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German Pages 270 [272] Year 2014
Stephanie Schmitt Intermedialität bei Rolf Dieter Brinkmann
Lettre
Stephanie Schmitt (Dr. phil.) hat Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in München und Tübingen studiert und 2011 in Neuerer deutscher Literatur an der Universität Tübingen promoviert.
Stephanie Schmitt
Intermedialität bei Rolf Dieter Brinkmann Konstruktionen von Gegenwart an den Schnittstellen von Text, Bild und Musik
Diese an der Universität Tübingen abgeschlossene Dissertation wurde von der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg mit einem Stipendium unterstützt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
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Einleitung. »Und womit beschäftigen sich Dichter?« | 7
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Dimensionen der Intermedialität | 15
2.1 Intermediale Kontakte im medientheoretischen Kontext | 16 2.2 Aspekte des Intermedialitätsbegriffs | 52 3
Die intermediale Verfasstheit popliterarischer Schreibweisen | 77
4
Der »Augenblick und das Material, was darin ist«. Brinkmanns audio/visuelle Experimente | 105
4.1 Der Autor und sein Werk im Kontext relevanter Einflüsse | 105 4.2 Der »Worte-Knast«. Ausgangspunkt Sprachkritik | 123 4.3 Snap Shot-Poesie. Lyrik und Photographie | 137 4.4 Der Film in Worten. Literatur und cineastische Elemente | 155 4.5 Die »ramponierte Schaubude der Gegenwart«. Text/Bild-Kombinationen | 176 4.6 Song-Texte. Literatur und Musik | 212 5
Schluss: »Ich bin ein Dichter«. Brinkmanns intermediale Sprachutopie | 237
6
Ausblick. Brinkmann um 2000 – Pop und Zorn | 243
7
Literatur | 255
1 Einleitung »Und womit beschäftigen sich Dichter?«1
»Warum wollen Sie Dichtung verstehen? Warum wollen Sie verstehen? Schlägt da nicht ein Glaube durch, dass eine verbindliche Ordnung bestehen muss? Wer hat Ihnen das beigebracht? Wie kommen Sie dazu, etwas zu glauben? Was wissen Sie? Woraus besteht Ihr Wissen? Wenn Sie das Wissen aussprechen, was passiert Ihnen dann?«2
»Ich meinerseits bin an Gegenwart interessiert«3. Diese Aussage Rolf Dieter Brinkmanns bildet den programmatischen Kern seiner Poetik. Verbindendes Merkmal seiner Werke, Lyrik wie Prosa, ist der »Kampf um mehr Gegenwartsbewusstsein«4. Einzelne Augenblicke und persönliche Sinneseindrücke bilden den literarischen Stoff und bestimmen Inhalt und Form der Texte. Brinkmanns Gegenwartsfixierung zielt auf die literarische Dokumentation und sprachliche Vermittlung sinnlichen Erlebens; seine Auf-
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Brinkmann, Rolf Dieter: Briefe an Hartmut, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
2
Brinkmann, Rolf Dieter: Westwärts 1&2. Erweiterte Neuauflage, Reinbek bei
3
Ebd., S. 290.
4
R. D. Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 135.
1999, S. 87. Hamburg: Rowohlt 2005, S. 273.
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merksamkeit gilt dem, was »in diesem Augenblick [passiert], während man schaut, hier, in dieser Gegenwart darin, lebendig, jetzt«5. Die Realität, welche den Ausgangspunkt seiner Beobachtungen bildet, ist eine medial durchdrungene und geformte. Darum ist das ›authentische‹ Erleben stets unter den Bedingungen seiner medialen Verfassung zu reflektieren. So beschreibt Brinkmann nicht nur, was er sieht, sondern auch wie. Die prägenden Medien seiner Sozialisation, welche sich in die Erfassung und Konstruktion von Realität einschalten, sind Musik, im Besonderen der Rock ’n’ Roll, Photographie und Film. Wenn Brinkmann nun die Darstellungs- und Wirkungsweisen dieser Medien in Literatur überführt oder sie mit Texten kombiniert, thematisiert er zum einen die Wahrnehmungsmechanismen einer medial durchsetzten Welt, zum anderen bildet er diese intermedial nach. Durch die Integration von Eigenheiten anderer Zeichensysteme im Text verfolgt Brinkmann neben der Generierung eines literarischen Ausdrucks, welcher die medial verfasste Umwelt zur Darstellung bringen soll, das Ziel, die sinnliche Beteiligung des Lesers am Text zu maximieren. Die Kontaktnahme der Sprache mit musikalischen und bildlichen Zeichensystemen soll den Rezipienten dazu anregen, eigene Bilder der verbalisierten Augenblicke zu entwickeln und ihn von vorgegebenen sprachlichen und literarischen Vorstellungsmustern befreien. Der sprachliche Eindruck einer momentanen Sinneswahrnehmung und die in den Texten angestrebte Wirkung der Unmittelbarkeit erfordern eine komplexe literarische Konstruktion. Brinkmanns Gegenwartszeugnisse als Thema und Form literarischer Werke verbinden Wahrnehmungsinhalte und -modalitäten. Dies macht Brinkmanns Werk zu einem vielseitigen Experimentierfeld mit sprachlichen Grenzen, Chancen und Möglichkeiten. Bei der Vertextung ›authentischen‹ Erlebens rücken sowohl Potenzial als auch Unvermögen der Sprache in den Vordergrund: Wenn sich ›direkte‹ Wahrnehmung durch eine vermeintliche Unmittelbarkeit auszeichnet, dann kann über Sprache als Vermittlungssystem sinnliches Erfahren nur nachkonstruiert und somit abstrahiert werden. Brinkmanns Literarisierungen von Gegenwart sind darum begleitet von einer permanenten sprachlichen Autoreflexivität, welche sich auch stets in Opposition oder Analogie zu anderen Zeichensystemen hinterfragt. Die Verklammerung zwischen der medialen
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R. D. Brinkmann: Westwärts 1&2. Erweiterte Neuauflage, S. 330.
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Verfassung von Realitätswahrnehmungen und der Vertextung ›authentischen‹ Erlebens ist ein ebenso komplexes und wie utopisches Verfahren. Brinkmanns Texte versuchen, durch intermediale Konstruktionen eine sinnliche Erfahrungswelt abzubilden, welche den Verlust der Unmittelbarkeit beklagt und überwinden will. Dabei ist »Medialität […] die Voraussetzung für Authentizität, Amedialität ihr utopisches Korrelat. Künstlerische Authentizität verdankt sich der Spannung zwischen utopischer Imagination und ästhetischem Effekt. Als ästhetische Kategorie beruht das Authentische auf Repräsentation und nicht auf Präsenz.«6
Diese »[v]ermittelte Unmittelbarkeit«7 ist ein typisches Kennzeichen von Literatur und Kunst in den 1960er und 1970er Jahren. Innerhalb der Ästhetiken des Authentischen8 kann Brinkmanns Werk allerdings aufgrund der Breite, Intensität und Reflexivität seines Schaffens auf sprachkritischer wie intermedialer Ebene eine herausragende Stellung zugesprochen werden. Die Gegenwart als literarischer Stoff und formale Konsequenz bildet Brinkmanns mediale Sozialisation ab und liefert so ein Zeitzeugnis der Wahrnehmungsmodalitäten, aber auch des (Anti-)Literaturverständnisses der Zeit, ist also stark in die Kontexte der 1960er Jahren eingebunden. Darüber hinaus ermöglicht die Beschäftigung mit seinem Werk durch die Vielseitigkeit der intermedialen Kontakte die Erarbeitung und Etablierung übergreifender theoretischer Kategorien und die Verdeutlichung von Zusammenhängen zwischen technischen beziehungsweise kulturellen Entwicklungen und Literatur. Brinkmanns Werk ist darum ebenso zeittypisch wie zeitlos. Paradigmen wie der Wunsch nach Authentizität, das Beklagen der Entfremdung des Subjekts, der Drang nach dem Aufbrechen starrer Formen oder das Schaffen provokanter Antikunst sind charakteristisch für die 1960er Jahre. Literarische Repräsentationen des ›Daseins‹ in einer konkreten Gegenwart benutzen oftmals ähnliche Strategien und sind vergleichbar, modifizieren sich allerdings nach kontextuellen Faktoren, wie beispielsweise Brinkmanns popliterarische Texte im Vergleich mit Popliteratur um
6
Zeller, Christoph: Ästhetik des Authentischen. Literatur und Kunst um 1970, Berlin/New York: de Gruyter 2010, S. 20.
7
Ebd., S. 8.
8
Vgl. C. Zeller: Ästhetik des Authentischen.
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2000 zeigen. Die grundlegende Fragestellung, wie sich Medien, welche die Wirklichkeitswahrnehmung beeinflussen beziehungsweise diese erst konstruieren, in der literarischen Verarbeitung von Realitätseindrücken zeigen, lässt sich durch die Analyse von Brinkmanns Texten nach intermedialen Kriterien beantworten. Beim vergleichenden Hinzuziehen popliterarischer Nachfolger rund 30 Jahre später wird deutlich, wie sich literarische Schreibweisen, welche die Darstellung einer momentanen Realität anstreben, innerhalb einer sich wandelnden Mediengesellschaft verändern (siehe hierzu Kapitel 3 und Kapitel 5). Brinkmanns komplex konstruierte Gegenwartsrepräsentationen sind Thema der vorliegenden Untersuchung. Dabei dient das gesamte Werk als Gegenstand der Betrachtung. Zwar sind einzelne Schaffensphasen oder Gattungen in der Sekundärliteratur bereits unter intermedialen Gesichtspunkten analysiert worden,9 jedoch steht eine Interpretation seines Gesamtwerks noch aus. Des Weiteren beschäftigt sich die Sekundärliteratur zur Intermedialität nur mit jeweils einem fremdmedialen Bezugssystem,10 also mit den Relationen zwischen Text und Photographie beziehungsweise Film oder vereinzelt mit Kontakten von Literatur und Musik.
9
Vgl. Moll, Andreas: Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann. Intermedialität im Spätwerk, Frankfurt am Main: Lang 2006; Herrmann, Karsten: Bewusstseinserkundungen im »Angst- und Todesuniversum«. Rolf Dieter Brinkmanns Collagebücher, Bielefeld: Aisthesis 1999; Groß, Thomas: Alltagserkundungen. Empirisches Schreiben in der Ästhetik und in den späten Materialbänden Rolf Dieter Brinkmanns, Stuttgart: Metzler 1993, und Urbe, Burglinde: Lyrik, Photographie und Massenkultur bei Rolf Dieter Brinkmann, Frankfurt am Main/ Bern/New York: Lang 1985.
10 Vgl. von Steinaecker, Thomas: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds, Bielefeld: Transcript 2007; Röhnert, Jan: Springende Gedanken und flackernde Bilder, Göttingen: Wallstein 2007; Kobold, Oliver: »›Während ich schreibe, höre ich manchmal Platten‹. Rockmusik im Werk Rolf Dieter Brinkmanns«, in: Eiswasser. Zeitschrift für Literatur 7 (2000), S. 46-53; Strauch, Michael: Rolf Dieter Brinkmann. Studie zur Text-Bild-Montagetechnik, Tübingen: Stauffenberg 1998, und Schmiedt, Helmut: »No satisfaction oder Keiner weiß mehr: Rockmusik und Gegenwartsliteratur«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 34 (1979), S. 11-23.
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Die vorliegende monographische Studie kontextualisiert, spezifiziert und analysiert die Bezüge zwischen Text und Bild ebenso wie zwischen Literatur und Musik von den lyrischen Anfängen bis zu den späten Materialbänden des Autors. Brinkmanns Einstellung zur Sprache und sein Literaturverständnis formulieren sich in der Gesamtschau seiner mitunter ambivalenten Standpunkte. Ebenso entwickeln die Differenziertheit und Tiefe seiner sprachkritischen Überlegungen und die Qualität und Bandbreite seiner intermedialen Experimente ihre Stärke gerade in der Summe ihrer Teile (Kapitel 4). Im theoretischen Teil der Arbeit (Kapitel 2) wird zunächst das Phänomen der Intermedialität erläutert. Dafür werden zwei unterschiedliche Zugänge gewählt, welche sich in der Interpretation einzelner Texte bedingen und ergänzen: Die erste Einheit (Kapitel 2.1.1) bildet eine exemplarische Beschreibung der Tradition intermedialer Auseinandersetzung im medientheoretischen Kontext am Beispiel von Text/Bild-Relationen. Die Reflexion anderer medialer Vermittlungsformen innerhalb der Literatur besitzt, bei aller verhältnismäßigen Neuheit und Uneinheitlichkeit der Verwendung des Intermedialitätsbegriffs, eine lange Tradition. Auffallend ist dabei eine enge Relation zwischen der Selbstreflexivität der Literatur, der Arbeit mit dem Sprachmaterial und intermedialen Bezugnahmen. Diese Ausführungen zur Intermedialität und die korrespondierenden medientheoretischen Ansätze ermöglichen eine Verortung von Rolf Dieter Brinkmanns Sprach- und Medienreflexionen. Neben den Beziehungen zwischen Text und Bild sind für seine intermedialen Experimente die Kontakte zwischen Literatur und Musik von zentraler Bedeutung. So schließen sich nachfolgend (Kapitel 2.1.2) Diskussionen um mögliche Bezüge zwischen Text und Musik an, welche sich vor allem auf die Aspekte konzentrieren, die innerhalb der Einzelanalyse wichtig werden. Brinkmanns Werk steht besonders im Kontakt mit dem Rock ’n’ Roll der 1960er und 1970er Jahre, welcher spezifische Diskurse mit sich bringt. Anschließend an die Erarbeitung dieser kontextuellen Dimension, wird der Intermedialitätsbegriff als literaturwissenschaftlicher Terminus detailliert definiert und in einzelne Typen differenziert (Kapitel 2.2). Beide möglichen Ansätze, das Phänomen der Intermedialität zu fassen, also sowohl die Analyse intermedialer Kategorien als strukturelles Phänomen des literarischen Textes als auch das Aufspüren kontextueller Implika-
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tionen, welche durch die Literarisierung anderer Medien entstehen, finden gleichermaßen in der Analyse ihre Berücksichtigung. Neben den semiotischen Voraussetzungen spielt der jeweilige Kontext eine große Rolle, der den Stand der Technik ebenso wie gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen und deren medientheoretische Kommentierungen umfasst. Diese Komponenten werden in der Interpretation einzelner Werke wichtig, da sie untrennbar in Texten und Kontexten präsent sind. Nach der Vorstellung von Brinkmanns Person und Werk (Kapitel 4.1) setzt die Textanalyse zunächst den Fokus auf seine sprach- und literaturkritischen Ansätze (Kapitel 4.2). Der Ausgangspunkt der Sprachkritik führt über die intermedialen Beziehungen zwischen Lyrik und Photographie (Kapitel 4.3) zu den Kontakten von Literatur und Film (Kapitel 4.4). Wie von Brinkmann in sprachtheoretischen Aussagen formuliert, verfolgen die literarischen Thematisierungen und Dramatisierungen von Film und Photographie hauptsächlich die Erweiterung der sprachlichen Möglichkeiten und das Aufbrechen der gerade in literarischen Texten angelegten tradierten Vorstellungsbilder und -muster. Die Gliederung der gewählten Textbeispiele richtet sich nach den unterschiedlichen verbalisierten Intermedialitätstypen, welche ästhetische Strategien und deren jeweilige Wirkung differenzieren und herausstellen. Kapitel 4.5 zeigt Möglichkeiten und Effekte von Text/Bild-Kombinationen auf. Durch die Zusammenführung intermedialer Kontakte und der Verwendung popkultureller Codes, verfasst Brinkmann auch popliterarische Texte, welche nicht nur innerhalb der Text/Bild-Relationen zu finden sind, sondern die gerade auch durch die Kontakte zwischen Sprache und Musik entstehen. Diesen und anderen möglichen Beziehungen zwischen Literatur und Musik, deren Effekten und Zielen widmet sich das folgende Kapitel (4.6). Anhand von Verweisen auf – vor allem angloamerikanische – Musik kritisiert Brinkmann den deutschen Kultur- und Sprachraum. Strukturelle Anleihen der Texte unterstreichen sprachkritische Impulse auch im Bereich intermedialer Relationen zwischen Literatur und Musik. Bei aller Sprachkritik bleibt Brinkmann stets dem Text verpflichtet. Er bedient sich verschiedenster medialer Ausdrucksmöglichkeiten, um Gegenwart zu dokumentieren. Er schneidet seine Umwelt auf Tonbändern mit und ist manischer Photograph und Filmer. Vor allem aber ist er ein Schrift-
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steller, der sein Werk der sprachlichen Wahrnehmungssezierung verschrieben hat: »[W]er kommt schon ganz aus den Wörtern raus?«11
11 Brinkmann, Rolf Dieter: »Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten (1974/75)«, in: Ders., Westwärts 1&2. Erweiterte Neuauflage, S. 256-330, hier S. 329.
2 Dimensionen der Intermedialität »Intermedialität ist ›in‹«1
Mit zunehmender Medialisierung der persönlichen Lebenswelt gewinnen die Funktionen, das Potenzial und die spezifischen Verfahrensweisen einzelner Formen der Vermittlung auf verschiedensten wissenschaftlichen Gebieten an Wichtigkeit. Innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung ist die Debatte um die Materialität und Medialität von Sprache und Texten, die stets in Korrespondenz zu anderen medialen Produkten zu führen ist, sowohl ein traditioneller Diskurs als auch aktuell von besonderer Relevanz. Die Grenzen und Fähigkeiten eines einzelnen semiotischen Gefüges ergeben sich aus dem Spannungsfeld der Konkurrenz zu anderen Zeichensystemen, während die Nutzung eigener oder fremdmedialer Spezifika innerhalb eines Mediums stets in Zusammenhang mit gesellschaftlichen, politischen, sozialen und künstlerischen zeit- und persönlichkeitsabhängigen Faktoren steht. Daher ist das Phänomen der Intermedialität, der Relation zwischen verschiedenen Medien beziehungsweise einzelnen medialen Produkten, in einem interdisziplinären Dialog anzusiedeln, der semiotische und kontextuelle Diskurse einschließt. Dabei sind Produktionsabläufe oder Rezeptionsmechanismen einzelner Medien, die Besonderheiten und Grenzen eines Zeichensystems und das Potenzial zum innovativen Gebrauch fremdmedialer Spezifika grundlegende Aspekte zum Verständnis der Arbeits- und Wirkungsweise eines Vermittlungssystems. Damit korrelieren kontextuelle Faktoren, die sich aus der
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Paech, Joachim: »Mediales Differenzial und transformative Figurationen«, in: Jörg Helbig (Hg.), Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin: Schmidt 1998, S. 14-30, hier S. 14.
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besonderen Verarbeitung semiotischen Materials ergeben. Dadurch, dass andere Formen der Vermittlung auf eine bestimmte Weise, zum Beispiel innerhalb der Literatur, ›inszeniert‹ sind, kann die Art der Verarbeitung fremdmedialen, genauso wie die Nutzung eines bestimmten eigenmedialen Potenzials, Aufschluss darüber geben, wie eine Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit ihre Umwelt wahrnimmt. Je nachdem, mit welchem Anliegen oder aus welcher Perspektive Vermittlungsformen innerhalb eines fremden Mediums genutzt werden, können politische und gesellschaftskritische Momente zum Ausdruck kommen beziehungsweise verweigert werden oder aber innovative Impulse zur Erweiterung der Möglichkeiten eines Zeichensystems entstehen. Dem intermedialen Dialog zwischen Text und Bild beziehungsweise Sprache und Musik widmet sich das erste Teilkapitel, während im Anschluss daran das Phänomen der Intermedialität in seinen möglichen Erscheinungsformen definiert wird.
2.1 I NTERMEDIALE K ONTAKTE IM MEDIENTHEORETISCHEN K ONTEXT Die Reflexion der Literatur über ihre Formen und Möglichkeiten der ästhetischen Transformation von Stoffen und Inhalten jeglicher Art ist wahrscheinlich so alt wie die Literatur selbst. Dass diese Auseinandersetzung auch in Bezug zu anderen künstlerischen Ausdrucksformen steht, liegt nahe. Literatur als Medium2 ist prädestiniert dazu, andere Medien zu integrieren beziehungsweise (mediale) Wahrnehmung zu diskutieren. Sie hat die
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Der Begriff Medium, wie er in dieser Arbeit verwendet wird, beinhaltet den (Informations-)Träger mit dem jeweiligen semiotischen System, das die Kommunikation zwischen einem Sender, Erzeuger, Produzenten, Alter und einem Empfänger, Konsumenten, Rezipienten, Ego bewerkstelligt (zum Beispiel Literatur – Sprache, Photographie – Bild, Film – bewegtes Bild und Sprache). Dabei ist die Bezeichnung Medium nicht nur auf Kommunikation mit technischen Mitteln beschränkt, sondern umfasst auch die Ausdrucksformen traditioneller Künste. Im Bewusstsein der Tatsache, dass häufig zwischen Medium (der technischen Seite) und Form (dem Zeichensystem) unterschieden wird, möchte ich
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besondere Befähigung, fremdmediale Stoffe, Techniken und Wirkungsweisen in Texten zu ästhetisieren und (gleichzeitig) zu reflektieren.3
beide Momente im Medienbegriff sammeln, wobei die Konkretisierung verschiedener Aspekte des Medialen relevant bleibt. Der codierte Transport von Inhalten kann (entsprechend dem jeweiligen Medium) auf unterschiedlichste Weise erfolgen: Neben dem vermittelten Gehalt spielt der technische Aspekt, die Eigengesetzlichkeit des Mediums, eine Rolle (etwa Beschaffenheit und Anzahl der materiellen beziehungsweise der technischen Komponenten; der gesellschaftliche Kontext, in dem ein Medium auftritt; seine traditionelle Konnotation; das dem Medium eigene semiotische System; die Wirkung dessen, was vermittelt werden soll). Dementsprechend bündelt der Medienbegriff eine Reihe korrespondierender Faktoren: semiotische Aspekte, Materialien der Kommunikation, technische Mittel und konkrete Medienangebote, die daraus erfolgen. Damit in Zusammenhang stehen die Organisationsinstanzen, die für Herstellung und Verbreitung der Medienangebote zuständig sind (vgl. Schmidt, Siegfried J.: Die Welten der Medien. Grundlagen und Perspektiven der Medienbeobachtung, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1996, S. 3, und Burkart, Roland: Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1995, S. 35-46). 3
Literatur ist ein Medium auf Basis der Schrift, deren spezifische Form der literarische Text ist: Nach Oliver Jahraus sind »[l]iterarische Texte […] schriftliche Texte, die […] in ganz besonderer Weise Bewusstsein einerseits und Kommunikation andererseits, aber beide gleichzeitig in der strukturellen Kopplung, die sie leisten, in Anspruch nehmen« (Jahraus, Oliver: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewusstsein und Kommunikation, Göttingen: Velbrück 2003, S. 496). Die besondere Weise der strukturellen Kopplung fundiert Literatur als das Interpretationsmedium schlechthin, da literarische Texte Interpretation ermöglichen oder sogar erfordern. Dadurch definiert sich Literatur als Medium, über ihre Materialität hinausgehend, durch eine bestimmte Beschaffenheit der Texte und einen charakteristischen Umgang mit ihnen (vgl. O. Jahraus: Literatur als Medium). Die Notwendigkeit der Interpretation, in Verbindung mit dem speziellen Zeichenvorrat, der (poetischen) Sprache, deren Eigenschaften Konvention und Konstruiertheit sind, führt dazu, dass Kämpfe und Diskussionen im Schreiben selbst, im Zusammentreffen von Ästhetisierung und Thematisierung, ausgetragen werden. Die vorliegenden Arbeit, welche gerade die Literarisierung fremdmedialer Zeichen und Techniken zum Thema hat,
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Eingebunden in ein komplexes Mediensystem reagiert Literatur einerseits auf Wahrnehmungsweisen, die aus der vorgefundenen und zu beschreibenden Umwelt resultieren, wobei andere mediale Vermittlungsformen einen Teil dieser kontextuellen Gegebenheiten ausmachen; andererseits generiert sie neue Arten der Wahrnehmung, indem sie Möglichkeiten der Beschreibung ästhetisch modifiziert. Die Art und Weise, wie dieser permanente Austausch zwischen Reaktion und Generierung abläuft, ist stark abhängig von Zielen und Anliegen der künstlerischen Produktion, wobei die zeitlichen Bedingungen, seien sie gesellschaftlicher, politischer oder kultureller Natur, als Indikatoren zu verstehen sind, die Indizien für inhaltliche und formale künstlerische und mediale Entwicklungen liefern können. Literatur und Medien allgemein sind als Dokumente von Realitätswahrnehmungen zu verstehen, die sie einerseits aufgreifen und andererseits selbst schaffen und mitgestalten. Medien sind also nicht nur »Agenten einer gesellschaftlichen Transformation der Strukturen von Wahrnehmung«4, sondern auch Agitatoren, da sie rückwirkend als Teil der kulturellen Entwicklung gesellschaftliche Wahrnehmung beeinflussen. Diese Mechanismen, die anhand der Beziehungen zwischen einzelnen Medien aufgezeigt werden können, sollen im folgenden Kapitel in Form einer exemplarischen Erarbeitung verdeutlicht werden. Anhand einer Auswahl medientheoretischer Grundlagen wird eine Einordnung der gewählten Interpretationsbeispiele angestrebt und eine Einführung in Begrifflichkeiten und Vorstellungsräume vorgenommen, die innerhalb der Textanalysen aufgegriffen werden. Die Übersicht der intermedialen Kontakte zwischen Text und Bild verbindet Ausführungen zur Semiotik der beiden Zeichensysteme mit Stationen der Medienentwicklung und medientheoretischen Ansätzen. Dadurch werden zwar unterschiedliche Ebenen in der Beschreibung, Kommentierung und Systematisierung medialer Phänomene verknüpft, diese verschiedenen und schwer zu synthetisierenden Zugänge sind aber unerlässlich um
orientiert sich an der oben formulierten basalen Definition des Begriffs Medium und spezifiziert davon ausgehend mediale Eigenheiten. 4
Leschke, Rainer: Einführung in die Medientheorie, München: Fink 2003, S. 170.
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das per se interdisziplinäre Gebiet der Kontakte zwischen einzelnen Medien zu erschließen. Die Darstellung der intermedialen Diskussion zwischen Text und Musik setzt differente Schwerpunkte, welche sich aus der Andersartigkeit der musikalischen Kunstform und deren Theoretisierung ergeben. Musik befindet sich in eigenen Diskursen und kann nicht auf dieselbe Weise konkretisiert werden wie dies bei Bildern möglich ist. Daher setzt sich dieses Kapitel zur Aufgabe, Musik zunächst als Zeichensystem zu problematisieren und mögliche Interpretationsansätze musikalischer und literarischer Beziehungen aufgrund angenommener und begründeter Vorannahmen zu ermöglichen. 2.1.1 Text und Bild Der Zusammenhang zwischen Text und Bild gründet in der Sprache selbst. Jedes sprachliche Zeichen, oder zumindest die Aneinanderreihung mehrerer, ist mit einem Vorstellungsbild verknüpft; hinzu kommt, dass wahrgenommene Wirklichkeitsausschnitte bildlicher Natur der Realitätsaneignung wegen nicht ohne den Zusammenhang zu sprachlichen Kategorien gedacht werden können. Diese enge Verbindung zwischen textlichen und bildlichen Elementen lässt sich auch auf die künstlerische Ebene übertragen. Poesie ist dazu fähig, Bilder von Situationen, Stimmungen, konkreten Objekten oder Personen zu entwerfen, Malerei und Graphik leben unter anderem von der Aneignung und Beschreibung ihrer Sinngehalte (auch bei Bewegungen, die ausdrücklich versuchen, Sinn zu eliminieren, bleibt der Rezeptionsprozess im Grunde derselbe). Seit der Antike beschreibt der Begriff der Ekphrasis Berührungspunkte von Bild und Wort. Neben dem Aspekt der literarischen (und wissenschaftlichen) »Beschreibungskunst, gemäß dem weiteren Sinne von Ekphrasis, als ein auf Anschaulichkeit und Bildkraft angelegtes Reden«5, umfasst der aus der Rhetorik stammende Terminus »die Kunstbeschreibung, im engeren Sinne von Ekphrasis«6. Abhängig von Ansprüchen,
5
Boehm, Gottfried/Pfotenhauer, Helmut: »Einleitung: Wege der Beschreibung«, in: Dies. (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München: Fink 1995, S. 9-19, hier S. 11.
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Ebd.
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Zielen und ästhetischen Grundlagen von sprachlichen und pikturalen Arbeiten, ist ihre Beziehung untereinander immer wieder auf verschiedenste Art und Weise reflektiert worden. Über die grundlegenden Bedingungen textlichen und bildlichen Zusammenhangs hinaus ist die Literatur in der Lage, andere Formen der medialen Vermittlung ausdrücklich in ihre Ästhetik einzubeziehen, sie zu reflektieren und sich ihnen gegenüber zu positionieren. Mit dem Auftreten von Medien und ihrer Etablierung in der Lebenswirklichkeit jedes Einzelnen ist immer auch eine Erweiterung oder zumindest Veränderung der Wahrnehmung verbunden. Auch wenn diese nicht unbedingt im persönlichen Bewusstsein vorhanden ist, zeigt sich die Auseinandersetzung mit den Betrachtungsmöglichkeiten der Außenwelt, der Realitätserfassung und der Wirkung von Vermittlung in unterschiedlichen Werken verschiedener künstlerischer Disziplinen. Die Literatur steht nach Erfindung des Buchdrucks 1455 über einen langen Zeitraum lediglich in Konkurrenz zu Kunstformen des Theaters, der Musik und der Malerei beziehungsweise Graphik, Architektur oder Plastik. Ihre Mittel, Methoden und speziellen Eigenschaften werden im Vergleich zu diesen andersartigen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten reflektiert. Trat die Schrift- und Bildsemiotik bis ins 18. Jahrhundert größtenteils als diskursive Einheit auf, wurde diese Vorstellung 1766 von Lessing in seinem Werk Laokoon7 bestritten. Er unternimmt den Versuch, die Eigenheiten von Malerei und Poesie in Abgrenzung zu Musik, Graphik und Bildhauerkunst zu erarbeiten, indem er die jeweils spezifische Semiotik, die damit verbundene Ästhetik und ihre gestalterisch notwendigen Rezeptionsformen darlegt. Entgegen der Auffassung von Horaz, dass Poesie möglichst so sein soll wie Malerei, also ihr ›visuelles‹ Moment in Anlehnung an bildliche Darstellungen betonen soll, steht bei Lessing nicht die Verwandtschaft, Vergleichbarkeit und Ähnlichkeit der beiden Künste im Vordergrund. Er wehrt sich gegen die Verschmelzung der Text- und Bildsemiotik der ut pictura poesis-Theorie8 und unternimmt eine Differenzierung der
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Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon, Stuttgart: Reclam 2001.
8
Die Maxime ut pictura poesis (wie ein Bild, so sei die Dichtkunst), die auf Horaz (14 v. Chr.) zurückzuführen ist, beschreibt das ästhetische Programm der Verschwisterung der Künste, das von der Spätantike über die Renaissance bis in die Aufklärung oberste Priorität besitzt.
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unterschiedlichen Zeichensysteme ›malen‹ und ›beschreiben‹. Das semiotische Material richtet sich nach Lessing auf der einen Seite nach optischen Aspekten, andererseits ist es imaginativer Natur. Während Malerei sich darauf beschränken muss, Körper räumlich auf einer Fläche, nebeneinander darzustellen, sind Handlungen, Gegebenheiten, die zeitlich aufeinander folgen, Gegenstand der Literatur. Diese Faktoren beeinflussen entscheidend die unmittelbare Aneignung. Der bildliche Rezeptionsakt beginnt an einem Punkt und dehnt sich dann in verschiedene Richtungen weiter aus, während der Leseprozess normalerweise rein chronologisch verläuft. Die Malerei muss sich auf die Darstellung der sichtbaren Seite der Welt beschränken oder Unsichtbares sichtbar machen, demgegenüber ist die Literatur darauf festgelegt, Körper durch die Beschreibung zu verbildlichen. Zeitlich ist ein Bild, im Gegensatz zur Literatur, auf einen Augenblick beschränkt, wobei es auch hier seit jeher Formen gibt, die diese Begrenzung zu überwinden suchen.9 Generell folgt aus diesen Eigenschaften jedoch »die Regel von der Einheit der malerischen Beiwörter, und der Sparsamkeit in den Schilderungen körperlicher Gegenstände«10. Die jeweiligen Grenzen werden durch die Fähigkeit der Einbildungskraft des Rezipienten überschritten; innerhalb dieses Vorgangs kommt dem Werk Wirkung zu. Hieraus ergeben sich qualitative Richtlinien für die Gestaltung von Bildern oder Texten, je nach dem, wie das Endprodukt beim Betrachter oder Leser verarbeitet werden soll. Was Qualität hat und wie diese erzeugt wird, hängt eng mit dem Kunstverständnis des Beurteilers zusammen. Im Fall Lessings siegen die Möglichkeiten der Literatur, da sie besser dazu im Stande ist, die Einbildungskraft anzuregen. Innerhalb der Literatur werden die Belange hochgehalten, die in Zusammenhang mit der Vorstellungswelt der Aufklärung stehen. Die Auseinandersetzung der Literatur mit ihrer eigenen Materialität radikalisiert sich mit dem Ende der ›Gutenberg-Galaxis‹11 um 1900. Durch die Erfindung des Buchdrucks »wurde aus dem sichtbaren Geist ein lesba-
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Beispielsweise mittelalterliche Darstellungen, die auf ein und demselben Bild unterschiedliche, aufeinanderfolgende Szenen einer Handlung abbilden.
10 G. E. Lessing: Laokoon, S. 115. 11 Vgl. McLuhan, Marshall: The Gutenberg galaxy: the making of typographic man, Toronto: Toronto Press 1962 beziehungsweise McLuhan, Marshall: Die Gutenberg-Galaxis: das Ende des Buchzeitalters, Düsseldorf: Econ 1968.
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rer und aus der visuellen Kultur eine begriffliche. Dass diese Wandlung das Gesicht des Lebens im Allgemeinen sehr verändert hat, ist allbekannt«.12 Mit der Photographie und vor allem durch den Film verändert sich die Kultur ebenso gravierend wie zu Zeiten der Erfindung der Buchpresse. Die in der Wortkultur unsichtbare Körpersprache erfährt eine radikale Wendung durch »die visuelle Korrespondenz der unmittelbar verkörperten Seele. Der Mensch wird wieder sichtbar werden.«13 So wird die Tradition der Präsenz des Körpers, der Gestik und Mimik als Ausdrucksträger der Seele bei beispielsweise mündlichen Überlieferungen oder innerhalb der Malerei auf neuem Wege wiederbelebt und das Buch bekommt als Medium weitere Konkurrenz. Die literarische Vermittlung von Inhalten steht nicht mehr allein in Rivalität mit den anderen ›hohen‹ Künsten, sondern sie muss sich im Spiegel der technischen Errungenschaften der Photographie14 und später auch des Films15, Fernsehens16 und Hörfunks17 neu begreifen, sich bewei-
12 Balász, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 16. 13 Ebd., S. 17. 14 Neben zahlreichen anderen Vorgängermedien wie beispielsweise dem Panorama oder dem Diorama, ist die Daguerreotypie unmittelbarer Vorläufer der Photographie. Sie wurde 1838/39 von dem französischen Maler Louis Jaques Mandé Daguerre unter Verwendung der Heliographie von Nicéphore Niepce erfunden. Bei der Daguerreotypie wird eine polierte, versilberte Platte mit Joddämpfen lichtempfindlich gemacht und in eine Kassette eingelegt, welche wiederum in die Kamera eingesetzt wird. Nach der Belichtung bei Tageslicht erfolgt die Entwicklung im Dampf von erhitztem Quecksilber, welcher sich nur auf den Teilen der Platte niederschlägt, die Licht empfangen haben. Die Weiterentwicklung und Perfektionierung dieses Verfahrens führte zu den heutigen vielfältigen Möglichkeiten photographischer Technik. 15 In Anlehnung an die Photographie entwickelte sich der Film aus der Idee der laterna magica (eine Art Diaprojektor), die erstmals im 17. Jahrhundert auftrat. Ende des 18. Jahrhunderts wurden Bewegungsmethoden entdeckt und eingesetzt (Daumenkino, Drehtrommel...). Seit dem 19. Jahrhundert ist der Film ein Massenmedium. Verantwortlich dafür waren 1889 die Erfindung des Zelluloids und die erste Filmkamera, der Kinetograph von Edison, 1891. 1895 fand die erste Filmvorführung in Berlin statt, 1896 wurde in Paris der erste Film öffentlich ge-
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sen, ihre Möglichkeiten und Grenzen kennen lernen und überdenken. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass Formen der Vermittlung, wie das Schriftmedium auch, sowohl auf künstlerischer Ebene als auch zu rein informativen Zwecken eingesetzt werden. Die Diskussionen, ob Photographie und Film als autonome Kunstformen betrachtet werden können, sind in der Folgezeit weit verbreitet und dauern teilweise heute noch an. Auch wenn die semiotische Dimension dieselbe bleibt, kann doch der Anspruch, mit dem die jeweilige Zeichensprache verwendet wird, ein anderer sein. Bei Photographie und Film wird die Wahrnehmung dahingehend verändert, dass konkrete Realitätsausschnitte sichtbar und hörbar werden, die ohne die jeweiligen technischen Errungenschaften nicht in dieser Form in Erscheinung treten können. Beispielsweise hat die Photographie das Potenzial, Tatsachen festzuhalten, die für das bloße Auge zu schnell vonstatten gehen, um sie als einzelnes Ereignis wahrnehmen zu können. Der Film verfügt über die Mittel der Zeitlupe, des Zeitraffers und verschiedener Montagetechniken, die die Möglichkeit des Auges übertreffen und die dem Betrachter Raum- und Zeitstrukturen vorführen, die sich seinem Bewusstsein bisher entzogen. Film und Photographie erzeugen einen Eindruck von Wirklichkeit, der unmittelbar und exakt scheint, und dennoch ist die Apperzeption, die Erfassung der unmittelbaren Realität, eine andere. So hat man sowohl im Falle von filmischen Bildern als auch bei photographischen Darstellungen immer eine interpretierte, teilweise verzerrte, doch zumindest technisch veränderte Fassung der Außenwelt vor Augen. Walter Benjamin betont im Kontext des Vergleichs zwischen einem Bühnenschauspieler und einem Filmdarsteller die Rolle der technischen Eingriffe und Gerätschaften, mit deren Hilfe es erst möglich ist, die gefilmten Sequenzen als nahezu ›authentisch‹ zu gestalten: »Die Apparatur, die die Leistung des Filmdarstellers vor das Publikum bringt, ist nicht gehalten, diese Leistung als Totalität zu respektieren. Sie nimmt unter Führung des Kameramanns
zeigt. Diese Veranstaltungen markieren den Beginn des Kinos. Schließlich wurde 1929 der Tonfilm erfunden, in den 1950er Jahren folgte der Farbtonfilm. 16 Fernsehen existierte bereits 1950, befand sich zu dieser Zeit jedoch noch im Versuchsstadium. Nach Weiterentwicklungen dieser Technik erfolgte die Etablierung spätestens 1976 mit dem Farbfernsehen. 17 Der Hörfunk entwickelte sich etwa um 1920.
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laufend zu dieser Stellung.«18 Photographie und Film zeigen also, unabhängig davon, ob eine Situation gestellt beziehungsweise gespielt ist oder ob sie dokumentiert, immer den Blick eines anderen, der durch die jeweilige technische Apparatur festgehalten wird. Roland Barthes beschreibt in seiner Bemerkung zur Photographie seine Reaktion auf eine Abbildung des jüngsten Bruders von Napoleon mit den Worten: »Ich sehe die Augen, die den Kaiser gesehen haben.«19 Der Betrachter ist dazu angehalten, dem Kameraauge zu folgen und sich in den interpretierten Blick einzufinden. Es ist eine andere Natur, die dargestellt wird, nach Benjamin »[a]nders vor allem dadurch, dass an die Stelle eines vom Menschen mit Bewusstsein durchwirkten Raums ein unbewusst durchwirkter tritt.«20 Mit dem Wechsel von einer selektiven Art der Wahrnehmung, bei der Aneignung der unmittelbaren Realität, hin zu einer analysierenden Betrachtungsweise, bei Photo und Film, wird dem Rezipienten die Umwelt durch die vorherige Bündelung verschiedener Segmente durch die Kamera näher gebracht und Einzelheiten deutlicher vor Augen geführt. Auch Ungewöhnliches, das im Alltag nicht unbedingt Gegenstand der Betrachtung ist oder aber Gegebenheiten, die so banal sind, dass sie normalerweise nicht bewusst wahrgenommen werden, rücken in den Blickpunkt. Das gilt für die Photographie ebenso wie für den Film, der als Folgemedium auf das statische Bild verstanden werden kann. Vor allem die Aspekte der vermeintlichen Unparteilichkeit, der Objektivität und Exaktheit der Photographie und die erweiterten Möglichkeiten der Raum- und Zeitwahrnehmung des Films wissen die Literatur zu begeistern. Die Photographie avanciert zum Massenmedium, und ihre Fähigkeit, auf besondere, direkte Weise Momente der Wirklichkeit mimetisch wiedergeben zu können, hat auf die Ansprüche und ästhetischen Konzepte literarischer Bewegungen großen Einfluss. Noch gravierender ist die Konkurrenz zum Film, der die Möglichkeit besitzt, eine Geschichte zu erzählen und gleichzeitig sich bewegende Figuren vor einem beliebigen Hintergrund
18 Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 136-169, hier S. 150. 19 Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 11. 20 W. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, S. 162.
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abzubilden. Mit der Entwicklung anderer massenmedialer Phänomene ist die Literatur herausgefordert, sich zu beweisen, und sie tut dies unter anderem, indem sie die Chance des Vergleichs nutzt, um in diskursiver Form die neuen Entwicklungen zum Thema zu machen, und um ihre eigenen Mittel zu erweitern. Eine Wechselwirkung zwischen Text und Bild ist ebenso in entgegengesetzter Richtung zu erkennen: Die Literatur beeinflusst Versuche des filmischen Erzählens (auch beim Stummfilm, der sich, von spärlichen zwischengeschalteten Textelementen abgesehen, mit der Übersetzung von Sprache in Mimik, Gestik und Bewegung auseinandersetzen muss). Ebenso reflektiert die Photographie ihr Verharren im Augenblick und die Begrenztheit ihres Darstellungsausschnittes im Kontext zu anderen medialen Ausdrucksformen. Neben der Orientierung an fremdmedialen Arbeits- und Ausdrucksweisen ist auch eine gegenteilige Reaktion der Literatur möglich: Sie kann sich innerhalb dieser Medienkonkurrenz bewusst selbstbezüglich verhalten, sich auf ihre Beschaffenheit konzentrieren und gezielt der Darstellung vermeintlicher Realität, welche Photographie und Film auszeichnen, verweigern.21 Unabhängig davon, auf welche Weise sich Autoren und Texte positionieren, sind die intermedialen Auseinandersetzungen stets von einer Autoreflexion der Sprache und Literatur über ihre prinzipielle Beschaffenheit begleitet. Die neuen technischen Errungenschaften verstärken und erweitern die Suche nach einer Ausdrucksform, die den Herausforderungen der Umwelt adäquat erscheint, denn es besteht immer auch eine Rückwirkung zwischen der Wirklichkeitswahrnehmung, den aktuellen Medien, der Kunst und dem Kunstverständnis. Die Massenmedien verändern und durchsetzen die Realitätsbetrachtung, was sich unweigerlich in der Literatur bemerkbar macht, wenn sie die Umwelt darstellt. Ebenso ist der Begriff vom »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«22 nicht mehr derselbe wie zu den Zeiten, als Werte wie »Schöpfertum und Genialität, Erkenntniswert und Geheimnis«23 noch hoch im Kurs stehen.
21 Vgl. Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900, München: Fink 1985. 22 W. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. 23 Ebd., S. 137.
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Mit der Verbreitung und Weiterentwicklung der Massenmedien wächst die Intensität ihrer Auswirkung auf die persönliche Lebenswelt des Einzelnen und auf das künstlerische Schaffen. Die Literatur muss sich, ebenso wie Film, Hörfunk und Photographie (meist in Form des Photojournalismus oder der Werbung) auf dem wirtschaftlichen Markt beweisen. Verwertungsinteressen der Masse und eines sich allmählich monopolisierenden Literaturbetriebs führen Autoren den Warencharakter ihrer Werke nachdrücklich vor. So resultiert aus der Medienkonkurrenz eine Tendenz zur Gleichstellung der ›hohen‹ Künste mit den neu entwickelten Erzeugnissen technischer Medien. Neben der Reaktion der Literatur mit dem Zusammenrücken der Erzähltechniken, beispielsweise in Form von Dokumentar- und Reportageromane, welche die Grenzen zwischen journalistischen und poetischen Schreibweisen verwischen, werden auch Stoffe über die eigene mediale Grenze hinaus verwendet oder übersetzt. Romane werden zu Filmdrehbüchern umfunktioniert, es entstehen Bücher zu Filmen und literarische Werke werden in Hörspielform gesendet. Die Etablierung des Films, der seit Ende der 1920er Jahre auch mit Ton, beziehungsweise Sprache arbeitet, aber auch des Rundfunks ab Mitte der 1920er Jahre bereitet die Anfänge für die Entstehung der Medienanalyse. Die meisten Ansätze dieser Zeit sind von den Gesellschaftstheorien des Marxismus beeinflusst, konzentrieren sich also hauptsächlich auf das Phänomen der Massenkultur in Zusammenhang mit der sozialen Rolle der Medien. Bertolt Brecht schlägt mit seiner Radiotheorie24 eine veränderte gesellschaftliche Funktion des Rundfunks vor. Die rein »dekorative Haltung«25 des akustischen Mediums soll in eine interaktive umgewandelt werden. Die Massenwirksamkeit des Radios soll dazu genutzt werden, eine dialektische Entwicklung zu erzeugen, indem der Zuhörer einerseits politisch und gesellschaftlich belehrt wird, andererseits aber auch dazu in der Lage ist, eine unmittelbare Reaktion oder Kommentierung kundzutun und so wiederum selbst zu belehren. Durch die aktive Partizipation an öffentlichen Prozessen der Kommunikation wäre die Politisierung einer breiten Masse möglich,
24 Vgl. Brecht, Bertolt: »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat«, in: Ders., Schriften zur Literatur und Kunst I. 1920-1932, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, S. 132-140. 25 Ebd., S. 137.
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und darüber hinaus wären Personen in Machtpositionen angehalten, auf diesem Wege ihre Tätigkeiten zu beschreiben und zu rechtfertigen. Neben Brechts optimistisch-utopischem Vorschlag zur Umfunktionierung der Sender/Empfänger-Struktur wird die neue Rezeptionshaltung und Massenformierung von Walter Benjamin thematisiert. Er nimmt in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit vor allem auf den Film Bezug. Zunächst diagnostiziert Benjamin eine veränderte Wahrnehmung von Kunst, denn das Kunstwerk wird durch die Möglichkeit der technischen Reproduktion, die »an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises setzt«26, seiner Aura beraubt. Dem Verlust der Echtheit, der Einbuße des »Hier und Jetzt«27und der Liquidierung des Traditionswerts des Kunstwerks begegnet Benjamin allerdings nicht mit Bedauern, sondern er sieht darin eine Chance der Befreiung des Wahrnehmungsspielraums des Betrachters. Indem Echtheit als Maßstab untauglich geworden ist, spielt Kunst eine andere gesellschaftliche Rolle. Der Kultwert, der aus der Einzigartigkeit und der Aura eines Originals resultiert, weicht der Betonung des Ausstellungswertes eines Kunstprodukts. Film und Photographie können Indizien festhalten. Sie haben daher die Fähigkeit zur Dokumentation und können als historische Beweisstücke fungieren und somit für politische Zwecke nützlich werden. Darüber hinaus ist beispielsweise der Film mit Hilfe schnell wechselnder Einstellungen und Schauplätze und durch Freisetzung bisher ungesehener Facetten der Wirklichkeit, unter anderem durch Großaufnahme und Zeitlupe, zu einer »Chockwirkung«28 fähig, die »durch gesteigerte Geistesgegenwart [der Rezipienten] aufgefangen sein will«29. Dadurch, dass ein Film von vielen Personen gleichzeitig angesehen wird, ist das Urteil über seine Qualität nicht einem elitären Kreis vorbehalten, sondern eine fachmännische Masse kann ihre Meinung kundtun. Das Kino wird gewissermaßen zum Ort eines ›Wahrnehmungstrainings‹: Neue Perspektiven und diskontinuierliche Prozesse werden mit kritisch-testender Haltung aufgenommen. So wird eine emanzipatorische Verhaltensstruktur eingeübt, die der einzelne Bürger sich auch in seiner unmittelbaren Lebenswirklichkeit aneignen sollte. Inhaltlich
26 Ebd., S. 141. 27 Ebd., S. 139. 28 Ebd., S. 165. 29 Ebd.
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fordert Benjamin, am russischen Film orientiert, auch die Arbeiterschaft und die einfachen Bürger ins Bild zu setzen. Ähnlich der Forderung Brechts, das Radio in einen Kommunikationsapparat umzuwandeln, sieht Benjamin das Potenzial der Interaktion im Fall des Films darin, dass jeder Mensch den Anspruch erheben könne, gefilmt werden zu wollen. So wird aus dem Rezipienten ein Darsteller, der aktiv und kritisch in die Meinungsbildung seiner Umwelt eingreifen kann und somit an einer Politisierung von Kunst produktiv und rezeptiv beteiligt ist. Benjamin sieht seiner Vorstellung der ›Proletarisierung‹ des Films allerdings die westeuropäische kapitalistische Ausbeutung gegenüber, die eine Bedrohung für die aktive, bewusste Teilnahme des Publikums darstellt. Eine weitere Gefahr besteht für ihn in der faschistischen Reaktion auf die von technischer Seite veränderte Sinneswahrnehmung. Das Bestreben des Faschismus läuft auf die Ästhetisierung der Politik hinaus, die nach Benjamin in letzter Konsequenz unweigerlich im Krieg gipfelt. Er parallelisiert den Missbrauch der neuen Rezeptionsstruktur mit faschistischen Methoden, nationalsozialistisches Gedankengut zu verbreiten und kommt so zu folgendem Resultat: »Der Vergewaltigung der Massen, die er [der Faschismus] im Kult eines Führers zu Boden zwingt, entspricht die Vergewaltigung der Apparatur, die er der Herstellung von Kulturwerten dienstbar macht. [...] Der imperialistische Krieg ist ein Aufstand der Technik, die ›am Menschenmaterial‹ die Ansprüche eintreibt, denen die Gesellschaft ihr natürliches Material entzogen hat. Anstatt Flüsse zu kanalisieren, lenkt sie den Menschenstrom in das Bett ihrer Schützengräben, anstatt Saaten aus ihren Aeroplanen zu streuen, streut sie Brandbomben über die Städte hin, und im Gaskrieg hat sie ein Mittel gefunden, die Aura auf neue Art zu zerstören.«30
Der faschistischen, destruktiven Ästhetisierung der Politik steht der kommunistische Ansatz der Politisierung der Kunst gegenüber, der nach Benjamin revolutionäre, konstruktive und emanzipatorische Kraft besitzt. Bei allem Optimismus und aller Sympathie, die er dem Film und dem damit verbundenen veränderten Kunstverständnis entgegenbringt, sind doch nachdrücklich die Gefahren des Missbrauchs der geformten Massen benannt.
30 Ebd., S. 168-169.
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Auch bei Béla Balázs, der mit seiner Arbeit Der sichtbare Mensch31 eine Kunstphilosophie des Films schreibt, um einen Kompass zur Etablierung dieser neuen Richtung zu liefern und um dem Film die Stellung als autonome Kunstform zu ermöglichen, klingt das Potenzial der Beeinflussung großer Publikumsmassen an: »[D]er Film ist die Volkskunst unseres Jahrhunderts. Nicht in dem Sinn, leider, dass sie aus dem Volksgeist entsteht, sondern, dass der Volksgeist aus ihr entsteht.«32 So macht der Faschismus sich sämtliche Medien und Massenspektakel zur Verbreitung eines Volksgeistes zunutze. Statt der Emanzipierung erfolgt die Instrumentalisierung und Manipulierung der Publikumsmassen. Dies thematisiert Siegfried Kracauer in seinem Aufsatz Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino33 von 1927, in welchem er ein Panorama der verbreiteten Typen von Filmthemen und deren Publikumswirkung zeigt. Beispielsweise werden Angehörige niedrigerer Schichten durch die Traumfabrik Film besänftigt, um nicht mit ihrem Schicksal zu hadern. Filme, die die Bevölkerung während des nationalsozialistischen Regimes zu sehen bekommt, weisen diese Muster in bestechender Deutlichkeit auf. Der Kriegsheld ist neben der perfekten Familie, der Huldigung der Arbeit, der Heimatidylle und der Schönheit und Unübertroffenheit des arischen Körpers, Geistes und Lebensstils ein beliebter Filminhalt. Film und Photographie, die vor allem innerhalb von Zeitschriften, Magazinen, Illustrierten, Plakaten und dergleichen auftreten, werden zu Propagandazwecken eingesetzt. Warum die Bildmedien für diese Aufgabe besonders brauchbar sind, beschreibt Gisèle Freund anhand der Photographie: »Ihre Fähigkeit, die äußere Wirklichkeit ganz genau wiederzugeben – eine Fähigkeit ihrer eigenen Technik – verleiht ihr einen dokumentarischen Charakter und lässt sie damit als genauestes und unbestechlichstes Verfahren zur Abbildung des sozialen Lebens erscheinen. Aber die Photographie, weit mehr als jedes andere Reproduktionsmittel, ist dazu geeignet, die Wünsche und Bedürfnisse der herrschenden Klassen zum Ausdruck zu bringen und das soziale Geschehen aus ihrer Sicht zu interpretie-
31 Balász, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. 32 Ebd., S. 10. 33 Kracauer, Siegfried: »Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino«, in: Ders., Das Ornament der Masse, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1962, S. 279-295.
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ren. Obgleich sie ganz an die Natur gebunden ist, hat die Photographie nur eine scheinbare Objektivität. Die angeblich unbestechliche Linse erlaubt alle möglichen Deformierungen der Wirklichkeit, weil der Inhalt eines Photos jedes mal von der Art und Weise abhängt, wie der Photograph die Geschehnisse aufgenommen hat und er von der Forderung seiner Auftraggeber abhängig ist. Die Bedeutung der Photographie besteht also nicht allein in der Tatsache, dass sie eine Schöpfung sein kann, sondern darin, dass sie eines der wirksamsten Mittel zur Formung unserer Vorstellungen und zur Beeinflussung unseres Verhaltens darstellt.«34
Die Steuerung und Kanalisierung öffentlicher Organe kündigt sich schon während der Weimarer Republik an und verstärkt sich drastisch nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933. Liberales und linkes Gedankengut wird aus dem öffentlichen Leben eliminiert, Presse, Rundfunk, Fernsehen, Theater, Film und Literatur werden zensiert und zur Verbreitung nationalistischer Werte missbraucht. Durch die drastische Beschneidung der Freiheit der individuellen Meinungsäußerung besitzt das Regime die Macht, nahezu die gesamte Medienwelt zu kontrollieren, was dazu führt, dass im Dritten Reich Kunst und Kultur nur noch Mittel der politischen Propaganda sind. Die Ästhetisierung der Politik hat die Steuerung und Organisation der Massen zur Folge. Das sowohl in der Kunst als auch auf der politischen Ebene heraufbeschworene, über alles gestellte Gemeinschaftsgefühl, der »Kult der Zerstreuung«35 soll das Volk eigentliche Probleme vergessen lassen und versetzen den Großteil des ›Publikums‹ in einen Zustand der Lähmung, Leichtgläubigkeit, Unaufmerksamkeit und Kritiklosigkeit. Unter anderem aus dieser Instrumentalisierung des Volkes, das nur noch als Gruppenphänomen mit vereinheitlichten Ansichten existieren darf, resultiert der Wahnsinn des Dritten Reiches. Von dieser an Unmenschlichkeit kaum zu übertreffenden Vorführung des manipulativen Aspekts der öffentlichen Medien und ihrer Anlage, Rezipienten zu Massen zu formieren und mit machtpolitischem Gedankengut zu infiltrieren, bleibt in der Folgezeit kein Zeichensystem verschont, denn »Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht
34 Freund, Gisèle: Photographie und Gesellschaft, München: Rogner und Bernhard 1974, S. 6-7. 35 S. Kracauer: Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino, S. 311.
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wiederhole, nichts Ähnliches geschehe«36, und dieser gilt sowohl auf politischer als auch auf gesellschaftlicher, kultureller und medialer Ebene. Kunst und Kultur werden zum Ort der Diskussion über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und über den Standpunkt, Nutzen und die Aufgabe künstlerischer Betätigung. Inhaltliche genauso wie formale Aspekte werden Gegenstand der Überlegungen, wie nach dem faschistischen ›Kahlschlag‹ weiter verfahren werden soll. Adornos Ansicht, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch37 wird zentral für die Frage nach einem literarischen Neuanfang. Seine provokante These, verbunden mit einer radikalen Kritik der Kulturindustrie38, welche nach Horkheimer und Adorno durch die Praktiken der Medien und ihrer Wirkung auf die Gesellschaft Verblendungszusammenhänge konstruiert, um als Instrument der Beherrschung der Massen zu fungieren, machen die Kritische Theorie zu einem der zentralen intellektuellen Ansätze der Nachkriegszeit. Neben Interpreten, die Adornos ›Auschwitz-These‹ dahingehend diskutieren, ob Poesie nach Auschwitz überhaupt noch möglich ist, stehen Autoren, die versuchen, den provokanten Ausspruch als Programm aufzufassen, Verbrechen des Dritten Reiches in aller Grausamkeit, schonungslos ›barbarisch‹ zu verarbeiten. Dafür wird eine neue Sprache benötigt, die ein neues Bewusstsein verkörpert, um aus der Krise herauszuführen. Der Sprachmissbrauch der Nationalsozialisten, der vorbelastete und korrumpierte Wortkombinationen hinterlassen hat, muss durch eine neue Auffassung von Schreiben und Sprache bereinigt werden. Trotz heftiger Abgrenzung schreibt Brinkmann in seinen literarischen Versuchen einer neuen Sprachverwendung die Sprachkritik nach '45 fort. Mit seinem Anspruch, einen Weg zu finden, der Sprache eine neue, möglichste unvorbelastete Unmittelbarkeit zu verleihen, reiht sich Brinkmann in eine lange sprachkritische Tradition ein.
36 Adorno, Theodor W.: »Meditationen zur Metaphysik«, in: Petra Kiedaisch (Hg.), Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter, Stuttgart: Reclam 1995, S. 55-63, hier S. 60. 37 Vgl. Adorno, Theodor W.: »Kulturkritik und Gesellschaft«, in: P. Kiedaisch (Hg.), Lyrik nach Auschwitz?, S. 27-49, hier S. 49. 38 Vgl. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 128-177.
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Literatur ist aufgrund ihrer Charakteristika dafür geeignet, Diskussionen zu formulieren. Neben der thematischen Verbalisierung ist sie darüber hinaus im Stande, Debatten ästhetisch zu modifizieren und so erst hervorzurufen. Bei Rolf Dieter Brinkmann geschieht dies innerhalb des Spannungsfeldes zwischen dem Versuch, sich gegen die ständige Vergangenheitsbewältigung in der Literatur zu wehren, neue Inhalte und Formen zu finden und der Überzeugung, aufmerksam gegenüber seinen Sinnen und ihrer Verarbeitung von äußeren und medialen Eindrücken zu bleiben. Obwohl Brinkmann viele traditionelle literarische Ansätze strikt ablehnt und stark dagegen polemisiert (»Ich hasse alte Dichter«39) sind seine Versuche, die Sprache (diesmal aus dem Kerker der traditionellen, metaphorischen Vorbelastungen) zu befreien, nicht ohne den historischen Rahmen zu denken. Der manipulative Aspekt der Medien, die den Einzelnen von der Unmittelbarkeit der Wirklichkeitswahrnehmung abschnüren, und die belastenden Vergangenheitsrelikte bleiben nach wie vor, wenn auch häufig neuartig und durchaus unterschiedlich verarbeitet, zentral. Allerdings stellen sich durch den kontinuierlichen Zuwachs massenmedialer Kommunikationsformen neue Herausforderungen und Beurteilungsgrundlagen für medientheoretische Ansätze. Massenmedien und -kultur beginnen mehr und mehr sämtliche Lebensbereiche, inklusive die ›hochkulturelle‹ Sphäre, zu durchsetzen. Umberto Eco unterscheidet überspitzt zwei unterschiedliche Lager in der bisherigen Mediendiskussion, nämlich »Apokalyptiker und Integrierte«40. Während sich die Apokalyptiker vornehmlich dadurch auszeichnen, Theorien über den kulturellen Zerfall als Folge der Kritikunfähigkeit künstlerischer Produkte und der Vorherrschaft massenmedialer Vermittlungsformern auszubilden, verweigern Integrierte die Theoriearbeit. Nach Eco kann es allerdings nicht darum gehen, sich einer der beiden Positionen anzuschließen, sondern das kritische und differenzierte Potenzial apokalyptischer Bewegungen zu nutzen und, im Angesicht der medialen Verfasstheit der Umwelt und des kulturellen Wandels, ein Bewusstsein für die eigene, unumgängliche Integriertheit innerhalb der Massenkultur zu entwickeln. Dies verlange eine Verabschiedung von der
39 Brinkmann, Rolf Dieter: »Angriff aufs Monopol. Rolf Dieter Brinkmann: Ich hasse alte Dichter«, in: Christ und Welt vom 15.11.1968, S.14-15, hier S. 14. 40 Eco, Umberto: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt am Main: Fischer 1984.
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Vorstellung, die Unterscheidung in ernste und zur reinen Unterhaltung dienliche Kultur ließe sich aufrechterhalten. Dem entsprechend postuliert Eco in der Neuauflage von 1984 seines zwanzig Jahre zuvor erschienen Buchs: »Ich glaube heute weniger denn je, dass man an der strengen Einteilung in High-, Middle- und Low-brow-Kultur festhalten kann.«41 Eine kritische Rezeptionshaltung innerhalb der Massenkultur, die sich langsam davon löst zu glauben, Phänomene dieser Art von außen betrachten zu können, ist auch in deutschen medientheoretischen Ansätzen der 1960er Jahre von Bedeutung, beispielsweise bei Hans Magnus Enzensberger in seinem Baukasten zu einer Theorie der Medien42. Er greift die Manipulationsthese linker Autoren auf, wehrt sich jedoch gegen die Dämonisierung der neuen Medien. Zwar entspricht es der Realität, dass, technisch gesehen, Film und Fernsehen durch ihre Sender/Empfänger-Struktur direkte Interaktion verhindern. Abhilfe sieht Enzensberger jedoch, im Gegensatz zu Brecht, nicht in der Veränderung des Rezeptionsprinzips, sondern in einer gewandelten Haltung gegenüber den Medien. Kommunikation kann auch innerhalb dieser passivierten Rezeption erzeugt werden und zwar durch kritische Stellungnahme. Der Einzelne ist in der Lage durch Autonomisierung und intellektuelle Emanzipation aktiv zu wählen, was er sehen, lesen oder hören möchte und Rezipiertes selbständig zu werten. Nur auf diesem Wege kann man die Ohnmacht gegenüber dem Medienalltag, der bereits Fakt ist, ablegen und sich die Medienrealität offensiv und kritisch aneignen. Ähnliche Gedanken sind auch bei Rolf Dieter Brinkmann zu finden, der zunächst von der Unumgänglichkeit der medialen Beeinflussung im Alltag eines jeden Einzelnen ausgehend, versucht, die auf diese Weise zugängliche Zeichenwelt für den persönlichen Erfahrungsbereich fruchtbar zu machen, jedoch auch stark Kritik an der stumpfen, medialen Überflutung des Subjekts übt. Sein literarischer Ansatz ist außerhalb des Rahmens der deutschen intellektuellen Nachkriegslandschaft, wie die ’68er Bewegung auch, nicht zu denken, wenngleich er sich eher an amerikanischen und kanadischen Medientheoretikern orientiert.
41 Ebd., S. 12. 42 Enzensberger, Hans Magnus: »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, in: Claus Pias et al. (Hg.), Kursbuch Medienkultur, Stuttgart: Deutsche VerlagsAnstalt 1999, S. 264-278.
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Vor allem Marshall McLuhan ist in diesem Zusammenhang wichtig. Die kanadische und US-amerikanische Medienwissenschaft der 1950er und 1960er Jahre beschäftigt sich hauptsächlich mit dem kommunikativen Aspekt der Medien. Allgegenwärtigkeit und Massenformierung durch mediale Vermittlungsformen werden als Tatsache begriffen. Die Analyse ist hauptsächlich darauf gerichtet, wie Medien gesellschaftliche Kommunikation betreiben und Denkstrukturen und Verhaltensmuster prägen. Auch Marshall McLuhan betont den engen Zusammenhang zwischen politischen, gesellschaftlichen, technologischen und persönlichen Veränderungen, die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Kommunikation, die abhängig von medialer Entwicklung ist. Soziale und kulturelle Verhältnisse prägen die Arbeitsweise der Medien und umgekehrt. Die elektrische Zirkulation in Verbindung mit der sich ständig weiter ausbreitenden Medialisierung wird mit dem menschlichen Nervensystem verglichen und als dessen externe Erweiterung begriffen. In dieses Netz ist das Subjekt unumgänglich eingebunden, es ist auf sämtlichen Ebenen davon beeinflusst: »Alle Medien massieren uns gründlich durch. Sie sind dermaßen durchgreifend in ihren persönlichen, politischen, ökonomischen, ästhetischen, psychologischen, moralischen, ethischen und sozialen Auswirkungen, dass sie keinen Teil von uns unberührt, unbeeinflusst, unverändert lassen. […] Alle Medien sind Erweiterungen bestimmter menschlicher Anlagen – seinen sie psychisch oder physisch.«43
Ein Wesensmerkmal medialer Vermittlung ist, nach McLuhan, dass das Medium Botschaft ist.44 Das besagt einerseits, dass die spezifische Form der medialen Vermittlung den Inhalt maßgeblich beeinflusst, andererseits aber auch, dass in einem Medium immer ein anderes, älteres Vorgängermedium steckt (der ›Inhalt‹ der Schrift ist Sprache, der ›Inhalt‹ des Buches ist das geschriebene Wort). In diesem Sinne kann der Computer als Kulmination von vorhergehenden Medien in einem neuen begriffen werden. Die Auswirkungen der unterschiedlichen medialen Techniken
43 McLuhan, Marshall/Fiore, Quentin: Das Medium ist Massage, Frankfurt am Main/Wien/Berlin: Ullstein 1969, S. 26. 44 Vgl. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle, Düsseldorf/Wien: Econ 1968, S. 13-29.
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»zeigen sich nicht in Meinungen und Vorstellungen, sondern sie verlagern das Schwergewicht in unserer Sinnesorganisation oder Gesetzmäßigkeiten unserer Wahrnehmung ständig und widerstandslos. Der ernsthafte Künstler ist der einzige Mensch, der der Technik ungestraft begegnen kann, und zwar nur deswegen, weil er als Fachmann die Veränderungen in der Sinneswahrnehmung erkennt.«45
Wie Beschallung, Bilder- und Zeichenflut auf unsere Gewohnheiten einwirken, wird nicht bewusst wahrgenommen, da nicht einmal die Tatsache der medialen Vermittlung in der unmittelbaren Rezeption reflektiert wird.46 Behaupten kann sich der Rezipient, nach McLuhan, nur, indem er Massenmedien bewusst als in sein Leben integriert begreift und diese Situation akzeptiert. Es geht ähnlich wie bei Enzensberger und Benjamin darum, sich dem Medienalltag zu stellen und eine emanzipierte Haltung dazu einzunehmen. Die Integration von Massenmedien in die persönliche Lebenswelt schließt gewissermaßen schon den Kunstbegriff mit ein, der McLuhans Ausführungen zu Grunde liegt. Er vertritt die Überzeugung: »Kunst kann alles mögliche sein solange du damit durch kommst«47. Der erweiterte Kunstbegriff fordert zugleich auch die literarische Verarbeitung massenmedialer Stoffe und Realitäten und die Integration popkultureller Inhalte. Literatur muss kommunizieren: »Die Informationsverarbeitung der Umwelt ist Propaganda. Propaganda hört dort auf, wo der Dialog einsetzt. Wir müssen mit den Medien reden, nicht mit den Programmleitern. Ein Gespräch mit dem Programmleiter käme einer Klage gleich, die
45 Ebd., S. 25. 46 Die These McLuhans, Medien als Erweiterung des menschlichen Nervensystems zu begreifen, ist viel diskutiert. Antipodisch steht ihr Kittlers Auffassung gegenüber, dass Medien erst Einblick in die Informationsmaschine Mensch ermöglichen. Er kehrt gewissermaßen die Denkrichtung um, wenn er postuliert: »Man weiß nichts über seine Sinne, bevor nicht Medien Modelle und Metaphern bereitstellen« (Kittler, Friedrich: Optische Medien, Merve: Berlin 2002, S. 28). Beide Standpunkte verdeutlichen jedoch gleichermaßen das komplexe Verhältnis zwischen der menschlichen Wahrnehmung, ihrer medialen Beeinflussung und der (Un-)Möglichkeit, diese Prozesse bewusst wahrzunehmen. 47 M. McLuhan/Q. Fiore: Das Medium ist Massage, S. 136.
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wir beim Würstchenverkäufer des Fußballplatzes anbringen, wenn unsere Lieblingsmannschaft schlecht spielt.«48
Eine Stellungnahme gegenüber dem populärkulturellen, massenmedialen Alltag und gleichzeitig die Positionierung innerhalb dieser Gegebenheiten bedeutet für die Literatur eine Veränderung ihrer Vorstellungen, Inhalte, Formen und Möglichkeiten. Der Künstler befindet sich als Experte der Sinneswahrnehmung in der Auseinandersetzung mit seiner Zeit und kann sich entweder bewusst von den genannten Einflüssen abgrenzen, was auch eine Stellungnahme im Rahmen der vorhandenen Umstände bedeutet, oder diese aufgreifen und so einen Beitrag zur Diskussion leisten. Rolf Dieter Brinkmann knüpft an die Überlegungen McLuhans an: Er öffnet den Literaturbegriff für popkulturelle Themen und versucht andere Formen medialer Vermittlung unter Berücksichtung des Primats der sinnlichen Wahrnehmung zu integrieren. Der vorhergehende Exkurs stellt vor allem heraus, dass sich die gesellschaftliche Rolle von pikturalen Medien auf unterschiedlichste Weise auswirken kann. Medien sind durch ihre technische Beschaffenheit und die daraus resultierenden Merkmale dazu in der Lage, Wahrnehmungsveränderungen hervorzurufen und zu zeigen. Sie können, korrespondierend mit dem transportierten Inhalt, sowohl manipulativ als auch emanzipierend wirken und bestimmten Themen eine besondere Eindrücklichkeit verleihen. Darüber hinaus reagiert Literatur direkt auf künstlerische Vermittlungssysteme und technische Neuerungen, indem sie die Verfahrensweisen und Potenziale anderer Medien nutzt, sich ihnen gegenüber abgrenzt oder verweigert, wobei verschiedenste Zwecke verfolgt werden können. Der Anspruch an und von Literatur ändert sich im Laufe der Medienkonkurrenz, wie sich auch die Beschreibung, Wahrnehmung und Kommentierung der Medien in den theoretischen Ausführungen modifizieren. Dass auch Brinkmanns Werk eine permanente und äußerst vielseitige Stellungnahme zur medialen Umwelt darstellt, zeigt sich in den Analysen der Einzeltexte. Da neben den vorhergehenden Beziehungen zwischen Text und Bild mediale Kontakte zwischen Literatur und Musik für Brinkmann charakteristisch sind, folgt auch hier zunächst ein allgemeiner theoretischer Teil.
48 Ebd., S. 142.
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2.1.2 Literatur und Musik Die Diskussion der Beziehungen zwischen Musik und Literatur und ihrer kontextuellen Anbindungen ist wesentlich anders zu führen als die vorhergehenden Ausführungen zu Text/Bild-Verhältnissen. Ein Überblick genereller Charakteristika musikalischer Formen ist nicht zu leisten, weil sich innerhalb der Musiktheorie eine Vielzahl von Diskursen entwickelt hat, die sich nicht vereinheitlichen lassen. Daher kann das folgende Kapitel keine allgemeinen Verfahrensweisen eines Zeichensystems, dessen Verweischarakters und seiner Bedeutungsgenerierung leisten, sondern lediglich selektieren und problematisieren. »Each type of music comes with its own way of thinking about music«49. Daher muss zunächst geklärt werden, welche Art von Musik verhandelt wird, als was sich diese Musik begreift und wie über sie gedacht wird. Dadurch gestaltet sich die kulturelle Kontextualisierung von Musik und wiederum deren Auswirkung auf gesellschaftliche Wahrnehmungsprozesse in Analogie zum vorhergehenden Text/Bild-Kapitel wesentlich schwieriger, was auch daran liegt, dass die semiotische Bedeutung von Musik und ihr Status als Zeichensystem unterschiedlich und nahezu ausschließlich in Referenz auf klassische Musik diskutiert wird. Diese Debatte wird zunächst kurz veranschaulicht und, im Hinblick auf den hier wichtigen Bereich der Popmusik, die Notwendigkeit einer etwas anderen Herangehensweise verdeutlicht. Da eine Eingrenzung des Zugangs unumgänglich ist, soll keine generelle Analyse der sprachlichen und musikalischen Semiotik und keine Auslegung philosophischer oder musikwissenschaftlicher Theorien über das Wesen der Musik im Allgemeinen erfolgen, sondern nur ein kurzer Einblick in die semiotische Diskussion gegeben werden. Prinzipiell liegt der Fokus dieser Arbeit auf der Ausweisung allgemeiner Merkmale des im Hinblick auf Brinkmanns Schreiben relevanten Zugangs zur Popmusik. Die Einstufung der Musik als Zeichensystem ist nicht unumstritten. Es lassen sich durchaus Ansätze finden, die sich gegen die Möglichkeit des Vergleichs von Sprache und Musik aussprechen. Beispielsweise resultiert für Harweg, Suerbaum und Becker die Nichtvergleichbarkeit aus folgender Begründung: »Immanent und zeichentheoretisch gesehen haben Sprache
49 Cook, Nicholas: Music. A very short introduction, New York: Oxford University Press 1998, Foreword.
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und Musik weniger gemein als die Musik und andere Ereignisse auf der Ebene der Welt, mögen diese sein, was sie wollen, Sonnenuntergänge, Fußballspiele oder was auch immer.«50 Es ist dennoch sinnvoll an der These der Möglichkeit des Vergleichs festzuhalten, da Musik und Sprache, im Gegensatz zu Sonnenuntergängen, bei allem Unterschied des transportierten Gehalts und semiotischen Aufbaus, künstlerische Ausdrucksformen darstellen und damit eine Grundlage für eine Gegenüberstellung besteht. Bei Musik wie auch bei Sprache existieren bestimmte, gezielte Ordnungsprinzipien und Eigengesetzlichkeiten, die systematisiert werden können (ein Tätigkeitsbereich der Musikwissenschaft) und in einem Kommunikationsprozess eine Vermittlungsfunktion übernehmen. Welche Grenzen sich beim Austausch zwischen Text und Musik ergeben und inwieweit sich überhaupt fremdmediale Eigenheiten von einem ins andere Medium übertragen oder übersetzen lassen, sind Diskussionspunkte, die im Laufe dieser Arbeit aufgegriffen und kritisch hinterfragt werden, aber nichts an der grundsätzlichen Möglichkeit des Vergleichs ändern. Wenn nun Musik als System von Zeichen begriffen wird, ist zu diskutieren, wie und worauf verwiesen und auf welche Art, im Gegensatz oder in Analogie zur Sprache, Bedeutung generiert wird. Wie schon im Fall des Bildes ist auch die Verbindung zwischen Musik und Text in der Sprache selbst angelegt, da beide eine tonale Komponente besitzen. Während die Beziehung zum Bild sich im sprachlichen Zeichen auf der Ebene des Signifikats ansiedelt, gründet die Verbindung zum Ton im Signifikant, der sowohl geschrieben, als auch gesprochen in Erscheinung treten kann.51 Ebenso »[w]ie Sprache lässt sich der Ton grafisch festlegen, und zwar als Notation in der Partitur (Signifikant). Der fundamentale Unterschied ist aber, dass ein Ton oder ein
50 Harweg, Roland/Suerbaum, Ulrich/Becker, Heinz: »Sprache und Musik«, in: Poetica 1 (1967), S. 390-414, hier S. 396. 51 Nach zahlreichen antiken und außereuropäischen Arten, Musik schriftlich festzuhalten, entwickelte Guido von Arezzo zu Beginn des 11. Jahrhunderts das Terzliniensystem, worauf die moderne Version mit fünf Linien, im 16. Jahrhundert in Frankreich entstanden, basiert.
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Akkord, ob mit dem Einzelinstrument oder im Orchester produziert, bloßer Klang bleibt und mit keiner festen lexikalischen Bedeutung verbunden werden kann.«52
Wenn dem Ton (und auch der Melodie) keine genaue Entsprechung außerhalb der Musik zugesprochen wird, also keine Referenz im klassischen Sinn besteht, kann ihre Bedeutung als rein strukturell aufgefasst werden. Das Signifikat eines Tons, einer Tonfolge oder eines Akkords entspricht in diesem Fall seiner innermusikalischen Bedeutung, die dem Signifikanten im jeweiligen Kontext zukommt;53 der musikalische, intrinsisch selbstreferentielle Sinn kann demnach wechseln.54 Hierbei wird die semiotische Terminologie (die Komponenten Signifikat/Signifikant/Referenz) des sprachlichen Zeichens auf das musikalische Medium übertragen. Syntaktische und semantische Funktion des musikalischen Zeichens werden gleichgesetzt, wodurch davon ausgegangen wird, dass Musik keinen denotativen Sinn besitzt, also nicht auf bestimmte Realitäten außerhalb des musikalischen Systems referiert. Allerdings schließt diese Vorstellung von Musik und ihrer Bedeutungsgenerierung Liedtexte als Inhaltsträger innerhalb der Vokalmusik, Vertonungen von (literarischen) Texten, Programmmusik oder bestimmte Versuche ein eigenes musikalisches Codesystem für einen außermusikalischen Inhalt aufzustellen, wie beispielsweise Erkennungsmelodien, die für einen bestimmten Sachverhalt stehen oder Leitmotive, die sich in festgelegten Zusammenhängen wiederholen, nicht mit ein, da von einer speziellen, rein instrumentellen, absoluten Musik55 als reine Struktur ausgegangen wird.
52 Jeßing, Benedikt/Köhnen, Ralph: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, S. 162. 53 Beispielsweise ist das C der erste Ton der C-Dur Tonleiter, in Verbindung mit einem D Teil einer großen Sekund, kombiniert mit E und G der erste Ton des CDur-Dreiklangs... 54 Vgl. Gier, Albert: »Musik in der Literatur. Einflüsse und Analogien«, in: Peter V. Zima (Hg.), Literatur intermedial, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 61-92. 55 Der Terminus Absolute Musik bezeichnet ausschließlich Instrumentalmusik, also Tonkunst in Reinform. Vor allem in der Frühromantik, die Beethovens späte Quartette als Prototypen begreift, wird die Vorherrschaft der Absoluten Musik zum Paradigma des Denkens über Musik; es dominiert die »Idee, Musik sei ge-
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Daneben gibt es andere Wege, Musik Bedeutung zuzuschreiben. Beispielsweise ist, nach Schopenhauer, Musik der Sprache überlegen, weil sie, nicht wie Begriffe an der Bezeichnung der Erscheinungen haftet, sondern das Wesen der Dinge auszudrücken vermag: »deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher als die der anderen Künste: denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen«56. Darum besteht die Möglichkeit zwischen bestimmten musikalischen Stilmitteln und der außermusikalischen Sphäre Analogien herzustellen. Musik arbeitet dabei allerdings mittelbar und nicht direkt, »da sie nie die Erscheinung, sondern allein das innere Wesen [...] ausspricht. Sie drückt daher nicht diese oder jene einzelne und bestimmte Freude aus, diese oder jene Betrübnis oder Schmerz oder Entsetzen oder Jubel oder Lustigkeit oder Gemütsruhe aus; sondern die Freude, die Betrübnis, den Schmerz, das Entsetzen, den Jubel, die Lustigkeit, die Gemütsruhe selbst, gewissermaßen in abstracto, das Wesentliche derselben ohne alles Beiwerk, also auch ohne Motive dazu.«57
Nach dieser Definition ist die Bedeutung der Musik keine abstrakte, aber eine allgemeine. Eine Kombination und Interpretation musikalischer Zeichen, wie beispielsweise das Adagio in Moll, transportiert einen bestimmten Gehalt, in diesem Fall höchsten Schmerz und erschütterndste Wehklage.58 In der Rezeption werden diese durch die Musik provozierten allgemeinen Gefühle allerdings oftmals mit subjektiven Versatzstücken, wie persönlichen Erinnerungen, konkreten Situationen oder subjektiven emotionalen Zuständen ergänzt. Darum sind derartige Bezüge schwer zu standardisieren. Die Erzeugung ein und desselben Gefühls durch bestimmte Tonarten oder Ähnliches, ist unter Berücksichtigung unterschiedlicher Rezipien-
rade dadurch, dass sie sich vom Anschaulichen und schließlich sogar vom Affektiven ›loslöst‹, Offenbarung des ›Absoluten‹.« (Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik, Kassel: Bärenreiter 1994, S. 23. Vgl. Seidel, Wilhelm: »Absolute Musik«, in: Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil 1, Kassel/Basel: Bärenreiter/Metzler 1994, S. 15-24). 56 Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, Stuttgart/Frankfurt am Main: Cotta/Insel 1960, S. 359. 57 Ebd., S. 364. 58 Vgl. ebd., S. 364.
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ten und der Subjektivität und Ungreifbarkeit von Emotionen doch recht schwer zu verallgemeinern; ebenso wie auch nicht für jeden Komponisten unbedingt das Adagio in Moll mit dem Ausdruck des Schmerzes verbunden sein muss. In Anbetracht verschiedener Zuschreibungen der Bedeutungsgenerierung bleibt die Frage, welcher Art das musikalische Zeichensystem sein könnte. Während die Bedeutung der Musik auch in der Herstellung einer Ähnlichkeitsbeziehung zu akustischen außermusikalischen Phänomenen erfolgen kann, wie innerhalb der Sprache anhand der Onomatopoesie, und damit die ikonische Seite des musikalischen Zeichens betont wird, stellt Brown die symbolische Komponente im dem Vordergrund: »Literatur und Musik sind also einander gleich in dem Sinne, dass sie [...] in symbolischen Zeichen ausgedrückt werden. Der grundlegende Unterschied – mit den üblichen notwendigen Vorbehalten – ist, dass die Laute, aus welchen das Material der Musik besteht, einfach Laute sind, während diejenigen, aus welchen das Material der Literatur besteht, durch die Zuweisung willkürlicher äußerer Bedeutungen nicht lediglich Laute, sondern Wörter sind.«59
Obwohl musikalische Zeichen sowohl symbolisch als auch ikonisch verweisen können, wird größtenteils die Bezeichnung des Symbols favorisiert, das in einem arbiträren Zusammenhang zu einem allgemeinen Sachverhalt steht, denn »[v]erfolgt man die Kette möglicher Referenzen von dem Punkt maximaler, nämlich namentlich fixierter Konkretion zurück bis zu den abstraktesten ›Bedeutungen‹ musikalischer Lautfolgen, wird evident, dass es sich im Fall der Bedeutung von Musik um nichts handelt, was in dieser Hinsicht vom Paradigma ›Sprache‹ verschieden wäre. Dies betrifft relativ konkrete Bedeutungen, wie etwa das ›Schicksalsmotiv‹. Es betrifft aber auch recht abstrakte Bedeutungen wie ›Festlichkeit‹ oder ›ländliche Stimmung‹, bei denen die Arbitrarität der Setzungen durch kulturell
59 Brown, Calvin S.: »Theoretische Grundlagen zum Studium der Wechselverhältnisse zwischen Literatur und Musik«, in: Steven Paul Scher (Hg.), Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebiets, Berlin: Schmidt 1984, S. 28-39, hier S. 30.
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stabilisierte, d.h. für unvordenkliche Zeiten standardisierte Praktiken verdeckt wird, 60
die auch ganz anders aussehen könnten.«
Zwar kann Musik wie Sprache lautnachahmend arbeiten, dies stellt allerdings nur eine spezielle Art des Verweisens dar, und auch das sprachliche System ist prinzipiell symbolisch. Darum ist nach Küpper der Unterschied zwischen Sprache und Musik nicht die Art der Zeichen, sondern die Beschaffenheit der Bedeutungsinhalte. Musik transportiert, »wie wir umgangssprachlich sagen, keine ›Aussagen‹ oder ›Botschaften‹, sondern ›Stimmungen‹ oder ›Gefühle‹«61. Auch diese Ansicht ist schwer zu verallgemeinern und auf alle Musikformen oder kompositorischen Anliegen und rezeptionellen Eindrücke anzuwenden; in jedem Fall bleibt die Bedeutung vage. Eine Klärung der musikalischen Bedeutung und eine unangreifbare Einordnung der Musik als Zeichensystemtypus ist nicht letztgültig zu bewerkstelligen, unter anderem weil immer eine bestimmte Musik Ausgangspunkt der Beschreibung ist. Verdeutlicht wurde allerdings die Unterschiedlichkeit zwischen Sprache und Musik, die Problematik der Analyse in der Heranziehung sprachlicher Kategorien und die Unmöglichkeit der Konkretisierung einer allgemeinen musikalischen Bedeutung auf zeichentheoretischer Ebene. Allgemein kann festgehalten werden: Musik funktioniert anders als Sprache, aber »Musik ist sprachähnlich«62. Aus der sowohl der Sprache als auch der Musik eigenen tonalen Komponente entspringen einige Gemeinsamkeiten des musikalischen und literarischen Vokabulars, deren prinzipielle Analogsetzung allerdings zweifelhaft ist, da teilweise, je nach Medium, andere Sachverhalte bezeichnet werden. Darum sollte berücksichtigt werden, dass Ausdrücke wie Rhythmus, Melodie, Dynamik, Zeit oder Klang, also die sogenannten »›musikalischen Elemente‹ der Dichtung [...] trotz gleicher Bezeichnung und ursprünglicher Wesensverwandtschaft aus
60 Küpper, Joachim: »Einige Überlegungen zu Musik und Sprache«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 51/1 (2006), S. 9-41, hier S. 23. 61 Ebd., S. 33. 62 Adorno, Theodor W.: »Fragment über Musik und Sprache«, in: Jakob Knaus (Hg.), Sprache, Dichtung, Musik, Tübingen: Niemeyer 1973, S. 71-75, hier S. 71.
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der differenzierten Entwicklung heraus doch z.T. recht andersgeartete Züge und Funktionen als in der Musik [haben].«63 Da der Sprache prinzipiell klangliche, melodische und rhythmische Komponenten eigen sind, lässt sich der Bezug auf Musik nur aus deren forcierter Betonung, Häufung oder Systematisierung ablesen. Eine weitere Ähnlichkeit zwischen Text und Musik ist, im Unterschied zum Bild, die Produktions- und Rezeptionsart im Hinblick auf die zeitliche, dynamische Dimension, die Aneinanderreihung aufeinanderfolgender Ereignisse. Während allerdings die Literatur hauptsächlich in ihrer schriftlichen Form auf diese Weise rezipiert wird, ist Musik größtenteils akustisch vermittelt. Da die Realisation musikalischer Werke in deren Aufführung besteht, erfolgt eine größere Abhängigkeit von der Zeit. Der Zuhörer bekommt ein bestimmtes Tempo vorgegeben, das der Leser, abgesehen von forciert eingesetzten literarischen Stilmitteln, die verlangsamend oder beschleunigend wirken, selbst bestimmen kann. Auch unterscheidet sich die Art der zeitlichen Linearität der beiden Künste: Musik »wird im Zeitfortlauf gespielt, ist also auf einer syntaktischen Ebene wahrnehmbar, kann allerdings simultan einen Mehrklang entfalten – ein Effekt, der in der Literatur nur sehr selten zu beobachten ist.«64 Die Möglichkeit beispielsweise polyphoner Effekte liegt an der grundlegenden Charaktereigenschaft von Musik, an ihrem Status als »performance art«65. Musik entfaltet sich in ihrer Aufführungspraxis, die akustische Form ist sozusagen gleichzeitig ein Teil des Inhalts. Ihre Wirkung und Erschließung erfolgt hauptsächlich im Hören eines Livekonzerts, einer Schallplatte oder eines Songs im Radio. Entscheidend ist der Moment des Vollzugs, denn »Sprache interpretieren heißt: Sprache verstehen; Musik interpretieren heißt: Musik machen.«66 Die Art der Inszenierung bei der Aufführung eines Stücks belebt die festgeschriebenen Noten und ermöglicht im Klangeindruck den Transport eines interpretierten musikalischen
63 Reichert, Georg: »Literatur und Musik«, in: Werner Kohlschmidt/Wolfgang Mohr (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Berlin: de Gruyter 1965, S. 143-163, hier S. 155. 64 B. Jeßing/R. Köhnen: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft, S 162. 65 N. Cook: Music, S. 77. 66 T. W. Adorno: »Fragment über Musik und Sprache«, S. 73.
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›Gehalts‹. Dabei lassen sich Analogien zum Drama feststellen, welches zu seiner Realisierung eine Darstellung auf der Bühne anstrebt. Beim Konsumieren eines Stücks hat Musik die Kraft, Assoziationen zu wecken, Gefühle zu provozieren und Stimmungen zu erzeugen. Nicht von ungefähr stammt der Begriff der ›Stimmung‹ ursprünglich aus der Musikwissenschaft und bezeichnet, in Anbetracht unterschiedlicher Auslegungen und verschiedener Bedeutungsspektren, einen präreflexiven Zustand, der sich entweder im subjektiven, emotionalen Bereich niederschlägt oder auf die umgebende Atmosphäre einwirkt.67 Im Bewusstsein dessen, dass auch andere Künste, beispielsweise Malerei oder auch Sprache, in der Lage sind derartig Wirkung zu erlangen, wird Musik durch den Aufführungscharakter oftmals zum Prototypen einer solchen Rezeption erklärt. Darum gibt es Lieder, Musikstücke, Komponisten und Bands, »die einem das Herz stehlen und zum Bestandteil dessen werden, wie man die Welt sieht, wie man die Wahrheit sagt und versteht, selbst wenn man alt und taub und töricht wird«68. Musik ist daher (vor allem, aber nicht nur, für Jugendliche) ein wichtiges Element der Persönlichkeitskonstitution und des Ausdrucks einer individuellen Lebensweise. Da auf dieser Ebene sehr eindrücklich außermusikalische Bedeutungen getroffen werden können, tendieren semiotische Untersuchungen »zu einer Überwindung der gestrengen Ansicht von der Musik als ›Sprache ohne Inhalte‹ [...], [...] indem sie diese Frage von der Ebene der ›Poetiken‹ und der Ansprüche (dem, was Musik in abstracto sein sollte) auf die des Beobachtbaren verlagern (was die Musik in der lebendigen Wirklichkeit der Kultur ist). Aus der letzteren Sicht besteht nun kein Zweifel daran, dass die Musik etwas ›bedeutet‹, zumindest
67 Stimmung betitelt allerdings zunächst das Stimmen des Instruments oder das Ergebnis dieses Vorgangs. Im Laufe der Zeit wandelte sich dieser Begriff von der Bezeichnung eines objektiven Tatbestands zur metaphorischen Übertragung auf seelische Zustände (vgl. Wellbery, David E.: »Stimmung«, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Band 5, Stuttgart: Metzler 2003, S. 703-733). 68 Rushdie, Salman: Der Boden unter ihren Füssen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000, S. 236.
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für sehr viele Zuhörer, selbst wenn dies noch nicht heißt, dass man sich dazu auf ›außermusikalische‹ Signifikate beziehen muss.«69
Darum wird, neben Sekundärtexten, die Beziehungen zwischen Musik und Literatur vorwiegend auf zeichentheoretischer Basis systematisieren, wie beispielsweise Werke von Steven Paul Scher70, Calvin S. Brown71 und Werner Wolf72, starke Aufmerksamkeit auf Musik und Text als soziale, kommunikative und interaktive Praktiken gerichtet. Beispiele für Theoretiker, die derartige Ansätze verfolgen, sind Pascal Ohlmann73 und ClausUlrich Viol74, wobei letztgenannter sich darüber hinaus explizit auf Zusammenhänge zwischen Texten und Popmusik bezieht. Mit dem literarischen Verweis auf popmusikalische Werke ist eine bestimmte, vom entgegen gesetzten Pol der Absoluten Musik nicht unterschiedlicher zu denkende Musik als Bezugspunkt gesetzt. Texte treten durch die Referenz auf Popmusik in bestimmte Diskurse ein, wie etwa die Thematisierung von Fantum, Starkult und Jugendbewegungen, deren mikropolitische Konsequenzen (beispielsweise für Geschlechterrollen), die Bedeutung der Musik für die persönliche Erinnerung und Geschichte, das konstruktive Potenzial von Liedern für die Identitätsbildung, kulturelle Faktoren und deren Zusam-
69 Volli, Ugo: Semiotik. Eine Einführung in ihre Grundbegriffe, Tübingen/Basel: Francke 2002, S. 342. 70 Vgl. Scher, Steven Paul: »Einleitung: Literatur und Musik – Entwicklung und Stand der Forschung«, in: Ders. (Hg.), Literatur und Musik, S. 9-25, und Scher, Steven Paul: Verbal Music in German Literature, New Haven/London: Yale Univerity Press 1968. 71 Vgl. Brown, Calvin S.: »Theoretische Grundlagen zum Studium der Wechselverhältnisse zwischen Literatur und Musik«, in: Steven Paul Scher (Hg.), Literatur und Musik, S. 28-39, und Brown, Calvin S.: Music and Literature: A Comparison of the Arts, Athens: Georgia Press 1963. 72 Vgl. Wolf, Werner: The Musicalization of Fiction. A Study in the Theorie and History of Intermediality, Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1999. 73 Vgl. Ohlmann, Pascal: »How Shall we Find the Concord of this Discord?« Musik und Harmonie in Shakespeares Romanzen und in zeitgenössischen Texten. Heidelberg: Winter 2006. 74 Vgl. Viol, Claus Ulrich: Jukebooks. Contemporary British Fiction, Popular Music and Cultural Value. Heidelberg: Winter 2006.
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menhang mit der Ausbildung von Geschmack und Mode, popkulturelle Inszenierungspraktiken die Konsequenzen der popkulturellen Sozialisation für Leben und Kunst. Gerade für diesen kulturwissenschaftlich orientierten Zugang, aber auch für die Analyse formaler Aspekte ist es wichtig, differenzierte Diskurse aufzunehmen. Musik steht in engem Zusammenhang mit den geistesgeschichtlichen, künstlerischen oder konzeptionellen Hintergründen der Produktion und Rezeption, mit den Aufführungspraktiken und ideologischen Implikationen, die mit der jeweiligen Richtung verknüpft sind. Literarische Texte, die Musik inhaltlich oder formal integrieren, sind durch die Thematisierung bestimmter Lieder, Stücke oder Stile beziehungsweise durch die Dramatisierung eines speziellen musikalischen Konzepts oder Effekts diskursiv mit diesen Denkarten verbunden. In Anbetracht der durch Globalisierung und Medialisierung verstärkten Herausbildung einer Unmenge an musikalischen Stilen, sind diese in der Analyse konkreter zu spezifizieren, da sich unterschiedliche Richtungen nicht nur darüber definieren, welche Strukturelemente sie besitzen oder nach welchen Prinzipien sie aufgebaut sind, sondern auch nach ihrer Rolle innerhalb einer Kultur. Mit anderen Worten: »Against this background [the great variety of available media and the concomitant effects of globalisation], the differences between Western art music and world music, folk, blues and jazz, rock, punk and pop, to name but a few, cannot be adequately described by concentrating exclusively on their respective aesthetic and formal principles. In fact, these principles can only be understood in their various cultural contexts which determine conventions of performance, typical relationships between performers and audience, the preference or rejection of specific audiences within larger social, ethnical or gender formations, and, last but no means least, ideological frameworks between hedonims and protest, artistic aspiration and commercial viability. Musical styles embody cultural value and propagate world-views and styles of living.«75
75 Eckstein, Lars/Reinfandt, Christoph: »On Dancing about Architecture: Words and Music between Cultural Practice and Transcendence«, in: ZAA 54.1 (2006), S. 1-8, hier S. 3.
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Die in dieser Arbeit vorgenommene Spezifizierung ist zunächst die Konzentration auf das Genre Popmusik. Ein musikalisches Genre ist von verschiedenen, voneinander abhängigen, dynamischen Faktoren bestimmt, neben Form und Klang, rhetorischen und kommunikativen Strukturen von sozialen und ideologischen Dimensionen. Der Bereich der Popmusik wird in der deutschsprachigen Rezeption allgemein dem Sektor der U(nterhaltungs-)Musik zugerechnet, teilweise werden die Bezeichnungen aber auch synonym verwendet, ebenso wie die Begriffe leichte Musik/light music, easy listening oder popular music. Die Dichotomie in Unterhaltungsmusik und Kunstmusik oder E(rnste) Musik, gestaltet sich problematisch, da eine große historische Vielfalt unterschiedlicher Ausprägungen von unterhaltungsmusikalischen Strömungen vorherrscht und die Grenzen zwischen E und U Musik keineswegs statisch sind, sondern vom jeweiligen Kontext abhängen und zahlreiche Zwischenstufen und Mischformen existieren. Generell ist die Unterteilung zweier Lager anhand der Begrifflichkeiten ›Ernst‹ und ›Unterhaltung‹ zweifelhaft, da sowohl vergleichsweise anspruchsvolle, klassische Stücke zur Unterhaltung dienen können und dieses Ziel auch explizit haben, genauso wie Popsongs mit Ernsthaftigkeit komponiert und vorgetragen sein können und auch einfordern ernst genommen zu werden. Auch ist nicht einzusehen, diese Unterteilung anhand struktureller Komplexität und Analysemodi aufrechtzuerhalten. Ein Werk Beethovens kann genauso aus kultureller Perspektive im Hinblick auf seinen Distinktionszweck analysiert werden, wie ein Stück der zeitgenössischen Popmusik hinsichtlich seiner Komposition und Struktur. Der Komplexitätsgrad eines musikalischen Werks scheint dabei nicht ausschlaggebend für seinen Unterhaltungswert oder seine Ernsthaftigkeit zu sein.76
76 Anzumerken ist, dass die Diskussion im anglophonen Raum wesentlich anders gelagert ist: Während populäre Musik ein wertfreier Überbegriff für massenkulturelle musikalische Phänomene ist, ist Popmusik innerhalb dieser Kategorie als rein kommerzielle Musik zu verorten. Massenkultur ist ebenso wie das Populäre kein negativ besetzter Terminus. Zwar ist eine Unterscheidung zur hochkulturellen Sphäre konstitutiv für das Populäre, als ausschlaggebend wird allerdings der Rezeptionsprozess gesehen. Dabei können populäre Werke ebenso kritisch und komplex rezipiert werden, wie hochkulturelle Erzeugnisse. Die deutschsprachige Rezeption belegt nach wie vor das Populäre und die Massenkultur mit negativen Assoziationen, die an die Ausführungen der Kritischen Theorie anknüpfen.
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Idealerweise spielen, ebenso wie in der Literatur, auch in der Musik beide Komponenten zur Erschließung eines Werks eine Rolle: Seine strukturellen Merkmale und darüber hinaus die kontextuelle Verortung innerhalb kultureller Mechanismen. Mit diesen Mitteln kann das zuvor einzugrenzende Feld der Musik auf seine Wirkung innerhalb der Literatur analysiert werden. Grundsätzlich lässt sich zunächst die materielle Struktur der hier zentralen Popmusik folgendermaßen zusammenfassen: »Die Zentriertheit um einen Grundton, also tonaler Aufbau, Bewegungsvorgänge, nachbildende Metren und rhythmische Formeln, wie überhaupt die Körperbezogenheit des Musikalischen auch in Form der Nachsingbarkeit beispielsweise, die Reihung und Gruppierung einer relativ begrenzten, im Gedächtnis speicherbaren und damit auch bei dekonzentrierter Aufnahme nachvollziehbaren Anzahl komplexer musikalischer Grundelemente (harmonische, melodische und rhythmische Formeln usw.) und eine klare und überschaubare Gliederung und Periodisierung des musikalischen Ablaufs zumeist nach dem Symmetrieprinzip kristallisieren sich als allgemeinste musikalische Merkmale, der in dieser Kategorie rubrizierbaren Musikformen heraus, die sich jedoch wieder ändern, ergeben sich mit neuen Technologien der Musikproduktion neue Zusammenhänge, in die die Musik transportierbar ist, neue Möglichkeiten des Umgangs mit ihr.«77
Dabei wird als Maßstab die immanente Ästhetik des Werks zu Grunde gelegt und so die hochkulturelle Sphäre von der populären abgegrenzt. Verallgemeinert lässt sich folgender Unterschied zwischen der angloamerikanischen und der deutschen Diskussion feststellen: Nach deutschen Maßstäben wird das Populäre als ästhetisch minderwertig eingestuft, indem es gewissermaßen mit den hochkulturellen Kriterien einer Produktionsästhetik beurteilt wird. In der anglophonen Debatte wird der populäre Raum aufgewertet, indem Rezeptionsmechanismen als Ausgangspunkt der Beschreibung dienen, die sich auf populäre ebenso wie auf hochkulturelle Werke anwenden lassen. 77 Wicke; Peter: »Populäre Musik«, in: L. Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil 7, S. 1701. Zwar ist dieser Artikel mit ›populärer Musik‹ und nicht mit ›Popmusik‹ betitelt, die genannten allgemeinen Merkmale lassen sich dennoch auch auf popmusikalische Werke beziehen, da sich der Popmusik-Begriff aus der Sparte populärer Musik herleitet, allerdings aus Distinktionsgründen für die Bezeichnung jugendspezifischer Formen eingeführt
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Ein prototypisches popmusikalisches Stück zeichnet sich demnach durch seine verhältnismäßige Kürze und Dichte und vorwiegend simple Formgestaltung aus. Hinzu kommt die melodiöse Ausrichtung, »eine einfache, sinnfällige, periodisch angelegte und damit vorhersagbare Melodik, die einprägsam, liedhaft und zum Nachsingen geeignet ist«78. Die Tatsache, dass oftmals Gesang ein konstitutives Element bildet, ist besonders für die Bezüge zur Literatur von Bedeutung, da, konträr zur Instrumentalmusik, Vokalmusik Zitate von Textelementen in literarischen Texten möglich macht, die durch ihre oftmals eingängige Ausrichtung einen Wiedererkennungswert besitzen. Weitere Merkmale bilden »eine eindeutige, klar akzentuierte, stereotype Rhythmik, meist körperlich wirkungsvoll [...] [und] eine Harmonik, die auf Hauptstufenverbindungen basiert«79. Neben diesen strukturellen Ansätzen, Popmusik nach ihrer Beschaffenheit zu definieren, gibt es Bestimmungsversuche, die den Rezipienten und seinen Umgang mit Musik fokussieren. Dabei muss eine Analyse allerdings über pauschale, subjektive Eindrücke, nämlich diese Musik sei reine Unterhaltung, fordere keine gesteigerte Aufmerksamkeit und diene lediglich der Entspannung und Zerstreuung, hinausgehen und, wie bereits angesprochen, rhetorische, kommunikative, soziale, ideologische und institutionelle Implikationen berücksichtigen. Aufgrund der Verortung popmusikalischer Strömungen in der Konsumund Medienkultur herrschen durch Vermarktungsstrategien, Speicherungsund Verbreitungsmedien, Vervielfältigungstechnologien und mediale Inszenierungen (beispielsweise in Form von multimedialen Massenkonzerten, Musikvideos oder Interviews) variantenreiche Ausprägungen von Fantum und Starkult. Popmusik wird ständig und überall konsumiert: im Kaufhaus, über das Autoradio, in Diskotheken oder auf Konzerten. Die alltagsdurchsetzende Kommerzialisierung zieht dabei weite Kreise; neben Tonträgern, passenden Abspielgeräten, Konzertkarten oder Merchandising-Artikeln einzelner Bands sind mit bestimmten musikalischen Richtungen auch spezielle modische Stile verbunden. Über diese offensichtliche Gruppenzugehörig-
wurde (vgl. Wicke, Peter: »Popmusik«, in: L. Fincher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil 7, S. 1692-1694). 78 Ballstaedt, Andreas: »Unterhaltungsmusik«, in: L. Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil 9, S. 1186-1199, hier S. 1191. 79 Ebd.
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keit hinaus lassen sich auch, je nach popmusikalischer Sparte, Überschneidungen der Anhänger in ihren Überzeugungen, ihrer Lebenseinstellung und Freizeitgestaltung ausmachen. Dabei wird die kulturelle und kulturbildende Komponente der Musik besonders deutlich. Sie funktioniert innerhalb vieler popliterarischer Texte, ebenso wie in unserer Lebenswelt, als das Distinktionsmittel und Szenekorrektiv schlechthin. An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass dies nicht allein ein spezifisches Merkmal popmusikalischer Strömungen ist, genauso können auch die Oper oder das klassische Konzert als Markierung einer bestimmten Lebenseinstellung, als soziales Kapital mit Symbolwert, das die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe signalisiert und ein Image transportiert, fungieren.80 Generell sind übergreifende popkulturelle Merkmale wie der enge Zusammenhang zwischen Kunst und Alltag, Konsum und Unterhaltung oder Ästhetik und Technik81 zu erkennen, welche typische ambivalente Bewertungen provozieren. Auf der einen Seite ist Popmusik in die kapitalistische Reproduktion, die Bedingungen, Formen und Mechanismen kommerzieller Musikproduktion verstrickt, andererseits hat sie einen großen Anteil an kultureller Kreativität, Emanzipationsbewegungen und Persönlichkeitsentwicklung. Zu betonen ist des Weiteren der Aspekt der Körperlichkeit im Hinblick auf das popmusikalische Genre. Wie schon erwähnt, laden vokalmusikalische Texte durch ihre Konzeption häufig zum Mitsingen ein. Während diese Form der Interaktion zwischen Künstler und Publikum auf Popkonzerten oftmals forciert wird, ist das Tanzen eine weitere Komponente des Körpereinsatzes, die eine wichtige Rolle spielt. Spezielle Tanzstile etablieren sich passend zur Ausprägung einer popmusikalischen Richtung. Damit tritt ein stark gemeinschaftlich ausgerichtetes Musikerleben in den Vordergrund, ob eng gedrängt in einer Konzerthalle oder auf der Tanzfläche eines
80 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982. 81 Vor allem die 1960er Jahre sind in technischer Hinsicht bedeutsam. Während zwischen 1830 und 1950 akustische Instrumente bestimmend waren, bricht 1960 das elektronische Stadium an (beispielsweise E-Gitarre und Synthesizer). Die durch elektronische Entwicklungen eröffneten Möglichkeiten und ihre Auswirkung auf musikalische Produktion und Rezeption verstärken sich im Lauf der Zeit.
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Clubs. Das Gruppengefühl wird darüber hinaus dadurch gestärkt, dass musikalische Präferenzen bestimmte Stile vorgeben (oder andersherum), wodurch Vorlieben anhand des Outfits ablesbar sein können. Damit tritt eine Inszenierung des Körpers durch Kleidung, Schmuck oder Frisur in Kraft, die auf eine bestimmte Szene und damit auch korrespondierende ideologische Implikationen hinweist. Daher transportiert ein schlichter Verweis auf einen Liedtext, eine Band oder einen Kleidungsstil innerhalb eines Textes weit mehr, als explizit erwähnt wird.82 Im Verlauf der Arbeit wird sich zeigen, welche speziellen Verknüpfungen mit dem literarischen Bezug auf einzelne popmusikalische Richtungen vorliegen. Aufgrund der semiotischen Bedingungen wiederholen sich zwar bestimmte Verfahren in der Dramatisierung von musikalischen Eigenheiten, der Hintergrund, vor dem dies geschieht, hat allerdings zusätzliche Auswirkungen auf die Bedeutungskonstitution der Texte. Auch wenn auf popmusikalische Strömungen Bezug genommen wird, halte ich es trotz aller Schwierigkeiten für wichtig, den strukturellen Aspekt der Musik zu berücksichtigen und auf dieser Grundlage die kulturellen Verweise und diskursiven Kontexte in der Interpretation literarischer Arbeiten zu bestimmen. Elementar ist, nicht bei einer rein ästhetischen und strukturellen Analyse stehen zu bleiben, sondern in einem zweiten Schritt die kontextuellen Verknüpfungen und ideologischen Hintergründe interpretativ zu nutzen und den Text in dieses kulturelle Beziehungsfeld einzubinden und so popmusikalische Werke als »signifizierende Einheit«83 aus Musik, Text, Paratexten und Kontext zu begreifen. Allerdings ist eine semiotische Dimension der Analyse als Grundlage für die Entdeckung formaler Signale, die eine Deutung auf intermedialer Basis nahe legen und eine Verbindung zum musikalischen oder pikturalen System eingehen, unumgänglich. Um eine Kombination der beiden Blickwinkel erreichen zu können, ist zunächst eine terminologische Festlegung von Intermedialität und ihren spezifischen Erscheinungsformen wichtig, unter die sich, trotz aller Leerstellen in der eindeutigen Benennung des Zeichensystems, auch Musik einordnen lassen soll.
82 Wie generell auch bei sämtlichen Formen intertextueller Verweise. 83 Petras, Ole: Wie Popmusik bedeutet. Eine synchrone Beschreibung popmusikalischer Zeichenverwendung, Bielefeld: Transcript 2011, S. 18.
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2.2 ASPEKTE
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Nachdem im vorhergehenden Kapitel die Interaktionen zwischen Text und Bild beziehungsweise Sprache und Musik, ihre semiotischen Grundlagen in Zusammenhang mit ihren jeweiligen Kontexten, analysiert wurden, ist es notwendig, die Verwendung des Begriffs Intermedialität zu klären. Intermedialität wird in der literaturwissenschaftlichen Debatte auf differierende Weise und mit verschiedenen Tragweiten des Terminus gebraucht. Das resultiert unter anderem aus dem jeweiligen Intertextualitätsverständnis, das vertreten wird. Aus diesem Grund ist zunächst eine Diskussion des Intertextualitätsbegriffs, seiner Ausprägungen und den damit verbundenen Implikationen nötig. 2.2.1 Intertextualität und Intermedialität Die Festlegung, was ein Text ist und wie Beziehungen zwischen Texten beschrieben werden können, ist untrennbar von der Definition der Intermedialität und ihrer Erscheinungsformen. Wird ein weiter Textbegriff verwendet, welcher verschiedenste Repräsentationen und unterschiedlichste Sinngebungsprozesse einschließt, sind intermediale Beziehungen Teil intertextueller Bezüge. Im Fall eines engen Textverständnisses können intendierte oder in der Rezeption konstruierte intermediale Beziehungen in literarischen Texten differenziert werden. Die folgenden Ausführungen zeichnen die Diskussion der Intertextualität von ihren Ursprüngen über die Weitung des Textbegriffs zu einer erneuten Verengung der Definition von Text nach. Verdeutlicht wird, dass der in dieser Arbeit verwendete enge Textbegriff trotzdem kontextuelle Vernetzungen und dynamischer Prozesse integrieren und forcieren kann und nicht zwingend auf Kosten einer offenen und vielstimmigen Interpretation verwendet werden muss. Aus der Verwendung des engen Textbegriffes resultiert die Möglichkeit intertextuelle und intermediale Phänomene analog betrachten. Beide bezeichnen das gleiche Phänomen, mit dem Unterschied, dass im Fall der Intertextualität innerhalb desselben Zeichensystems und bei der Intermedialität systemübergreifend gearbeitet wird. Dass dabei die Typologie einzelner Kategorien, Erscheinungsformen und Aufgaben unterschiedlich ausfallen kann, liegt an der veränderten Ausgangssituation, je nachdem, ob die
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Verweise innerhalb desselben Zeichensystems erfolgen oder semantisch verschiedene Werke in Verbindung setzen. Diese Annahmen sollen im Folgenden theoretisch fundiert werden. In der Auseinandersetzung mit der Intertextualität, dem Phänomen der Relation zwischen Texten, bilden sich zunächst zwei verschiedene Positionen heraus, die sich hauptsächlich durch unterschiedliche Auffassungen von Text voneinander abgrenzen. Zentral für die poststrukturalistische und dekonstruktivistische Definition des Intertextualitätsbegriffs ist Julia Kristevas Ansatz aus den 1960er Jahren, dessen Ausgangspunkt die Rezeption und Modifikation des Intersubjektivitätsmodells des russischen Sprach- und Literaturtheoretikers Michail Bachtin84 darstellt. Im Zuge einer Sozialkritik totalitärer Tendenzen in Politik und Kultur stellt Bachtin gemeinsame Grundprinzipien der möglichen Struktur gesellschaftlicher und literarischer Systeme heraus, die bezüglich ihrer Interessen auf bestimmte Weise angelegt sind. Gesellschaften, die nach monologischen Gesetzmäßigkeiten aufgebaut sind oder Texte, die nach dem Schema des Monologs gestaltet werden, sind demnach durch autoritäre beziehungsweise hierarchische Grundmuster gekennzeichnet. Ihnen ist eine zentralisierte Kommunikationsstruktur eigen, die sich stark an Traditionen orientiert und bestimmte Macht- und verbindliche Wahrheitsansprüche vertritt. Das Verfahren der offenen Auseinandersetzung mit divergierenden Standpunkten und Meinungen hingegen ist durch die Gestaltung nach Maßstäben der Dialogizität gegeben. Eine Grundvoraussetzung für die Überzeugung, dass verschiedenartige persönliche Auffassungen und Standpunkte nebeneinander existieren, ist im dialogischen Sprachverständnis angelegt. Die Wortbedeutung wird dabei nicht als stabil begriffen, sondern sie richtet sich nach dem Sprecher, der Gesprächsituation und dem speziellen Kontext. Übertragen auf die gesellschaftliche und literarische Ebene ergibt sich durch die Auslegungsoffenheit die Möglichkeit einer Redevielfalt und einer intersubjektiven Basis der Diskussion, die im Gegensatz zur monologischen Vereinheitlichung stehen. Der antiautoritäre Dialog oder die Dezentralisation ermöglicht eine Subversion gesellschaftlicher und kultureller Strukturen, da sowohl für das politische System als auch für die Literatur keine einheitlichen Wahrheitsansprü-
84 Vgl. Bachtin, Michail: Probleme der Poetik Dostoevskijs, München: Hanser 1971.
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che oder Werte, die einer Machtstellung entspringen, verbindliche Gültigkeit haben. Im Roman stellt sich die intersubjektive Gesprächsituation durch das Zusammenspiel dreier stimmlicher Vermittlungsstandpunkte ein: die Erzählerrede, die unmittelbar und direkt an den Leser gerichtet ist, steht neben dem objekthaften, dargestellten Wort, das der Rezipient durch die Äußerungen der Romanfiguren aufnimmt. Eine Überlagerung beider Ebenen, die Mehrstimmigkeit des ambivalenten Worts, entsteht dadurch, dass der Autor sich, gebrochen oder ironisch, des Textes der Figuren bedient und somit eine intersubjektive, vielstimmige Kommunikation herstellt. Kristeva überträgt Bachtins Intersubjektivitätstheorie, die hauptsächlich in einem intratextuellen Rahmen funktioniert, auf die intertextuelle Ebene, mit dem Argument, dass sich Vielstimmigkeit nicht nur innerhalb der Erzählhaltung eines literarischen Werkes ausmachen lässt, sondern, dass sie eine notwendige Begleiterscheinung des Gebrauchs von Sprache generell ist. Wenn Literatur sich sprachlicher Wendungen oder bestimmter Bilder bedient, sind diese immer schon zuvor gesagt oder geschrieben worden, denn »jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle von Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache lässt sich zumindest als eine doppelte lesen.«85
Eine offene, dynamische Überlagerung zwischen Vorstellungen, Phrasen und Überlegungen kann nicht nur auf die Beziehung literarischer Werke untereinander begrenzt werden, sondern besteht auch zwischen Vorstellungs- und Wirklichkeitsbereichen jeglicher Art. Dadurch, dass Sinnprozesse, Handlungen und Denkansätze kommunikativ nur über Sprache repräsentiert werden können, sind auch sie dem sprachlichen Medium zugehörig. Das hat zur Folge, dass der Textbegriff bei Kristeva nicht nur den konkreten literarischen umfasst, sondern ebenso gesellschaftliche, geschichtliche
85 Kristeva, Julia: »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman«, in: Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven (Band 3). Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft (II), Frankfurt am Main: Athenäum 1972, S. 348.
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und kulturelle Zeichensysteme einschließt. Durch die Überschreitung der textuellen Grenzen im literarischen Sinn entsteht ein Intertext, eine dialogische Relation verschiedenster Wirklichkeitsmomente untereinander, was die Zuordnung eines Schriftstücks zu einem einzelnen Subjekt unmöglich macht. Traditionelle Kategorien wie Autor oder Werk werden hinfällig, da derartige Begrifflichkeiten, die auf die Einheit und Abgeschlossenheit literarischer Produkte referieren, nicht länger haltbar sind. Ein Schriftsteller »wird damit zum bloßen Projektionsraum des intertextuellen Spiels, während die Produktion auf den Text selbst übergeht«86. Ein Diskurs zwischen Texten tritt an die Stelle des Autors und Intertextualität wird zu einem Merkmal sämtlicher Realitätsbezüge, in die auch die Literatur eingebunden ist, zu einer »Eigenschaft aller Texte, zu einem allumfassenden, universalen und ahistorischen Konzept, das von einer subjektlosen Produktivität des Textes ausgeht und somit jegliche (auktoriale) Intentionalität und Subjektautonomie in Frage stellt.«87 Intertextuelle Beziehungen, nach Kristeva definiert, sind auf texttheoretischer Ebene und für eine kultursemiotische Lesart von zentraler Bedeutung. Aus der Sinnvervielfältigung der Sprache und der Bündelung eines Ausschnitts diskursiver Ansätze und Ansichten schöpft die Literatur ihr subversives Potential. Im Bezug auf den Begriff der Intermedialität bedeutet der weitgefasste Textbegriff, dass das Zusammenspiel unterschiedlicher medialer Formen im Intertextualitätsterminus integriert ist. Da der Text nicht als geschlossenes Ganzes verstanden wird, sondern als ein sich ständig im Diskurs mit unterschiedlichsten Zeichensystemen befindlicher räumlicher Gegenstand, stellen andere mediale Vermittlungsformen keinen Sonderfall dar, der vom Einbezug gesellschaftlicher oder kultureller Zeichen abzuheben wäre. Bei Renate Lachmann tritt Kristevas Ansatz modifiziert in Erscheinung. Sie greift auf das Konzept der Dialogizität bei Bachtin zurück und entwickelt, kombiniert mit einer formalistischen Herangehensweise, ein textanalytisches Modell von Intertextualität, dessen Ziel es ist, spezifische Strategien und Funktionen zu verfolgen. Der Fokus auf das ›Gemachtsein‹ von Texten impliziert, dass das Machen von Literatur hauptsächlich auch das Machen aus Literatur, nämlich Weiter-, Wider- und Umschreiben ist. Dabei
86 Pfister, Manfred: »Konzepte der Intertextualität«, in: Ders./Ulrich Broich (Hg.), Intertextualität, Tübingen: Niemeyer 1985, S. 8. 87 Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen/Basel: Francke 2002, S. 47.
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kommt es zu einer Doppelkodierung des verwendeten Zeichenmaterials, die aus der Interferenz der Texte resultiert und zu einer nicht gänzlich fassbaren Sinnkomplexität führt, denn »der Text selbst konstituiert sich durch einen intertextuellen Prozess, der die Sinnmuster der anderen Texte absorbiert und verarbeitet und eine Lesart verlangt, die niemals ein einsinniges Einverständnis mit ihm erreichen kann.«88 Die Bezüge von Texten untereinander können intendiert, auf der Oberfläche ablesbar oder latent eingearbeitet, also nicht direkt wahrnehmbar, aber trotzdem sinnkonsitutiv sein. Dabei können verschiedene Funktionen verfolgt werden: Intertextualität kann sowohl eine Verdichtung und Potenzierung des Sinns (›prägnante Repräsentation‹) zur Folge haben als auch eine Sinndispersion verursachen (›exuberante Repräsentation‹). Ob das Zeichenmaterial nun bewahrt, wie im Fall der Rekomposition, oder, bei der Dekomposition, vertilgt wird, »[d]er Kampf um die Aufdeckung der Spuren - oder der Löschung - lässt nicht zu, dass sie indifferent werden. Die Kodes, denen die im intertextuellen Diskurs verflochtenen Elemente angehören, bewahren ihren Verweisungscharakter auf semantische Potentiale und kulturelle Erfahrung. Das Gedächtnis der Kultur bleibt die nicht hintergehbare Quelle des intertextuellen Spiels und lässt jeden Umgang damit, den gedächtnisskeptischen eingeschlossen, zu einem Produkt werden, das immer wieder den kulturellen Raum bezeugt. Einen Raum, der das intertextuelle Spiel nicht in die Unverbindlichkeit entlässt.«89
Die festgeschriebene Erfahrung, die innerhalb der Texte kodiert ist, und die Art und Weise, wie die Kodierung geschieht, gestalten den kulturellen Raum, dessen Gedächtnisspeicher die Literatur ist. Kultur kann dementsprechend aus den Interferenzen der Texte hergeleitet werden, wobei interpretative Vorgänge nie zu einem abschließbaren Ergebnis führen können, da Intertextualität als dynamisches, verzweigtes und nahezu endlos komplexes System verstanden wird. An der Betonung des Zeichenvorrats der Texte, welche anhand der Herstellung von Bezügen ästhetische und semantische Differenzen aufweisen, die darüber hinaus, durch Um-, Wider- und Weiterschreiben, kulturelle
88 Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 73. 89 Ebd., S. 522.
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Erfahrungen speichern und sich damit in einen kulturellen Rahmen eingliedern, den sie gleichzeitig mitformulieren, möchte ich im Hinblick auf die Analyse intermedialer Relationen festhalten. Eine erneute Aufarbeitung des Textualitätstheorems, das einige Parallelen zu den Ausführungen Lachmanns aufweist, erfolgt bei Moritz Baßler durch den Versuch, die postmoderne Offenheit des Textbegriffs mit definitorischen Modifizierungen zu versehen und dadurch eine mögliche Analysierbarkeit zu gewährleisten. Dabei hat sein Ansatz einen doppelten Ausgangspunkt: eine Grundlage bildet der unter anderem im New Historicism wirksame cultural turn in der Literaturwissenschaft, als ergänzende Komponente wird der poststrukturalistische Intertextualitätsbegriff der späten 1960er Jahre erneut durchdacht. Auf dieser Basis entwickelt er ein kulturwissenschaftliches Text-Kontext-Modell dezidiert textualistischer Natur durch die Verbindung zwischen Kristevas Verdienst, Intertextualität als »Umstellung von der Achse der Kommunikation auf die Achse der Textualität«90 zu begreifen und dem Theorieverständnis des New Historicism Kultur als Text aufzufassen. Während der New Historicism eine Fundierung weitestgehend schuldig bleibt und einer Theoretisierung bedarf, fehlt, beispielsweise bei Kristeva, eine pragmatische Auslegungsmöglichkeit der weitgefassten Texttheorie für die literaturwissenschaftliche Analyse. Beim Verfolgen seines Ziels, »das theoretisch-methodische Instrument einer nicht-metaphorisch verstandenen ›Textualität der Kultur‹ so scharf wie möglich zu machen«91, greift Baßler auf Beschreibungsparameter Jakobsons92 zurück. Die beiden generellen Aspekte von Sprache, die syntagmatische, kombinatorisch verfahrende und Kontiguität besitzende und die paradigmatische, selektiv arbeitende und Äquivalenzen beinhaltende Achse werden von Baßler auf den Bereich der Textualitätstheorie übertragen. Sie bilden die grundlegenden Faktoren einer oparablen Definition, da Texte »Speicherbarkeit (aufgrund des Syntagmas) und Lesbarkeit (aufgrund des Paradigmas) [besitzen]. Ergebnis ist [...] ein Objektbereich Textualität, der beides umfasst: den geschriebenen Text und den Korpus, innerhalb dessen
90 Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv, Tübingen: Francke 2005, S. 85. 91 Ebd., S. VI. 92 Vgl. Jakobson, Roman: »Linguistik und Poetik«, in: Ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 83-121.
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sich seine lesbaren Bedeutungen konstruieren.«93 Dadurch, dass innerhalb des textlichen Syntagmas kulturelle Paradigmen gespeichert und auch gebildet werden, entsteht eine Wechselwirkung, eine Form der »kulturelle[n] Poesis: Hier wird festgelegt (und zwar in einer für den nachgeborenen Wissenschaftler analysierbaren Form), was in einer gegebenen Kultur für äquivalent und kontig gilt. [...] Die kulturell aktivierbaren Paradigmen, und damit die historisch jeweils möglichen Lektüren eines Textes lassen sich vielmehr ebenfalls positiv fassen, denn sie befinden sich – materialiter – innerhalb der gespeicherten Syntagmen, innerhalb der Textualität einer gegebenen Kultur.«94
Texte befinden sich demnach nicht mehr vorwiegend in einer horizontalen Kommunikation zwischen Autor und Leser, sondern in Korrespondenz mit ihrem kulturellen Archiv, der Summe aller Texte, die einer Kultur zur Verfügung stehen. Innerhalb dieses Archivs können Texte, je nachdem welche Paradigmen sie ausbilden, also abhängig davon, was für Äquivalenzen bestehen oder festlegbar sind, miteinander in Bezug gesetzt werden. Diese verbindenden Momente, bilden einen Diskurs; alle Diskurse und alle Texte zusammen sind das Archiv, welches als Speicher der Kultur fungiert. Kultur, bestehend aus Dingen, die etwas bedeuten, wird als das Ergebnis der intertextuellen Praxis des Vergleichens und dadurch konsequent textualistisch verstanden. Dabei ist der Intertext der gesamte Objektbereich mit der Eigenschaft der Textualität. Dadurch, dass in der intertextuellen Auseinandersetzung Paradigmen geschaffen und verfolgt werden, ist eine Analysierbarkeit am Leitfaden einer kulturellen Achse gewährleistet. Der sich aus diesen Zusammenhängen ergebende Textbegriff lässt sich folgendermaßen festhalten: »Ein Text ist eine Repräsentation, die man analysieren kann [,] [...] das heißt er steht in einem Bedeutungszusammenhang, hat Zeichencharakter.«95 Darüber hinaus hat er die Eigenschaft gespeichert oder aufgezeichnet, also beliebig oft lesbar und prinzipiell allgemein zugänglich zu sein. Dadurch, dass sprachliche Formen wie Gedanken oder Gespräche nicht unter diese Kategorie fallen, erfolgt eine Eingrenzung. Allerdings wird der traditionelle Textbegriff um nicht-sprachliche,
93 M. Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv, S. 70. 94 Ebd., S. 65. 95 Ebd., S. 111.
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bedeutende und gespeicherte Dinge, wie etwa Schallplattenaufnahmen und Filme, erweitert. Baßler betont jedoch auch, dass damit nicht der Unterschied zwischen schriftlich fixierten Texten und anderen Bedeutungsträgern, wie Bild oder Musik eingeebnet werden soll.96 Wie aber beispielsweise bildliche oder musikalische Werke innerhalb dieses Textbegriffs zu verorten sind, auf welcher Ebene eine systematische Analyse des unterschiedlichen Zeichenmaterials stattfinden kann und welche Rolle fremdmedialen Erzeugnissen im Vergleich zu Sprachtexten im kulturellen Archiv zukommt, wird nicht expliziert. Der Textbegriff wird in der vorliegenden Arbeit im engen Sinn gebraucht, weil es im intermedialen Dialog dezidiert um die Art des Zeichencharakters gehen soll. Dabei wird strikt an der Materialität der Bedeutungsträger festgehalten, welche nicht durchgehend textuell genannt wird, sondern terminologisch spezifiziert. Die Arbeit innerhalb eines Diskurssegments und die Kommunikation einzelner Bedeutungsträger im kulturellen Archiv wird hoffentlich dennoch deutlich: Texte (in Baßlers und im engen Sinn) legen bestimmte Paradigmen nahe, im Fall Rolf Dieter Brinkmanns die Parameter Intermedialität und Popliteratur. Dadurch schließen sich weitere Diskurse an, nämlich beispielsweise der zeittypische Kontext, die Mediengeschichte, technische Entwicklungen und ästhetische Anliegen. Darüber hinaus werden durch die literarische Speicherung bestimmte Wahrnehmungen und Erfahrungen ablesbar, die einerseits die intermediale Dimension ästhetisch praktizieren und andererseits dadurch Kultur aufgreifen und mitformulieren. Dabei werden in Primär- und Sekundärliteratur Diskussionen geführt, die kulturelle Kontexte über gespeicherte Informationen erfahrbar machen. Vor diesem Hintergrund werden in der Auseinandersetzung von Texten untereinander Bedeutungen generiert, die sich wiederum in Diskurse beziehungsweise das kulturelle Archiv einspeisen. Das Besondere an der sprachlichen Vertextung ist dabei, dass sie sowohl Diskurse aufgreifen, als auch führen und beschreiben kann. Da es in dieser Arbeit um Aspekte des Sprachpotentials geht, wird Text, im Bewusstsein anderer Textualitätstheorien und nicht auf Kosten einer mehrdimensionalen Analyse, als schriftlich fixierter sprachlicher Text verstanden. Grundlage für einen engen Textbegriff bildet ein anderes, hermeneutisch-textdeskriptives Intertextualitätsverständnis, wie es vor allem von
96 Vgl. M. Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv, S. 112.
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romanistischen und anglistischen Theoretikern, beispielsweise von Gérard Genette97, Ulrich Broich und Manfred Pfister98 vertreten wird. Diese Position plädiert im Gegensatz zum postrukturalistischen oder dekonstuktivistischen Konzept für einen eingeschränkten Begriff der Intertextualität, der sich für die Funktion und Beschreibung intertextueller Bezüge und ihrer Rolle für die Bedeutungskonstitution eines literarischen Werks interessiert. Dabei unterscheidet Genette fünf Gruppen der Transtextualität, der »textuelle[n] Transzendenz«99, also dessen, was einen Text »in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt«100: Neben der Paratextualität (welche das Umfeld des Textes, beispielsweise Titel, Vorworte, Fußnoten oder Interviews umfasst), der Metatextualiät (die die kritischen Kommentierungen beschreibt), der Architextualität (die die verschiedenen Arten des Gattungsbezugs subsumiert) und der Hypertextualität (welche als direkte oder indirekte Ableitung eines Textes aus einem früheren definiert werden kann) ist auch die Intertextualität als Kategorie genannt, welche, nach Genettes Aussage, folgendermaßen erklärt werden kann: »Ich definiere sie [im Vergleich zu Kristeva] wahrscheinlich restriktiver als Beziehung der Kopräsenz zweier oder mehrerer Texte, d. h. in den meisten Fällen [...] als effektive Präsenz eines Textes in einem anderen.«101 Intertextuelle Verweise wären dementsprechend zum Beispiel Zitate, Plagiate oder Anspielungen. Der Text wird dabei als Einheit begriffen, die sich durch unterschiedliche Relationen und Verweisungszusammenhänge konstituiert. Erst auf dieser Grundlage können spezifische Formen des Transtextuellen festgemacht werden. Dass die Begrenzung des Textbegriffs nicht automatisch zu einer beschränkten Analyse auf Kosten diskursiver Kontexte führen muss, zeigt beispielsweise der Ansatz von Markus Fauser. Sein Intertextualitätsverständnis bewegt sich zwischen einer Verengung des Textverständnisses und der Betonung der kontextuellen Komponente. Texte sind Dokumente der Zirkulation des kulturellen Gedächtnisses und sich ihrer Rolle als temporä-
97
Vgl. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt
98
Vgl. U. Broich/M. Pfister (Hg.): Intertextualität.
99
G. Genette: Palimpseste, S. 9.
100
Ebd.
101
Ebd., S. 10.
am Main: Suhrkamp 1982.
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re Mitschriften und ihrer historischen Einbettung bewusst. Daraus resultiert die Auseinandersetzung von Literatur mit ihrer eigenen Materialität im Spannungsfeld zwischen Epigonentum und Historismus. Dabei geht es allerdings nicht um schlichte Nachahmung, »vielmehr entwirft sich die Poesie, die zum Reflexionsraum ungelöster Probleme geworden ist, strukturell als Poetik des Epigonalen und wird daher zum Reflexionsraum für die historische Imagination selber. Als ausdifferenzierte Bezugnahme auf Prätexte ist die Poetik des Epigonalen die permanente metapoetische Reflexion einer Dichtung, die nicht mehr unhistorisch sein kann und deshalb ständig die Bedingungen der Möglichkeiten des Schreibens angesichts der Übermacht erschöpfter Schreibweisen, des schon einmal Geschriebenen reflektieren muss.«102
Der intertextuelle Reflexionsraum, der eine Grundbedingung des Schreibens ist, stellt durch seine historische Ausrichtung anhand korrespondierender Texte ständig neue Verbindungen her. Dabei sind sowohl die Aufgaben und Merkmale epigonalen Schreibens an sich (beispielsweise Subjektivismuskritik oder der Umgang mit Erinnerung), die ästhetische Dimension der Weiterentwicklung von Schreibweisen in der produktiven Kopie, als auch konkrete Bezüge zwischen Einzeltexten wichtig. Das Analyseverfahren kann sich an konkreten Werken orientieren; dadurch, dass allerdings historisches Bewusstsein und komplexe Reflexionsstrukturen Teil der intertextuellen Arbeitsweise sind, integrieren Texte solche Bezüge als interpretative Ansatzpunkte, denn »Texte sind nicht unendlich bedeutungsoffen [...], sondern Reflexionsmedien, die ihre Distanz zu anderen Texten in sich tragen und gezielte Bedeutungsoperationen anregen. In Frage kommt also nur der produktions- und rezeptionsorientierte Intertextualitätsbegriff, der die Identität des Textes nicht leugnet, sondern ihre Bestimmung zur Aufgabe hat. Folglich steht auch nicht die Auflösung des Werkbegriffs zur Debatte, sondern die funktionsorientierte Unterscheidung von Schreibweisen, denen sich die Werke zuordnen lassen.«103
102
Fauser, Markus: Intertextualität als Poetik des Epigonalen, München: Fink 1999, S. 33.
103
Ebd., S. 57.
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Die Betonung der Produktion und Rezeption innerhalb der Intertextualitätsdebatte hat zur Konsequenz, dass ästhetische Markierungen und bewusst gezogene Verweise durch den Autor angenommen werden, aber auch eine Entfaltung intertextueller Bezüge durch den Leser erfolgt. Dadurch wird nicht automatisch auf ein rein horizontales Verständnis der Kommunikation von Texten zwischen Autor und Leser referiert, vielmehr können bestimmte Bezüge auch nicht intendiert hergestellt werden, welche sich aus der Kenntnis einzelner Teile des kulturellen Archivs herleiten lassen. In Erscheinung und zur Beschreibung gelangt Intertextualität allerdings nur durch die Rezeptionstätigkeit des Lesers. Dass die Deutung der möglichen Beziehungen zwischen Texten immer nur stark ausschnitthaft bleiben kann, ist weder ein Grund zur Resignation noch ein Anzeichen dafür, die Auflösung des Textbegriffs als notwendige Konsequenz anzunehmen, denn »[d]er hereingespielte Text ist immer schon gedeutet. Gerade an den Stellen, an denen ein Werk seine Distanz zu anderen benennt, indem es seine Referenz markiert, verdeutlicht es auch die Werk-Instanz. Man kann daher den Werkbegriff gerade aus der Dialogizität gewinnen.«104 Dadurch, dass ein Text bewusst oder sekundär Bezüge herstellt und Interpretationen nahe legt, werden Sinnversatzstücke in einen anderen Zusammenhang gebracht, welche ihren modifizierten Gehalt innerhalb eines neuen Werkes erhalten und entfalten. Gerade aus dieser Konkretisierung des Textes lassen sich Mechanismen und Funktionen ablesen, die über Einzelrelationen und literaturinterne Gehalte hinausweisen. Daher möchte ich an dieser Definition des Werkbegriffes festhalten. In Anbetracht der grundlegenden Vorannahmen wäre das hier vertretene Intertextualitätsverständnis, das der Definition des Intermedialitätsverständnis analog gesetzt werden kann, nahe an der Systematisierung Genettes, jedoch wird Intertextualität nicht nur auf die effektive Präsenz eines Textes in einem anderen festgelegt. Des Weiteren steht anstelle einer Texttypologie eine Spezifizierung von Bezügen zwischen Texten, wie bei Lachmann intendiert. In Analogie zur nachfolgenden Definition intermedialer Beziehungen ließe sich auch ein ähnliches, auf die Kontakte sprachlicher Erzeugnisse untereinander beschränktes, Modell aufstellen.
104
Fauser, Markus: Einführung in die Kulturwissenschaft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004, S. 144-145.
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Zu ergänzen ist, dass Intermedialität nicht als Erweiterung oder Folge der Intertextualität verstanden werden kann. Zwar ist der Intermedialitätsbegriff aktueller, wie die vorhergehenden Ausführungen gezeigt haben, was allerdings nicht gleichermaßen für das Phänomen des Rekurrierens von Texten auf andere Zeichensysteme zutrifft. Auch schließen sich beide Verfahrensweisen nicht aus, vielmehr ist eine Kombination von intertextuellen und intermedialen Bezügen überaus häufig. 2.2.2 Verschiedene Formen intermedialer Relationen Intermedialität ist, anschließend an die Ausführungen im vorhergehenden Kapitel, die Theorie der Beziehungen zwischen verschiedenen Medien: »[A]nalog zur Intertextualität, die eine in einem Text nachweisliche Einbeziehung mindestens eines weiteren (verbalen) Textes bezeichnet, lässt sich I[ntermedialität] definieren als eine [...] nachweisliche Verwendung oder Einbeziehung wenigstens zweier konventionell als distinkt angesehener Ausdrucks- oder Kommunikationsmedien.«105
Im Vergleich zum expliziten Einbezug anderer Medien stellen intertextuelle Bezüge keinen Einzelfall dar, sondern sind vielmehr ein Phänomen der Intramedialität, das heißt des Bezugs eines medialen Produkts auf ein anderes oder mehrere andere, die sich aber innerhalb der selben Form der medialen Vermittlung befinden, wie zum Beispiel Verweise eines Textes auf einen anderen, ebenso wie filmisches Aufgreifen eines anderen Films oder Ähnliches. Versteht man Intermedialität als Terminus der inhaltlichen und formalen Textanalyse, gilt es verschiedene Formen, ihre Erscheinung und Bedeutung zu differenzieren. Auch innerhalb der Intermedialitätsdebatte, der ein mehr oder weniger enger Textbegriff zugrunde liegt, sind die Definitionen und die Kategorisierungen unterschiedlicher Arten medialen Zusammenwirkens sehr uneinheitlich. Verstärkt wird das Problem eines generellen Überblicks durch die Unübersichtlichkeit der theoretischen Grundlagen, da oftmals genauere
105
Wolf, Werner: »Intermedialität«, in: Ansgar Nünning, (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, S. 284-285, hier S. 284.
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Erklärungen und Einteilungen fehlen, allerdings implizit eine bestimmte Auslegung des Intermedialen vorausgesetzt wird.106 Der Terminus Intermedialität ist einerseits prägend für die aktuelle theoretische (literaturwissenschaftliche) Auseinandersetzung und stellt einen etablierten Begriff dar, auf der anderen Seite erfährt er durch die weite Streuung seiner Zuständigkeit eine fortschreitende Aufsprengung. Wie auch der Aufbau der vorliegenden Arbeit zeigt, konzentrieren sich im Intermedialitätsphänomen unterschiedliche Zugänge und interdisziplinäre Ansatzpunkte. Daher erscheint aufgrund der Vielzahl an Aspekten eine Synthese oder Gesamtschau theoretischer Arbeiten nahezu unmöglich. Einige versuchen das Phänomen über eine Kategorisierung verschiedener Formen intermedialer Relationen anzugehen,107 Andere nähern sich einer Differenzierung durch die Beschreibung möglicher Beziehungen zwischen Einzelmedien ohne ein übergreifendes Konzept zu formulieren108 oder definieren Intermedialität hauptsächlich über die gesellschaftliche Rolle medialer Konstellationen109. Darüber hinaus werden in theoretischen Arbeiten oftmals nur zwei Medien in Beziehung gesetzt, wobei die Möglichkeit der Übertragung der im jeweiligen
106
Diesen Eindruck bestätigen beispielsweise einige Beiträge folgender Sammelbände: Eichner, Thomas/Bleckmann, Ulf (Hg.): Intermedialität. Vom Text zum Bild, Bielefeld: Aisthesis 1994, Harms, Wolfgang (Hg.): Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposium 1988, Stuttgart: Metzler 1990, Helbig, Jörg (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin: Schmidt 1998, und P. V. Zima: Literatur intermedial.
107
Vgl. I. O. Rajewsky: Intermedialität, Winkelmann, Sabine: Intermedialität in Eugene O’Neills Dramen The Emperor Jones, The Hairy Ape und The Great God Brown, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, Wolf, Werner: »Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissenschaft?«, in: AAAArbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 21/1 (1996), S. 85-116, und Moll, Andreas: Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann. Intermedialität im Spätwerk, Frankfurt am Main: Lang 2006.
108
Vgl. Caduff, Corina et al.: »Intermedialität«, in: ZS für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 51/2 (2006), S. 211-237.
109
Vgl. Müller, Jürgen E.: Intermedialität. Formen moderner Kommunikation, Münster: Nodus 1996.
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Kontext aufgestellten Kategorien auf eine allgemeinere Ebene erst anhand anderer Kontaktmedien zu beweisen steht.110 Grundlage für die Herangehensweise meiner Arbeit ist die Differenzierung verschiedener Erscheinungen intermedialer Phänomene, also der im Vorhergehenden als Kategorisierung unterschiedlicher Formen von Intermedialität beschriebene Ansatz, in Orientierung an dem systematischen und ausführlichen Einteilungsvorschlag von Irina O. Rajewsky111, der allerdings vereinfacht und modifiziert wird. Ausgehend von Literatur beansprucht Rajewskys Ansatz auf verschiedenste mediale Kontakte anwendbar zu sein. Allerdings ist die explizite Auslegung der Kategorien, vor allem in Hinsicht auf Text/Musik-Relationen, stellenweise ausgespart, so dass die getroffenen Unterscheidungen zunächst an beiden Medienbezügen (Text/Bild und Text/Musik) erschlossen werden müssen. Dabei werden sich ausführlichere Definitionen auf diejenigen Aspekte beschränken, die im Bezug auf spätere Textanalysen wichtig sind. Zunächst werden intramediale Bezüge (wie oben definiert) und Transmedialität, das heißt medienunspezifische Phänomene, beispielsweise bestimmte Stoffe oder stereotype Figuren, die in unterschiedlichen Medien auftreten, aber keinem Medium ursprünglich zugeordnet werden können, vom Begriff der Intermedialität abgegrenzt. Ergänzend ist das Phänomen der Multimedialität112 zu separieren, da dieses zwar eine Medienkombination darstellt, die einzelnen Teile aber dergestalt zu einer Gesamtaussage gebündelt werden und als Ganzes konstruiert sind, dass ein neues Medium entsteht, das aus mehreren Zeichensystemen zusammengesetzt ist, wie beispielsweise die Oper, der Film, der Comic oder die Vokalmusik. Zwar bringt die Multimedialität genauso wie die Medienkombination getrennte Medien zusammen, doch entsteht »[d]urch die Kanonisierung und Automatisierung (sowie Institutionalisierung) einer bestimmten Performanzform (Stummfilm, Ton-Farbfilm, Musiktheater, Kirchen-
110
Vgl. S. P. Scher (Hg.): Literatur und Musik oder Spielmann, und Yvonne:
111
I. O. Rajewsky: Intermedialität und Rajewski, Irina O.: Intermediales Erzäh-
Intermedialität. Das System Peter Greenaway, München: Fink 1994. len in der italienischen Literatur der Postmoderne, Tübingen: Narr 2003. 112
Stellenweise auch Plurimedialität genannt.
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oper, Dichterlesung etc.) [...] beim Publikum der Eindruck, als würde es sich um festgefügte (wenn auch bei näherer Betrachtung hybride) Medientypen handeln.«113
Diese Erscheinungen werden auch in der vorliegenden Arbeit als ein Medium begriffen, wobei außer Frage steht, dass auch innerhalb multimedialer Konstrukte die Bezüge zwischen einzelnen Elementen herausgestellt werden können und beispielsweise ihre Rolle zur Bedeutungskonstitution untersuchenswert ist. Demnach können intermediale Relationen zwischen monomedialen und/oder multimedialen Produkten bestehen.114
113
Hansen-Löwe, Aage A.: »Intermedialität und Intertextualität. Probleme der Korrelation von Wort- und Bildkunst – Am Beispiel der russischen Moderne (1983)«, in: Mathias Mertens, Forschungsüberblick ›Intermedialität‹. Kommentierungen und Bibliographie, Hannover: Revonnah 2000, S. 27-83, hier S. 64.
114
Die Unterscheidung zwischen Intermedialität und Multimedialität ist kein Konsens. Beispielsweise fasst Andreas Moll beide Phänomene als »synchrone Verarbeitung zweier Medien« zusammen (A. Moll: Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann, S. 79). Unter diese Kategorie wären also sowohl als distinkt wahrgenommene, hybride Medien als auch Medienkombinationen einzuordnen. Um allerdings eine Analyse intermedialer Phänomene am Ausgangspunkt der Literatur bewerkstelligen zu können, ist es entscheidend, ob eine Kombination weiterhin different bleibender Medien erfolgt (beispielsweise im Fall der Verwendung von photographischen Abbildungen innerhalb eines Romans) oder ob ein aus unterschiedlichen Zeichensystemen bestehendes, aber grundlegend als Einheit wahrgenommenes Medium vorliegt (wie zum Beispiel der Film). Wären Multimedialität und Medienkombination ein und dasselbe Phänomen, wäre zu klären, ob immer ein geschlossenes mediales Produkt entsteht oder ob, im Gegenteil, alles reine Medienkombination bleibt. Multimedialität und Medienkombination beschreiben zwar das gleiche Verfahren, allerdings schmelzen durch Kanonisierung und Institutionalisierung einzelne kombinierte mediale Systeme zu einem neuen Medium zusammen und andere konstituieren ihre Wirkung zwar in der Summe ihrer Zeichen und darüber hinaus, aber ohne sich generell zu einem als geschlossen wahrgenommenen Medium zusammenzufügen. Diese Differenz ist zwar graduell und nicht stabil, aber dennoch essenziell.
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Intermedialität selbst lässt sich zunächst in drei Erscheinungsarten aufteilen: Der Medienwechsel, also die Überführung eines medienspezifischen Werks in ein anderes, beispielsweise die Verfilmung eines Romans oder die Vertonung eines Gedichts, stellt die erste Form intermedialer Relationen dar. Wenn ein bestimmter Stoff oder Inhalt das Medium wechselt, wird, um beim Beispiel der Literaturverfilmung zu bleiben, die Geschichte mit den Mitteln des Films erzählt und kommt entsprechend einer filmischen Ästhetik zur Darstellung. Das Buch liefert lediglich die stoffliche Grundlage für die filmische Handlung, wobei auch Wechselwirkungen zwischen Inhalt und Form nachgewiesen werden können. Ein zweites Beispiel für intermediale Beziehungen sind Medienkombinationen. Charakteristisch für die Zusammenführung zweier oder mehrerer Medien ist ihre Koexistenz, ihre gemeinsame Präsenz innerhalb eines medialen Produkts wie beispielsweise im Photoroman, der Text und Bild gleichermaßen beinhaltet. Wichtig werden hier die Art und Weise und die Gewichtung der optischen und inhaltlichen Kombination, nach der das Zusammenspiel unterschiedlicher Verfahren der Bedeutungskonstitution verschiedener Zeichensysteme funktioniert. Bilder, die einem Text hinzugefügt werden, können zum Beispiel illustrativen Zwecken dienen, das heißt sie konstituieren gemeinsam mit dem Text eine Bedeutung oder unterstreichen die Inhaltskomponente der Sprache; entscheidend ist hierbei zusätzlich, innerhalb welchen Mediums die Kombination stattfindet. Darüber hinaus können beide Zeichensysteme die jeweils andere Aussage deformieren, unterwandern, parodieren, opponieren, relativieren und je nach dem beim Leser eine andere Wirkung hervorrufen. Im Hinblick auf Kontakte zwischen Musik und Text treten Medienkombinationen eher als multimediales Phänomen auf, da sowohl die Oper als auch die Vokalmusik als Einheit wahrgenommen werden. Taucht etwa ein Liedtext innerhalb eines Romans auf, handelt es sich weniger um eine Medienkombination als vielmehr um die, im Folgenden noch erläuterte, Übernahme deckungsgleicher Komponenten. Wenn allerdings eine Partitur innerhalb eines Textes abgedruckt ist, könnte diskutiert werden, ob dieses Phänomen als Medienkombination gilt. Zwar ist auch hier nur eine Komponente des Mediums aufgegriffen, allerdings besteht keine Deckungsgleichheit, da die Verschriftungen von Sprache und Musik verschieden sind. Eine weitere, dritte Form von Intermedialität ist das Verfahren der Integration eines oder mehrer Medien innerhalb eines anderen Systems me-
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dialer Vermittlung. Der entscheidende Unterschied zur Medienkombination, bei der streng genommen ebenfalls ein Medium in ein anderes aufgenommen wird, ist, dass bei der Medienintegration letztendlich nur ein mediales Zeichensystem präsent bleibt und sich die anderen medialen Vermittlungsformen innerhalb des Präsentierten zeigen. Diese Integration kann verschiedenartig und zu unterschiedlichen Zwecken erfolgen: Zunächst kann ein anderes System oder Produkt medialer Vermittlung innerhalb eines Zeichensystems explizit thematisiert werden. Im eigentlichen Text gibt es die Möglichkeiten Thematisierungen auf figuraler Ebene oder in der Narration einzuführen, beispielsweise wenn ein Protagonist ein bestimmtes Lied hört, von Filmtechniken begeistert ist oder wenn narrativ die Thematisierung durch die Erzählerrede bewerkstelligt wird und diskursiv fremdmediale Themen aufgegriffen werden. Neben der expliziten Thematisierung können fremdmediale Komponenten inhaltlich auch implizit aufgegriffen werden, etwa wenn die Befindlichkeit einer Person durch die metaphorische Wendung ihrer sich auflösenden Konturen als negativ gekennzeichnet werden soll oder eine langsam verschwindende Erinnerung anhand eines musikalischen ›Fade-Out‹ vermittelt wird. Die Literatur nennt hier nicht explizit Film, Photographie oder Musik, sondern versucht mit der Nennung einer speziellen Technik, die diesen Medien eigen ist, eine bestimmte Vorstellung zu erwecken, die mit dem indirekten Verweis auf die Arbeitsweise einer Kameralinse oder eines Musikstücks verbunden ist. Das fremde Medium wird thematisiert, indem eine Metaphorik auf die dem anderen Zeichensystem eigene Darstellungstechnik verweist. Implizite inhaltliche Referenzen können allerdings nicht nur in Form der Metaphorik erfolgen, sondern auch durch das Aufgreifen bestimmter Stoffe und Themen, welche einem anderen Ausgangsmedium zuzuschreiben sind. Diese intermediale Relation ist also das Gegenteil der Transmedialität, welche, wie bereits erwähnt, medienunspezifische Phänomene benennt. So ist die Darstellung von Massenszenen beispielsweise ein Spezifikum des Films, während etwa die Figur des deus ex machina klar im Theater verortet werden kann. Werden solche Stoffe Textinhalt, geschieht eine implizite Thematisierung des fremdmedialen Bezugsystems. Dabei muss das Ausgangsmedium erkennbar bleiben. Im Hinblick auf Musik zeigt sich diese Kategorie als problematisch, denn sogar wenn ihr thematische Inhalte zugestanden werden, bleibt es fraglich, ob und wie ein Thema nach einer Übertragung ins sprachliche
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Medium noch erkennbar wäre. Vielleicht könnte ein Beispiel der literarische Verweis auf ein bestimmtes Instrument sein, das über die Thematisierung von Musik im Text hinaus auf eine bestimmte Thematik verweist, die in der Musik durch eben dieses Instrument repräsentiert wird, im Fall des Horns beispielsweise Natur oder Wald. Über Thematisierungen im eigentlichen Text hinaus, können fremdmediale Inhalte auch im Paratext, wie im Kontext aufgegriffen werden. In Überschriften, Fußnoten und Motti oder Interviews und theoretischen Äußerungen des Autors kann das Thema Medien genannt oder reflektiert werden. Die unterschiedlichen Methoden der Thematisierung haben nicht nur die Aufgabe, intermediale Bezüge zu benennen, sondern auch andere Formen medialen Zusammenspiels zu markieren.115 Sie lassen eine Auseinandersetzung des Autors mit dem Gebiet der Medienthematik vermuten und legen eine eventuelle formelle Gestaltung in Anlehnung an die aufgegriffenen medialen Formen nahe.116 Eine Markierungsfunktion für intermediale Relationen kann, neben Medienthematisierungen, welche sich auf die inhaltliche Dimension des sprachlichen Zeichens beziehen, auch durch die Betonung des Sprachzeichens, also auf materieller Basis, erfolgen. Auf optischer Ebene kann die auffällige Setzung beispielsweise einzelner Buchstaben und ihrer Anordnung oder eine betonte Interpunktion auf eine formale intermediale Dimension des Textes verweisen. Buchstaben und Wörter können so ihre visuelle Seite hervorkehren, akzentuieren den Aspekt ihrer graphischen Substanz und können dadurch auch auf eine formale intermediale Gestaltung an der Schnittstelle zwischen Text und Bild verweisen. Ebenso verhält es sich mit der literarischen Hervorhebung der lautlichen Komponente der Sprache wie
115
Ich beziehe mich hier auf die Ausführungen Ulrich Broichs zur Intertextualität, die auf die Intermedialität übertragen werden können (vgl. Broich, Ulrich: »Formen der Markierung von Intertextualität«, in: Ders./M. Pfister (Hg.), Intertextualität, S. 31-48).
116
Im Hinblick auf popliterarische Schreibweise sei hier im Vorhinein darauf verwiesen, dass Thematisierungen weitere wichtige Funktionen innerhalb eines Textes haben können, die auch auf die stilistische Gestaltung Einfluss haben. Darauf werde ich im Laufe der Arbeit zurückkommen.
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etwa bei der Onomatopoesie, welche über den Klang einen Verweis auf weitere musikalische Anleihen im Text transportieren kann. Darüber hinaus kann die Integration anderer Formen medialer Vermittlung neben der Thematisierung auch über unterschiedliche Formen der Mediendramatisierung117 erfolgen, das heißt, andere Medien, ihre Spezifika, Techniken und Darstellungsmethoden bilden den Ausgangspunkt für die formale Gestaltung, wie bei der Simulation fremdmedialer Darstellungstechniken. Ein Beispiel für ein literarisches Verfahren, das musikalische Spezifika übernimmt, wäre eine auffällige sprachliche Inszenierung von Strophe und Refrain, etwa in einem Gedicht. Als Simulation einer filmischen Technik lässt sich beispielsweise das Kopieren der Schnitttechnik innerhalb eines Erzählverfahrens nennen. Der abrupte Wechsel einzelner filmischer Bilder wird durch die sprachliche Aneinanderreihung unterschiedlicher unzusammenhängender Wirklichkeitsmomente imitiert. Oftmals geht eine nachahmende Darstellungsmethode innerhalb der Literatur mit einer sprachlichen Initiierung einher, was bedeutet, dass beispielsweise zwischen verschiedenen, aneinander montierten Sprachbildern das Wort ›Schnitt‹ oder typographische Zeichen wie ›//‹ auftauchen, um den Bezug zum Film deutlicher zu markieren. Darüber hinaus ist dieses Beispiel auch exemplarisch für die Kombination expliziter oder materieller Thematisierung in Form eines Markers mit anderen Phänomenen intermedialen Zusammenspiels. Eine zweite Kategorie der Mediendramatisierung bildet die Übersetzung fremdmedialer Spezifika in die Zeichensprache eines anderen Mediums. Dabei werden bestimmte Wirkungen oder Mittel übertragen, im speziellen Fall der Literatur also einem Vertextungsverfahren unterzogen. Im Unterschied zur Übernahme fremdmedialer Darstellungstechniken werden Methoden als solche nicht nachgeahmt, sondern unter Berücksichtigung der Bedingungen des Erzählens in eine texteigene Ästhetik umgewandelt, die sich nach unterschiedlichen Aspekten im Rekurs auf andere Medien richten kann, aber vor allem die Verschiedenheit der Rezeptionssituation berück-
117
Diese Kategorie intermedialer Phänomene wird bei Andreas Moll als »metaphorische Intermedialität« betitelt (vgl. Andreas Moll: Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann, S. 79). Damit wird dem Sachverhalt Rechenschaft gezollt, dass jede Dramatisierung eines anderen Zeichensystems eines verfremdenden Abstraktionsprozesses bedarf.
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sichtigen muss. Strenggenommen bedarf auch die Übernahme fremdmedialer Darstellungstechniken eines gewissen Grads an Übersetzung, da, sobald vertextet, jedes einbezogene Zeichensystem sich innerhalb der Sprache und ihrer Eigengesetzlichkeiten befindet. Allerdings ist die Übersetzung fremdmedialer Spezifika als quasi entgegengesetzte Bewegung zu verstehen: hier erfolgt der Versuch, eine Wirkung, die anderen Medien eigen ist, anhand der Sprache und ihrer Möglichkeiten zu erzeugen, während im Fall der Übernahme von Techniken fremdmediale Arbeitsweisen kopiert werden, die innerliterarisch eine eigene Wirkung entwickeln. So kann eine dichte, parataktische Erzählweise den Eindruck von Bewegung erzeugen, die, gekoppelt mit beispielsweise vorwiegend visuellen Eindrücken, auf das filmische Medium verweisen, oder aber das sprachliche Montieren direkt aufeinander folgender Gesprächsfetzen erzeugt den Eindruck musikalischer Polyphonie. Problematisch gestaltet sich innerhalb dieser Kategorie erstens die Auszeichnung bewusst vertexteter fremdmedialer Komponenten, da ja sämtliche Merkmale immer innerhalb des sprachlichen Mediums und seiner Möglichkeiten auftreten und zweitens die Unterscheidung, auf welches Medium verwiesen wird, denn einige Eigenschaften teilen sich mögliche mediale Bezugssysteme; so kann etwa akustische Gleichzeitigkeit genauso filmisch wie musikalisch sein. Dieser Problematik ist anhand konkreter Textbeispiele beizukommen, da vor allem durch den Gesamteindruck eines literarischen Werks, die Intensität der Bezüge und manchmal auch aufgrund anderer intermedialer Verweise eine bestimmte Deutung nahegelegt wird. Darüber hinaus ist Literatur dazu im Stande, medial deckungsgleiche Komponenten zu übernehmen, beispielsweise durch das Zitieren von Musik- oder Filmtexten. Bei der literarischen Integration eines Filmzitats oder der Textzeile eines Musikstücks tritt eine Entfremdung ein. Für den zitierten filmischen Sprachteil gelten ausschließlich die Bedingungen für die Bedeutungskonstitution eines Textes. Er funktioniert unter diesen Umständen anders als im Zusammenspiel mit der Bildkomponente, da nur ›Zitatteile‹ in den Text und seine Verfahren eingehen. Die Methoden der Übersetzung und Übernahme bedürfen in besonderem Maße der Markierung, da das Erkennen dieser Formen der Intermedialität besonders rezipientenabhängig ist; beispielsweise muss man um ein Film- oder Musikzitat, falls es nicht als solches kenntlich gemacht ist, wahrnehmen zu können, entweder den Text als eindeutig einem bestimmten Film oder Lied zugehörig identifizieren oder im Voraus schon so sensibilisiert lesen, dass man eventuell
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anhand einer anderen Diktion auf den Zitatcharakter aufmerksam wird. Dieselbe geschärfte Lesart wird für die Vertextung fremdartiger Spezifika benötigt, die oftmals komplex oder mehr oder weniger deutlich umgesetzt wird. Außerdem sind die Übergänge zwischen den aufgestellten Kategorien fließend und es herrscht häufig eine Kombination unterschiedlicher Verfahren vor. Aus den getroffenen Unterscheidungen intermedialer Formen ergibt sich folgendes zusammenfassendes Schema:118
118
Bezüglich der Anlehnung an und Unterschiede zu Rajewsky vgl. die Überblicksskizze in I. O. Rajewsky: Intermedialität, S. 157.
Abbildung 1: Zusammenfassendes Schema intermedialer Relationen
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Die aufgestellten Kategorien sind oft nicht eindeutig voneinander abzugrenzen. Häufig treten verschiedene Intermedialitätstypen gleichzeitig auf, vor allem die schon angesprochene Thematisierung von Medien oder deren Produkte und die Übernahme bestimmter Darstellungstechniken anderer Systeme medialer Vermittlung oder Formen der Übersetzung fremdmedialer Eigenheiten werden oft kombiniert, da das thematische Aufgreifen Signalcharakter für die formale Gestaltung des Textes besitzen kann. Neben den auf Text und Autor bezogenen Markierungen, die auf dramatisierte intermediale Phänomene hinweisen können, möchte ich mögliche zeitbedingte (gesellschaftliche und technische) Marker mit Signalpotential hinzufügen. Wie beispielsweise technische Entwicklungen eine veränderte Sensibilität gegenüber der Wahrnehmung und eine gesteigerte Auseinandersetzung der Literatur mit Methoden der Vermittlung zeigen, wurde im ersten Teil der theoretischen Ausführungen gezeigt. Brinkmanns Werk ist zeitlich in eine medial brisante Phase einzuordnen. In den 1960er Jahren beginnt sich eine Mediengesellschaft zu entwickeln, welche entscheidend die Erfassung und (literarische) Konstruktion der Umwelt beeinflusst und Diskussionen über die Rolle der Literatur im Medienverbund und ihre Aufgaben hervorruft. Markierungen sind eine Möglichkeit, intermediale Bezüge zu signalisieren, wenn jedoch eine derartige Steuerung der Aufmerksamkeit des Lesers nicht vorhanden ist, wirken Relationen zu anderen Vermittlungssystemen je nach Verarbeitung und Häufung intensiver oder weniger stark. 2.2.3 Skalierung der Intensität intermedialer Verweise Nicht alle intermedialen Relationen sind gleichermaßen intensiv, sondern im Verhältnis zu ihrer Erscheinung und Umsetzung mehr oder weniger deutlich oder ausgeprägt. Manfred Pfister hat im Hinblick auf intertextuelle Phänomene eine Skalierung bezüglich ihrer Intensität vorgenommen, die auch auf intermedialer Basis anwendbar ist.119 Für die Messung der Stärke der Intermedialität ist wichtig, dass die Kriterien nicht einzeln zur Beurtei119
Vgl. Pfister, Manfred: »Konzepte der Intertextualität«, in: Ders./U. Broich (Hg.), Intertextualität, S. 26-30, und Eicher, Thomas: »Was heißt (hier) Intermedialität?«, in: Ders./U. Bleckmann (Hg.), Intermedialität, S. 11-29, hier S. 25-26.
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lung mehr oder weniger intensiver Bezüge dienen, sondern im Bündel anzuwenden sind; alle Werte der verschiedenen Parameter müssen gleichermaßen berücksichtigt werden. Zunächst findet eine Unterscheidung von qualitativen und quantitativen Kriterien statt, wobei die Quantität nach Dichte und Häufigkeit intermedialer Bezüge verbunden mit Zahl und Streubreite des Einbezugs unterschiedlicher Formen medialer Vermittlung bemessen wird. Im Kontext der qualitativen Unterschiede der Bezüge zwischen Medien sind folgende verschiedene Aspekte zu berücksichtigen:120 Das Kriterium der Kommunikativität ist ausschlaggebend für den Grad der Bewusstheit der intermedialen Referenzen beim Leser. Die Stärke der Rezeptionssteuerung in Richtung des Zusammenspiels medialer Zeichensysteme ist abhängig von der Deutlichkeit der Markierung oder von der Eindeutigkeit der Verarbeitung intermedialer Phänomene. Intensiver werden können intermediale Verweise darüber hinaus, indem ein Text nicht nur fremdmediale Kontexte bedient, sondern die Adaption oder Integration auch theoretisiert beziehungsweise problematisiert. Solche Formen von Autoreflexivität tragen zur Markierung auf metanarrativer Ebene bei. Mit dem qualitativen Kriterium der Strukturalität ist die Intensität der »syntagmatischen Integration«121, des strukturellen Einbezugs eines Zeichensystems, benannt. Intermediale Relationen werden hier dadurch intensiviert, dass ein Text nicht nur andere Medien thematisiert, sondern diese auch punktuell oder prinzipiell zur strukturellen Folie für seine Erzähltechnik macht, wie dies im Falle der Simulation bestimmter fremdmedialer Darstellungstechniken oder bei der Übersetzung
120
Pfister führt als erstes Kriterium die Referenzialität an, welche besagt, »dass eine Beziehung zwischen Texten umso intensiver intertextuell ist, je mehr ein Text den anderen thematisiert, indem er seine Eigenart [...] bloßlegt« (M. Pfister: »Konzepte der Intertextualität«, in: Ders./U. Broich (Hg.), Intertextualität, S. 26). Bezöge sich ›mehr‹ auf die Quantität, hätte dieser Parameter unter den Qualitätskriterien nichts verloren; geht es hierbei jedoch um das Deutlichwerden der Eigenheiten eines Bezugsprodukts in der fremdmedialen Verarbeitung, sind die Forderungen bezüglich der Referenzialität bereits in anderen Parametern der qualitativen Messung enthalten. Daher möchte ich auf dieses Kriterium verzichten.
121
M. Pfister: »Konzepte der Intertextualität«, in: Ders./U. Broich (Hg.), Intertextualität, S. 28.
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fremdmedialer Spezifika geschieht. Einen weiteren Intensitätsparameter bildet die Selektivität, die darüber entscheidet, wie pointiert Elemente der intermedialen Auseinandersetzung ausgewählt und hervorgehoben sind. Beispielsweise stellt die explizite Verbindung zu einem konkreten fremdmedialen Produkt, wie etwa ein bestimmtes Filmzitat innerhalb eines Textes, einen selektiven und somit intensiven Bezug her, wobei immer auch eine Verbindung zum ganzen zugehörigen System des selektiven Ausschnitts besteht. Das letzte Qualitätskriterium ist, in Anlehnung an die Theorie Bachtins, die Dialogizität. Damit soll die höhere intermediale Intensität ausgedrückt werden, welche auftritt, sobald der ursprüngliche und der neue Zusammenhang in starker semantischer und ideologischer Spannung stehen. Der Hintergrund, vor dem eine mediale Relation hergestellt wird, wie Bezüge eingesetzt werden und auf welche Weise Wirkung erzielt wird, gerät hier unter Einbeziehung des spezifischen Kontextes in den Blickpunkt. Aus der Kombination und Wertung aller genannten Parameter lässt sich ablesen, wie intensiv intermediale Verknüpfungen gestaltet sind; somit kann Intermedialität als formales, strukturelles und hermeneutisches Verfahren im konkreten Einzelfall gerechtfertigt und gewichtet werden.
3 Die intermediale Verfasstheit popliterarischer Schreibweisen »Pop-Hokuspokus«1
Die These, dass Intermedialität eine notwendige Komponente der so genannten Popliteratur ist, wird dieses Kapitel theoretisch erarbeiten. Brinkmanns intermediale Experimente bekommen vor diesem Hintergrund eine weitere Facette, und seine literaturgeschichtliche Einordnung als erster deutscher Popliterat wird fundiert.2 Darüber hinaus stellt der Exkurs zum Thema Popliteratur und Intermedialität eine übergreifende Definition popliterarischer Schreibweisen bereit, welche genügend Freiraum für individuelle und zeitbedingte Ansätze bietet, aber dennoch zentrale Eigenschaften benennt und so auch für die Beschreibung und Interpretation späterer popliterarischer Werke produktiv ist. Der Vielzahl unter dem Schlagwort Popliteratur vermarkteter Veröffentlichungen in den 1990er Jahren folgte eine journalistische und wissenschaftliche Debatte, die sowohl versucht, die aktuellen Schreibweisen zu
1
Brinkmann, Rolf: Rom, Blicke, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1979, S. 325.
2
Durch die konzeptuelle, stilistische und inhaltliche Übertragung der Werke angloamerikanischer Beatliteraten wird Brinkmann zum Begründer der Popliteratur in Deutschland. Moritz Baßler nennt ihn den »ersten deutschen Schriftsteller, der das Label Pop-Literatur auf sich gezogen hat« (Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München: Beck 2002, S. 164); von Johannes Ullmaier wird er als »die Ikone deutscher Popliteratur« bezeichnet (Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon und zurück, Mainz: Ventil 2006, S. 49).
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charakterisieren, als auch retrospektiv das erneute Aufleben der Popliteratur im Hinblick auf die literarischen Vorgänger zu systematisieren. Die Diskussionen schließen zwar teilweise an die zu Brinkmanns Zeiten geführten an,3 etablieren und prägen allerdings den Terminus Pop erst auf literaturwissenschaftlichem Gebiet. Seitdem wird als Popliteratur alles Mögliche bezeichnet: Die Auslegung des Begriffs bewegt sich zwischen unterschiedlichen Ansatzpunkten traditioneller Natur (Pop wird zusammengedacht mit populärer Musik, die in Abgrenzung zur Klassik eine neue Richtung einschlägt)4 oder kulturtheoretischer Art (Pop, verstanden im Kontext des durch die englischen Geistesund Sozialwissenschaften geprägten Begriffs der popular culture, der massenkulturelle Phänomene im Gegensatz zur Hochkultur bezeichnet)5. Als Definitionsgrundlage dienen außerdem marktwirtschaftliche Aspekte (Popbeziehungsweise populäre Literatur ist das, was innerhalb einer Konsumgesellschaft großes Publikums- und Käuferpotenzial hat)6, deskriptive Ansät-
3
Vergleichbar mit der Fiedler-Debatte werden Anfang der 1990er Jahre heftige Feuilleton-Diskussionen über den Zustand und die Aufgaben der deutschen Gegenwartsliteratur geführt. Wie auch um ’68 wird die Literaturdebatte durch eine Umbruchsituation, den Mauerfall, eingeleitet (vgl. Köhler, Andrea/Moritz, Rainer: Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Leipzig: Reclam 1998). Wie auch Brinkmann haben die Popliteraten in den 1990er Jahren Vorbilder aus dem angloamerikanischen Raum. Orientierung bieten unter anderem Bret Easton Ellis oder Nick Hornby.
4
Die Probleme, Pop in der Literatur von Pop in der Musik herzuleiten, zeigen sich schon, wenn man versucht, allein die Begriffe populäre Musik oder Popmusik zu definieren (vgl. Kapitel 2.1.2).
5
Schwierig gestaltet sich hier vor allem die Übertragung vom Englischen ins Deutsche: Das Verständnis, die Begriffsverwendung und die Theoretisierung von Pop in Deutschland und im angloamerikanischen Raum sind verschieden und eine Übersetzung nicht einwandfrei möglich. Popular culture ist kontextuell anders eingebettet als die Begriffe populäre, populare oder Pop-Kultur, die auch alle verschiedene Bedeutungen haben können. Ebenso ist Massenkultur im Deutschen ganz anders konnotiert als das englische mass culture.
6
Durch die Gleichsetzung von Popliteratur und marktwirtschaftlicher Ausbeute wären popliterarische Werke schlicht populäre Literatur oder auch Trivialliteratur. Allerdings besteht hier ein großer Unterschied. Trivial oder populärlitera-
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ze (zum Beispiel: Popliteratur ist Literatur, die Popmusik thematisiert, auf Popmusik als generatives Verfahren referiert oder Markennamen und Musikgruppen nennt)7, generationsspezifische Eingrenzungen (Popliteraten sind junge Autoren der 90er Jahre)8 oder qualitative Bewertungen (poplite-
risch sind die in dieser Arbeit beispielgebenden popliterarischen Schreibweisen insofern nicht, als sie sich weder spannungserzeugenden narrativen Verfahren bedienen noch unbedingt für ein breites Massenpublikum geschrieben sein müssen (vgl. zur Definition von Trivialliteratur: Nusser, Peter: Trivialliteratur, Stuttgart: Metzler 1991, S. 3: »Deshalb ist es vernünftig, am Begriff der Trivialliteratur festzuhalten, der sowohl den ästhetischen Aspekt (das Triviale als das leicht Eingängige) als auch den gesellschaftlichen Aspekt (das Triviale als das weit Verbreitete) vereinbart«). Auch die Verortung von Popliteratur in der Unterhaltungsliteratur, die sich innerhalb eines Dreischichtenmodells zwischen der ›hohen‹ Literatur und der Trivialliteratur befindet, gestaltet sich problematisch. Die Abgrenzung der Kategorien ist nicht trennscharf und das Definitionsmerkmal, Texte seien vor allem unterhaltend und auf die Bedürfnisse des Publikums zugeschnitten, äußerst vage. Daher sind die Parameter ›populär‹ und ›unterhaltend‹ im Gegensatz zu ›hochkulturell‹ bei der Festlegung des Begriffs der Popliteratur nicht geeignet. Kennzeichnend für popliterarische Schreibweisen ist, dass sie mit diesen Kategorien spielen: Einerseits wird, spätestens seit Fiedler, mit Versatzstücken unterhaltungsliterarischer Formen gearbeitet (wie dem Aufgreifen von Elementen des Western, Science-Fiction-Themen, pornographischen Inhalten oder Comic-Strips); auch wird die Leseerwartung der ›Hochkultur‹ mit einkalkuliert, dadurch ein Irritations- und Provokationseffekt herbeigeführt und ein Gestus der Abgrenzung vermittelt. Darüber hinaus treten andererseits durchaus ästhetisch komplexe Verfahren auf, wie unter anderem die intermedialen Fallbeispiele zeigen, die auch von der Erwartung leicht konsumierbarer Unterhaltung stark abweichen. 7
Einigen dieser deskriptiven Ansätze mangelt es an Systematisierungen.
8
Zwar mag ein jugendkultureller Gestus innerhalb der Werke vorhanden sein, ›Jugend‹ als Einordnungskategorie ist, spätestens seit den 1990er Jahren, hinfällig. Das Konzept der Jugend ist zunehmend schwerer zu umreißen und abzugrenzen. Darüber hinaus durchsetzt die Popkultur sämtliche gesellschaftlichen Bereiche, so dass sie nicht auf Jugendliche beschränkt werden kann, sondern sich generationsübergreifend ausbreitet. Dies gilt auch für Popliteratur, die sich der Mechanismen der Popkultur bedient beziehungsweise einen Teil von ihr bil-
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rarische Romane sind ästhetisch minderwertige Romane der 90er Jahre)9. Der prominente Poptheoretiker Diedrich Diederichsen beschreibt die Situation wie folgt: »Ob als Zeichen für den allgemeinen Werteverfall oder für attraktiv-transparente neue gesellschaftliche Verhältnisse: Der Pop-Begriff scheint nicht nur endlos zuständig, sondern auch endlos dehnbar zu sein.«10 Problematisch auf literarischem Sektor sind die zahllosen unterschiedlichen Möglichkeiten, den Pop-Begriff11 auf das Medium Buch zu beziehen: »Pop und Literatur – wann immer die beiden aufeinandertreffen, knallt es.«12 In anderen Künsten werden mit Pop-Art13 und Popmusik14 definitori-
det. Ein weiterer, offensichtlicher Grund, dass Popliteratur nicht ausschließlich von Jugendlichen gemacht ist, zeigt das Alter einiger Popliteraten, unter anderem auch das von Goetz und Meinecke, welche Jahrgang 1954 beziehungsweise 1955 sind und darum keineswegs mehr als Jugendliche bezeichnet werden können. 9
Allein die extreme Unterschiedlichkeit der Werke macht dieses stark verallgemeinerte Urteil unhaltbar.
10 Diederichsen, Diedrich: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt, Köln: Kiepenheuer & Witsch1999, S. 273. 11 Zur Schwierigkeit, die Begriffe Populäre Kultur, Popularkultur, Popkultur, Populärkultur oder Massenkultur überhaupt greifbar zu machen und voneinander abzugrenzen, vgl. Seiler, Sascha: »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 20-26. 12 Gleba, Kerstin/Schumacher, Eckhard: »Vorwort«, in: Dies. (Hg.), Pop seit 1964, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2007, S. 11-14, hier S. 11. 13 Pop-Art entwickelte sich in den 1950er Jahren in England und Amerika und breitete sich in der Folgezeit auf Europa aus. Kennzeichnend für diese Strömung ist die Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Alltagsrealität, indem vorgefertigtes Bildmaterial der Konsumgesellschaft, vor allem Markenwaren und Statussymbole, aufgegriffen und häufig zu plakativen, grellen Bildikonen umfunktioniert wird. Industriell gefertigtes Massengut wird so einem Ästhetisierungsprozess unterzogen, welcher gleichzeitig den Warencharakter der Kunstwerke selbst reflektiert. Die Objekte der Pop-Art-Künstler (neben Andy Warhol beispielsweise Richard Hamilton, Jasper Johns, Robert Rauschenberg, James Rosenquist oder Roy Lichtenstein) sind banale, alltägliche Dinge (wie ein Messer, eine Banane oder ein Mülleimer), Markenprodukte (etwa die berühmte Camp-
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sche Bezugspunkte angeboten. Da allerdings auch hier keine allgemein verbindlichen Bestimmungen übernommen werden können und die Bildende Kunst und die Musik sowohl nach traditionellen Maßstäben als auch in zeichentheoretischer Hinsicht andere Möglichkeiten, Ausdrucksformen und Vorgeschichten besitzen, möchte ich den ohnehin äußerst komplexen Diskurs um Popliteratur15 jenseits der direkten Ableitung des Pop-Begriffs aus Bildender Kunst oder Musik betrachten. Damit soll nicht die Übereinstimmung von Merkmalen bestritten werden,16 sondern lediglich das Ziel fokussiert bleiben, den Terminus Popliteratur als literaturwissenschaftlichen Begriff fassbar zu machen. Popliteratur hat eine lange Traditionslinie, welche sich anhand einer Historie popkultureller Entwicklungsstufen und der darin entstandenen
bell’s Suppendosen ebenso wie Coca-Cola-Flaschen) beziehungsweise Filmoder Rockstars (beispielsweise Liz Taylor, Marilyn Monroe und Elvis Presley). Bei der Art der künstlerischen Ausformulierung wird oft mit einer Comic- oder Werbeplakatästhetik in auffälligen, flächig aufgetragenen, unschattierten Farben gearbeitet. Außerdem etablieren sich Techniken wie die Collage, die materiell die thematisierten Versatzstücke der Alltagswelt nachahmt, und neue Reproduktionsmethoden, etwa der Siebdruck, der einen Prototyp der seriellen Produktion darstellt und so die Rolle und Aufgabe der Kunst durch ihre Annäherung an Konsumgüter reflektiert. 14 Vgl. die Ausführungen zur Popmusik in Kapitel 2.1.2. 15 Vgl. zur Verdeutlichung der verschiedenen möglichen Herangehensweisen und Deutungsversuche von Popliteratur beispielsweise die Sammelbände: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Pop-Literatur, München: Text und Kritik 2003, und Jung, Thomas (Hg.): Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und Pop-Literatur seit 1990, Frankfurt am Main: Lang 2002. 16 Beispielsweise nutzen und reflektieren alle Künste die Mechanismen der Popkultur und bilden gleichzeitig ihren essenziellen Bestandteil. Auch bewegen sie sich im Spannungsfeld zwischen Kunst und dem banalen, alltäglichen Raum, definieren sich durch das crossover zwischen high und low culture/zwischen E(rnst) und U(nterhaltung), betreiben die Verwertung wahrgenommenen Inputs und integrieren dadurch technische Reproduktionsmedien im Kunstbegriff. Auch bestehen enge gattungsübergreifende Verbindungen zwischen den Künsten und der globalen, kapitalistischen und medialen Verfassung der Gesellschaft.
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Werke nachzeichnen lässt.17 Unbestritten sind als markanteste Phasen der (Weiter-)Entwicklung des Pop in der deutschen Literatur die 1960er und die 1990er Jahre. Programmatisch repräsentiert werden diese Perioden von Rolf Dieter Brinkmann beziehungsweise von Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre, Rainald Goetz und Thomas Meinecke.18 Zunächst scheinen die Werke der Autoren vor allem nach stilistischen Kriterien sehr unterschiedlich. Da in der Sekundärliteratur schon bei den Popliteraten der 1990er Jahre eine große Uneinigkeit besteht, wie diese Bewegung zu beschreiben und vor allem auch zu bewerten sei, sind hier auch einige Ansätze zu finden, welche die beiden, rund dreißig Jahre auseinander liegenden Entwicklungsphasen separiert voneinander betrachten, denn »[e]ine verbindliche Definition ist […] nach wie vor schwierig, was darin begründet ist, dass im Falle der Popliteratur das Vorverständnis des Gegenstandes, das jeder Begriffsbestimmung zugrunde liegt, selbst schon so disparat ist, dass hier ein Konsens kaum möglich scheint. Um sich nicht in endlosen Zirkeln induktiv-deduktiver Definitionsversuche und -voraussetzungen zu verlieren, [ist es sinnvoll, sich] [...] mit einer Minimalbestimmung des Korpus’ [...] zu begnügen, die zudem nicht einmal die ›Popliteratur‹ im Ganzen treffen soll, sondern ›nur‹ die ›Neue Deutsche Popliteratur‹: zu dieser zählen wir also all jene Texte, die ab Mitte der 90er Jahre dafür gesorgt haben, dass der Begriff ›Pop‹ wieder auf die Tagesordnung gesetzt wurde.«19
Die Betonung der Unterschiede zwischen der Älteren Deutschen Popliteratur und der Neuen Deutschen Popliteratur beziehungsweise zwischen Pop I
17 Vgl. Jost, Hermand: Pop International, Frankfurt am Main: Athenäum 1971; J. Ullmaier: Von Acid nach Adlon und zurück, und Ernst, Thomas: Popliteratur, Hamburg: Rotbuch 2001. 18 Zentral für die deutsche Popliteratur in den 1990er Jahren sind das popkulturelle Quintett, das dem Verlag Kiepenheuer & Witsch zuzuordnen ist, nämlich Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre, und das Suhrkamp-Pop-Trio Albert Ostermaier, Thomas Meinecke und Rainald Goetz. 19 Degler, Frank/Paulokat, Ute: Neue Deutsche Popliteratur, Stuttgart: Fink 2008, S. 8.
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und Pop II20 ist durchaus berechtigt. Während nach Diedrich Diederichsen der Pop I für den von Jugend- und Gegenkulturen geplanten Umbau der Welt steht, welcher sich für die sexuelle Befreiung einsetzt, eine englischsprachige Internationalität propagiert, Zweifel an der protestantischen Arbeitsethik formuliert und Institutionen, Hierarchien und Autoritäten ablehnt, steht der Pop II im Zeichen des common sense und setzt sich aus Partikularismen und Mini-Subkulturen zusammen.21 Der von Diederichsen auch »spezifischer Pop«22 genannte Pop I (datiert von den 1960er bis1980er Jahren) versteht sich als Gegenbegriff zum etablierten Kulturbegriff und als grenzüberschreitende Bewegung; beim Pop II (in den 1990er Jahren), dem »allgemeinen Pop«23, kann sich kein Terrain gegen die Pop-Invasion sperren. Dadurch entsteht ein »Mainstream der Minderheiten«24. Pop ist nicht länger Underground, seine Partikularismen werden zu einem Teil des Mainstream. Fraglos sind deutliche Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen, kulturellen und auch medialen Voraussetzungen auszumachen, in welche popliterarische Ansätze in den 1960er und 1990er Jahren eingebunden sind. Dementsprechend befinden sich die Literaten innerhalb anderer Kontexte und stehen vor neuen Herausforderungen. Dennoch halte ich es für wichtig, verbindende Elemente der ›Popliteraturen‹ herauszustellen, um auf der Basis ihrer Gemeinsamkeiten die zeitbe-
20 Die Bezeichnungen Pop I und Pop II sind auf Diedrich Diederichsen zurückzuführen (vgl. D. Diederichsen: Der lange Weg nach Mitte). 21 D. Diederichsen: Der lange Weg nach Mitte, S. 272-275. 22 Ebd., S. 275. 23 Ebd. 24 Mainstream der Minderheiten ist der Titel eines von Tom Holert und Mark Terkessidis herausgegebenen Buches, das sich am Beispiel von Jugendkulturen und Popmusik mit der Beschreibung des Pop in der Kontrollgesellschaft beschäftigt. Der Mainstream wird verstanden als eine monokulturelle Form der Warenproduktion. Innerhalb dieses kontrollierten Konsums präsentiert sich der Mainstream selbst als Minderheit. Jugend- und Musikbewegungen wie Grunge, Britpop oder Rave geben sich wie Bewegungen aus dem Untergrund, werden aber von der Kontrollgesellschaft vermarktet (vgl. Holert, Tom/Terkessidis, Mark (Hg.): Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft, Berlin: ID 1996).
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dingten Unterschiede besser zeigen und begründen zu können. Darum strebt die folgende Definition an, verallgemeinerungsfähig zu sein und auf Popliteratur zu Brinkmanns Zeiten ebenso zuzutreffen wie auf popliterarische Werke um 2000.25 Die Grundlage der Definition ist zunächst eine simple Beobachtung: Popliteratur beschäftigt sich mit der Verarbeitung alltäglichen Materials. Sie wählt den Ausgangspunkt Alltag. So unterschiedlich die Definitionen des Terminus Popliteratur und die unter diesem Schlagwort verorteten Werke beziehungsweise Autoren auch sein mögen, ist doch eine elementare, unbestrittene Gemeinsamkeit zu erkennen, nämlich die Fixierung auf die Gegenwart, ein Mitschreiben von Realitätseindrücken, ein sammelnder, sortierender und auswählender Blick auf die umgebende Lebenswelt und eine Transformierung der Gegenwartsauslese in Sprache. Literarisch dargestellt werden sollen »Momentaufnahmen«26, das Beschriebene passiert »jetzt, jetzt und jetzt«27, entstehen soll ein Text, der »von unserem Leben handelt«28, »es geht um einen Augenblick«29, um das »Gerade Eben Jetzt«30. Popliteratur hat stets »eine grundsätzlich ›positive Beziehung zur wahrnehmbaren Seite der (uns) umgebenden Welt, ihren Tönen und Bildern‹«31. Dadurch, dass dieser Gegenwartsbezug in den performativen Zusammenhang der Literatur gesetzt wird, lassen sich »[p]oetologisch [...] zwei divergierende Zielsetzungen festmachen: zum einen die Wiedergabe
25 Eine Vielzahl sekundärliterarischer Texte schlagen ebenfalls diesen Weg ein (vgl. M. Baßler: Der deutsche Pop-Roman, oder K. Gleba/E. Schumacher (Hg.): Pop seit 1964). 26 R. D. Brinkmann: Schnitte, Titelblatt. 27 Brinkmann, Rolf Dieter: »Weißes Geschirr«, in: Ders., Erzählungen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985, S. 114-159, hier S. 138. 28 Goetz, Rainald: Rave, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 32. 29 Goetz, Rainald: Jeff Koons, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 102. 30 So der Titel einer Arbeit über die Schreibweisen der Gegenwart von Eckhard Schumacher (Schumacher, Eckhard: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003). 31 Segeberg, Harro: Literatur im Medienzeitalter. Literatur, Technik und Medien seit 1914, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, S. 325.
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und Simulation von Erfahrungen, zum anderen eine Neubearbeitung und Verfremdung des alltäglichen Zeichenmaterials«32. Der Stoff des Alltäglichen und Gegenwärtigen umfasst nicht nur Inhalte, sondern auch den Blick auf die Dinge, die alltägliche Wahrnehmung selbst, welche eine medial gefilterte und geformte ist. Wie im vorhergehenden Kapitel ausführlich beschrieben, stellt Literatur innerhalb medialer Konstruktionen ein nicht isoliert zu denkendes Vermittlungssystem dar, das einerseits Realitätskonstruktionen vornimmt und diese andererseits beschreiben und aufgreifen kann. Die literarische Darstellung von Realität unter den Bedingungen der Gegenwart reflektiert automatisch deren mediale Verfassung mit. Massenmediale Dauerpräsenz, permanente Bilderfluten oder musikalische Berieselung werden Teil der literarischen Beschreibung, wenn die alltägliche Wahrnehmung versprachlicht wird. Aus der Nachkonstruktion solcher Realitätseindrücke innerhalb des literarischen Mediums, resultieren intermediale Beziehungen, Kontakte zwischen literarischen Texten und anderen medialen Vermittlungssystemen. Das Alltägliche umfasst in einem so hohen Maße die Wahrnehmung über Medien, dass die literarische Beschreibung diese komplex nachkonstruieren muss. Von ›authentischem‹ Erleben oder dokumentarischem Nacherzählen kann nur im Bewusstsein der medialen Vermittlung die Rede sein. Jedes Erleben ist durch den medialen Filter bereits ›fiktiv‹; die literarische Formulierung dessen ist intermedial. Die Wiedergabe und Simulation von medial vermittelten Erfahrungen innerhalb der Sprache erfolgt über eine Anlehnung an oder Integration von bildlichen und musikalischen Arbeits- und Wirkungsweisen. Brinkmanns Integration visueller Wahrnehmung und die Übertragung musikalischer Eigenheiten in seine Texte werden im folgenden Kapitel ausführlich beschrieben. Die intermedialen Kontakte sind aber auch Eigenschaften konsensuell als popliterarisch wahrgenommener Texte um 2000. Zur Erläuterung möchte ich kurz auf zwei sehr unterschiedliche Werke der Autoren Benjamin von Stuckrad-Barre und Rainald Goetz eingehen und
32 Frank, Dirk: Arbeitstexte für den Unterricht. Popliteratur, Stuttgart: Reclam 2003, S. 158.
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deren intermediale Bezüge am Beispiel des Kontakts zwischen Musik und Text herausstellen:33 In Benjamin von Stuckrad-Barres Roman Soloalbum34 übernimmt Musik – wie der Titel schon vermuten lässt – thematisch und formal eine wichtige Rolle. 14 Tracks der Britpop-Band35 Oasis strukturieren den Text in einzelne Kapitel, indem die Songtitel als Überschriften fungieren. Neben den zahlreichen inhaltlichen Thematisierungen von Musik (auf der Ebene der Figuren, der Narration und auch im Para- und Kontext) werden Songs
33 Die Beispieltexte ließen sich um eine Vielzahl erweitern: Thomas Meineckes Roman Musik (Meinecke, Thomas: Musik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004) und einige andere seiner Werke stellen einen intermedialen Zusammenhang zwischen Sprache und Musik her, indem der Autor wie ein Text-DJ verschiedene Diskurse zusammenstellt, aufeinander abstimmt und mixt. Dadurch entsteht aus (meist intertextuellen) Versatzstücken etwas Neues durch die Übernahme fremdmedialer Techniken. Das literarische Diskurssampling, das im Fall von Musik vor allem Gender-Debatten (hauptsächlich feministische Ansätze), Theorien und kulturelle Praktiken um Popmusik und (Meta-)Reflexionen über die Rolle des Autors als Leser (einer der erzählenden Protagonisten sammelt Material für seinen Roman) zusammenbringt, erzeugt einen ganz individuellen TextSound. Auch lassen sich um 2000 zahlreiche Texte finden, welche intermediale Relationen zwischen Text und Bild aufzeigen. So kombinieren Benjamin von Stuckrad-Barres Sammlung kurzer Texte und Schnappschüsse Deutsches Theater (von Stuckrad-Barre, Benjamin: Deutsches Theater, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2002) und R. Goetz’ Celebration. Texte und Bilder zur Nacht (Goetz, Rainald: Celebration. Texte und Bilder zur Nacht, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999) Sprache und Photographie. Außerdem lassen sich sowohl in Stuckrad-Barres Soloalbum (von Stuckrad-Barre, Benjamin: Soloalbum, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998) als auch in Christian Krachts Faserland (Kracht, Christian: Faserland, Berlin: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997) zahlreiche intermediale Relationen zwischen Text und Film aufzeigen. 34 B. von Stuckrad-Barre: Soloalbum. 35 Als Britpop wird eine Musikrichtung bezeichnet, die Anfang der 1990er Jahre in Großbritannien entstanden ist und die sich an britischer Popmusik der 1960er (The Beatles, The Rolling Stones) und 1980er Jahre (The Stone Roses, The Smiths) orientiert. Neben Oasis sind Vertreter dieser musikalischen Bewegung beispielsweise Blur, Pulp oder Supergrass.
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und Bands vor allem als permanenter emotionaler Soundtrack zum erzählten Text eingesetzt und auch zitiert. Für den autodiegetischen Erzähler, der von seiner Freundin verlassen wurde, ist Musik gleichzeitig Erinnerungsstütze und Ablenkung, Struktur und Chaos; sie dient gleichermaßen zur Verstärkung und Verdrängung emotionaler Zustände. Die Kontakte zwischen Musik und Sprache weisen auf eine mediale Ergänzung hin, die über den Text hinausgeht. Aufgrund der Funktionen, die Musik im Roman übernimmt, wird deutlich, dass das musikalische Medium in der Lage ist, Stimmungen, Emotionen, Images und Situationen vielleicht subtiler oder treffender, zumindest aber anders zu fassen als die Sprache. Wenn eine Begebenheit wahrgenommen wird wie das Gefühl, das sich bei einem Song einstellt, oder eine Person über ihre musikalischen Vorlieben definiert wird, wird aufgezeigt, wie konstruiert und vorcodiert alltägliche Wahrnehmung unter den Bedingungen einer popkulturellen Mediengesellschaft aussieht. Das zweite Beispiel, die Erzählung Rave36 von Rainald Goetz, die im selben Jahr wie Stuckrad Barres Soloalbum erschienen ist, verarbeitet die Grundvoraussetzung der medialen Beeinflussung von alltäglicher Wahrnehmung auf andere Weise. Wie die paratextuelle Thematisierung im Titel bereits vorgibt, bildet hier Techno37 den musikalischen Bezugspunkt. Die Technokultur zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie das Partyereignis in den Mittelpunkt rückt, die musikalische Rezeption und die Kommunikation der Gruppe über den Tanz erfolgt und somit der Körper eine zentrale Rolle spielt. Zugehörig zu diesen Massenevents ist der Konsum von aufputschenden Drogen wie Speed, Kokain oder Ecstacy, welche das ausdauernde Tanzen zu schnellen Rhythmen unterstützen. Die Erzählung von Rainald Goetz leistet neben der Thematisierung von Musik eine stilistische Annäherung zwischen Text und Musik, die sich hauptsächlich an der Versprachlichung des besonderen Lebens- und Körpergefühls, das sich während eines Raves einstellt, orientiert. Dieses Erleben wird ins Zentrum des Erzählens gerückt. Auf inhaltlicher Ebene kreist der Text hauptsächlich um Wahrnehmungen, Gesprächs- und Gedankenfetzen oder akustische und visuelle Eindrücke während Rave-Events, welche unter anderem aus der
36 Goetz, Rainald: Rave, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. 37 Bekanntermaßen sind Raves große Party-Veranstaltungen mit elektronischer Musik, während Techno ein Sammelbegriff für eine elektronische musikalische Stilrichtung ist.
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Perspektive des autodiegetischen Erzählers geschildert werden. Allerdings sind die Wahrnehmungseinheiten in kleine Teile aufgesprengt und unterschiedlichen Stimmen zugeschrieben, sodass sich die Eindrücke während eines Raves, nämlich die rauschhafte Auflösung individueller Konturen, das Einströmen verschiedenster Eindrücke auf die Sinne und das Gefühl des Kontrollverlusts, in die Erzählstruktur und den Rezeptionsvorgang übertragen. Musik beschreibt ein Erleben, das über den sprachlichen Ausdruck hinausgeht beziehungsweise über die Art der sprachlichen Verwendung auf eine Wahrnehmung jenseits sprachlicher Strukturen hinweist.38 Dieses erste, formale Merkmal popliterarischen Schreibens, die Literarisierung des medial vermittelten Erlebens, kann, wie die vorhergehende Passage zeigt, auf unterschiedlichste Weise erfolgen. Gerade auch abhängig davon, welcher Medienalltag beschrieben wird, kann die Verarbeitung und Wirkung in der Literatur stark differieren. Bei der Definition von Popliteratur wird die intermediale Komponente durch ein inhaltliches Spezifikum der Texte, nämlich die Arbeit an und mit popkulturellen Codes, ergänzt. Während die Autoren formal die mediale Wahrnehmung der Umwelt in den Text transportieren, wird inhaltlich die beschriebene unmittelbare Lebenswelt ganz konkret beim Namen genannt, da es sich dabei nicht um irgendeine, sondern um die jeweils momentane handelt. Durch das literarische Verarbeiten von Markenprodukten, Warenwörtern, Stars oder Bandnamen werden popkulturelle Codes im Text integriert. Popkultur kann als eine Metareflexion auf den populären Raum verstanden werden.39 Sie bildet sich durch das Herausgreifen von Elementen
38 Bildliche und musikalische Elemente werden in Rave auch eingesetzt, um den Drogenrausch auszudrücken. Intermedialität im Text dient sehr häufig dazu, rauschhaftes Erleben in Worte zu fassen. Auch bei Brinkmann, aber vor allem bei den Beatliteraten, sind Drogen eine elementare Komponente des schriftstellerischen Prozesses und Ausdrucks. Akustische und visuelle Elemente treten bei der Schilderung von Rauschzuständen in den Vordergrund, da eine synthetisierende und reflektierende Ratio ausgeschaltet ist. Damit ist die Versprachlichung des Drogenrausches ästhetisch sehr nah an der Beschreibung von Wahrnehmungen, welche möglichst direkt und ohne Bündelung des beschreibenden Subjekts literarisiert werden. 39 Ich möchte mich innerhalb dieser Arbeit an die sehr knappe Begriffsdefinition von Popkultur halten. Mir sind die Diskussionen des Terminus und die ver-
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des Alltäglichen, welche, in der Folge von »Verfahren der [...] Um- und Neubewertung, der symbolischen Auf- und Entladung«40, Formen der Sozialisierung und Vermarktung unterzogen werden. Popkulturelle Codes zeigen diese Prozesse konzentriert auf, indem etwa ein Markenname oder eine Band für einen ganz bestimmten Stil stehen und entsprechende ideologische Implikationen transportieren. Der Begriff Code41 wird hier im Speziellen als (literarisches) Aufgreifen eines Zeichens mit einem bestimmten Verweischarakter auf einen soziokulturellen Kontext, ein bestimmtes Distinktionsvermögen, einen ideologischen Zusammenhang oder ein intendiertes Set an Assoziationen verstanden.42 In diesem Sinne wäre ein Code »ein Sammelbegriff für jede Form tiefenstruktureller Prägung [...] durch kulturspezifische ideologische, religiöse, epistemologische Paradigmen, welche perzeptive und moralische
schiedensten Möglichkeiten der Auslegung allerdings durchaus bewusst. Dennoch möchte ich diese Debatte nicht weiter ausführen, denn »zu viele Theoretiker bieten zu viele Lösungen an« (S. Seiler: »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«, S. 20). 40 Holert, Tom: »Abgrenzen und Durchkreuzen. Jugendkultur und Popmusik im Zeichen des Zeichens«, in: Peter Kemper (Hg.), Alles so schön bunt hier, Leipzig: Reclam 2002, S. 23-37, hier S. 30. 41 Ein Code (auch Kode) bezeichnet in der Informationstheorie eine Regelung für die Gleichsetzung zweier Zeichen, die unterschiedlichen Zeichenrepertoires angehören, aber die gleiche Information verkörpern (beispielsweise der Binärcode, der aus zwei Informationen besteht, nämlich 0 und 1 beziehungsweise ja und nein, oder das Morsealphabet). In der Sprachwissenschaft beschreiben Codes sprachliche Zeichen und ihre syntaktischen Verknüpfungsregeln, während in der Soziolinguistik das Augenmerk auf das Phänomen der schichtspezifischen Sprachverwendung gelegt wird (vgl. Horatschek, Annegret: »Code«, in: A. Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 88). Der kulturelle Code, um den es hier geht, stellt einen Kontakt her zwischen beispielsweise einem Markennamen oder einer Band und einer kulturellen Praxis beziehungsweise einer ideologischen Implikation. 42 Vgl. Nöth, Winfried: »Kodebildung und Kodewechsel in der Sprache der Objekte«, in: Ernst W. Hess-Lüttich (Hg.), Code-Wechsel. Texte im Medienvergleich, Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, S. 243-256.
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Grundstrukturen des individuellen Weltbilds präformieren«43. Innerhalb der literarischen Verwendung kultureller Codes ist die Entschlüsselung der Entsprechung abhängig davon, wie konsensuell und verbreitet die Kodierung eines kulturellen Verweises ist oder ob der Leser ein Mitglied der Gruppe darstellt, die diese gemeinsame Vorstellung teilt. Eco definiert innerhalb einer Kritik der Code-Kategorien Barthes den kulturellen folgendermaßen: Dieser Code »ist die Gesamtheit der enzyklopädischen Kompetenz als der Vorrat dessen, was bereits bekannt und von einer Kultur organisiert ist«44. Sobald sich der aufgegriffene Code-Vorrat auf eine subkulturelle Gruppe bezieht, ist zur Deutung seiner Verweisfunktion die Kenntnis der jeweiligen Implikationen nötig oder der Code muss im Text so verankert sein, dass sich die Tendenz aus der jeweiligen textuellen Einbindung herauslesen lässt. Bei der Vermittlung popkultureller Codes spielen Äußerlichkeiten eine entscheidende Rolle: Der Körper in seiner Erscheinung und Bekleidung ist Träger des modischen Stils, der geschmacklichen Vorlieben und damit auch ein Stück weit Ausdruck von Überzeugungen, welche sich durch die kontextuellen Verweise bestimmter Attribute ergeben. Die Wichtigkeit des Sich-Unterscheidens zum Ausdruck eines Lebensstils und die zentrale Position des Körpers bei Abgrenzungsversuchen führt Pierre Bourdieu in Die feinen Unterschiede folgendermaßen aus: »Der Geschmack: als Natur gewordene, d.h. inkorporierte Kultur, Körper gewordene Klasse45, trägt bei zur Erstellung des ›Klassenkörpers‹; als inkorporiertes, jedwede Form der Inkorporation bestimmendes Klassifikationsprinzip wählt er aus und modifiziert er, was der Körper physiologisch wie psychologisch aufnimmt, verdaut
43 A. Horatschek: »Code«, in: A. Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 88. 44 Eco, Umberto: Semiotik und Philosophie der Sprache, München: Fink 1985, S. 275. 45 Der Klassenbegriff bei Bourdieu ist im Sinne sozialer Klassen zu verstehen, steht aber auch in enger Verbindung mit der Redewendung ›Klasse haben‹. Die Einteilung in Klassen stabilisiert sich dadurch, dass sich Menschen mit ähnlichem Geschmack zu Großgruppen zusammentun und gegen andere abgrenzen. (Vgl. Fuchs-Heinritz, Werner: Pierre Bourdieu. Eine Einführung, Stuttgart: UTB 2005, S. 14ff).
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und assimiliert, woraus folgt, dass der Körper die unwiderlegbarste Objektivierung des Klassengeschmacks darstellt, diesen vielfältig zum Ausdruck bringt: zunächst einmal in seinen scheinbar natürlichsten Momenten – seinen Dimensionen (Umfang, Größe, Gewicht, etc.) und Formen (rundlich oder vierschrötig, steif oder geschmeidig, aufrecht oder gebeugt, etc.), seinem sichtbaren Muskelbau, worin sich auf tausenderlei Art ein ganzes Verhältnis zum Körper niederschlägt, mit anderen Worten, eine ganz bestimmte, die tiefsitzenden Dispositionen und Einstellungen des Habitus offenbarende Weise, mit dem Körper umzugehen, ihn zu pflegen und zu ernähren.«46
Der Körpers wird inszeniert, sei es durch einen bestimmten Haarschnitt, spezielle Schuhe, die Körperhaltung oder die Art und Weise der Bewegungen beispielsweise auch beim Tanzen. All diese einzelnen Elemente sind offensichtliche Zeichen, die auf einen Lebensstil verweisen, der über den Habitus, über eine bestimmte Grundhaltung im gesellschaftlichen Raum und über eine (physische und psychische) Stellungnahme gegenüber der Umgebung, ausgedrückt wird. Der Habitus manifestiert sich in unterschiedlichster Form. Oft fungiert dabei der Körper als Vermittler, da er der Träger sichtbarer Geschmacksattribute ist, die auch auf unsichtbare Überzeugungen oder weitere geschmackliche Vorlieben verweisen können. Subkulturelle Gruppierungen können häufig auf einen Stereotyp in der optischen Erscheinung bezogen werden. Dieser beinhaltet nicht nur einen bestimmten Kleidungsstil, sondern deutet auch auf musikalische Vorlieben, ethisch-moralische Überzeugungen und die Art der Lebensführung hin.47
46 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 307. 47 Beispielsweise ließe sich als zentral für den Punk-Stereotyp ein Iro(kesenhaarschnitt) nennen. Damit ist auch auf bestimmte musikalische Vorlieben verwiesen (vielleicht die Sex Pistols oder The Clash), welche in Verbindung mit den anderen stereotypen Attributen auch auf Überzeugungen hinter der (und in der) Musik hinweisen: Wut, Rebellion, Nonkonformismus oder Antikapitalismus. So werden aus Moden und Bands popkulturelle Codes, da sie auf eine weitere Bedeutungsebene hinweisen, welche wiederum Rückschlüsse auf den Habitus einer Person zulässt.
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Popkulturelle Codes stehen oftmals in enger Verbindung mit dem Körper. Geschmack wird in seiner Verkörperung visuell wahrnehmbar. Modische Vorlieben, aber auch beispielsweise musikalische Präferenzen (indem eine bestimmte Subkultur meist ein Bündel anbietet, das Bands ebenso umfasst wie Kleidungsstile) können über die Inszenierung des Körpers ausgedrückt werden. Daher ist die kombinatorische Häufung von Codes aus den Bereichen Modemarken und Musik in popliterarischen Texten keineswegs zufällig. Innerhalb eines literarischen Werks können diese Codes verschiedene Aufgaben verfolgen. Beispielsweise kann einer Figur ein spezielles Image zukommen oder ein literarisches Klientel in einer bestimmten Szene verortet werden. Dabei können bereits vorhandene kulturelle Codes übernommen werden, wobei es zur Reproduktion einer kulturellen Praxis im Medium der Literatur kommt. Es werden aber auch neue kulturelle Codes geschaffen, wenn beispielsweise Produkte oder Personen der Öffentlichkeit einem Distinktionsprozess unterzogen werden und ein neuer assoziierter Zusammenhang hergestellt wird, der ein intendiertes Set an Vorstellungen transportiert und so neue popkulturelle Codes formiert und verbreitet. Um ein Beispiel dafür zu geben, wie diese popkulturellen Codes im Text funktionieren, möchte ich erneut auf den Roman Soloalbum von Benjamin von Stuckrad-Barre zurückgreifen. Die thematisierte Popmusik (wie oben kurz beschrieben) stellt nicht nur eine intermediale Kategorie dar, sondern fungiert auch als Kodierung modischer und ideologischer Implikationen, welche in der Lage sind, Personen, Situationen, Erinnerungen und Emotionen näher zu charakterisieren, ohne Sachverhalte explizit auszuformulieren. Darum hat die Verwendung von popkulturellen Codes auch Auswirkungen auf den literarischen Stil, wie folgende Passage zeigt, in welcher der Protagonist eine »ziemlich schreckliche Frau«48 beschreibt: »Sie hört gern Reggae. Scheiß Pearl Jam findet sie ›superintensiv‹, auf ihre CDs von Tory Amos und PJ Harvey hat sie mit Edding geschrieben ›Ƃ-Power rules‹, [...] allergisch reagiert sie auf die Spice Girls, die findet sie völlig scheiße. Harald Schmidt ist ein Nazi, Pippi Langstrumpf und Che kleben auf ihrer Zimmertür.«49
48 B. von Stuckrad-Barre: Soloalbum, S. 32. 49 Ebd.
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Popmusikalische und andere popkulturelle Codes referieren auf eine alltägliche, konkrete, außerliterarische Kultur. Die Beschreibung der Person erfolgt nicht durch eine Ausformulierung ihrer Charakteristika, sondern durch die Aufreihung medial vermittelter und kulturell codierter Signifikanten. Dabei entstehen Bündelungen, die »nicht klischeehaft abgenutzt erscheinen, aber dennoch für die Leserschaft nachvollziehbar bleiben. Das ist stets ein Balanceakt zwischen Originalität und Plausibilität, den Stuckrad-Barre regelmäßig mit zuverlässiger Stilsicherheit meistert. Wie präzise das gemacht ist, mag das Beispiel einer Rostocker Bekannten bezeugen, die sich in dieser Passage so gut getroffen sah, dass sie, bereits Tori-Amos-Hörerin, sich getrost eine CD der ihr unbekannten PJ Harvey zulegte – und selbstredend nicht enttäuscht wurde.«50
Auch wenn das Gelingen des Textes maßgeblich von der »intersubjektiven Plausibilität seiner Paradigmen abhängt«51, ist die Bewertung der aufgegriffenen Namen doch deutlich und vom sprachlichen Kontext in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt.52 Gerade bei der Verwendung von popkulturellen Codes bei Brinkmann tritt die Frage nach der Möglichkeit intersubjektiver Verständigung in den Vordergrund. Dreißig Jahre nach Veröffentlichung seiner Werke sind – zumindest mir oder meiner Generation – einige der aufgeführten Marken, Moden und Personen nicht (mehr) geläufig. Wie die Texte dennoch funktionieren können, zeigt folgendes Beispiel, eine häufig zitierte Passage aus Brinkmanns Roman Keiner weiß mehr: »Deutschland, verrecke. Mit deinen ordentlichen Leuten in Massen sonntags nachmittags auf den Straßen. [...] Mit deinen langweiligen Filmen und Büchern. Mit Roy Black und Udo Jürgens. Mit Thomas Fritsch. Verrecke mit deinen Weinköniginnen Jahr für Jahr und mit Thomas Lissem. Mit dem Kölner Dom. Verrecke, auf der
50 M. Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 106. 51 Ebd., S. 104. 52 Genau das Gegenteil kann allerdings auch Ziel der Verwendung von Codes sein. Um eine elitäre Position auszudrücken oder diese zu parodieren, können sie auch so erlesen ausgewählt sein, dass kaum jemand weiß, worum es sich handelt.
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Stelle, sofort. Mit deinen Dralonmännern. Lupolenmännern. [...] Mit deinen ausgeleierten Triumphmieder-Mädchen. Fanta-Mädchen. Helenca-Mädchen. Deinen höheren Bleyle-Vetrix-Töchtern. Und Hildegard Kneef. [...] Auch du, Hans-Jürgen Bäumler. Und du, Maria Kilius. Und du, Pepsi-Mädchen Gitte. Und du, PalmoliveFrau. Und du, Luxor-Schönheit Nadja Tiller. Kölscher Willi. Unser Mann in Bonn. Onkel Tschibo auf Reisen. Langnese Eiscremekonfekt. Mon Cherie. [...] Wella für den Herrn, die Serie, in der sie genau das finden, was ihre Haare zur Pflege und Gesundhaltung brauchen. Doornkaat aus Kornsaat. Bauer Muff auf dem grünen Plan. Undwassonstnochalles, undwassonstnochalles, wassonstnochalles, wassonstnoch.«53
Brinkmann verbindet in dieser ›Schmähschrift‹ auf Deutschland die Aufzählung von Personen des öffentlichen Lebens mit Reklameartikeln und Werbefiguren aus Zeitschriften, Funk und Fernsehen. Sehr direkt wird mit der Spießigkeit und Dummheit der deutschen Medienlandschaft und mit dem langweiligen, einfältigen Durchschnittsbürger abgerechnet. Personen oder Marken, die nicht bekannt sind, sind in die Hasstirade integriert und bekommen so, auch für Unwissende, eine bestimmte Bewertung. Durch die Häufung konkreter Benennungen wird die Passage pointierter, intensiver und, in ihrer Ausdehnung und Übertreibung, auch humoristisch. Dieser Effekt wäre nicht gegeben, wenn die Zeilen allgemeiner beschreiben würden und der Anfang der zitierten Passage dann vielleicht so lauten würde:54 »Deutschland, verrecke. Mit deinen ordentlichen Leuten in Massen sonntags nachmittags auf den Straßen. [...] Mit deinen langweiligen Filmen und Büchern. Mit deinen Sängern. Mit deinen Schauspielern. Verrecke mit deinen Weinköniginnen
53 Brinkmann, Rolf Dieter: Keiner weiß mehr, Köln: Rowohlt 1968, S. 223-224. 54 Der Vorzug des Speziellen vor dem Allgemeinen ist auch ein Grundsatz für journalistisches Schreiben. Wolf Schneider, welcher 16 Jahre an der Hamburger Journalistenschule lehrte, schreibt in seinem Ratgeber Deutsch fürs Leben: »Denn die engste Einheit benennen heißt: präzise schreiben, konkret schreiben, anschaulich schreiben« (vgl. Schneider, Wolf: Deutsch fürs Leben, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007, S. 47). Autoren popliterarischer Texte um 2000 sind sehr häufig auch als Journalisten tätig, beispielsweise Benjamin von StuckradBarre.
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Jahr für Jahr und mit deinen Karnevalisten. Mit dem Kölner Dom. Verrecke, auf der Stelle, sofort. Mit deinen Werbefiguren. Und mit deinen Sängerinnen.«55
Die expliziten Erwähnungen dienen hier zunächst der Abgrenzung. Der autodiegetische Erzähler distanziert sich deutlich von der deutschen Popkultur, einer Kultur des Spießertums sonders gleichen. Positive Wertung erfahren im Roman allerdings amerikanische popkulturelle Codes von Coca-Cola bis Otis Redding. Die Häufung von Codes kann allerdings zahlreiche andere Funktionen besitzen. Eine weitere Möglichkeit der Literarisierung zeigt sich bei Rainald Goetz. Besonders deutlich wird dies in der folgenden Passage: »An der Tanke: Kannst du mal eben bitte notieren. Klar doch. Kein, wie gesagt Thema. Die ›K‹- Presse also, zum Beispiel: ›Marie Claire‹, ›Allegra‹, ›Maxi‹, ›Max‹, ›Frauen Magazin‹, ›Cosmopolitan‹, ›Prima Carina‹, ›Für Sie‹, ›Men`s Health‹, ›Haar Scharf‹, ›Madame‹, ›Vogue‹, ›Coupé‹, ›Bellevue‹, ›Brigitte‹, ›Tina‹, ›Yoyo‹, ›Annabelle‹, ›Emanuelle‹, ›Isabelle‹, ›Elle‹, ›Praline‹, ›Anne‹. «56
Die Liste nennt verschiedene Zeitschriften, darunter Frauen- und Männermagazine mit großen Unterschieden in Konzept, Anspruch und Zielgruppe. Einzeln oder in homogenen Gruppen könnten sie eine Person, Situation oder einen Lifestyle charakterisieren, aber dadurch, dass Zeitschriften mit verschiedensten thematischen und konzeptuellen Implikationen und völlig unterschiedlichen Leserschaften aufgezählt werden, kann kein Set an Vorstellungen entstehen. Auch der unmittelbare Kontext des Zitats lässt keine Rückschlüsse zu, wie diese Passage sich über die Aufzählung hinaus in ihrer Codefunktion auf den umgebenden Text beziehen soll. Alles, was sich durch den kurzen Vorspann erschließt, ist, dass es sich wohl um das Zeit-
55 Die starke Veränderung von Stil und Wirkung durch die Aufzählung von Codes gilt für sämtliche popliterarische Texte. Eindrücklich paraphrasieren Degler und Paulokat die Anfangspassage aus Krachts Faserland (vgl. F. Degler/U. Paulokat: Neue Deutsche Popliteratur, S. 34-36. 56 R. Goetz: Rave, S. 113.
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schriftensortiment einer Tankstelle handelt, darüber hinaus ist kein bestimmtes Thema zu erkennen. Dass diesen Magazinen allerdings generell eine Codefunktion zukommen kann, zeigt sich, wenn zu einzelnen Titeln isoliert assoziiert wird. So hat jeder, der die Zeitschriften und ihr Image kennt, vage, pauschale Vorstellungen beispielsweise eines prototypischen Coupé-Lesers im Gegensatz zu einer Für Sie-Abonnentin. Man stelle sich vor, was für Konsequenzen in der persönlichen Beurteilung es in Soloalbum nach sich gezogen hätte, eine überzeugte Brigitte-Rezipientin zu sein. Die hier vorhandene Häufung medialer popkultureller Attribute, welche zwar Codes sind, deren Implikationen allerdings keine Entfaltung finden, führt dazu, dass die Aufzählung nur Verweise liefert, die ins Leere laufen. Ein interpretativer Mehrwert durch das Aufgreifen popkultureller Codes kommt in der oben zitierten Passage zustande, indem verknüpfte Vorstellungen hinter den Magazinen nicht literarisch eingebettet, sondern lediglich kollidierende Verweishäufungen selbst ausgestellt werden. Der Effekt, der sich beim Leser einstellt, ist eine Überflutung mit Signalen für Zeitschriftentypen, Images und Lifestyles, die keine Kohärenz besitzen. Bei solchen Erzählpassagen wären auch medienkritische Lesarten denkbar. Wirkung entsteht allerdings auch hier nur, weil die aufgezählten Attribute ein Verweispotenzial besitzen, das eben nicht zur Entfaltung kommt. Deutlich zeigt sich der Unterschied in der Verarbeitung des Medienalltags und der literarischen Integration popkultureller Codes in Benjamin von Stuckrad-Barres Soloalbum und Rainald Goetz’ Rave. Zwar beziehen sich beide intermedial auf Musik, haben aber völlig verschiedene qualitative und quantitative Schwerpunkte. Benjamin von Stuckrad-Barre treibt pointiert, vielschichtig und illustrativ die Erzeugung und Verwendung von kulturellen popmusikalischen Codes voran, überführt somit eine kulturelle Praxis in die Literatur und speist wiederum Bewertungen und Bündelungen in den popkulturellen Raum ein. Des Weiteren fungiert Popmusik oftmals als Soundtrack und zeigt durch ihre Thematisierung und Dramatisierung im Roman einerseits nachdrücklich ihre möglichen Wirkungsweisen, ihre emotionale Komponente, andererseits deutet sie auf ihre Rolle innerhalb einer Mediengesellschaft hin. Da bestimmte Lebensgefühle, Gedanken, Charakteristika oder Emotionen im Roman über bestimmte Songs vermittelt oder überhaupt erst ausgedrückt werden und der Leser in der Lage ist, diese nachzuvollziehen, also einen Zusammenhang zwischen etwa einer
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inneren Überzeugung und einem Popsong herzustellen, werden der Konstruktionscharakter und die mediale Kodierung von Wahrnehmung veranschaulicht. Diese Konstruiertheit des Alltags zeigt sich bei Rainald Goetz am deutlichsten auf der Ebene des literarischen Stils. Das Erleben eines Raves ist Ursprung einer direkten körperlichen Erfahrung, welche anhand einer intermedialen Relationsbildung zwischen Musik und Text literarisiert wird. Die Beschreibung des ekstatischen Tanzerlebens bedient sich musikalischer Kategorien, damit dieses besondere Gefühl nachvollzogen werden kann. Allerdings gewinnt das Körperempfinden nur dort Raum, wo die sprachliche Inszenierung Lücken lässt und allein der Verweis bestehen bleibt, welcher vom Rezipienten in einen Vorstellungsbereich überführt werden muss. Dieses System reproduziert sich in der Art der Verwendung popkultureller Codes, indem nicht, wie bei Stuckrad-Barre, Automatismen genutzt, sondern ausgestellt werden. Generell lässt sich festhalten, dass durch die Kommunikation über popkulturelle Codes eine kulturelle Praxis im Roman reproduziert und durch den performativen Wandel, die Überführung in Literatur, verfremdet und lesbar wird. Dadurch sind popliterarische Texte »mit Baßler als kulturwissenschaftliche Semantisierungsarbeit zu lesen«57. Moritz Baßler bezieht sich in seinem Standartwerk zur Popliteratur Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten58 auf den Kunstwissenschaftler und Medientheoretiker Boris Groys 59, wenn er versucht, das Innovative popliterarischer Schreibweisen zu charakterisieren. Nach Groys entsteht ›Neues‹ auf kulturellem Terrain, wenn die Grenze zwischen Profanem und Valorisiertem verschoben wird. Das geschieht, wenn der profane Raum, der aus Dingen besteht, die bisher nicht von Archiven erfasst wurden und dem beispielsweise Markennamen, Modestile oder Popmusik angehören, ins kulturelle Archiv transportiert wird. Indem ›profane‹ Codes etwa innerhalb eines Romans vorkommen, werden sie in das kulturelle Archiv der Litera-
57 Dietrich, Stephan/Drügh, Heinz: »Pop-Literatur, an ihren Rändern betrachtet«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 47/2 (2002), S. 95-120, hier S. 101. 58 M. Baßler: Der deutsche Pop-Roman. 59 Vgl. Groys, Boris: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München/Wien: Hanser 1992.
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tur aufgenommen. Dabei kommt es zu einer Aufwertung, da die Versatzstücke aus dem profanen Raum, wenn sie ins kulturelle Archiv eingespeist werden, valorisiert werden und damit einen Teil dieses Archivs bilden. So entsteht eine permanente Spannung zwischen kultureller und profaner Sphäre, die durch eine dynamische und flexible Grenze voneinander getrennt sind. Bei der Verschiebung oder Übertretung dieser Grenze entsteht das Neue. Die Grenzziehung wird immer neu verhandelt und ist ständig in Bewegung. Darum kann auch Neues entstehen, wenn Autoren in den 1990er Jahren dasselbe tun, was Brinkmann rund dreißig Jahre zuvor in der Literatur etabliert hat. Da sie unter anderen gesellschaftlichen und medialen Bedingungen schreiben und ihr profaner Raum sich von dem Brinkmanns unterscheidet, haben aktuelle popliterarische Autoren ihre eigenen Grenzkämpfe zu führen. Popliterarische Texte bilden nach Baßler durch die Arbeit an der Semantisierung der Kultur ein Archiv für popkulturelle Praktiken, Marken und Moden. Der Archivierungsprozess ist durch die beiden Parameter des Sammelns und Generierens charakterisiert. Popliteratur sammelt popkulturelle Codes und generiert durch deren Bündelung und deren Auf- und Entladung modifizierte Bewertungen. Im zitierten Textauszug aus Keiner weiß mehr von Rolf Dieter Brinkmann werden kulturelle Codes der Bundesrepublik Deutschland um 1968 gesammelt. Durch ihre Listung innerhalb eines Romans mit dem Ziel der Darstellung deutscher Spießigkeit wird ein Bild der damaligen Zeit generiert, das vor allem über Warenwörter und Personennamen funktioniert. Außerdem wird, wenn der gesamte Roman in den Blick genommen wird, die angloamerikanische Popkultur als freiheitlich und subversiv mit dem kleinkarierten deutschen Bürgertum und seinen Medien kontrastiert. Dabei sind typische Codes der damaligen Zeit im Text aufgehoben und in Verbindung mit einem Wertesystem gebracht: »Sammeln und Generieren sind, so gesehen, verwandte Kulturtechniken: Generieren ist eine Sammeltätigkeit in einem Bereich der Kultur, über den man bereits verfügt – vor- und außerliterarisch zwar, aber durchaus schon in Form eines geordneten Wissensvorrats oder [...] in Form einer Enzyklopädie.«60
60 M. Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 96.
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Das enzyklopädische Schreiben wird zum Archiv für dieses bereitgestellte Wissen, das im Text aufgehoben und konserviert ist. Allerdings möchte ich betonen, dass der im Archivbegriff nahegelegte Verdacht, nämlich dass diese Art der Literatur lediglich aufbewahrt und einlagert, nicht zutrifft. Der Archivbegriff wird dadurch ausgedehnt, dass nicht nur popkulturelle Mechanismen im Text wiedergegeben, sondern auch ausgestellt und verfremdet werden. Sowohl Brinkmanns Pop-Texte als auch popliterarische Schreibweisen seit den 1990er Jahren haben in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt und gerade auch die Listung der Marken und Moden hat (zumindest anfangs) bei vielen Lesern eine starke Abneigung provoziert. Das wäre wohl kaum der Fall gewesen, wenn kulturelle Praktiken, wie jeder sie tagtäglich betreibt, in der Literatur genauso ›alltäglich‹ wären wie in der Realität. Hinzu kommt, dass für die Definition popliterarischen Schreibens die ästhetische Verarbeitung des medial gefilterten Blicks als weitere kulturelle Komponente, die sich an der Schnittstelle zwischen Text und popkulturellem Alltag sprachlich niederschlägt, elementar ist. Diese Kombination inhaltlicher und formaler Aspekte ist nach Heinz Drügh »[d]ie doppelte Ästhetik popliterarischer Beschreibung«61: »Erstens ist da ein realistischer Impetus, der das Gegebene nicht naiv, sondern konstruktivistisch zu dokumentieren beansprucht, die Wirklichkeit als eine im Wesentlichen erst durch Medien formierte ›Welterzählung‹ begreift. Die Sammelarbeit geht aber nicht im rein Dokumentarischen auf, sondern nimmt für sich – zweitens – ästhetischen Mehrwert in Anspruch.«62
Es besteht demnach ein großer ästhetischer Unterschied zwischen popliterarischen Texten, welche die medialen Bedingungen der Wahrnehmung dramatisieren, und anderen Werken, die popkulturelle Versatzstücke ausschließlich inhaltlich aufgreifen. Der Ausgangspunkt Alltag popliterarischer Schreibweisen betrifft also die thematische Herangehensweise ebenso wie den Sprachzugang. Eine Kombination beider Momente ist der Kern popliterarischen Schreibens,
61 Drügh, Heinz: Ästhetik der Beschreibung. Poetische und kulturelle Energie deskriptiver Texte (1700-2000), Tübingen: Francke 2006, S. 414. 62 Ebd.
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nämlich die Fixierung auf die Wirklichkeitswahrnehmung in Inhalt und Form: Die literarische Form wird durch die Medien bestimmt, welche sich in die Wahrnehmung des Alltags einschalten und somit Bestandteil der Beschreibung von Realitätsmomenten sind beziehungsweise diese erst herstellen. Auf der Ebene des Inhalts werden popkulturelle Versatzstücke thematisiert und Personen und Dinge beispielsweise in Form des Warenworts oder Markennamens konkret benannt. Daher lässt sich folgende Definition popliterarischen Schreibens festhalten: »Voraussetzung dafür, dass es sich um Pop-Texte handelt, ist die den Alltag umfassende, den Körper wesentlich einbeziehende Bedeutung modischer, über den Markt, die Kultur und die Technik vermittelter Codes. Voraussetzung dafür, dass es sich überhaupt um Literatur im eminenten Sinne handelt, ist die literarisch formale Kontrolle der Verführbarkeit, der Aufschub von musikalischen und Bild-Präsenzen im Wort«63.
Der Medienalltag macht die Wirklichkeitserfahrung zu einer vermittelten, der verschriftete Blick auf sie schließt die Darstellung intermedialer Phänomene mit ein. Durch das erklärte Ziel der Darstellung von unmittelbarer Erfahrung, eines momentanen Eindrucks oder direkten Erlebens, das bei Brinkmann und bei den Autoren um 2000 gleichermaßen das Schreiben bestimmt, kann »Popliteratur [...] Alltagspraktiken archivieren, kommentieren und aus dem alltäglichen Material neue Formen und Themen generieren«64. Dieses Potenzial zeigt sich auf inhaltlicher Ebene ebenso wie in ästhetischer Hinsicht. Dadurch, dass die Texte popkulturelle Mechanismen literarisieren und produzieren, partizipieren sie an der Popkultur. Popliteratur reflektiert kulturelle Prozesse, indem sie diese einem performativen Wandel unterzieht, also in Literatur transformiert, und ist gleichzeitig Teil der popkulturellen Sphäre, da durch die literarische Verarbeitung wiederum Stile, Haltungen und Kommentare in den popkulturellen Raum eingespeist werden. Die Autoren und deren Werke sind so selbst potenzielle Objekte der pop-
63 Winkels, Hubert: »Grenzgänger. Neue deutsche Pop-Literatur«, in: Sinn und Form 51 (1999), S. 581-610, hier S. 585-586. 64 D. Frank: Arbeitstexte für den Unterricht, S. 31.
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kulturellen Be- und Entwertung. Besonders deutlich zeigt sich diese automatische Verbindung zwischen Popliteratur und Popkultur bei den Autoren der 1990er Jahre, vor allem bei Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht. Die beiden Schriftsteller wurden regelrecht selbst zu Popstars und Stilikonen, auf welche, verehrt oder verabscheut, (auch von Literaturkritikern!) sämtliche Statements ihrer Romanfiguren übertragen wurden. Selbstverständlich sind die Autoren popliterarischer Werke, von Brinkmann über Goetz bis zu Stuckrad-Barre, auch Experten und aktive Gestalter der Popkultur und ihrer medialen Vermittlung. Alle hier beispielhaft genannten Autoren sind ausgewiesene Kenner popkultureller Moden, Stile und Mechanismen und wissen auch präzise ihre Öffentlichkeitswirksamkeit herzustellen und einzusetzen. Das zeigt sich, wenn Brinkmann auf einer Podiumsdiskussion gezielt einen Skandal provoziert, indem er Marcel ReichRanicki niederzuschießen wünscht65 und sich so vordergründig als systemfremder, der Hochkultur spottender Rebell inszeniert oder wenn Rainald Goetz diese Provokation zitiert, indem er sich beim Bachmann-Wettbewerb 1983 während des Vorlesens seines Textes Subito mit einer Rasierklinge
65 Auf der Veranstaltung Autoren diskutieren mit ihren Kritikern, welche 1968 in der Berliner Akademie der Künste stattfindet, verweigert Brinkmann das Gespräch und brüllt stattdessen, dass er Reich-Ranicki über den Haufen schießen würde, wenn sein Buch ein Maschinengewehr wäre. Das Kalkül der Provokation zeigt sich schon allein daran, dass diese vermeintliche verbale Drohung auf ein Zitat von André Breton zurückgeführt werden kann. So schreibt Breton im zweiten surrealistischen Manifest: »Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings so viel wie möglich in die Menge zu schießen. Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen – der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schusshöhe.« (Breton, André: »Zweites Manifest des Surrealismus 1930«, in: Ders., Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1968, S. 56). Nicht alle Kritiker erkannten die surrealistische Geste von Brinkmanns Auftritt (vgl. weiterführend zu diesem Thema E. Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 64-67, und Niefanger, Dirk: »Rolf Dieter Brinkmanns Poetik der Selbstinszenierung«, in: Markus Fauser (Hg.), Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne, Bielefeld: Transcript 2011, S. 65-82).
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die Stirn aufschneidet.66 Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht posieren in Anzügen auf Werbeplakaten für C&A, Rainald Goetz tourt mit dem Techno-DJ Sven Väth, Thomas Meinecke gibt bis heute mit seiner Band FSK67 Konzerte und präsentiert sich auf zahlreichen Workshops und Ausstellungen als vielseitiger Poppraktiker und -theoretiker. Alle inszenieren sich gekonnt und präzise in der Öffentlichkeit und beglaubigen so die Verortung ihrer Werke in der popkulturellen Szene. Die medial vermittelte Autorenpersönlichkeit spielt genauso virtuos mit popkulturellen Codes und der medialen Vermittlung wie die literarischen Produkte der Schriftsteller. Zusammenfassend ergibt sich folgendes Schema: Abbildung 2: Definition popliterarischer Schreibweisen
Popliterarische Schreibweisen definieren sich durch ihre Form, welche von intermedialen Relationen bestimmt ist, und durch ihren Inhalt, der unter anderem die Arbeit mit und an popkulturellen Codes umfasst. Automatisch verorten sich die Texte in der Popkultur, indem sie sich mit Mechanismen der gelebten Alltagskultur auseinandersetzen und durch die Verwendung 66 Goetz gewinnt zwar keinen Preis, wird durch seine Aktion aber einer großen Öffentlichkeit bekannt und lenkt auch die Aufmerksamkeit der Kritiker auf seine Person und seine Werke. Dieser Skandal wird durch den Inhalt des Textes Subito potenziert: Zum einen wird das Aufschneiden der Stirn, das Goetz im Realen vollzieht, im Text thematisiert; zum anderen kritisiert Subito den Literaturbetrieb scharf, dessen Teil auch die Veranstaltung ist, auf der Goetz ihn vorträgt. Er zelebriert hier eine Art performatives mise en abîme. 67 Die Band Freiwillige Selbstkontrolle (FSK) wurde 1980 unter anderem von Thomas Meinecke gegründet und ist, nach eigener Aussage, eine deutsche Avantgarde-Band.
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und das Generieren popkultureller Codes selbst einen Teil der Metareflexion auf den populären Raum darstellen. Nach dieser Definition beschreibt der Terminus Popliteratur ein Genre. Der Genre-Begriff wird hier nicht synonym mit dem Terminus Gattung verwendet. Die Gattung stellt eine andere Struktureinheit dar: Die Gattung der Literatur ist eine Gattung der Kunst (neben anderen wie beispielsweise Musik oder Bildende Kunst); sie unterteilt sich wiederum in die drei Gattungen Lyrik, Drama und Erzählliteratur, welche unterschiedliche Texttypen innerhalb der literarischen Gattung bezeichnen. Ein Genre allerdings bildet sich nach anderen Merkmalen, nach verschiedenen, zusammenhängenden, dynamischen Faktoren, nämlich Form, Inhalt und Kontext (kommunikative Strukturen sowie soziale und ideologische Dimensionen). Zwar ist das Genre Popliteratur, dessen Merkmale beschrieben wurden, eine Untergruppe der Gattung Literatur, kann aber in den drei unterteilenden Gattungen (Lyrik, Drama und Erzählliteratur) gleichermaßen auftreten. Die drei zusammenhängenden, sich teilweise bedingenden Komponenten, welche für Popliteratur ausschlaggebend sind, unterliegen einem starken Wandel. Entscheidend bei der literarischen Verarbeitung von Realitätseindrücken ist die mediale Verfassung des Alltags, der Ausgangspunkt der Beschreibung ist. Darum hat Popliteratur in den 1960er Jahren andere Voraussetzungen als um 2000, da unterschiedliche Medienrealitäten Grundlage der literarischen Beobachtung sind. Doch auch zeitnah entstandene Werke können verschieden sein, obwohl sie ein und denselben Medienalltag beschreiben, wie die kurze Vorstellung der Werke von Stuckrad-Barre und Goetz zeigt. Da popliterarisches Schreiben, entsprechend der kombinatorischen Merkmalszusammensetzung, als gradueller Begriff verstanden wird, können die inhaltlichen popkulturellen Codes und die formalen intermedialen Verweise gehäuft oder punktuell auftreten und qualitativ oder quantitativ variieren. Popliterarische Texte sind also zu unterscheiden von Texten, die lediglich mit popkulturellen Versatzstücken arbeiten, aber in keiner Weise intermedial gestaltet sind. Auch gibt es durchaus Werke, die intermedial, aber nicht popliterarisch sind. Es existieren allerdings keine Texte, welche popliterarisch. aber nicht intermedial sind. Diese Unterschiede werden sich innerhalb der folgenden Analyse von Brinkmanns Literatur konkretisieren.
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Durch Brinkmanns Fixierung auf »diese Gegenwart, in der ich mich befinde«68, auf »diesen Augenblick und das Material, was darin ist«69, ergeben sich unterschiedliche intermediale Relationen, welche verschiedenartige Ziele verfolgen und spezifische Wirkungsweisen zeigen.
68 R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 56. 69 Ebd.
4 Der »Augenblick und das Material, was darin ist«1 Brinkmanns audio/visuelle Experimente
»Bedenke doch einmal alle die toten Bedeutungen, in denen sich heute Leben abspielt!«2
4.1 D ER AUTOR UND SEIN W ERK I M K ONTEXT RELEVANTER E INFLÜSSE »Habe ich ein Programm? Gehöre ich zu einer Gruppe? Einer Richtung? Beides nein!«3
Rolf Dieter Brinkmann wird am 16. April 1940 in Vechta geboren. Er wächst dort mit dem »Stress der westdeutschen Nachkriegszeit«4 und dem kleinbürgerlichen Flair der »katholisch verseuchte[n] Bevölkerung«5 auf. Brinkmanns zwiespältige Einstellung, die zwischen Vertrautheit mit der Heimat, Liebe zur Landschaft und Hass gegenüber der strengen Religiosität und kleinbürgerlichen Spießigkeit seines Geburtsortes pendelt, ist, ebenso wie der frühe Krebstod seiner Mutter, in zahlreiche literarische Arbeiten 1
R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 56.
2
Ebd.
3
R. D. Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 124.
4
Ebd., S. 112.
5
Ebd.
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eingegangen.6 Nach seinem Schulabbruch und unterschiedlichen Gelegenheitsjobs absolviert Rolf Dieter Brinkmann eine Buchhändlerlehre in Essen. In diese Zeit, etwa um 1960, fallen erste schriftstellerische Arbeiten auf dem Gebiet der Prosa, die später im Rahmen seiner gesammelten Erzählungen abgedruckt werden. 1962 siedelt Rolf Dieter Brinkmann nach Köln um, wo er vom derzeitigen Lektor des Kiepenheuer & Witsch Verlags, Dieter Wellershoff, entdeckt wird, welcher im selben Jahr als Herausgeber erstmals eine von Brinkmanns Erzählungen, den Text In der Grube, in der Anthologie Ein Tag in der Stadt7 veröffentlicht. Brinkmann beginnt ein Pädagogikstudium und heiratet 1964 Maleen Kramer, welche kurz darauf ihren gemeinsamen Sohn Robert zur Welt bringt.8 Nach seinem Debüt als
6
Beispielsweise handelt seine frühe Erzählung In der Grube von einer Heimreise des Protagonisten mit überaus gemischten Gefühlen (vgl. Brinkmann, Rolf Dieter: »In der Grube«, in: Ders., Erzählungen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985, S. 7-71). Aber auch in späteren Werken, etwa in zahlreichen Gedichten des Bandes Westwärts 1&2 verewigt Brinkmann seine Geburtstadt zum Beispiel in Sonntagsgedicht, Notizen zu einer Landschaft bei Vechta i. O. für H. P., Lied von den kalten Bauern auf dem kalten Land, Nordwestdeutschland, Krieg und Nachkriegszeiten oder Variation ohne ein Thema (vgl. R. D. Brinkmann: Westwärts 1&2. Gedichte. Erweiterte Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2005, S. 87-91, S. 149-151, S. 152-153 und S. 193) oder thematisiert das Landleben (vgl. Schmitt, Stephanie »Noch einmal auf dem Land«, in: Jan Röhnert/Gunter Geduldig (Hg.), Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen, Berlin/New York: De Gruyter 2012, S. 652-658). Darüber hinaus zieren zahlreiche Photos von Vechta und Umgebung seine späteren Materialbände. Krankheit und Tod seiner Mutter verarbeitet Brinkmann in der Erzählung Der Arm (vgl. Brinkmann, Rolf Dieter: »Der Arm« (Die Umarmung), in: Ders., Erzählungen, S. 85-102).
7
Wellershoff, Dieter (Hg.): Ein Tag in der Stadt, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1962.
8
Brinkmanns Sohn Robert hat eine angeborene Sprachstörung, wodurch es ihm nicht möglich ist, zusammenhängende Sätze zu artikulieren. Dieses Detail erwähne ich, weil die das ganze Werk Brinkmanns bestimmende Arbeit an und mit Sprache zu der nahezu völligen Sprachlosigkeit seines Sohnes in besonderem Kontrast steht oder aber vielleicht dadurch erst nachdrücklich initiiert wurde.
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Erzähler veröffentlicht Rolf Dieter Brinkmann kontinuierlich Prosa und Lyrik und lebt seit 1966 als freier Schriftsteller. Seine frühen Werke stehen unter dem Einfluss des von der Kölner Schule praktizierten Neuen Realismus. Ins Leben gerufen wird diese literarische Gruppierung in den frühen 1960er Jahren vom Lektor und Schriftsteller Dieter Wellershoff und das neue Realismuskonzept, das er auch in seinen eigenen Arbeiten verfolgt, auf diesem Wege verbreitet.9 Die Kölner Schule orientiert ihr detailliertes Beschreibungskonzept an der Ästhetik des nouveau roman, als deren bekanntester und einflussreichster Vertreter der Franzose Alain Robbe-Grillet zu nennen ist. In Anlehnung an französische Vorbilder propagiert Wellershoff einen Schreibstil, der konkrete Einzelheiten exakt ausführt, Sinnzusammenhänge allerdings nahezu unbestimmt lässt. Durch die diffuse und komplexe Beschreibung der Wahrnehmungsstruktur der Figuren, deren Perspektive sowohl Innerlichkeiten als auch die äußere Umgebung einschließt, ist der Leser unmittelbar in die Abfolge von Zeit-, Raum- und Assoziationssprüngen einbezogen. Wellershoffs Ansatz ist, wie die Literatur der 1970er Jahre überhaupt, in Auseinandersetzung mit der Debatte der Nachkriegszeit über die Aufgabe von Kunst und Kultur und im Kontext revolutionärer Tendenzen der ’68er Bewegung zu betrachten. Seine oppositionelle, auf die individuelle Wahrnehmung referierende Strategie zeigt deutlich die Skepsis gegenüber intellektuellen und ideologischen Theorien. Der momentanen Realität, dem Leben innerhalb einer »›diffusen Reizmasse‹«10 muss die literarische Beschreibung gerecht werden, denn »[d]urch die fortschreitende Expansion der Kunst, die die Grenzen des Darstellbaren, ästhetisch Interessanten, des Machbaren immer weiter ausgedehnt hat, ist eine Situation entstanden, in der Kunst und Wirklichkeit unklar ineinander übergehen.«11 Anklänge an die Konzeption des Neuen Realismus zeigen sich vor allem in Brinkmanns ersten Erzählungen, die konsequent an der Wirklichkeitswahrnehmung und präzisen Beobachtung des beschreibenden Subjekts
9
Weitere zeitweilige Angehörige dieser Bewegung sind beispielsweise Nicolas Born und Renate Rasp.
10 Schnell, Ralf: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, Stuttgart: Metzler 1993, S. 354. 11 Wellershoff, Dieter: Die Auflösung des Kunstbegriffs, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 12.
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ausgerichtet sind und die dadurch den Leser in die Schilderung spontaner, fragmentarischer Empfindungen, Stimmungen, Gedanken und Momente der äußeren und inneren Wirklichkeit einbeziehen. Was Brinkmanns frühe Prosa auszeichnet, ist, »die Fähigkeit zur Objektivierung seiner Erzählgegenstände bis an die Grenze einer Selbstaufhebung des Erzählens zu treiben. Lebensbereiche und Lebenssituationen von existentieller Bedeutung (Geburt, Liebe, Sexualität, Tod) werden vergegenwärtigt, indem sie sich sprachlich verdichten«12.
Aus einem radikal subjektiven Ansatz resultiert eine detaillierte Beschreibungsflut zahlloser Einzelmomente, die dem Leser die Lebenswelt eines Subjekts so übertrieben deutlich und doch assoziativ eklektisch vorführt, dass am Ende das Subjekt der Bestandsaufnahme nahezu verschwindet. Brinkmanns lyrische Erstveröffentlichungen widmen sich zunächst vor allem der Zersetzung metaphorischer Vorstellungsbilder durch die Betonung der sprachlichen Materialität und Medialität. In seinen frühen Gedichtbänden13 wird der Versuch der Dekonstruktion des traditionellen Kunstbegriffs besonders deutlich. Sowohl der Schreibvorgang als auch Inhalt, Mittel und Wirkung des Gedichts werden radikal entmystifiziert. Brinkmanns lyrisches Thema sind die alltäglichen Dinge, beschrieben in einfachem, lakonischen Stil. Metaphorische Wendungen werden gemieden oder bis zu ihrem Verschwinden konkretisiert und ›zerdacht‹.14 Ein weiteres wichtiges Sujet – gerade (aber nicht nur) dieser frühen Arbeiten – ist die Natur. Brinkmanns Gedichte und Erzählungen weisen Bezüge zum Magischen Realismus auf, als deren berühmteste Vertreter Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann zu nennen wären und zeigen sich beeinflusst von Schreibweisen, welche in der Nachfolge des naturmagischen Gedichts zu lesen sind, wie etwa Günter Eichs Lyrik.15 Allen Ansätzen geht es zu-
12 R. Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, S. 355. 13 Folgende Gedichtbände sind, einzeln oder in Sammlungen veröffentlicht, in dieser Zeit entstanden: Ihr nennt es Sprache (1962), Le Chant du Monde (1963/64), Ohne Neger (1965), &-Gedichte (1966) und Was fraglich ist wofür (1967). 14 Vgl. Kapitel 4.2. 15 Vgl. Kapitel 4.2.1.
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nächst um die literarische Darstellung eines Naturausschnitts, welche die sinnliche Beteiligung anregt und zugleich die Wahrnehmungsgewohnheiten entgrenzt, vor allem dahingehend, dass sich in der Naturbetrachtung und ihrer Beschreibung eine verborgene Botschaft offenbaren soll. Welcher Art der literarisierte Naturausschnitt ist (ob beispielsweise Waldidyll oder Brachland) und was seine vermittelte versteckte Aussage, kann unterschiedlich ausfallen und wandelt sich auch innerhalb des Werks Brinkmanns. Seine magisch-realistischen literarischen Anfänge erfahren eine stückweise Verfremdung der naturmagischen Elemente, welche sich bis in sein Spätwerk verfolgen lässt.16 Einen Einschnitt innerhalb von Brinkmanns Werk bildet sein einziger, 1968 erschienener Roman Keiner weiß mehr; zwar veröffentlicht er nachfolgend die Notizen und Beobachtungen vor dem Schreiben eines zweiten Romans 1970/1974, die Reflexionen werden jedoch nicht praktisch umgesetzt. Im Vergleich zu den Erzählungen hält der Roman weniger an der Beschreibung äußerer Realitäten fest, sondern führt in assoziativer und abgründiger Weise die Krisen, Empfindungen, die Unruhe, den Hass, die Frustration und die Unzufriedenheit der Erzählerfigur zu Zeiten der westdeutschen Umbruchsstimmung um ’68 vor. Im zwischenmenschlichen Spannungsfeld des Protagonisten, seiner Ehefrau und ihres Kindes entsteht eine unterschwellig von Zwängen dominierte, zermürbende Grundstimmung, die durch die angedeuteten lethargischen Befreiungsversuche der Erzählerfigur, die von vornherein zwecklos und halbherzig erscheinen, noch verstärkt wird. Der Sog, den die stellenweise ausführlichen, nüchternen Schilderungen ausüben, zwingt dem Rezipienten die Perspektive der fokalisierten Figur auf, so dass eine distanzierte Lesart schwer möglich ist. Besonders auffallend ist Keiner weiß mehr auch aufgrund der deutlichen Häufung popkultureller Phänomene, wie Rock ’n’ Roll, unterschiedlichste Marken und Moden, Stars, Kino- und Fernsehfilme. Cineastische und musikalische Bezüge lassen sich nicht nur auf inhaltlicher Ebene feststellen, sondern sie beeinflussen auch die formale Gestaltung des Textes. Der Einfluss der Popkultur auf Brinkmanns künstlerisches Schaffen beginnt sich mit seiner zunehmenden Orientierung an Autoren der neuen
16 Vgl. Schäfer, Burkard: Unberührter Ort. Die Ruderalfläche im Magischen Realismus und in der Trümmerliteratur, Frankfurt am Main: Lang 2001.
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amerikanischen Szene zu verstärken, deren Arbeiten er als Übersetzer17 und Herausgeber in Deutschland, vor allem durch die Anthologien Acid (1968) und Silverscreen (1969) publik macht. Um ’68 entbrennen in Deutschland wie in anderen Ländern heftige Diskussionen darüber, wie Literatur zu sein hat und welche Aufgaben ihr zukommen. Der proklamierte »Todeskampf der literarischen Moderne«18 ist der Ausgangspunkt des 1968 in Freiburg im Breisgau gehaltenen Vortrags Überquert die Grenze, Schließt den Graben! des amerikanischen Literaturprofessors Leslie A. Fiedler. Nachdem der Siegeszug der modernen, kurz vor dem Ersten Weltkrieg beginnenden und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg endenden Literatur vorüber ist, werden von Fiedler eine neue ›postmoderne‹19 Literatur und Literaturkritik propagiert, die im Gegensatz zu bisherigen Schreibweisen, die Beschaffenheit und Entwicklung der gesellschaftlichen, technischen und kulturellen ›Nach‹-Moderne angemessen darstellen können. Die Konsequenz des gesellschaftlichen Wandels unter dem Einfluss der Massenmedien und der
17 Brinkmanns Übersetzertätigkeit steht in engem Zusammenhang mit seiner Vorstellung von Sprache und seiner Beschäftigung mit sprachkritischen Ansätzen. Bei der Übertragung amerikanischer Gedichte ins Deutsche geht Brinkmann eher ›intuitiv‹ vor, das heißt, er glaubt nicht an die strikte Übersetzbarkeit eines Wortes in ein anderes, sondern gesteht jeder Sprache ihre eigene Wirkung und Assoziativkraft zu. Die amerikanische Sprache funktioniert anders und hat eine andere Geschichte als die deutsche, daher versucht Brinkmann, sich in das entworfene Bild der amerikanischen Gedichte hineinzubegeben und auf diese Situationsempfindung gründend, eine Entsprechung im Deutschen zu finden. Dass Brinkmanns Arbeit an und mit dem Sprachmaterial über seine Muttersprache hinausgeht, zeigt auch die Tatsache, dass in einigen seiner eigenen Texte fremdsprachige Passagen auftreten. 18 Fiedler, Leslie A.: »Überquert die Grenze, schließt den Graben!«, in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Berlin: Akademieverlag 1994, S. 57-74, hier S. 57. 19 Fiedler selbst spricht von den »Geburtswehen der Post-Moderne« (L. A. Fiedler: »Überquert die Grenze, schließt den Graben!«, in: W. Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne, S. 57). Ich verwende diesen Begriff bezogen auf seine Vorstellung von ›postmoderner‹ Literatur, wobei zu berücksichtigen ist, dass durchaus differierende oder modifizierte Definitionen der Postmoderne angeführt werden könnten.
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damit verbundenen Verbreitung der Popkultur ist für Fiedler nicht das Aussterben der medialen Vermittlung durch das gedruckte Buch, sondern die Notwendigkeit der radikalen Veränderung der Literatur in sämtlichen Erscheinungsformen. In Anbetracht der postmodernen Situation scheint die Unterscheidung zwischen ›hoher‹ Kunst und Pop-Kunst nicht mehr angebracht, denn auch die Literatur, die in die Expansion der Massenkultur eingebunden ist, kann sich dieser Entwicklung nicht entziehen. Nach Fiedler gilt es, die Kluft zwischen ›hohen‹ und ›niederen‹ Unterhaltungsformen zu schließen, dementsprechend wird der postmoderne Künstler als eine Art Doppelagent arbeiten müssen, der Elitäres und Populäres, Mythos und Unterhaltung, Professionalität und Amateurhaftigkeit, in sich vereinigt und seinen Werken somit die Pluralität und Mehrdimensionalität einer neuen, anderen Zeit verleiht. Der beste Effekt der Integration popkultureller Themen durch die Literatur wird, laut Fiedler, anhand dreier Genretypen erzielt: Ausgehend von Beispielen aus der amerikanischen und französischen Literatur rühmt Fiedler deren Immunität gegen Anspruch, Analyse, Lyrizismus und platten sozialen Kommentar und ihre Furchtlosigkeit vor dem »Kompromiss des Marktplatzes, ganz im Gegenteil, sie wählen dasjenige Genre, das sich der Exploitation durch die Massenmedien am ehesten anbietet, den Western, Science-Fiction und Pornographie.«20 Elemente von Wildwestgeschichten, Science-Fiction-spezifische Themen und pornographische Inhalte eigneten sich in besonderem Maße dazu, popkulturelle Impulse zur Wiederbelebung der Literatur zu liefern und den Graben zwischen ›hoher‹ Kultur und populärkultureller Unterhaltung zu überbrücken. Fiedlers Thesen und Literaten, die dieses Programm in die Tat umsetzten, geraten hauptsächlich ins Visier der negativen Kritik. Etwa zur selben Zeit wird im von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Kursbuch heftig über den Tod der Literatur oder die Möglichkeit ihres Fortbestands diskutiert, parallel dazu wird in Christ und Welt die ›Fiedler-Debatte‹ ausgelöst. Während Enzensberger21 das »Sterbeglöcklein für die Literatur«22 läutet und alle Arten der neusten deutschen Literatur,
20 L. A. Fiedler: »Überquert die Grenze, schließt den Graben!«, in: W. Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne, S. 62. 21 Vgl. Enzensberger, Hans Magnus: »Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend«, in: Kursbuch 15 (1968), S. 187-197. 22 Ebd., S. 187.
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auch die progressivsten, für alles andere als revolutionär, sondern für sozial harmlos und damit nutzlos erklärt und höchstens Zweckprosa mit Dokumentationscharakter im Stil der Dortmunder Gruppe 61 (Ulrike Meinhoffs Kolumnen, Günter Wallraffs Industriereportagen) noch als brauchbar einstuft, gesteht Karl Markus Michel der jungen deutschen Pop-Bewegung, zu der neben Brinkmann beispielsweise Wolf Wondraschek, Uwe Brandner, Jörg Fauser, Jürgen Ploog und Hubert Fichte gezählt werden, ein Protestpotential zu, das »nicht durch eine neue Literatur [zum Ausdruck kommt], aber durch neue Ausdrucksformen, die den literarischen Avantgardismus senil erscheinen lassen und die progressive Literatur insgesamt an ihre Ohnmacht gemahnen, die aus ihrer Privilegiertheit folgt«23. Rolf Dieter Brinkmann reagiert auf diese Diskussion mit einer an Fiedler und McLuhan angelehnten Abrechnung mit der abendländischen Kultur, mit einem »Angriff aufs Monopol«24. Polemisch fordert Brinkmann statt hochkultureller Uniformiertheit und reaktionärer Hörigkeitshaltung der Leser experimentelle Schreibweisen, die popkulturelle Einflüsse aufgrund massenmedialer und dadurch auch gesellschaftlicher Veränderungen nicht außer Acht lassen können.25 Innovative Impulse für die literarische Berücksichtigung neuer Unterhaltungs- und Kommunikationstechnologien liefert die neue amerikanische Szene, die Brinkmanns Arbeiten in der Folgezeit maßgeblich beeinflusst. Die jungen amerikanischen Autoren versuchen, »[d]en Hörighaltungs- und Abrichtungscharakter, der in tradierten Ausdrucksformen steckt wie in jener längst angewöhnten Teilung zwischen außen und innen, Form und Inhalt [...] hinter sich zu lassen. Sie gehen oft genug davon aus, dass Literatur Spaß machen muss. Der Lustfeindlichkeit und Unsinnlichkeit, die sich in überanstrengter Reflexion darlegt und die besonders häufig dort sich zeigt, wo mit dialektischer Methode die Spontaneität künstlerischer Tätigkeit manipuliert werden möchte,
23 Michel, Karl Markus: »Ein Kranz für die Literatur. Fünf Variationen über eine These«, in: Kursbuch 15 (1968), S. 169-186, hier S. 179. 24 R. D. Brinkmann: »Angriff aufs Monopol«, in : Christ und Welt. 25 Vgl. zu Brinkmanns Reaktion auf Fiedler auch: Schmitt, Stephanie: »›Trivialität als künstlerische Strategie‹. Zu Rolf Dieter Brinkmanns Gedichtbänden Godzilla und Die Piloten«, in: Kritische Ausgabe (Thema: Schund) Nr. 22 (2012), S. 711.
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wird durch ein Desinteresse begegnet, die ›großen Dinge‹ zu verarbeiten, zu bearbeiten zu erklären, umzuinterpretieren etc.«26
Die vor allem in den späten 1950er Jahren in Amerika bekannt gewordenen Autoren der sogenannten Beat-Generation27 verstehen sich, in vehement
26 Brinkmann, Rolf Dieter/Rygulla, Ralf Rainer: »Der Film in Worten«, in: Dies. (Hg.), Acid. Neue amerikanische Szene, Darmstadt: März 1969, S. 381-399, hier S. 398-399. 27 Der Begriff Beat lässt unterschiedliche Konnotationen zu: Zunächst kann beat als Schlag übersetzt werden, in speziellerer Verwendung bezeichnet der Terminus im Jazz den Grundschlag der Rhythmusgruppe. Nach dieser Auslegung wäre schon der Name Programm für die Orientierung der Beatliteraten am Jazz. Die Entfernung von Gattungsregeln und die Hinwendung zu freieren Formen durch die literarische Rezeption des Jazz, das heißt die Nutzung von Improvisation und freier Assoziation für die Wortkomposition, zeigt sich nicht nur auf stilistischer Ebene, vor allem Lyrik wird bei Lesungen oft mit Jazzmusik kombiniert. Mit musikalischen, aber auch anderen künstlerischen Anleihen wird versucht, dem Verlangen nach einer rein sinnlich vermittelten Literatur gerecht zu werden. Darüber hinaus kann, im Sinne von down-beat (einschlagen) oder offbeat (zurückschlagen), der Name als Zeichen der anarchistischen Lebens- und Literaturform dieser Gruppierung gelesen werden. Zugehörige Autoren praktizieren einen exzessiven Lebensstil (Kommunen, Alkohol, Drogen, freizügiger Sex), entgegen gängiger Konventionen, der auch als Inhalt ihrer Werke zur provokativen Wirkung beiträgt. Des Weiteren wird beat als Abkürzung für beatific (glückselig) interpretiert, womit die Versenkung in die Musik und in das Gedankengut des Zen-Buddhismus, ebenso wie die Experimente mit verschiedenen Rauschzuständen zum Erlangen eines intensiven, befriedigenden Lebensgefühls betont wird. Beat im Kontext zu beaten (geschlagen) aufzufassen, stellt den Moment der verlorenen, desillusionierten Generation heraus, die sich in einer Außenseiterposition am Rande der Gesellschaft begreift. Der Ausdruck beat generation wird erstmals von dem ihr zugehörigen Schriftsteller Jack Kerouac in einem Briefwechsel mit John Clellon Holmes verwendet: »So I guess you might say we’re a beat generation« (Kerouac zitiert nach: Watson, Steven: The Birth of the Beat Generation, New York: Pantheon 1995, S. 3). Als literarische Gruppierung formiert sich die Beat-Generation etwa um 1949 und existiert bis ca. 1960. Während ihrer Blütezeit in den späten 1950er Jahren sind zwei Haupt-
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ablehnender Haltung gegenüber Werten und Konventionen der nachkriegsbelasteten Mittelstandsgesellschaft und dem renommierten Kulturbetrieb, als subversive, provokative, antiintellektuelle und anarchistische Protestbewegung, die mit unkonventionellem Sprachgebrauch, durch die Verwendung von Slang und Underground-Jargon in Verbindung mit einer freien Form versucht, eine Methodik zu entwickeln, die es zulässt, einer unreflektierten spontanen Bewusstseinsäußerung des Autors in verschrifteter Form möglichst nahe zu kommen. Ziel der Beatliteraten ist die Vermittlung von Gegenwart, augenblicklicher Befindlichkeit und persönlicher Umgebung des Subjekts, verbunden mit subjektiven Assoziationen, die intensiv und konzentriert beschrieben werden. Der Autor rückt ins Zentrum des Interesses, denn er muss seiner Umwelt mit gesteigerter, sensibilisierter Aufmerksamkeit gegenübertreten, jedoch nicht im Sinne eines Hinterfragens oder Verstehens ablaufender Prozesse, sondern mit dem Ziel, unmittelbare Beteiligung und Wahrnehmung möglichst unräsoniert aufzuschreiben.28 Zur persönlichen Umgebung gehören auch massenmediale und popkulturelle Elemente, die sowohl thematisch als auch formal auf die Literatur Einfluss nehmen.
strömungen auszumachen: die New York School of Poetry und das Black Mountain College, San Francisco, als deren wichtigsten Angehörige William S. Burroughs, Jack Kerouac, Allen Ginsberg, Neal Cassady, Herbert Huncke, Gregory Corso und Peter Orlovsky sowie Frank O’Hara zu nennen sind. Mit wachsender Popularität wird der Beat-lifestyle zur populären Mode einer Subkultur (der Beatniks), die, ähnlich den französischen Existentialismusanhängern, schwarze Kleidung bevorzugt und eine ausschweifende Lebensweise praktiziert. Der zum Kult werdende antibürgerliche Habitus in Optik und Gesinnung der Beat-Generation ist beispielsweise mit der späteren Hippie-Bewegung oder dem Aufkommen des Punks zu vergleichen (vgl. S. Watson: The Birth of the Beat Generation; Lawlor, William T. (Hg.): Beat Culture. Icons, Lifestyles, and Impact, Santa Barbara/Denver/Oxford: ACB-CLIO 2005, und Hemmer, Kurt: Encyclopedia of Beat Literature, Facts On File, New York: Sonlight Christian 2007, S. vii-xii). 28 Die Ähnlichkeit zwischen diesem Beschreibungsverfahren und dem Erleben von Rauschzuständen ist offensichtlich, ist der Effekt bei beiden, dass eine Bündelung von Wahrnehmungseinheiten ausgeschaltet oder verschoben wird.
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Unter Berücksichtigung verschiedenster sinnlicher und geistiger Momente, die an der subjektiven Wirklichkeitsbeschreibung beteiligt sind, wird eine gesteigerte Sensibilität gegenüber der Umwelt und Innenwelt vermittelt, die sich auf den Leser übertragen soll. Sprachlich und inhaltlich wird versucht, das »Charakterkorsett der Wörter«29 zu sprengen und die »Blindbegriffe, die uns abrichten jeden Impuls ersticken, es anders zu sehen«30 zu eliminieren. Jenseits tradierter metaphorischer Sprachverwendung sollen mit Hilfe einer Schreibweise, die anstrebt, gängige Muster zu erweitern und sich deshalb der Arbeitsweise anderer Formen medialer Vermittlung – vor allem der des Films, der Musik, im speziellen des Jazz, und der Malerei – annähert, neue augenblickshafte Bilder von Stimmungen, Situationen und Realitätsausschnitten geschaffen werden. Aus der Unmittelbarkeit des Schreibvorgangs entstehen Arbeiten, die, durch die Eigendynamik unreflektiert gewählter Wortkombinationen, den Autor wie den Leser gleichermaßen verblüffen. Dieser Effekt tritt besonders im Gedicht hervor, da die lyrische Form die Ausschnitthaftigkeit eines Moments am prägnantesten darstellen kann. Einer der zentralen Autoren dieser neuen amerikanischen Szene, Jack Kerouac, nennt 1957 im Evergreen Review31 die 30 wichtigsten beatliterarischen Programmpunkte, die hauptsächlich die Spontaneität des Schreibvorganges, die sich in Form und Inhalt spiegelt, die Offenheit und Vorläufigkeit der Umformung von Emotionen in Worte, den Fokus auf die Vermittlung individueller Visionen, die Offenlegung von Bewusstseinsvorgängen und die Vorstellung des Denkens in Form sinnlicher Bilder nennt. Für die adäquate literarische Umsetzungsform der in Bildern vorgestellten Bewusstseinsprozesse prägt Kerouac den Ausdruck des »Bookmovie«32, des Films in Worten.33 Dem Zusammenrücken unterschiedlicher Kunstformen und Methoden der Vermittlung von Inhalten, um eine unmittelbare, sinnliche und antielitä-
29 Brinkmann, Rolf Dieter: »Notizen 1969 zu amerikanischen Gedichten und zu dieser Anthologie«, in: Ders. (Hg.), Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1969, S. 7-35, hier S. 12. 30 Ebd., S. 12-13. 31 Kerouac, Jack: »Belief & Technique for Modern Prose«, in: Evergreen Review 2/8 (1959), S. 57. 32 Ebd. 33 Vgl. Kapitel 4.4.
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re Form von Literatur zu entwickeln, die dem zeitlichen Kontext angemessen erscheint, schließt sich Brinkmann an, denn »aufgeklärtes Bewusstsein, auf das europäische Intellektuelle so lange stolz Monopolansprüche erhoben haben, nutzt allein nichts, es muss sich in Bildern ausdehnen, Oberfläche werden.«34 Das Bedürfnis nach der Reformierung verkrusteter eingebürgerter Strukturen und der Revolutionierung bisher ungenügend reflektierter, unkritisch übernommener traditioneller Vorstellungen äußert sich in deutschen literarischen Konzepten um ’68 ebenso wie in Politik, Gesellschaft und auf dem Bildungssektor. Außereuropäischen Anstoß für die Weiterentwicklung seiner Arbeiten findet Brinkmann innerhalb der amerikanischen Beatgeneration vor allem bei William S. Burroughs und Frank O’Hara. Vor allem Burroughs’ sprachskeptische Haltung steht Brinkmann nahe; für beide stellt sie den Ausgangspunkt für Experimente und einen spielerischen Umgang mit dem Sprachmaterial dar.35 In den späten 1960er Jahren nimmt Frank O’Hara neben Burroughs den deutlichsten Einfluss auf die literarische Entwicklung Brinkmanns. Wie die Beat-Bewegung überhaupt, kennzeichnen auch O’Haras schriftstellerische, vornehmlich lyrische Erzeugnisse das Interesse an anderen Formen der medialen Vermittlung mit dem Ziel, Perspektivveränderungen und neue Impulse außerliterarischer Bereiche für seine Werke zu nutzen. Aus dem Ansatz der spontanen, unmittelbaren schriftlichen Erfassung subjektiv wahrgenommener Momente resultiert die aktive Teilnahme des Lesers an der erzeugten Vergegenwärtigung eines Augenblicks. Mit Hilfe der Beschreibungsdichte unterschiedlicher Wahrnehmungsfaktoren in Verbindung mit Erinnerungen oder Assoziationen des schildernden Subjekts entsteht der Eindruck von Bewegung und Präsenz, wodurch es dem Rezipienten ermöglicht wird, am Interesse und der sinnlichen Beteiligung des Autors an seiner Umwelt zu partizipieren. Dieser Effekt kommt durch das Einbeziehen banaler Themen und die Verwendung umgangssprachlichen Materials zustande, da die »Trivialisierung bei gleichzeitiger Auflösung des kunst-
34 R. D. Brinkmann/R. R. Rygulla: »Der Film in Worten«, in: Dies.: (Hg.), Acid, S. 382. 35 Vgl. Kapitel 3.2.
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immanenten autoritären Musters«36 die Befreiung aus strikten inhaltlichen, stilistischen und damit produktions- und wirkungsästhetischen Mustern bewerkstelligt. Durch die asymbolische und antimetaphorische Sprachverwendung soll die Beschreibung konkreter dinglicher und geistiger Realitätsmomente dem Leser ein bedeutungsoffenes Wahrnehmungsangebot vor Augen führen. Die Gattung, welche Frank O’Hara zum Ausdruck für diese (Anti-)Ästhetik wählt, ist die Lyrik; seine Gedichte dehnen sich allerdings oft über mehrere Seiten aus, büßen damit die typische Kürze und Prägnanz ein, während die traditionelle lyrische Sprache einem prosaähnlichen Schreibstil weicht.37 Diese spezielle Form, wie auch Denkinhalte, Zielsetzungen und Methoden der Erzeugung der erwünschten Wirkung übernimmt Rolf Dieter Brinkmann. Er huldigt seinem ›Inspirateur‹ mit der Übersetzung seiner Gedichte, einem beigefügten, erklärenden und begeisterten Aufsatz, veröffentlicht unter dem Titel Lunch Poems und in der Widmung seines Gedichtbandes Die Piloten. Brinkmanns Veröffentlichungen während der Zeit zwischen 1968 und 1970 stehen unter starkem Einfluss der neuen amerikanischen Szene. Seine Gedichtbände Die Piloten von 1968 (nach einer metaphorischen Wendung von Burroughs benannt38), Standphotos (1969) und Gras (1970), sind maßgeblich nach der beschriebenen Ästhetik, den Zielsetzungen und deren Umsetzung durch jüngere amerikanische Autoren gestaltet. Der LyrikZyklus mit dem ›popkulturellen‹, an ein Motto von Ted Berrigan angelehn-
36 Brinkmann, Rolf Dieter: »Die Lyrik Frank O’Haras«, in: Frank O’Hara, Lunch Poems und andere Gedichte, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1969, S. 62-75, hier S. 68. 37 Diese lyrische Form, die auch bei Rolf Dieter Brinkmann zu finden ist, wird als Langgedicht bezeichnet. 38 Leslie Fiedler zitiert diese Passage von Burroughs in seinem Vortrag Die neuen Mutanten (vgl. Fiedler, Leslie A.: »Die neuen Mutanten«, in: Rolf Dieter Brinkmann/Ralf Rainer Rygulla (Hg.), Acid, S. 16-31, hier S. 31). In seinem Aufsatz Die Zukunft des Romans tituliert Burroughs den Schriftsteller als »Kosmonauten des Inneren Raums« (Burroughs, William S.: »Die Zukunft des Romans«, in: Jörg Schröder (Hg.), Mammut. März Texte 1&2. 1969-1984, Darmstadt: März 1984, S. 145-147, hier, S. 145).
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ten Titel Godzilla von 1968 ›meditiert‹39, ganz nach Vorbild der Forderungen Fiedlers, in Form einer Plakat/Gedicht-Kombination, provokant über Pornographie und Sexualität.40 Mit seinem Konzept der ›Popularisierung‹ und Versinnlichung der Literatur vertritt Brinkmann zwar inhaltlich das Programm der Studentenbewegung und der revolutionären Front der 1968er, nämlich die radikale Emanzipation des Subjekts innerhalb vorgefundener verkrusteter gesellschaftlicher Einschränkungen, die Legitimierung sinnlicher Erfahrung und im Kontext dessen die sexuelle Befreiung und Enttabuisierung der Triebwelt, jedoch ohne politische Programme in seinen Arbeiten direkt zu thematisieren. Strittig ist, ob seinem Werk eine politische Dimension zugeschrieben werden kann. Martin Walser etwa bezichtigt Brinkmann im Kursbuch41 aufgrund des Verzichts auf politisches Engagement in der Huldigung der Oberflächen und der scheinbar narzisstischen Absolutsetzung der persönlichen Lebenswelt als Hersteller »der Bewusstseinspräparate für die neuste Form des Faschismus«42. Dabei kann durchaus ein politisch wirksames Potential der Arbeiten Brinkmanns verzeichnet werden. Seine permanente Arbeit an künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten zeigt auch den Drang nach politischer Reformierung. Mit seinem Ansatz der Sensibilisierung gegenüber sämtlichen Momenten der Außenwelt thematisiert Brinkmann den Schritt vor der Politisierung des Einzelnen, nämlich die Bewusstmachung der Position des Subjekts in allen sensuellen Alltags- und Realitätsbezügen und das Vertrauen auf die eigenen Sinne in Zusammenhang mit geistigen Vorgängen, als Ausgangspunkt und Grundvoraussetzung jeder Art des persönlichen Engagements und der Gegenwehr zur Instrumentalisierung und Mobilisierung wider Willen.43
39 Vgl. das Eingangsgedicht dieser Reihe Meditation über Pornos (Brinkmann, Rolf Dieter: »Godzilla«, in: Ders., Standphotos. Gedichte 1962-1970, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1980, S. 160-182, hier S. 162). 40 Vgl. Kapitel 4.5.1. 41 Walser, Martin: »Über die neuste Stimmung im Westen«, in: Kursbuch 20 (1970), S. 19-41. 42 Ebd., S. 36. 43 Dies entspricht auch im Wesentlichen der Vorstellung Herbert Marcuses, dass Teil des umfassenden Revolutionskonzepts eine radikale Bewusstseinswandlung und Wahrnehmungsveränderung sein muss. Obwohl Brinkmann sich selbst als
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In der Folgezeit beginnt Brinkmann, neben der Mitarbeit an Verlagsprogrammen und unterschiedlichen Zeitschriften, die Beschäftigung mit technischen medialen Vermittlungsweisen nicht mehr nur in der Theorie und schriftstellerischen Praxis zu betreiben, sondern er experimentiert mit 8-mm Filmen44 nach dem Vorbild des New Yorker Underground (beispielsweise Andy Warhols, John Cassavetes’ und Chris Markers) und der amerikanischen B-Movies. Werke aus diesem Kontext zeigt und diskutiert er als Mitglied der Kölner Experimentalfilmgruppe XSCREEN, deren Veranstaltungen als ziemlich provokant wahrgenommen werden. Darüber hinaus versucht er sich in einigen weiteren Formen künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten. Auch arbeitet Brinkmann, hauptsächlich für literarische Kritiken verantwortlich, als freier Mitarbeiter beim WDR, wo er 1968 als Drehbuchautor mit dem Fernsehspiel Der Abstieg debütiert; in der Folgezeit entstehen, ebenfalls im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks, drei Hörspiele, Auf der Schwelle (1971), Der Tierplanet (1972) und Besuch in einer sterbenden Stadt (1973), sowie ein Selbstporträt. In zunehmendem Maße werden auch Photographie und visuelle Abbildungen generell existentieller Bestandteil seines Werkes, was vor allem die postum veröffentlichten Materialbände Rom, Blicke und Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin und Schnitte zeigen, die eine weitere Phase innerhalb Brinkmanns literarischen Schaffens darstellen. Ab etwa 1970 zieht Brinkmann sich aus der Kölner Szene und dem Literaturbetrieb überhaupt zurück und konzentriert sich ganz auf die Materialsammlung für einen Roman und die Archivierung mehrerer tausend Aufnahmen seiner Instamatic-Camera. Vom Herbst 1972 bis zum Sommer 1973 ist Brinkmann Stipendiat an der Villa Massimo in Rom. Hier entstehen die Aufzeichnungen Aus dem Notizbuch Rom 1972/73 »World’s End« Text und Bilder und die drei, 1979 unter dem Titel Rom, Blicke zusammengefassten Hefte, die, in Form einer Mischung aus unkonventionellem verbalem und pikturalem Reisebericht, Briefroman und Tagebuch, eine Abrechnung mit der Kulturstadt Rom und der Zivilisation im Allgemeinen darstellen.
unpolitischen Menschen bezeichnet, ist dennoch ein subversives, auf Veränderung und Revolutionierung abzielendes Potential in seinen Werken vorhanden. 44 Drei Filme Brinkmanns aus dieser Zeit sind bekannt: Atomic Man, Tod und Portrait.
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Eine ähnliche Ästhetik und einen vergleichbar pessimistisch aggressiven Grundton weist auch der zweite Materialband Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin auf, welcher erst 1987 erscheint. Er enthält tagebuchartige Notizen, Aufzeichnungen und Bilder, zwischen 1971 und 1973 gesammelt, die zu einer vielstimmigen, fragmentarischen, zeitgeschichtlichen und autobiographischen Dokumentation montiert sind. Im Gegensatz zum letzten großen ›Prosawerk‹ Schnitte (1972 bis 1973 entstanden und 1988 erschienen), prägen zunächst längere Textteile die Erkundungen, bevor sie zugunsten einer Kombination ausgerissener und zusammengefügter Bildfetzen mehr und mehr verschwinden. Die auf dem Umschlag der Schnitte abgedruckten Textteile deuten bereits an, was den Leser im Buchinneren erwartet: »Totenbuch [...] verrecktes traumbuch [...] (Momentaufnahmen/: ›schönes Tageslicht‹, zu weit weg)« 45. Vorher zumindest stellenweise auftretende Verweise auf zeitliche oder biographische Momente sind kaum mehr auszumachen; an ihre Stelle treten alptraumhafte Bildhäufungen oder Textstücke, oftmals um Sex, Geld oder Tod kreisende Szenen. Einzelwörter und Textfetzen, zum Teil Zeitungsausschnitte, teilweise Sequenzen aus den anderen Materialbüchern, manchmal auch nur Buchstabenhäufungen, ergeben zusammen mit den vorwiegend fragmentarischen Bildausschnitten ein Gesamtwerk, das nach ›traditioneller‹ Rezeptionsmanier nicht mehr lesbar erscheint. Eindrücklich führt der letzte Materialband vor, was sich in den beiden vorhergehenden ankündigt: die Überforderung der Sinne durch die mediale Überflutung. Die freigelegten, vertexteten Gehirnvorgänge des Subjekts zeigen den Verlust von Kontrolle und Steuerungskraft, bis letztendlich nur noch furchteinflößende, bedrohlich wirkende Einzelstücke der Realitätsmomente isoliert werden können. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass die unterschiedlichen Phasen in Brinkmanns Werk sich nur vordergründig stark von einander abheben. Die pragmatische Einteilung in einzelne Perioden macht lediglich wechselnde Schwerpunkte oder besondere Häufungen von Stilelementen, Inspirationen oder Themen deutlich. Brinkmanns ›popliterarische‹ Phase setzt deutliche Bezüge zum Frühwerk, so schreibt Burkard Schäfer »Brinkmann ist Magischer Realist und Popliterat in einem«46. Auch können Texte, die
45 R. D. Brinkmann: Schnitte, Titelblatt. 46 Vgl. B. Schäfer: Unberührter Ort., S. 276.
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stark mit popkulturellen Codes und Themen arbeiten, durchaus auch sprach-, medien- oder zivilisationskritische Inhalte vermitteln. Brinkmanns Werk vereint Ambivalenzen, welche sich aber nicht in einzelnen Phasen niederschlagen, sondern sich über die gesamte Spanne seines Schaffens zu einer komplexen Gesamtaussage fügen. Vor diesem Hintergrund ist die aufgrund der thematischen und formalen Beschaffenheit der Gedichte verhältnismäßig ›poetische‹ Wirkung von Brinkmanns letzten beiden Lyrikbänden weit weniger erstaunlich als oftmals behauptet: Eiswasser an der Guadelupe Str. wird 1985 anlässlich Brinkmanns zehnten Todestages veröffentlicht, Westwärts 1&2 erscheint noch zu Lebzeiten Brinkmanns und wird 2005 als erweitere Neuauflage um 26 Gedichte und die Vervollständigung des enthaltenen Aufsatzes Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten (1974/75) ergänzt. Diese Werke entstanden hauptsächlich während seines Gastlektorats an der Universität Austin/Texas 1974. Vor allem der Gedichtband Westwärts 1&2 wurde sehr unterschiedlich aufgenommen. Dennoch bekommt Brinkmann für sein letztes, von der photographischen Rahmung des Bandes abgesehen, rein lyrisches Werk postum den Petrarca-Preis verliehen, nachdem er 1975 im Alter von 35 Jahren bei einem Dichterkongress in London beim Überqueren einer Straße von einem Auto tödlich verletzt wird. Anlässlich seines dreißigsten Todestages erscheint 2005 ein Mitschnitt von Brinkmanns letzter Lesung auf dem Cambridge Poetry Festival 197547 und sein akustischer Nachlass Wörter Sex Schnitt48. Ausschlaggebend für die Produktion der fünf CDs mit einer Laufzeit von über 360 Minuten war Brinkmanns Auftrag, ein Selbstportrait für das Dritte Programm des Westdeutschen Rundfunks von 60 Minuten anzufertigen: »Doch in diesem Herbst 1973 begann Brinkmann mit einem für ihn neuen Medium zu arbeiten. Mit einem tragbaren Tonbandgerät, das der auftraggebende Sender zur Verfügung stellte, zog Brinkmann los, durchstreifte zu Tages- und Nachtzeiten die Kölner Innenstadt, erkundete seine unmittelbare Umgebung, überraschte mit Aufnahmegerät und Mikrofon Bekannte, Freunde und Familienmitglieder in verschiede-
47 Brinkmann, Rolf Dieter: The Last One. Autorenlesungen Cambridge Poetry Festival 1975, Erding: Intermedium records 2005. 48 Brinkmann, Rolf Dieter: Wörter Sex Schnitt. Originaltonaufnahmen 1973, Erding: Intermedium records 2005.
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nen Alltagssituationen und suchte diverse Orte und Treffpunkte auf, zu denen er sich hingezogen fühlte. Er begann, seine täglichen Eindrücke als Aufnahmen auf den Bändern zu dokumentieren.«49
Auch bei den Tonbandmitschnitten des Autorenalltags sind die Materialität der Sprache und des technischen Mediums des Aufnahmegerätes ebenso sinnstiftend wie die inhaltlichen, semantischen Bezüge. Dabei werden »Sprechweisen und im Modus der Mündlichkeit prozessierte Schreibverfahren hörbar«50, welche die das gesamte Werk durchziehende Beschäftigung mit Materialität und Medialität von Sprache und anderen medialen Trägern auf Tonband wiedergibt. 2010 werden wiederentdeckte, frühe Gedichte von Brinkmann veröffentlicht, welche zwischen 1959 und 1963 entstanden sind und die bereits erschienenen frühen Gedichte komplettieren. Vereinzelt wurden bereits Arbeiten gedruckt, größtenteils versammelt der Band Vorstellung meiner Hände51 unveröffentlichte Gedichte. Auch künftig sind weitere Entdeckungen und Neuveröffentlichungen zu erwarten, da Brinkmanns Nachlass keineswegs vollständig gesammelt und zugänglich ist. Dabei ergeben sich verschiedenste Probleme, wie mit diesen posthum erscheinenden Texten umzugehen ist: Viele Gedichte, von welchen mehrere Fassungen existieren, sind nur in einer Variante abgedruckt, gleichzeitig ist oftmals nicht zu rekonstruieren, inwieweit die Zusammenstellungen der Gedichte und einzelne Seiten der Materialbände und ihre Reihenfolge von Brinkmann autorisiert und intendiert sind. Editionskritische Aspekte sind in diesem Kontext stets mitzudenken, die Erstellung einer historisch-kritischen Ausgabe von Brinkmanns Werk wäre notwendig und hilfreich. Die in dieser Arbeit zentralen Textbeispiele sind größtenteils nicht von editionskritischen Einwänden betroffen.
49 Brinkmann, Maleen: »Kratzgeräusche auf der Haut«, in: R. D. Brinkmann, Wörter Sex Schnitt (Booklet). 50 Schumacher, Eckhard: »›Schreiben ist etwas völlig anderes als Sprechen‹. Rolf Dieter Brinkmanns Originaltonaufnahmen«, in: Dirck Linck/Gert Mattenklott (Hg.), Abfälle. Stoff und Materialpräsentationen in der deutschen Pop-Literatur der 60er Jahre, Hannover: Wehrhahn 2006, S. 75-90, hier S. 89. 51 Brinkmann, Rolf Dieter: Vorstellung meiner Hände. Frühe Gedichte, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2010.
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4.2 D ER »W ORTE -K NAST « 52. AUSGANGSPUNKT S PRACHKRITIK »und die Tendenz ist eigentlich gegen die Metapher, gegen ›Dichtung‹ und wofür? Für ein ›unritualisiertes Sprechen«53
Die Reflexion der Sprache über ihre eigenen Möglichkeiten befindet sich zumindest implizit immer in einem intermedialen Kontext. Den ausschlaggebenden Impuls, Sprache künstlerisch explizit in diesen Zusammenhang zu stellen, bildet bei Brinkmann eine grundlegende sprachkritische Haltung, welche zunächst sein zentrales literarisches Thema ist und die Basis für die das kommende Werk maßgeblich dominierenden intermedialen Experimente bildet.54 Die Arbeit an und mit der Sprache ist der ausschlaggebende Antrieb und das bestimmende Thema seines Schreibens, sein Ziel: »Raus aus dem Worte-Knast.«55 Brinkmanns Vorstellungen von Sprache sind vor allem von den kritischen Ansätzen des Journalisten, Schriftstellers und Sprachphilosophen Fritz Mauthner und von William S. Burroughs, dem Begründer und Mentor der Beatliteraten, beeinflusst. Diese beiden Bezugspunkte sind, neben anderen Ansätzen wie beispielsweise Ausführungen des Sprachwissenschaftlers und Lehrers Burroughs, Alfred Korzybski, besonders häufig im Gesamtwerk Brinkmanns zitiert beziehungsweise paraphrasiert.56
52 Meinecke, Thomas: »2 Plattenspieler, 1 Mischpult«, in: Gudrun Schulz/Martin Kagel (Hg.), Brinkmann, Rolf Dieter: Blicke ostwärts – westwärts, Vechta: Eiswasser 2001, S. 188-189, hier S. 189. 53 R. D. Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 44. 54 Die Auseinandersetzung mit Sprachkritik und den literarischen Möglichkeiten der Sprachverwendung ist allerdings nicht nur im Frühwerk zu finden, sondern zieht sich durch Brinkmanns komplettes Schreiben (vgl. Schmitt, Stephanie: »Pawlows Hamburger«, in: J. Röhnert/G. Geduldig (Hg.), Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen, S. 672-679). 55 T. Meinecke: »2 Plattenspieler, 1 Mischpult«, in: G. Schulz/M. Kagel (Hg.), Rolf Dieter Brinkmann, S. 189. 56 Vgl. M. Strauch: Rolf Dieter Brinkmann, S. 13-33.
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Für Burroughs wie auch für Brinkmann stellt die sprachkritische Haltung den Ausgangspunkt für Experimente mit dem Sprachmaterial dar. Das Wort wird als hartnäckiger Virus verstanden, welcher eine versteckte Eigendynamik entwickelt: »Versuchen Sie, ihr subvokales Sprechen aufzuhalten. Versuchen sie, nur 10 Sekunden innere Stille aufzubringen. Sie werden einen widerstrebenden Organismus entdecken, der sie zum Sprechen antreibt. Dieser Organismus ist das Wort.«57 Im Anschluss an Burroughs diagnostiziert Brinkmann »Wortviren, die seit Ende des Krieges hier in Westdeutschland losgelassen wurden [,] [und] [...] das Land, die Körper, ausgeplündert [haben]«58. Die unumgängliche Infektion mit dem sprachlichen Krankheitserreger hat eine automatische Bedeutungsaufladung angeeigneter Realitätsausschnitte in ihrer Erfassung und Einordnung über Sprache zur Folge. Im Kontext der Literatur erscheint das versprachlichte Erleben zusätzlich von einem Raster des künstlerischen Sprachgebrauchs überlagert. Dadurch wird der ursprüngliche Inhalt, sobald es sich größtenteils nur um die Übernahme stereotyper Vorstellungsbilder hinter den Wörtern handelt, weitestgehend sinnentleert. Die zwanghaften sprachlichen Automatismen gilt es zu überwinden, indem vorherbestimmte Produktions- und Rezeptionsmuster im Schreibprozess umgangen werden. Die Abrichtung, die darauf angelegt ist »mehr auf wörter zu reagieren als sich auf wörter zu beziehen«59, versucht Burroughs in seinen Texten durch die experimentelle und vielgestaltige kontinuierliche Durchbrechung etablierter Wahrnehmungsweisen und die Tendenz zur Auflösung der üblichen begrenzenden Kategorien Werk und Autor zu umgehen. Dies geschieht beispielsweise in Form der Cut-Up Technik60 oder der Fold-In Methode61. Anklänge an die
57 Brinkmann, Rolf Dieter: »Spiritual Addiction. Zu William Seward Burroughs’ Roman Nova Express (1970)«, in: Ders./Ralf Rainer Rygulla (Hg.), Der Film in Worten, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1982, S. 203-206, hier S. 204. 58 Brinkmann, Rolf Dieter: »Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten«, in: Ders., Westwärts 1&2. Erweiterte Neuausgabe, S. 293. 59 Burroughs, William S.: »Akademie 23 – Eine Entwöhnung«, in: R. D. Brinkmann/R. R. Rygulla (Hg.), Acid, S. 363-367, hier S. 365. 60 Unter der Cut-Up Technik wird schriftstellerisches Arbeiten nach dem CollagePrinzip verstanden (Burroughs selbst verwendet den Begriff Collage, vgl. W. S. Burroughs: »Die Zukunft des Romans«, in: J. Schröder (Hg.), Mammut, S. 145). Textseiten werden in Teile zerschnitten und neu komponiert. Daraus resultieren
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Ästhetik des Cut-Up und Fold-In sind vor allem in Brinkmanns späten Materialbänden zu finden, zeigen sich aber auch im Rahmen seiner Tonbandaufnahmen und in einigen seiner Gedichte. Ähnlich dem amerikanischen Beatliteraten betont auch Fritz Mauthner, dass die Absolutheitsansprüche der Sprache in Bezug auf die Vermittlung von Wirklichkeit nicht zu rechtfertigen sind, denn Sprache funktioniert wie ein verzerrender Filter, der sich zwischen Mensch und Welt schiebt. Da das Verhalten von Personen allerdings von einem »Wortaberglaube[n]«62 bestimmt wird, der von Vertrauen in die eigene Sprache geprägt ist, allerdings im Hintergrund persönliche Gedanken und Handlungen steuert, wird dieser Entfremdungsprozess allenfalls unbewusst wahrgenommen. Die inhärenten sprachlichen Machtstrukturen werden nicht unmittelbar erfahren, sondern sie äußern sich indirekt auf sämtlichen Ebenen der Realitätsaneignung, die einer versteckten Kontrollinstanz der Wahrnehmung über Sprache unterliegen. Durch die Fremdsteuerung über sprachliche Strukturen ist ein direkter Zugang zur Umwelt nicht möglich, wodurch ihre Fähigkeit zum Erkenntnisgewinn angezweifelt wird. So kommt Mauthner letztendlich zu folgen-
zufällige Anordnungen von Wort- oder Bildkomplexen, die einen erstaunlichen, neuen Sinn (oder Nicht-Sinn) ergeben. Diese Arbeitsweise beschränkt sich allerdings nicht auf die Produktion geschriebener Texte; Burroughs experimentiert nach diesem Prinzip auch mit Photomontagen, Filmen oder Tonbandaufnahmen. 61 Die Fold-In Methode ist eine Variation der Cut-Up Technik, mit der folgender Vorgang bezeichnet wird: Bücherseiten oder Textpassagen einzelner oder unterschiedlicher Autoren werden zusammengefügt, indem Seiten in der Mitte der Länge nach gefaltet und auf andere Textseiten gelegt werden. Durch die Kombination verschwimmen diese zu einem neuen, zufälligen Text, wodurch Produktivität, Eigendynamik und Kreativität der sprachlichen Produkte in den Mittelpunkt des Interesses rücken und herkömmliche Verfahren der Bedeutungskonstitution von Texten unwirksam werden. Die bisherigen Möglichkeiten der Literatur werden überschritten, indem der Schriftsteller zeitlich stringente Abfolgen überwindet, sich auf der Zeitspur vor und zurück bewegt und Variationen, Vor- und Rückblicke integriert (vgl. im Hinblick auf dieses Verfahren Burroughs Romantrilogie The Soft Machine, Nova Express und The Ticket That Exploded). 62 Mauthner, Fritz: Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Stuttgart/Berlin: Cotta 1921, S. 155.
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dem utopischen Postulat der notwendigen Loslösung aus der Unterdrückung der Sprache: »Ich lehre die Befreiung der Menschen von der Sprache als einem untauglichen Erkenntniswerkzeuge; aber ich wüsste nicht, wie man sich befreien könnte von der Macht der Sprache über die Sitte, die Gewohnheit, das Handeln, das Leben. Denn auch Sittenlosigkeit ist nur eine neue Sitte, neues Handeln, Tyrannei einer neuen Sprache.«63
Wenn überhaupt eine Änderung der Wahrnehmung oder des Bewusstseins und ein Ende der Tyrannenherrschaft erreicht werden kann, dann zunächst nur über die Arbeit an der Sprache mit dem Wissen um die Automatismen, die es zu überwinden gilt. Hier setzt Brinkmann, trotz Mauthners pessimistischer Diagnose, an. Mit seinem Anspruch, einen Weg zu finden, Sprache von ihrer eigenen Vergangenheit zu befreien und ihr eine gewisse Unmittelbarkeit wiederzuverleihen, schreibt Brinkmann in seinen literarischen Versuchen einer neuen Sprachverwendung die Tradition der Sprachkritik nach ’45 fort. Versuche der Sprengung stereotyper Vorstellungsmuster und die Zertrümmerung evozierter Bilder auf der Suche nach einer Sprache ohne Vorbelastung sind bei Lyrikern der Nachkriegszeit zu finden, beispielsweise auch bei Gottfried Benn, welchen Brinkmann selbst als eines seiner Vorbilder nennt. Neben Unterschieden der gewählten literarischen Umsetzung lassen sich Gemeinsamkeiten zwischen Benns und Brinkmanns Vorstellung von Lyrik benennen: Für beide bildet den Ausgangspunkt für die literarische Produktion eine verbrauchte, mit Klischees überlieferter Gefühle und Vorstellungen beladene, sinn- und bildschwangere, von zwei Weltkriegen vorbelastete Sprache, der zu neuen Möglichkeiten verholfen werden soll. Im Bezug auf das Gedicht hält Benn es für inadäquat gegenüber der zu beschreibenden Wirklichkeit, eine Trennung zwischen »angedichtetem Gegenstand und dichtendem Ich, von äußerer Staffage und innerem Be-
63 Mauthner, Fritz: Die Sprache, Frankfurt am Main: Rütten & Loening 1907, S. 84.
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zug«64 vorzunehmen, denn »[ein] Gedicht ist immer die Frage nach dem Ich«65; ebenso setzt Brinkmann ins Zentrum seiner Lyrik, wie auch seiner Prosa, das beschreibende Subjekt in unmittelbarer Relation zu seiner Umwelt. Darüber hinaus soll, nach Benn und auch bei Brinkmann, Abstand von Wortklischees genommen werden, die traditionellerweise vor allem in Form von schwülstigen Vergleichen oder sinnbildlich aufgeladenen Attributen auftreten. Des Weiteren wird von Benn wie Brinkmann ein vielen Gedichten eigener Ton, der an die Sentimentalitäten und romantischen Gefühle des Lesers appelliert, abgelehnt, weil »[d]ieser seraphische Ton [...] keine Überwindung des Irdischen, sondern eine Flucht vor dem Irdischen«66 darstellt, »[d]er große Dichter aber ist ein großer Realist, sehr nahe allen Wirklichkeiten, er ist sehr irdisch«67. Diese ästhetischen Grundsätze äußern sich bei Brinkmann in dem Versuch, einen unmittelbar sinnlichen Eindruck durch eine einfache, aber präzise Sprache zu erzeugen. Seine frühen Arbeiten sind vor allem durch eine oftmals polemische Abgrenzung von kanonischen Autoren und traditionellen Literaturvorstellungen, resultierend aus seiner prinzipiell sprachkritischen Haltung, gekennzeichnet. Traditionsbruch und Sprachkritik in Theorie und Praxis bleiben auch in Brinkmanns späteren Arbeiten erhalten. Sein gesamtes Werk impliziert den Verweis auf die Unzulänglichkeit und Uneigentlichkeit der Sprache im Vergleich zu anderen, sinnlichen Vermittlungsformen beispielsweise in bildlicher Form.68 Tendenzen der unmittelbaren Nachkriegsliteratur unternehmen zwar auch den Versuch, die Sprache ihrer negativen Programmierung zu entledigen und einen Neuanfang des bewussten Sprachgebrauchs zu unternehmen, bleiben, nach Brinkmann, aber größtenteils Automatismen, Erscheinungsformen und traditionellen Vorstellungen schriftstellerischer Erzeugnisse gegenüber verhaftet. Das hat zum einen zur Folge, dass die durch ge-
64 Benn, Gottfried: »Probleme der Lyrik«, in: Ders., Gesammelte Werke in acht Bänden. Band 4 Reden und Vorträge, Wiesbaden: Limes 1968, S. 1058-1096, hier S. 1067. 65 Ebd., S. 1065-1066. 66 Ebd., S. 1069. 67 Ebd. 68 Diese Ansicht schließt nicht seine generell ambivalente Einstellung bezüglich medialer Vermittlung jeglicher Art aus.
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schichtlichen Missbrauch verursachte Befrachtung einzelner Wörter oder Wortkombinationen durch den tradierten Rahmen nie vollständig verschwunden ist, zum anderen scheint eine traditionelle Auffassung des Literaturbegriffs und schriftstellerischer Erzeugnisse und ihrer Ästhetik inadäquat gegenüber der gesellschaftlichen Rolle von Kunst und Kultur und dem geschichtlichen, sozialen und medialen Wandel. 4.2.1 Die Vergegenständlichung des Gedichts Brinkmanns frühe Gedichte machen sich zur Aufgabe, den »Wortfetisch«69 des Lesers und dessen Rezeptionsmechanismen vorzuführen, ins Bewusstsein zu rufen, zu entkräften oder zu enttäuschen. Die Lyrikbände Ihr nennt es Sprache (1962), Le Chant du Monde (1963/64), Ohne Neger (1965), &Gedichte (1966) und Was fraglich ist wofür (1967) und auch die jüngst erschienene Sammlung bisher hauptsächlich unveröffentlichter früher Gedichte Vorstellung meiner Hände, welche Werke zwischen 1959 und 1963 enthält, kreisen thematisch und formal um die Auseinandersetzung mit literarischen Vorgängern, die Abgrenzung zu tradierten poetischen Mustern und die Erweiterung eines eingeschränkten Literatur- und Kunstverständnisses. Dass ein Bruch mit traditionellen Vorstellungen am Beispiel der Lyrik besonders eindrücklich veranschaulicht werden kann, liegt vor allem an der ihr eigenen Kürze und Dichte und der daraus resultierenden Konzentriertheit essentieller Aussagen mit metaphorischer oder melodischer Aufladung einer begrenzten Anzahl von Wörtern oder Wendungen, die im Gedicht vorausgesetzt wird. Aufgrund dieser vermittelten Auffassung ist innerhalb der lyrischen Gattung die Erwartungshaltung des Rezipienten ungleich hoch; darum kann sie auch besonders gut enttäuscht werden. Der kritisierte Verschleierungs- und Mystifizierungshang der sprachlichen Zeichenvermittlung tritt innerhalb der Lyrik potenziert in Erscheinung. Brinkmann bezeichnet sie aus diesem Grund als »die wohl ›unaufgeklärteste‹ literarische Gattung im deutschsprachigen Raum«70, denn »[t]rotz aller scheinbar anti-künstlerischen Manierismen blieb die Sprache des
69 Mauthner, Fritz: Sprache und Leben. Ausgewählte Texte aus dem philosophischen Werk, Salzburg/Wien: Residenz 1986, S. 103. 70 Brinkmann, Rolf Dieter: »Über Lyrik und Sexualität«, in: Streit-Zeit-Schrift 7 (1969), S. 65.
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Gedichts ›aristokratisch‹, dem hohen Gedanken verpflichtet, dem schönen Bild«71. Man hat es bei deutschen Gedichten »mit höchst stilisierten Realitätsausschnitten zu tun, denn die verwendete Sprache ist ein Filter, der das Grobe, Direkte, das in der alltäglichen Umwelt aufzufinden ist, abhält«72. Aus diesem Grund werden Brinkmanns Ziele und Methoden in seinen Gedichten am deutlichsten, da die Lesererwartung im größtmöglichen Spannungsverhältnis zur vermeintlichen Einfachheit und Lakonie seiner Sprache in Verbindung mit der Banalität seiner Themen steht. Exemplarisch veranschaulichen lässt sich die Umsetzung seiner Anliegen anhand des in seinem ersten Band veröffentlichten lyrischen Werks Von der Gegenständlichkeit eines Gedichtes: »Von der Gegenständlichkeit eines Gedichtes Die Farbe der Tinte ist königsblau die Feder aus Stahl schreibt die Worte auf das weiße Papier die angewandte Grammatik enthält nichts über Wetteraussichten und sie misst dem Vogelflug nicht die geheime Formel bei leichter zu sein als die Schwermut ohne Regel ist die Landschaft angeordnet das Blattgrün ist fehlerlos die Bäume verbergen der vorhandenen Sprache die innere Wildnis mit der Feder aus Stahl schreibe ich die Worte auf das weiße
71 Ebd., S. 66. 72 Ebd.
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Papier die Farbe der Tinte ist königsblau«73.
Wie schon im Titel vorweggenommen, geht es zunächst um die Entmystifizierung des dichterischen Schreibaktes und somit auch des daraus resultierenden lyrischen Erzeugnisses. Die erste Strophe nennt die Utensilien, die für das schriftliche fixieren einen Gedichts notwendig sind, nämlich Tinte, Feder und Papier. Dadurch, dass »die Feder aus Stahl / [...] die Worte / auf das weiße Papier [schreibt]«74 gewinnt man den Eindruck, als sei die Sprache neben den Schreibwaren nur ein weiteres benötigtes Material, das keine besondere Wichtigkeit im Vergleich zu Stift und Blatt besitzt. Auch der dichterische Vorgang selbst wird als rein mechanischer Prozess geschildert, da weder ein genannter Autor noch ein lyrisches Ich die Feder in die Hand nimmt. Erst in der dritten Strophe, die eine Variation der ersten darstellt, tritt die Person in Erscheinung: »mit der Feder / aus Stahl schreibe ich / die Worte auf das weiße / Papier«75. Während in der ersten Strophe die Reflexion des Schreibvorgangs rein aus dem Verweis auf die Materialität der Sprache und der Mechanik des Aufschreibens besteht, bringt die dritte Strophe zusätzlich die Dimension des Autors mit ins Spiel. Dadurch entsteht der Eindruck, als würde die erste Strophe ihre eigene Niederschrift protokollieren und im Gegensatz dazu die dritte Strophe kommentierend auf den Mittelteil als das eigentlich verfasste Gedicht aufmerksam machen. Dieses Spiel mit zwei verschieden Ebenen, nämlich einerseits der Reflexion über dichterische Betätigung und die Arbeit mit dem Sprachmaterial und anderseits dem tatsächlichen Verfassen eines Gedichtes, zeigt sich in der zweiten Strophe auf zugespitzte Weise. Mit dem Verweis auf die »angewandte Grammatik«76 befindet man sich auf der Ebene des syntaktischen Sprachmaterials, die »nichts über Wetteraussichten [enthält]«77. Dabei wer-
73 Brinkmann, Rolf Dieter: »Von der Gegenständlichkeit eines Gedichtes« (Ihr nennt es Sprache), in: Ders., Standphotos. Gedichte 1962-1970, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1980, S. 17. 74 Ebd. 75 Ebd. 76 Ebd. 77 Ebd.
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den die Materialität der Sprache und die Gegenständlichkeit des Gedichts parallel geführt mit der literarischen Verwendung von Sprache und dem daraus entstehenden Vorstellungsraum im Rezeptionsakt, nämlich der semantischen Aufladung der dichterisch eingesetzten Sprache. Das Aufgreifen der Termini »Vogelflug«78 und »geheime Formel«79 verweist nicht nur auf Günther Eichs lyrisches Vokabular80 und stellt so einen traditionellen und intertextuellen Dialog her, es provoziert durch die metaphorische Beschaffenheit auch bestimmte assoziative Verknüpfungen beim Leser. Die bildliche Transformation wird allerdings durch die Ablehnung, die Verneinung am Anfang der zweiten Zeile der zweiten Strophe schon im Vorhinein verhindert. Eine derartige Bedeutungsgenerierung wird als unwirksam für die Interpretation des Gedichts zurückgewiesen, welches ein anderes Ziel als die poetische Beschreibung verfolgt, denn »die / Bäume verbergen der / vorhandenen Sprache / die innere Wildnis«81 und »ohne Regel / ist die Landschaft angeordnet«82. Lyrisch konnotierte Sprachbilder scheinen demnach nicht geeignet Wirklichkeit darzustellen. Durch die Kritik der Metapher und ihrer Verwendung erfolgt eine Auseinadersetzung mit literarischen Vorgängern, in diesem Fall vor allem mit den Naturlyrikern, besonders dem Magischen Realisten83, beziehungsweise Günther Eich. Auch zeigen sich in diesen Referenzen deutlich Dynamiken zwischen Inspiration
78 Ebd. 79 Ebd. 80 Die zitierten Passagen könnten sich beispielsweise auf Eichs Gedichte In anderen Sprachen (»Wenn der Elsternflug mich befragte«), Botschaften des Regens (»Nachrichten, die für mich bestimmt sind, / weitergetrommelt von Regen zu Regen«) oder Waldblöße (»es rinnt zum Zeichen zusammen / das die Vogelschwärme mitnehmen / ins Winterquartier. / Der Ring der Vogelwarte. / Ein Fremder entdeckt ihn / am Fuß der Grasmücke. / Verwundert liest er die Botschaft«) beziehen (vgl. Eich, Günther: Gesammelte Werke. Band 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 96 bzw. S. 85-86, bzw. S. 82). 81 R. D. Brinkmann: »Von der Gegenständlichkeit eines Gedichtes«, in: Ders., Standphotos, S. 17. 82 Ebd. 83 Auch in der Lyrik Loerkes und Lehmanns ist das Thema des Vogelfluges häufig zu finden.
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und Abgrenzung, genauso wie die traditionelle Verwurzelung von Brinkmanns Schaffen überhaupt. Der durch die Rahmung und Variation von Strophe eins und drei entstehende Gedanke, die Mittelstrophe könnte als das eigentliche Gedicht gelesen und interpretiert werden, wird also enttäuscht. Es entsteht zwar der Eindruck eines Gedichts im Gedicht, nur stellt die von Reflexionen über den Schreibvorgang gerahmte Passage erneut eine Kommentierung ihrer selbst dar. Weder soll metaphorisches Schreiben entschlüsselt, noch ein Stimmungsbild hervorgerufen werden, es handelt sich zunächst lediglich um angewandte Grammatik. Das gegenständliche Gedicht hat also die Enttäuschung der Leseerwartungen zur Aussage und erfüllt dieses Ziel, indem es rezeptionelle Mechanismen provoziert und mit gegenläufigen, selbstreflexiven Passagen aushebelt, denn »die Begierde nach Sinn wird als Arbeit und Unterwerfung des Lesers kenntlich, sobald dessen Automatismen in ihre Bestandteile zerlegt werden.«84 Unterstützt wird diese Strategie durch die Reimlosigkeit, zahlreiche Enjambements und die vollkommen fehlende Interpunktion. 4.2.2 Eine Kampfansage an die Metapher Um einen neuen Umgang mit sprachlichen Möglichkeiten erreichen zu können, muss Brinkmann zunächst tradierte ›Abrichtungsmechanismen‹ offen legen und zerstören. In der Lyrik bedeutet das vor allem eine Kampfansage an die metaphorische Sprachverwendung, denn »der Mond / den Eichendorff besang / ging längst hinüber ins Unbekannt«85. Metaphorische Wendungen können sowohl ein eigentliches, für einen bestimmten Sachverhalt normalerweise verwendetes Wort ersetzen und bilden somit einen verkürzten Vergleich (Substitutionstheorie) oder sie werden zum Füllen einer lexikalischen Leerstelle verwendet, für die keine eigene Bezeichnung existiert (Interaktionstheorie).86 Als literarische Figur
84 Bauer, Thomas: Schauplatz Lektüre. Blick, Figur und Subjekt in den Texten R. D. Brinkmanns, Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2002, S. 32. 85 Brinkmann, Rolf Dieter: »Ihr nennt es Sprache oder Spiegel an der Wand« (Ihr nennt es Sprache), in: Ders., Standphotos, 1980, S. 29. 86 Vgl. Kurz, Gerhard: Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen: Vanderhoeck & Ruprecht 2004, S. 7-9.
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wird die Metapher bewusst eingesetzt um einen Sachverhalt zu verbildlichen und zu abstrahieren, der in einer Ähnlichkeits- oder assoziativen Beziehung zur Bildstruktur des eigentlich Gemeinten steht. Dennoch lässt sich der Sinn einer Metapher nur andeuten; er erlangt seine Konkretisierung über den jeweiligen Kontext. Je geregelter die Bedeutungsmuster des Zusammenhangs sind, desto konkreter wird die Auslegung der metaphorischen Bedeutung.87 Dabei führt die Metapher in verstärkter Form vor, was für Sprache im Allgemeinen gilt, weil »mit der Frage nach der Metapher die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Sinn und Vorläufigkeit von Sinnstiftung aufgeworfen wird. Anders gesagt, im Begriff des Metaphorischen wird die beunruhigende Behauptung thematisch, dass in menschlichen Symbolzusammenhängen kein Zeichen die unmittelbare Garantie seiner Bedeutung mit sich führen und das Reden über die Welt kein schlüssiges Kriterium seines richtigen Verstandenwerdens artikulieren könne.«88
Dass das sprachliche Zeichen eine arbiträre Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant aufweist, führen metaphorische Wendungen besonders nachdrücklich vor, indem sie innerhalb des beliebigen Systems der materiellen sprachlichen Zeichen und der zugehörigen Bedeutungen neue Verknüpfungen festlegen. Im Laufe der Zeit treten innerhalb bestimmter Kommunikationssituationen Reglementierungen im Sprachgebrauch auf, die innerhalb ihrer kontextuellen Verankerung einen ganz bestimmten Vorstellungsbereich abrufen und ein relativ konkretes Bild provozieren. Damit tritt eine Mechanisierung und Abstrahierung in Kraft, die die eigentliche Beliebigkeit der Sinnsetzung nicht mehr bewusst in Erscheinung rufen und sich von der zugrunde liegenden sinnlichen Erfahrung weiter entfernen. Der Rezipient, der – beispielsweise innerhalb eines Gedichts – ein bestimmtes Bild entschlüsseln kann, ist also einem gewissen Abrichtungs-
87 Da das Phänomen der Metapher ein in Philosophie, Literatur- und Sprachwissenschaft sehr vielschichtig und kontrovers diskutierter Gegenstand ist, kann hier nur ein kleines Spektrum aller Eigenschaften und Erscheinungsformen aufgezeigt werden. 88 Müller-Richter, Klaus/Larcati, Arturo: Kampf der Metapher!, Wien: VÖAW 1996, S. 11.
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und Abstraktionsprozess unterzogen worden, indem er interpretativ die intendierte Bedeutung erkennen kann. Diese kalkulierte Art der Auslegung, wie sie im Fall von konventionalisierten, das heißt tradierten und oftmals klischeehaften, Metaphern und poetischen Wendungen auftritt, ist es, die Brinkmann vor allem ablehnt. Seine Kritik und Gegenstrategie wird innerhalb der ersten Strophe des Gedichts Schnee besonders nachdrücklich veranschaulicht: »Schnee Schnee: wer dieses Wort zu Ende denken könnte bis dahin wo es sich auflöst und wieder zu Wasser wird das die Wege aufweicht und den Himmel in einer schwarzen blanken Pfütze spiegelt, als wär er aus nichtrostendem Stahl und bliebe unverändert blau.«89
Das Wort ›Schnee‹, über das, wie die erste Strophe dies vorgibt, nachgedacht werden soll, wird exponiert: es bildet allein den Gedichttitel und wird in der ersten Zeile erneut aufgegriffen und mit einem Doppelpunkt vom Folgenden abgegrenzt. Wenn nun der Terminus ›Schnee‹ zu Ende gedacht werden soll, wäre eine rezeptionell tradierte Methode, Schnee im Rahmen des Gedichts in metaphorischer Verwendung zu verstehen, die auf einen
89 Brinkmann, Rolf Dieter: »Schnee« (La Chant du Monde), in: Ders., Standphotos, S. 40.
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poetisch konnotierten90 Sinngehalt verweisen soll. An die Grenzen des Begriffs zu kommen hieße dann, mögliche lyrische Bedeutungsaspekte zu erfassen. Brinkmann zerlegt das Vorstellungsbild allerdings, im Gegensatz zu abstrakten metaphorischen Verwendungsformen, in ganz konkretem, denotativem91 Sinn, wenn er den Schnee schmelzen lässt und den Begriff zu Ende denkt, indem er die bezeichnete Substanz in etwas anderes transformiert. Aufgrund dieser Konkretisierung und Explizitheit der Auflösung und der gezielten Rückbindung des Terminus ›Schnee‹ an seine ursprüngliche Bedeutungskomponente, fällt die Inszenierung der Signifikat- und Signifikantebene in Bezug auf ihren Referenten auf: Eigentlich soll ausdrücklich das Wort ›Schnee‹ zu Ende gedacht werden und nicht die dahinter vorgestellte Substanz. Dadurch wird die sinnliche, durch den Signifikanten überlagerte, Komponente stark gewichtet. Da das Gedicht zur Vermittlung von Sinnlichkeit Sprache benötigt, wird automatisch zu einem gewissen Grad abstrahiert und eine Distanz aufgebaut; dieser Sachverhalt zeigt sich in der verwendeten Konjunktivform: »wer / dieses Wort zu Ende / denken könnte / bis dahin / wo es sich auflöst / und wieder zu Wasser wird«92. Der Unmittelbarkeit der Darstellung und einer direkten Sprache kann sich also bestenfalls angenähert werden. Was das Gedicht aber transportieren kann, ist ein Bewusstsein für diese Zusammenhänge, einen direkten Verweis auf die unüberwindbare, aber anzustrebende Überbrückung der Kluft zwischen dem Wort, dem evozierten Vorstellungsbild und einem konkreten Realitätsausschnitt, so schreibt Brinkmann in seinem Gedicht Wolken in der vorletzten Strophe: »Du siehst hoch; du siehst ›Wolken‹. / Es sind dieselben, die in dem Wort Wolken sind«93. Ebenso wie das Wort ›Schnee‹, ist das Wort ›Wolken‹ eben nicht die reale Erscheinung des Bezeichneten, sondern vielmehr ihre verbale Repräsentation, was durch die Betonung der Gleichsetzung nachdrücklich bewusst wird. Durch diese Reflexion der Sprachverwendung und das Spiel mit der Signifikat/Signi-
90 Die Konnotation bezeichnet die weiter gefassten Bedeutungselemente eines Wortes, seine subjektiven, emotiven und individuellen Bedeutungskomponenten. 91 Mit der Denotation wird die engere Bedeutungsdimension eines Wortes, seine kontext- und situationsabhängige Grundbedeutung, beschrieben. 92 R. D. Brinkmann: »Schnee«, in: Ders., Standphotos, S. 40. 93 Brinkmann, Rolf Dieter: »Wolken« (Gras), in: Ders., Standphotos, S. 361.
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fikant/Referenz-Beziehung wird die Selbstverständlichkeit abstrakter, tradierter Interpretationsversuche ad absurdum geführt und, ähnlich wie im vorhergehenden gegenständlichen Gedicht, wiederum zerdacht und zersetzt. Auf dieser kritischen Basis ist Brinkmann darum bemüht, einer direkten, klaren Sprache, möglichst frei von metaphorischer Aufladung und einer lyrischen Form ohne Reime und deutliche Sinnzäsuren am Satz- oder Zeilenende nahe zu kommen, die es zulässt, »Empfindungen ganz dinglich konkret zu sagen«94. Der Alltag hält auf formeller, durch eine einfache, klare Sprache, wie auch auf inhaltlicher Ebene, etwa in Form schlichter Schilderungen einer dinglichen Umgebung, in das Gedicht Einzug. Sprachlich und inhaltlich wird versucht, das ›Charakterkorsett‹ der Wörter zu sprengen und die »Blindbegriffe, die uns abrichten jeden Impuls ersticken, es anders zu sehen«95 zu eliminieren. Durch die »Individualisierung des Schreibens«96 soll der Leser maximal einbezogen und aufgrund der durch die Einfachheit und Direktheit erzielten Irritation sensibilisiert werden. Jenseits tradierter metaphorischer Sprachverwendung sollen mit Hilfe einer Schreibweise, die anstrebt, gängige Muster zu erweitern und sich deshalb der Arbeitsweise anderer Formen medialer Vermittlung annähert, neue augenblickliche Bilder von Situationen und Realitätsausschnitten geschaffen werden. Auf dieser Grundlage unternimmt Brinkmann den Versuch, Bild- und Vorstellungsmechanismen zu bedienen, die auf sinnlicher Ebene funktionieren, statt sich in tradierten metaphorischen Wendungen zu erschöpfen, denn »[w]er denkt / dann noch an / gewagte Metaphern / angesichts so vieler / Ausdrucksmöglichkeiten / für einunddasselbe/ Bild?«97. Das Anliegen einer sprachkritischen Literaturerneuerung ist die Voraussetzung für Brinkmanns intermediales Beschäftigungsfeld, das sich bereits in seinen ersten Gedichtbänden in Form der Orientierung an der Arbeitsweise von Photographie, Film und Musik und deren Integration innerhalb literarischer Methoden der Beschreibung bemerkbar macht, wel-
94 R. D. Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 41. 95 R. D. Brinkmann: »Notizen 1969 zu amerikanischen Gedichten und zu dieser Anthologie«, in: Ders. (Hg.), Silverscreen, S. 12-13. 96 Ebd., S. 16. 97 Brinkmann, Rolf Dieter: »Wechselt die Jahreszeit« (La Chant du Monde), in: Ders., Standphotos, S. 68.
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che zunächst anhand unterschiedlicher Relationen zwischen Text und Bild beziehungsweise Lyrik und Photographie illustriert werden soll.
4.3 S NAP S HOT -P OESIE 98. L YRIK UND P HOTOGRAPHIE »Sehen:klack, ein Foto!: Gegenwart, eingefroren.«99
Das erste Beispiel für intermediale Relationen zwischen Text und Bild im Werk Rolf Dieter Brinkmanns ist das Zusammenspiel zwischen photographischer Ästhetik und Lyrik. Die Einflüsse von Photographie auf seine Texte bleiben nicht auf die Gedichte beschränkt, sie zeigen sich durchaus auch in seinem Roman100 oder seinen Erzählungen. Verschiedene Vertextungsverfahren treten allerdings in der Lyrik am deutlichsten hervor, da hier einzelne Phänomene isoliert und konzentriert auszumachen sind. Außerdem ist für Brinkmann »das Gedicht die geeignetste Form [...], spontan erfasste Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten. Jeder kennt das, wenn zwischen Tür und Angel, wie man so sagt, das, was man in dem Augenblick zufällig vor sich hat, zu einem präzisen, festen, zugleich aber auch sehr durchsichtigen Bild wird, hinter dem nichts steht scheinbar isolierte Schnittpunkte. Da geht es nicht mehr um die Quadratur des Krei-
98
Mit Snapshot Poetics ist ein Buch von Allen Ginsberg betitelt, das Photographien des Autors mit darunter angeführten kurzen Geschichten und Kommentaren enthält (Ginsberg, Allen: Snapshot Poetics, San Francisco: Chronicle Books 1993). Der Terminus ist im Rahmen dieser Arbeit nicht im Sinne Ginsbergs verwendet, sondern bezieht sich lediglich auf die spezifische Ästhetik Brinkmanns.
99 100
R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 130. Vgl. die Ausführungen Martin Huberts zur Bildlichkeit in Keiner weiß mehr (Hubert, Martin: Politisierung der Literatur – Ästhetisierung der Politik, Frankfurt am Main: Lang 1992, S. 253-261).
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ses, da geht es um das genaue Hinsehen, die richtige Einstellung zum Kaffeerest in der Tasse«101.
Brinkmanns Vorliebe für photographische Abbildungen lässt sich zunächst aus seiner leidenschaftlichen Betätigung als Photograph erklären, von der zahlreiche, seinen Werken beigefügte Bilder zeugen. Seine Photographien wehren sich gegen eine künstlerische Gestaltung nach traditionellen Richtlinien, die vor allem harmonisch komponierte und technisch ausgefeilte Abbildungen als photographisch gelungen begreift.102 Seine Motive sind nicht nach festgelegten Kriterien ausgewählt, sondern scheinen zufällig und häufig unspektakulär. Unterstrichen wird der Eindruck eines spontanen Schnappschusses durch die Setzung der Motive ins Bild. Oftmals sind Dinge und Personen am Rand abgeschnitten oder nur verschwommen und verwackelt zu erkennen und können daher nur erahnt werden. Brinkmanns Ziel der Dokumentation einer subjektiven Realität ist für sein Verständnis von Photographie, ebenso wie für seine Textproduktion, zentral. Vor dem Schießen eines Photos soll weder Reflexion einsetzen, noch sollen Kompositionsgedanken oder Perspektivüberlegungen einfließen; wie im Text soll auch hier eine subjektiv authentische Momentaufnahme entstehen, die einen möglichst unverfälschten Eindruck vermittelt. Seine Texte referieren daher auf ästhetische und thematische Elemente, die seinen photographischen Vorstellungen und Arbeiten entsprechen. Die sprachliche Orientierung an der photographischen Technik und Wirkung bezieht sich vor allem auf die Merkmale der Oberflächlichkeit und auf die Begrenztheit des gewählten Bildausschnitts. Gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchen
101
Brinkmann, Rolf Dieter: »Notiz« (Die Piloten), in: Ders., Standphotos, S. 185.
102
Vgl. beispielsweise die maßgeblichen Kriterien für besonders künstlerisch wertvolle ›gestellte‹ Photographien, die durch Disderi 1862 leitend waren: angenehmes Äußeres; sauberer Gesamteindruck; Schatten, Halbtöne, Helligkeit gut herausgehoben; natürliche Proportionen; Einzelheiten in den Schatten; Schönheit (vgl. G. Freund: Photographie und Gesellschaft, S. 77). Seitdem hat sich, dem jeweiligen Kontext entsprechend, einiges an der Vorstellung von Erscheinungsformen und den Aufgaben der Photographie geändert, bestimmte Qualitätskriterien für besondere Typen von Photographien bestehen jedoch bis heute.
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Mitteln eine Photographie gestaltet ist, ihr Inhalt bleibt immer ein erstarrter Moment eines optischen Sinneseindrucks, der im Rahmen des entwickelten photographischen Bildes ausschnitthaft und rein visuell einen eingefrorenen Aspekt der Realität vor Augen führt. In Brinkmanns Lyrik sind diese Eigenschaften der Photographie auf unterschiedliche Weise inspirativ für die Textgestaltung. Von Bedeutung für Brinkmanns Schreibweisen, die auf Bilder referieren ist der grundlegende Unterschied zu zeitgenössischen Gedichten, nämlich, »dass nicht mehr in Wörtern gedacht (und gelebt) wird, sondern in Bildern«103. Im Moment des Beschreibens eines Bildes, gleichgültig, ob ausgehend von einer realen Situation oder einem Eindruck, der durch eine betrachtete Abbildung ausgelöst ist und sprachlich festgehalten wird, ist der Augenblick, auch wenn er direkt niedergeschrieben wird, immer schon Vergangenheit und somit Erinnerung. Daraus entsteht, diesmal in Worten, wieder ein »Bild (Vorstellungsbild, Gehirnbild) (Postkartenbild, Erinnerungsbild), wieder: Licht, Helligkeit, Klarheit – in der Erinnerung: Erinnerung als eine Dunkelkammer? Photo entwickeln, mit Licht, klar machen, deutlich machen, was? Einen gespeicherten Gehirnvorgang, worin das Gefühl festsitzt?«104
Brinkmanns Gedichte aus der ›Dunkelkammer‹ des Gehirns lassen sich in zwei modifizierte formale Erscheinungsformen unterteilen. 4.3.1 Das geschlossene Bild Den ersten Komplex der auf Photographie referierenden Gedichte bilden vor allem frühe lyrische Arbeiten, die ihre formale Ausrichtung an unmittelbare Eigenschaften einer photographischen Darstellung anlehnen. Brinkmann versucht, Oberflächlichkeit zu versprachlichen, wodurch dem Terminus aufgrund seiner Übertragung auf die Möglichkeiten eines anderen Zeichensystems eine modifizierte Bedeutung zukommt. Während die Darstellung von Oberflächen eine Grundbedingung photographischer Aus-
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R. D. Brinkmann: »Notizen 1969 zu amerikanischen Gedichten und zu dieser Anthologie«, in: Ders. (Hg.), Silverscreen, S. 30.
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R. D. Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 55.
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drucksmöglichkeiten ist, bildet sie auf literarischer Ebene eine Thematik, die wie alle anderen Inhalte auch, durch Beschreibung vermittelt werden muss. Oberflächlichkeit erfüllt sich auf textueller Ebene durch die äußerst reduzierte Bedeutungsaufladung der sprachlichen Zeichen, durch ein möglichst »›unritualisiertes Sprechen‹«105. Aufgrund der Unterschiedlichkeit photographischer106 und sprachlicher Semiotik hat die Photographie das Problem der Sinngebung, Interpretation und Konnotation nicht in diesem Maße. Sprachliche Zeichen sind von Grund auf symbolisch. Sie stellen einen Bezug zwischen Signifikat und Signifikant durch ihre historische und konventionelle Motivierung her, ansonsten besteht kein natürlicher oder kausaler Zusammenhang zwischen der Bezeichnung und dem Bezeichneten.107 Übertragen auf die literarische Ebene, welche Sprache nicht in erster Linie denotativ verwendet, sondern eine eigene Konnotation durch traditionelle literarische Muster oder die Intention des Autors beinhaltet, gewinnt der poetische Kontext der Sprachverwendung in erheblichem Maße an Wichtigkeit.108 Durch die Literaturgeschichte, spezielle Eigenschaften einer Gattung oder den Autor werden bestimmte tradierte oder implizierte Muster sprachlicher Verwendung Bedeutungskonnotate, die vom ursprünglichen Übereinkommen den Sinngehalt betreffend abweichen und diesen erwei-
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Ebd., S. 44.
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Für die Photographie gibt es keine eigene semiotische Methodik (vgl. U. Volli: Semiotik, S. 238). Ich möchte versuchen, die Verschiedenheit ihrer semiotischen Dimension in Abgrenzung zur Sprache herauszustellen, auch wenn die wissenschaftlichen Kategorien der Beschreibung auf diesem Gebiet nicht eindeutig sind.
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Auf bestimmte sprachphilosophische und linguistische Ansätze, die unterschiedlich diskutieren, wie Zusammenhänge genau funktionieren, wie einzelne Faktoren benannt werden und welche Momente bei semantischen Vorgängen beteiligt sind, kann ich hier nicht eingehen. Es sei angemerkt, dass es viele unterschiedliche Vorstellungen zu dieser Thematik gibt und dass ich in meinen Ausführungen nicht konkret eine spezifische Theorie aufgreife, sondern beschreibend möglichst unumstrittene Eigenschaften des sprachlichen Zeichens darstelle.
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Dies ist eine verbreitete Auffassung von Sprache, die ich als Grundlage für meine Ausführungen verwenden möchte. Erwähnt sei, dass divergierende Modelle existieren, die ich hier allerdings nicht diskutieren kann.
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tern. Diese Prozedur ist nach Brinkmann allerdings nicht im Sinne einer Bedeutungsöffnung zu verstehen, die es erlaubt, dass der Rezipient kreativ und produktiv in die Deutung miteinbezogen wird, sondern der Leser ist dadurch veranlasst, bestimmte literaturinterne Konnotate nachzuvollziehen. Um auf eine direktere Art beschreiben zu können bedient sich Brinkmann einer einfachen, antipoetischen und lakonischen Sprache, die zwar klarer denotiert, dadurch aber dem Leser eine größere Möglichkeit an sinnlichen Vorstellungsbildern erlaubt, weil sie unmittelbar auf den Referenten verweist und dadurch Wahrnehmung und Sinne ansprechen soll. Diese oberflächliche Darstellungsart bestimmter Situationen ist an die Arbeitsweise des Zeichensystems der Photographie angelehnt. Photographische Darstellungen bilden Realitätsmomente unter Berücksichtigung der medial bedingten technischen Entfremdung vergleichsweise wirklichkeitsgetreu ab. Ihre Zeichen sind ikonischer Art109, sie sind durch ihre Ähnlichkeitsbeziehung zu dem Objekt charakterisiert, das sie wiedergeben. Während die Bedeutung des Symbols durch Konvention entsteht, stellt das Ikon seinen Sinngehalt selbst dar; die Rolle, die dem Rezipienten des ikonischen Zeichens zukommt, ist zunächst lediglich die sinnliche Erfassung des abgebildeten Szenarios oder Motivs. Emotionen, Gefühle und jegliche das Visuelle überschreitende Inhalte können zwar von Photographen intendiert und nachdrücklich inszeniert, also visualisiert werden, letztendlich bleibt aber eine Darstellung rein optischer Elemente wegen ihrer vergleichsweise großen Unmittelbarkeit und Genauigkeit immer abhängig von der Bedeutungsgebung des Betrachters. Zu einem gewissen Grad gilt dies auch für die Literatur, die ebenso durch die Interpretation des Rezipienten Wirkung entfaltet. Auf textueller Ebene kann die Lenkung des Lesers durch die inten-
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Es besteht keine Einigkeit darüber, ob Photographie als Ikon oder Index bezeichnet wird. Bei dem Terminus Ikon steht eher die Ähnlichkeit zwischen Realität und Abbildung im Mittelpunkt, der Begriff Index hingegen fokussiert das Moment der Technik einer Photographie, deren Grundvoraussetzung ein realer Gegenstand ist, auf den die photographische Darstellung wiederum verweist. Ich habe mich für den Begriff des ikonischen Zeichens entschieden, da die Definition des Ikons als dem dargestellten Objekt oder Subjekt ähnlichen Zeichen für mich die technische Komponente und den Verweisungscharakter nicht ausschließt, sondern beide Elemente durchaus Bestandteil einer spezifischen Ähnlichkeitsbeziehung sein können.
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dierten Inhalts- und Wirkungsvorstellungen des Autors forcierter erfolgen. Genau diesen Mechanismus zwischen Sinnstiftung und Lesewirkung gilt es nach Rolf Dieter Brinkmann auszuschalten. Ein alltäglicher Eindruck soll unmittelbar übertragen werden. Dabei soll die Abschirmung der direkten sinnlichen Dimension, durch sprachliche Uneigentlichkeit in Form von bedeutungsschwangeren Wortkompositionen vermieden werden, da sie den Leser anstatt ihn zum sinnlichen Nachvollziehen zu animieren zum Rezipienten vorgefertigter Wirklichkeitsdeutung umfunktioniert. Mehrmals wurde auf den Trugschluss hingewiesen, die Photographie führe ihrem Betrachter streng mimetisch und objektiv einen Realitätsausschnitt vor; im Vergleich zur Literatur muss allerdings festgehalten werden, dass durch die Unterscheidung zwischen der Bild- und Textsemiotik die Zeichen der Sprache eben gerade durch ihre Mittelbarkeit und Künstlichkeit symbolisch weit mehr vorbelastet sind und daher eher zu einer rezeptionsleitenden Sinngebung tendieren als die konkret abbildende Arbeitsweise photographischer Ausdrucksmöglichkeiten, die im reinen Darstellen schon zeigt, was zugleich ihre Aussage ist. Jegliche das Visuelle übersteigende Bedeutung kann hinzugefügt werden, ist aber für die Bildbetrachtung nicht unbedingt wesentlich, während sprachliche Zeichen immer symbolisieren und somit die Interpretation weit höher stellen und gezielter forcieren als die bildliche und sinnliche Erfassung eines Augenblicks. Das Darstellen von Oberfläche, das Beschreiben eines Moments, der augenblicklich einfach nur da ist und sonst keiner weiteren Interpretation oder Analyse bedarf, sondern sich in seiner Bildlichkeit und Sinnlichkeit erschöpft, ist das Ziel, das Brinkmann durch die Übernahme photographischer Darstellungstechniken innerhalb der Möglichkeiten eines Textes verfolgt. Den erklärten Sachverhalt beschreibt er selbst folgendermaßen: »[I]ch finde gewöhnliche Sachen schön, weil sie nichts bedeuten, und dass sie nichts bedeuten, ist ihre Tiefe – je weniger ›etwas‹ Bedeutung hat, desto mehr ist es ›es selbst‹ und damit Oberfläche und allein Oberflächen, wie jeder weiß, sind ›tief‹!«110
Charakteristisch für die Umsetzung der Darstellungstechniken und Eigenschaften photographischer Abbildungen in besonders radikaler Form ist das
110
Brinkmann, Rolf Dieter: »Anmerkungen zu meinem Gedicht ›Vanille‹«, in: J. Schröder (Hg.), Mammut, S. 141-147, S. 142.
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Gedicht Photographie, das durch die paratextuelle Thematisierung bereits ankündigt, welchen fremdmedialen ästhetischen Bezugspunkt es im Hinblick auf seine Gestaltung simuliert: »Photographie Mitten auf der Straße die Frau in dem blauen Mantel.«111
Ein begrenzter Realitätsausschnitt wird möglichst objektiv und unmittelbar äußerst reduziert beschrieben. Wie bei einem Schnappschuss scheint der für das Gedicht ausgewählte Moment zufällig. Inhaltlich wird die Situation nicht näher ausgeführt. Eine Frau in einem blauen Mantel befindet sich mitten auf einer Straße; warum dies so ist, ob sie dieselbe überquert oder ob sie stillsteht, wird nicht gesagt. Die bestimmten Artikel der Substantive erklären sich allein dadurch, dass ein wahrnehmendes Subjekt diese Person in diesem Moment gesehen haben muss. Dadurch werden die Augen des Schriftstellers mit denen des Photographen parallelisiert, der durch seine Dokumentation einer Szene Rechenschaft über seine sinnliche Beteiligung ablegt, sich jedoch so weit aus dem verbildlichten Moment zurückzieht, dass für den Rezipienten der Eindruck entsteht, er selbst befinde sich vor der unmittelbaren, objektiven Reproduktion eines Realitätsausschnittes. Beim Versuch der Deutung der vorliegenden versprachlichten Oberfläche wird schnell klar, dass traditionelle Kategorien der Gedichtinterpretation wenig Aufschluss über eine mögliche Aussage zulassen, außer vielleicht den Hinweis auf die Negation sämtlicher Merkmale und Erwartungen, die an ein Gedicht gestellt werden. Rolf Dieter Brinkmann ist der Ansicht, »dass ein derartiger Blick [wie er in Frank O’Haras und seinen eigenen Gedichten implizit zu Ausdruck kommt] keineswegs auf vertraute funktionale Zusammenhänge
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Brinkmann, Rolf Dieter: »Photographie« (Le Chant du Monde), in: Ders., Standphotos, S. 52.
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gerichtet ist, vielmehr auf die eigene Perspektive des Autors verweist, – es ist der letzte Blick, der wieder wie der erste ist, weil er nicht verleugnet, dass, was immer er auch sammelt, Oberfläche ist, jetzt und jetzt und jetzt und jetzt ... wir leben in der Oberfläche von Bildern, ergeben diese Oberfläche, auf der Rückseite ist nichts – sie ist leer. Deshalb muss diese Oberfläche endlich angenommen werden, das bildhafte täglichen Lebens endlich ernst genommen werden, indem man Umwelt direkt nimmt und damit die Konvention ›Literatur‹ auflöst, auch die der ›revolutionären Literatur‹, hinter der sich ein verrotteter romantischer Glaube, ein fades Prinzip Hoffnung an Literatur als vorrangiges Heilmittel verbirgt.«112
Dieses Anliegen spiegeln sowohl der Inhalt als auch die Form seiner Gedichte wider. Das Beispiel Photographie ist ungereimt; die Zeilenumbrüche verhindern automatische Sinnzäsuren des Lesers, was dazu führt, dass die einzelnen Zeilen sich lediglich dadurch verbinden, dass sie zusammen einen unvollständigen Satz bilden, dessen Komponenten so arrangiert sind, dass das Gedicht sich nicht hauptsächlich von rechts nach links ausdehnt, sondern sich, vor allem in Anbetracht seiner Kürze, extrem von oben nach unten streckt. Darin kann man ein Anzeichen für die Betonung der Flächigkeit sehen, die inhaltlich in der Fokussierung der Oberfläche ihr Pendant hat, denn die Thematik ist ebenso alltäglich und ›antilyrisch‹ wie die Form. Das beschreibende Subjekt zeigt sich nicht direkt im Text, es ist lediglich dadurch vorhanden, dass der Augenblick, durch die Wahrnehmung einer Person gefiltert, zur Verbalisierung gelangt. Dabei entsteht ein sprachlich eingefrorener Wahrnehmungsmoment, der durch das Fehlen des Verbs jeglicher Dynamik beraubt wird. Brinkmann versucht nicht, einen Sinn direkt zu vermitteln, sondern er fordert eine von gehaltvollen Dimensionen befreite Vorstellungskraft, die den Leser dazu veranlasst, sich diese kleine Szene bildlich vor Augen zu führen mit allen assoziativen, emotionalen und sinnlichen Momenten, die diese minimalen Informationen über eine Situation evozieren und zulassen. Dadurch, dass nahezu keinerlei Anhaltspunkte für die Interpretation gegeben werden, muss der Betrachter sich auf das beschriebene Bild einlassen, es gewissermaßen durch seine Vorstellung aus der Erstarrung lösen und dadurch mit Tiefe und Gehalt füllen, welche allein durch seine Betrachtung entstehen. Brinkmanns Versuch, den Leser sinn-
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R. D. Brinkmann: »Die Lyrik Frank O’Haras«, in: F. O’Hara, Lunch Poems und andere Gedichte, Köln 1969, S. 62-75, hier S. 69.
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lich zu animieren und seine Vorstellungskraft zu aktivieren, drückt gleichzeitig die Negation des Abrichtungscharakters traditioneller Formen literarischer Sinnvermittlung aus, der sein Ziel der Emanzipation des Lesers gegenübersteht. Dasselbe Prinzip der Beschreibung eines alltäglichen Moments im Rückgriff auf die Darstellungstechniken des Snap Shots weist Brinkmanns Gedicht Geschlossenes Bild auf: »Geschlossenes Bild Überraschend die zufällige Anordnung des Aschenbechers der Tasse, der Hand zu einem geschlossenen Bild. Keiner kann sagen, hier wird gelebt.«113
Wie beim vorhergehenden Beispiel Photographie wird auch hier äußerst verknappt ein Betrachtungsmoment einer alltäglichen Szene oder ihre Abbildung geschildert. Der erste Satz bleibt wiederum das Prädikat schuldig, was eine Eliminierung jeglicher Handlung zufolge hat. Das versteckte lyrische Ich erscheint nur durch die Tatsache, dass die einzelnen Wahrnehmungsmomente, der Aschenbecher, die Tasse und die Hand, sich in seinem Blick bündeln, ansonsten nimmt es sich und seine Interpretation des versprachlichten Augenblicks so weit wie möglich zurück. Auch durch den zweiten kommentierenden Satz tritt nicht direkt eine subjektive Stimme hervor, sondern die an der photographischen Darstellung orientierte Ästhetik des Gedichts wird auf evozierende Weise unterstrichen, indem eine Befindlichkeit oder ein Eindruck implizit durch die Art und Weise der Beschreibung auf die Tatsache des erstarrten Moments und der Leblosigkeit der Photographie verweist. Durch die bloße Aufzählung einzelner Gegenstände, die sich zu einem geschlossenen Bild zusammenfügen, wird
113
Brinkmann, Rolf Dieter: »Geschlossenes Bild« (Le Chant du Monde), in: Ders., Standphotos, S. 57.
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der Rezipient im Lesevorgang zu einer analysierenden Betrachtungsweise bewegt, die aus der vorherigen Bündelung der Elemente zu einem Gesamtbild erfolgt und die für die Betrachtung photographischer Darstellungen typisch ist. Einzelne Ausschnitte, die innerhalb einer Photographie nicht zwingend in einem kausalen oder logischen Zusammenhang stehen müssen, lassen sich isoliert voneinander betrachten und bilden doch zusammengezogen eine durch einen geschlossenen Rahmen fixierte Einheit. Diese Darstellungsmethode simuliert Brinkmann, worauf zunächst der Titel aufmerksam macht, der gewissermaßen die folgenden Wahrnehmungsfragmente bündelt. Zufälligkeit und Überraschung thematisieren Eigenschaften und Wirkungsweisen eines Schnappschusses, auf dem sich zunächst zufällig gemeinsam photographierte Elemente unwillkürlich zu einer Komposition zusammenfügen. Als weitere Komponente photographischer Eigenheit wird durch den auf die Beschreibung folgenden Nachsatz die Erstarrung des wahrgenommenen Moments betont. Dabei wird die Kombination und Verschränkung zwischen der Medienthematisierung und der gleichzeitigen Umsetzung ihrer Darstellungstechniken besonders deutlich und somit die intermediale Relation intensiviert. Auch dieses Gedicht betont vornehmlich einen eingefrorenen Realitätsmoment, der, wiederum durch das ›sich ins Bild begeben‹ des Lesers, belebt werden soll. Brinkmann richtet folgende Frage und Aufgabe an die Rezipienten: »Was ist da und fordert sie heraus? Fügen sie das den Gedichten, die sie mögen hinzu. In dem Augenblick werden es ihre Gedichte und sie gehören zu den Gedichten. Eine einheitliche Sensibilität jenseits der Sprachbarrieren entsteht. Keiner ist ausgeschlossen.«114 Dieses Rezeptionskonzept entspricht im Wesentlichen der Beschreibung photographischer Betrachtung von Roland Barthes, welche im Fall des punctums115 auftritt116: »Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner
114
R. D. Brinkmann: »Notizen 1969 zu amerikanischen Gedichten und zu dieser Anthologie«, in: Ders. (Hg.), Silverscreen, S. 10.
115
Barthes definiert das punctum in Abgrenzung zum studium. Sich aus Gründen des studiums für Photographien zu interessieren, heißt, sie auf einen bestimmten Zweck hin zu betrachten, beispielsweise, sie als Zeugnisse politischer oder kultureller Geschehnisse zu sehen oder sie als anschauliche Historienbilder zu schätzen. Der Betrachter hat in diesem Fall Teil an den kon-
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Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft)«117 und später: »Wenn man die PHOTOGRAPHIE als unbewegtes Bild definiert, so heißt das nicht nur, dass die darauf dargestellten Personen sich nicht bewegen können, sondern auch, dass sie nicht aus dem Rahmen treten: sie sind betäubt und aufgespießt wie Schmetterlinge. Sobald jedoch ein punctum da ist, entsteht (erahnt man) ein blindes Feld: aufgrund ihrer Halskette besaß die sonntäglich gekleidete Negerin für mich ein ganzes Leben, dass sich außerhalb ihres Porträts abspielte«118.
Das punctum stellt im Bezug auf die Photographie einen zufälligen, mit auf die Abbildung gebannten Moment dar, der dem Rezipienten, aus welchen Gründen auch immer, ins Auge sticht und ihn zur Belebung des unbewegten Bildes anregt, indem er durch diesen beliebigen Auslöser assoziativ zu Vorstellungen verleitet wird, die über den dargestellten Moment hinausgehen. Auf die genannten lyrischen Beispiele ließe sich die Vorstellung des punctum dahingehend übertragen, dass Brinkmann versucht, den Leser durch die Beschreibung eines erstarrten, zufälligen, gewöhnlichen Realitätsmoments zu irritieren oder zumindest zu überraschen, in der Hoffnung, der Rezipient sei durch ein Element des beschriebenen Augenblicks inspiriert, sich dieses Bild vor Augen zu führen. Puncta der beiden genannten ›Schnappschüsse in Worten‹ von Rolf Dieter Brinkmann könnten beispielsweise der blaue Mantel des Gedichts Photographie sein oder die Hand, die das geschlossene Bild dahingehend stört, dass sie die einzige nicht dingliche Komponente darstellt, aber ebenso wie leblose Gegenstände in die Aufzählung eingegliedert ist. Während auf die Photographie bezogen das punctum das erstarrte Bild beleben soll, also eine Geschichte zum Bild schafft, muss der beschriebene eingefrorene Moment erst einmal in bildlicher Form entstehen. Hier wirkt das punctum also in entgegengesetzter Richtung: Der Text motiviert die bildliche Vorstellung. Dieser Unterschied
ventionellen Informationen eines Bildes, die seinem kulturellen Wissen entspringen. Im Gegensatz dazu beschreibt das punctum den affektiven Blick. 116
Vgl. R. Barthes: Die helle Kammer.
117
Ebd., S. 36.
118
Ebd., S. 66.
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ist durch die verschiedenen, nicht zu überwindenden Grundvoraussetzungen bildlicher und textlicher Darstellungen bedingt. Da das punctum subjektiv motiviert und individuell verschieden ist, gibt es sowohl Photographien, die mehr oder weniger zu assoziativen Vorstellungen anregen als auch Gedichte Brinkmanns, die stärker zum sinnlichen Nachvollzug einladen. Die Fälle, die für gelungen gehalten werden, mögen je nach Rezipient variieren. Die Idee des punctums als Bestandteil der an der Photographie orientierten literarischen Ästhetik Brinkmanns lässt sich auch innerhalb der zweiten Methode der Integration photographiespezifischer Eigenschaften wiederfinden. 4.3.2 Das Ding, das das Bild zerstört Das zweite Beispiel der Integration einer photographischen Ästhetik unterscheidet sich von den genannten exemplarischen Gedichten zur Übernahme photographischer Darstellungstechniken dahingehend, dass nicht mehr nur bestimmte spezifische Methoden wirksam für die Textgestaltung sind. Vielmehr beziehen Brinkmanns Gedichte in Form einer vertexteten Blitzlichtaufnahme einen individuellen photographietypischen Rezeptionsvorgang des beschreibenden Subjekts mit ein. In diesen lyrischen Beispielen werden »Bilder gegeben [...], andere Vorstellungen (images), die sinnliche Erfahrung als Blitzlichtaufnahme; es passiert nicht die Zurückbiegung des Gedichts auf ein Sprachproblem oder auf unpersönliche Metaphern oder auf das bloße Allgemeine (der ›Politik‹), denn das Leben ist ein komplexer Bildzusammenhang. Es kommt darauf an, in welchen Bildern wir leben und mit welchen Bildern wir unsere eigenen Bilder koppeln.«119
Genauso, wie die Blitzlichtaufnahme einen Schnappschuss gewissermaßen durch die unnatürliche Weise der Beleuchtung inszeniert, ist bei Gedichten im Sinne einer vertexteten Blitzlichtaufnahme der Produzent in stärkerem Maße beteiligt. Fremdmediale Spezifika werden ins literarische Medium übersetzt, indem ihre Wirkungsweise verbalisiert wird. Dies geschieht nicht
119
R. D. Brinkmann: »Notizen 1969 zu amerikanischen Gedichten und zu dieser Anthologie«, in: Ders. (Hg.), Silverscreen, S. 8.
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auf narrativer Ebene in Form einer Thematisierung, vielmehr wirken photographietypische Darstellungstechniken, kombiniert mit der gleichzeitigen Übersetzung des Rezeptionsvorgangs einer photographischen Darstellung, ins sprachliche Medium. Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass auch die Simulierung einer analytischen Betrachtungsweise oder die Verschiebung des Oberflächenbegriffs innerhalb eines Textes schon eine Übersetzung fremdmedialer Spezifika darstellt. Hiermit ist ein generelles Problem angesprochen, auf das ich schon innerhalb meiner Definition intermedialer Formen hingewiesen habe, nämlich dass alle Verfahren der Integration fremdmedialer Relationen beim Ausgangspunkt Literatur gleichermaßen nur innerhalb der sprachlichen Möglichkeiten vorzufinden sind. Eine Unterscheidung zwischen der Simulation von Darstellungstechniken und der Vertextung von Wirkungsweisen sehe ich dadurch gerechtfertigt, dass die Betonung eines photographiespezifischen Rezeptionsvorgangs nicht mehr Element der Darstellungstechnik ist, sondern über sie hinausgeht. Zwar ist die Art und Weise der subjektiven Erfassung der photographieeigenen Semiotik abhängig von ihrer Abbildungsmethodik, die sprachliche Integration der Rezeption allerdings ist kein Bestandteil einer Technik, sondern vielmehr eine Übersetzung eines speziellen sinnlichen Erfassens in Worte. Folgendes lyrisches Beispiel soll diesen Sachverhalt verdeutlichen: »Einfaches Bild Ein Mädchen in schwarzen Strümpfen schön, wie sie herankommt ohne Laufmaschen. Ihr Schatten auf der Straße ihr Schatten an der Mauer.
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Schön, wie sie fortgeht in schwarzen Strümpfen ohne Laufmaschen bis unter den Rock.«120
Ausgangspunkt für Brinkmann ist wiederum ein einfaches Bild, nämlich ein Mädchen, das am beschreibenden Subjekt vorübergeht. Zwar ist hier ebenfalls ein flüchtiger Moment versprachlicht, der ästhetisch ähnlich den oben genannten Szenen umgesetzt ist, die Augenblicksaufnahme ist im Falle des einfachen Bildes allerdings näher ausgeführt, denn sie enthält gewissermaßen den Ansporn und Auslöser, der implizit erklärt, warum eben genau diese Szene ausgewählt wurde. Die Integration des zufälligen bannenden Moments entspricht der Definition des punctums, das dem Betrachter von Photographien in den Blick geraten kann. Verstärkt wird der Gedanke an eine Photographie auch durch die Betonung des Schattens, den das Mädchen wirft, welcher eine starke Beleuchtung voraussetzt, ein InsBild-setzen der Person andeutet.121 Die genauere Beschreibung des Mädchens ist nicht systematisch angelegt, sondern das berichtende Subjekt ist von den schwarzen Strümpfen gebannt. Sie sind das einzige Detail, durch das die Person optisch näher charakterisiert wird. Die Starre des Bildes ist bereits aufgelöst, das Mädchen bewegt sich, und der Beschreibende und der Leser vollziehen die Aktion mit dem Blick auf die Beine der Frau gerichtet mit. Dieses punctum der schwarz bestrumpften Beine wusste den Blick des berichtenden Sub-
120
Brinkmann, Rolf Dieter: »Einfaches Bild« (Was fraglich ist wofür), in: Ders., Standphotos, S. 124.
121
Einfaches Bild wird von Jan Röhnert als intermedial kontaktnehmend zum Film interpretiert (vgl. J. Röhnert: Springende Gedanken und flackernde Bilder, S. 313-314). Der Aspekt der Bewegung kann aber auch durch das photographische punctum begründet werden, durch welches der Betrachter das starre Bild dynamisiert.
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jekts einzufangen und bildet für den Leser gleichzeitig den Ausgangspunkt seiner bildlichen Vorstellungen, da die Momentbeschreibung schon einen konkreten Fokus innerhalb des gewählten Ausschnitts setzt. Brinkmann selbst thematisiert diese Lenkung folgendermaßen: »Einfaches Bild (wieder ›Bild‹! Gleich Eindruck oben im Bewusstsein, Gegenwartsbewusstsein) [...] das Gedicht ist einfach schön und klar. Und wohin wird der sinnliche Eindruck geführt? Unter den Rock, an die Stelle, klar.«122 Der einfache Realitäts-Snap Shot, der Thema des Gedichts ist, präsentiert sich sprachlich in gewohnt oberflächlicher Manier, die Konzentration auf den Beinausschnitt der Person und die Bewegungsverfolgung aus dieser Perspektive übersteigen die Starre, betonen aber die Ausschnitthaftigkeit. Um eine freiere Vorstellungskraft zu ermöglichen, sind die einzelnen Wörter auseinandergerissen; nicht selten steht nur ein kurzes Wort allein in einer Zeile. Die Gestaltung des Gedichts auf der Fläche des Blattes kämpft gegen die Automatismen beim Lesen eines Satzes: »Und dann formal gesehen, einfach oft gegen die automatisch gemachten Sinnzäsuren (automatisch beim Lesen vom Leser gemachte Sinnzäsuren) die Zeilen zu brechen«123. Nach demselben Prinzip arbeitet auch der Mechanismus des punctums innerhalb der photographischen Rezeption. Somit wäre hier der Anstoß zum Gedicht und gleichzeitig die Rezeption eines isolierten Augenblicks mit der Darstellungsmethodik photographischer Techniken kombiniert, welche sich aus der bestehenden Ähnlichkeit zu den beiden oben zitierten Gedichten ergeben. Ein weiteres Beispiel für diese Art des Bezuges auf fremdmediale photographische Spezifika stellt das Gedicht Plastik dar: »Plastik Die Frau mit dem weißen Sommerhut die langsam einen Kinderwagen die Straße 122
R. D. Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 52.
123
Ebd., S. 41.
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hinunterschiebt was denkt sie. Dass sie einen Karren voll Laub vor sich her schiebt rosafarben, gleich Plastik? Oh, wie sie geht. Der weiße Hut in der Sonne weiß. Das weiße Gestänge. Und dann wenn sie fortgeht das Ding, das ihr Bild zerstört. Sie nicht allein, abwesend so wie sie endgültig verschwindet.«124
124
Brinkmann, Rolf Dieter: »Plastik« (Was fraglich ist wofür), in: Ders., Standphotos, S. 151.
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Wie im vorhergehenden Gedicht ist auch hier die Beschreibung des ausschnitthaften momentanen Bilds vom punctum des weißen Kinderwagens und dem punctum des Sommerhuts dominiert. Das geschlossene Bild der Frau, beleuchtet vom Sonnenlicht, und langsam einen Wagen schiebend wird aufgesprengt, indem retardierend immer wieder Hut und Wagen auftauchen und der selektive Realitätsmoment somit im Lesen eine Bewegung, eine Lenkung erfährt. Auch inhaltlich »ist der Vorgang des Gehens, der Bewegung von Körpern enthalten als Hauptmotiv«125. Das sich aus der Erstarrung lösende Bild wird im Gedicht selbst in Form einer evozierenden Übernahme photographischer Darstellungsmethoden durch das Aufgreifen der Bildmetaphorik verbalisiert. Die dadurch entstehende Rezeptionslenkung durch den größeren Anteil der Blickrichtung des beschreibenden Subjekts ist allerdings nicht im Sinn einer traditionellen Autorenintention zu verstehen. Nach wie vor geht es um die Erzeugung von Präsenz eines sinnlichen Vorstellungsbildes, nur mit dem Unterschied, dass subjektive Überlegungen und individuell stärkere Sinneseindrücke mit vermittelt werden. Wenn das versteckte lyrische Ich durch den Kinderwagen zu Überlegungen wie »was / denkt sie. Dass // sie einen Karren / voll / Laub // vor sich her / schiebt / rosafarben, gleich // Plastik?«126 angeregt wird, ist das noch keine Anleitung zur Deutung dieses Moments, sondern eher ein persönliches assoziatives Statement, das auf eine Bedeutungsebene hinter der Oberfläche hinweist. Daher stellen die Methode der Simulation photographischer Darstellungstechniken und die Kombination dieser formalen Komponente mit der Übersetzung fremdmedialer Spezifika zwei Spielarten desselben Anliegens dar. Im Fall der geschlossenen Bilder ist der Moment der Irritation des Lesers, der durch die äußerst verknappte Form und die lakonische Beschreibung entsteht, in höherem Maße gewährleistet. Bei Gedichten nach dem Schema der vertexteten Blitzlichtaufnahme treten das beschreibende Subjekt und die Rezeptionslenkung im Hinblick auf einen Auslöser zur Sinnesaktivierung stärker in den Vordergrund. Mit dem Einbeziehen einer Rezeptionsposition scheinen die Gedichte melodischer und konstruierter, was hauptsächlich durch die Verwendung des Stilmittels der Wiederholung und durch die Variation mehrmals aufgegriffener Sequenzen bedingt ist.
125
R. D. Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 79.
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R. D. Brinkmann: »Plastik«, in: Ders., Standphotos, S. 151.
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Der Effekt dieser etwas ›lyrischer‹ anmutenden Gedichte liegt darin begründet, dass der Leser durch die bereits vermittelte Wahrnehmungsstruktur leichter ins Bild findet und somit eher zur visuellen Vorstellung angeregt ist. Mit der Methodik der Übersetzung photographiespezifischer Eigenschaften, die durch die Integration des die Rezeption bestimmenden punctums in eine Handlung oder zumindest in eine Bewegung umgeformt wird, kündigen sich bereits cineastische Einflüsse an, auf die ich im folgenden Kapitel näher eingehen werde. Anmerken lässt sich zu sämtlichen genannten Beispielen der Bezüge zwischen Lyrik und Photographie, dass die Gedichte doch weit konstruierter sein müssen, um eine unmittelbare Bildpräsenz zu entwickeln, als man zunächst vermuten könnte. Die augenscheinliche Schlichtheit vereinigt zwei Momente, aus welchen sich die Wirkung ergibt, nämlich das literarische Verfahren, das sich in der lyrischen Form manifestiert, und die Reflexion auf die photographische Technik und Wirkung. Beide Komponenten müssen in der sprachlichen Gestaltung gleichermaßen berücksichtigt werden, um dem Gedicht zu seinem visuellen Potential verhelfen zu können. Ein Realitätsmoment wird durch eine photographische Darstellungsart verfremdet und diese Transformation wird wiederum unter den neuen Aspekten innerhalb der Bedingungen von Sprache ausgedrückt. Daher ist die theoretische Dimension, die sich keineswegs in der rein spontanen Verschriftung eines Eindrucks erschöpft, sondern stets die Semiotik der Photographie mitreflektiert, enorm. Ebenso können die sparsamen Begrifflichkeiten, aus welchen die Gedichte bestehen, kaum beliebig gewählt werden, weil jedes einzelne Wort auf sein klares denotatives Potential hin untersucht werden muss. Die Wichtigkeit der Beschränkung auf den reinen Demonstrationscharakter des sprachlichen Mediums, das nur stellvertretend für einen visuellen Wirklichkeitsausschnitt stehen soll, setzt, vor allem unter Berücksichtigung des lakonischen Stils, eine besonders gezielte Auswahl voraus. Der verbleibende minimierte und unmittelbare Aspekt ergibt sich also erstaunlicherweise aus einer Doppelung medialer Kodierung eines subjektiven Augenblicks, gleichgültig, ob der Ausgangspunkt der Vertextung tatsächlich eine Photographie ist oder ein real wahrgenommener Moment. Diese Tatsache ist auch im Kontext der Bezüge zwischen Texten und Elementen cineastischer beziehungsweise musikalischer Ästhetik zu berücksichtigen, wobei hier wiederum unterschiedliche Methoden der Integration auszumachen sind.
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4.4 D ER F ILM IN W ORTEN . L ITERATUR UND CINEASTISCHE E LEMENTE »Guckkastenschau des Bewusstseins«127
Genauso wie als Photograph hat Rolf Dieter Brinkmann auch als Filmemacher praktische Erfahrung. Außerdem ist er bekennender Kinogänger und Filmliebhaber, was zahlreiche seiner theoretischen Äußerungen bezeugen, aber auch eine Fülle an kennerhaften Thematisierungen von Filmen, Stars und technischen Informationen das cineastische Metier betreffend unterstreichen. Auch in formaler Hinsicht ist die filmische Produktions- und Rezeptionserfahrung in seine schriftstellerischen Erzeugnisse eingegangen. Da der Film als Folgemedium der Photographie begriffen wird, wie sich am deutlichsten an der Technik des Standphotos zeigt, das eine Momentaufnahme, ein angehaltenes Bild darstellt, das von einem Photographen während der Dreharbeiten eines Films aufgenommen wird, gelten einige Eigenschaften der Photographie auch für den Film. Darüber hinaus verfügt das filmische Medium seit der Erfindung des Tonfilms neben der visuellen Kodierung auch über eine auditive Dimension. Die filmische Semiotik erschöpft sich jedoch nicht in der bloßen Addition verschiedener Zeichensysteme, vielmehr entsteht durch die Kombination unterschiedlicher Kodierungsverfahren ein Zusammenspiel der Einzelelemente, das ein neues System der Bedeutungskonstituierung aufweist. Hierin liegt auch das Problem, dem Theoretiker gegenüberstehen, wenn es um eine einheitliche Theorie der filmischen Semiotik geht. Zahlreiche Filmsemiotiker begreifen ihr Medium als ein Zeichensystem, dem ein eigener Textstatus im Sinne eines weiten Textbegriffs zukommt und auf das sprachtheoretische Kategorien angewendet werden können. In der Forschungsliteratur lassen sich hauptsächlich drei Tendenzen innerhalb der Erklärung der Filmsprache ausmachen, welche sich vor allem durch ihre konträre Verwendung des Sprachbegriffs unterscheiden. Der Film kann zunächst in seiner Gesamtwirkung als eine universal verständliche Sprache gesehen werden, da er dazu in der Lage ist, Gegenstände, Handlungen, Bewegungen und Gefühle in Form von
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R. D. Brinkmann: Westwärts 1&2. Erweiterte Neuauflage, S. 324
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Gestik und Mimik der Darsteller rein visuell zu vermitteln.128 Unter der filmischen Sprachlichkeit wird ebenfalls die erzählte Geschichte verstanden, die sich aus der Zusammenwirkung von auditiver und visueller Ebene ergibt. Andere Theoretiker legen das Augenmerk auf die Montagetechniken, die Art und Weise, wie einzelne Bilder zusammengefügt werden und wie dadurch eine Bedeutungsebene erzeugt wird, die dem Film zu einer eigenen, spezifischen Sprache verhilft. Gleichgültig, welche theoretische Grundlage Ausgangspunkt der Überlegungen ist, es stellt sich immer das Problem der Gliederung und Hierarchisierung des pluralen filmischen Codesystems; der »Film lässt sich nicht prinzipiell nach festen Regeln und Bausteinen konzipiert denken; eine explizit formulierbare Grammatik gibt es nicht«129. Allgemeine Aussagen über die filmische Semiotik zu treffen ist auch aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Form und Inhalt, die wegen ihrer gegenseitigen Einflussnahme nahezu kaum auseinander dividiert werden können, äußerst schwierig. Allgemeiner gefasste Ansätze zur Arbeitsweise des Films liefern eher das Handwerkszeug zur Analyse von Filmen – die je nach Darstellungs- und Inhaltstyp modifiziert werden muss – als dass sie grundlegende Merkmale im Hinblick auf allgemeine semiotische Eigenschaften herausstellen.130 Aus diesem Grund möchte ich – wie auch im Kontext der Photographie – versuchen, die Charakteristika der filmischen Komponenten im Hinblick auf die literarische Verarbeitung dieses Mediums herauszuarbeiten, ohne eine umfassende semiotische Theorie vorzustellen oder zur Grundlage zu machen.131
128
Dieser Ansatz ist vor allem für den Stummfilm gültig, der Aspekt der allgemeinen Verständlichkeit durch die Visualisierung ist allerdings auch innerhalb der Diskussionen des Tonfilms präsent.
129
Schanze, Helmut (Hg.): Metzler Lexikon Medientheorie Medienwissen-
130
Vgl. Kessler, Frank: »Filmsemiotik«, in: Jürgen Felix (Hg.), Moderne Film
schaft, Stuttgart: Metzler 2002, S. 101. Theorie, Mainz: Bender 2002, S. 104-126 und Reif, Monika: Film und Text. Zum Problem von Wahrnehmung und Vorstellung in Film und Literatur, Tübingen: Narr 1984, S. 57-78. 131
Angemerkt sei, dass Techniken, die Vergleiche zum filmischen Medium zulassen, in der Literatur auch schon vor Erfindung des Films festzustellen sind. Unter dem Eindruck der Möglichkeiten des cineastischen Mediums verstärken sich allerdings die intermedialen Tendenzen.
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Zunächst ist ein Film eher dazu prädestiniert, eine äußere Realität oder Handlungsabläufe darzustellen als etwa psychische Vorgänge oder abstrakte Themen, was unter anderem aus seiner Verwandtschaft zur Photographie und seiner Arbeitsweise, die ikonische Zeichen mit einschließt, resultiert. Zwar gehen filmische Möglichkeiten durch die Darstellung von Bewegung, das Potential des Visualisierens innerer Vorgänge in Form von Gestik und Mimik der Personen, die Fähigkeit der Inszenierung bestimmter Sachverhalte durch wechselndes Licht, Kameraeinstellungen, Schnitte und Montageformen und durch die Verwendung von Ton, also Geräusche, Sprache und Musik, weit über die Mittel der Photographie hinaus; im Vergleich zur Literatur ist jedoch immer die Visualisierung der Inhalte mit zu berücksichtigen. Diese unmittelbar sinnliche Komponente, im Film zusätzlich durch Bewegung und das Vermögen der Integration simultaner Vorgänge erweitert, ist wiederum der Literatur nicht eigen. Darüber hinaus ergibt sich aus dem Phänomen der bewegten Bilder eine andere Konstitution von Raum und Zeit. Durch die Kamerabewegung werden räumliche Grenzen aufgehoben. Aus unterschiedlichen Einstellungen und Perspektiven erfolgt durch die Filmrezeption eine Synthese der Teilansichten, die zu einer Vorstellung des räumlichen Ganzen führt. Mit den technischen Möglichkeiten des Zeitraffers, der Zeitlupe, verschiedenen Montagearten und analeptischen beziehungsweise proleptischen Einblendungen innerhalb des gegenwärtigen Handlungsstrangs, können Ereignisse sich ausdehnen, gestrafft werden oder zusammenfließen. Die zeitliche Komponente wird durch ihre Relativierung und Verfügbarkeit durch technische Mittel visualisiert. So entsteht durch das »Auflösen der linearen Zeitstruktur innerhalb eines Bildes [...] eine neue Zeitebene, die nur durch die assoziative Verknüpfung einzelner Zeitmomente im Bewusstsein des Zuschauers präsent ist«132. Beispielsweise kann der Film durch Montage- und Schnitttechniken die Darstellung derselben Person in zwei unterschiedlichen Räumen zeigen, der Ortswechsel selbst ist sowohl innerhalb der erzählten Zeit als auch im Rahmen der Erzählzeit ausgeblendet. Aufgrund der räumlichen Veränderung verknüpft der Rezipient beide Szenen, indem er assoziativ eine zeitliche Abfolge der Ereignisse konstruiert und so die Filmsequenzen verknüpft. Verstärkt wird diese assoziative Komponente der Filmrezeption durch die Unmöglichkeit
132
M. Reif: Film und Text, S. 166.
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der menschlichen Wahrnehmungsstruktur, Film- und Fernsehbilder komplett zu erfassen, denn »es ist paradox, dass gerade das begrenzte Sehvermögen des Auges eine wesentliche Voraussetzung für das Erfassen eines Fernsehbildes ist. Man bedenke, dass die wechselnde Helligkeit eines einzigen Leuchtflecks, der in 1/25 Sekunde zweimal über den Bildschirm geführt wird, wegen der Trägheit unserer Augen erst die Erscheinung eines geschlossenen Fernsehbildes in unserem Gehirn ermöglicht.«133
Innerhalb der Literatur ist es üblich, Handlungen vorzustellen, die eine zeitliche Komponente beinhalten, und innerhalb dieses Rahmens werden Räume integriert und geschaffen. Ein Text kann spezielle Arten der filmischen Behandlung der Zeit zwar nachahmen, sie bildet allerdings keinen integrativen Bestandteil neben den zur Verfügung stehenden Dimensionen der Erzählzeit und der erzählten Zeit. Der Film arbeitet bei der Darstellung einer Thematik in räumlicher und zeitlicher Dimension mit einer Verknüpfung von Bild und Ton, wobei automatisch eine Vermischung beider semiotischer Ausdruckformen eintritt, indem Sprache zur Sichtbarkeit bestimmter Elemente beiträgt, während das Visuelle im Kontakt mit der Tonalität eine Ebene der Lesbarkeit hinzu gewinnt. Diese Tatsache hat Auswirkungen auf die Rezeption, denn »das heißt, zwei Medien, die für sich schon kommunikative Funktion beanspruchen, vereinigen sich zu einem neuen, kombinierten Sinneseindruck, der durch die gekoppelte Verwendung von Sprache und Bild Bewusstsein in seinen unterschiedlichen perzeptiven Fähigkeiten gleichzeitig stimuliert und motiviert. Der Roman entwickelt im Ablauf der Erzählzeit Räume und verbindet sie, während der Film durch die Abfolge räumlich begrenzter Bildsequenzen ein Zeitkontinuum entwirft.«134
Aus der Stimulation verschiedener Perzeptionsmethoden, in Verbindung mit der augenscheinlich perfektionierten Wiedergabe real wirkender Szenen wird dem Rezipienten durch den Sog der fiktiven Bild- und Tonwelt des Films eine besonders große sinnliche und affektive Beteiligung gestat-
133
Gombricht, Ernst H.: Bild und Auge. Neue Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Stuttgart: Klett-Cotta 1984, S. 144.
134
M. Reif: Film und Text, S. 168.
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tet. Die Erhöhung des Potentials der sinnlichen Anteilnahme des literarischen Rezipienten ist das Anliegen, das Brinkmann dazu veranlasst, sich an der Ästhetik des Films für die schriftstellerische Produktion zu orientieren. Er drückt auf verschiedene Weise immer wieder eine generelle Skepsis gegenüber der Realitätswahrnehmung aus, die sich unter anderem darin zeigt, dass er die adäquate literarische Beschreibungsform des ständigen Stroms von Bildern und Geräuschen, die integrativer Bestandteil der Umwelt eines jeden einzelnen sind, im Rückgriff auf Methoden der Wirklichkeitsillusion der filmischen Arbeitsweise sieht. 4.4.1 Kameraauge und Tonspur Die Übernahme bestimmter filmischer Darstellungstechniken ist in zahlreichen Gedichten Brinkmanns wie auch in Passagen seines Romans Keiner weiß mehr zu finden. Die Integration verschiedener Arbeitsweisen des filmischen Mediums möchte ich exemplarisch an seiner frühen Erzählung Wurlitzer135 vorführen, da bei diesem Prosawerk die Konzentration verschiedener Bezüge besonders auffällig ist und der Text sich aufgrund seiner Kürze im Vergleich zu Brinkmanns Roman besser dazu eignet, als Ganzes betrachtet zu werden.136
135
Brinkmann, Rolf Dieter: »Wurlitzer« (Raupenbahn), in: Ders., Erzählungen,
136
Thomas Boyken interpretiert Wurlitzer auf der formalen Ebene nach Prinzi-
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985, S. 253-268. pien des Jazz, da einzelne Themen und Motive gedehnt beziehungsweise gekürzt wiederholt aufgegriffen werden. Das Rahmenthema bildet dabei die Musikmaschine, die mittlere Passage besteht aus einer freien Improvisation (vgl. Boyken, Thomas: »›Die Umrisse verloren sich darin, die Körper wie aufgeweicht‹. Körperdarstellungen in der frühen Prosa Rolf Dieter Brinkmanns«, in: Ders./Ina Cappelmann/Uwe Schwagmeier (Hg.), Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven: Orte – Helden – Körper, München: Fink 2010, S. 109-123, hier S. 111-116). Dass dieser Text sowohl auf Musik, als auch auf den Film bezogen wird, ist nicht verwunderlich: Wie bereits erwähnt, teilen sich Musik und Film einige Merkmale, welche in der Literatur auf ähnliche Weise intermedial aufgegriffen werden können beispielsweise den zeitlichen Verlauf. Aufgrund der starken Visualität des Themas und seiner literarischen Verarbeitung halte ich den Bezug zum Film für evident,
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Ein Bezug zum Medium Film wird schon durch die Thematik der Erzählung und deren Umsetzung hergestellt. Eine Schankstube, die »[d]urch den Wirrwarr der Stimmen und das Gedränge, dem zusammengeschobenen Gewoge von Köpfen, Armen, Rücken und Beinen«137 charakterisiert wird, bildet den Ausgangspunkt der Beschreibung. Die Wahl dieses Themas verweist auf den Film, dessen Darstellungseigenschaften ihn dafür prädestinieren, Massenszenen, die Simultaneität unterschiedlichster Bewegungsabläufe und das Zusammenfließen verschiedener Schallereignisse wie Musik, Gespräche und Stimmengewirr in großem Format wiederzugeben. Die Art und Weise, mit der cineastische Verfahren diese Szene darstellen würden, ist in Wurlitzer mit sprachlichen Mitteln simuliert. Zunächst gleicht die Perspektive einer Kameraeinstellung in der Totalen, welche immer wieder einzelne Personen oder Bewegungen durch die Zoomtechnik heraushebt und danach zu ihrer szenenüberblickenden Position zurückkehrt. In der Ausgangseinstellung fließen einzelne Körper und Bewegungsabläufe zusammen, die Personenmenge wird als wogendes Getümmel wahrgenommen, aus dem in der folgenden Beschreibung einzelne Momente vergrößert und konzentriert herausgefiltert werden, um schließlich wieder in der Masse zu verschwinden. Die Reproduktion der filmtypischen Darstellungstechnik zeigt sich ebenso wie auf visueller Ebene auf auditivem Gebiet. Ein permanenter Geräuschpegel formiert sich aus dem Zusammenwirken von Musik, Gesprächen und Geräuschen, aus dem einzelne Unterhaltungsfetzen deutlicher heraustreten oder abgespielte Schallplattensequenzen in unregelmäßigen Abständen Oberhand gewinnen und herauszuhören sind, um dann erneut Teil eines den Raum durchsetzenden Lärmgemischs zu werden. Dieses grundlegende Muster der Verschränkung zwischen der filmtypischen Thematik einer Menschenmenge mit starker akustischer Unterlegung und der Art der Darstellung dieser Szene anhand des Perspektivwechsels zwischen der Kameraeinstellung der Totalen und einzelnen Zooms, stellt innerhalb der Erzählung die Simulation einer filmspezifischen Darstellungstechnik verbunden mit einer bestimmten (filmischen) Thematik dar.
zumal die zusätzliche akustische Dimension auch ein Merkmal des filmischen Mediums ist. 137
R. D. Brinkmann: »Wurlitzer«, in: Ders., Erzählungen, S. 253.
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Die Erzählperspektive ist dementsprechend nach dem Vorbild des Kameraauges gestaltet, das unter Berücksichtigung seiner subjektiven Führung scheinbar objektiv die Szene vor der Linse übermittelt. Der Erzähler erscheint nicht im Text selbst, sondern seine Position manifestiert sich allein dadurch, dass er den Beobachtungsstandpunkt des Lesers vorzeichnet. Sein Blickwinkel und seine Wahrnehmungsinhalte sind ausschlaggebend für den Nachvollzug der Situation und die Vorstellungsbildung auf Seiten des Rezipienten. Während bei der Anwendung der Zoomtechnik im Film der Übergang von der Perspektive der Totalen zum engen Fokus des Zooms auf ein Objekt zumindest für einen kurzen Moment sichtbar ist (dasselbe gilt auch für die entgegengesetzte Richtung), muss die Literatur diese veränderten Distanzaufnahmen verbalisieren. Brinkmann versucht, fließende Übergänge der Perspektivveränderungen über die allmähliche Verengung beziehungsweise Weitung des Fokus und die Beschreibung der Zwischenstufen zu erreichen. Ein Beispiel hierfür ist folgende Textstelle: »Gleich darauf standen dann auch wieder andre um den Apparat, ein schwimmendes Hin und Her ergab sich dort, in dem der Junge und das Mädchen verschwanden. Manchmal wurde ein Fetzen Rot sichtbar. Einer versuchte sich von der Theke her durchzudrängen. Er hielt das Bierglas hoch. Über den Rand quoll weißer Schaum. Eine Hand streckte sich aus dem Klumpen der Köpfe, Rücken, Schultern und Arme dem hochgehaltenen Bierglas entgegen. Die Finger griffen nach dem Glas, das Bier schwappte heftiger. Der flockige, weiße Schaum floss an dem zylinderförmigen Glas herunter, die Hand wurde nass.«138
Zunächst wird aus der Menge auf einen Mann gezoomt, die Fokussierung verengt sich weiter, auf seine Hand mit dem Bierglas, um schließlich voll auf das Glas zu zoomen; innerhalb des Erzählverlaufs wird der Fokus zunächst etwas weiter geöffnet um sich dann wieder auf den Ausschnitt der Hand und des Glases zu verengen. Mit dieser Nachahmung der Arbeitsweise der Kameratechnik ist auf die Bildlichkeit und Sinnlichkeit der erzählten Situationen verwiesen, darüber hinaus wird der Rezipient im Nachvollzug der sich wandelnden Kameraeinstellung in eine Dynamik der ablaufenden Prozesse eingebunden, die die Vorstellbarkeit und den Zugang zur jeweiligen Szene begünstigt.
138
Ebd., S.257.
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Auffällig im Hinblick auf die Perspektivveränderungen ist ein anderer Sprachduktus in Momenten der engen Fokussierung. Sobald ein Augenblick, eine Person oder ein Gegenstand sich durch die nähere Betrachtung aus der Menschenmenge heraushebt, werden bei der Beschreibung des herangezoomten Objekts die Sätze kürzer und beschränken sich auf ein Minimum an wesentlichen Informationen. Es scheint so, als stünde für die Momente des genauen Fokus die Zeit still, woraus sich eine Ähnlichkeit dieser Passagen zu den literarischen Erzeugnissen, die im Kontext des Rückgriffs auf die photographische Ästhetik besprochen wurden, ergibt. Das starre Bild wird nach wenigen, nüchtern beschreibenden Sätzen wieder aufgelöst und verschwindet in der sich bewegenden, wogenden Menge. Diese Momente, die wie Standphotos oder wie Bewegungsabläufe in Zeitlupe wirken, können als literarische Umsetzung der »kinematographischen Unterbrechung kontinuierlicher Bewegungen und ihrer gewohnten Wahrnehmung«139 gelesen werden. Der Kamerastandpunkt befindet sich über weite Strecken immer am selben Platz, mit Ausnahme zweier veränderter Einstellungen. Einmal scheint es, als würde der Raum gewechselt, denn die Beschreibung der Umgebung und die Schilderung der Geräuschkulisse lassen sich mit der Stimmung des vorhergehenden Etablissements kaum vereinbaren. Dieser räumliche Wechsel ist nicht eindeutig auszumachen. Die Veränderung des Raums wird weder thematisiert, noch formal initiiert, sondern die Ausführungen der Wahrnehmung der unterschiedlichen Räume sind nahtlos zusammengeschnitten. Damit wird sprachlich die Schnitttechnik der filmischen Montage simuliert, welche es ermöglicht, Perspektiv- und Ortswechsel ohne Übergang aneinander zu reihen. Innerhalb der Erzählung tritt der räumliche Wechsel nur aus der inhaltlichen Diskrepanz zwischen der Beschreibung einer Schankstube und einem Konzertsaal hervor.140 Bei der zweiten Veränderung des Standpunktes der Beobachtung folgt der Kamerablick einem Mädchen mit dem Zoom auf ihr Gesicht in die Toilette und tastet danach beschreibend die lokale Veränderung ausschnitthaft ab, bevor das Kameraauge wieder seinen ursprünglichen Beobachtungsstandpunkt in
139 140
Paech, Joachim: Literatur und Film. Stuttgart: Metzler 1997, S. 175. Die Übergänge zwischen der Beschreibung der Schankstube und des Einschubs der Schilderung eines Konzertsaals sind in der zitierten Ausgabe auf Seite 258, Zeile 26 und Seite 261, Zeile 22 zu finden.
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der Schankstube einnimmt, wobei der Rückweg von der Toilette nicht mehr durch die Versprachlichung der bewegten Kameralinse geschildert wird, sondern aufgrund der literarischen Montage ausgeblendet ist.141 Wie im Fall der Photographie gilt es auch bei Literatur und Film, die Komponenten, welche keine Eigenschaften der sprachlichen Semiotik sind, über eine spezifische Art der Beschreibung zu modifizieren. Die Simultaneität unterschiedlichster Bewegungsabläufe versucht Brinkmann durch einen atemlosen, asyndetisch parataktischen, teilweise elliptischen, und extrem verdichteten Sprachstil in Form sehr langer Sätze zu simulieren.142 Der Blick aus der Perspektive der Totalen auf die Szene muss im literarischen Medium zur Erzeugung dieses Eindrucks innerhalb einer selektiven versprachlichten Wahrnehmung umgesetzt werden, deren Elemente allerdings allgemein und isoliert gehalten werden und so gehäuft aneinandergereiht sind, dass der Anschein eines Nebeneinanders und eines großflächigen Bewegungsbilds erweckt wird, wie dies beispielsweise die oben zitierte Eingangssequenz vor Augen führt. Noch deutlicher wird diese Arbeitsweise in Verbindung mit der auditiven Dimension, der innerhalb dieser Erzählung zentrale Aufmerksamkeit zukommt. Allein die starke Gewichtung der Geräuschkulisse verweist auf die Möglichkeiten des Films, wobei die Tonspur innerhalb der Erzählung wiederum nur über die Beschreibungsebene integriert werden kann. Ebenso wie das Zusammenfließen unterschiedlicher Bewegungen ist auch der Eindruck der Vermischung verschiedener Lärmquellen durch eine ähnliche Sprachverwendung über lange Textpassagen erreicht, wie folgendes Beispiel zeigt: »Stimmen, die überall gleichzeitig aufkamen und durcheinander gerieten, erregte Stimmen, die den kleinen Raum ausfüllten, ein Auf und Ab von Worten, von Lauten, Rufen und Gelächter, das irgendwo an einem Tisch oder an der Theke sich aufblies und ebenso schnell wieder zurückging, zerfiel in einzelne Stücke, Bruchstücke von Lachen, dazwischen Sätze und Satzfetzen, die nah herankamen und plötzlich Worte, und danach von anderen, neuen, neuaufgekommenen verdrängt wurden, die verschwanden in dem allgemeinen Gewimmel, diesem Gewirr von unaufhörlich
141
Vgl. R. D. Brinkmann: »Wurlitzer«, in: Ders., Erzählungen, S. 266 und S. 267.
142
Der erste Satz der Erzählung ist 29 Zeilen lang, während die gesamte Erzählung über 15 Seiten keinen Absatz beinhaltet.
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sich vermengenden Stimmen, Stimmen, die ineinander übergingen, die zu einem kreisenden Durcheinander wurden«143.
Die permanente Unterlegung einer Szene mit Geräuschen stellt im Film kein Problem dar, der Text hingegen muss auf diese Tatsache immer wieder aufmerksam machen, um dem Leser die auditive Komponente der beschriebenen Situation wiederholt in Erinnerung zu rufen.144 Das Nebeneinander von Ton und Bild wird, wie die Fortsetzung des vorhergehenden Zitats zeigt, durch den nahtlosen Übergang einer Folge von Erzählelementen, die der Wahrnehmung durch unterschiedliche Sinne zuzuschreiben sind, simuliert: »Stimmen, die ineinander übergingen, die zu einem kreisenden Durcheinander wurden, das sich drängte und wieder auseinanderfiel, um an anderer Stelle, an der Theke, am Musikautomaten oder an irgendeinem Tisch von neuem da zu sein, sich dort zu ballen, zu klumpen, Klumpen von Körpern, von Gesichtern«145.
Durch die Ähnlichkeit der Beschreibung von Geräuschmasse und Menschenmenge tritt eine Verquickung zwischen bildlicher und tonaler Ebene auf, die durch die unmittelbare Reihung von auditiven und visuellen Momenten, hier durch das Stilmittel der figura etymologica noch enger in Bezug gesetzt, untrennbar miteinander vermischt sind. Neben der simulierenden Adaption von bewegtem Bild und Ton spielen auch andere der cineastischen Darstellungstechnik eigene Komponenten eine Rolle. Mit dem Augenmerk der literarischen Ausführung auf Farbe und Licht wird zusätzlich die Visualität betont, die durch Beschreibungsverfahren erzeugt werden soll. Ein signifikantes Beispiel hierfür ist die rote Jacke eines Mädchens, das in den Zoom des Kameraauges gerät und schließlich durch die Weitung des Fokus wieder im Getümmel verschwindet, das grelle Rot ihrer Jacke blitzt jedoch im Textverlauf einige Male aus der Menge auf.146 Die Wiederholung dieser farblichen Auffälligkeit hat
143
R. D. Brinkmann: »Wurlitzer«, in: Ders., Erzählungen, S. 261-262.
144
Vgl. »Sie redeten alle gleichzeitig, rauchten, tranken Bier« oder »Die Musik
145
Ebd., S. 262.
146
Vgl. »Manchmal wurde ein Fetzen rot sichtbar« (ebd., S. 257).
hörte nicht auf« (ebd., S. 263-264 bzw. S. 254).
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weder symbolischen Sinn noch betont sie etwa die Wichtigkeit des Mädchens gegenüber anderen Personen, das Aufgreifen der roten Jacke scheint allein durch den Signalcharakter des grellen Rots für das Auge bestimmt, das den Blick weit extremer auf sich zieht als gedecktere oder dunklere Farben. Ähnlich verhält es sich auch mit der Erwähnung einzelner Lichtreflexe, die gleichzeitig sowohl die visuelle Vorstellung anregen als auch besonders starke Augenreize hervorheben, wie folgende Passage, in der wiederum oben genanntes Mädchen ins Bild gerät, verdeutlicht: »In dem Gewühl, das noch immer vor dem Musikautomaten war, tauchten hin und wieder einige rote, lackschimmernde Stücke der Jacke auf, und weiter unten, zwischen den Beinen, die sich durcheinander bewegten, Streifen eines grellen, zuckrigen Lichts, künstliche Farben, die ständig wechselten und an den Rändern des Automaten hinabflossen zum Boden hin.«147
Die Literatur braucht, um filmische Komponenten, die sich aus den technischen Eigenheiten des cineastischen Mediums ergeben, simulieren zu können, sehr viele Worte für eine Szene, die der Film innerhalb weniger Sekunden formiert, da die semiotischen Systeme, welche das filmische Medium parallel schalten kann, auseinanderdividiert in Form von Wortfolgen aufgegriffen werden. Bevor die erste Perspektivveränderung, der erste Zoom, innerhalb der Erzählung einsetzt wird nur eine Szene aus dem Blickwinkel eines gleichbleibenden Standpunkts geschildert. Um die Situation allerdings mit allen sinnlichen Eindrücken verdeutlichen zu können, benötigt die Literatur im Vergleich zu anderen Medien verhältnismäßig viel Erzählzeit, während die erzählte Zeit nur einen kurzen Gesamteindruck wiedergibt. Das Missverhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, das mitunter auch durch die Minimierung der narrativen Handlung bedingt ist, bewirkt, dass nicht durch den Ablauf der Erzählzeit ein Zeitkontinuum geschaffen wird, das Räumlichkeit ermöglicht. Vielmehr ist der Rezipient aufgrund der genauen Beschreibung aller Eindrücke innerhalb eines Raums nach und nach in der Lage, die Teilansichten zu einem räumlichen Ganzen zu synthetisieren, um danach mit Hilfe der geschilderten Veränderungen und Perspektivverschiebungen durch die daraus resultierende Bewegung eine zeitliche Dimension zu konstruieren. Räumlichkeit kann nach wie vor
147
Ebd., S. 262.
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nur über die Erzählzeit hergestellt werden, die Kluft zur erzählten Zeit, die inhaltliche Auflösung eines linearen Zeitstrangs, die dem Formalen entgegenstrebt, simuliert eine Verschiebung von Raum- und Zeitwahrnehmung, die etwa mit der dritten, dem Film eigenen assoziativen Zeit zu vergleichen wäre. Setzt man die Dauer der Erzählung in Bezug zur Länge des Textes, müsste sich daraus eigentlich ein langsames Erzählen ergeben, denn für die Schilderung einzelner Sinneseindrücke werden mehrere Seiten benötigt. Allerdings ist der Anteil der sprachlich verdichteten, atemlos beschreibenden Textpassagen so groß, dass innerhalb der Erzählzeit enorme Geschwindigkeit erzeugt wird. Im Gegensatz zum Film (von den Möglichkeiten des Anhaltens und Spulens am Videogerät oder DVD-Player abgesehen) kann der Leser die Zeit, die er für eine Erzählung braucht, selbst bestimmen, da er beliebig oft bei seiner Lektüre innehalten kann. Dieser Rezeptionseigenart versucht Brinkmann dahingehend entgegenzuwirken, dass er sowohl inhaltlich Sinnzäsuren weitestgehend eliminiert als auch formal möglichst wenige Unterbrechungen des Lesevorgangs, etwa durch Punkte oder Absätze, zulässt. Durch diese Art der Sprachverwendung bekommt die beschriebene Geschichte eine filmähnliche Eigendynamik, die das langsame Verstreichen der erzählten Zeit kontrastiert und gleichzeitig übertönt. Dadurch gelingt es Brinkmann mit Hilfe des gesteigerten Erzähltempos, einen Sog zu entwickeln, der dem Rezipienten eine hohe Geschwindigkeit vorgibt. Trotz der Führung durch den Blick des Kameraauges bleibt die freie Entfaltung der Vorstellungskraft des Lesers gewährleistet, da lediglich Perspektiven vorgezeichnet, aber keine Bilder konkret vorgeben werden können. Zwar tritt der Erzähler stellenweise deutlicher aus der scheinbar objektiven Bestandsaufnahme heraus, beispielsweise wenn einzelne Details mit Vergleichen näher verbildlicht werden, wie innerhalb der Beschreibung folgender Passage: »In der Mitte hing von der gewölbten Decke ein rundliches, nach unten durchhängendes, ausgebuchtetes Gebilde, das an einen übergroßen Leuchter denken ließ, der erloschen war, oder an ein erstarrtes Gewächs, an einen aus dem Gewölbe kopfunter gewachsenen Riesenpilz, der von unten aus gesehen ein Ei war.«148
148
Ebd., S. 259.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 167
Allerdings führen diese Schilderungsverfahren keine Subjektivität vor, die zur Sinngebung des Inhalts beiträgt, sondern der Gehalt der Erzählung formiert sich durch das Einbeziehen des Lesers, der die beschriebenen Situationen zu einem Wahrnehmungsgefüge synthetisiert. Einzelne vergleichsweise subjektiver erläuterte Sachverhalte werden ausschließlich zur Anregung der Vorstellungskraft des Rezipienten eingesetzt. Neben einer Reihe von simulierenden Verfahren im Hinblick auf die literarische Adaption filmischer Darstellungstechniken sind auch implizite inhaltliche Bezüge zwischen Literatur und Film innerhalb der Erzählung Wurlitzer auszumachen. Beispielsweise bedient Brinkmann sich bei der Verdeutlichung der leisen Spannung, die vor dem Beginn eines Konzerts zu spüren ist, Vergleichen, die auf die Arbeitsweise des Films hindeuten. Die genannte Szene wird von ihm auf folgende Art charakterisiert: »Nur an den Rändern oben, in den oberen Rängen, die sich im Dunkeln verloren und aufzulösen schienen, blieb noch eine flimmrig-zitternde, dünne Unruhe bestehen, die sich aber immer weiter entfernte und schließlich erlosch.«149 Mit Hilfe von flimmernden oder zitternden Bildern können cineastische Werke die inhaltliche Unruhe oder Spannung unterstreichen, ebenso wie das Verschwinden durch die Weitung der Kameralinse oder ihre Entfernung von dem jeweiligen dargestellten Objekt im Bild initiiert sein kann. Durch die Kombination und Überlagerung unterschiedlichster filmischer Darstellungstechniken gelingt es Brinkmann, wie auch in seinen Gedichten, mit den Grenzen der literarischen Semiotik zu experimentieren und veränderte, durch den Film etablierte Sehgewohnheiten, Wahrnehmungs- und Bedeutungskonstitutionen innerhalb der literarischen Ästhetik zu nutzen und dadurch die bildliche und sinnliche Dimension der Literatur zu verstärken. 4.4.2 Der Gehirnfilm Ein modifiziertes Konzept der radikal subjektiven Perspektive, die durch ihre nüchterne, beobachtende und nicht reflektierende Setzung eine vermeintliche Objektivität herstellt und so einen Platzhalter für den Rezipienten freihält, welchen dieser mit seinen eigenen Vorstellung ausfüllen soll, verfolgt Brinkmann mit der Verschmelzung literarischer und filmischer
149
Ebd., S. 258.
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Semiotik in Form der Wiedergabe von Sinnes- und Bewusstseinseindrücken als vertextetem Gehirnfilm. Den Ausdruck ›Gehirnfilm‹ verwendet Brinkmann selbst; er verweist mit diesem Terminus auf seine Vorstellung vom »Bewusstsein als Bildscheibe, Bildschirm, Wahrnehmungsschirm, worauf etwas erscheint, und dann auf dem Papier als sichtbarer Ausdruck des Bewusstseinsbildschirms«150 lesbar wird. Die Nachvollziehbarkeit ist in diesem Falle nicht mehr durch die scheinbar objektive Beschreibung der genau betrachteten Oberfläche der Umwelt gegeben, sondern die assoziative Integration des Subjekts und seiner Gedankenwelt rückt ins Interesse dieser Arbeiten. Das Aufgreifen filmtypischer Spezifika konzentriert sich in diesem Fall vor allem auf die Simultanproduktion des cineastischen Mediums. Sowohl der Film als auch die Photographie sind dazu in der Lage, den gewählten Wirklichkeitsausschnitt sofort aufzunehmen. Das Bild formiert sich in Sekundenschnelle; der Schritt der Produktion, der Aufnahme kann schnell, spontan und unmittelbar vonstatten gehen. Im Gegensatz zur Literatur sind einzelne Bilder, von ihrer Inszenierung und späteren Bearbeitung abgesehen, postwendend fertiggestellt. Der Schriftsteller hingegen muss Gesehenes oder Erlebtes erst in Worte fassen. Sobald die Umformulierung von Bildern und Gedanken in Worte und ihre Kombination zu Sätzen oder Textgefügen einsetzt, kommt eine Reflexionsebene ins Spiel, die den Produktionsvorgang seiner Spontaneität beraubt. Diesen Mechanismus möchte Brinkmann weitestgehend eliminieren, indem er versucht, unmittelbare Sinnes- und Bewusstseinseindrücke möglichst direkt in Form einzelner Worte oder Wortkombinationen auszudrücken, ohne sie auf ihre grammatischen oder logischen Verknüpfungen hin zu organisieren. Trotzdem muss der Gehirnfilm rezipiert sein, um vertextet werden zu können. Die unmittelbare Beschreibung der Bewusstseinseindrücke im Rekurs auf Filmproduktion und -rezeption ist gegeben durch die »erkennbare Homologie (Strukturähnlichkeit) zwischen Filmrezeption (Bewusstseins-strom) und Realitätswahrnehmung (Ereignisstrom) [...]: Das traumähnliche Fließen des Bewusstseinsstromes verbindet nämlich eine Erfahrung der Realität mit der spezifischen Rezeptionsweise im Kino«151.
150
R. D. Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 83.
151
J. Paech: Literatur und Film, S. 141.
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Der Betrachter eines Films setzt Bilder und Inhalte, auch heterogene Montageteile, zueinander in Bezug und verbindet diese gedanklich; die Vertextung des Gehirnfilms entspricht gewissermaßen demselben Prinzip. Daher sind bei Beschreibungsverfahren dieser Art nicht vordergründig Darstellungstechniken des Films integriert, sondern filmische Spezifika vertextet. Durch das Versprachlichen des Simultanablaufs zwischen Erleben und Schreiben und durch das notwendige Einbeziehen der Rezeption, welche vor allem durch Assoziationsketten und die Verquickung von inneren und äußeren Bildern deutlich wird, kommt der Gehirnfilm zum Ausdruck. Die Simultaneität zwischen dem Eindruck und seiner Wiedergabe orientiert sich am Potential des Films, zeigt sich aber in der Umsetzung ganz auf das Medium der Sprache ausgelegt, denn die Gleichzeitigkeit zwischen Erfahrung und Verschriftung wird durch die Reihung fragmentarischer Textpassagen ausgedrückt, die weder einer durchgehenden grammatischen Ordnung gehorchen, noch konsequent logisch verknüpft sind. Es geht hier nicht mehr vor allem um die Erzeugung einer Stimmung über äußere sensuelle Reize, die ein Wahrnehmungsbild ergeben, denn die Sinnes- und Bewusstseinseindrücke sind in diesem Fall in Form assoziativer Vorstellungen und damit gekoppelter Emotionen des beschreibenden Subjekts wiedergegeben. Dies hängt mit Brinkmanns Vorstellung von Realität zusammen, denn die »[s]ogenannte Wirklichkeit ist oft ja nur Gerede, und das macht die Wirklichkeit, so wie sie besteht und uns umgibt, lächerlich. Ist Wirklichkeit, die Ansicht der Wirklichkeit eine Verordnung der Sprache? Jeder weiß, dass Notwendigkeiten mies sind, und der Glaube an Notwendigkeiten verkrüppelt. Wirklichkeit ist ja eine Übereinkunft, eine Welt, Umwelt, auf eine Art, in einer Ordnung, zu sehen, was Quatsch ist. Gehirn›filme‹,
Gehirn›strömungen‹,
Aufgestörtheiten,
Bewusstseinsvorgänge,
Wortvorgänge, Bewegungen und Sprache, Stillstand und Sehen: ein Teil der wiederkehrenden Motive in den Gedichten«152.
Durch die Absolutsetzung der subjektiven Wahrnehmung bedient sich der vertextete Gehirnfilm nicht spezifischer Methoden, um eine äußere Umgebung durch Realitätseindrücke einzufangen oder zu erzeugen. Der Film aus Gedanken, Assoziationen und Emotionen führt eine äußere Realität nur innerhalb der Bloßlegung radikal subjektiver Gehirnvorgänge vor. Durch
152
R. D. Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 73-74.
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die individuelle Rezeption der zusammengeschnittenen bewegten Bilder des Gehirns durch das beschreibende Subjekt werden ordnende Elemente, jede größere Einheit sei es eine bestimmte Einstellung, eine Bildbegrenzung oder ein Raum- und Zeitkontinuum relativiert. Das einzige Strukturelement, das bleibt, sind die montierten Sprachbilder, die nicht durch metaphorische Aufladung zu ihrer Wirkung gelangen sollen, sondern allein durch die spontane Präsenz eines Moments, eines Gedankens oder eines bestimmten Gefühls. Die alleinige Verknüpfung aller Einzelteile bildet das wahrnehmende Subjekt. War im Bezug auf die äußere Realität die Oberfläche wichtig, geht es nun um die unmittelbare Vertextung des Bewusstseinsstroms des inneren Raums. Als Beispiel für diese Art der Verschmelzung des sprachlichen Mediums mit fremdmedialen filmischen Spezifika möchte ich zunächst eine Passage aus einer weiteren frühen Erzählung Brinkmanns, nämlich aus In der Grube153, anführen. Während sich insgesamt die Ästhetik des Textes weitestgehend mit meinen Beobachtungen zum Beschreibungsverfahren in Wurlitzer deckt, ist die Textstelle, aus der folgender Auszug zitiert ist, nicht nur durch ihre Kursivsetzung hervorgehoben: »[I]ch habe Hunger da steht er sich anstellen Tröge er unter zeigen holen Essen beinahe ein Gedränge ist Mittagszeit Epikur verstand dass die seinssetzende Kraft in der Wiederholung besteht nicht was zum erstenmal geschieht ist tief mal sehen was nimmt er der Raum bis weit nach hinten man drängt die Kübel was soll ich nehmen essen ich habe dir Bratwurst mitgebracht Bier dazu Hungergefühl flau wiederholt rotes Kreuz die Toiletten sind gegenüber die Biertheke muss das sein hinsichtlich der politischen Lage dringlich der Untergang ich hoffe nur dass es bald besser wird wir leben im Krematoriumsvorhof bis alles völlig aus ist es findet es was nehmen bis alles total aus ist er hofft das sieh selber hin der stieß ihn an nicht drängen weiter es schiebt sich weiter Tröge Kellen Löffel sabbern stehen sehen«154.
Die Erzählung schildert die morgendliche Ankunft eines Mannes in seiner früheren Heimatstadt. Er verbringt dort einen Tag und beschreibt Gesehenes und Erlebtes mit einer Mischung aus Eindrücken, Erinnerungen und
153
Brinkmann, Rolf Dieter: »In der Grube«, in: Ders., Erzählungen, S. 7-71.
154
Ebd., S. 41.
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Assoziationen. Die oben ausschnitthaft zitierte Textpassage beschreibt Brinkmann selbst mit folgenden Worten: »Der kursiv gesetzte Mittelteil hält die Bewegung gleichsam an. Er enthält nur wenige Augenblicke, die durch den angestauten Druck von innen her gespalten werden und einen chaotischen Bewusstseinsstrom freimachen in dessen sprachliche Kreisbewegung der Leser mit einbezogen werden soll. Absichtlich wurde darauf verzichtet, eine sogenannte Grenzsituation aufzuzeigen. Alles ist durchaus gewöhnlich: die Stadt, der Augenblick, die Person, die weder negativ noch positiv ist, sondern sich in einer Mittellage verhält wie in einem Starrkrampf. Sie wird vorgeführt und gleichzeitig aufgesaugt von einem Allgemeineren, das sie zu benennen versucht.«155
Zur Beschreibung eines alle Sinne umfassenden Moments, und sei es auch nur ein geschilderter Augenblick, sind auch hier wieder viele Worte nötig. Um Simultaneität zu erzeugen, bedient sich Brinkmann eines ähnlichen, allerdings auf die Spitze getriebenen Beschreibungsverfahrens wie in Wurlitzer. Der insgesamt vier Seiten umfassende kursiv gedruckte Texteinschub enthält kein Satzzeichen. Außerdem erschwert er durch die Montage einzelner Sinnesversatzstücke extrem die Formierung dieser Worthäufung zu logischen oder grammatikalischen Einheiten. Doch auch an Stellen, wo die Subsumierung in Wortgruppen gelingt, ist eine Bedeutung nicht eindeutig festzulegen. So lassen sich zwar die ersten drei Worte zu dem Satz »ich habe Hunger«156 bündeln, es wird jedoch nicht klar, ob diese Aussage einen Gesprächsfetzen wiedergibt oder ob das Befinden, die Gedanken eines erzählenden Subjekts ausgedrückt werden. Auch die Passage »Epikur verstand dass die seinssetzende Kraft in der Wiederholung besteht nicht was zum erstenmal geschieht ist tief«157 ist nicht eindeutig als gedachter, gelesener oder gehörter Text zu identifizieren. Die Wahrnehmung durch verschiedenste Sinne, Gedanken und Befindlichkeiten des berichtenden Individuums sind weder logisch noch grammatikalisch zu trennen. Zitate gehörter Gesprächsfetzen verschränken sich mit Assoziationen und Überle-
155
Brinkmann, Rolf Dieter: »Kommentar zu ›In der Grube‹«, in: Ders., Erzählungen., S. 408-409, hier S. 409.
156
R. D. Brinkmann: »In der Grube«, in: Ders., Erzählungen, S. 41.
157
Ebd., S. 41.
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gungen und sind oft nicht von diesen zu unterscheiden; Ausschnitte der Umwelt werden visuell registriert, wie beispielsweise »rotes Kreuz die Toiletten«158 und diese Bilder verschwimmen mit Befindlichkeiten, wie etwa »Hungergefühl flau«159. Die inneren und äußeren Eindrücke sind auf eine Art und Weise wiedergegeben, die den Anschein erweckt, als seien sie zu Papier gekommen, bevor eine subjektive reflexive Ordnung diese Einzelmomente bündeln oder werten konnte, von der Transformation in einzelne Wörter abgesehen. Das betrachtende Subjekt nimmt die Reize auf und addiert seine unmittelbaren Assoziationen, was zur Folge hat, dass das Individuum nahezu vollkommen verschwindet, denn diese auf die Spitze getriebene Subjektivität führt keine Person mehr vor, sondern einen Bewusstseinsstrom, der wenig Rückschlüsse auf das Subjekt und seine Umgebung zulässt. Die erzeugte Sinnlichkeit funktioniert hier nicht über die Addition sämtlicher Elemente zu einem sensuellen Ganzen, sondern liegt hauptsächlich in der Dynamik und dem Sog der Wortmontage begründet, die dem Leser den Eindruck von Geschwindigkeit und Chaos übermittelt. Einige von Brinkmanns späteren Gedichten weisen eine ähnliche Ästhetik auf, sind jedoch nicht in dieser extremen Weise sprachlich montiert. Brinkmann begreift »Leben als ein[en] komplexe[n] Bildzusammenhang. Es kommt darauf an, in welchen Bildern wir leben und mit welchen Bildern wir unsere eigenen Bilder koppeln. Die Frage heißt: Was schreibe ich auf das Blatt Papier? Das geschieht in dem Augenblick, wo das Gedicht hingeschrieben wird. Wie das geschieht (also: Stil!), ergibt sich aus der Intensität des Autors, dem Grad seiner Beteiligung an dem vorhandenen Material; es ist eine momentane Kombination. [...] Was angestrebt wird, ist der Ausdruck einer Empfindlichkeit des Einzelnen, seine Abweichung vom vorgegebenen Muster.«160
Er betont die angestrebte Simultaneität von Erleben und Schreiben und die subjektive Dimension dieses Verfahrens, negiert aber nicht, dass ein gewis-
158
Ebd.
159
Ebd.
160
R. D. Brinkmann: »Notizen 1969 zu amerikanischen Gedichten und zu dieser Anthologie«, in: Ders. (Hg.), Silverscreen, S. 8-9.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 173
ser Stil, gewisse Struktureinheiten zur Vertextung dieses Anliegens nötig sind. Der Umsetzung dieses poetologischen Statements entspricht die Ästhetik des Bookmovie161, die Brinkmann in Anlehnung an Jack Kerouac modifiziert. Kerouac formuliert in seinem 30 Punkte umfassenden Organon der Beat Generation Belief & Technique for Modern Prose162 unter Punkt 26 »Bookmovie ist the movie in words, the visual American form«163. Auf diese Stelle bezieht sich Brinkmann mit dem Nachwort Der Film in Worten zur von ihm herausgegebenen Anthologie Acid. Er postuliert, »die übliche Addition von Wörtern hinter sich zu lassen, statt dessen Vorstellungen zu projizieren – ›Das Buch in Drehbuchform ist der Film in Worten‹ (Kerouac) ... ein Film, also Bilder, flickernd und voller Sprünge, Aufnahmen auf hochempfindlichen Filmstreifen Oberflächen verhafteter Sensibilität«164.
Es geht also trotz des Primats der Gleichzeitigkeit des Erlebens und der Literaturproduktion um die Formierung von Vorstellungen, welche zwar aus Sinneseindrücken, Erfahrungen, Gedanken und Erinnerungen komponiert sind, gleichzeitig aber eine Bündelung unter einem gewissen Aspekt, eine bestimmte Assoziationsverknüpfung bezeichnen. Dies führt beispielsweise auch Brinkmanns Gedicht Künstliches Licht vor:
161
J. Kerouac: »Belief & Technique for Modern Prose«, in: Evergreen Review, S. 57.
162
Ebd.
163
Ebd.
164
R. D. Brinkmann/R. R. Rygulla: »Der Film in Worten«, in: Dies. (Hg.), Acid, S. 381. Der Text Belief & Technique for Modern Prose ist übersetzt der deutschen Ausgabe von Kerouacs Roman On the Road beigefügt. Wahrscheinlich bezieht sich Brinkmann hier auf die Übersetzung des 26. Punkts, die folgendermaßen lautet: »Das Buch in Drehbuchform ist der Film in Worten, eindeutig die amerikanische Form« (vgl. Kerouac, Jack: Unterwegs, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1968, S. 285).
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»Künstliches Licht Wir haben Bilder die sich ›bewegen‹, und die Bedeutung ist nicht nur etwas, das sehr hell ist. Es sind z.B. die Glühbirnen, die im Dunkeln verschwinden, und es ist dieses Muster aus Autounfällen und ›Angst‹. Ein Junge liegt ausgestreckt auf dem Boden unter einer großen Helligkeit nackt und ›bewegt‹ seine Hand. Dieser Junge bin ich. Die Bedeutung einer solchen Szene ist einfach. Als ob in der Erinnerung nur dieses eine ›Bild‹ wirklich wäre. Ich ›tat‹ das und später, als ich fertig war blieb diese ›Bewegung‹ zurück. Aus zu größer Nähe gesehen, verschwinden die Einzelteile und werden ›Angst‹.«165
Den Einblick in die Bilder im Gehirn gewährt das beschreibende Subjekt, indem es schildert, was es in einem Moment sieht, denkt, erinnert und fühlt und indem es den Ablauf dieser Prozesse rezipiert. Bewegte Bilder, eine Mischung aus äußeren, sämtliche Sinne betreffenden Realitätseindrücken,
165
Brinkmann, Rolf Dieter: »Künstliches Licht« (Die Piloten), in: Ders., Künstliches Licht. Lyrik und Prosa. Stuttgart: Reclam 1994, S. 63.
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Erinnerungen und Emotionen, werden innerhalb dieses Gedichts sowohl vertextet als auch betrachtet. Indem die Bewusstseinsbilder aneinander montiert werden – nämlich: »die Glühbirnen, die im Dunkeln / verschwinden, und es ist // diese Muster an Autounfällen // und ›Angst‹. Ein Junge / liegt ausgestreckt auf dem // Boden unter einer großen / Helligkeit nackt und ›bewegt‹ / seine Hand. Dieser Junge bin // ich«166 und gleichzeitig eine individuelle Verknüpfung zwischen Einzelmomenten durch die subjektive Rezeption des Gehirnfilms die Bilderfolge umrahmt, entsteht ein Nebeneinander des Versuchs einen Simultanprozess von Erleben und Vertexten wiederzugeben und der notwendig einzubeziehenden Rezeption der Bilder des Bewusstseinstroms durch das Subjekt. Zunächst wird das Arbeiten des Gehirnfilms und seine Rezeption beschrieben; künstlich beleuchtete, bewegte Bilder tauchen im Bewusstsein auf und formieren sich im Zusammenspiel mit assoziativen Gedanken und erzeugten Emotionen zu einer Vorstellung, einem Bedeutungskomplex. So könnte der hier in Worte gefasste Assoziationsprozess etwa folgender sein: Der Gedanke an Glühbirnen, die im Dunkel verschwinden, zieht die analoge Vorstellung der Wirkung von Autoscheinwerfern bei Nacht nach sich. Dieses Bild verursacht eine mit Angst verknüpfte Assoziation eines Autounfalls. Die Intensität der Beteiligung des Autors an diesem Gedankenmaterial ist durch die alptraumhafte Integration seiner eigenen Person gegeben. Er erkennt sich selbst als Junge im Unfallopfer wieder, ob das allerdings eine ›reale‹ Erinnerung ist, oder ob der Gedanke an die aufgegriffene Handbewegung zu einer Überlagerung verschiedener Bilder führt, ist nicht festzumachen, zumal durch die Betonung der Beleuchtung, des künstlichen Lichts und der großen Helligkeit auch die Möglichkeit der Inszenierung dieser Szene mitschwingt. Diese Differenzierung ist jedoch nicht elementar, denn das beschreibende Subjekt erlebt diese Überlagerung von Eindrücken aus unmittelbarer Nähe so intensiv, dass die Einzelteile nicht zu isolieren sind, sondern zu einem Angstgefühl zusammenfließen. Die Vertextung der assoziativen Momente verknüpft zu einer Vorstellung oder Emotion ist nicht in Form von Satzfragmenten beschrieben, sondern formiert sich durch die Überlagerung unterschiedlicher Bilder, die zwar im sprachlichen Medium aneinandergereiht werden müssen, durch ihre inhaltlichen Bezüge jedoch zusammengezogen werden. Formal ist die emotionale, assoziative und
166
Ebd., S. 63.
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spontane Komponente durch die Reimlosigkeit und durchgehende Enjambements unterstrichen. Während sich schon im Bezug auf die Relationen zwischen Photographie und Text die Entwicklung von der möglichst sachlichen Wiedergabe der Außenwelt hin zu einer subjektiven Realitätsdokumentation abzuzeichnen beginnt, wird die zunehmende Integration der beschreibenden Person im Kontext der filmischen Relationen besonders deutlich. Die Setzung des Individuums als Sammelstelle äußerer Eindrücke und der inneren, spontanen Rezeption der Sinnesdaten verstärkt sich weiter im Rahmen der akribischen subjektiven Wirklichkeitsmanifestation in Brinkmanns späten Materialbänden. Prinzipiell ist zu berücksichtigen, dass die Bedeutungsmanifestation sämtlicher Arbeiten, die intermediale Phänomene integrieren, bei ihrer Bedeutungskonstitution immer auf das Medium verweisen, auf das Bezug genommen wird. Die Perspektive des Autors ist also eine doppelte, indem er die Vorstellung der Verarbeitung eines Stoffes im Hinblick auf ein anderes Medium verfolgt und zugleich eine besondere Technik oder ein zentrales fremdmediales Spezifikum innerhalb der Möglichkeiten der Literatur erkundet.
4.5 D IE » RAMPONIERTE S CHAUBUDE 167 DER G EGENWART « . T EXT /B ILD -K OMBINATIONEN Ist dir schon mal aufgefallen, wie irrsinnig zerstückelt die Gegenwart ist, wenn man einen Augenblick auseinandernimmt in seine einzelnen Bestandteile und sie dann neu zusammenfügt?168
Ein dritter Typus intermedialer Relationen im Werk Rolf Dieter Brinkmanns ist die Medienkombination in Form einer Koexistenz von Bild und Text innerhalb eines medialen Produkts, eines Buches. Durch die Art des
167
R. D. Brinkmann: Westwärst 1&2. Erweiterte Neuauflage, S. 314.
168
R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 614.
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Zusammenfügens zweier Zeichensysteme kann zwar auch medienintegrativ auf den Film oder die Photographie referiert werden, indem im Spannungsfeld von Sprache und Bild cineastische oder photographische Darstellungstechniken oder Spezifika aufgegriffen werden, die Text/Bild-Kombinationen sind allerdings durch ihre sämtliche Präsenz deutlich von den vorherigen Intermedialitätstypen abzugrenzen. Indem beide Zeichensysteme im medialen Endprodukt vorhanden bleiben, ist, ähnlich wie beim Film, nicht nur eine Addition verschiedener semiotischer Phänomene festzustellen, sondern die Bedeutungskonstitution formiert sich im Zusammenfließen beider Vermittlungssysteme. Im Fall der Text/Bild-Kombination ist die gemeinsame Manifestation eines Gehalts oder einer bestimmten Aussage aufgrund einer durch den Rezeptionsvorgang bedingten Ähnlichkeitsbeziehung möglich. Zum einen sind Wörter oder zumindest Wortfolgen immer mit bildlichen Vorstellungen verbunden zum anderen entsteht bei einer Bildbetrachtung hauptsächlich dann Bedeutung, wenn durch die Abfolge von Teilbetrachtungen Zusammenhänge zustande kommen, was eine Parallele zur sukzessiven Aneignung von Sprachzeichen zulässt. Bei der näheren Betrachtung der hergestellten Verbindungen in der gemeinsamen Repräsentation zweier oder mehrerer verschiedener Medien lassen sich drei unterschiedliche Analyseebenen differenzieren: Überlegungen bezüglich der äußeren Faktur, des Inhalts und der inneren Faktur der Medienkombination.169 Die äußere Faktur bezeichnet das Layout, die Art und Weise, wie Wort und Bild innerhalb der Möglichkeiten eines Mediums technisch in Verbindung gesetzt werden. Wichtig im Hinblick auf diese Kategorie ist die Gewichtung der einzelnen Medien in optischer Hinsicht, also ihre anteilsmäßige Verteilung pro Seite und die Positionierung der unterschiedlichen Medien zueinander. Im Bezug auf die gemeinsame Sinnkonstitution sind der Inhalt und die innere Faktur zu unterscheiden. Der Inhalt benennt das stoffliche Zusammenwirken der unterschiedlichen Medien. Ausschlaggebend ist hierbei zunächst, welches Medium in welches aufgenommen wurde, welches also den Ausgangspunkt der Kombination darstellt. Darauf basierend kann betrachtet werden, inwiefern Wort und
169
Vgl. Willems, Gottfried: »Kunst und Literatur als Gegenstand einer Theorie der Wort-Bild-Beziehungen. Skizze der methodischen Grundlagen und Perspektiven«, in: W. Harms (Hg.), Text und Bild, Bild und Text, S. 417-424 und M. Strauch: Rolf Dieter Brinkmann, S. 73-75.
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Bild einen Stoff behandeln; ob sie ihn verdoppeln, teilen, sich gegenseitig ergänzen, kommentieren, deformieren oder die jeweils andere Aussage karikieren, ihr opponieren oder sie relativieren. Inwieweit die Bilder mit Rücksicht auf das benachbarte Wort gestaltet sind und inwiefern sich der Text an den bildlichen Darstellungen orientiert, kann anhand der inneren Faktur, der formalen Aspekte, festgestellt werden. Hier ist von Interesse, wie die einzelnen Medien ihre spezifischen Darstellungsmittel einsetzen und wie diese kombiniert eine Bedeutung konstituieren. Die Ebene der inneren Wort/Bild-Beziehung beschäftigt sich mit der Arbeitsweise der Veranschaulichungsmechanismen und zeigt, für den Transport welcher Aspekte im Hinblick auf die Gesamtwirkung einzelne Medien besonders geeignet sind. Durch die Kombination unterschiedlicher Zeichensysteme innerhalb eines medialen Produkts werden aufgrund der unmittelbaren Koexistenz ihre Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten besonders deutlich. Wie das Potential einzelner medialer Systeme durch die Kombination mit anderen Vermittlungstechniken genutzt werden kann und auf welche Art die »ramponierte Schaubude der Gegenwart«170 sich im Text zeigt, möchte ich exemplarisch anhand der näheren Betrachtung der kombinatorischen Verfahrensweisen der Lyrikreihe Godzilla und repräsentativer Seiten der Materialbände Rom, Blicke und Schnitte aufzeigen. 4.5.1 Meditationen über Pornos 1968 erscheint »ein kleines Lyrikheftpamphlet Godzilla171 mit […] Sexgedichten«172. Es umfasst 17 auf Plakaten von Illustriertenwerbung abgedruckte Gedichte. Die Reklameseiten werben ursprünglich für Unterwäsche- und Bademode; es sind fast ausschließlich Brüste, Beine und Bäuche mehr oder weniger leicht bekleideter Frauen zu sehen. Auf diesem Hintergrund werden über eine oder mehrere Seiten Gedichte auf unterschiedliche Weise ins Bild gesetzt. Auf einen ersten, ungenauen Blick könnte man diese Text/Bild-Kombinationen nach wie vor für Werbeplakate halten, welche im Zusammenspiel zwischen visuellen und verbalen Elementen ein
170
R. D. Brinkmann: Westwärst 1&2. Erweiterte Neuauflage, S. 314.
171
Brinkmann, Rolf Dieter: Godzilla, Köln: Hake 1968.
172
R. D. Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 81.
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bestimmtes Produkt anpreisen. Bei näherer Betrachtung fällt jedoch auf, dass die in Großaufnahme gezeigten Körperausschnitte nicht auf werbewirksame Weise ins Bild gesetzt sind, da mehr Akzent auf die Figurpartien gelegt wird, als auf die vorteilhafte Darstellung der Bekleidung. Die fokussierten Teile der Frauenkörper sind stark angeschnitten, was weniger die Wirkung einer werbeästhetischen Inszenierung vermittelt, als vielmehr den Eindruck einer Schnappschussästhetik in Großaufnahme nahe legt. Die Gedichte erwecken den Anschein, als seien sie bewusst auf bestimmte Art ins Bild gesetzt, lassen aber keine durchgehende Anpassung an die Komposition des visuellen Hintergrunds erkennen. Die Lesbarkeit und Auffälligkeit des Textes sind abhängig von der Farbgebung der zugrunde liegenden Abbildungen,173 da die Wörter schwarz auf die Ausschnitte der Werbeseiten gedruckt und daher bei insgesamt hellerer Grundierung stärker akzentuiert sind, während sie vor den dunkleren Partien fast verschwinden. Diese Tatsache stellt einen weiteren Unterschied zum ursprünglichen Kontext der Abbildungen dar, da eine Text/Bild-Kombination zu Werbezwecken meist entschieden die Lesbarkeit und Deutlichkeit der verbalen Komponente berücksichtigt. Der Verweis auf Reklame bleibt dennoch bestehen, wenn auch durch die Integration des Werbematerials in ein Buch, ein literarisches Erzeugnis, und durch seine Kombination mit lyrischen Texten, auf eine entfremdete Weise. Inhaltlich kreisen die Gedichte um Pornographie, Obszönität, Sex und Gewalt. Aus männlicher Perspektive werden Frauen, aber auch das lyrische Ich selbst, als reine Sexualobjekte thematisiert – meist spielen nur die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale eine Rolle174 – oder Onanie175 und Entjungferung176 werden in einer einfachen, direkten und sehr derben Sprache lyrische Inhalte. Diese Themen werden mit popkulturellen Versatzstücken verbunden und mit verschiedenen (medialen) Wahrnehmungs-
173
Die hier schwarz-weiß gedruckten Abbildungen sind im Original farbig (vgl. R.D. Brinkmann: Godzilla).
174
Vgl. beispielsweise das Gedicht Wichtig (Brinkmann, Rolf Dieter: »Wich-
175
Vgl. »Meditation über Pornos« (Brinkmann, Rolf Dieter: »Meditation über
176
Vgl. Das sexuelle Rotkäppchen (Brinkmann, Rolf Dieter: »Das sexuelle
tig« (Godzilla), in: Ders., Standphotos, S. 174). Pornos« (Godzilla), in: Ders., Standphotos, S. 162). Rotkäppchen« (Godzilla), in: Ders., Standphotos, S. 179).
180 | I NTERMEDIALITÄT BEI ROLF DIETER B RINKMANN
modalitäten kombiniert. Die unpersönliche und grobe Art, in der die Gedichte das Thema Sexualität verhandeln, klingt schon im Titel des Bandes an, der den Namen Godzillas, der monströsen Horrorfilm-Hauptfigur trägt. Diese radioaktiven Atem speiende Riesenechse fungiert gleich einem ganz auf Vernichtung programmierten maschinellen Objekt. Eine exemplarische Analyse der Text/Bild-Reihe möchte ich anhand des Gedichts Celluloid 1967/68 aufzeigen:177 Abbildung 3: Celluloid 1967/68 (I)
Quelle: R.D. Brinkmann »Celluloid 1967/68«, in: Ders., Standphotos, S. 169.
177
Brinkmann, Rolf Dieter: »Celluloid 1967/68« (Godzilla), in: Ders., Standphotos, S. 169-172. Abbildung 3-6.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 181
Abbildung 4: Celluloid 1967/68 (II)
Quelle: R.D. Brinkmann »Celluloid 1967/68«, in: Ders., Standphotos, S. 170.
182 | I NTERMEDIALITÄT BEI ROLF DIETER B RINKMANN
Abbildung 5: Celluloid 1967/68 (III)
Quelle: R.D. Brinkmann »Celluloid 1967/68«, in: Ders., Standphotos, S. 171.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 183
Abbildung 6: Celluloid 1967/68 (IV)
Quelle: R.D. Brinkmann »Celluloid 1967/68«, in: Ders., Standphotos, S. 172.
Der lyrische Text erstreckt sich über vier Werbeseiten, die der Reihenfolge nach den Ausschnitt eines Dekolletés einer Bikiniträgerin, eine weibliche Bauch- und Hüftpartie im Halbprofil, einen Körperausschnitt einer sitzenden Frau und eine Großaufnahme des Beinansatzes unter einem Minirock zeigen. Bildlich scheint Brinkmanns Aussage umgesetzt, dass es »tatsächlich nicht einzusehen [sei], warum nicht ein Gedanke die Attraktivität von Titten einer 19jährigen haben sollte, an die man gerne fasst«178. Die gewählten Abbildungsausschnitte zeigen Einzelheiten konventionell als ideal eingestufter weiblicher Körper. Die Bilder stellen insgesamt einen ästhe178
R. D. Brinkmann/R. R. Rygulla: »Der Film in Worten«, in: Dies., Acid, S. 384.
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tisch ansprechenden Augenreiz dar. Sexualität und Körperlichkeit werden im Gedicht ebenfalls thematisch aufgegriffen, jedoch auf obszöne und grobe Art. Passagen wie »komm her und lass dich / ficken, von vorn oder von hinten / das ist mir völlig gleich«179 oder »Fotzen laufen aus und wollen geleckt / sein, Schwänze en masse, alle eingekremt«180 testen Geschmacksgrenzen und Schamgefühl des Lesers und besitzen einen stark provokativen Impetus, vor allem in Anbetracht des Erscheinungsjahrs der Gedichte 1968. Auffällig ist die Kombination von Passagen, welche sexuelle Phantasien ausführen, mit Produkten der Warenwelt und der Nennung von Filmstars. Das Kino wird im Gedicht mehrmals thematisiert, so im Titel Celluloid und gleich zu Anfang: »Immer dasselbe / Kino.«181 Zusätzlich treten zahlreiche Hollywoodstars der 1960er Jahre auf: Kim Novak, George Hamilton, Senta Berger, Yul Brynner, Tony Curtis und Jayne Mansfield182 werden namentlich erwähnt. Dabei handelt es sich zunächst um Thematisierungen im eigentlichen Text mit möglicher Markierungsfunktion für intermediale Relationen, die die offensichtliche Text/Bild-Kombination auch auf rein verbaler Seite ergänzen. Neben thematischen intermedialen Markern fällt die konkrete Nennung des Produkts Coca-Cola183 auf, welche das Gedicht kontextuell mit der Werbebrache verknüpft. Verdeutlicht wird diese Verbindung durch die Inszenierung des Markennamens im Gedicht: Zweimal wiederholt sich die Phrase »und an der nächsten Ecke wartet / der Coca-Cola-Automat auf dich persönlich«184 beziehungsweise »und an der nächsten Ecke war- / tet der
179
Brinkmann, Rolf Dieter: »Celluloid« (Godzilla), in: Ders., Standphotos, S.
180
Ebd., S. 171. Vgl. Abbildung 5.
181
Ebd., S. 169. Vgl. Abbildung 3.
182
Die Namen sind teilweise (unabsichtlich?) falsch geschrieben: »George
169. Vgl. Abbildung 3.
Hammilton«, »Yul Brunner« und »Jane Mansfield« (R. D. Brinkmann: »Celluloid 1967/68« (Godzilla), in: Ders., Standphotos, S. 170. Vgl. Abbildung 4). 183
Ebd., S. 169, S. 171, S. 172. Vgl. Abbildung 3, 5, 6.
184
Ebd., S. 169. Vgl. Abbildung 3.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 185
Coca-Cola-Automat auf dich / persönlich«185. Diese beiden Passagen sind die einzigen, in denen der Leser direkt angesprochen wird; im wiederholten Aufgreifen des Coca-Cola-Automaten zieht sich die Anrede, welche den Rezipienten durch das Enjambement, die Stellung des Wortes ›persönlich‹ in den nächsten Vers, noch stärker fokussiert, allerdings noch hinüber in den folgenden Satz. Durch die Anrede und den Inhalt ist auf Reklame als Bezugssystem referiert. Kommunikativ wird hier, nach Ugo Volli, eine typische Werbestrategie genutzt. Volli nennt als Beispiel für Kategorien der Kommunikation der Werbung das Gegensatzpaar der Kontinuität und Diskontinuität, welches unterschiedlich eingesetzt werden kann. Ein mögliches Muster wäre, »etwa den Gedanken an eine wohltuende Pause in einem kontinuierlichen und ermüdenden Alltagseinerlei nahezulegen (die dann vielleicht mit einem Getränk, einer süßen Leckerei oder einer Zigarette ausgefüllt wird)«186. So wirkt der ›Getränkeautomatslogan‹, auch durch die exakte Wiederholung, wie eine Unterbrechung des Obszönitätenallerleis. Durch die auffällige Inszenierung des Markennamens tritt, neben den Werbephotounterlagen auch das Gedicht inhaltlich und kommunikativ in Verbindung mit Werbung, was, neben dem pornographischen Inhalt und den, zumindest nach damaligen Maßstäben, lasziven Bildern, als weitere Provokation und Entmystifizierungstendenz der Lyrik verstanden werden kann. In Opposition dazu schildert »[m]oderne Beschreibungsliteratur [...] zwar weiterhin Nachttöpfe, Busen und Hausklingeln, wählt aber – aus politischen, existentiellen, psychologischen und manchmal auch ästhetischen Gründen – ihre Verfahren so, dass diese Dinge dem Leser in völlig neuem (in der Regel irgendwie kritischem) Licht erscheinen sollen. Ein Markenname dient freilich genau dem Gegenteil, nämlich dazu, ein Ding für den Rezipienten problemlos wiedererkennbar zu machen und es dabei mit einem intendierten Set von (positiven) Assoziationen fest zu verknüpfen. Coca-Cola ist eben Coca-Cola und kein mit Sprudelwasser versetzter Kräutersirup.«187
185
R. D. Brinkmann: »Celluloid«, in: Ders., Standphotos, S. 172. Vgl. Abbil-
186
U. Volli: Semiotik, S. 311.
187
M. Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 167-168.
dung 6.
186 | I NTERMEDIALITÄT BEI ROLF DIETER B RINKMANN
Im Fall von Celluloid 1967/68 ist eine allgemeinere Dekodierung zunächst recht einfach zu bewerkstelligen. Alle Hollywoodstars, die Marke CocaCola und auch die genannten Beatles sind der angloamerikanischen Kultur zugehörig. Generell steht die amerikanische Populärkultur für Brinkmann vor allem für eine freiheitliche, liberale Sphäre im Unterschied zur als spießig wahrgenommenen deutschen Kultur. Brinkmanns Amerikavorliebe und Popbegeisterung188 steht daher in direktem Zusammenhang mit der deutschen Nachkriegsliteratur und -kultur. Denn »›Amerika‹ war für Brinkmann […] ein Kulturraum, in dem, so sein Eindruck, die individuelle Kreativität nicht wie im ›Abendland‹ durch den ›Ordnungswahn‹ der Literaturgeschichte eingeschränkt war.«189 Die im Gedicht verwendeten Codes190 (von Curtis bis Coca-Cola) können demnach als generelle Affinität Brinkmanns zur als subversiv wahrgenommenen amerikanischen Popkultur gelesen werden; durch das literarische Aufgreifen dieser Codes ist auch auf amerikanische Vorbilder der (Underground-) Kunst- und Literaturszene verwiesen, die Popmusik, -kultur und Pornographie bereits in ihre Arbeiten integrieren, sich innerhalb der Popszene verorten und eine Basis des Einzugs popkultureller und medialer Gehalte in die Werke Brinkmanns darstellen. Die Nennung beispielsweise der Filmstars birgt allerdings auch starkes kritisches Potential. Die alles durchsetzende Waren- und Konsumwelt, die optisch durch das Abdrucken des Gedichts auf der Folie einer konsumorientierten Bildwirklichkeit und inhaltlich durch Versatzstücke aus Film-,
188
Brinkmanns Einstellung diesbezüglich ist durchaus ambivalent und seine Begeisterung wandelt sich im Laufe seines Lebens und Werks. So schreibt Brinkmann beispielsweise in den Briefen an Hartmut über sein Verhältnis zu Amerika: »Noch etwas zu meiner Vorliebe für USA: sie war ganz mythisch orientiert (denn mit den ollen abgetakelten abendländisch-europ. Mythen, aus Griechenland, Italien und den Juden, damit konnte ich nichts anfangen), dann nachdem ich durch war, hatte ich einen enormen anit-amerikan. [sic.] Tick, jetzt da ich dort war, was? Eigentlich sehr freundlich, trotz des riesigen Mists, den ich dort etwas auch gesehen habe« (R. D. Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 41).
189
J. Schäfer: »Mit dem Vorhandenen etwas anderes als das Intendierte machen«, in: H. L. Arnold (Hg.), Pop-Literatur, S. 73.
190
Zur Klärung des Begriffs Code vgl. Kapitel 3.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 187
Fernseh- und Warenwelt verdeutlicht wird, rückt auch den Warencharakter der Sexualität und die Instrumentalisierung vor allem des weiblichen Körpers in den Mittelpunkt. Die Verdinglichung, Instrumentalisierung und Passivierung der Subjekte wird thematisch im Text aufgegriffen und durch das Zusammenfließen und die nicht klar zu trennende Verklammerung von Filmwelt und Realität unterstützt, denn »das Kino hat längst / überall angefangen«191. Es ist unklar, ob die sexuellen Reize von einem bestimmten Film ausgesendet werden, ob einzelne Gedichtpassagen Beschreibungen konkreter Filmszenen oder Zitate aus Dialogen aufgenommen sind192, oder ob es sich bei den Referenzen lediglich um assoziative Verknüpfungen des lyrischen Ichs handelt. Ungeachtet dessen deuten alle möglichen Wahrnehmungsmodalitäten auf konditionierte Subjekte in einer vorcodierten, reizüberfluteten Umwelt hin. Sogar die Nennung der Hollywoodstars kann als Akt der ›Entindividualisierung‹ gelesen werden: Ein und der-/dieselbe treten im Gedicht gleich vielfach auf und Jayne Mansfield wird sogar nur pars pro toto genannt: »zwei Mal // Kim Novak, drei mal Kerl aus Hol- / lywood, vier Mal George Hammilton, fünf / Mal Senta Berger, acht Mal Tony Curtis / neun Mal die Titten von Jane Mansfield«.193 Die genannten Namen stehen für die Verkörperung von Männlichkeit oder weibliche Sexsymbole, welche für das Publikum eine ideale Projektionsfläche bilden und
191
R. D. Brinkmann: »Celluloid«, in: Ders., Standphotos, S. 169. Vgl. Abbil-
192
Es ist nicht zu rekonstruieren, ob auf bestimmte Filme Bezug genommen
dung 3. wird. Sämtliche genannten Schauspieler haben in der fraglichen Zeit einige Filme gedreht. Zur genauen Eingrenzung und Festlegung einer konkreten Referenz liefert Celluloid 1967/68 nicht genügend Anhaltspunkte. 193
R. D. Brinkmann: »Celluloid«, in: Ders., Standphotos, S. 172. Ein weiteres Moment, das auf die Entindividualisierung hindeutet, könnte die Tatsache darstellen, dass Brinkmann einige der Namen falsch schreibt. Zudem macht Liesa Pieczyk darauf aufmerksam, dass Kim Novak die letzte HollywoodFilmdiva war, welche bewusst von männlichen Produzenten der Columbia Studios vermarktet wurde, um beim (männlichen) Publikum Fantasien anzuregen und Begehren zu wecken (vgl. Pieczyk, Liesa: »Godzilla meets Miss Maus. Norm versus Phantasma in Rolf Dieter Brinkmanns Godzilla«, in: T. Boyken/I. Cappelmann/U. Schwagmeier (Hg.), Rolf Dieter Brinkmann, S. 143-157, S. 155).
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Fantasien anregen sollen. Nicht nur die genannten Personen werden bei dieser Festlegung auf ein Stereotyp reduziert, auch das lyrische Ich reagiert lediglich auf die vorgegebenen Reize, zeigt sich ausschließlich triebgesteuert. Die Verweise auf die amerikanische Popkultur, welche die im Gedicht verwendeten Codes tätigen, können demnach verschiedenartig ausgelegt werden und zeigen zudem Brinkmanns zwiespältiges Verhältnis gegenüber der angloamerikanischen Popkultur. Formal gehen die filmischen Thematisierungen einher mit der Vertextung fremdmedialer Spezifika im Sinne der vorangegangenen Ausführungen zur sprachlichen Wiedergabe des Gehirnfilms. Äußere Reize und Gedanken fließen assoziativ zusammen, worauf die Form des Gedichts mit der Zerstörung der syntagmatischen Kontinuität durch Vers- und Sinnbrüche reagiert. Passagenweise könnte man daher eine Anlehnung an die visuelle Ästhetik konkreter Poesie annehmen, bei näherer Betrachtung wirkt die Analogie allerdings unpassend. Verdeutlichen lässt sich diese Feststellung anhand der Setzung folgender Textpassage: Die Wörter »von / links / unten / nach / rechts / oben«194 sind entgegengesetzt ihres Bedeutungsgehalts eben nicht in dieser Richtung auf die Bildfläche gedruckt, sondern sie sind zu einer ›Worttreppe‹ arrangiert, die sich von links oben nach rechts unten neigt. Diese kontralogische Flächennutzung der Sprache lässt sich auf die grundlegende Ebene des Bezuges zwischen Text und Bildhintergrund übertragen. Ein Leitmotiv des Zusammenwirkens beider medialer Komponenten ist das Spiel mit den Lesererwartungen zur Erzeugung von Irritation, dem auch die visuelle Dimension der Textgestaltung entspricht. Die den Gedichten unterlegten Bilder haben keine direkt illustrierende Funktion, ebenso wie den Texten keine vordergründig erläuternde Aufgabe im Bezug auf die Abbildungen zukommt. Zwar könnte man stellenweise eine illustrierende Funktion der Bilder vermuten, wie beispielsweise aufgrund der Textsequenz »bis / das Bild voll ist von ihrem wei- / ßen Fleisch«195, die auf den Untergrund des Gedichts referieren könnte. Obwohl beide gleichermaßen auf Provokation aus sind, überwiegt insgesamt der Kontrast von Anziehung und Abstoßung in der Wirkungsweise von Text und Bild, wodurch der Akzent auf die inhaltliche Diskre-
194
R. D. Brinkmann: »Celluloid«, in: Ders., Standphotos, S.172. Vgl. Abbildung 6.
195
Ebd.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 189
panz verschoben wird. Die Bilder bieten einen appetitlichen Augenreiz, appellieren an positive Betrachterreaktionen, indem sie Attraktivität vor Augen führen. Der innerhalb des Bildes liegende Text stellt keinesfalls eine Verstärkung der Intention der Abbildung dar, obwohl dies gerade im Hinblick auf seine Setzung mitten ins Bild zu erwarten wäre, sondern kontrastiert durch abstoßendes Vokabular und die Vermittlung von Gefühllosigkeit und Gewalttätigkeit die appellativen visuellen Impulse.196 Die Erwartungen des Rezipienten werden enttäuscht und die Wirkung des Textes so intensiviert. Geködert durch die schönen Oberflächen der abgebildeten Körper, konfrontiert der Text den Rezipienten mit der Auflösung der Körper, mit deren Ausscheidungen. Während die Bademoden die anziehende Seite der Körperlichkeit zeigen, beschäftigt sich der Text mit den abstoßenden Exkrementen. Nach der Lektüre der Gedichte ist es möglich, dass die Bilder eine etwas andere Wirkung entfalten: Das Wissen um die Entindividualisierung sämtlicher Personen, die Reduktion der Frau zum reinen Sexualobjekt, die Kommunikationslosigkeit zwischen den Geschlechtern und den aggressiven und groben Ton der Gedichte lässt die Abbildungen in ihrer Ausschnitthaftigkeit und Unpersönlichkeit wie Schnappschüsse eines lüsternen Voyeurs erscheinen. Die Celluliod 1967/68 zugrunde liegenden Werbeplakate zeigen kein einziges Gesicht der abgebildeten Frauen, sondern nehmen lediglich isolierte Körperausschnitte in den Fokus. Ein eindeutiges Anliegen, das Brinkmann mit der Text/Bild-Reihe Godzilla verfolgt, ist schwer festzulegen. Dies liegt unter anderem auch an der kontextuellen Verortung des Rezipienten. Thema und Gestaltung der Gedichtreihe Godzilla appellieren stark an Sehgewohnheiten, zeitbedingte Einschätzungen von Geschmacksgrenzen und persönliches Schamempfinden. Text und Bild provozieren gleichermaßen. Wenn die Abbildungen als anziehender Augenreiz und die Gedichte kontrastierend als abstoßend empfunden werden, entsteht zunächst Irritation. Diese wird verstärkt durch die Verwendung von Werbematerial innerhalb eines Gedichtbandes in Kombination mit lyrischen Texten. Brinkmann reproduziert dabei eine Strategie der Werbung, indem er den Leser visuell lockt, seine Neugier weckt und dann auf eine ›Botschaft‹ lenkt. Die Verbindung anstößiger
196
Auch wenn die Bilder damals eine skandalösere Wirkung gehabt haben mögen, als man sich das heute vorstellen kann, halte ich doch den Text für weitaus provokanter.
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Themen und vulgären Vokabulars innerhalb eines Gedichtbands mit Werbeanzeigen erzeugt Innovation und Provokation. Fiedlers Postulat, die Literatur müsse Massenmedien und Populärkultur integrieren und daraufhin sämtliche ihrer Erscheinungsformen verändern, wird in Godzilla in Form einer Parallelführung intermedialer Phänomene und popkulturellen Zeichenvorrats sichtbar und lesbar.197 Auch der Empfehlung des amerikanischen Literaturprofessors, dass sich neben Wildwestgeschichten und Science-Fiction-spezifischen Thematiken am besten pornographische Inhalte zur Wiederbelebung literarisch verkrusteter Formen und zur Überwindung der Kluft zwischen hoher Kultur und Unterhaltung eigneten, ist durch diese Text/Bild-Kombination nachdrücklich Folge geleistet. Die Wahl der lyrischen Form zur Umsetzung dieses Anliegens erklärt sich nach Brinkmann daraus, dass vor allem »deutschsprachige ›Gedichte‹ zum Vehikel der Anpassung geworden sind, nicht zuletzt deswegen, weil in ihnen Sexualität bisher ausgeklammert wurde«198 und dadurch auf der Ebene der Lyrik der größte Revolutionierungsbedarf herrscht. Die Erweiterung des literarischen Zuständigkeitsbereichs provoziert gerade durch die Radikalität, mit der Brinkmann sie vollzieht. Schon der Text allein würde genügen, um zumindest zahlreiche Anhänger der strikten Trennung von Hochkultur und populärem Unterhaltungssektor zu pikieren.199 Werden die Bilder nicht gegensätzlich zum Text aufgefasst, sondern als visuelle Unterstützung des Inhalts der Gedichte, potenzieren sie den skandalösen Effekt. Sie führen eine Freizügigkeit vor, die für damalige Verhältnisse wohl das erträgliche Maß überschritt. Auf dieser Basis können zwei verschiedene Rückschlüsse gezogen werden: Entweder man liest dieses Experimentieren mit Schamgrenzen als Enttabuisierung zur Beseitigung eines im Weg stehenden Schamgefühls,200 oder man sieht darin eine
197
Vgl. L. A. Fiedler: »Überquert die Grenze, schließt den Graben!«, in: W.
198
R. D. Brinkmann: »Über Lyrik und Sexualität«, in: Streit-Zeit-Schrift, S. 70.
199
Gerade in den 1960er Jahren war Pornographie (neben Comics, mit welchen
Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne, S. 57-75.
Brinkmann auch arbeitet) der Inbegriff des Schunds (vgl. S. Schmitt: »›Trivialität als künstlerische Strategie‹«, in: Kritische Ausgabe, S. 7-11. 200
Diese Deutung greift beispielsweise Michael Strauch auf (vgl. M. Strauch: Rolf Dieter Brinkmann, S. 55).
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Gegenaufklärung zur öffentlichen Debatte über Sexualität in den 1960er Jahren, die keine Nische der Intimität unangetastet lässt.201 Die Gedichte nehmen inhaltlich keine explizite negative Wertung des Massenkonsums oder obszöner sexueller Phantasien vor, entwickeln aber durch die Art der Sprachverwendung kritisches Potential. Dieses kann sich wiederum auf die Interpretation der Bilder auswirken. Umgekehrt haben die Bilder nicht die Kraft, den an sich inhaltlich nicht direkt wertenden Text positiv umzufunktionieren, während die Abbildungen jedoch im Kontext der Gedichte unter den Aspekten der Instrumentalisierung und Entpersonalisierung betrachtet werden können. Der Gedichtband Godzilla und die folgenden Lyrikbände Die Piloten (1968), Standphotos (1969) und Gras (1970) bilden Höhepunkte der popkulturellen Verweise innerhalb Brinkmanns Werk. In diesen Texten lässt sich eine deutliche Häufung popkultureller Codes erkennen. Unter anderem darum ist Brinkmann der wichtigste Repräsentant des Pop I. 202 Den Anfangspunkt dieser Entwicklung markiert Brinkmanns Roman Keiner weiß mehr203, welcher erstmalig eine Häufung von beispielsweise Bandnamen und Produktmarken literarisiert. Godzilla stellt ein Paradebeispiel für diese Phase dar. Unter dem Eindruck der neuen amerikanischen Szene ist nicht nur die kunstübergreifende Arbeitsweise im intermedialen Sinn programmatisch, sondern auch, thematisch an Fiedler anschließend, die Beschäftigung mit Pornographie und darüber hinaus der inhaltliche Einzug vor allem der amerikanischen Popkultur in die Literatur. Die Versprachlichung der Art und Weise, wie die zu beschreibende Umwelt wahrgenommen wird und wie Werbung und Medien sich dabei in den Prozess der Realitätserfassung einschalten, verbindet sich mit der konkreten Nennung des ›profanen
201
Jene Auslegung vertritt unter anderem Sibylle Spät (vgl. Späth, Sibylle: Rolf
202
Vgl. Kapitel 3.
203
Vereinzelte Markennamen tauchen schon früher in Brinkmanns Werken auf,
Dieter Brinkmann, Stuttgart: Metzler 1989, S. 48).
beispielsweise wird in seiner Erzählung In der Seitenstraße (1966 erstmals erschienen) die »Maggiflasche« genannt (Brinkmann, Rolf Dieter: »In der Seitenstrasse« (Raupenbahn), in: Ders., Erzählungen, S. 203-220, S. 205). Eine Auflistung von Bands und Sängern ist zum Beispiel auch schon in der 1967 veröffentlichten Erzählung Strip zu finden (vgl. Brinkmann, Rolf Dieter: »Strip«, in: Ders., Der Film in Worten, S. 61-64).
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Raums‹.204 Dinge bleiben nicht allgemein betitelt, sondern werden mit Marken belegt, ebenso wie Prominente aus Presse, Film und Fernsehen als Teil der persönlichen Erfahrungswelt namentlich genannt werden. 4.5.2 Augenblicke und Zusammenschnitte Bei der näheren Betrachtung zweier der drei späten Materialbände Brinkmanns, Rom, Blicke und Schnitte, ist zunächst eine Begriffsklärung zur Beschreibung des Text/Bild-Verhältnisses nötig. In allen Bänden werden verschiedenste Materialen textlicher und bildlicher Natur, wie beispielsweise Briefe, Photographien, Pressebilder, Schlagzeilen aus Zeitschriften, Auszüge aus Büchern und eigene Texte Brinkmanns, zusammengefügt. Die terminologische Bezeichnung, mit der das Kombinationsverfahren beschrieben wird, schwankt zwischen Collage und Montage.205 Beiden Begriffen ist zunächst eigen, dass sie die Verarbeitung von Fremdmaterialen mit einschließen, die so Segmente eines neu entstehenden Textes oder Werkes werden. In der genaueren Erläuterung der Termini orientiere ich mich an Victor Žmegaþ206, der eine Definition vertritt, »wonach in M[ontage] der Oberbegriff zu sehen sei, C[ollage] dagegen eine besondere Spielart der M[ontage] bezeichne. [...] Es erscheint möglich, die beiden Begrif-
204
Vgl. B. Groys: Über das Neue und Kapitel 3.
205
Vgl. die beiden Titel folgender Veröffentlichungen, die sich auf Brinkmanns Materialbände beziehen: M. Strauch: Rolf Dieter Brinkmann Studie zur Text-Bild-Montagetechnik und K. Herrmann: Bewusstseinserkundungen im »Angst- und Todesuniversum«. Rolf Dieter Brinkmanns Collagebücher.
206
Alternative Definitionen wären beispielsweise, die Synonymie beider Begriffe anzunehmen und die unterschiedliche Terminologie regional (in Frankreich eher Collage, in Deutschland Montage), medienbedingt (in der Musik ist Collage das, was im Film als Montage bezeichnet wird) oder zeitlich (bis zu den 1960er Jahren wurden beide Begriffe synonym verwendet, seitdem setzt sich eher der Begriff Collage durch) zu begründen. Darüber hinaus werden die beiden Termini dadurch voneinander unterschieden, wie ihre heterogenen Elemente technisch kombiniert sind; in diesem Fall wäre alles, was ohne Klebstoff auskommt, eine Montage und alles, was geklebt montiert wird, eine Collage.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 193
fe folgendermaßen voneinander abzugrenzen: M[ontage] sollte man das Verfahren nennen, fremde Textsegmente in einen eigenen Text aufzunehmen, sie mit eigenen zu verbinden bzw. zu konfrontieren. C[ollage] wäre dagegen insofern ein Extremfall von M[ontage], als der Text (in Analogie zu den Klebeobjekten mit verschiedenen Gebrauchsmaterialien in der bildenden Kunst) ausschließlich entlehnte, aus verschiedenen Quellen stammende Elemente enthielte. Der Begriff ›Zitat‹ sollte für die Fälle vorbehalten bleiben, wo der fremde Text als solcher ausdrücklich gekennzeichnet ist«207.
Im Fall Rolf Dieter Brinkmanns sind sowohl auf bildlicher Ebene eigene Produkte wie selbst aufgenommene Photographien oder eigenhändig angefertigte Skizzen mit Illustrierten- und Zeitungsbildern oder Postkarten verknüpft als auch auf sprachlichem Gebiet eigene Textpassagen oder zumindest Satz- oder Wortfetzen integriert. Daher werde ich im Kontext der Materialbände im Hinblick auf die bildliche Komponente, genauso wie im Bezug auf die sprachliche Ebene und das Zusammenwirken zwischen Text und Bild, den Begriff Montage verwenden. Sowohl literarische wie auch bildliche, musikalische oder filmische Montagen betonen das Moment der Technik und der Konstruktion; je nachdem, wie stark diese Aspekte betont sind, spricht man von einer demonstrativen, das heißt einer offenen, sofort ins Auge stechenden oder von einer integrierenden, verdeckten Montage.208 Die irritierende Wirkung montierter Einzelteile ist umso stärker, je deutlicher die Heterogenität ihrer Komponenten nach außen gekehrt wird und je größer der Schnitt, die Kluft zwischen den unterschiedlichen Montageelementen ist. Auch die Diskrepanz zwischen dem alten und neuen Kontext, in den die montierten Fragmente gestellt werden, ist entscheidend, da auch im Verfahren der Demontage eines Elements und seiner Montage innerhalb eines neuen Zusammenhangs bisherige kontextuelle Eigenschaften erhalten bleiben. Da Teile, die zu Montagezwecken ausgewählt werden, oftmals der alltäglichen Umgebung, der Medienwelt oder dem persönlichen Umfeld angehören, kommt eine weitere Entfremdung hinzu, die aus der Diskrepanz der Wahrnehmung des in ein künstlerisches Werk aufgenom-
207
Žmegaþ, Viktor: »Montage/Collage«, in: Ders./Dieter Borchmeyer, Moderne Literatur in Grundbegriffen, Tübingen: Niemeyer 1994, S. 286-291, hier S. 286.
208
Ebd., S. 287.
194 | I NTERMEDIALITÄT BEI ROLF DIETER B RINKMANN
menen Alltagsprodukts entsteht. Durch das Herausreißen einzelner Fragmente und ihre Kombination zu einem heterogenen neuen Werk wird die Kausalität der Sachkonstruktion und des Handlungsgefüges absichtlich gefährdet oder zerstört. Dadurch wohnt der Technik der Montage an sich schon, unabhängig von ihrem Inhalt, ein gewisser kritischer Impuls inne. Durch die Zerstörung kausaler, räumlicher, zeitlicher und logischer Zusammenhänge wird eine Unordnung rezipierbar, die jede Homogenität der Alltagswirklichkeit, deren Versatzstücke montiert kombiniert werden, illusionär erscheinen lässt. Die Wirkung wird durch die Spannung zwischen disparaten Formelementen erzeugt, die durch eine prinzipielle Mehrschichtigkeit und Mehrdeutigkeit kaum auf einen festen Sinngehalt eingegrenzt werden kann, was zu einer Deutungsoffenheit eines nach den Gesetzen der Montage gestalteten Werks und zu einem starken Einbezug des Rezipienten führt.209 Das äußere und innere Zusammenspiel der heterogenen Text- und Bildteile und die Art und Wirkung der Montagetechnik möchte ich zunächst anhand des Materialbandes Rom, Blicke verdeutlichen. Diese Mischung aus Reisebericht, Briefroman und Tagebuch entstand 1972/73 während Brinkmanns Stipendium in der Villa Massimo in Rom. In der entstandenen gnadenlosen Abrechnung mit der Kulturstadt zeichnet er sprachlich und photographisch minutiös Einzelheiten seiner Umgebung und spontane Gedanken und Befindlichkeiten auf und kombiniert diese mit ›Beweisstücken‹, wie beispielsweise Hotel- und Restaurantrechnungen, Ansichtskarten und Auszügen aus Informationsmaterial zu bestimmten Sehenswürdigkeiten. Den Großteil des Bandes dominiert der Text aufgrund etlicher abgedruckter Briefe Brinkmanns, vor allem an seine Frau und an Freunde und Bekannte adressiert, und langer Schilderungen. Die Texte kombinieren Beschreibungen äußerer Einzelheiten nach der Ästhetik versprachlichter Schnappschüsse mit assoziativen Verknüpfungen, welche in Anlehnung an die Vertextung des Gehirnfilms gestaltet sind. Unterschiedliche Passagen sind aneinander montiert, Briefe von Freunden folgen auf Ausführungen Brinkmanns, oder Zitate unterschiedlicher Lektüren sind mit Kommentaren des Autors verwoben. Der Text gibt, wie der Titel bereits ankündigt, in ›Cut-Up Manier‹ individuell gefilterte, nicht hierarchisierte und oftmals rein assoziativ
209
Vgl. Möbius, Hanno: Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film, Photographie, Musik, Theater bis 1933, München: Fink 2000, S. 278.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 195
verbundene, auf das Subjekt einströmende Eindrücke wieder. Um eine Authentizität des Schreibvorgangs mit dem Moment des unmittelbaren Erfassens der Umwelt und Innenwelt zu erzeugen, braucht Brinkmann die Technik des »Cut-up[s]! – Denn die Blicke machen ja ständig cut-ups!«210 Diese Methode betont sowohl die Subjektivität als auch die Zufälligkeit der Realitätsauffassung und deren Wiedergabe, denn »[j]eder macht Cut-Ups mit seinen Augen, die durch Gedanken und Wertmuster in der Abfolge bestimmt sind. (Das dritte ist der Gedanke, der die Wahrnehmung steuert, worauf sie fällt)«211. Vorhandene Schnitte werden an manchen Stellen durch typographische Cuts verdeutlicht, wie beispielsweise an folgender Stelle: »Fußballspieler, Papstbilder, vom guten Johannes, Madonna (›Mama mia!‹): dazu Frisöre, Obstläden, Gemüse (Könnte ich besser kochen!) (Könnte ich überhaupt kochen!)/Frauenschreie, hoch und durchdringend in den schmalen düsteren Gassen (ist Mittelalter)/(ich übertreibe nicht, ich war durch nichts abgelenkt, ich konnte sehen und hören, was sich begab:Frauenschreie)/Immer wieder Abzweigungen/Kaufmannsläden, die alles führen, vom All-Waschpulver bis zum Cornedbeef/(nebenher auch noch 6 Uhren und 2 Sorten Gummibänder)/(:aber Sex und Ausschweifung und Vergnügen und Flitter ist hier nicht, nix da!)/(Wind heult um die Ecken.)«212
Neben der simulierenden Integration filmischer Darstellungstechniken besitzt diese Textpassage aufgrund ihres untypischen Schriftbilds eine gesteigerte visuelle Dimension, ebenso wie Kopien aus Büchern, Prospekten und literarischen Lektüren durch die Kombination verschiedener Schriftarten die bildliche Dimension des gedruckten Textes hervorheben. Generell ist anzumerken, dass nicht nur inhaltlich auf die Thematik der bildlichen Darstellung verwiesen wird, sondern auch durch die Betonung der Materialität der Graphie, Marker, die auf eine formale intermediale Dimension des Textes verweisen, gesetzt werden. Buchstaben und Wörter treten als Elemente innerhalb der visuellen Ordnung einer Seite hervor, betonen so den Aspekt ihrer graphischen Substanz und liefern zusätzlich zu
210
R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 93.
211
Ebd., S. 135.
212
Ebd., S. 374.
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den Bildern eine optische Segmentierung. Solche Graphismen, die neben ihrer visuellen Dimension »eine Erfahrung des Schreibens als Sudeln, Verletzen, Ritzen und Kratzen, Durchlöchern einer ›Unterlage‹«213 transportieren vermitteln »das Materielle des Ein-Drucks«214, der sich im Wort manifestiert.215 Die Betonung der bildlichen Komponente der Schrift kann in ihrer Funktion mit der Medienthematisierung auf inhaltlicher Ebene parallel geführt werden. Der Anteil bildlicher Darstellungen ist im Vergleich zu den Textpassagen insgesamt wesentlich geringer, obwohl teilweise über Seiten hinweg Photoreihen zu einer Art Bildergeschichte zusammengefügt sind, die auch ohne den Text durch ein Panorama an Einzelmomenten einen Gesamteindruck erzeugen. Das verwendete visuelle Material ist äußerst vielseitig; es erstreckt sich von Produkten der Massenmedien, beispielsweise Illustrierten- oder Zeitschriftenbildern, über objets trouvés, wie etwa Hotelrechnungen oder Eintrittskarten bis hin zu selbst geknipsten Photographien. Bei den von Brinkmann aufgenommenen Photographien handelt es sich um Abbildungen in Schnappschussästhetik, die bevorzugt Nebensächlichkeiten, ›unrepräsentative‹ Motive in einer amateurhaften, verwackelten oder angeschnittenen Weise darstellen. Texte und Bilder ergeben gemeinsam eine akribisch zusammengesammelte Anhäufung zahlloser Einzelmomente des Romaufenthalts Brinkmanns. Visuelle und sprachliche Komponenten verfolgen in unterschiedlicher Weise dasselbe Ziel, nämlich ein radikal subjektives, alle Sinne und Eindrücke umfassendes Gesamtpanorama der Realität zu entwerfen, das sich aus mosaikhaften Wirklichkeitsversatzstücken ergibt. Diese Wirkung lässt sich sowohl für die Text- als auch für die Bildebene, genauso wie für ihr Zusammenspiel anführen. Die Abbildungen sind innerhalb des Textes auf verschiedene Weise eingesetzt; es lassen sich hinsichtlich ihrer Bezüge untereinander hauptsächlich zwei Gruppen diffe-
213
Lehmann, Hans-Thies: »Schrift/Bild/Schnitt. Graphismus und die Erkundung der Sprachgrenzen bei Rolf Dieter Brinkmann«, in: H. L. Arnold (Hg.), Rolf Dieter Brinkmann, S. 182-197, hier S. 188.
214
Ebd., S. 189.
215
Unterstützt wird dieser Eindruck durch die Montage der einzelnen Seiten. Die Bilder und Texte sind ausgerissen, ausgeschnitten, über- und nebeneinandergeklebt. Der Eindruck der Materialität der originalen Seiten ist allerdings durch die Reproduktion als Druck wieder etwas zurückgenommen.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 197
renzieren: zum einen Bilder, die unmittelbar illustrierende Funktion haben, die gewissermaßen die visuelle Komponente zu einer Beschreibung desselben Objekts, Ortes oder Motivs zeigen, und zum anderen bildliche Elemente, die an eine im Text evozierte Aussage appellieren. Der erstgenannte Bildtypus tritt in Form längerer Bildsequenzen in Erscheinung, auf die der Text sich immer wieder bezieht, wie etwa bei einer Photoreihe ziemlich zu Anfang, die die Beschreibung der Zugfahrt nach Italien veranschaulicht:216 Abbildung 7: Zugfahrt (I)
Quelle: R.D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 11. 216
Vgl. R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 11-12. Vgl. Abbildungen 7-8.
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Abbildung 8: Zugfahrt (II)
Quelle: R.D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 12.
In gewohnter Manier greift die detaillierte Beschreibung der Fahrt Wahrnehmungen aus dem Inneren des Zuges auf, die mit Gedanken des Subjekts verknüpft und mit eindrücklichen Beobachtungen der vorbeifliegenden Landschaft kombiniert werden. Diese sprachlichen Ausführungen rahmen eine photographische Reihe von Momentaufnahmen. Die Bilderfolge besteht aus Aufnahmen von Wiesen, Bäumen, Brücken, Bergen, Tälern, Seen und Häusern, die durch ihre scheinbar willkürliche und spontane Setzung der Motive ins Bild verdeutlichen, dass die Photographien tatsächlich aus dem Zuginneren während der Fahrt aufgenommen wurden und Momente
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der Reise dokumentieren. Die geknipsten Bildausschnitte sind zufällig und flüchtig, »man selber bleibt ja praktisch immer auf derselben Stelle und die Außenwelt summiert sich«217, wenn der Betrachterblick durch das Fenster eines fahrenden Zuges gerichtet ist. Die einzelnen Photographien versuchen zwar das Thema der Bewegung mit zu visualisieren, indem sie die Szenarien verwackelt, verschwommen oder an die Bildränder gedrängt vor Augen führen, dennoch können sie die Starre der vorgeführten Momentaufnahmen, vor allem aufgrund der ordnenden, kleinen weißen Rahmen um die Photographien, nicht überwinden. Dazu benötigen sie den Text, der durch die atemlose, parataktische Erzählweise in Form langer, inhaltlich verschiedenste Eindrücke kombinierender Sätze Geschwindigkeit erzeugt, wie beispielsweise innerhalb folgender, die Photographieseiten umfließenden Textpassage: »[D]ieser weiße Nebel, und dazwischen gerissen dünne, tiefe schmale Wasserrinnen, kalte, feuchte Gesteinsbrocken wild durcheinander, ab und zu eine glatte Asphaltstraße, die in einen Berg verschwand, auch im Zug wurde es hell und dunkel wegen der Tunnel, dann Bruchstücke von Straßenschleifen, einzelne Häuser an der Bahnstation, die gleich neben einem steilen Abhang standen, das Ganze in eine feuchte kalte diesige Nebelstimmung eingepackt [...]. Und danach kam die wirklich total überraschende Umstimmung: glänzendes, wolkenloses Blau, Sonne, massive Felswände in einiger Entfernung, eine leichte Luft, – das totale Gegenteil der Landschaft eine viertel Stunde vorher – braune felsige Wände, einige abfallende grauweiße Flächen weit an den zurückgebliebenen Bergspitzen, gelbes Laubgewirre, kleine Bahnstationen Aivolo und Castionen-Arbedo – eine blendend weiße Wolke mitten in einem enormen glatten Blau über den Bergspitzen, und ich habe dagestanden und immerzu geschaut und Fotos gemacht.«218
Durch die genaue Beschreibung konkreter Einzelheiten, die explizite Nennung von Namen und durch die Thematisierung des Photographierens wird im Text ein enger Bezug zu den Abbildungen geknüpft, der den Leser dazu veranlasst, genannte Sachverhalte auf den Photographien zu suchen und die Schilderungen anhand des visuellen Nachweises zu überprüfen. Daher übernehmen die Bilder eine wichtige Funktion innerhalb der Dokumentati-
217
R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 9.
218
Ebd., S.12-13.
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on der Reise, sie sprechen dem Text durch ihre Abbildfunktion einen Wahrheitsgehalt zu und machen darüber hinaus Inhalte, wie beispielsweise die durchbrechende Sonne und den Stimmungswechsel durch die Darstellung veränderter Lichtverhältnisse, deutlich. Indem die Bilderfolge den Textfluss unterbricht und die sprachlichen Ausführungen vor und nach der Photographiedoppelseite sich mehrere Male auf Motive der Abbildungen beziehen, wird die Linearität des Lesevorgangs unterbrochen, der Rezipient stoppt und sucht auf den Bildern bestimmte Motive, Themen oder Objekte, um danach die Lektüre weiter fortzusetzen um dann erneut immer wieder die visuelle Komponente in die Rezeption zu integrieren. Die Vorstellung einzelner Situationen und deren Bedeutung erfolgt in der Addition der Möglichkeiten sprachlicher Zeichen und der photographischen Semiotik. Die Kombination zweier verschiedener Rezeptionsweisen, nämlich der Aneignung eines Sachverhalts über die sinnliche Wahrnehmung und der gedanklichen Verarbeitung sprachlicher Passagen, simuliert hierbei – unter Berücksichtigung sämtlicher medialer Verschiebungen – das unmittelbare Erleben von Realität mit einer Methode, die dem Film nahe kommt. Der Erfahrungscharakter wird durch die Kombination textlicher und bildlicher Komponenten verstärkt, sobald diese denselben Inhalt mit ihrer unterschiedlichen, verschiedene Aspekte herausstellenden Zeichensprache verdeutlichen. Hinzu kommt, dass die Bilder konzentrationsfördernd sind, da der Rezipient versucht in der Photoreihe das beschriebene Szenario wieder erkennen zu können. Wie Brinkmann aus eigener Erfahrung feststellt, macht »das gelegentliche Fotografieren [...] wach und aufmerksam«219. Auch die Konzentration und Beteiligung des Lesers wird durch dessen Aufgabe, Text und Bild zu verknüpfen, gefordert.220 Ähnlich verhält es sich bei einzelnen Photographien, die direkt an Ort und Stelle zur Visualisierung eines bestimmten Gebäudes, Stadtteils oder einer landschaftlichen Kulisse in den Text eingeschoben sind, wie beispielsweise bei der Beschreibung eines Fußmarschs, auf dem Brinkmann
219
Ebd., S. 135.
220
Dies ist eine Taktik, die Brinkmann auch in zahlreichen theoretischen Aufsätzen verfolgt. Vgl. R. D. Brinkmann: »Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten«, in: Ders., Westwärts 1&2. Erweiterte Neuausgabe, S. 256-330.
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eine Kirche passiert, seinen genauen Standort angibt und zur Vervollkommnung des dokumentarischen Aspekts seiner Aufzeichnungen, mit dem Satz: »Die Kirche heißt San Rocco, sie sieht so aus:«221, eine Photographie des Gebäudes aus eben dem genannten Blickwinkel hinzufügt:222 Abbildung 9: San Rocco
Quelle: R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 367.
Oftmals dienen auch Postkarten zur direkten Visualisierung einer Beschreibungssequenz. Dass diese teilweise mit dem Namen des dargestellten Ortes oder Gebäudes bedruckt sind, unterstreicht zusätzlich ihren Dokumentations- und Nachweischarakter. Brinkmanns Realitätsmosaike sind in ihrer Subjektivität erneut so auf die Spitze getrieben, dass zwar die einzige Verknüpfung der Themen Brinkmanns Blick selbst ist, in seinen eigenen Worten gesprochen: »Eindrücke, die überhaupt nicht zusammenpassen können, Erschöpfung daraus und ein Muster an Einfällen, Reflexionen, gesehenen Einzelheiten, die sich
221
R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 367.
222
Vgl. Ebd., S. 367. Vgl. Abbildung 9.
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in mir summierten«223, er in der Wiedergabe seiner persönlichen Realitätsauffassung allerdings so agiert, dass das Subjekt hinter den ganzen ungebündelten Einzelheiten fast verschwindet. Das Individuum thematisiert nicht explizit eine reflektierte Verarbeitung seiner Außen- und Innenwelt, sondern gibt möglichst direkt erlebte Eindrücke und Befindlichkeiten wieder, die dadurch einen entpersonalisierten Anschein haben. Rolf Dieter Brinkmann beschreibt den daraus resultierenden Effekt folgendermaßen: »Solche unscheinbaren, geringen und zufälligen Eindrücke enthalten für mich die ganze Einsicht in den tatsächlichen Zustand, in dem unser Leben sich befindet, der uns umgibt. [...] Um das klarzustellen:ich meine nicht eine Identifikation, sondern ich meine, dass solche winzigen, schnell vorbeispringenden Eindrücke Sinnbilder sind. In ihnen drängt sich plötzlich und unvermutet die ganze auseinandergesprengte Realität zusammen. Das, was da ist, mehr nicht, nämlich ein Arm mit einer herausgreifenden Hand die einen Pappbecher nimmt, und das Wechselgeld von Papierscheinen und der verödete schmale Bahnsteig mit dem verblichenen Licht.«224
Eine enge Verquickung des objektiven dokumentarischen Aspekts mit einer radikal subjektiven Perspektive, die sich hinter dem Begriff der sinnbildlichen, individuell gewählten Motive versteckt, welche sich in einem ständigen Balanceakt befinden, verdeutlichen die von Brinkmann auf spezielle Weise verwendeten Landkarten, Stadtpläne oder mit Hinweisen versehenen Postkarten und Photographien. Brinkmanns Aufzeichnungen ist unter anderem ein Ausschnitt einer Stadtkarte von Rom beigefügt, in die eine von ihm gewählte Route genau eingezeichnet ist:225
223
R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 149.
224
Ebd., S. 91.
225
R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 244-245. Vgl. Abbildung 10.
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Abbildung 10: Stadtkarte
Quelle: R. D. Brinkmann, Rom, Blicke, S. 244-245.
Darüber hinaus ist die Karte mit Kommentaren und Anmerkungen Brinkmanns versehen, die mit Pfeilen einzelnen Wegstationen zugewiesen sind und sich derartig auf den ursprünglich rein sachdienlichen Grundriss drängen, dass die eigentliche Aufgabe einer Karte, nämlich die Orientierung zu erleichtern, kaum noch wahrgenommen werden kann. Die chaotisch auf den Plan gekritzelten Textanmerkungen wirken eher verwirrend und übertreiben die Dokumentation des Spaziergangs so stark, dass eigentlich nur noch die individuelle Wirklichkeitsaneignung in Einzeleindrücken aus der Karte herauszulesen ist. Der Plan zeigt nochmals auf, wie Brinkmann sich direkt vor Ort Realitätselemente angeeignet hat; er dokumentiert nur noch die Stellen, die er selbst in den Blick genommen hat, andere Ausschnitte werden durch die Überschreibung mit Text ausgeblendet und unleserlich. Nach diesem, im Fall des vorhergehenden Beispiels ›schematisch‹ dargestellten Prinzip funktioniert der Materialband Rom, Blicke. Die Subjektivität der von Stimmung und Motivation geleiteten Motivauswahl, die auch bei spontanen Schnappschüssen eine maßgebliche Rolle spielt, wird durch den zweiten Typus der Verwendung von Bildmaterial deutlich, der nicht in erster Linie zum topographischen Nachvollziehen des dargestellten Inhalts eingesetzt ist. Die differente Art des Einsatzes von Photographien ist dazu da, eine im Text vorhandene Stimmung sinnbildlich zu visualisieren. So folgt einem Briefausschnitt mit den Worten »– Ich
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wünsche mir oft so sehr einen Ort, an dem wir zusammen leben könnten, ohne diese andauernden Einmischungen einer hässlich werdenden, auch psychisch hässlicher und verrotteter werdenden Umwelt«226, im Abstand von einer zwischengeschalteten Seite, eine Photographieserie mit Darstellungen verwahrloster Häuser und Gärten und schmutziger, menschenleerer Straßen:227 Abbildung 11: Häuser, Gärten, Straßen
Quelle: R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 28. 226
Ebd., S. 26.
227
Vgl. R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 28. Vgl. Abbildung 11.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 205
Diese Bildfolge dient nicht dazu, konkret eine bestimmte Straße oder ein spezielles Haus zu zeigen, vielmehr trägt sie zur frustrierten, pessimistischen und resignierten Grundstimmung bei. Somit sind zu diesem Zweck eingesetzte Abbildungen in der Lage, sinnbildlich eine Verfassung der Welt oder wenigstens die Stimmung des beschreibenden Subjekts in diesem Moment auszudrücken. Maßgeblich bleibt hierbei allerdings der Text, da der Bilderfolge, obwohl sie die hässliche Seite der Stadt herauskehren soll, durch ihre Setzung und Rahmung ein beschönigender und artifizieller Charakter anhaftet, den der Text besser auszuschalten weiß als die Photographien. Brinkmann verfolgt in Rom, Blicke durch die Kombination von Textund Bildelementen unter Berücksichtigung der den medialen Produkten jeweils eigenen Mitteln dasselbe Ziel, nämlich die Dokumentation eines individuellen, ›authentischen‹ Erlebens. Sein Wahrnehmungsprotokoll liefert ein dokumentarisches, sinnbildliches Realitätsangebot in sprachlicher und bildlicher Form, das im Rezeptionsvorgang eine zweite subjektive Dimension durch den Rezipienten hinzugewinnt. Bei aller mutmaßlichen Sachlichkeit ist die Auswahl und Kombination gewählter Realitätsfragmente individuell durch das betrachtende Subjekt bedingt. Im Rezeptionsprozess, der nicht auf eine lineare Richtung festgelegt ist und sich großflächig nicht durch logische oder kausale Verknüpfungen manifestiert, tritt der subjektive Blick des Lesers in den Vordergrund, der ansprechende Passagen oder Bilder besonders in den Fokus nimmt, andere hingegen überspringt. Dadurch wird die dem Produktionsprozess eigene Subjektivität und Selektivität der im Werk manifesten Realitätsaneignung auf anderer Ebene wiederholt. Durch die Modifizierung traditioneller Genres, wie dem des Briefromans, des Reiseberichts oder des Tagebuchs, inhaltlich verbunden mit einer umfassenden, polemischen Zivilisationskritik, ausgerechnet anhand der Stadt Rom, die spätestens seit »Göthe«228 Inbegriff der kulturellen Muse und des guten Geschmacks ist, spielt Brinkmann wiederum mit traditionellen Erwartungen und erzeugt so provokatives und kritisches Potential. Während Rom, Blicke seine Wirkung maßgeblich über die inhaltliche Komponente erzielt, steht innerhalb des Materialbands Schnitte hauptsächlich die Form im Vordergrund. Der Text ist zu großen Teilen zugunsten
228
R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, beispielsweise S. 16, S. 64, S. 194.
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ausgerissener, zusammengeschnittener oder verklebter Bildbündel reduziert. Integrierte Wörter, Sätze oder Textfragmente sind entweder aus Zeitungsanzeigen, Illustrierten, Prospekten oder Plakaten ausgerissen oder sie wurden von Brinkmann in Spaltenform auf weißem Papier abgedruckt und anschließend innerhalb der Text/Bild-Kombination ausgeschnitten oder ausgerissen montiert, wie auf folgender Seite:229 Abbildung 12: Schnitte (I)
Quelle: R. D. Brinkmann: Schnitte, S. 130.
229
Vgl. R. D. Brinkmann: Schnitte, S. 130. Vgl. Abbildung 11.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 207
Durch Zeilenbrüche, die teilweise einzelne Wörter spalten, und extrem verknappte, unzusammenhängende semantische Einheiten werden logische Verknüpfungen und Sinnzuweisungen schon innerhalb eines kleinen Textblocks nahezu unmöglich: Verrotteter Kontinent &K ulturelle Wö rter!: Wahnsi nnige Rotati on/je schnel ler das kapu tt-caput-Kop f ging, desto besser, Aufst ände, Brände, Rauch):230
Die Zerstückelung einzelner, sich zu einem Wort fügender Buchstaben geschieht allerdings nicht aus kompositionellen Gründen, sondern um die Fragmentierung der Bedeutung schon auf der Ebene der einzelnen Wörter zu markieren. Das Spiel mit den Signifikanten wird zusätzlich durch die Mehrsprachigkeit der deutschen, englischen und italienischen Textelemente und durch die teilweise an eine phonetische Transkription erinnernde Verschriftlichung ihrer Aussprache, zum Beispiel »people watsch &stäre«231, unterstrichen. Verweise und Bezüge zwischen den unterschiedlichen Textfeldern sind kaum zu erkennen, ebenso wenig wie eine Reihenfolge der zu lesenden Passagen ersichtlich ist. Dadurch entstehen verschiedene Möglichkeiten der Verknüpfung, die linearen Lese- und Denkprozessen entgegenwirken und die sich stattdessen, nach dem Prinzip der Fold-In Technik Burroughs, je nach Leserpräferenz, zu zufälligen, neuen Kombinationen mischen. Von Brinkmann verfasste Textteile, teilweise Selbstzitate aus anderen seiner Werke, sind kombiniert mit übernommenen Phrasen, diese wiederum sind montiert mit selbst aufgenommenen Photographien,
230
R. D. Brinkmann: Schnitte, S. 130. Vgl. Abbildung 12.
231
Ebd.
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Zeitschriften- und Illustriertenbildern, teilweise in Farbe, teils in schwarzweiß. Sowohl die Art der Montage, die im Vergleich zu Rom, Blicke die Heterogenität ihrer Teile wesentlich demonstrativer zur Schau stellt und die Schnitte und Risse zwischen unterschiedlichen Bild- und Textsequenzen in Titel und Ästhetik zum Leitmotiv dieses Bandes macht, als auch die Verwendung farbiger Bilder, steigern die Expressivität der Schnitte. Unsauber ausgerissene Schwarzweißbilder, kombiniert mit Bildfetzen farbiger Werbeanzeigen und Brinkmanns getippten Kommentaren, montiert mit typographisch unterschiedlichen Zeitungsschlagzeilen, ergeben ein beängstigendes Wahrnehmungskarussell fragmentierter Bild- und Textversatzstücke, die eine Simultanität unterschiedlichster Verweiszusammenhänge und Sinnoptionen beinhalten, dem Rezipienten allerdings keinen Halt und keine Orientierung für das automatisch bedeutungssuchende Auge geben. Einzelne Zusammenhänge zwischen Versatzstücken können zwar stellenweise ausgemacht werden, beispielsweise könnte das Textsegment »offenes Abteil- / fenster, stinkige / Landschaftsfetzen«232 eine Verbindung zwischen der durch diese Textpassage teilweise überklebten, eine Person im Gang eines Zuges darstellende Schwarzweißphotographie auf der rechten Seite und der durch den Text überblendeten Abbildung abgestorbener Baumstämme darstellen. Ein weiteres Beispiel für verbindende Komponenten ist die Affinität zwischen der Form und der Beleuchtung eines ausgerissenen überdimensionalen Auges mit einem auf derselben Seite ins Text/BildGefüge eingearbeiteten Zahnrad auf der ersten Doppelseite des Bandes:233
232
Ebd.
233
Ebd., S. 6-7. Vgl. Abbildung 13.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 209
Abbildung 13: Schnitte (II)
Quelle: R. D. Brinkmann: Schnitte, S. 6-7.
Die Rundungen werden in den Großbuchstaben des auf dieser Seite auffällig gesetzten Wortes »CONTROL«234 wiederaufgegriffen und korrespondieren mit einer grob ausgerissenen Darstellung einer Frauenbrust. Die kompositorisch eingesetzte Kreisform kombiniert Schrift, ursprünglich belebte und unbelebte Materie und schafft dadurch eine Synthese zwischen Inhalten, welche einer kontrollierten Wahrnehmung widerspricht. Die sich überschneidenden Formanklänge zwischen einem Zahnrad und Körperteilen, lassen alles verdinglicht und tot wirken. Diese einzelnen Momente der Verknüpfung unterschiedlicher, heterogener Inhalte und das gleichzeitige Nebeneinander verschiedener unzusammenhängender semiotischen Elemente haben einen gespenstisch alptraumhaften Effekt. Unter dieser Wirkung und in Verbindung mit Sprachfragmenten wie »...totes graues Neon am Morgen…«235, »...sex in Fetzen...«236, »dünne verschlissene Schat234
Ebd., S. 6-7. Vgl. Abbildung 13.
235
Ebd.
236
Ebd.
210 | I NTERMEDIALITÄT BEI ROLF DIETER B RINKMANN
ten...«237 oder »…nichts, niemand, nirgendwo, nie… (Phantomgegenwart)«238 wird jedes Satzfragment zu einer nicht zuzuordnenden Stimme und jeder abgebildete Ort zum potentiellen Tatort. Durch den Verlust eines zusammenhängenden narrativen Sinnes in Text und Bild, und durch die Auflösung des Raum- und Zeitkontinuums ist der Rezipient in ein alptraumhaftes Flackern leerer Wort- und Bildhülsen eingebunden, um immer wieder von den bildlichen Variationen der Themen Sex, Tod und Geld konfrontiert zu werden. Die Bilder haben den größeren Anteil an diesem Effekt, denn zum einen sind die Textfragmente flächig zwischen ausgerissene, zerstückelte Abbildungen montiert und werden daher innerhalb einer bildtypischen Rezeptionsweise wahrgenommen, die nicht chronologisch im Sinn von linear vonstatten geht, sondern von einem Punkt ausgeht und sich dann weiter ausdehnt; zum anderen umgehen die bildlichen Fragmente durch die grobe und unsaubere Art ihrer Montage weitgehend den Ästhetisierungsprozess, bedingt durch das Fehlen ihres geschlossenen Rahmens, wodurch ihr Wirkungspotential zur Erzeugung von Irritation erheblich gesteigert ist. Die daraus resultierende Schwierigkeit, ihren ursprünglichen Verweisungszusammenhang wiederherzustellen, um die Rezeption des Betrachters nach konventionellen Mustern zu aktivieren, wird durch das Fehlen jeglicher kausaler Verbindungen unterstützt. Dadurch, dass die Abbildungsfetzen keine bestimmte Reihenfolge vorgeben und im Einzelnen keine geschlossene Rahmung besitzen, sind narrative Deutungen nahezu unmöglich. Die Suggestivkraft der Bilder zieht den Rezipienten an und führt ihm schutzlose Nacktheit, Totenschädel und verwüstete Landschaften vor Augen. Diese Schreckenseindrücke bleiben und überlagern auch Bilder, die etwa Models, Werbeprodukte oder friedliche Naturausschnitte zeigen. Der Text unterstreicht diese Atmosphäre durch sprachliche Versatzstücke einer negativen, sinnentleerten Weltsicht. Schnitte kann als ein »verstümmelte[r] Gehirnfilm«239 charakterisiert werden, da nach wie vor die unmittelbare Wahrnehmung von inneren und äußeren Realitätsfragmenten im Mittelpunkt der textlichen und bildlichen Reproduktion steht, allerdings ist der Standpunkt des beschreibenden Subjekts nicht mehr auszumachen, da es, genauso wie der Rezipient, die ein-
237
Ebd.
238
Ebd.
239
Ebd., S. 148.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 211
zelnen Bilder nicht mehr bündeln kann. Die Schnitte und Risse zwischen den Montageteilen kennzeichnen die verloren gegangenen Bezüge, während die einzelnen Bilder und Worte eine Vielstimmigkeit und Vielfarbigkeit erzeugen, die ein dahinter verborgenes Subjekt völlig überlagern. Die verselbständigte Außenwelt stürzt auf das Individuum ein, dem jede Kontrollfunktion oder Selbstbehauptung abhanden gekommen scheint; übrig bleiben bedrohlich wirkende isolierte Einzelstücke, die auf den Leser das alarmierende Gefühl des Verlustes der Kontrollinstanz übertragen. Dazu wird wiederum der Text neben der bildlichen Komponente unentbehrlich, weil nur so die gleichzeitige Verselbständigung der Umwelt auf unterschiedliche ihrer Vermittlungsformen ausgedehnt ist und eindrücklich vorgeführt werden kann. Durch die hauptsächliche Verwendung von Zeitschriften, Illustrierten und Werbematerial zur Erzeugung dieser Wirkung geraten die Massenmedien in den Blickpunkt der Kritik, sie bauen durch die Überflutung des Subjekts mit sinnentleertem Bild- und Textmaterial ein Realitätschaos auf, welches das Individuum nahezu völlig absorbiert. Text und Bild ergänzen sich in den Materialbänden, indem sie ihre jeweils spezifischen Mittel nutzen, um einen gemeinsamen Effekt zu erzielen. Rom, Blicke steht in der Tradition der Vertextung des Gehirnfilms, der äußere Fakten, Assoziationssprünge und innere Befindlichkeiten verquickt. Diese Schreibweise wird ergänzt durch dokumentierende photographische Darstellungen einzelner Realitätsmomente. Beide besprochenen Materialbände weisen den Anspruch auf die subjektive Authentizität eingebrachter Erinnerungen, Wahrnehmungseindrücke, Empfindungen und Begebenheiten auf, jedoch führt Schnitte ein anderes Verhältnis des Individuums zur Wirklichkeit vor. Während das Rom-Tagebuch passagenweise die Erzählung einzelner Erlebnisse bündelt und Bilder zur Untermalung von Textaussagen gebraucht, zeigt Schnitte in Text und Bild eine alptraumhafte, zersprengte und somit weitgehend entpersonalisierte Simulation einer nur noch aus Versatzstücken bestehenden Scheinwelt. Mit diesem chaotischen Bilderstrom in Verbindung mit nahezu völligem Sprachverlust geht Brinkmann bis an das Äußerste der Möglichkeiten, die Montage direkter Eindrücke nahezu unreflektiert und von Konvention und Tradition entbunden erscheinen zu lassen und zu einem bestimmten Stimmungsszenario zusammenzufügen. Das Potential, die Zuschüttung der Sinne mit Zeichenmaterial verschiedener Art künstlich zu simulieren, entsteht nur durch die Kombination von Text und Bild, deren Eigengehalt maximal zersetzt ist. Dieser
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Effekt entsteht hauptsächlich durch die äußere Faktur, ist also teilweise unabhängig vom Inhalt. Generell drückt die intermediale Verarbeitung von Text/Bild-Relationen eine sich wandelnde literarische Stellungnahme Brinkmanns gegenüber der medieninfiltrierten Alltagswahrnehmung aus. Seine anfänglichen Experimente mit Film und Photographie lassen sich, im Sinne Fiedlers, als Postulat für die Notwendigkeit der Berücksichtigung fremdmedialer Einflüsse lesen, die ein sich wandelndes Verständnis für Literatur und deren Aufgaben, und den Anspruch den Grabens zwischen high und low culture zu überwinden, mit sich bringen. Wichtig werden besonders die Effekte der Unmittelbarkeit, Direktheit und Sinnlichkeit, die anhand der intermedialen Phänomene innerhalb literarischer Texte transportiert werden sollen. Um die Vorstellung, unmittelbare Realitätswahrnehmung zu versprachlichen zu realisieren, nutzt Brinkmann zunächst die Verfahrensweisen anderer Medien, letztendlich stellen diese sich allerdings als genau der Filter heraus, der den direkten Zugang zur Realität versperrt. Welche literarische Akzentuierung der Mechanismen zwischen Wirklichkeitswahrnehmung und Medien auch vorherrscht, deutlich wird, dass sie nicht auszublenden sind, sobald versucht wird, den Blick auf das Momentane und das Erleben des Jetzt zu beschreiben. Neben den in diesem Kapitel ausführlich beschriebenen Intermedialitätstypen und deren Funktionen an der Schnittstelle von Text und Bild, bilden Kontakte zwischen Sprache und Musik die zweite Gruppe fremdmedialer Referenzen in Rolf Dieter Brinkmanns Werk.
4.6 S ONG -T EXTE . L ITERATUR UND M USIK »Besser als eine Revolution ist Musik machen und Musik hören.«240
Die Beziehungen zwischen Text und Musik sind bei Brinkmann, obwohl sie in zahlreichen Sekundärtexten thematisiert werden, nicht systematisch erforscht. Dafür könnte es zweierlei Gründe geben: Zum einen werden,
240
R. D. Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 93.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 213
gerade im Vergleich zu anglistischen und amerikanistischen Arbeiten, in der Germanistik die Kontaktstellen zwischen Musik und Literatur hauptsächlich im Hinblick auf klassische Musik untersucht; zum anderen sind Experimente zwischen dem musikalischen und sprachlichen System in Brinkmanns Werk nicht so prominent und vielfältig wie die Verbindungen zwischen Text und Bild. Dennoch sind sie für das Aufzeigen der intermedialen Palette unerlässlich und vor allem auch elementar, um die bereits angesprochene Code-Funktion von Versatzstücken der angloamerikanischen Popkultur zu verdeutlichen. Verweise auf Musik sind in Texten, Paratexten und Kontexten quantitativ äußerst häufig. In Brinkmanns theoretischen Arbeiten wird im Text und auch in bildlicher Form immer wieder auf Musik referiert, beispielsweise wenn in seinem Aufsatz Der Film in Worten Passagen eingeschoben sind, »die genormtes Verhalten löchrig machen«241 und Leseerwartungen irritieren sollen, wie »die Stirnlocke Bill Haleys, das wunderbare, wirre, aufregend schöne Geschrei Little Richards, Buddy Hollies Balladen oder de[r] Rock Elvis Presleys, der schon 1957 acht goldene Schallplatten erhielt (Too much; Playing for keeps; All shook up; That’s when your heartaches begin; Loving you; Teddy Bear, Jailhouse Rock; Treat me nice«242.
oder die in seinem Vorwort zu Silverscreen zwischengeschalteten Abbildungen von Elvis Presley243 und Jim Morrison244. Auch in seinen Erzählungen, wie schon zum Thema Film zitierte Passagen aus Wurlitzer zeigen245, sind musikalische Verweise zu finden. Die Rolling Stones werden in Raupenbahn namentlich genannt246 und stellen, in Form eines zitierten Refrain-
241
R. D. Brinkmann/R. R. Rygulla: »Der Film in Worten«, in: Dies. (Hg.),
242
Ebd.
243
R. D. Brinkmann: »Notizen 1969 zu amerikanischen Gedichten und zu
244
Ebd., S. 16.
245
Vgl. Kapitel 4.3.1.
246
Brinkmann, Rolf Dieter: »Raupenbahn« (Raupenbahn), in: Ders., Erzählun-
Acid, S. 386.
dieser Anthologie«, in: Ders. (Hg.), Silverscreen, S. 12.
gen, S. 268-349, hier S. 296.
214 | I NTERMEDIALITÄT BEI ROLF DIETER B RINKMANN
textparts »Oh no, no, no/ Oh no, no, no/ Oh no, no, no«247 ihres Songs She smiled sweetly von ihrer Platte Between the buttons (1967) das Motto von Brinkmanns Roman Keiner weiß mehr. Auch in thematischer Hinsicht greift dieses Prosawerk Bands und Songs immer wieder auf; Musik spielt auf figuraler Ebene, durch die große Musikleidenschaft des Protagonisten und seiner Freunde eine wichtige Rolle. Es gibt »Unterhaltungen zwischen ihnen und dazu Musik, Schallplatten, die abliefen, Otis Redding, Wilson Pikkett, die Rolling Stones mit My sweet Lady Jane, das Stück, das Gerald am besten fand [...]. [...] Rainer mit seiner andauernden Musik im Kopf, überall, zu jeder Zeit, Otis Redding, Wilson Pikkett, James Brown, die Supremes, mit seinen Flacons, Cremes, Gesichtswassern und den toupierten Haaren am Hinterkopf«248.
Wie schon diese Passage zeigt, erfüllt Musik für die Figuren unterschiedliche Zwecke:249 Phasenweise bildet sie die Hintergrundberieselung für eine resignierte, lethargische Grundstimmung, die auch noch so energetische Songs nicht zu durchbrechen vermögen, oftmals ist Musik ein Gegenpol zur hektischen, bedrohlichen Umwelt und vermittelt Ruhe und Entspannung und darüber hinaus dient sie zur Verortung der Figuren in einer bestimmten Szene, zur Charakterisierung ihrer Vorlieben und Abgrenzung zum ›deutschen Muff‹. Trotz des quantitativ hohen Anteils der Thematisierung von Musik, sind die Dramatisierungen in Brinkmanns Prosa hinsichtlich ihrer Streubreite
247
R. D. Brinkmann: Keiner weiß mehr.
248
Ebd.: S. 49.
249
Vgl. zur Deutung der Aufgabe von Musik in Keiner weiß mehr auch: Schmitt, Stephanie: »›Ich möchte mehr Gegenwart!‹ Aspekte der Intermedialität in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns«, in: M. Fauser (Hg.), Medialität der Kunst, S. 175-193; H. Schmiedt: »No satisfaction oder Keiner weiß mehr«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, S. 11-23, besonders S. 17-18; S. Späth: Rolf Dieter Brinkmann, S. 39 und O. Kobold: »Während ich schreibe, höre ich manchmal Platten. Rockmusik im Werk Rolf Dieter Brinkmanns«, in: Eiswasser, S. 48-50.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 215
und nach qualitativen Maßstäben nicht gleichermaßen intensiv.250 Dennoch lassen sich unterschiedliche Bezüge zwischen Text und Musik pointiert herausarbeiten. Beispielgebend ist im Folgenden die Lyrik Brinkmanns, anhand derer intermediale Typen an der Schnittstelle von Musik und Literatur differenziert werden. 4.6.1 Sprachliche Vertonung Das erste Analysebeispiel verweist auf eine mögliche Verfahrensweise von Musik im Allgemeinen, ohne auf eine konkrete musikalische Richtung zu referieren. Darum ist eine nähere Erläuterung des Bezugs, eine Charakterisierung eines speziellen musikalischen Kontexts, in diesem Fall nicht nötig. Dieser Typus des Kontakts zwischen Literatur und Musik bezieht sich, wie auch bei der Übernahme einer photographischen Darstellungstechnik, auf ein bestimmtes Merkmal eines fremdmedialen Zeichensystems.251 War es bei der Photographie das Charakteristikum der Darstellung von Oberflächen, ist es hier im Kontakt mit der Musik die Möglichkeit der Vertonung, die simuliert wird. Da derartige Merkmale komplett innerhalb der Sprache ausgedrückt werden müssen, ist ein gewisser Abstraktionsprozess unumgänglich, um eine Darstellungstechnik aufgreifen zu können. Bei der Photographie muss die Oberfläche durch die Art der Sprachverwendung, durch die Reduzierung der Sinngehalte und die Beschreibungen von Äußerlichkeiten erzeugt werden, während im Fall der Vertonung die rein klangliche Komponente des Worts in den Vordergrund rückt und der semantischen Sprachfunktion übergeordnet wird. Bei dem vertonten Beispieltext handelt es sich um das Gedicht Der joviale Russe (nach Apollinaire: La jolie rousse) von Rolf Dieter Brinkmann und Ralf Rainer Rygulla, das in den März Texten 1 1969 veröffentlicht ist und über das es in den Anmerkungen heißt:
250
Vgl. Oliver Kobold, der in seinem Aufsatz Liedtextzitate oder Songs als mögliche Bezugspunkte für die Konzeption und Aussage von Brinkmanns Werken analysiert (O. Kobold: »Während ich schreibe, höre ich manchmal Platten«, in: Eiswasser, S. 46-53).
251
Vgl. Kapitel 4.1.1.
216 | I NTERMEDIALITÄT BEI ROLF DIETER B RINKMANN
»Der vorliegende Text ist eine Zusammenarbeit zwischen GUILLAUME APOLLINAIRE, RALF-RAINER RYGULLA und ROLF DIETER BRINKMANN. Er entstand im Mai 1969, Köln, Brüsseler Platz 17 und stellt den Versuch dar, ohne Kenntnis der Fremdsprache (in diesem Fall des Französischen) ein Gedicht zu übertragen.«252
Das Ergebnis dieses Prozesses, von dem hier nur die erste Strophe aufgeführt wird, da es in der folgenden Analyse um eine Beschreibung des Übertragungsmechanismus geht, liest sich so:
252
Schröder, Jörg: »Anmerkungen«, in: Ders. (Hg.), Mammut, S. 304.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 217
Tabelle 1: »Der joviale Russe«/»La jolie rousse« Ralf Rainer Rygulla &
Guillaume Apollinaire
Rolf Dieter Brinkmann
»La jolie rousse
»Der joviale Russe (nach Apollinaire: La jolie rousse)
Meine Stimme verlangt nach einem Heim
Me voici devant tous un homme plein de
plan wie eine Sense
sens
Kenner des Lebens und des Todes so
Connaissant la vie et de la mort ce
kühn wie die Wand die weiß
qu’un vivant peut connaître
Ahja ein Pulver ohne Geruch und weniger
Ayant éprouvé les douleurs et les joies de
Freude als Liebe
l’amour
Ahja so kelchweiß in Pose deiner Idee
Ayant su quelquefois imposer ses idées
Kenne Blusen länger
Connaissant plusieurs langages
Ahja paß mal auf wozu
Ayant pas mal voyagé
Ahja du da Gernegroß tanzt auf der Latrine
Ayant vu la guerre dans l’Artillerie et
von der Infanterie
l’Infanterie
Blasen wie Tuten trepaniert durch das
Blessé à la tête trépané sous le chloroforme
Kloformat Ahja alle weg meine Millionen Freunde
Ayant perdu ses meilleurs amis dans
tanzen um die jungfräuliche Latte
l’effroyable lutte
Jesses abziehen und die neue Tante
Je sais d’ancien et de nouveau autant qu’un
krummhobeln dazu die Bilder auf dem
homme seul pourrait des deux savoir
Samowar Umsonst die Inquisition auch heute wieder
Et sans m’inquiéter aujourd’hui de cette
quer
guerre
Eintritt Nuss um Nuss mein Freund
Entre nous et pour nous mes amis
Der Jude hatte lange Quälereien mit der
Je juge cette longue querelle de la tradition
Tradition und den Inventuren
et de l’invention
253
Der Orden und der Liebe«
253
De l’Ordre et de l’Aventure«254
Brinkmann, Rolf Dieter/Rygulla, Ralf Rainer: »Der joviale Russe« (nach Apollinaire: La jolie rousse), in: J. Schröder (Hg.), Mammut, S. 70-72, hier S. 70.
254
Apollinaire, Guillaume: »La jolie rousse«, in: Jörg Schröder (Hg.), Mammut, S. 70-72, S. 71.
218 | I NTERMEDIALITÄT BEI ROLF DIETER B RINKMANN
Den Ausgangspunkt dieses ›lyrischen Teamworks‹ bildet, wie in Klammer als Untertitel bei Brinkmann und Rygulla angegeben, das Gedicht La jolie rousse von Guillaume Apollinaire, das neben dem neu entstandenen abgedruckt ist. Dabei handelt es sich nicht um eine Übersetzung vom Französischen ins Deutsche, sondern um eine »Übertragung«255. Dabei ist das leitende Prinzip das »im Augenblick des Lesens sich einstellende Oberflächenverständnis«256. Mit Oberfläche ist hier weniger auf die bildliche Dimension oder die photographische Darstellungstechnik verwiesen. Man könnte zwar argumentieren, Brinkmanns und Rygullas Gedicht bilde Ähnlichkeiten ab, die, gleich einer Photographie, Übereinstimmungen mit dem ursprünglichen Ausgangspunkt aufweisen, mit diesem aber nicht identisch sind (im Fall dieser Gedichte ähnlich klingende Worte, allerdings mit anderer Bedeutung und andererseits, bei dem Abbildungsausschnitt einer Photographie, ein ähnlicher optischer Eindruck, nur einmal real und einmal in einem bestimmten Moment selektiv eingefroren). Allerdings ist die Inszenierung der phonetischen Dimension der Sprachen, der ›Klangoberfläche‹ des Wortes, so in den Vordergrund gerückt, dass die Bezüge zu musikalischen Verfahrensweisen wesentlich deutlicher offen liegen. Der Fremdsprachentext Apollinaires wird auf seine Lautstruktur hin gelesen und in einem zweiten Schritt von Brinkmann und Rygulla in (möglichst) ähnlich klingende deutsche Wörter übertragen. Dabei ist, anders als bei Übersetzungen, die, vor allem im Fall der Lyrik, zwar auch gesteigerten Wert auf die Entsprechung klanglicher Phänomene und die Übertragung bestimmter melodiöser oder lautlich ausgefeilter Passagen legen, allerdings nicht auf Kosten eines völlig anderen und entstellten Sinns, besonderer Wert auf phonetische Ähnlichkeit gelegt. So wird aus der »jolie rousse«257, der hübschen Rothaarigen258, der »joviale Russe«259. Der französische Text wird
255
Ebd., S. 304.
256
Ebd.
257
R. D. Brinkmann/R. R. Rygulla: »Der joviale Russe«, in: J. Schröder (Hg.), Mammut, S. 70.
258
Eine zum Abgleichen geeignete deutsche Übersetzung, auf die auch in den Anmerkungen zu Brinkmanns und Rygullas Gedicht verwiesen wird, ist zu finden in: Apollinaire, Guillaume: Poetische Werke, Neuweid/Berlin: Luchterhand 1969, S. 315-317.
259
G. Apollinaire: »La jolie rousse«, in: J. Schröder (Hg.), Mammut, S. 71.
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als klangliches Phänomen rezipiert und anschließend anhand assoziierter deutscher Wörter vertont. Dabei wird auf die Musik als Zeichensystem verwiesen, indem die mediale Eigenheit der Vertonung innerhalb der Möglichkeiten der Sprache simuliert wird. Eine Vertonung ist in der Musik, wenn es sich bei der Vorlage ebenfalls um ein mediales Produkt handelt, generell als Medienwechsel zu bezeichnen, da beispielsweise ein Text oder ein Bild in Noten transformiert wird. Die Möglichkeit der Parallelsetzung dieses Verfahrens mit Brinkmanns Übertragung von Apollinaires Gedicht, resultiert hingegen gerade nicht aus einem Medienwechsel, sondern daraus, dass ein fremdsprachiges Gedicht den Ausgangspunkt bildet. Die Vertonung erfolgt zwischen Sprache und Sprache, allerdings schaffen die Eigengesetzlichkeiten des Französischen, das seinen Sinngehalt nur entfalten kann, wenn der Rezipient das Regelsystem genau dieser Sprache kennt und Signifikanten Signifikate zuordnen kann, die nötige Differenz, die diese Übertragung möglich macht. Dabei bestehen für die deutsche Vertonung gewisse sprachinterne Verbindlichkeiten, die berücksichtigt werden müssen und welche gewisse Kompromisse bei der rein lautlichen Nachahmung verlangen. Das entstandene Gedicht lässt, grammatikalisch oder semantisch wenigstens kleinste Sinnversatzstücke erkennen, etwa, wenn es im ersten Vers heißt »[m]eine Stimme verlangt nach einem Heim plan wie eine Sense«260. Zwar ist der Satz nicht besonders sinnvoll, aber grammatikalisch korrekt. So muss die Vertonung sich an bestimmten Regeln orientieren, die das Zeichensystem mit sich bringt, sei es die Musik oder die deutsche Sprache. Da es aber generell keine Eigenschaft der Sprache ist, ihren Gehalt vor allem über den Klang auszudrücken, entsteht kein größerer Sinnzusammenhang innerhalb des vertonten Gedichts als Ganzem, sondern es bleibt eher reiner Überrest des Experiments der Vertonung und nur in Kombination mit dem Ursprungsgedicht Apollinaires in seiner Intention nachvollziehbar. Die Aussage des Gedichts ergibt sich dementsprechend nicht aus der Freilegung seines Gehalts, seiner Rhythmik, aus der Analyse der einzelnen Verse und Strophen, sondern aus dem Prozess der Vertonung. Die Übertragung dieser musikalischen Arbeitsweise in Sprache hat einige Angleichungen an das verbale System zur Folge. Zunächst ist es nötig,
260
R. D. Brinkmann/R. R. Rygulla: »Der joviale Russe«, in: J. Schröder (Hg.), Mammut, S. 70.
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die phonetische Dimension der Sprache zu betonen und im Gegenzug den Bedeutungsaspekt zurückzunehmen. Wenn dies nicht der Fall wäre, würde keine Übertragung, beziehungsweise Vertonung entstehen, sondern eine Übersetzung.261 Daher wird in den Anmerkungen darauf hingewiesen, dass Apollinaires Gedicht ohne Kenntnis der französischen Sprache rezipiert wurde. Die Tatsache, dass allerdings ebenso eine deutsche Übersetzung angegeben ist, zeigt auch, dass diese naive Lese(verweigerungs)haltung bewusst eingenommen wurde. Dadurch wird ein kulturkritischer Standpunkt auf unterschiedlichen Wegen betont: Zunächst ist, in der Anmerkung explizit und durch den Vertonungsvorgang implizit, darauf verwiesen, dass nicht unbedingt »das nötige Wissen vornehmlich ein Bildungswissen zu sein hat.«262 Die Aussage spiegelt sich in der exponierten Unkenntnis der französischen Sprache, in der Vernachlässigung semantischer Zusammenhänge und in der Tatsache, dass durch die Ignoranz gegenüber dem Inhalt von Apollinaires Ausgangsgedicht augenscheinlich ein ›sinnvoller‹ Dialog mit der Literaturgeschichte und den lyrischen Vorfahren verweigert wird. Dadurch, dass Brinkmann und Rygulla allerdings mit dieser Vertonung ein keineswegs neues263 und darüber hinaus auch noch typisch avantgardistisches Verfahren anwenden und zum Ausgangspunkt der Übertragung ein Gedicht Apol-
261
Dazu lässt sich anmerken, dass Brinkmann auch bei seinen Übersetzungen vergleichsweise intuitiv und assoziativ verfährt. So betont Harald Hartung »die Tatsache, dass Brinkmann seine Vermittlertätigkeit – die Herausgabe von Anthologien und Pop-Alben wie Acid – Neue amerikanische Szene und Silver Screen – Neue amerikanische Lyrik oder die Übersetzung von Frank O’Haras Luch Poems – auf eine sehr eigenwillige, gänzlich unphilologische Weise betrieb. Dieses Faktum nämlich lässt den Zusammenhang von Eigenproduktion und Adaption noch enger erscheinen« (Hartung, Harald: Deutsche Lyrik seit 1965, München: Piper 1985, S. 24).
262
J. Schröder: »Anmerkungen«, in: Ders. (Hg.), Mammut, S. 304.
263
In der Anmerkung zum Gedicht wird darauf verwiesen, dass es sich bei dem Verfahren um »eine besonders in der New Yorker Lyrikszene beliebte Schreibmethode« handelt (vgl. Ebd.).
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 221
linaires, dem »entscheidenden Anreger«264 und einer wichtigen »Integrationsfigur der histor[ischen] Avantgarden«265, nehmen, wird ein Dialog mit Kanon und Tradition auf anderer Ebene geführt. Zwar ist der Inhalt der jolie rousse für den jovialen Russen völlig gleichgültig, aber der angewandte und kontextualisierte Übertragungsmechanismus setzt auf Verständnismöglichkeiten jenseits tradierter Sinngehalte. Erwartungshaltungen des Rezipienten werden dadurch enttäuscht, dass Brinkmann und Rygulla als Leser die Aussage des Ursprungsgedichts völlig ignorieren. Auch die Beschreibung des Produktionsprozesses führt zur Irritation, da das entstandene lyrische Werk ausdrücklich eine Gemeinschaftsarbeit ist. Neben dem Aufgreifen des intermedialen Phänomens der Übernahme einer musikalischen Darstellungstechnik, ist, dadurch, dass ein Gedicht von Apollinaire fremdsprachlich vertont wird, auch ein intertextueller Verweis markiert, der weiter verfolgt werden kann. Beispielweise gibt es noch ein Gedicht von Brinkmann mit der Überschrift Nach Guillaume Apollinaire266, darüber hinaus trägt der von Brinkmann zusammengestellte Band mit Gedichten, Prosawerken und Kollaborationen Ted Berrigans den einer Gedichtpassage entnommenen Titel Guillaume Apollinaire ist tot.267 Daher werden auch die Rolle Apollinaires für Brinkmanns literarisches Reformierungskonzept und die Funktion avantgardistischer Vorbilder generell, ebenso wie Überschneidungen seiner Experimente mit Zielen und Methoden von Avantgardebewegungen aufgerufen. Auch Apollinaire ist fasziniert von den möglichen Kontakten zwischen Text und Bild: Seine »poetologische[n] Proklamationen wie seine poetische Praxis [...] haben vorgeführt, wie avantgardistischer Kunstanspruch und Interesse am Massenmedium des Films
264
Barck, Karlheinz: »Apollinaire«, in: Manfred Naumann (Hg.), Lexikon der französischen Literatur, Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1987, S. 41-42, hier S. 42.
265
Ebd.
266
Brinkmann, Rolf Dieter: »Nach Guillaume Apollinaire« (Gras), in: Ders.,
267
Vgl. Berrigan, Ted: Guillaume Apollinaire ist tot. Und Anderes, Frankfurt
Standphotos, S. 354-355. am Main: März 1970 und das Gedicht Sonett 37 (T. Berrigan: Guillaume Apollinaire ist tot, S. 25), aus dem die Passage entnommen ist.
222 | I NTERMEDIALITÄT BEI ROLF DIETER B RINKMANN
miteinander vereinbar sind und gemeinsam ein neues Poesie-Verständnis bewirken«268.
Neben intermedialen Experimenten verbindet beide Dichter zudem die Vorliebe zu den alltäglichen Dingen. So entsteht durch die Auswahl des Ursprungsgedichts, das den Anstoß zur intermedialen Vertonung gibt, eine zusätzliche intertextuelle Ebene, wodurch die Vielschichtigkeit der Interpretationen weiter gesteigert wird. 4.6.2 Der popmusikalische Code Wie bereits im theoretischen Teil angesprochen, ist es wichtig, zunächst zu erläutern auf welche Art von Musik der Text referiert, falls nicht wie im vorhergehenden Beispiel ganz allgemein auf Möglichkeiten des musikalischen Systems Bezug genommen wird. In einem Fragebogen, welcher dem Sammelband Super Garde angehängt ist, antwortet Brinkmann auf die Frage nach seiner bevorzugten BeatPop-Gruppe: »Velvet Underground, The Doors, Hapshash and the coloured coats, The heavy metal kids und the Rolling Stones.«269 So beziehen sich seine theoretischen Aussagen und thematischen Erwähnungen vor allem auf den angloamerikanischen Rock ’n’ Roll der 1960er/70er Jahre, der, neben den bereits genannten Bands unter anderem auch die Beatles oder Bob Dylan angehören..270 Die Bezeichnung Rockmusik geht, wie die gesamte Bewegung, aus dem Rock’n’Roll der 50er Jahre hervor. Über die Zwischenstufe der britischen Beatmusik, etabliert sich Rock in den 1960er Jahren als Begriff und globale musikalische Strömung. Darunter subsumieren sich im Laufe der Zeit zahl-
268 269
J. Röhnert: Springende Gedanken und flackernde Bilder, S. 76. Tskiridis, Vagelis (Hg.): Super Garde. Prosa der Beat- und Pop-Generation. Düsseldorf: Droste 1969, S. 221.
270
Zwar erwähnt Brinkmann des Öfteren auch seine Vorliebe für Jazz und es ließen sich auch, vor allem unter Berücksichtigung zahlreicher beatliterarischer Vorbilder, Verbindungen zwischen seinen Texten und Jazzmusik herstellen, allerdings steht die Komplexität des Gegenstands der Jazzmusik in keiner Relation zum damit verbundenen Erkenntnisgewinn innerhalb der hier verfolgten Themenstellung.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 223
reiche verschiedene Konzeptionen und Musikauffassungen, die sich schwer unter eine kohärente Definition einordnen lassen und deren Spezifika vor allem an der kulturellen Praxis Jugendlicher ablesbar sind. Die Ästhetik der Rockmusik weist zunächst einen Wandel im Hinblick auf die Professionalität der Musiker und die Beschaffenheit der Stücke auf. Nicht nur gut ausgebildete, ihr Instrument exzellent beherrschende Künstler profilieren sich auf musikalischer Ebene, sondern auch Laien. Damit in Zusammenhang steht, dass »sich anstelle des bis dahin vorherrschenden strukturorientierten Musikkonzepts ein soundorientiertes Musiziermodell, das mit der Verbindung von Klang und Technik sowohl neue Möglichkeiten des Musizierens freigesetzt hat wie auch dessen kommerzielle Verwertung neue Perspektiven eröffnet«271.
Durch die Nutzung von Massenkommunikationsmitteln in der Produktion liegt das Hauptaugenmerk nicht auf der Struktur eines Stückes, sondern vor allem auf der Nutzung technischer Komponenten wie beispielsweise die Verwendung elektronischer Instrumente mit den entsprechenden Möglichkeiten etwa der Verzerrung, dem Gebrauch von Verstärkern, der technischen Nachbearbeitung aufgenommener Lieder oder dem Einsatz eines Mischpults. Durch die technische Reproduktion tritt auch in der Rezeption ein Wandel auf: Abgemischte, nachbearbeitete Stücke werden in Form von Tonträgern konserviert und vom Rezipienten über eine Anlage und Lautsprecher konsumiert. Dadurch überlagert der Sound die Struktur der Stücke, die auf rockmusikalischem Gebiet meist recht standardisierte Grundmuster aufweisen. In der deutschen Rezeption stellt Rockmusik eine Unterform von Popmusik dar. Da sich die musikalische Sphäre in der Diskussion immer noch an der Dichotomie E- versus U-Musik orientiert272, sind unter Pop auf musikalischer Ebene alle populären Musikformen, vom Schlager über den
271
P. Wicke: »Rockmusik«, in: Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart (Sachteil 8), S. 350-370, hier S. 357.
272
Zur Erläuterung und Kritik vgl. Kapitel 2.1.2.
224 | I NTERMEDIALITÄT BEI ROLF DIETER B RINKMANN
Rocksong bis hin zum Techno gebündelt, was dazu führt, dass zwischen einzelnen popmusikalischen Richtungen große Unterschiede bestehen.273 Rockmusik versucht ausdrücklich ihre Verschiedenheit von rein kommerziellen, marktorientierten populären Musikformen zu betonen. Ist der Bezugspunkt und das Charakteristikum für Popmusik hauptsächlich ihre massentaugliche Verwertung, beansprucht Rock dagegen für sich die Merkmale der Authentizität, des Kunstcharakters, der Absage an Marktkompatibilität und Kommerz und eine vergleichbar größere subversive Kraft, eine mehr oder weniger deutliche Protesthaltung. Diese genannten Komponenten als definitorische Grundpfeiler absolut zu setzen gestaltet sich schwierig, da vor allem die propagierte Authentizität schwer greifbar ist und außerdem auch Rockmusik sich innerhalb der kommerziellen Vermarktungsmechanismen befindet und diese auch nutzt. Nur durch ihre Verbreitung, die von kleinen Plattenlabels, Fanzines oder Zeitschriften, bis hin zu großen Tonträgerfirmen getragen wird, können diese transportierten rockmusikalischen Attitüden verwirklicht und gestreut werden. Damit ist Rock in dieselben Ambivalenzen verstrickt wie Pop, auch wenn sie etwas anders gelagert und zum Ausdruck gebracht sein können. Demnach könnte die Unterscheidung zwischen Rock- und Popmusik Brinkmanns Differenzierung zwischen dem Englischen/Amerikanischen und der deutschen Sprache analog gesetzt werden: Rock begreift sich gegenüber rein kommerzieller Popmusik als authentischer und direkter. Eben diese Charakteristika schreibt Brinkmann auch der englischen beziehungsweise amerikanischen Sprache im Gegensatz zur deutschen zu. Die sprach-
273
In der englischen und amerikanischen Diskussion wird die Unterscheidung zwischen Pop und Rock, beziehungsweise die Debatte über musikalische Genres anders geführt. Besonders innerhalb der Cultural Studies definieren sich diese musikalischen Richtungen vor allem über ihre Rolle als kulturelle Praktiken. Dabei werden drei Genre-Gruppen angenommen: art music, pop music und folk music. Rockmusik wäre aufgrund ihres Anspruchs, des ideologischen Gehalts und ihrer sozialen und kommunikativen Struktur zwischen diesen drei Polen changierend und keine Untergruppe der Popmusik (vgl. Frith, Simon: Performing Rites. Evaluating Popular Music, Oxford/New York: Harvard University Press 1998). Ich halte mich allerdings bei der Definition von Popmusik an die Herangehensweise und Aufteilung der deutschsprachigen Rezeption.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 225
liche Referenz auf angloamerikanische Rockmusik ist für Brinkmann der ideale Gegenpart zum der deutschen Lyrik unterstellten unaufgeklärten und verkrusteten Wortfetisch. Der Einzug der Rockmusik in Brinkmanns Lyrik lässt sich mit den Versen »[d]er letzte Schlager / der Rolling Stones«274 auf den titelgebenden 19. März 1964 datieren:275 »Gedicht am 19. März 1964 Ein Bleistift ein Blatt Papier eine Tasse Kaffee eine Zigarette der letzte Schlager der Rolling Stones der kommende Frühling das Familienbild eine Hand einige Worte ein Auge ein Mund.«.276
Das Gedicht weist ästhetisch deutliche Parallelen zu den im Rahmen der Übernahme photographischer Darstellungsmethoden behandelten lyrischen Textbeispielen auf.277 Auch hier werden reduziert größtenteils optische Eindrücke geschildert. Die reine substantivische Auflistung und die durch-
274
Brinkmann, Rolf Dieter: »Gedicht am 19. März 1964« (Le Chant du Monde), in: Ders., Standphotos, S. 45.
275
Oliver Kobold benennt diesen Zeitpunkt sogar als die erste Erwähnung einer Rockband in einem deutschen Gedicht überhaupt (vgl. O. Kobold: »›Während ich schreibe, höre ich manchmal Platten‹«, in: Eiswasser, S. 46).
276
R. D. Brinkmann: »Gedicht am 19. März 1964«, in: Ders., Standphotos, S. 45.
277
Vgl. Kapitel 4.3.1.
226 | I NTERMEDIALITÄT BEI ROLF DIETER B RINKMANN
gehend parallelistische Struktur eliminiert jegliche Bewegung, was durch den symmetrischen Aufbau der je vier Verse langen Strophen und die Verwendung von unbestimmten Artikeln in Strophe eins und drei in Verbindung mit dem Einsatz von bestimmten Artikeln in der Mittelstrophe verstärkt wird. Auch der 19. März 1964 bannt einen Wirklichkeitsmoment aus einem engen Blickwinkel, der in der ersten Strophe zunächst die Schreibutensilien ortet, nämlich den Bleistift und das Papier, bevor, eventuell sich ebenfalls auf einem Tisch befindliche, Alltagsgegenstände genannt werden. Ebenso wie in Brinkmanns Gedicht Geschlossenes Bild bündeln sich die Einzelgegenstände, neben dem orthographischen Zusammenschluss durch den Punkt am Ende, im Blickfeld eines (Be-)Schreibers, der sich als verstecktes lyrisches Ich in der letzten Strophe in Form einzelner Körperteile zu erkennen gibt. Zusätzlich zu optischen Eindrücken wird allerdings durch den »Schlager / der Rolling Stones«278, unterstützt durch die finale Erwähnung des Mundes, auch die akustische Seite des Wahrnehmungsausschnitts integriert. Eine besondere Betonung dieses Moments erfolgt auf sprachlicher Ebene durch die erste Einführung eines bestimmten Artikels an genau der Stelle, die zusätzlich die einzige Verklammerung zweier Verse in Form eines Enjambements darstellt, nämlich die Sinneinheit »der letzte Schlager / der Rolling Stones«279. Auch wenn der Titel des Songs selbst, der aufgrund der genauen Datierung I wanna be your man sein könnte,280 nicht auftaucht, ist doch die Nennung der Band der einzige Eigenname in dieser allgemeinen Listung. Damit etabliert sich die popmusikalische Sphäre neben »eine[r] Tasse Kaffee / eine[r] Zigarette«281 und einem »Familienbild«282 im beschriebenen Alltag und stellt zunächst die akustische Dimension des umgebenden Wahrnehmbaren dar. Durch das Nennen der Rolling Stones verweist Brinkmann auf die angloamerikanische Popkultur. Da dies innerhalb eines Ge-
278
R. D. Brinkmann: »Gedicht am 19. März 1964«, in: Ders., Standphotos, S. 45.
279 280
Ebd. Vgl. O. Kobold: »›Während ich schreibe, höre ich manchmal Platten‹«, in: Eiswasser, S. 46.
281
R. D. Brinkmann: »Gedicht am 19. März 1964«, in: Ders., Standphotos, S. 45.
282
Ebd.
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dichts geschieht, wird dem erwarteten Anspruch an die von Brinkmann kritisierte hochkulturelle, artifizielle lyrische Gattung, eine Absage erteilt. Die Kombination aus der Schlichtheit der Form und der Reduktion des Inhalts verstärkt diesen Impuls. Von der high culture geforderte Gehalte verabschieden sich zugunsten der Sinnlichkeit des Wahrnehmbaren, denn »[w]er / mag schon Mozart / wirklich, ohne dabei / an Mozartkugeln / zu denken, wie / sie in den / Läden ausliegen?«283 Der Leser hat auch hier wieder die Aufgabe, durch den Einsatz seines akustischen und optischen Vorstellungsvermögens das statische Szenario im Gedicht zu beleben; die Rolling Stones geben dabei den Soundtrack zum Bild vor.284 Darüber hinaus erfolgt mit dem Aufgreifen des amerikanischen Pop gleichzeitig eine Abgrenzung zur deutschen Kultur und Gesellschaft. Der Verweis auf die Rolling Stones erfüllt neben der Thematisierung von Musik auch eine Codefunktion, die kontextuell auf bestimmte ideologische Implikationen verweist. Bei den Stones handelt es sich um mit die prominentesten Vertreter der Rockmusik. Mit dem Aufgreifen des Bandnamens und dem Kennerwissen um den letzten Schlager der Rolling Stones bindet Brinkmann sich und seinen Text in einen popkulturellen Diskurs ein. Der rebellische Gestus und die Attitüde des Unangepassten der Stones und ihrer Fans mögen Brinkmann sowohl als Musikkonsumenten als auch als Literaten fasziniert haben. Auch das Ziel der Erzeugung von Authentizität, der Wunsch nach Schlichtheit, der Einbezug von Körper und Sinnlichkeit, der hohe Stellenwert des Laientums, das Propagieren einer Protesthaltung, das Mittel der Provokation und das Einschalten von technischen Entwicklungen in den Wahrnehmungsprozess, grundsätzliche Tendenzen rockmusikalischer Strömungen, sind aus Brinkmanns theoretischen Schriften wie auch literarischen Werken herauszulesen. Daraus lassen sich einige Parallelen zwischen Zielen und Arbeitsweisen des Schriftstellers Brinkmann und
283
Brinkmann, Rolf Dieter: »Musik aus Salzburg« (Le Chant du Monde), in:
284
1964 ist auch das Jahr, in dem Rolf Dieter Brinkmann heiratet. Eventuell
Ders., Standphotos, S. 39. fungiert der Verweis auf das Lied I wanna be your man auch als eine Art biographischer Soundtrack zur Untermalung der persönlichen Stimmungslage. Mit dem Titel gebenden Datum könnte ein lyrischer Tagebucheintrag assoziiert werden, welcher thematisch über den Alltag hinaus Brinkmanns ›Familienbildung‹ integriert.
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der ideologischen Grundfeste und musikalischen Ausführungen von Rockinterpreten ziehen. Merkmale wie Schlichtheit, Authentizität oder Provokation stellen allerdings keine spezifischen musikalischen Charakteristika dar, weil sie, anders als etwa die Arbeitsweise der Vertonung, Eigenschaften benennen, die die Musik sich mit dem sprachlichen und sogar bildlichen System teilt. Aus diesem Grund liegt beim vorhergehenden Beispielgedicht kein anderes intermediales Phänomen neben der Thematisierung vor, welche, wenn das Gedicht isoliert betrachtet wird, nicht die Dramatisierung von Intermedialität markiert, sondern zusätzlich eine Codefunktion übernimmt. Dass die Rockmusik mit ihren Anliegen und Implikationen eine Inspirationsquelle für Brinkmanns Ideen und Schaffen darstellen, ist deutlich und wird auch im folgenden Kapitel bestätigt, das sich mit einer weiteren Möglichkeit des intermedialen Kontakts zwischen Musik und Literatur befasst. 4.6.3 Lyrics und Lyrik: Der Liedtext als Gedicht In seinem Vorwort zu Westwärts 1&2 schreibt Brinkmann: »Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs. Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreibmaschine schreiben, dazu nur stotternd, mit zwei Fingern. Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus. Mag sein, dass deutsch bald eine tote Sprache ist. Man kann sie so schlecht singen. Man muss in dieser Sprache meistens immerzu denken«285.
Dabei fällt die Verklammerung zwischen der Vorliebe für die angloamerikanische Popkultur, ihre Musik und Sprache auf, die für Brinkmann untrennbar miteinander verknüpft sind und im genauen Gegensatz zur deutschen Sprache und Gesellschaft stehen. Die Vorteile der amerikanischen Sprache liegen zunächst darin, dass sie eben nicht die deutsche ist, das heißt, dass sie eine andere geschichtliche Prägung hat und (wenn sie auch anders gelagerte Bürden besitzen mag) weder in die Tradition der sprachskeptischen Tendenzen der Nachkriegsde-
285
R. D. Brinkmann: »Vorbemerkung«, in: Ders., Westwärts 1&2, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 5-7, hier S. 7.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 229
batte, noch in deutsche literarische Traditionsbezüge eingebunden ist. Darüber hinaus ist sie die Sprache von Brinkmanns Vorbildern und die Sprache des Ursprungs der Popkultur und Rockmusik. Währenddessen verbreiten sich in Deutschland seit Ende des Krieges »Wortviren«286, »und es scheint, wie die Stimmung einer Erkenntnis, singt eine deutschsprachige RockMusik-Gruppe, ›oh baby baby balla balla!‹«287 Popkulturelle Tendenzen und rockmusikalische Bewegungen entstehen, wie das Zitat bestätigt, in den 1960er Jahren auch in Deutschland, deutlich wird aber auch, dass nicht jede Popkultur gleich ist oder ähnlich bewertet werden muss und für Brinkmann per se positiv konnotiert ist. Heinz Drügh begründet diesen Umstand so: »Wenn man etwa nicht mit Billie Holiday im Ohr durchs coole New York schlendert wie bei O’Hara, sondern mit einer bundesdeutschen Provinzstadt vorliebnehmen muss wie der Erzähler von Rolf Dieter Brinkmanns Roman ›Keiner weiß mehr‹, sich in einem Land gefangen sieht, in dem Ikonen der Popkultur nicht Marilyn Monroe oder Elisabeth Taylor heißen, sondern Roy Black und Marika Kilius, dann kann die programmatische Faszination für den kapitalistisch geprägten Alltag […] leicht auch einmal in aggressive Enttäuschung umschlagen.«288
Das Ausgreifen von angloamerikanischen Marken, Moden, Stars und Wörtern wendet sich also nicht nur gegen die hochkulturelle Sphäre, sondern auch gegen Teile einer deutschen Popkultur: »›The kids are allright‹ sangen die Who in England, konnte man das in der BRD singen? Welche Übersetzung hätte drauf gepasst?«289 Eine weitere hier angesprochene Eigenschaft, die die amerikanische gegenüber der deutschen Sprache auszeichnet, ist, nach Brinkmann, auf ihre
286
R. D. Brinkmann: »Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten«, in: Ders., Westwärts 1&2. Erweiterte Neuausgabe, S. 293.
287
Ebd.
288
Drügh, Heinz: »Konsumknechte oder Pop-Artisten? Zur Warenästhetik der jüngeren deutschen Literatur«, in: Andrea Geier/Jan Süselbeck (Hg.), Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuitäten. Generationsfragen in der Literatur seit 1990, Göttingen: Wallstein 2009, S. 158-176, hier S. 173.
289
R. D. Brinkmann: »Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten«, in: Ders., Westwärts 1&2. Erweiterte Neuausgabe, S. 261.
230 | I NTERMEDIALITÄT BEI ROLF DIETER B RINKMANN
strukturelle Beschaffenheit zurückzuführen. Er begründet seine Vorliebe folgendermaßen: »Ich mag deswegen die amerikanische Sprache so gern, weil sie, wie ich meine erlebt zu haben, so wenig Oberbegriffe und Abstrakta hat. Also weniger Regelungen durch Oberbegriffe. Und auch weniger im voraus gegebene Interpretationen deswegen. Statt dessen herrschen die einzelnen konkreten Eindrücke vor. Da ist ein Tisch. Wo steckt der Dollar? Wieviel? Das ist ein Auto. Da fliegen Wolken.«290
Brinkmanns Statement ist allerdings etwas problematisch, da – vor allem in Hinblick auf interpretative Festlegungen – die sprachliche und kulturelle Prägung entscheidend ist und die Perspektive eines Fremdsprachlers wie Brinkmann, auch wenn er einige Zeit in Amerika verbracht hat, doch eine andere ist, als die eines native speakers. Der Zusammenhang zwischen der Faszination für die amerikanische Sprache und Musik ist also auf dieselben von Brinkmann benannten Merkmale zurückzuführen, nämlich ihre Direktheit und Schlichtheit. Die häufig in Werken vorkommenden Bands, Liedtitel oder Songtextelemente sind größtenteils dem angloamerikanischen Raum zuzuordnen. Seine Texte sind von englischen beziehungsweise amerikanischen Sprachfetzen, Ausdrücken und Wendungen durchsetzt, oftmals spielerisch, absichtlich oder unwissentlich, falsch geschrieben oder grammatikalisch nicht korrekt verwendet. Die Amerikanisierung der deutschen Sprache und Kultur ist eine zu Brinkmanns Zeit einsetzende und sich verstärkende Tendenz, wird vom ihm aber besonders forciert. In Referenz auf umgangssprachliche Wendungen stellt er fest, dass »[v]iele Amerikanismen (durch Musik, Massenmedien, TV, auch durch Rauschmittelgenüsse, Pop etc. der Zusammenbruch der Philosophie Soziologie, durch Studentenbewegungen) [...] aufgetreten [sind] [...] – eigentlich, genau gesehen, spielen diese Redensarten in den Gedichten eine so große Rolle und Wichtigkeit auch wohl nicht, dienen dazu, von den Lyrischen Formulierungen abzuhauen ... und zugleich den sinnlichen Eindruck, der in oder hinter einer Redenart steht, direkt und hart zu machen.«291
290
R. D. Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 69-70.
291
Ebd. S. 82.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 231
Trotz der bezweifelten Relevanz der amerikanischen Umgangssprache ist hier genau der Weg beschrieben, den die Fremdsprache weist und der in Brinkmanns Werk auf so viele unterschiedliche Arten verfolgt wird, nämlich den traditionellen Sprachballast abzuwerfen und dem sinnlichen Moment absolute Priorität einzuräumen. Innerhalb der amerikanischen Sprache scheint Brinkmann das zu gelingen; ihre Beschaffenheit eignet sich ideal für die Umsetzung seines Literaturkonzepts. Eine Verbindung zwischen den Vorteilen der Fremdsprache und rockmusikalischer Schlichtheit und Direktheit stellt Plane, Too her: »Plane, Too There was a hipster on the plane There was a sailor too Big Business men on the plane Stewardess too I saw a movie on the plane Grand Canyon too Earphone music on the plane Time Magazin too Airplane food was on the plane Airplane coffee too Airplane booth was on the plane TN Milk was too Reclining seats were on the plane Seatbelts too No Smoking sign was on the plane In French and English too Hostess button on the plane Ventilator too Vomit bag was on the plane Oxygen too
232 | I NTERMEDIALITÄT BEI ROLF DIETER B RINKMANN
There was a bathroom on the plane A flashing toilet too There was a mirror on the plane Me too. Loudon Wainright III, Album II.«292
Im Unterschied zu zahlreichen (modifizierten) Zitatausschnitten von Songtexten in Brinkmanns Prosa und Gedichten handelt es sich bei Plane, Too um einen Liedtext von Loudon Wainwright III, dessen Name von Brinkmann absichtlich oder unwissentlich falsch geschrieben ist. Zwar wird der ursprüngliche Autor des Textes den Strophen angehängt, allerdings gestaltet sich die Zuordnung und Einstufung der Zeilen etwas komplizierter. Plane, Too ist dem Gedichtband Westwärts 1&2 vorangestellt und unterscheidet sich von den nachfolgenden Gedichten nur dadurch, dass die Strophen eine etwas kleinere Schriftgröße besitzen und kursiv gedruckt sind. Es scheint also weniger ein Motto als vielmehr das erste Gedicht des Bandes darzustellen; ein Eindruck, der durch die Auflistung des Titels L. Wainright, Plane Too im Inhaltsverzeichnis verstärkt wird. Dabei handelt es sich zunächst ursprünglich nicht um ein Gedicht, sondern um die Lyrics des Liedes Plane, Too, die Brinkmann beim Hören des Songs mitgeschrieben hat. So heißt es in der Vorbemerkung: »Als ich in einem grässlich eingerichteten Apartment in Austin morgens gegen fünf Uhr auf dem vollgepackten Koffer kniete und die Kofferschlösser zuzukriegen versuchte, hörte ich aus dem Radio ein Lied, das mir sofort, nachdem es angefangen hatte, gefiel. Ich stelle das Lied, so wie ich es nach der Schallplatte aufgeschrieben habe, als erstes Gedicht hierher, denn mir gefällt es noch immer, und ich denke, dass das Lied gut als Zitat für meine Gedichte passt.«293
Die Transformation eines Liedtextes in ein Gedicht stellt zunächst das intermediale Phänomen der Übernahme medial deckungsgleicher Kompo-
292
Brinkmann, Rolf Dieter: »Plane, Too«, in: Ders., Westwärts 1&2, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 8.
293
R. D. Brinkmann: »Vorbemerkung«, in: Ders., Westwärts 1&2, S. 6.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 233
nenten dar. Dadurch, dass es sich bei Brinkmanns Ausgangswerk um einen vokalmusikalischen Rocksong handelt, können die sprachlichen Elemente in den Lyrikband übernommen werden und unterscheiden sich, vor allem auch wegen der bei popmusikalischen Songs üblichen Strukturierung in Strophen, augenscheinlich nicht von anderen Gedichten. Die intermediale Dramatisierung ist durch die oben zitierte Anmerkung im Vorwort markiert und durch das Nennen des Songwriters ergänzt, dessen Namen, sollte man ihn nicht kennen, der Hinweis auf ein Album hinzugefügt ist. Auch der Titel des mit Plane, Too auf einer Doppelseite abgedruckten zweiten Gedichts Ein gewöhnliches Lied unterstreicht den Kontakt zwischen Lyrik und Musik. Eine Veränderung zwischen der ursprünglichen Aufgabe des Liedtextes und seiner Rolle innerhalb einer Lyriksammlung ergibt sich zum einen aus der Aufspaltung der vorherigen Einheit von instrumentaler Dimension und Lyrics, die im Song aufeinander abgestimmt und bezogen sind, zum anderen aus der veränderten performativen Situation. Pointiert zeigt sich hier am Beispiel von Plane, Too, was prinzipiell allen intermedialen Phänomenen eigen ist. Ähnlich wie bei intertextuellen Bezügen findet bei der intermedialen Übernahme deckungsgleicher Komponenten eine Überschreibung des ursprünglichen Ausgangsmaterials, hier des Liedtextes, statt, das heißt, er ist zwar durch den Verlust der Tonspur und den performativen Wandel verändert, aber nicht gänzlich verschwunden. Nach Eckstein294 sind überschriebene mediale Produkte in dreifachem Sinn in einem neuen Text ›aufgehoben‹: Zum einen kann ihre ›Aufhebung‹ bedeuten, dass sich ihre vorherige Beschaffenheit und Aussage nicht mehr direkt erkennen lassen, dass diese bis zu einem gewissen Grad ›neutralisiert‹ werden und ›verschwinden‹, also vom neuen Kontext überlagert sind. Der ursprüngliche Sinnzusammenhang des Textes von Plane, Too, nämlich als Teil eines vokalmusikalischen Songs, eine multimediale Einheit bildend mit Musik, ist nicht mehr in dieser Form vorhanden. Brinkmann setzt die Lyrics als erstes Werk in seinen Gedichtband; der Songtext wird dadurch als rein sprachliches, lyrisches Werk wahrgenommen und ist somit in andere Bedingungen der Bedeutungskonstitution und Rezeption eingebunden. Dadurch entsteht die Möglichkeit, Plane, Too, ebenso wie die folgenden
294
Vgl. L. Eckstein: Re-Membering the Black Atlantic, S. 7.
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lyrischen Werke Brinkmanns, als Gedicht zu lesen und entsprechend zu interpretieren. Mit den bereits genannten Markierungen im Vorwort und anhand des, wenn auch fehlerhaft, genannten Namens des Songwriters und des zugehörigen Albums, mit welchen das vermeintliche Gedicht auf das Lied, den Ausgangspunkt der Übernahme, verweist, ist es innerhalb des neu Entstandenen auch ›aufgehoben‹ im Sinne von ›aufbewahrt‹. Hier lassen sich kontextuelle Verweise zur überschriebenen Vorlage ziehen wie beispielsweise die Art der Musik oder die mit dem Song beziehungsweise der Stilrichtung verbundenen ideologischen Implikationen, die sich in einem zweiten Schritt wieder rückbezüglich auf Brinkmanns Lyrik und schriftstellerisches Konzept untersuchen lassen. Daraus entsteht eine Komplexität der Bedeutung, die sowohl einzelne künstlerische Werke in Beziehung setzt als auch deren unterschiedliche mediale Ausdrucksformen. Damit ist die dritte Möglichkeit der Auslegung von ›Aufhebung‹ eines medialen Produkts in einem anderen beschrieben, nämlich als ›Emporhebung‹ auf eine komplexere Stufe der Sinngebung. Die für das Palimpsest definitorische Überschreibung hebt die Literatur durch den Dialog mit anderen Medien und auch innerliterarisch, durch die Kommunikation mit anderen Texten, auf eine zweite Stufe, auf ein höheres Level der Bedeutungskomplexität.295 Die Autorschaft lässt sich bei Plane, Too somit als eine gedoppelte festlegen.296 Der Liedtext wird zitiert, sein Autor genannt und dessen Werk gleichzeitig überschrieben. Falls Brinkmann absichtlich das w aus dem Namen des Musikers gelöscht hat, könnte das auf einen spielerischen Umgang mit dem Diskursraum der Autorschaft innerhalb dieses intermedialen Verfahrens hinweisen, ob das zutrifft, ist allerdings nicht nachzuweisen. Aufgrund der hybriden Autorschaft entsteht eine Parallele zum oben ausgeführten lyrischen Teamwork zwischen Apollinaire, Rygulla und Brinkmann297, nur dass im Fall des jovialen Russen ein intertextueller Bezug durch die Technik der Vertonung eine intermediale Dimension annimmt
295
Vgl. G. Genette: Palimpseste.
296
Zwar ist die Autorschaft in der Popmusik ein komplexes und diskutiertes Thema; dadurch, dass aber innerhalb des Beispiels Plane, Too nur der Verfasser des Liedtextes entscheidend ist, werde ich diesen Diskurs nicht weiter problematisieren.
297
Vgl. Kapitel 3.6.1.
BRINKMANNS AUDIO/VISUELLE EXPERIMENTE | 235
und bei Plane, Too durch das intermediale Verfahren der Übernahme deckungsgleicher Komponenten vom ursprünglich multimedialen Werk ausschließlich die sprachliche Komponente übrig bleibt. Auf der Analyseebene, welche die Aufgabe und den Kontext des übernommenen Songtextes innerhalb des Lyrikbandes im Blick hat und den Ausgangszustand des in Bezug gesetzten medialen Produkts rekonstruiert, können die bereits explizierten Verlinkungen zwischen Brinkmanns Werken und der amerikanischen Sprache und Popkultur genannt werden. Mit der Referenz auf die amerikanische Rockmusik und durch das Abdrucken eines (fremden und fremdsprachlichen) Liedtextes als Gedicht werden wieder ein Entmystifizierungsversuch der Lyrik und gleichzeitig ein Fluchtversuch aus der deutschen Sprache unternommen. Die zweite Interpretationsebene, die Betrachtung der Lyrics als Gedicht, verdeutlicht die Grundsätze Brinkmanns für die Beschaffenheit seiner lyrischen Werke und liefert somit auch die Begründung für seine Auswahl genau dieses Liedtextes. Die parallelistisch aufgebauten, aus vier Versen bestehenden Strophen beschreiben banale Wahrnehmungsausschnitte. Inventar und Personal des öffentlichen Raums werden aufgeführt. Zahlreiche Wortwiederholungen, Anaphern und Epiphern sind für die Monotonität der Aufzählung verantwortlich. Der Betrachter, das lyrische Ich, das sich innerhalb eines Flugzeugs befindet und die es umgebenden Gegenstände und Personen nennt, gibt sich lediglich als Betrachter zu erkennen: zum einen als Filmzuschauer in der zweiten Strophe: »I saw a movie on the plane«298, zum anderen, erst spät, im letzten Vers, als Betrachter seiner selbst: »There was a mirror on the plane / Me too.«299 Hier »nimmt sich das lyrische Ich fast ein wenig trotzig schließlich im Spiegel der Flugzeugtoilette wahr, als ob es betonen müsse, dass es von all den Oberflächen und Oberflächlichkeiten noch nicht ganz zum Verschwinden gebracht worden ist – und doch begegnet es sich auch hier nicht etwa in hehrer Selbstpräsenz, sondern sieht sich allererst im Medium eines der aufgelisteten Accessoires, dem Spiegel der Flugzeigtoilette.«300
298
R. D. Brinkmann: »Plane, Too«, in: Ders., Westwärts 1&2, S. 8.
299
Ebd., S. 8.
300
H. Drügh: »Konsumknechte oder Pop-Artisten?«, in: A. Geier/J. Süselbeck (Hg.), Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuitäten, S. 173.
236 | I NTERMEDIALITÄT BEI ROLF DIETER B RINKMANN
Es geht also nicht so sehr um die beobachtende Person, sondern eher um ihren Blickwinkel, der sich aus allgemeinen Einzelheiten rekonstruieren läßt. Dies geschieht, analog zu Brinkmann, in einer lakonischen, reduzierten Sprache frei von jeglichen Ausschmückungen. Ein Unterschied zwischen Wainwrights Lyrics und Brinkmanns Gedichten ist die gleichbleibende, regelmäßige Rhythmik und das Zusammentreffen von Versende und kleinerer, geschlossener Sinneinheit bei Plane, Too. Auch der identische Endreim, der sich in Kreuzreimstellung abwechselnden Wörter ›plane‹ und ›too‹, die der Titel schon vorausnimmt, steht im Gegensatz zu den, mit einigen wenigen Ausnahmen, ungereimten Gedichten Brinkmanns. Diese Diskrepanz lässt sich allerdings auch auf den jeweiligen Kontext zurückführen: Während Brinkmanns einziges ›Instrument‹ zum Dichten die Sprache darstellt, befindet sich der Songtext ursprünglich in untrennbarer Symbiose mit Musik. Der für Popsongs typische Aufbau eines Liedes durch (etwa gleichlange) Strophen, die Wiederholungen und Eingängigkeit einzelner Elemente und vor allem die melodiöse Ausrichtung stellen auch Anforderungen an den Text während gleichzeitig die sprachliche Erfüllung dieser Kriterien auch wieder an die Musik angeglichen werden muss.
5 Schluss: »Ich bin ein Dichter«1 Brinkmanns intermediale Sprachutopie
»Und worauf beziehen sich Utopien? Auf Wörter, Sprache, Begriffe, auf sprachliche Formulierungen, daraus sind sie hervorgegangen und darauf beziehen sie sich!«2
Intermedialität bildet nach qualitativen und quantitativen Maßstäben das poetologische Zentrum von Brinkmanns Arbeiten, welche sich in ihrer Verschiedenartigkeit in Inhalt und Form zu einem multidimensionalen Gesamtwerk fügen. Sowohl bei Text/Bild- als auch bei sprachlichen und musikalischen Kontakten ist das vorrangige Ziel, die (literarische) Sprache von den in ihr verborgenen, tradierten Vorstellungsbildern zu befreien. In Form einer ›direkten‹ Sprache soll eine antielitäre Literatur entstehen, welche gleichzeitig zeitgenössische mediale Wahrnehmungsstrukturen aufgreifen kann, denn »aufgeklärtes Bewusstsein, auf das europäische Intellektuelle so lange stolz Monopolansprüche erhoben haben, nutzt allein nichts, es muss sich in Bildern ausdehnen, Oberfläche werden«3. Dieses Vorhaben verfolgt Brinkmann durch eine Schlichtheit des Ausdrucks und oberflächliche, einfache Beschreibungen in Verbindung mit Anleihen fremdmedialer Spezifika. So
1
Brinkmann, Rolf Dieter: »Eine Komposition, Für M.«, in: Ders., Westwärts
2
R. D. Brinkmann: Westwärts 1&2. Erweiterte Neuauflage, S. 271.
3
R. D. Brinkmann/R. R. Rygulla: »Der Film in Worten«, in: Dies. (Hg.), Acid, S.
1&2, S. 103-104, hier 104.
382.
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versucht er gleichzeitig, sich vom traditionellen Literaturbetrieb und Kanon abzugrenzen sowie eine Veränderung des Kunst- und Literaturverständnisses zu erreichen. Bei intermedialen Relationen zwischen Text und Musik steht der Bezug zur angloamerikanischen Popkultur im Vordergrund, während die zahlreicheren bildlichen Verweise deutlicher auf eine Medienreflexion abzielen. Wie auch Brinkmanns Einstellung gegenüber Medien, wandelt sich seine lang anhaltende Begeisterung für die amerikanische Popkultur. Die intermedialen Kontakte zwischen Text und Musik sind trotz ihrer quantitativen Unterlegenheit nicht minder wichtig als die Beziehungen zwischen Text und Bild. Mit den Referenzen auf angloamerikanische Bands, Songs und Liedtexte kontrastiert Brinkmann oftmals nicht nur die deutsche, vergleichsweise als spießig empfundene Popkultur mit der angloamerikanischen, sondern auch deren jeweilige Sprachen. Da, nach Brinkmann, das Amerikanische und das Englische begrifflich konkreter und direkter arbeiten und strukturell schlichter beschaffen sind, übt er auch hier Sprachkritik und ergänzt so seine über Text/Bild-Experimente ausgedrückten Statements um eine weitere Ebene. Die Auseinandersetzung mit anderen Formen der medialen Vermittlung ist zum einen Teil seines umfassenden Sensibilisierungsprogramms, zum anderen die Kontrastfolie, vor der sich die Literatur ihrer Möglichkeiten und Grenzen bewusst wird. Zusätzlich zeigen sich in Brinkmanns Anliegen, die schriftstellerischen Möglichkeiten durch den Einbezug fremdmedialer Komponenten zu erweitern und reaktionäre Mechanismen und Erwartungen auszuschalten, Anklänge an die revolutionären Impulse der 1968er Jahre. Der Reformierung bislang nicht hinterfragter, kritiklos übernommener Traditionen widmet sich Rolf Dieter Brinkmann auf literarischem Gebiet. Intermedialität trägt zum innovativen Gehalt bei, indem durch die Integration massenmedialer Eigenheiten und popkultureller Stoffe die Möglichkeiten der Literatur erweitert werden, wodurch oftmals eine provokative Wirkung hervorgerufen wird. Das medienkritische Potential, das sich in zahlreichen Werken Brinkmanns zeigt, resultiert aus der Erfahrung einer ständig anwachsenden Medienpräsenz und Bilderhäufung innerhalb der Lebenswelt eines jeden Einzelnen, die die Entfremdung des Subjekts in einer medial konstruierten ›Scheinrealität‹ zur Folge hat. Durch die Art der intermedialen Integration massenmedialer Versatzstücke setzt Brinkmann gleichzeitig ihre Mechanismen der Kritik aus.
SCHLUSS | 239
Wie sehr Brinkmanns Arbeitsweise dabei von Tradition und Konvention abhängt, zeigt sich auf verschiedenen Ebenen: Die Wirkung seiner Experimente ist ohne die Enttäuschung von Leseerwartungen undenkbar – automatisierte Rezeptionsmechanismen werden also stets mitreflektiert und bilden gewissermaßen die Voraussetzung für die Wirkung seiner Arbeit. Darüber hinaus sind die literarischen Versuche der Konstruktion ›authentischer‹ Eindrücke ein zeittypisches Phänomen, kennzeichnend für mediale Umbruchsphasen und im speziellen auch für Brinkmanns künstlerische Sozialisation, denn »Authentizität wurde in den 1960er Jahren zum terminologischen Ausweis der vom ideologischen Ballast befreiten Subjekte«4. Schriftstellerisch zeigt sich der Wunsch nach dem authentischen Ausdruck im verbalen Nachkonstruieren des Effekts der Unmittelbarkeit. Diese »[v]ermittelte Unmittelbarkeit ist eines der herausragenden Kennzeichen von Kunst und Literatur in den 1960er und 1970er Jahren. […] Der mediale Wandel und die damit verbundene Problematisierung subjektiver Autonomie verstärken das Bedürfnis nach Authentizität. Als vermittelte Unmittelbarkeit verbarg dies Authentische jedoch lediglich die Spuren des Gemachten, auf die es paradox verwies.«5
Der zeittypische Zusammenhang zwischen dem utopischen Ideal des direkten Wahrnehmens und der damit verbundenen sprachlichen Selbstreflexion, ebenso wie die generelle Kritik der Mediengesellschaft konzentrieren sich in Brinkmanns Werk auf einzigartige Weise. Brinkmanns medientheoretische Stellungnahmen und seine sprachkritische Haltung stehen in engem Zusammenhang. Genauso wie die Sprache, die trennend zwischen Subjekt und Welt tritt und nur noch manipulierte und konditionierte Reflexe des Wahrnehmenden zulässt, funktionieren für Brinkmann auch die anderen Medien. Bilder sind nicht gleich Bilder, sondern er unterscheidet die ›richtigen‹, unmittelbaren, sinnlichen vom vorgefertigten medialen »Ziviehlisation[s]«6- und Kulturmüll. Dieselben Medien, die Brinkmann in der Literatur zur Erzeugung von Sinnlichkeit durch Sprache als fremdmediale Anleihen dienen, schotten allerdings den Betrachter
4
C. Zeller: Ästhetik des Authentischen, S. 4.
5
Ebd., S. 8-11.
6
Diese Schreibweise findet sich des Öfteren, vgl. R. D. Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 18.
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von einem ungefilterten Blick auf die Umwelt ab. Solange Medien sich in der Wahrnehmung zwischenschalten, sind unmittelbare Erfahrungen nicht möglich. In Brinkmanns literarischen Versuchen, Direktheit nachzukonstruieren, und auch in seinen medienkritischen Arbeiten, formuliert sich deutlich die Idealvorstellung der unmittelbaren Erfahrung ohne mediale Filterung. Für den Zugang zu Brinkmanns intermedialen Experimenten ist, auch wenn er in Anlehnung an Mauthner und Burroughs die Möglichkeit der Realitätswahrnehmung außerhalb medialer Vermittlung bestreiten würde, zumindest der Wunsch nach einer Annäherung an das Ideal einer direkten Perzeption maßgeblich. Auch seine medienkritischen Arbeiten vermitteln deutlich das erstrebenswerte Ziel der Erfahrungen jenseits des Medialen. So befindet sich Brinkmanns Sprachkritik in einem ähnlich paradoxen Zustand wie seine generelle Medienkritik. Sprache ist zur Erfassung der Wirklichkeit nötig, Bilder zum unmittelbaren Erleben unerlässlich. Zugleich sind Wörter und Bilder Träger kultureller Reflexe, welche bereits bestehende Vorstellungsmodelle auslösen. Somit befindet sich Brinkmann in der widersinnigen Situation, sich von seinem Gegner mit seinen eigenen Waffen schlagen zu lassen. Brinkmann versucht, durch Sprache und Bilder Unmittelbarkeit und Kreativität zu ermöglichen, welche durch standardisierte Sprache und Bilder verloren gingen. Dabei entsteht eine Utopie, welche genau aus dem Bewusstsein ihres Scheiterns poetische Kraft und literarische Innovation zieht: »Wiederholt verweist Brinkmann in seinen Texten auf Vorstellungen und Bilder, die aus seiner Perspektive der Sprache in ihrer sinnlichen Präsenz überlegen sind. Aber auch wenn er sie gegen die Sprache ausspielt, geschieht das aus der Position des Schriftstellers, dessen ›einzige Lebensäußerung‹, wie Maleen Brinkmann betont, immer Sprache gewesen ist, der sich ›gezwungen hat, jeden Moment immer in Sprache auszudrücken‹. Brinkmanns Texte zeigen, dass dieser selbstauferlegte Zwang nicht als eine kontraproduktive Einstellung zu verstehen ist. Sie gewinnen ihren Drive vielmehr gerade dadurch, dass sie an Modellen ausgerichtet werden, die den Wunsch nach Unmittelbarkeit und sinnlicher Präsenz vermeintlich leichter erfüllen können als sprachliche Abstraktionen. Die performativen Effekte von Musik, Filmen, Bildern und dem, was Brinkmann ›attraktive Objekte‹ nennt, bilden in diesem Sinn sowohl eine Voraussetzung als auch ein Ziel für das Schreiben, sie werden Teil einer auf die Gegenwart ausgerichteten Subjektivität, die ›manisch
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fixiert auf Stift und Papier‹, ihre Darstellungskraft in der Auseinandersetzung mit Abstraktionsbewegungen entwickelt, die den Konflikt zwischen Sinnlichkeit und Abstraktion im Schreiben austrägt.«7
Sprachkritik ist der entscheidende Antrieb für die intermedialen Experimente Brinkmanns. Seine Einstellung zu Medien generell und zur Sprache im Speziellen ist von Ambivalenzen geprägt, die sich aus der ihm bewussten utopischen Annahme speisen, es gäbe ein unmittelbares Erleben und Erfahren jenseits von Formulierung und Vorkodierung. Alle intermedialen Experimente Brinkmanns propagieren die Notwendigkeit, medial beeinflusste Wahrnehmung zu integrieren, wenn der Alltag beschrieben werden soll. Dennoch entwerfen sie implizit als idealen Zustand eine für sich und unabhängig von medialer Erfahrung existierende Realität. Der utopische Anspruch eines direkten Erlebens ohne Medien (zu welchen die Sprache selbstverständlich auch zählt) und deren Prägung der Wahrnehmung ist Brinkmann bewusst: »Wahrnehmen als ein wortloser Zustand, ohne Sprache wahrnehmen (eine schöne Utopie!) Schöne Utopie: wahrnehmen, sehen, aufnehmen erleben ohne durch Wörter, Verstehen, vorprogrammiert zu sein – direkt«8.
Dabei ist signifikant, dass Brinkmann zur Erzeugung unmittelbarer Eindrücke im intermedialen Diskurs eine doppelt fiktive Konstruktion vornimmt: Alltagswahrnehmungen werden (größtenteils) in Form von Sprache übermittelt, welche sich vertexteten Merkmalen, Rezeptions- und Produktionsmechanismen der medialen Vermittlung des Films, der Photographie und der Musik bedient. Damit wird einerseits zwar der Unumgänglichkeit medial vorgeformter Wahrnehmung Rechnung getragen, andererseits aber im Dienst der Sprache versucht, die vorgefundenen Medienereignisse so umzufunktionieren, dass der Effekt direkten Erlebens erzeugt wird. Die augenscheinliche Schwäche der Sprache, ihre Konventionalität und Konstruiertheit, die Bild und Ton durch intermediale Strukturen versinnlichen sollen, stellt sich als ihre größte Stärke heraus, nämlich diese Diskurse aufnehmen und abstrahieren zu können. Intermedialität ist eine vielschich-
7
E. Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 81.
8
R. D. Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 78.
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tige Konstruktion, die den stellenweise einfachen und direkten Eindruck von Brinkmanns Werken komplex erzeugt. Darum ist seine lyrische Selbstbeschreibung »Ich bin ein Dichter«9 nicht nur als Berufsbezeichnung zu verstehen, sondern auch als programmatisch auf medialem Experimentierfeld. So schreibt Brinkmann in seinem späten Materialband Rom, Blicke: »Ich will mich viel mehr auf das Schreiben werfen und mit der Ausschließlichkeit wie anfangs als ich es bisher verwirrt und durchaus in der Verwirrung ernst gemeint habe./Mich interessiert nicht mehr, ob die Literatur tot ist, mag sie sterben wie alles andere, ich arbeite darin. Auch mit meinem eigenen kleinen Wortschatz, und wenn ich jedes Wort nachschlagen muss. Was ist sonst Leben wert?«10
9
R. D. Brinkmann: »Eine Komposition, Für M.«, in: Ders., Westwärts 1&2, S. 103.
10 R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 185.
6 Ausblick Brinkmann um 2000 – Pop und Zorn
»Auch die Interpretationen machen weiter.«1
Brinkmanns literarische Medienreflexionen und -kritiken bilden retrospektiv einen Teil des von ihm selbst aufgegriffenen Diskurses. Die Traditionalisierung und Kanonisierung seines Werks zeigt sich besonders deutlich um 2000 bei popliterarischen Schreibweisen in seiner Nachfolge. Eckhard Schumacher erklärt das Schreiben nach der ›Methode Pop‹ mit folgenden Worten: »Pop-Literatur [...] verdankt ihre Popularität vor allem einem technisch versierten, literarisch weitgehend konventionellen, in seiner Konventionalität jedoch durchaus unkonventionell wirkenden Nacherzählen popkulturell geprägter Sozialisationsmuster«2. Entscheidender Teil dieser Sozialisationsmuster sind Medien.3 Um 2000 existieren andere Ausdrucksmöglichkeiten und eine größere Vertrautheit mit medialer Wahrnehmung und ihren Strukturen als 30 Jahre zuvor: Die mediale Verfassung der Realität verstärkt sich durch das Aufkommen des privaten kommerziellen Kabelfernsehens in den frühen 1980er Jahren und die allmähliche Verbreitung des Computers kurze Zeit später. Vorläufiger Höhepunkt der rapide medialen Umbrüche ist die Expansion des Word Wide Web in den 1990er Jahren.
1
R. D. Brinkmann: Westwärts 1&2. Erweiterte Neuausgabe, S. 8.
2
E. Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 10.
3
Vgl. zur Definition von Popliteratur auch Kapitel 3.
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Die literarische Darstellung der Realität unter den Bedingungen der Gegenwart steht in engem Zusammenhang mit der zeitspezifischen Mediensozialisation der Autoren. Massenmediale Dauerpräsenz ist alltäglich. Für die Wahrnehmung und ihre Beschreibung gilt gleichermaßen: »Alles was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.«4 Literatur und die anderen Künste befinden sich von vornherein innerhalb dieser Medienrealität. Die Rolle, welche intermedialen Bezügen in Texten Brinkmanns im Vergleich zu popliterarischen Schreibweisen um 2000 zukommt, markiert eine Verschiebung des Ausgangspunkts vom Kunstwerk im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit hin zur Realitätskonstruktion in Zeiten der Digitalisierung, deren Teil Kunst per se ist. Da das Bewusstsein für die Konstruiertheit und Medialität der Weltaneignung den Glauben an die Möglichkeit der unmittelbaren Erfassung der Umwelt abgelöst hat, ist entscheidend, wie Literatur innerhalb dieser Bedingungen alltägliche Wahrnehmung ausdrückt. Realität wird als prinzipiell konstruiert angenommen, im Gegensatz zu einer objektiv zugänglichen, jenseits aller (medialen) Vermittlung liegenden Realität, wie sie in Brinkmanns Texten als Utopie durchschimmert.5 Darin besteht der entscheidende Unterschied zwischen den theoretischen Hintergründen Brinkmanns intermedialer Arbeiten und popliterarischen Schreibweisen um 2000: Eine Umwelt außerhalb der medialen Ereignisse wird in der ›Neuen deutschen Popliteratur‹ nicht mehr angenommen. Wenn die über Medien konstruierte alltägliche Wahrnehmung in Sprache überführt wird, kommt es, wie bei Brinkmann auch, zur typischen intermedialen Doppelkonstruktion, die allerdings in einem anderen Kontext zu verorten ist. Benötigt Brinkmann für die Sprache intermediale Kontakte, um die Unmittelbarkeit zu konstruieren, die ihr verloren ging, oder um die Entfremdung zwischen Sprachdekodierung und Sinnlichkeit zu kritisieren, so bedienen sich popliterarische Schreibweisen um 2000 der Intermedialität, um Wahrnehmung überhaupt beschreiben zu können. Nicht nur über Sprache, sondern auch über sämtliche andere Medien konstituiert sich Realität. Wenn momentane Alltagseindrücke beschrieben werden sollen,
4
Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 9.
5
Vgl. Kapitel 4.7.
AUSBLICK | 245
muss Sprache also diese mediale Vorkonstruktion der persönlichen Lebenswelt innerhalb ihrer Möglichkeiten nachbilden. Erleben und Erfassen steht von vorn herein im Spannungsfeld anderer Medien, die gleichermaßen an der Fertigung von Wahrnehmungen und Erfahrungen beteiligt sind. Die Autoren schreiben im (Un)-Bewusstsein einer anderen Medienrealität. Die Entwicklung der Popliteratur von Rolf Dieter Brinkmann zu Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre6 veranschaulicht dementsprechend den Weg von der Etablierung des Alltags in der Kunst zur Darstellung der Künstlichkeit alltäglicher Wahrnehmung, welche allerdings bei Brinkmann bereits angelegt ist. Das Konstruierte der Realität wird literarisch verarbeitet und so erst erarbeitet, da außerhalb des Textes, im gelebten Alltag, diese Prozesse automatisch ablaufen und erst durch den performativen Wandel in Literatur sichtbar werden. Werden die 30 Jahre auseinander liegenden popliterarischen Ansätze und Werke verglichen, erfolgt meist zunächst folgende Unterscheidung: »Während die Autoren der Pop-Literatur in den 60er Jahren um Rolf Dieter Brinkmann die deutsche Literatur von ihren verkrusteten Strukturen befreien und gleichzeitig im Kontext der allgemeinen Liberalisierungsbewegungen der späten 60er Jahre auch in der Literatur sexuelle und vor allem auch kulturelle Tabus brechen wollten, sehen sich die Autoren der 90er Jahre einer liberalisierten und für alles offenen Medienkultur gegenüber gestellt, die es zu thematisieren und instrumentalisieren gilt.«7
Darin liegt der Ursprung des oft getätigten Vorwurfs an popliterarische Schreibweisen um 2000, sie seien weit weniger subversiv als ihre Vorgänger, da sie sich affirmativ gegenüber der popkulturellen Mediengesellschaft verhielten. Diese differente Wirkung ist zum einen durch den durch Medien bedingten Wahrnehmungswandel zu erklären, zum anderen ist ganz entscheidend für die Rolle des Autors und seiner Literatur die mediale Landschaft, welche beide umgibt und deren Teil sie sind. Eine literarischkritische Distanz gegenüber medialen Ereignissen und die Möglichkeiten des Autors, sich der medialen Selbstinszenierung (welche auf literarischem
6
Eine kurze Analyse von Benjamin von Stuckrad-Barres Roman Soloalbum und Rave von Rainald Goetz findet sich in Kapitel 3.
7
S. Seiler: »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«, S. 275.
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Sektor schnell Abwertungen mit sich bringt – auch, was das Werk betrifft) zu verweigern, stehen unter den Bedingungen der Gegenwart vor neuen Herausforderungen. Je omnipräsenter und vernetzter der Medienapparat funktioniert, desto schwieriger wird die Simulation einer objektiven Distanz und einer kritischen Stellungnahme (vor allem in der Beschreibung des Alltags, den popliterarische Schreibweisen definitorisch zum Ausgangspunkt haben). Sogar die Apokalyptiker sind per se immer auch Integrierte. Dies gilt auch für die akustische und visuelle Repräsentation der Autoren, welche mit neuen technischen Entwicklungen völlig andere Dimensionen annimmt. Beispielweise war Benjamin von Stuckrad-Barre als Fernsehmoderator für eine Literatursendung auf dem Musikkanal MTV tätig.8 Im Jahr 2003 dokumentierte er seinen Drogenentzug in Filmform9, und drei Jahre später moderierte er immer dienstags beim Jugendsender des Hessischen Rundfunks YOU FM die Sendung Enzyklopädings10. Dadurch entsteht ein anderes Bild des Autors in der Öffentlichkeit als dies zu Rolf Dieter Brinkmanns Zeiten überhaupt möglich war. Aufgrund der Telepräsenz einiger Literaturschaffender, sei es als Moderatoren, Diskussionsteilnehmer oder Interviewpartner, tritt die Optik und somit die Person des Schriftstellers hervor. Es erfolgt eine – oftmals sehr bewusste – Inszenierung einer Autorenpersönlichkeit, die teilweise sogar die schriftstellerische Tätigkeit überlagert. Zahlreiche Feuilletonartikel, welche im Rahmen einer Buchkritik nahezu selbstverständlich eine äußerst problematische Identifizierung des Protagonisten mit dem Autor selbst vornehmen,
8
Seine Sendung Lesezirkel lief von September bis Dezember 2001 wöchentlich auf MTV. Dort widmete er sich mit prominenten Gästen verschiedensten Texten und daran anknüpfenden Themen.
9
Rausch und Ruhm. Dokumentation über den Drogenentzug des Benjamin von Stuckrad-Barre (Deutschland: 2003, R: Herlinde Koelbl)
10 In dieser Sendung sollte ein Volkslexikon, ein Kulturkanon entstehen. Wöchentlich war ein anderes Themengebiet Motto, beispielsweise Personen der Zeitgeschichte, Platten/Filme, Erfindungen und Entdeckungen oder schöne Orte. In der Sendung und auch im Internet wurde so ›Wissen für Alle von Allen‹ gesammelt, indem demokratisch einzelne persönliche Vorschläge zusammengestellt wurden und zeigten, ›was wirklich wichtig ist‹.
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bestätigen dies.11 Der Autor wird zum medialen Ereignis und zum Markenzeichen, das selbst für seine literarischen Produkte wirbt. Gerade bei Schriftstellern, welche sich in ihren Texten mit der Distinktion über Codes beschäftigen, wird dies gewissermaßen auch von der medialen Präsentation des Autors erwartet. Der Habitus ist nicht nur beim literarischen Personal entscheidend, sondern auch bei der Selbstinszenierung der Autoren. Die Konstruktion der medialen Autorenpersönlichkeit wird so omnipräsenter Teil des popliterarischen Konzepts. Auch Brinkmanns Selbstinszenierung in der Öffentlichkeit unterliegt einem gezielten Kalkül. Als Sachverständiger medialer Prozesse nutzt er seine Expertise zur gekonnten Stilisierung als Provokateur auch jenseits seiner Werke: Er mimt den skandalträchtigen Unangepassten, wenn er gegenüber Marcel Reich-Ranicki äußert, er würde auf ihn schießen, wäre sein Buch ein Maschinengewehr, positioniert sich als Traditionsmuffel, indem er in einem Zeitungsartikel postuliert, er hasse alte Dichter,12 kritisiert heftig die »Viehlologen«13 oder leitet seine Dichterlesung in Cambridge mit den Worten »the environment [...] is just not my style. This cultural surrounding is just a strange place for me«14 ein und propagiert so den Habitus des ›Anti-Bildungsbürgers‹. Damit verweist er wiederum auf sein literarisches Selbstverständnis als (Sprach-)Revolutionär und Provokateur, der eine klare Abgrenzung zu Kanon und Literaturbetrieb benötigt, und bezeugt so seine schriftstellerische Haltung durch sein persönliches Auftreten. Posthum erlangt Brinkmann auch Telepräsenz; 2006 kommt der Film Brinkmanns Zorn von Harald Bergmann in die Kinos.15 Dadurch erfährt
11 Beispielweise innerhalb einer Rezension von Stuckrad-Barres Soloalbum in der Berliner Zeitung: »Über-schlechte-Musik-Schimpfen und Menschen-mit-häßlicher-Kleidung-Hassen beim aggressiven Benjamin von Stuckrad-Barre«, und später: »Die Autoren halten sich schon für Helden (oder Antihelden), weil sie Gefühle haben, die sie haben« (Schäfer, Andreas: »Echt nämlich: Jeder ist ein Star«, in: Berliner Zeitung vom 30.01.1999, S. 5). 12 Vgl. R. D. Brinkmann: »Angriff aufs Monopol«, in: Christ und Welt, S. 14-15. 13 Vgl. R. D. Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 18. 14 R. D. Brinkmann: The Last One. 15 Vgl. Brinkmanns Zorn (Deutschland 2006, R: Harald Bergmann). Im Rahmen der Verfilmung der Tonbänder und der Publikation des Films als DVD wurden
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Brinkmann eine ganz besondere Inszenierung seiner Autorenpersönlichkeit auf der Leinwand. Gehört es gerade für Popautoren um 2000 weitgehend zum schriftstellerischen Alltag, sich auch in Film und Fernsehen zu zeigen, erfährt Brinkmanns visuelle Inszenierung rund 30 Jahre nach seinem Tod durch seine Kinopräsenz eine ähnliche Aktualisierung: Denn nicht nur die Person Brinkmann tritt auf, auch der Autor Brinkmann kommt zu Wort, sein Werk wird intermedial in den Film integriert. Auf die Darstellung von Person und Werk in Brinkmanns Zorn möchte ich im Folgenden näher eingehen. Die Tonspur des Films bilden Ausschnitte der Tonbandaufnahmen Brinkmanns, welche dieser 1973-75 aufzeichnete.16 Gleichzeitig visualisiert Bergmann Brinkmann, seine Gesprächspartner und die ihn umgebende Geräuschkulisse. Zum einen ergänzt der Film die Aufnahmesituation auf der Bildebene: Man sieht den Brinkmanndarsteller Eckhard Rhode mit Mikrofon und Rekorder durch die Straßen gehen oder in der Wohnung experimentieren. Zum anderen werden auch die Personen aus Brinkmanns Umgebung, welche auf den Tonbändern stimmlich verewigt sind, von Schauspielern dargestellt, neben Freunden auch Brinkmanns Frau Maleen und ihr gemeinsamer Sohn Robert. Zusätzlich benutzt Bergmann andere Originaltexte und -aufnahmen, beispielsweise Ausschnitte aus Brinkmanns Super-8-Filmen, so dass unter intermedialen Gesichtspunkten verschiedene Typen kombiniert werden. Brinkmanns Tonbandaufnahmen geben den Schauspielern den Text vor. Sie agieren zu den Geräuschen und inszenieren die Gespräche. Durch die intermediale Übernahme deckungsgleicher Komponenten ist ein Teil des Werks Brinkmanns, seine Tonbandaufnahmen, direkt wiedergegeben und wird so in einem dreifachen Sinn ›aufgehoben‹17. Zunächst werden die Tonaufnahmen einem Kinopublikum näher gebracht, indem dieser akustische Nachlass im Film ›aufbewahrt‹ wird. Zu-
auch die Super-8-Filme Brinkmanns und in einem zweiten Teil die Arbeitsbücher und Collagen, sein Longkamp Tagebuch (1971-73) und die Schnitte Collagen von 1979 als Filme in Worten veröffentlicht. Den dritten Teil der Sammlung bildet der Film Brinkmanns Zorn. 16 R. D. Brinkmann: Wörter Sex Schnitt. 17 Vgl. L. Eckstein: Re-Membering the Black Atlantic. On the Poetics and Politics of Literary Memory, S. 7 und Kapitel 4.6.3.
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sätzlich hebt sich die ursprüngliche Wirkung der Tonbänder aber auch teilweise auf. Durch die Unterlegung mit Bildern erfahren Sprache und Geräusche eine Interpretation. Während die Tonbandaufnahmen viele Geräusche entfalten, welche (zunächst) nicht zuzuordnen sind, zeigt der Film durch seine Bildebene, worauf sie zurückzuführen sind. Die starke Wirkung der Ungewissheit, Unsicherheit und Überraschung, welche die Tonbänder erzeugen, fehlt dadurch im Film. Die Bilder geben Orientierung, synthetisieren und verbinden isolierte Geräusche auf Band mit Geschichten und Erklärungen. Brinkmanns Stimme und die manchmal bis zur Unerträglichkeit ausgedehnten Passagen mit Keuch-, Schepper- und Kratzgeräuschen verlieren durch die Bilder an Intensität. Verstärkt wird diese Abschwächung der Wirkung durch die Unterlegung des Films mit Musik. Die eigenen Klangkompositionen, welche Brinkmann auf Band mit dem ihm umgebenden Lärm arrangiert, werden im Film oftmals von unterschiedlichsten Musikstücken übertönt. Dadurch wird (je nach Musik) eine andere Stimmung erzeugt. Musik und Bilder geben den Szenen eine besondere Atmosphäre, generieren einen Subtext, den die Tonbandaufnahmen nicht haben. Auch scheint Musik im Film manchmal als Gegenbild zur verkommenen Umwelt eingesetzt zu sein, als idyllischer Fluchtpunkt, wodurch ein romantischer Ort entworfen wird, welcher jenseits des alltäglichen Graus liegt. Diese Haltung gegenüber der gegenwärtigen Lebenswelt erweckt den Eindruck von Kraftlosigkeit und Resignation, welcher auf den meist manischen und wütenden Tonbändern zu keinem Zeitpunkt entsteht. Eine weitere Dimension der ›Aufhebung‹, neben den Aspekten des Bewahrens und des Aufhebens der ursprünglichen Wirkung, entsteht durch die Emporhebung der Tonbänder auf eine komplexere Ebene der Sinngebung. Als Teil eines intermedialen Konstruktes, der Übernahme deckungsgleicher Komponenten, bewahren sie zwar ihre ursprüngliche Form, erfahren aber gleichzeitig einen neuen Sinn und nehmen eine andere Rolle ein. Isoliert betrachtet bilden sie ein akustisches Gegenwartsdokument Brinkmanns, während sie im Film als Tonspur für eine umfassende, visuelle und akustische Annäherung an den Autor selbst dienen. Auf den Tonbändern hört man, was Brinkmann hört und beschreibt; im Film sieht man, wie Bergmann sich den hörenden und beschreibenden Brinkmann vorstellt. Dadurch werden unterschiedliche Intermedialitätstypen verknüpft: die oben ausgeführte Übernahme deckungsgleicher Komponenten, welche die Tonbänder als Tonspur des Films fokussiert, wird ergänzt durch den Me-
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dienwechsel, da gleichzeitig der gesprochene Text der Tonbänder in Bilder übersetzt und durch diese ergänzt wird. Neben den O-Tönen beinhaltet der Film Ausschnitte aus Brinkmanns späten Materialbänden, welche teilweise als Buchseiten eingeblendet sind, teilweise zusätzlich gelesen und manchmal auch ohne ihre Abbildung rezitiert werden. Durch die Einblendung der Text/Bild-Kombinationen kommen erneut deckungsgleiche Komponenten zur Darstellung. Auch ihre Wirkung verändert sich, da die Texte meist vorgelesen werden und sie so nicht mehr dem ihnen eigenen beliebigen Rezeptionsakt unterworfen sind.18 Außerdem wird die Text/Bild-Kombination, welche durch Montagetechnik entstand, teilweise wieder aufgesprengt, wenn ausschließlich eine Lesung der Texte erfolgt. In jedem Fall tritt auch hier eine völlig andere Wirkung in Kraft als in den Bänden selbst. Durch ihre filmische Organisation, durch die Festlegung einer bestimmten Leserichtung und die bewusste Auswahl einer bestimmten Passage im Erzählverlauf des Films ergibt sich eine Ordnung, welche die Bände selbst nicht haben oder vorgeben. Sie wiederholen zwar immer wieder bestimmte Themenkomplexe, besitzen aber keine lesbare Dramaturgie im Sinne einer Entwicklung von der ersten bis zur letzten Seite. Die Kategorisierung des Films im Spannungsfeld zwischen fiktiver Autorenbiographie und dokumentarischer Darstellung von Brinkmanns Leben oder einer Werkschau ist diffizil. Im Booklet zur DVD findet sich folgende Beschreibung: »Dokumentarfilm und Dichterbiographie verschmelzen und werden zu einer an Authentizität und Faszination kaum zu überbietenden Literaturverfilmung«19. Als Dokumentarfilm definiert Monaco »alle nichtfiktionalen Filme, die sich der Aufzeichnung von Außenrealität widmen«20. Brinkmanns Zorn gibt tonal die von Brinkmann aufgezeichnete, von ihm subjektiv wahrgenommene und individuell beschriebene Umwelt wieder. Die O-Töne haben allerdings als Kunstprodukt selbst schon fiktiven Charakter. Brinkmann dokumentiert zwar seine Umwelt auf Band, im Vordergrund stehen dabei allerdings die experimentellen Verfahren, welche die akustischen Möglichkeiten der medialen Vermittlung ausloten. Der Eindruck der Unmittelbarkeit ist auch hier ein komplex konstruierter. Die
18 Vgl. Kapitel 4.5.2. 19 Brinkmanns Zorn (Booklet). 20 Monaco, James: Film verstehen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1980, S. 389.
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originalen Tonbandaufnahmen beglaubigen also nicht den Status des restlichen Film als Dokumentation, sondern sie fügen den Spielszenen eine andere, intermediale Dimension fiktionaler Darstellung hinzu. Durch die intermediale Kombination aus Tonbandaufnahmen und Texten Brinkmanns mit der filmischen Inszenierung und visuellen Ergänzung dieses Materials durch Bergmann wird dem Zuschauer eine Doppelkonstruktion von Fiktion vorgeführt. Die filmische Hommage Bergmanns leistet letztlich eine mediale Autoreninszenierung Brinkmanns mit den filmischen Möglichkeiten der Gegenwart für ein aktuelles Filmpublikum und erweitert Brinkmanns mediale Experimente durch den kommentierenden Blick eines Rezipienten und Filmemachers. Rolf Dieter Brinkmann ist um 2000 immer noch äußerst gegenwärtig. Als ›erster deutscher Popliterat‹ findet er durch das erneute Aufleben popliterarischer Schreibweisen große Beachtung, sein Leben und sein Werk erlangen im Kino Telepräsenz und seine Texte inspirieren die zeitgenössische deutsche Popmusik.21 Jochen Distelmeyer von der Hamburger Band Blumfeld singt 2003 in seinem Lied Alles macht weiter auf dem Album Jenseits von Jedem, deutlich erinnernd an Passagen von Brinkmanns Vorwort zu Westwärts1&222: Alles macht weiter Die Zeit und ihr Garten Der Baum vor dem Fenster Das Hoffen und Warten Die Zwiebeln im Kühlschrank Alles macht weiter Der Alltag macht weiter Die Probleme und Zwänge Der Verkehr in den Straßen Die Einsamkeit in der Menge23
21 Vgl. Seiler, Sascha: »Pop-Mythos und Rebellion. Rolf Dieter Brinkmann und die zeitgenössische Popmusik«, in: M. Fauser (Hg.), Medialität der Kunst, S. 243-256. 22 Vgl. R. D. Brinkmann: »Vorwort«, in: Ders., Westwärts 1&2. S. 5-7. 23 Blumfeld: »Alles macht weiter«, auf: Jenseits von Jedem, Hamburg: Wea International 2003.
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Doch nicht nur in der Rezeption ist Brinkmann um 2000 präsent. Anlässlich seines 30. Todestages erscheint 2005 die erweiterte Neuauflage von Westwärts 1&224, ein Mitschnitt von Brinkmanns letzter Lesung auf dem Cambridge Poetry Festival 197525 und sein akustischer Nachlass Wörter Sex Schnitt26. 2010 werden wieder aufgefundene, frühe Gedichte von Brinkmann unter dem Titel Vorstellung meiner Hände27 veröffentlicht. Auch in Zukunft sind weitere Entdeckungen und Erstveröffentlichungen zu erwarten. Der »Geschichtenerzähler mach[t] weiter«28 und somit auch die Brinkmannforschung. Diese Neuerscheinungen werden sicher zahlreiche Ansatzpunkte für Forschungsarbeiten bieten. Ein weiteres interessantes und ergiebiges Forschungsfeld ist zum Beispiel der ausführliche Vergleich zwischen popliterarischen Schreibweisen um 2000 und Brinkmanns popliterarischen Texten, welcher in der vorliegenden Arbeit lediglich skizziert werden konnte. Dieser könnte zum einen die zeittypischen Unterscheide präzisieren und zum anderen eine umfassende Analyse zur Popliteratur seit den 1990er Jahren im Diskurs der literarischen Tradition bieten. Auch ist Brinkmanns Einfluss als Mittler zwischen der angloamerikanischen und der deutschen Popkultur beziehungsweise -literatur noch nicht systematisch erforscht. Anhand von Strategien der Übersetzung und Übertragung von Texten und Kontexten angloamerikanischen Ursprungs ließen sich Schnittstellen und Grenzen kulturellen Austausches und die inspirierende Dynamik fremdkultureller und fremdsprachlicher Anregungen und Aneignungen erarbeiten. Brinkmanns Tätigkeit als Übersetzer amerikanischer Beatliteratur und seine Herangehensweise an diese Texte, ebenso wie seine Anlehnung an die Ästhetik ihrer Werke, die Überzeugungen und Ziele ihrer Autoren und auch seine Faszination für die Beschaffenheit und Struktur der englischen beziehungsweise amerikanischen Sprache, wären ein ideales Beispiel für einen kulturellen Transfer zwischen verschiedenen Sprachräumen am Ausgangspunkt der Literatur.
24 R. D. Brinkmann: »Vorwort«, in: Ders., Westwärts 1&2, S. 5. 25 R. D. Brinkmann: The Last One. 26 R. D. Brinkmann: Wörter Sex Schnitt. 27 R. D. Brinkmann: Vorstellung meiner Hände. 28 R. D. Brinkmann: Westwärts 1&2, S. 5.
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Auch die Beziehungen zwischen literarischen Texten und Popmusik bieten, im Anschluss an die erarbeiteten Kategorien, verschiedenste Anknüpfungspunkte, die in der Germanistik bisher wenig beachtet wurden. Ebenso wäre der popmusikalische Liedtext als eine besondere Form der literarischen Gattung ein durchaus untersuchenswerter und ergiebiger Forschungsgegenstand. Die Lesart Brinkmanns, Lyrics als Lyrik zu begreifen, ließe sich auch auf zeitgenössische deutsche Liedtexte übertragen. Dabei könnte ein bisher von der literaturwissenschaftlichen Forschung weitgehend ignorierter Bereich der Poesie entdeckt werden.
7 Literatur
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Lettre Peter Braun, Bernd Stiegler (Hg.) Literatur als Lebensgeschichte Biographisches Erzählen von der Moderne bis zur Gegenwart April 2012, 412 Seiten, kart., mit farb. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2068-9
Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3
Annette Gilbert (Hg.) Wiederaufgelegt Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern Juli 2012, 426 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1991-1
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Lettre Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart August 2012, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1750-4
Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Januar 2013, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3
Malte Kleinwort, Joseph Vogl (Hg.) Eingänge in »eine ausgedehnte Anlage« Topographien von Franz Kafkas »Das Schloß« Februar 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2188-4
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Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts
Thomas Lischeid Minotaurus im Zeitkristall Die Dichtung Hans Arps und die Malerei des Pariser Surrealismus
März 2013, ca. 290 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1929-4
Juli 2012, 356 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2103-7
Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende September 2012, 520 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9
Andrea Ch. Berger Das intermediale Gemäldezitat Zur literarischen Rezeption von Vermeer und Caravaggio Juli 2012, 266 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2069-6
Matteo Colombi (Hg.) Stadt – Mord – Ordnung Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa Oktober 2012, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1918-8
Daniel Henseler, Renata Makarska (Hg.) Polnische Literatur in Bewegung Die Exilwelle der 1980er Jahre Dezember 2012, ca. 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2032-0
Tim Mehigan, Alan Corkhill (Hg.) Raumlektüren Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne Januar 2013, ca. 315 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2099-3
Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900 Dezember 2012, ca. 320 Seiten, kart., ca. 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8
Oliver Ruf Zur Ästhetik der Provokation Kritik und Literatur nach Hugo Ball Oktober 2012, 364 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2077-1
Markus Tillmann Populäre Musik und Pop-Literatur Zur Intermedialität literarischer und musikalischer Produktionsästhetik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
Annabelle Hornung Queere Ritter Geschlecht und Begehren in den Gralsromanen des Mittelalters
Dezember 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1999-7
November 2012, 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2058-0
Jan Wilm, Mark Nixon (Hg.) Samuel Beckett und die deutsche Literatur April 2013, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2067-2
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012
Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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