wie der Koran interpretiert werden darf, sei der Angelpunkt für eine islamische Ökumene. Anzuerkennen, dass andere MuslimInnen einen exegetischen Ansatz vertreten, der dem eigenen Verständnis widerspricht, ist Abdullah zufolge nicht nur die Voraussetzung für jeden innermuslimischen Austausch, sondern im Besonderen auch für einen die islamischen Glaubensrichtungen übergreifenden Religionsunterricht.38 Das Argument von Abdullah verdeutlicht, dass die Verortung gegenüber den Quellen zugleich eine weltanschauliche Verortung ist, mit ihr also jede Verortung in der Welt, in Gemeinschaft und Gesellschaft, bereits gegeben ist. Ebenso wie jeder Lehrtext für den islamischen Religionsunterricht eine Verortung gegenüber den religiösen Quellen beinhaltet, spricht er über die Verortung seiner AutorInnen in einer als muslimisch gekennzeichneten Gemeinschaft. Er zeigt, wie Gemeinschaft konstruiert ist, wer dazugehört, wer gegenüber oder nebenan lebt und was das Gemeinsame, das Verbindende ihrer Mitglieder ist. Gemeinschaft ist ein Konzept, das, wie das der religiösen Quellen, geeignet ist, mit sehr verschiedenen Bedeutungsinhalten gefüllt zu werden. Aus dem Umstand, dass islamischer Religionsunterricht in Europa immer konfessionsübergreifend ist, in dem Sinne, dass er verschiedene islamische Glaubensrichtungen zu integrieren beabsichtigt, ergibt sich die Frage, wie innere Vielfalt in einem einzigen Unterrichtsangebot bedient und abgebildet wird: Stellen die Lehrtexte einen Bezug zu historischen und geistigen Strömungen des Islam, zu Eliten und Gelehrten her? Wie gehen sie mit der Existenz verschiedener theologischer Schulen, Rechtsschulen oder Orden um? kann«. Vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976, S. 243. 38 Vgl. M.S. Abdullah: Was will der Islam in Deutschland? S. XXXV. »In any consideration of what constitutes Islamic practice, it is important to consider […] internal debate over »correct« traditions, a dimension that focuses attention on existing power relations within and impinging on particular societies.« Dale F. Eickelman: The Middle East and Central Asia. An Anthropological Approach, New Jersey: Prentice-Hall 1998, S. 255.
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Falls überhaupt, wie benennen sie Differenzen, und auf welche religiösen Instanzen für die theologische Fundierung des Unterrichts berufen sie sich?39 All diese Bezüge wie auch ihr Fehlen liefern Hinweise darauf, welche Angebote SchülerInnen gemacht werden, sich in einer Gemeinschaft zu verorten. Argumente zur Gemeinschaft geben der Kategorie der Gemeinschaft erst Bedeutung.40 Ein Beispiel: Der Gebrauch des arabischen Begriffs für Gemeinschaft, Umma, wird von vielen Interpreten auf die Gemeinschaft der MuslimInnen angewendet.41 Dass das Konzept der Umma auch für den Rest der Menschheit geöffnet werden kann, zeigt die Auslegung des deutschen Muslim Wolf Ahmed Aries.42 Er leitet die Bedeutung der Umma aus dem Schöpfungsakt her, der von einem Schöpfer und einer Schöpfung bestimmt sei. Der Mensch sei Stellvertreter und die menschliche Gemeinschaft darum eine Umma. Daraus, dass es keinen schöpfungsfreien Raum gebe, folgert Aries, dass Pluralismus islamisch-theologisch selbstverständlich sein muss, da es nichts geben kann, was nicht von Gott geschaffen ist. Aries bezieht sich in seinem Argument zur Umma auf die in der deutschen Debatte am häufigsten gehörten Argumente zum muslimischen Umgang mit Pluralität. Der Vorwurf, MuslimInnen seien antipluralistisch, sowohl was die Vielfalt an Interpretationen des Islam betrifft, als auch – nach Außen – was die Akzeptanz der pluralistischen Gesellschaft, der Demokratie und des Säkularismus betrifft, ist durch die Medien hinlänglich bekannt. Es geht hier nicht darum, Aries’ Argument zu bewerten. Entscheidend ist, dass und wie er sich über die Öffnung der Umma nicht nur in einer muslimischen, sondern zugleich in der deutschen und europäischen Gesellschaft positioniert – für einen deutschen Muslim eine nachvollziehbare Form, Welt zu organisieren. Das Beispiel Aries’ zeigt, wie die Art und Weise der Verortung in der Gemeinschaft unmittelbar an die Verortung in der Gesellschaft gekoppelt ist. Diese 39 Eine Rechtsschule ist eine Institution, die die Vorschriften für das rituelle Verhalten und die juristischen Anweisungen für das soziale Leben auf die Lebensführung des Menschen anwendet. Orden dagegen versuchen die Verbindung zwischen Text und Welt mithilfe der Empfindungen herzustellen. Ihr Ziel ist die Erfahrung von Transzendenz. Ein Orden ist in der Regel hierarchisch strukturiert und organisiert Bildung und spirituelle Führung über ein enges Lehrer-SchülerVerhältnis. 40 Vgl. Anthony P. Cohen: The symbolic construction of community, London: Tavistock Publications 1985, S. 15. 41 Bernard Lewis übersetzt Umma als »Volk« oder »Gemeinschaft« und führt Beispiele für den vielfältigen Gebrauch des Begriffs im Koran an. Vgl. Bernard Lewis: Die politische Sprache des Islam, Berlin: Rotbuch Verlag 1991, S. 37, 61. Vgl. auch Tilman Nagel: Der Koran. Einführung – Texte – Erläuterungen, München: Beck 1983, S. 125, 345. 42 Aries war Vorsitzender der gemeinsamen Kommission für Islamischen Religionsunterricht (KIRU) des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD) und des Islamrats für die Bundesrepublik Deutschland (IR).
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Beziehung dokumentieren auch die islamischen Lehrtexte. So greifen die LehrplanerInnen, um die Grenzen von Gemeinschaft zu definieren, auf Klassifizierungen zurück, die sie bereits für die Strukturierung der islamischen Gemeinschaft – und im Übrigen auch für die Organisation der religiösen Texte – gebraucht haben: Auf Unterscheidungen in Innen und Außen oder in Kern und Rand. Über den Horizont der muslimischen Gemeinschaft hinaus verorten sich die LehrplanerInnen also in der Gesellschaft. Gemeinschaft ist, wie Anthony P. Cohen sagt, eine relationale Idee, sie impliziert die Beziehung zu anderen Gemeinschaften oder allgemeiner zu anderen sozialen Gruppen. Jede Gemeinschaft ist deshalb von anderen Gemeinschaften beziehungsweise von der Gesellschaft immer in irgendeiner Weise unterschieden, abgegrenzt und zugleich auf sie bezogen. Die Lehrtexte geben darüber Auskunft, welche Bedeutung ihre AutorInnen der Kategorie Gemeinschaft geben. Cohen nennt dies den symbolischen Aspekt von Gemeinschaft.43 Er instruiert nicht über die soziale Wirklichkeit einer muslimischen Gemeinschaft, sondern über die Weltsicht derer, die den Begriff in spezifischer Weise benutzen. Wie Anthony P. Cohen es formuliert: »[…] community is largely in the mind.«44 Kategorien und Klassifizierungen sind hilfreich, denn sie stellen eine Voraussetzung stabiler sozialer Beziehungen dar.45 Sie machen Verortungen stabil. So arbeitet beispielsweise der Religionsunterricht mit einer Unterscheidung des Eigenen – hier in Anlehnung an Emmanuel Levinas das Selbe genannt – vom Anderen.46 Ein gängiges Argument, auch für den islamischen Religionsunterricht, lautet deshalb, dass zuerst die eigene Position gefunden, gekannt und verstanden werden müsse, bevor man sich dem Anderen zuwendet. Das Gegenargument bedient sich gleichfalls dieser Kategorien und stellt eine dialektische Beziehung zwischen dem Selben und dem Anderen her. So wird der interreligiöse Unterricht in Hamburg aus der Annahme begründet, das Selbe und das Andere würden in einem ständigen Prozess des Pendelns ausgebildet. In einem konfessionell begründeten Religionsunterricht aber fehle der Andere systemisch.47 Die Grundentscheidung, die Welt in Selbe und 43 44 45 46
Vgl. A. P. Cohen: The symbolic construction of community, S. 12. Ebd., S. 114. Vgl. M. Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik, S. 84, 197. Das Selbe wird hier im Sinne des Gleichen wie bei E. Levinas: Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, S. 65, verstanden und kann sich somit auch auf die selbe, also eigene Gemeinschaft beziehen, während das Selbst das Ich meint. 47 Grundlegend für diesen interreligiösen oder auch dialogischen Religionsunterricht ist Martin Bubers Prinzip der Ich-Du Beziehung, der zufolge der Mensch sein Ich nur in der Beziehung zum Du, zum anderen Menschen bzw. Gott, entwickeln kann. Vgl. Wolfram Weisse/Thorsten Knauth: »Dialogical Religious Education. Theoretical Framework and Conceptional Conclusions«, in: Trees
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Andere zu ordnen, bleibt über die Frage, wie viele Konfessionen der öffentliche Religionsunterricht abbilden soll, hinaus stabil.
1.8 Islam in Europa: Landkarte mit weißen Flecken Der religiöse Unterricht islamischer Organisationen in europäischen Kontexten ist bislang wenig erforscht. Einzelne Studien widmen sich der außerschulischen, gemeinschaftlich organisierten, häufig als Koranschul- oder Moscheeunterricht bezeichneten Erziehung. Hierzu ist vor allem die Dissertation von Hasan Alacacıo÷lu zu nennen, der anhand von Interviews den religiösen Unterricht der großen türkisch dominierten Vereine in Deutschland untersucht und gegenüberstellt.48 Einblick in das Bildungsangebot des Verbands Islamischer Kulturzentren (VIKZ) mit seinem in Stufen gegliederten Wissen gibt Gerdien Jonker im Rahmen ihrer Studie über die Strukturen des VIKZ in Europa.49 Sorgfältige, rekonstruktive Untersuchungen zu einzelnen islamischen Dachorganisationen liegen auch für die Niederlande vor.50 Zum öffentlichen islamischen Religionsunterricht in den Staaten meiner Vergleichsgruppe sind mir nur zwei Arbeiten bekannt. Beide sind weder über den Buchhandel noch über Bibliotheken zu beziehen. Eine ist die bereits angesprochene Evaluation des niederländischsprachigen Lehrmaterials für islamischen Religionsunterricht von Mohammed de Zeeuw, in Auftrag gegeben vom Islamitisch Pedagogisch Centrum (IPC). Die Arbeit ist als geheftete Kopie über das IPC und den Autor zu beziehen. Ursprünglich gedacht als Vorarbeit für die Entwicklung eigener Lehrtexte betont sie die fehlende Eignung der Texte für den Religionsunterricht an niederländischen Schulen.51 Die zweite Studie, die unmittelbar den öffentlichen islamischen Religionsunterricht zu ihrem Gegenstand macht, ist in den 1990er Jahren vom österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr in Auftrag gegeben worden. Der Sozialwissenschaftler Friedhelm Kröll und eine Gruppe Studierender sollten muslimische wie nichtmuslimische ExpertInnen, die am Prozess der
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Andree/Cok Bakker/Peter Schreiner (Hg.), Crossing Boundaries. Contributions to Interreligious and Intercultural Education, Münster 1997, S. 30-52, hier S. 35. Hasan Alacacıo÷lu: Ausserschulischer Religionsunterricht für muslimische Kinder und Jugendliche türkischer Nationalität in NRW, Münster: LIT Verlag 1998. Gerdien Jonker: Eine Wellenlänge zu Gott. Der ›Verband der Islamischen Kulturzentren‹ in Europa, Bielefeld: transcript 2002. Z.B. die Arbeiten von Kadir Canatan: Turkse Islam. Perspectieven op organisatievorming en leiderschap in Nederland, Dissertation, Erasmus Universiteit Rotterdam 2001; Thijl Sunier: Islam in Beweging. Turkse Jongeren en Islamitische Organisaties, Amsterdam: Het Spinhuis 1996. Mohammed de Zeeuw: Islamitisch godsdienstlesmateriaal in Nederland, Nieuwegein: IPC 1998.
ERÖFFNUNG
Institutionalisierung des islamischen Religionsunterrichts beteiligt waren, nach seinen integrativen Funktionen befragen.52 Die umfangreiche und äußerst instruierende Studie ist ausschließlich über den Leiter des wissenschaftlichen Projekts einsehbar. Das Ministerium hat sich entschieden, nur eine Zusammenfassung der Ergebnisse zu publizieren.53 In Deutschland stellen eine Handvoll Publikationen die Diskussion über den islamischen Religionsunterricht dar oder bilden ein Forum für diese. Sie dokumentieren das breite Interesse der Öffentlichkeit an der Debatte – Ausdruck dafür, dass in Deutschland noch die Frage, wer Träger des islamischen Religionsunterrichts sein könnte, verhandelt wird. Jüngere Beispiele sind die Magisterarbeit von Ali-Özgür Özdil über Aktuelle Debatten zum Islamunterricht in Deutschland aus dem Jahr 1999 oder die Dokumentation Islamischer Religionsunterricht. Ein Lesebuch, herausgegeben vom Comenius-Institut in Münster.54 Forschung zur Unterrichtspraxis wäre dann zu erwarten gewesen, wenn eine externe wissenschaftliche Evaluation gefordert geworden oder erwünscht gewesen wäre. Dies ist in keinem der drei europäischen Kontexte der Fall: In Deutschland gibt es bislang nur die Unterrichtspraxis der Islamischen Föderation in Berlin (IFB), die als verantwortliche Religionsgemeinschaft eine Evaluation nur selbst in Auftrag geben kann. Dies ist bislang nicht geschehen. Die Gutachten des Berliner Schulsenats, die sich auf den von der Föderation eingereichten Rahmenplan beziehen, oder diejenigen der Schulbehörden anderer Bundesländer sind unveröffentlicht geblieben. In Österreich ist der Religionsunterricht Sache der Kirchen und Religionsgemeinschaften und wird daher ebenso wenig im Auftrag der Schulbehörde evaluiert wie der in Berlin. Für die Niederlande gilt dasselbe. Dort stammt der einzige Versuch, islamischen Unterricht zu bewerten, vom Verfassungsschutz, der in der Folge des 11. Septembers 2001 Träger islamischer Schulen, Lehrmaterialien und LehrerInnen auf eine etwaige fundamentalistische Ausrichtung untersucht hat.55 Wie die wenigen Forschungsarbeiten zum islamischen Religionsunterricht in Europa, so gehört auch das der vorliegenden Untersuchung zugrunde gelegte Material in den Bereich der grauen Literatur. Die Rahmenpläne und Unter52 Friedhelm Kröll u.a.: Integration oder Fremdenfähigkeit. Islamischer Schulunterricht in Wien: Problempotentiale, Kulturelle Relationen, (unveröffentlichter Projektbericht), Wien 1998. 53 Friedhelm Kröll: »Islamischer Schulunterricht in Wien«, in: Heinz Fassmann/ Helga Matuschek/Elisabeth Menasse (Hg.), Abgrenzen, ausgrenzen, aufnehmen: Empirische Befunde zu Fremdenfeindlichkeit und Integration, Klagenfurt: Drava 1999, S. 221-252. 54 Peter Schreiner/Karen Wulff (Hg.), Islamischer Religionsunterricht. Ein Lesebuch, Münster: Comenius Institut 2001. 55 Vgl. Binnenlandse Veiligheidsdienst (Hg.): De democratische rechtsorde en Islamitisch onderwijs. Buitenlandse inmenging en anti-integratieve tendensen, o.O. Februar 2002.
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richtsmaterialien für den islamischen Religionsunterricht, zugleich Gegenstand und wichtigster Datenträger, waren in jedem Fall nur über die HerausgeberInnen zu beziehen. Zusätzlich halfen Kommentare zu Lehrtexten, Satzungen und Verfassungen der herausgebenden Institutionen, Pressemitteilungen und Briefe, die spezifischen Verortungsangebote zu rekonstruieren. Die Lehrtexte können nicht erzählen, wie ihre AutorInnen mit den HerausgeberInnen Inhalte, Agenden und Intentionen verhandelt haben, wie vielleicht im Zuge dessen Prämissen ausgesprochen und Regeln versprachlicht worden sind. Sie zeichnen auch nicht den weiten Weg nach, den LehrplanerInnen gemeinsam gegangen sind, bevor sie sich auf einen Text einigen konnten. Das jeweilige Ergebnis für sich ist Zeuge einer Praxis, Ausdruck der Gemengelage aller beteiligten Akteure. Um die Texte im Licht ihrer Geschichte lesen zu können, habe ich die LehrplanerInnen, HerausgeberInnen und LehrerInnen erzählen lassen. Im Austausch mit den Beteiligten ging es aber nicht nur um die Abfrage zusätzlicher Informationen, sondern ebenso um die Rückkoppelung von Erkenntnissen. Die Weiter- oder Rückgabe von Forschungsergebnissen an die Beforschten öffnet den Raum, um wechselseitig Deutungen zu korrigieren, neue Argumente zu gewinnen, aber auch, sich über die Verschiedenheit der Perspektiven zu verständigen und um an Fragen und Inkohärenzen weiter zu arbeiten.56 Die Gespräche sind überwiegend elektronisch aufgezeichnet und verschriftlicht worden. Sie wurden dann den KooperationspartnerInnen zurückgegeben, so dass diese nach Wunsch noch einmal in das Gespräch einsteigen konnten. Aus diesen Protokollen ist in den empirischen Kapiteln zitiert. Zusätzlich sind aufschlussreiche Passagen im Anhang abgelegt. In einzelnen Gesprächen und in Hospitationen ist auf eine Tonbandaufnahme verzichtet worden, um die ohnehin gespannte oder durch Unsicherheit geprägte Situation nicht zu verstärken. In diesen Fällen liegt ein Gedächtnisprotokoll vor, das zwar als Beleg dient, aber nicht zitiert und auch nicht angehängt wurde.
1.9 Aufbau der Untersuchung Die bisher spärlichen Forschungen zum islamischen Religionsunterricht in Deutschland, Österreich oder den Niederlanden lassen es nicht zu, für die Thesen- und Theoriebildung auf bereits vorliegende Ergebnisse zurückzugreifen. Deshalb werden der Gegenstand sowie für ihn relevante Fragestellungen und weiterführende Thesen in vier Einzelfallstudien herausgearbeitet. Die relativ offene Frage nach Argumenten zur (Selbst-)Verortung und aus ihr entwickelte Thesen und Vorannahmen sind im Verlauf der Datenerhebung und 56 Die Prinzipien der Offenheit und der Kommunikation dienen der methodischen Kontrolle. Vgl. R. Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 21f.
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ERÖFFNUNG
Exploration für jedes Unterrichtsmodell differenziert und ebenso wieder geöffnet worden.57 Die ersten beiden Textsammlungen für den islamischen Religionsunterricht, die als Einzelfälle dargestellt werden, stammen aus Nordrhein-Westfalen. Herausgeber sind der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) und das Institut für Interreligiöse Pädagogik und Didaktik (IPD). Ihnen ist ein Kapitel zur Einführung in die deutschen Rahmenbedingungen für den islamischen Religionsunterricht vorangestellt. Ein Exkurs nach Berlin macht die Lesart des vom IPD herausgegebenen Lehrmaterials durch die Islamische Föderation in Berlin (IFB) anschaulich. Die Ergebnisse aus diesem ersten empirischen Block werden in einem Vergleich der Verortungsangebote des ZMD und des IPD zusammengefasst. Der zweite Teil der empirischen Untersuchung beginnt mit einem Kapitel zu den Rahmenbedingungen für den islamischen Religionsunterricht in Österreich. Daran schließt sich die Analyse der Lehrtexte der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGgiÖ) an. Der Fallanalyse folgt ein zweites Vergleichskapitel. Darin werden die Verortungsangebote des Zentralrats und der IGgiÖ als Organisationen, die mit dem Anspruch auftreten, Religionsgemeinschaften zu sein, einander gegenübergestellt. Der dritte und letzte empirische Teil enthält eine Einführung in das niederländische Schulwesen und die Integrationspolitik der Kommune Rotterdam, die den Rahmen für die vierte Fallstudie – der von der S.P.I.O.R., der Stichting Platform Islamitische Organisaties Rijnmond herausgegebenen Lehrtexte – bilden. Im Schlussteil werden die Verortungsangebote aller berücksichtigten Lehrtextsammlungen und ihrer HerausgeberInnen noch einmal gebündelt und anhand der im Forschungsprozess erarbeiteten Kategorien charakterisiert.
57 Um Zirkelschlüsse zu vermeiden, werden Thesen für jeden neuen Fall neu hinterfragt. Vgl. ebd., S. 29f.
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2. R A H M E N B E D I N G U N G E N F Ü R D E N I S L A M I S C H E N RELIGIONSUNTERRICHT IN DEUTSCHLAND
Als Vorbereitung auf die Analyse nordrhein-westfälischer Lehrtexte für islamischen Religionsunterricht bietet es sich an, in die Rahmenbedingungen für diesen Unterricht einzuführen und mit den Argumenten vertraut zu machen, die im föderal angelegten Tauziehen um den islamischen Religionsunterricht in Deutschland verhandelt werden. Einer Schätzung des Islam-Archivs zufolge leben in Deutschland 800.000 muslimische Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren. Die Bundesregierung geht von 700.000 muslimischen SchülerInnen aus.1 Sie sind die Zielgruppe für einen islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen im Sinne von Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes. Dieser würde unter deutscher Schulaufsicht im Umfang von zwei Wochenstunden von muslimischen LehrerInnen mit entsprechender Lehrbefähigung und nach Bevollmächtigung durch eine islamische Religionsgemeinschaft durchgeführt. Der ordentliche Religionsunterricht fände in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften statt und wäre je nach Landesverfassung und Schulgesetzgebung föderal zu realisieren. Er ist eine so genannte res mixta, eine gemeinsame Angelegenheit von Staat und Religionsgemeinschaften. Zur Einrichtung dieses Unterrichts nach Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes fehlt bislang der muslimische Partner, der als von der Anhängerschaft des Islam autorisierte Instanz die Grundsätze der islamischen Religion gegenüber dem Staat festlegen könnte.2 Mit anderen Worten: Es fehlt dem Staat eine islamische Religionsgemeinschaft. Islamische Organisationen allerdings bestehen darauf, dass mit ihnen solche Ansprechpartner bereits zur Verfügung stehen. Als solche verstehen sich beispielsweise die drei bundesweit agierenden Dachverbände Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB)3, Islamrat für die Bundesrepublik 1 Vgl. Deutscher Bundestag: »Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Jürgen Rüttgers u.a.«, in: Drucksache 14/2301: Islam in Deutschland 11 (2000), S. 40; Vgl. Zentralinstitut Islam-Archiv Deutschland (Hg.): Frühjahrsumfrage »Neue Daten und Fakten über den Islam in Deutschland«, Soest 2004. 2 Vgl. Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FESt): Die verfassungsrechtliche Möglichkeit islamischen Religionsunterrichts – Entwurf einer Empfehlung, o.O. 2001, S. 2f. 3 DITIB ist die Abkürzung für Diyanet Iúleri Türk-Islam Birli÷i.
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Deutschland (IR) und Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) beziehungsweise ihre föderalen Ableger. Die DITIB vertritt ausschließlich und der Islamrat in der Hauptsache MuslimInnen türkischer Herkunft. Der Zentralrat hat eine breite ethnische Basis und überdacht eher kleine Vereine. Laut Schätzungen des Zentrums für Türkeistudien repräsentieren die drei Dachverbände zusammen nur zehn bis zwanzig Prozent der türkischen und türkischstämmigen Gesamtbevölkerung in Deutschland.4 Die große Mehrheit von MuslimInnen in Deutschland ist nicht organisiert. In Ermangelung einer verbindlichen islamischen Instanz haben diejenigen Bundesländer mit einem relevanten muslimischen Bevölkerungsanteil bereits in den 1980er Jahren Übergangslösungen etabliert, um muslimische, de facto vorwiegend türkischsprachige Kinder in ihrer Religion zu unterrichten. Da die Länder die Hoheit über ihr öffentliches Erziehungswesen halten, variieren die Lösungsansätze.5 In den meisten Fällen wird Islam als Teil von Landeskunde im muttersprachlichen Unterricht gelehrt. Darüber hinaus üben sich zunehmend mehr Länder, darunter Nordrhein-Westfalen, Bayern, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz, in Schulversuchen zum islamischen Religionsunterricht, die sie zwar offiziell allein verantworten, die aber faktisch unter Beteiligung islamischer Vereine und Expertise konzipiert und durchgeführt werden. Partner sind dabei in einigen Fällen diejenigen islamischen Vereine, die bei den Kultusministerien Anträge auf Erteilung von islamischem Religionsunterricht gestellt haben, in anderen Fällen sind es lokale Gemeinden oder muslimische LehrerInnen. Inzwischen wird in Deutschland nicht mehr darüber gestritten, ob islamischer Religionsunterricht eingeführt werden sollte, sondern wer ihn als Partner des Staates verantworten kann. Mittlerweile sind mehrere Lehrpläne veröffentlicht worden. Unter den Herausgebern ist der ZMD mit Sitz in Köln. Bei seiner Gründung 1994 gehörte der Zentralrat zu den größten islamischen Dachverbänden in Deutschland, was die Zahl der geschätzten affiliierten MuslimInnen betrifft. Mit dem Austritt seines stärksten Mitgliedvereins, des Verbands Islamischer Kulturzentren (VIKZ) im Jahr 2000, hat er sich beträchtlich verkleinert, gehört aber weiterhin zu den öffentlich sichtbaren Vertretungen von MuslimInnen in Deutschland. Angaben des Islam-Archivs in Soest zufolge vertritt der Zentralrat rund 4.000 der 370.000 organisierten MuslimInnen in Deutschland.6 Sein Lehrplan für die 1. bis 4. Klasse der 4 Vgl. Ali-Özgür Özdil: Aktuelle Debatten zum Islamunterricht in Deutschland, Hamburg: E.B.-Verlag 1999, S. 65. 5 Einen Überblick über diese Zwischenlösungen bietet Irka-Christin Mohr: »Von der Islamkunde zum ordentlichen Religionsunterricht: Der Islam unterwegs in die öffentliche Schule in Deutschland«, in: Michael Klöcker/Udo Tworuschka (Hg.), Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland, München: Olzog 2005, IV 3.3.1. 6 Zitiert in »Offene Moscheen«, in: taz vom 15.9.2001.
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RAHMENBEDINGUNGEN FÜR DEN IRU IN DEUTSCHLAND
Grundschule wird Gegenstand des ersten empirischen Kapitels sein. Bei dem 1999 veröffentlichten Vorschlag handelt es sich nicht nur um den ersten Lehrplan eines islamischen Dachverbands in Deutschland, er stammt zugleich aus der Feder einer Organisation, die mit dem Anspruch auftritt, eine Religionsgemeinschaft zu sein. In Nordrhein-Westfalen wurden danach weitere Lehrtexte geschrieben, die für eine muslimische beziehungsweise für eine alevitische Zielgruppe bundesweit interessant sind: Darunter ist der Lehrplan des Kölner Instituts für Interreligiöse Pädagogik und Didaktik (IPD), dem das zweite empirische Kapitel gewidmet ist. Als Expertinnenorganisation hat das IPD einen alternativen Vorschlag zum Lehrplan des Zentralrats vorlegen wollen, ohne sich als Konkurrentin zu verstehen. In der gemeinsamen Kommission für Islamischen Religionsunterricht (KIRU) des ZMD und des IR waren beide Texte Ausgangspunkt innermuslimischer Diskussionen um einen gesamtdeutschen islamischen Unterrichtsentwurf.7 Abgesehen von diesen in sunnitischen Kreisen diskutierten Lehrplänen stammt auch der Unterrichtsentwurf der Föderation der Aleviten Gemeinden in Deutschland (AABF) für einen alevitischen Religionsunterricht aus Nordrhein-Westfalen, genauer gesagt aus Köln. Kein anderes Bundesland ist in der islamischen Curriculumentwicklung so produktiv. In Deutschland bestimmt die Aushandlung und nicht die Unterrichtspraxis die Debatte um den islamischen Religionsunterricht. Diesen Umstand bilden auch die wenigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen ab, die sich auf organisatorische, strukturelle und diskursive Aspekte beziehen.8 Zwei Schlüsselargumente aus der Debatte sollen hier angesprochen sein, weil sie das Klima der Aushandlung beziehungsweise die sie begründenden Vorannahmen offen legen. In beiden Argumenten geht es um die »Veröffentlichung« der islamischen Erziehung. Das erste, bereits in den 1980er Jahren bekannte und bis heute regelmäßig genutzte Argument für den islamischen Religionsunterricht stellt in Aussicht, dass muslimische Kinder mit Hilfe eines schulischen Bildungsangebots aus den unkontrollierbaren und uneinsehbaren Hinterhofmoscheen herausgeholt werden könnten.9 In einer Umfrage des Islam-Archivs äußerten 96,2 Prozent der sich selbst als muslimisch bezeichnenden Befragten 7 Vgl. Nadeem Elyas: »Unsere heranwachsende muslimische Generation braucht eine Orientierung«, in: Al-Fadschr 97 (2000), S. 20. 8 Z.B. Ali-Özgür Özdil: Aktuelle Debatten zum Islamunterricht in Deutschland, Hamburg: E.B.-Verlag 1999; Adnan Aslan: Religiöse Erziehung der muslimischen Kinder in Deutschland und Österreich, Stuttgart: Islamisches Sozialdienstund Informationszentrum 1998; Rolf Busch (Hg.): Integration und Religion. Islamischer Religionsunterricht an Berliner Schulen, Berlin: dahlem university press 2000. 9 Vgl. Deutscher Bundestag: »Protokolle der 170. Sitzung des Plenums des Deutschen Bundestages vom 25.5.2001, Islam in Deutschland«, in: www.bundestag. de/pp/170 vom 28. Mai 2001, S. 18.
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den Wunsch nach einem islamischen Religionsunterricht in der Schule. Und nur 2,3 Prozent waren für eine Abschaffung der Korankurse im Falle der Einführung des schulischen Unterrichts.10 Die Zahlen legen nahe, dass die Korankurse und der öffentliche islamische Religionsunterricht zukünftig als parallele und komplementäre Angebote wahrgenommen werden, dass also der Unterricht in der Moschee – vergleichbar den christlichen Bildungsangeboten in den Kirchen zur Vorbereitung auf Kommunion und Firmung beziehungsweise Konfirmation – nicht aussterben wird.11 Dennoch hält sich das Argument. Es zeigt das Misstrauen gegenüber der privaten islamischen Bildung. Und es stellt die Auflösung des Misstrauens für den Fall in Aussicht, dass die undurchschaubare Praxis der Hinterhoferziehung durch ihre Veröffentlichung kontrollierbar wird. Das zweite Argument richtet sich zwar nicht gegen ein öffentliches islamisches Bildungsangebot per se, aber gegen die Ausführenden. In der Berliner Presse liest man immer wieder, die Islamische Föderation sei nicht demokratiefähig und ihre Mitglieder zu einem Leben in einer pluralen und somit dem Einzelnen mehrere Optionen bietenden Gesellschaft nicht ausgerüstet.12 Der bundesweit bisher einzige Träger für islamischen Religionsunterricht wird misstrauisch beäugt. Formal verhält er sich zwar korrekt, aber die Öffentlichkeit ist überzeugt, dass er die Erziehungsziele der öffentlichen Schule nicht respektiert. Die Erklärung für die Vitalität des Misstrauens findet Werner Schiffauer in der deutschen politischen Kultur, in der das Konzept Freiheit in einen semantischen Zusammenhang mit Verantwortung gestellt sei. Da die Einhaltung der gesellschaftlichen Regeln allein als nicht ausreichend für die Herausbildung des Allgemeinwohls angesehen wird, werde vor und während der Regelbejahung eine Identifikation verlangt.13 MuslimInnen sollten demgemäß nicht nur die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen, sondern außerdem glaubhaft machen, dass sie die Verfassung achten. Das Zugehörigkeitsgefühl in Deutschland – so Schiffauer – konstituiert sich innerlich kulturell. Der Einzelne trägt die Verantwortung, durch Bildung eine dem Allgemeinen verpflichtete Person zu werden. Die Kultur der Innerlichkeit führt zu einer relativ schwach ausgeprägten gesellschaftlichen Kultur. Anstatt sich auf die Einhaltung von Regeln zu verständigen, die den gesellschaftlichen Verkehr er10 Vgl. Zentralinstitut Islam-Archiv Deutschland (Hg.): Frühjahrsumfrage »Neue Daten und Fakten über den Islam in Deutschland«, Soest 2004, S. 13. 11 Vgl. Irka-Christin Mohr: Muslime zwischen Herkunft und Zukunft. Islamischer Unterricht in Berlin, Berlin: Das Arabische Buch 2000, S. 16f. 12 Vgl. Christa Beckmann: »Kein Islamunterricht an Berliner Schulen. Schulverwaltung: Inhalte sind nicht mit der Verfassung vereinbar«, in: Berliner Morgenpost vom 10.7.2001. 13 Zur deutschen Variante der Zivilgesellschaft vgl. Werner Schiffauer: Fremde in der Stadt. Zehn Essays über Kultur und Differenz, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 45-49.
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RAHMENBEDINGUNGEN FÜR DEN IRU IN DEUTSCHLAND
möglichen und dabei Distanz und Fremdheit wahren, fordert sie Identifikation. Auf diesem Hintergrund wird lesbar, warum der Islamischen Föderation in den Medien immer wieder abgesprochen wird, ein im Sinne des Allgemeinwohls verantwortungsbewusster Träger für islamischen Religionsunterricht zu sein. Der von ihr verantwortete islamische Religionsunterricht findet zwar in der öffentlichen Schule statt. Dies ist jedoch offensichtlich nicht Grund genug, anzunehmen, er werde ihren Regeln entsprechen. Die Einführung in den deutschen Kontext zeigt, dass die Institution des Religionsunterrichts in der Verfassung gründet, sie ihre Ausgestaltung jedoch in den Bundesländern erfährt. Aus diesem Grund wende ich mich mit der Analyse des Lehrplans des Zentralrats zugleich dem Land Nordrhein-Westfalen zu.
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3. U N T E R S C H E I D U N G I N K E R N U N D R A N D : D E R LEHRPLAN FÜR ISLAMISCHEN RELIGIONSUNTERRICHT HERAUSGEGEBEN VOM ZENTRALRAT DER MUSLIME IN D E U T S C H L A N D (ZMD)
1999 hat der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) einen Lehrplan für islamischen Religionsunterricht herausgegeben. Dieser spricht für 19 Mitgliedsvereine verschiedener Provenienz: Neben türkisch-islamischen Verbänden wie der Union der Türkisch-Islamischen Kuturvereine in Europa (ATIB), sind arabischorientierte Vereine wie die Islamische Gemeinschaft in Deutschland (IGD) und das Islamische Zentrum Aachen (IZA) im Zentralrat vertreten. Außerdem finden sich unter seinem Dach andere ethnisch organisierte, darunter auch deutsche MuslimInnen (UIAZD; VIGB; DML)1. Diese Mitglieder sind sämtlich sunnitisch ausgerichtet. Das Spektrum der vom Zentralrat vertretenen Islamauslegungen wird erweitert durch ein schiitisches Zentrum (IZH)2 und den der Nakıúbendî zugeordneten Haqqani-Trust. Schließlich gibt es Mitgliedsvereine, die sich auf soziale und Berufsgruppen wie StudentInnen oder ErzieherInnen spezialisiert haben oder die bestimmte Dienstleistungen anbieten wie das Haus des Islam (HDI), das regelmäßige Treffen deutschsprachiger MuslimInnen organisiert. Grundsätzlich sind in Deutschland zwei Formen islamischer Zusammenschlüsse ausgeprägt, diejenigen mit Gemeinschaftscharakter und mehrstufige Organisationen mit mittelbarer Mitgliedschaft. Der Zentralrat gehört zum zweiten Typ, der keine primär identitätsstiftende Funktion, sondern eine organisatorische übernimmt: Er bündelt Interessen und erleichtert so den Aufbau einer religiösen Infrastruktur. Ein Ausdruck dessen ist der Lehrplan, der entsprechend der vertikalen Aufgabenteilung nicht in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedsvereine, sondern des Daches gehört. 1 UIAZD ist die Abkürzung für die Union der Islamisch Albanischen Zentren in Deutschland; VIGB steht für die Vereinigung Islamischer Gemeinden der Bosniaken in Deutschland; DML steht für die Deutsche Muslim Liga. 2 IZH steht für das Islamische Zentrum Hamburg. Die Mitgliedsvereine sind auf der Homepage des Zentralrats aufgelistet: Vgl. http://www.islam.de. Zur Entstehungsgeschichte des Zentralrats vgl. Thomas Lemmen: Muslimische Spitzenorganisationen in Deutschland: Der Islamrat und der Zentralrat, Altenberge: CISVerlag 1999, S. 13f.
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Der ZMD tritt mit dem Anspruch einer Religionsgemeinschaft auf. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf hingegen begründet die Feststellung, beim Zentralrat handele es sich nicht um eine Religionsgemeinschaft, unter anderem damit, seine Satzungsbestimmung sei nicht geeignet, eine Gemeinschaft natürlicher Personen zu begründen, die sich aufgrund gemeinsamer religiöser Überzeugungen dauerhaft zusammengeschlossen haben.3 Erforderlich sei, so das Oberverwaltungsgericht, dass für die Identität einer Religionsgemeinschaft wesentliche Aufgaben auch auf der Dachverbandsebene wahrgenommen werden.4 Tatsächlich erreichen Verbände wie der Zentralrat den einzelnen Muslim nicht, anders als beispielsweise die DITIB, die über Moscheen ihre Politik umsetzen kann. Der Zentralrat wirkt in erster Linie nach außen, in Richtung auf Staat und Gesellschaft. Bashir Ahmad Dultz, Vorsitzender der Deutschen Muslim-Liga Bonn – ein Mitglied des Dachverbands – beschreibt die Beziehung der Mitgliedsvereine zum Dach folgendermaßen: »[…] ich versuche, in diesen Vereinen das Bewußtsein zu wecken, daß es sinnvoll ist, am Bau der gemeinsamen islamischen Strukturen mitzuhelfen, ohne damit den Heimatverein aufzugeben. Und ich glaube, daß der Rahmen dieser Strukturbildungen der Zentralrat der Muslime in Deutschland ist.«5
Nadeem Elyas, ehemaliger Vorsitzender des Zentralrats, hebt hervor, dass nicht die Ideologie, sondern die Gesetzestreue – bezogen auf das deutsche Recht – das ausschlaggebende Kriterium der Mitgliedschaft sei.6 Unter dem Dach treffen sich folgerichtig nicht nur zahlreiche Ethnien, sondern auch verschiedene islamische Weltanschauungen, deren Aktualisierung nicht im Dachverband, sondern in den angeschlossenen Moscheevereinen stattfindet.7 Dennoch verantworten die Mitglieder gemeinsam einen Lehrplan. Für die Analyse seiner Verortungsangebote haben neben dem zentralen Text, dem Lehrplan, zwei Arten von Quellen Verwendung gefunden: 1. Sekundäre Texte des Zentralrats wie Kommentare zum Lehrplan, Presseerklärungen und Zeitungsinterviews; 2. Gruppeninterviews mit den Lehrplane3 Vgl. Verwaltungsgericht Düsseldorf: Urteil 1 K 10519/98, verkündet am 2.11.2001, S. 24. 4 Vgl. Bundesverwaltungsgericht: BVerwG 6 C 2.04, verkündet am 23.2.2005, S. 1. 5 »Wir haben es nicht geschafft«, ein Interview mit dem Vorsitzenden der Deutschen Muslim-Liga Bonn, Bashir Ahmad Dultz, in: Morgenstern-Gespräch 10 (1995), S. 28. 6 Vgl. »Der schwierige Dialog zwischen Christen und Muslimen«, Interview mit Nadeem Elyas, in: Süddeutsche Zeitung vom 10.12.2001. 7 Werbner beobachtet Ähnliches unter britischen Pakistani. Vgl. Pnina Werbner: »the making of Muslim dissent: hybridized discourses, lay preachers, and radical rhetoric among British Pakistanis«, in: american ethnologist 23 (1996), S. 111.
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UNTERSCHEIDUNG IN KERN UND RAND: DER LEHRPLAN DES ZMD
rinnen, sämtlich Frauen. Diese Gespräche wurden auf Tonband aufgenommen, verschriftlicht und den Teilnehmerinnen für Korrekturen und Ergänzungen zugeschickt. Das daraus entstandene Protokoll ist durch nachträgliche E-Mails der Lehrplanerinnen ergänzt worden. Die Gespräche bilden einen Subtext zum Lehrplan. Sie erzählen die Geschichte seiner Genese. Die Fachfrauen des Zentralrats haben sich dafür entschieden, ihre Gesprächsbeiträge zu anonymisieren, so dass Zitate als Aussagen von A, B, C oder D erscheinen. In Einzelfällen sind Auszüge aus dem Protokoll in den Anhang der Arbeit gestellt, um Interpretationen stärker zu beleuchten.
3.1 Der Lehrplan des ZMD als nordrhein-westfälisches Produkt Der Zentralrat hat seinen Sitz in Köln. Er agiert zwar auch auf Bundesebene, aber aufgrund der Bildungshoheit der Länder ist er in der Frage des Religionsunterrichts auf deren Reichweite verwiesen. In Nordrhein-Westfalen sind zehn Prozent aller SchülerInnen muslimischer Herkunft, in absoluten Zahlen 290.000 Kinder und Jugendliche. Das Land macht ihnen zwei Angebote zur religiösen Bildung: 1. Die islamische Unterweisung im Rahmen des muttersprachlichen Ergänzungsunterrichts in den Klassen 1-10.8 2. Die seit dem Schuljahr 1999/2000 eigenständige, vom muttersprachlichen Unterricht abgekoppelte islamische Unterweisung. Das Fach läuft als Schulversuch, die Unterrichtssprache ist Deutsch. Begründet wird das neue Angebot unter anderem mit dem Rückgang des Anteils türkischer StaatsbürgerInnen an der Gesamtzahl muslimischer SchülerInnen von 85 Prozent in den 1980er Jahren auf 60 Prozent heute. Tatsächlich sind diese Zahlen bedeutungslos, denn selbst nach ihrer Einbürgerung bleibt die Muttersprache der Kinder Türkisch. Entscheidend ist vielmehr, dass der Islam nicht mehr als Teil der Herkunftskultur, der Sprache und Landeskunde verstanden wird, sondern als Religion eines erheblichen Teils der Schülerschaft in Deutschland. Dieser neuen Situation eingedenk ist die islamische Unterweisung für alle muslimischen SchülerInnen geöffnet worden. Die Grundlage für beide Unterrichtsangebote bildet der Lehrplan für die religiöse Unterweisung von Schülerinnen und Schülern islamischen Glaubens, dessen ersten Entwurf das in Soest angesiedelte Landesinstitut für Schule und Weiterbildung bereits 1986 vorgelegt hat.9 Das nordrhein-westfälische Schul-
8 Vgl. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hg.): Religiöse Unterweisung für Schülerinnen und Schüler islamischen Glaubens in den Schulen des Landes Nordrhein-Westfalen. Begleitende Informationen und Kommentare, Soest 1995. 9 Vgl. Klaus Gebauer: »Islamische Unterweisung und Möglichkeiten interreligiösen Unterrichts in den Schulen von Nordrhein-Westfalen«, in: Jürgen Lott
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ISLAMISCHER RELIGIONSUNTERRICHT IN EUROPA
gesetz sieht vor, dass Lehrpläne für den Religionsunterricht durch die Landesschulbehörde erstellt werden.10 Die von ihr bestellte Kommission zur Entwicklung eines Lehrplans für islamischen Religionsunterricht hätte allerdings von einer Religionsgemeinschaft genehmigt sein müssen. Zudem hätte der fertige Lehrplan derselben Religionsgemeinschaft vorgelegt werden müssen.11 Aus dem Blickwinkel des Landes betrachtet konnten beide gesetzlichen Vorlagen nicht erfüllt werden, da kein muslimischer Ansprechpartner vorhanden war. Da der islamische Unterricht somit nicht von einer Religionsgemeinschaft, sondern vom Land Nordrhein-Westfalen verantwortet ist, kann sie nicht Religionsunterricht, sondern lediglich nichtbekenntnisorientierte Unterweisung sein. Der Soester Text ist der erste nicht aus der Türkei importierte, sondern in und für Deutschland entwickelte Lehrplan für einen öffentlichen Unterricht über die Religion Islam. Als solcher ist er für die islamische Lehrplanentwicklung in Deutschland insgesamt orientierend, – als Vorbild wie als Gegenstand der Abgrenzung. Zentralrat wie Islamrat kritisieren die fehlende Beteiligung lokaler islamischer Verbände an der Gestaltung des Lehrplans und die damit zusammenhängende fehlende Legitimität dieses noch immer provisorisch eingerichteten Faches. In den am Schulversuch teilnehmenden Schulen jedoch ist die Akzeptanz des Angebots hoch. Laut Auskunft der Landesbehörden haben durchschnittlich 80 Prozent der muslimischen Eltern ihre Kinder für den Unterricht angemeldet. Der Lehrplan, den der Zentralrat 1999 als Gegenentwurf für die erste bis vierte Grundschulklasse herausgegeben hat, ist vor dem Hintergrund des Soester Vorschlags zu lesen. Die Kritik an der islamischen Unterweisung gab den Impuls, es besser zu machen, und hielt den Blick des Zentralrats auf den Vorläufer fest. Aus diesem Grund finden sich einige Argumente des Soester Prototyps im Text des Zentralrats wieder. Dass er sich positiv wie negativ an demjenigen der Landesschulbehörde orientiert, ist an einigen Stellen bis in Formulierungen erkennbar.12 (Hg.), Religion – warum und wozu in der Schule? Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1992, S. 103-129, hier S. 104. 10 Vgl. »Erstes Gesetz zur Ordnung des Schulwesens in Nordrhein-Westfalen« (SchOG), vom 8.4.1952, zuletzt geändert durch Gesetz am 8.7.2003, § 33 und »Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen« (SchulG) vom 15.2.2005, § 31. 11 Vgl. Klaus Gebauer: Islamische Unterweisung in Nordrhein-Westfalen im Schulversuch – ein weiterer Schritt auf einem langen Weg, unveröffentlichter Vortrag, Soest o.J.; Vgl. Ulrich Pfaff: »Islamische Unterweisung in NordrheinWestfalen«, in: Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen (Hg.), Islamischer Religionsunterricht an staatlichen Schulen in Deutschland, September 2000, S. 13-17, hier S. 17. 12 Vgl. z.B. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hg.): Religiöse Unterweisung für Schüler islamischen Glaubens. 24 Unterrichtseinheiten für die Grundschule, Soest 1986, S. 67 und Zentralrat der Muslime in Deutschland
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UNTERSCHEIDUNG IN KERN UND RAND: DER LEHRPLAN DES ZMD
Der Lehrplan des Zentralrats umfasst 76 Seiten. Das Inhaltsverzeichnis führt sechs Themenbereiche auf, die so genannten Lernbereiche, die alle für jedes Schuljahr Lektionen bereitstellen: Ich und meine Gemeinschaft; Die Grundlagen des Islam; Der erhabene Koran; Prophetengeschichten; Der Prophet Muhammad als Lehrer und Vorbild; Islamische Ethik.13 Die thematische Ordnung des Inhaltsverzeichnisses zeigt bereits den Fokus des Lehrplans auf den Inhalt. Im Unterschied dazu bildet das Verzeichnis des Soester Textes ab, dass Inhalt und Intention als untrennbar gedacht sind und jeder Unterrichtsinhalt didaktisch auf mehrere Intentionen bezogen ist: Auf die Vermittlung religiösen Wissens, das Kennenlernen der religiösen Praxis oder der Umwelt. Diese Intentionen begründen erst die Auswahl der Inhalte. Das Inhaltsverzeichnis des Soester Lehrplans bildet diese Verschränkung von Inhalt und Intention grafisch ab. Der Lehrplan des Zentralrats hingegen konzentriert sich darauf, Inhalte zu strukturieren, sie über vier Schuljahre zu verteilen. Die so genannten Lernziele sind erst in einem zweiten Schritt hinzugefügt, nämlich bei der Ausführung der Lernbereiche. Diese nimmt den größten Raum im Lehrplan ein und ist in Form einer Fließtabelle gestaltet, die Lernziele, Inhalte und Quellen einander gegenüberstellt. Jeder Lernbereich wird kurz didaktisch hergeleitet. Im Anschluss folgt dann die Auflistung von Unterrichtseinheiten. Mit Spiegelstrichen, Stichwörtern, kurzen Sätzen und Satzfragmenten werden die Unterrichtssequenzen skizziert, wie der folgende Ausschnitt aus einer Unterrichtseinheit zur Moschee zeigt: Tabelle 1: Auszug aus dem ZMD-Lehrplan, S. 19. Lernziele
Inhalte
Quellen
Die Merkmale einer Moschee kennenlernen und über ihre Funktion informieren
Wir besuchen eine Moschee
SP 337
Wie man sich in einer Moschee verhält Was uns auffällt: Schuhe ausziehen, Waschplatz,
(ZMD): Lehrplan für den islamischen Religionsunterricht (Grundschule), vorgelegt vom Pädagogischen Fachausschuß des ZMD, Köln 1999, S. 18. (Im Folgenden zitiert als »ZMD-Lehrplan«.) 13 Das türkische Lehrbuch für die vierte Klasse enthält u.a. die Lektionen Ben ve Din (Ich und die Religion); Ailem ve Din (Meine Familie und die Religion); Yaratanı ve Varattıklarını sevelim (Wir lieben den Schöpfer und seine Geschöpfe) oder Hz. Muhammed’i tanıyalım (Wir lernen Muhammad kennen). Vgl. Millî E÷itim Bakanlı÷ı: Din Kültürü ve Ahlâk Bilgisi. 4 Ders Kitabı, Istanbul 2002, S. 7ff.
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ISLAMISCHER RELIGIONSUNTERRICHT IN EUROPA
Teppiche, Gebetsnische (mihrab), Kanzel (minbar), […] Wir erkundigen uns, welche Bedeutung die Dinge haben
Die Spalte zu den Inhalten enthält zugleich ihre methodische Umsetzung. Sie ist in dem gewählten Ausschnitt nicht ausnahmsweise stärker ausgestaltet, sondern grundsätzlich. Während der Soester Text also Inhalt und Intention zwar analytisch trennt, aber systematisch stets aufeinander bezieht, konzentriert sich der Lehrtext des Zentalrats auf die Definition von Unterrichtsinhalten.
3.2 Der Konsens als Instrument für gemeinsames Handeln Entwickelt wurde der Lehrplan vom pädagogischen Fachausschuss, einem Organ des Zentralrats, dem neben Asiye Köhler als Leiterin vier weitere Frauen angehören.14 Sie sind deutscher Herkunft. Ihre Lehrplanarbeit ist ehrenamtlich: »Unser Lehrplan ist aus der privaten Initiative der islamischen Fachfrauen entstanden. Wir, die islamischen Fachfrauen, haben diesen Lehrplan neben unserem Beruf, auf eigene Kosten durch jahrelange, opferwillige Zusammenarbeit entwickelt.«15 Ihre Qualifikation für die Entwicklung eines Lehrplans sehen die Autorinnen aufgrund mehrfacher Kompetenzen als gegeben. Ihre fachliche Kompetenz begründen sie aus ihrer pädagogischen Ausbildung und Erfahrung in der (sozial-)pädagogischen Praxis. Ihre religiöse Kompetenz leiten die Frauen aus ihrer religiösen Lebensführung her. Schließlich betrachten sie die Kenntnis der Lebenswelt muslimischer Kinder in Deutschland als Erfahrungshintergrund, den sie vielen immigrierten religiösen Spezialisten absprechen. Eine Lehrplanerin schildert das Defizit wie folgt: »Auf Dauer brauchen wir aber unbedingt hier ansässige und wirklich qualifizierte , die Entscheidungshilfen liefern können. Unter den türkischen Imamen ist im Moment keiner auszumachen, der entsprechend qualifiziert wäre.«16 , islamische Gelehrte, werden als Fachleute mit einer ergän14 Da Frau Köhler außerdem mehrere Kommentare zum Lehrplan verfasst hat, die in der Analyse auch zitiert werden, ist ihr Name nur im Protokoll der Gespräche anonymisiert worden. 15 Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD): »Statements zu dem Lehrplan«, 26.04.1999, in: www.islam.de vom 31.10.2000, S. 3. 16 A in einer E-Mail am 8.4.2001.
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zenden Expertise wahrgenommen, die diejenige der Lehrplanerinnen nicht in Frage stellt, da sie ihre Arbeit als zuallererst pädagogisches, nicht als theologisches Projekt auffassen. In der Diskussion über Erziehung sind die Frauen führend. Über die Grundlagen der politischen wie der religiösen Arbeit allerdings entscheidet der Vorstand des Zentralrats. So hat er auch an den Lehrplan Mindestanforderungen gestellt, wie diejenige, dass er integrationsfördernd sein, ein Angebot an alle MuslimInnen darstellen, und den pädagogischen Standards genügen solle. Die Arbeit des Ausschusses, so Elyas, sei dann verschiedentlich besichtigt, abschließend diskutiert und für gut befunden worden. Insgesamt treffe sie den Konsens innerhalb des ZMD.17 Der Konsens wird von Elyas als sich unter den Mitgliedern des Zentralrats langsam in vielen Versammlungen herausbildendes Profil dargestellt, das dann vom Vorstand zusammengefasst und verbindlich formuliert wird. Elyas bezieht den innerverbandlichen Konsens nicht auf das im islamischen Recht ausgebildete Instrument i™mæ