Illustrierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart : Band 2 : Die galante Zeit

X, 484 S. : Mit 429 Ill. + 65 z. T. farb. Beil. Illustrationen nicht mitpaginiert.

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German Pages [690] Year 1910

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Illustrierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart : Band 2 : Die galante Zeit

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Die ersten einhundert Exemplare dieses Werkes wurden auf feinstem Kunstdruckpapicr abgezogen und handschriftlich numeriert. Der Preis eines Exemplars dieser Liebhaberausgabe in kostbarem Ganzlederband beträgt fünfzig Mark

Qalantcr aiigsburgcr Kupferstich

Galanter Kupferstich von Daniel Chodoviecki

Inhaltsverzeichnis Seile

Vorwort . Einleitung................

V

1-5

I. Das Zeitalter des fürstlichen Absolutismus Die Das Die Die Die

Entwicklung der politischenZentralgewalt ... Spesenkonto des Absolutismus........................... Untertanenseele........................................................ gesellschaftliche Lüge.......................................... Galanterie .

II. Der neue Adam und die neue Eva . . Das Schönheitsideal des Absolutismus ... Der Kultus der intimen Frauenreize................... Das physische Porträt von Mann und Frau ...

III. Die Livree der Ausschweifung........................ y ... Das Majestätische: Schleppe, Fontange und Perücke Die Rolle des Absatzes am Schuh Das Dekollete................................................................. Der Reifrock...................................................................... Die Farbenskala des Ancien Regime....................... Der Kleiderluxus........................................................ VII

7-99 7 20 76 84 88

... 100-152 101 121 137

.... 153-213 153 166 173 190 203 205

Seite

IV. Das Lieben.

214-402

Der Kultus der Technik . . . Raffinement und Sentimentalität Sexuelle Pädagogik. Die Liebe als Kunstwerk . . . Die Vorschüsse auf die Ehe . . Das weibliche Liebesbedürfhis . - Die juristische Formel....................... Die Heldenfigur des Ancien Regime Die Orgie............................................... Venus und Priap im PriesLerkleide . . . Die Hetzpeitsche....................... Die Hure auf dem Thron .

V. Die konzessionierte Galanterie

214 218 222 236 273 300 310 343 345 365 372 382

..................

403-436

Der Straßenhandel mitLiebe................... Der Bordellbetrieb.............................................. hie Agenten und Makler der Prostitution . . . P>lizei und Dirne......................................................................................... Ler Dorn an der Rose.......................................... ... ...

17 Im Wirtshaus und Salon

405 412 424 430 433

.... 437—484

Die Entwicklung des Wirtshauslebens.............................. Familienfeste........................................................................................ ... Volksgebräuche .... Volksfeste und Vergnügungsstätten........................................................................... Tanz und Spiele................................................... Das Theater................................................................................................................ Oper und Ballett........................................................................................................... Der Salon....................... .... .....................................

Claude Mellan: Dekoratives O mamen l

VIII

438 444 446 448 456 462 475 478

Verzeichnis der Beilagen neben Seite

Le Coucher. Französischer Kupferstich nach J. Vanloo .8 Venus sortant du Bain. Kupferstich nach Boucher. 1742 . ¡6 Ruhendes Mädchen. Galantes Gemälde von Boucher ... 112 Die Wäscherin. Französischer Kupferstich von Boucher................................................ 132 La Comparaison. Galanter französischer Farbstich nach Lavreince. 1786 .................... 136 La Comparaison. Galanter französischer Kupferstich nach Schall. 18. Jahrhundert . 144 La Comparaison des petits Pieds. Französischer Kupferstich nach L Boilly. Um 1788 152 Le someil d'Erigone. Galanter französischer Farbstich nach Monsian............................ 440 Die Lockspeise, mit der die Männer gekirrt werden. Galantes englisches Schab« kunstblatt nach W. Peters. 1776 .................................................................... 160 Sylvia. Galantes englisches Schabkunstblatt nach W. Peters. 1778 ............................. 128 Die Kenner. Englische Karikatur auf die Lüsternheit der Männer von Thomas Rowlandson 96 La Fontaine d’Amour. Galanter französischer Kupferstich nach Fragonard .... 32 Das Mahl der Verliebten. Galanter französischer Farbstich von Le Clerc .... 304 Koketterie. Galanter englischer Farbstich nach H. Ramberg........................................... 240 Die Gärtnerin. Galanter französischer Farbstich nach Aug. de SainUAubin .... 200 L’Eventail cassé. Galantes Augsburger Schabkunstblatt nach J. B. Huet. 1775 . 232 Der Kuß der Liebe. Französischer Farbstich nach Doublet. Um 1780 .................... 256 Der Kuß der Freundschaft. Französischer Farbstich nach Doublet. Um 1780 . . 256 Die Schmerzen der Verliebten. Galanter englischer Farbstich nach J. Weathly. 1786 328 Auf dem Wege zum Bankett ) Auf dem Wege vom Bankett J Galan,e enslische 18- Jahrhundert . . 192

La Courtisane amoureuse. Galanter französischer Kupferstich nach F. Boucher. Um 1760 176 Die vornehme Dame bei ihrer Morgentoilette. Kupferstich nach N. Lavreince . 272 Le Boudoir. Galanter französischer Kupferstich nach Fragonard. Um 1780 .... 248 Der verliebte Widerstand. Galanter französischer Kupferstich nach Auguste de Saint* Aubin. Um 1789 ............................................................................................. 360 Die verräterischen Schatten. Galantes englisches Schabkunstblatt nach Schall . . . 320 Die französische Toilette. Galanter englischer Farbstich nach C. Anseil .... XII Der schmachtende Liebhaber. Englischer moralisierender Kupferstich........................268 .Galanter Nürnberger Kupferstich von Christof Satorius. Um 1690 .... 216 La douce Resistance. Galanter französischer Kupferstich vqi/L. Boilly. 1785 . . . 280 La Leçon d’Amour Conjugal. Galanter französischer Kupferstich nach L. Boilly. 312 Ça a été. Galanter französischer Kupferstich nach L. Boilly........................................... 336 Das peinliche Geständnis. Französischer Farbstich nach Lavreince- 1787 .... 288 Der betrogene Liebhaber. Englischer Farbstich nach Weathly. 1786 .................... 328 Joseph und die Potiphar. Englisches Schabkunstblatt nach C. Cignanus .... 264 Sly«Boots. Galanter englischer Kupferstich von Thomas Rowlandson. 1786 .... 88 B IX

neben Seile

Symbolisch«satirischer Kupferstich auf die betrogenen Ehemänner. Nach einem Gemälde von Le Nain. 18. Jahrhundert.................................................................... 224 Aber verschwiegen müssen Sie seinl Galante Rötelzeichnung von Saint>Aubin . 24 January and May. Englischer satirischer Farbstich über die ungleichen Ehepaare. 1782 344 Flirtilla. Englischer Farbstich von J. R. Smith. 1787 ................................................. 208 Die gelinde Strafe. Deutscher Farbstich von C. W. Seeliger. 1800 ......................... 376 Madame Pompadour, die Maitresse Ludwig XV. als Venus. Getönte Rötel« Zeichnung von François Boucher.............................................................................. 384 O'Morphi, eine der Maitressen Ludwig XV. Nach einem Gemälde von Boucher 352 Madame Dubarry, Maitresse Ludwig XV. Englischer Schabstich. 1770 . . . 368 Ce qui est bon à prendre est aussi bon à garder. Galanter französischer Kupfer» stich nach Huet....................................................................................................... 392 Buhlende Kurtisane. Englischer Farbstich nach W. Peters. 1778 .............................. 400 Dirne und Kupplerin. Gemälde von Franz von Mieris................................................. 4Q8 Das Treiben in einem niederländischen Frauenhaus. Holländisches Schabkunst« blatt von N. Verkolje. Um 1710.............................................................................. 41$ Polizeiliche Aufhebung eines Kuppelnestes durch die städtische Obrigkeit. Französischer Kupferstich nach Jeaurat. Anfang des 18. Jahrhunderts.......................... 40 Die Tätigkeit der Sittenpolizei. Französischer Kupferstich nach St. Jeaurat. Um 1770 48 Die Tätigkeit der Sittenkommission. Haarabschneiden und Abfuhren in das Maison de Santé der aufgegriffenen vagierenden Dirnen......................................................424 Eine Männerfalle. Englischer Farbstich. 1780 ....................................................... 432 The Military Beauty. Anonymer englischer Schabstich. 1781....................................... 184 Eine VorstadfrSchöne. Anonymer englischer Farbstich. Um 1780 ......................... 56 Dimen«Corso in einem Londoner Vergnügungslokal. Englischer Schabstich von J. S. Smith 1781......................................................................................................... 64 Das Orangenmädchen. Englischer Farbstich nach J. H. Benwell.................................... 72 Eine Kupplerin bringt frische Ware auf den Markt. Englischer Farbstich. Um 1785 168 Cloris und Rosettens Hochzeit. Holländischer Kupferstich nach C. Troost . . . 448 Die Tänzerin Guimard. Nach einem Gemälde von J. H. Fragonard........................ 472 Le Souper fin. Französischer Farbstich nach J. M. Moreau............................................ 464 Conversazione. Englische Karikatur von H. Bunbury. 1782........................................ 456 Der französische Kamin. Galanter englischer Farbstich nach C. Anseil........................ 480 L'offrande à Priape. Französischer Kupferstich nach J. Raoux. 1735 .................... 296 Faune und Nymphen. Galanter französischer Kupferstich nach Caresme. Um 1770 . 120 La Gimblette. Galanter französischer Kupferstich nach Fragonard. Um 1775 ... 80 Prospekt einer Augsburger Kupferstichhandlung. Um 1780 .............................. 104

Die galante Zeit

THE FRENCH TOILET. Die französische Toilette Galanter englischer Farbstich von P. W. Tompkins nach C. Ansell

Illustrierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart von

Eduard Fuchs Die galante Zeit Mit 429 Textillustrationen und 65 Beilagen Erstes bis zehntes Tausend Thomas J. Bafa Library

TRENT UNIVERSITY PETERBOROUGH, ONTARIO

Albert Langen Verlag für Litteratur und Kunst

München

Druck von Hesse 6. Becker in Leipzig Einbände von E. A. Enders, GroBbuchblnderei, Leipzig

Galanter augsburgcr Kupferstich

Vorwort Ich habe die Gesichtspunkte, die mich bei dieser Arbeit leiten und deren Form bestimmen, ausführlich im Vorwort zu dem Bande „Renaissance“ ent» wickelt. Da ich dem dort Gesagten nichts Neues hinzuzufügen habe, so enthebt mich dies, hier noch einmal auf diese Punkte näher einzugehen. Zwar soll jeder der drei Bände, auf die das Werk angelegt ist, in seiner ganzen Anlage eine für sich abgeschlossene und darum auch in gewissem Maße selbständige Untersuchung darstellen, aber deshalb bleiben sie in ihren Grundgedanken und in ihren Richtungslinien doch alle die Teile eines Ganzen, zu dem sie sich schließlich organisch zusammenfügen sollen. Der ungeheure Materialreichtum zwang mich wiederum unerbittlich dazu, von den mir zugänglichen Belegen immer nur sogenannte Kostproben zu geben. Da sich aber unter den von der Aufnahme ausgeschiedenen Bildern und Texten ebenfalls wieder vieles befindet, was speziell für die wissenschaftliche Benützung von großer Wichtigkeit ist, so werde ich auch diesesmal das in Frage kommende Material, vereint mit jenen Dokumenten, die sich nicht für eine allgemeine Verbreitung eignen, in einem später erscheinenden Sonderband Gelehrten und Sammlern zugänglich machen Berlin#Zehlendorf, Herbt 1910

Eduard Fuchs

1,

Francois Boucher: Venus und Liebesgötter.

Rôthelzeichmuig. Um 1760

Einleitung Das verlorene Paradies? Talleyrand sagte.Einmal in seinen alten Tagen: wer die Zeit vor 1789 nicht gekannt hat, hat überhaupt nicht gelebt. Und un* zählige seiner Zeitgenossen waren mit ihm derselben Meinung. Die Überlebenden aus jener Epoche endigten ihre Tage in Trauer über die untergegangene Insel der Seligen, deren Wonnen und Seligkeiten sie in ihrer Jugend gekostet hatten und die nun unwiederbringlich verloren waren, wie die immer trauriger werdende Gegen* wart erwies. Ein zu Ende geträumter Traum der Schönheit und des Glückes. 1

Fuchs, Sittengeschichte ••

1

Die augenfälligsten Doku­ mente des Ancien Regime, die schöne Literatur und die Künste, die es hervorgebracht hat, und in denen es sich wiederspiegelt, rechtfertigen diese Trauer. Strah­ lende, fleckenlose Schönheit steigt aus ihnen empor. Alles ist hier schön: niemals waren die Frauen so verführerisch, nie die Männer so elegant, und selbst die Wahrheit geht in dieser Zeit nicht nackt ein­ her, sondern ihr Gewand ist immer sprühender Esprit. Die Rose hat die Schärfe ihrer Stacheln verloren, das Laster seine Häßlichkeit, die Tugend ihre Langeweile. Alles ist nur Duft, Grazie und verzauberter Glanz. Keine Tragik, keine Schmerzen und Verbrechen verzerren, die Gesichter. Auf allen Mienen thront Frohsinn und Seligkeit. Jede Träne ist durch Lachen gemildert und das Unglück nur eine Stufe zu größerem Glück .... Die Zeit kennt kein Alter und Verblühen. Man lebt eine ewige Jugend und scherzt und schäkert noch auf dem Totenbett. Alles ist Sinnlichkeit und Wollust und das ganze Leben eine einzige fortgesetzte wolllüstige Ekstase. Aber auf den Rausch folgt keine peinliche Ernüch­ terung, sondern neue Lust. Die Dinge haben keine Konsequenzen, kein Lendemain, sondern nur ein Heute. Die Sinnlichkeit wird durch keine Prüderie verlästert und verzerrt, sie ist ein großer verzauberter Wundergarten, aus dem die Sünde verbannt ist. Denn kein Baum mit verbotenen Früchten wächst in ihrer Erde. Man darf von allen süßen und verlockenden Früchten kosten; und auf Weg und Steg bieten sich jeder Begierde tausend Erfüllungen. Die Wollust schreitet mit den Menschen durchs ganze Leben und schüttet ihre Wonnen jedem verschwenderisch in den Schoß. Der Blick des Knaben ist schon eine wollüstige Verheißung, und die Matrone verrät: auch noch mein Garten schenkt der Begierde reiche Früchte. Die Natur hat ihre ehernen Gesetze verändert, sie hat den Ekel von der Unnatur geschieden. Denn dies alles ist in strahlende Schönheit getaucht. Wohin man blickt, nur Schönheit und ungetrübter Glanz .... Man lebt und stirbt in Schönheit. Sie steht schon am Bett der Kreisenden und hält noch die Hand des Sterbenden. Sie ist die Sonne, die nie untergeht.........

Das ist das Paradies, an das die Überlebenden des Ancien Regime bis an ihre letzte Stunde mit düsterer Wehmut zurückdachten. Und die glühenden Ge­ dichte, die köstlichen Kupfer und die duftigen Gemälde des Rokoko, die heute noch diese Seligkeiten vor unsre Blicke zaubern, lügen nicht. Dieses Paradies hat wirklich existiert und es ist für immer von der Erde verschwunden. 2

Diese Zeugen der Vergangenheit lügen nicht, — aber sic verschweigen einen Teil der Wahrheit und zwar den für die Geschichte wichtigsten: sie verschweigen, daß es nur ein sehr kleiner Teil der Menschheit gewesen ist, der unter dem Ancien Regime in diesem Paradies gelebt hat, nämlich die wenigen, denen die absolute Gewalt ein Drohnenleben ermöglichte, wie es die Geschichte der europäischen Menschheit kaum ein zweites Mal gesehen hat, auch in der Antike nicht. Sie verschweigen weiter, daß das Leben fast allen andern in der gleichen Zeit eine Hölle nie endender Sorgen und Qualen sein mußte, um den wenigen den Garten eines solchen Paradieses auf Erden zu sichern. Und deshalb ist das Ancien Regime kein verlorenes Eden der Menschheit. Die Menschheit als Begriff der Gesamtheit wandelte bis heute auf Erden nie in einem Paradies, und ist daraus weder vertrieben worden, noch hat sie es je verloren. Die Pforte ins Paradies steht noch verschlossen vor ihr. Bis jetzt sind ihr im günstigsten Falle die Gartenzaunbillete des Glückes zuteil geworden. Nur mit den Blicken der Sehnsucht hat sie das Paradies als Land der Zukunft geschaut. Aber sie hat dafür mit harter Faust den Unterbau zertrüm» mert, auf dem sich für wenige ein Paradies aufbauen konnte, wie es das Ancien Regime aufwies. Und dies sind ihres Strebens stolzeste Garantien. Das ist die sichere Gewähr, daß die Menschheit eines Tages die Pforten in ein Para» dies öffnen wird, das die ge» samte Menschheit faßt, und dessen Wonnen allen in glei» eher Fülle zuteil werden. Dieses Paradies wird freilich andere Züge aufweisen und andere Ideale des Lebens ver» wirklichen, als die eines mühe» losen Sybaritendaseins, denn darin bestand in Wahrheit das Paradies der Herrschenden im Ancien Regime. Es wird vielmehr ein Paradies der emsig Schaffenden und Wir» kenden sein. Noch lockt die Schwelle, die die Menschheit -Zä IfMe (fcjScrupule vorher überschreiten muß, erst 3. Schönau: Der Weg zum Laster. Oalanter Kupferstich in weiter Feme; aber es ist 1*

3

4.

Honoré Fragonard: Der Kuß.

Galanter Kupferstich

der kürzeste Weg, den sie noch zu durchmessen hat, eine kurze Wegspanne, gemessen an dem ungeheuren Weg, den die Menschheit in den Jahrtausenden ihres ge» schichtlichen Daseins heraufgestiegen ist von den untersten Stufen der Barbarei bis zu unsrer Gegenwart. Und darum wird sie auch diese letzte Strecke, die sie noch von der Vollendung trennt, eines Tages zurücklegen, um als ein gewaltiger Sieger die Schwelle zu überschreiten, von der überhaupt erst ihre wirkliche Geschichte beginnen wird. Die Logik der menschlichen Entwicklung ist tiefer als ein Ammen» märchen, das von ewiger Unvollkommenheit fabelt, und höher als ein Börsenwitz, der im kapitalistischen Mein und Dein gipfelt. Wer das nicht einsieht, mag sich mit der wundersamen Logik abfinden, daß die Gesetze der Entwicklung sich auch in ihr Gegenteil kehren können. — 4

Wenn man die Tragödie einer Kultur aufrollt, muß man als Motto die stolze Zuversicht voranstellen, daß der Menschheit Götterdämmerung unausbleiblich ist, daß sie Ende und Anfang ihrer Zeit sein wird. Das Zeitalter des fürstlichen Absolutismus war aber eins der schmerzlichsten Trauerspiele, das die Menschheit über sich ergehen lassen mußte.

Die Bilder dieser Einleitung und des ersten Kapitels „Das Zeitalter des fürst» liehen Absolutismus“ stehen wie bei dem ersten Bande „Die Renaissance“ nicht in direktem Zusammenhang mit dem Text. Sie sollen nur in zwanglos buntem Wechsel die verschiedenen Seiten des uns in diesem Bande beschäftigenden Themas illustrieren. Auf ihre Würdigung wird darum natürlich nicht verzichtet, diese bleibt nur den späteren Kapiteln vorbehalten, in deren Rahmen sie im einzelnen gehören: von dort wird jeweils auf sie zurückgegriffen werden.

5

Am Rande des Bettes.

5

Oatanter Kupferstich

e.

Hoho re l’ragonard:

Liebcsgetändcl.

Galanter Kupfer stich

I

Das Zeitalter des fürstlichen Absolutismus Am Anfang der Dinge ist stets die Tat /Und das ist in der Geschichte die Revolution. Das gilt auch von allen weltgeschichtlichen Klassenbewegungen. Ihr Eintritt in die Geschichte war stets revolutionär, und sie wirkten als ein revo« lutionärer Faktor, der historisch überwundne Gebilde zu Grabe geleitete und dafür solche politische Formen zur Herrschaft führte, die dem veränderten Inhalt der Dinge entsprachen. Das ist Wesen und Wirkung des Revolutionären in der Geschichte. An diesem Faktum, daß jede Klassenbewegung zuerst revolutionär

7

in der Geschichte auftritt, änderte der Um» stand nicht das geringste, wenn eine Klassen« bewegung schließlich selbst versteinerte, und, statt sich organisch weiterzubilden, vom Tage ihrer Herrschaft an selbst das größte Hemm« nis aller organischen Entwicklung wurde. Wohl der klassische Beweis dafür ist die Geschichte des Christentumes. Dieses war ursprünglich eine große, revolutionäre Be« wegung, die obendrein die Revolution sogar im Heugabelsinne sehr lange führte. Das letztere mag wegen seiner Konsequenzen vielen der heutigen offiziellen Vertreter des Christentumes sehr unbequem sein, aber die Beweise, die die moderne Wissenschaft dafür ins Feld zu führen vermag, daß Jesus und seine Jünger nicht nur die erfolgreichste Re* volution der europäischen Weltgeschichte „gemacht haben“, sondern außerdem in die 7. Deutscher Kupferstich um )700 Kategorie der großen Revolutionäre der Tat gehören, werden dadurch nicht im geringsten beeinflußt, geschweige denn aus der Welt geschafft. Eine revolutionäre geschichtliche Macht war bei ihrem ersten geschichtlichen Auftreten auch der fürstliche Absolutismus. Dies gilt von der Zeit des 16. Jahr* hunderts, wo er als Geschäftsträger des damals aufkommenden Handelskapitals den für dessen Entwicklung unentbehrlichen Nationalstaat schuf, in der Person des Landesherm die politische Zentralgewalt vereinigte und dessen Suprematie den dezentralistischen Feudaladel unterwarf. Durch diese Mission betätigte sich der fürstliche Absolutismus als eine revolutionäre geschichtliche Macht. Denn die neue politische Organisation, zu der er damit die Länder führte, war die historische Notwendigkeit jener Zeit. Der Nationalstaat und die Entwicklung und Festigung einer politischen Zentralgewalt waren ein historisches Muß. Es mußte dazu kommen durch die gegenüber dem Mittelalter veränderte Kräfteverteilung innerhalb der herrschenden Klassen. Mit der Entwicklung des Handels war der revolutionärste Faktor, den die Geschichte je hervorgebracht hat, das Geld, von neuem in die Welt gekommen und wälzte alles von Grund aus um; der Kaufmann wurde an Stelle des Ritters der neue Herr der Welt. Als aber der Kaufmann mit der Entwicklung des überseeischen Handels, also vor allem nach der Entdeckung Amerikas, daran ging, die ganze Welt kommerziell zu exploitieren, da mußte und wollte er, der Herr der Welt, sich auch eine Garantie für eine dauernde Sicherung und Steige« rung seiner Profitrate schaffen. Seine besondem Interessen mußten hinfort allen andern vorangehen. Vor allem wollte er seine auswärtigen Handelsinteressen geschützt haben. Diesen Schutz konnte ihm in ausreichender Weise nur eine 8

^upkrstich von Proporati nací

starke politische Zentralgcwalt gewähren, die über ein stets schlagfertiges Heer, über eine Kriegsmarine, kurz über einen mächtigen, internationalen, politischen Ein? floß verfügte. „Der Handel bedurfte der zXrmce zur Wahrung seiner Interessen, nach außen wie nach innen, zur Niederwerfung von konkurrierenden Nationen, zur Eroberung von Märkten, zur Sprengung der Schranken, welche die kleinen Gemeinwesen innerhalb des Staates dem freien Handel entgegensetzten, zur Hand» habung der Straßenpolizei gegenüber den großen und kleinen Feudalherren, die dem Eigentumsrecht, das der Handel proklamierte, eine kecke Leugnung und nicht bloß eine theoretische, entgegensetzten*’ (K. Kautsky, Thomas Moore und seine Utopie). Infolge der allgemeinen über die meisten Länder sicherstreckenden kommer» ziehen Entwicklung gingen in den meisten Ländern die Interessen der Kaufleute über die Autonomie der Städte hinaus und gipfelten im Nationalstaat und in der Stärkung der politischen Zentralgewalt. Wenn sich dadurch ganz von selbst die Interessen der Städte — denn die Städte kamen zuerst unter die Botmäßigkeit des Kaufmannkapitals und wurden deshalb zu den politischen Trägern seines Interesses, — mit den dynastischen Interessen des Königtumes trafen, und beide ebenfalls überall die natürlichen Bundesgenossen wurden, so liegt das ganz in der Natur der Dinge, ebenso wie die Tatsache, daß die meisten Kriege, die damals geführt wurden, in erster Linie Handelskriege waren. Die Interessen beider waren die gleichen; auch das Königtum bedurfte der Armee und eines zuverlässigen Feldherrn. Andererseits

8. J. Humbelot: Auf der Suche nach der entwichenen Tochter. 17. Jahrhundert Fuchs, Sittengeschichte “

2

9

konnte das Königtum die nötigen großen Geldmittel, die es zum Unterhalt einer Armee brauchte, nur aus den Händen der geldbesitzenden Klassen bekommen, und diese fanden sich nur in den Städten. Diese Bundesgenossenschaft ging daher auch nicht in die Brüche, als jeder Krieg in erster Linie die fürstliche Gewalt steigerte, wodurch wiederum die geldbesitzenden Klassen immer unheimlicher belastet wurden. Die Spesen lohnten sich für das mobile Kapital trotzdem. Die revolutionäre Epoche des fürstlichen Absolutismus war gemäß des unter» schiedlichen Tempos, in dem sich der Kapitalisierungsprozeß in den verschiedenen Ländern vollzog, nicht überall zur gleichen Zeit abgeschlossen. Sie fällt aber überall mit der Renaissance zusammen. (Vgl. auch: Illustr. Sittengeschichte, Die Renaissance, S. 106—116.) — Der fürstliche Absolutismus als politische Regierungsform und somit als Repräsentant und Träger einer ganz bestimmten Kultur ist das schließliche Ergebnis dieser unaufhaltsamen Entwicklung. Und zwar gilt dies für alle Länder, weil sich die moderne Produktionsweise und damit die Kapitalisierungstendenz der Gesellschaft ebenfalls in allen Ländern Bahn brach; d. h.es kam überall, wenn nicht zur Errichtung einer politischen Zentralgewalt, so doch zu einer Herrschaft des fürstlichen Ab» solutismus. Diese war eine unvermeidliche Phase der ka» pitalistischen Entwicklung, die freilich in dem einen Land, wie z. B. in England, infolge be» sonders günstiger Umstände, schon in wenigen Jahrzehnten durchmessen war; in andern dagegen, wo der Konsolidierung des fürstlichen Absolutismus günstige Voraussetzungen sich boten, und das war z. B. in Frankreich und Deutschland der Fall, fast zweieinhalb Jahr» hunderte währte. Aber zu überspringen war diese politi­ sche Phase der kapitalistischen Entwicklung nirgends und da» rum ist sie auch in keinem Land übersprungen worden. Am frühsten kam es zu -JfocWic’ Icl^DLichcsse. 7)e Bouillon. crt^&sltabille nejliyc