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German Pages 222 [224] Year 1996
Andreas Hüttemann Idealisierungen und das Ziel der Physik
Philosophie und Wissenschaft Transdisziplinäre Studien Herausgegeben von Carl Friedrich Gethmann Jürgen Mittelstraß in Verbindung mit Dietrich Dörner, Wolfgang Frühwald, Hermann Haken, Jürgen Kocka, Wolf Lepenies, Hubert Markl, Dieter Simon
Band 12
W G DE
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1997
Andreas Hüttemann Idealisierungen und das Ziel der Physik Eine Untersuchung zum Realismus, Empirismus und Konstruktivismus in der Wissenschaftstheorie
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Walter de Gruyter · Berlin · New York 1997
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Die Deutsche Bibliothek. — ClP-Einheitsaufnahme Hüttemann, Andreas: Idealisierungen und das Ziel der Physik : eine Untersuchung zum Realismus, Empirismus und Konstruktivismus in der Wissenschaftstheorie / Andreas Hüttemann. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1997 (Philosophie und Wissenschaft ; Bd. 12) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-11-015281-9 NE: GT
© Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort
Eine frühere Fassung der vorliegenden Arbeit wurde im Wintersemester 1995/96 unter demselben Titel von der PhilosophischHistorischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg als Dissertation angenommen. Anläßlich der Veröffentlichung habe ich einige Teile der Studie geringfügig überarbeitet. Für die Aufnahme in die Reihe „Philosophie und Wissenschaft Transdisziplinäre Studien" möchte ich den Herausgebern der Reihe herzlich danken. Zu Dank verpflichtet bin ich auch der Landesgraduiertenförderung des Landes Baden-Württemberg, die mich zwei Jahre durch ein Stipendium unterstützt hat. Priv.-Doz. Dr. Andreas Bartels, Dr. Thomas Bonk, Malte Ecker, Priv.-Doz. Dr. Dr. Brigitte Falkenburg, Priv.-Doz. Dr. Michael Hampe, Ulrich Kühne, Kathrin Murr, Jutta Rockmann, Prof. Dr. Manfred Stöckler, Dr. Orestis Terzidis und Frank Tschepke, die frühere Versionen dieser Arbeit oder Teile derselben gelesen und kommentiert haben, sei für ihre Mühen gedankt. Prof. Dr. Nancy Cartwright und Prof. Dr. Bas van Fraassen danke ich, daß sie mir einige Aspekte ihrer Positionen erläutert haben. Ganz besonders möchte ich Prof. Dr. Martin Carrier danken, bei dem ich diese Arbeit als wissenschaftlicher Angestellter beenden durfte und dessen Hinweisen und Kommentaren diese letzte Fassung vieles schuldet. Mein größter Dank aber geht an meinen Doktorvater Prof. Dr. Erhard Scheibe, der die Arbeit von Anfang an mit großer Anteilnahme betreut hat. Seine zahlreichen kritischen Einwände und Anregungen haben den Fortgang der Arbeit entscheidend befördert. Heidelberg, im Juni 1996
Andreas Hüttemann
Inhaltsverzeichnis
Einleitung IX 1.
Ziele /
1.1 1.2 1.2.1 1.2.1.1 1.2.1.2 1.2.1.3
1.2.3 1.2.4 1.2.4.1 1.2.4.2 1.2.4.3 1.2.5
Der Sinn der Frage nach dem Ziel der Physik / Vorschläge für das Ziel der Physik 8 Der Empirismus und das Ziel der Physik 9 Der Begriff des Empirismus 10 Empirismus und empirische Angemssenheit 17 Das Ziel der empirischen Angemessenheit als Grundlage einiger Probleme der empiristischen Wissenschaftstheorie 22 Der logische Empirismus und das Ziel der Herstellung der Einheitswissenschaft 34 Der wissenschaftliche Realismus und das Ziel der Physik 38 Zwei Formen des wissenschaftlichen Realismus 38 Über das Verhältnis von Wahrheit und empirischer Angemessenheit 44 Empirische Äquivalenz, das Erfolgsargument und das Ziel der Physik 49 Der Konstruktivismus und das Ziel der Physik 52 Weitere Zielvorschläge 62 Duhem 62 Die Einheit der Physik als Ziel 69 Popper 74 Methodisches Vorgehen 82
2.
Idealisierungen 87
2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2
Der Begriff der Idealisierung 87 Formen der Idealisierung 91 Idealisierungen und das Ziel der Physik 104 Der Vorschlag von Ellis 105 Das Ziel der vereinheitlichten Beschreibung 108
1.2.1.4 1.2.2 1.2.2.1 1.2.2.2 1.2.2.3
VIII
Inhaltsverzeichnis
2.3.3 2.3.4 2.3.5
Idealisierungen und empirische Angemessenheit 118 Idealisierung und Deidealisierung 121 Das vorläufige Ziel der vereinheitlichten Beschreibung im Verhältnis zu anderen Zielvorschlägen 122
3.
Abstraktionen 129
3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3
3.2.7 3.3 3.4
Abstraktion und Überlagerung 130 Beispiele für Abstraktionen 130 Abstraktion und empirische Angemessenheit 135 Ceteris-paribus-Vorbehalte und Überlagerungssituationen 138 Abstraktion, Naturgesetz und Disposition 141 Der Begriff des Naturgesetzes 141 Die empiristische Naturgesetzkonzeption 142 Die Dispositionsthese 145 Extrapolation auf reine Fälle 152 Die empiristische Naturgesetzkonzeption und das Problem der Überlagerungssituationen 154 Disposositionskonzeption und Überlagerungssituationen 164 Das Verhältnis zu anderen Dispositionskonzeptionen 167 Dispositionen und das Ziel der Physik 171 Anhang zu Kapitel 3 174
4.
Neubewertungen 178
4.1 4.2 4.3
Das Ziel der Physik und der Empirismus 178 Das Ziel der Physik und der Konstruktivismus 187 Das Ziel der Physik und der wissenschaftliche Realismus 192 Die antirealistischen Abgrenzungsversuche 192 Idealisierungen und wissenschaftlicher Realismus 193 Theorienrealismus vs. Gegenstandsrealismus 198
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6
4.3.1 4.3.2 4.3.3
Literaturverzeichnis 201 Register 209
Einleitung
Die vorliegende Arbeit ist der Frage gewidmet, welches Ziel die Physik hat. Das wesentliche Ergebnis derselben ist die Ablehnung traditioneller Vorschläge für eine solches Ziel zugunsten eines neuen Vorschlages. Sowohl bei der Ablehnung der älteren als auch bei der Bestätigung des neuen Zielvorschlags stütze ich mich auf eine in der Physik weit verbreitete Praxis - die Praxis der Idealisierung. Traditionelle Zielvorschläge müssen deshalb aufgegeben werden, weil sie diese Praxis nicht zu erklären vermögen, mein eigener Vorschlag wird dadurch gestützt, daß nachgewiesen werden kann, daß er die Praxis der Idealisierung erklären kann. Zwischen dem Ziel der Physik und einigen wissenschaftstheoretischen Positionen gibt es einen engen Zusammenhang. Darauf hat van Fraassen in seinem Buch The Säentific Image aufmerksam gemacht. Wenn nun ein solcher Zusammenhang zwischen der Zielfrage und verschiedenen wissenschaftstheoretischen Positionen etabliert werden kann, dann läßt sich das Ergebnis der Frage nach dem Ziel der Physik heranziehen, um die in Frage stehenden Positionen wie Empirismus, Konstruktivismus und wissenschaftlicher Realismus auf dieser Grundlage neu zu bewerten. Dieses Programm soll in folgenden Schritten durchgeführt werden. In Kapitel 1 wird zunächst einmal geklärt, in welchem Sinne sich der Physik ein Ziel unterstellen läßt. Es werden Kriterien erarbeitet, denen eine angemessene Explikation des Ziels der Physik genügen sollte. Dabei wird sich zeigen, daß Kandidaten für das Ziel der Physik erklären können sollten, weshalb typische und für die Physik wesentliche Handlungsweisen in der sie charakterisierenden Weise ausgeführt werden: Sie müssen als Mittel zu einem vorgeschlagenen Zweck erkennbar sein. Darüber hinaus werden verschiedene Vorschläge für das Ziel der Physik vorgestellt sowie der Zusammenhang dieser Vorschläge mit den wissenschaftstheoretischen Positionen des Empirismus, des Konstruktivismus und des wissenschaftlichen Realismus untersucht.
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Einleitung
In Kapitel 2 soll für ausgewählte, konstitutive Handlungsweisen der Physik - nämlich für Idealisierungen - untersucht werden, inwieweit sie sich durch die vorgeschlagenen Zielkandidaten erklären lassen. Es wird sich erstens zeigen, daß die traditionellen Formulierungen des Ziels der Physik in bezug auf eine bestimmte Klasse von Idealisierungen nur eingeschränkten Erklärungswert aufweisen, daß aber zweitens der Zielvorschlag einer vereinheitlichten Beschreibung physikalischer Systeme diese Praxis sehr wohl verständlich macht. In Kapitel 3 wird gezeigt, daß eine zweite Klasse von idealisierenden Maßnahmen - insbesondere die Abstraktionen, aber auch experimentelle Prozeduren - sich gleichfalls durch traditionelle Zielvorschläge nicht verständlich machen lassen. Darüber hinaus lassen sie sich nicht in ein Bild der Theorienkonstruktion integrieren, das den klassischen, empiristischen Naturgesetzbegriff als Grundlage für ein Verständnis von Physik voraussetzt. Ich werde demgegenüber dafür argumentieren, daß es sinnvoll ist, Naturgesetze als die Zuschreibung von Dispositionen zu physikalischen Systemen aufzufassen, d. h. als Aussagen darüber, wie sich physikalische Systeme unter ganz bestimmten Umständen, nämlich dann, wenn sie isoliert sind, verhalten. Eine solche Konzeption erlaubt es, einen Zielkandidaten vorzustellen, der alle untersuchten Idealisierungsmaßnahmen zu erklären vermag. Damit genügt er der angegebenen Bedingung, die ein Kandidat für das Ziel der Physik erfüllen muß. Das Ziel der Physik, so soll behauptet werden, ist es, eine vereinheitlichte Beschreibung von Dispositionen physikalischer Systeme zu geben. Da nun die traditionellen Zielvorschläge, die sich als unzureichend herausstellen, eng mit dem wissenschaftlichen Realismus, dem Empirismus und dem Konstruktivismus zusammenhängen, wird eine Neubewertung dieser Positionen erforderlich. Insbesondere kann die Relevanz der von antirealistischen Positionen vorausgesetzten Grenzziehungen zwischen ζ. B. Labor und Natur oder erkenntnistheoretisch unproblematischen und problematischen Teilen von Theorien aufgrund der vorangegangenen Untersuchungen in Frage gestellt werden. Dies soll in Kapitel 4 geleistet werden.
1. Ziele
1.1 Der Sinn der Frage nach dem Ziel der Physik „Die erste Frage, die sich uns aufdrängt, ist folgende: Welches Ziel hat eine physikalische Theorie?" Mit diesem Satz beginnt Pierre Duhems Monographie Ziel und Struktur physikalischer Theorien} Aber nicht nur Duhem, auch Popper, Kuhn, van Fraassen und andere beschäftigen sich explizit mit dem Ziel der Erfahrungswissenschaft oder der Physik bzw. der physikalischen Theorie. Die erste Frage, die sich uns aufdrängt, ist daher diejenige nach dem Sinn, in dem hier vom Ziel der Physik die Rede ist. Popper ζ. B. hat durchaus gesehen, daß die Rede vom Ziel der Physik oder der Erfahrungswissenschaft keine Selbstverständlichkeit ist. Es mag vielleicht ein wenig naiv klingen, von „dem Ziel" oder „der Aufgabe" der erfahrungswissenschaftlichen Tätigkeit zu sprechen; denn es ist klar, daß verschiedene Erfahrungswissenschaftler verschiedene Ziele haben und daß Erfahrungswissenschaft selbst (was immer das bedeuten mag) keine Ziele hat. Das alles gebe ich gerne zu. Und doch scheint es, daß wir, wenn wir von empirischer Wissenschaft sprechen, mehr oder weniger deutlich fühlen, daß erfahrungswissenschaftliche Tätigkeit etwas charakteristisches an sich hat; und da erfahrungswissenschaftliche Tätigkeit doch einigermaßen wie eine vernünftige Tätigkeit aussieht und da eine vernünftige Tätigkeit irgendein Ziel haben muß, dürfte der Versuch, das Ziel der empirischen Wissenschaften zu beschreiben, nicht völlig hoffnungslos sein.
Ziel ist kein wissenschaftstheoretischer terminus technicus, sondern ein aus der Umgangssprache übernommener Begriff. Als erstes gilt es daher zu klären, in welchem Sinne dieser Begriff in der Umgangssprache verwendet wird, um uns anschließend den Bezug zur Verwendungsweise von Duhem und anderen verständlich zu machen.
1 2
Duhem 1978, S. 1. Popper 1957/58, S. 21.
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1. Ziele
Das große Wörterbuch der deutschen Sprache von Duden listet folgende Bedeutungen auf: l.a) Punkt, Ort, bis zu dem man kommen will, den man erreichen will [...] b) (Sport) das Ende einer Wettkampfstätte (das durch eine Linie, Pfosten o. ä. markiert ist) [...] 2. etw., was beim Schießen, Werfen o. ä. anvisiert wird, getroffen werden soll [...] 3. etw., worauf jmds. Handeln, Tun o. ä. ganz bewußt gerichtet ist, was man als Sinn u. Zweck, angestrebtes Ergebnis seines Handelns, Tuns zu erreichen sucht [...] 4. (Kaufmannspr., veraltend) Zahlungsfrist, Termin [...] Nur der dritte Eintrag kann den Ausgangspunkt bilden, wenn wir uns verständlich machen wollen, in welchem Sinne Duhem, Popper, van Fraassen und andere vom Ziel der Physik reden: das Ziel als etwas, worauf jemandes Handeln bewußt gerichtet ist. Der am wenigsten strittige Fall einer solchen Zielzuschreibung liegt dann vor, wenn es um natürliche Personen geht. „Brigitta hat das Ziel, das Biologiestudium mit dem Diplom abzuschließen." Ein solches Ziel wird bewußt gesetzt, und die Angabe des Ziels macht anderen die Handlungen, die von dieser Person ausgeführt werden, verständlich. Aber nicht nur natürliche Personen, auch juristische Personen können Ziele haben. Solche Ziele sind typischerweise in den Satzungen verankert. Das Ziel oder der Zweck des deutsch-chilenischen Freundschaftsvereines ist die Förderung der bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Chile. Die Maßnahmen oder Handlungen des Vereins oder der Institution, die durch die Angabe eines solchen Ziels verständlich gemacht werden können, sind nur in einem vermittelten Sinne Handlungen des Vereins. Tatsächlich werden diese Handlungen von natürlichen Personen durchgeführt. Es handelt sich um Handlungen oder Maßnahmen des Vereins oder der Institution, insofern diese im Auftrag des Vereins oder der Institution durchgeführt werden. Dabei ist zu beachten, daß die Ziele der natürlichen Personen, die die Handlungen der juristischen Person ausführen, von dem Ziel dieser juristischen Person verschieden sein können. So kann es sein, daß jemand Vorsitzender des deutsch-chilenischen Freundschaftsvereins wird, nur um sein 3
Duden 1981, S. 2939.
1.1 Der Sinn der Frage nach dem Ziel der Physik
3
gesellschaftliches Ansehen zu mehren. Das Ziel der Institution und der daran beteiligten natürlichen Personen müssen nicht übereinstimmen. Von Zielen reden wir nicht nur im Zusammenhang von Personen, sondern auch Spielen lassen sich Ziele zuschreiben. Dabei ist es wesentlich, daß Träger des Spiels natürliche Personen sind, deren Handlungen sich durch die Angabe des Ziels verständlich machen lassen. Das Ziel des Fußballspiels besteht darin, zu gewinnen, und das heißt, mehr Tore zu schießen als die gegnerische Mannschaft. Die Handlungen, um die es in Spielen geht, sind regelgeleitet. Dabei sind zwei Arten von Regeln zu unterscheiden. Erstens gibt es die konstituierenden Regeln des Spiels, die aus Vorschriften bestehen und die auch explizit festlegen, was es heißt, gewonnen zu haben. Im Falle des Fußballspiels bedeutet dies, mehr Tore als der Gegner geschossen zu haben, im Falle des Schachs bedeutet es, den Gegner Matt gesetzt zu haben. Das Ziel des Spiels wird also typischerweise ausdrücklich gesetzt. Daneben gibt es weitere Regeln, die man durch Training erlernen kann und die dazu dienen, das Ziel des Spiels zu realisieren. Es sind diese Regeln, die die Kunst des Spiels ausmachen. So kann man beim Schach bestimmte Eröffnungsvarianten erlernen und beim Fußballspiel Freistoßvarianten einüben. Das Ziel, das durch die konstitutiven Regeln explizit gesetzt wurde, kann auch die Handlungen, die entsprechend der Regeln der Kunst durchgeführt werden, erklären. Wie im Falle der Institutionen, kann das Ziel der natürlichen Personen, die an einem solchen Spiel beteiligt sind, ein ganz anderes sein als das Ziel des Spiels. Einzelne Fußballspieler mögen ganz unterschiedliche Ziele haben. Ihr Ziel mag es sein, Geld zu verdienen, in die Nationalmannschaft aufgenommen zu werden oder ihrer Freundin zu imponieren. Für die Beantwortung der Frage nach dem Ziel des Fußballspiels als solchem sind diese Zielvorstellungen einzelner ohne Bedeutung. Es läßt sich aber nur schwer vorstellen, daß die Spieler sich in Unkenntnis des Ziels eines Spiels befinden, da die Ziele explizit im Regelwerk verankert sind. Im Sinne des Ziels natürlicher und juristischer Personen läßt sich vom Ziel der Physik nicht reden. Der wesentliche Unterschied zur Verwendung des Begriffs „Ziel", wenn es um das Ziel der Phy-
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1. Ziele
sik geht, besteht darin, daß ein Ziel in der Physik nicht ausdrücklich gesetzt wird. Wir haben es - um an die Überlegungen zum Spiel anzuknüpfen - im Gegensatz zu diesem mit einer Situation zu tun, in der es ausschließlich Regeln der Kunst gibt, aber keine konstituierenden Regeln, die das Ziel explizit angeben. Wenn wir ein Lehrbuch der Physik aufschlagen, finden wir dort nirgends ein Ziel spezifiziert. Wir lernen, Physik zu betreiben, ohne daß ein Ziel angegeben wird. Dennoch, so sahen wir, meinte Popper, daß man von einem Ziel der Physik reden können müsse, denn es sei ja eine vernünftige Tätigkeit. Unterstellen wir also, daß in der Physik rational gehandelt wird. Was ist dann der Zusammenhang zwischen rationalen Handlungen und Zielbestimmungen? Die Angabe des Ziels eines bestimmten Unternehmens wie der Physik kann anzeigen, aus welchem Grund und in welchem Sinne es rational ist, bestimmte Tätigkeiten, die zu diesem Unternehmen gehören, so auszuführen, wie sie tatsächlich ausgeführt werden. Das Ziel gegeben ist es nämlich möglich, diese Tätigkeiten verständlich zu machen. Umgekehrt stützt die Möglichkeit, diese Tätigkeiten verständlich zu machen, die Behauptung, daß das hypothetisch angenommene Ziel tatsächlich in der entsprechenden Praxis wirksam ist. Wie im Falle des Spiels wird bei der Physik davon ausgegangen, daß es eine Praxis von Handlungen gibt, die durch die Angabe eines Ziels verständlich gemacht werden kann. Im Unterschied zum Spiel ist das Ziel aber nicht explizit gesetzt, sondern es ergibt sich allein durch die Interpretation der Handlungen und Maßnahmen, die in der Physik durchgeführt werden. Da die Physik eine Praxis ist, die ohne Angabe eines Ziels erlernt wird, können die Vorstellungen der Physiker selbst, die das Ziel der Physik betreffen, durchaus von dem abweichen, was die beste Interpretation der Handlungen und Maßnahmen der Physik ist. Nicht nur die Motive der einzelnen Physiker - wie wir das auch im Falle der Spiele oder der Teilhabe an juristischen Personen gesehen hatten - auch die Vorstellungen der Physiker davon, was das Ziel der Physik als solcher ist, kann abweichen von der Zielbestimmung, die am besten die Handlungsweisen innerhalb der Physik verständlich macht. Es läßt sich eine interne Rekonstruktion einer Praxis auf ein Ziel hin von einer externen Rekonstruktion einer solchen Praxis unter-
1.1 Der Sinn der Frage nach dem Ziel der Physik
5
scheiden. Eine interne Rekonstruktion stellt die Handlungen der Beteiligten ins Verhältnis zu ihren Überzeugungen und Zielvorstellungen. Eine solche Rekonstruktion würde nicht auf den Sinn von Ziel fuhren, der im vorhergehenden Absatz genannt wurde. Bei einer solchen internen Rekonstruktion kann die Rationalität der Handlungen überprüft werden, indem untersucht wird, ob die Handlungen gute Mittel sind, das zu erreichen, was von den Handelnden als Ziel beabsichtigt war. Diese Möglichkeit einer Bewertung besteht bei einer externen Rekonstruktion einer Praxis nicht. Bei einer solchen Rekonstruktion wird allein auf die Handlungen gesehen, von den Zielvorstellungen der Beteiligten wird dagegen abgesehen. Es wird untersucht, durch welche Zielvorschläge (die also von einem Interpreten von außen an diese Praxis herangetragen werden) sich solche Handlungen erklären lassen. Nur eine externe Rekonstruktion führt also auf das Ziel der Physik im Sinne der früheren Ausführungen. Insofern die Zielvorstellungen der Beteiligten ausgeklammert werden, können sie nicht als Maßstab der Rationalität dienen. Es läßt sich also nicht in einem zweiten Schritt ermitteln, ob die Handlungen angemessen sind, das zu erreichen, was vermittels einer externen Rekonstruktion (in einem ersten Schritt) der Praxis als Ziel zugeschrieben wird. Es kann also nicht gezeigt werden, daß die untersuchte Praxis rational ist im Sinne von ,angemessen um ein Ziel zu realisieren'. Diese Rationalität der Handlungen wird vielmehr vorausgesetzt. Wenn man aber von einer solchen Rationalität ausgeht, kann sie durch eine solche Untersuchung expliziert werden. Vorausgesetzt wird, daß man die Physik als eine regelgeleitete Praxis betrachten darf. Damit ist nicht gemeint, daß die Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie nichts anderes als die Anwendung bestimmter Regeln war. Gemeint ist, daß zumindest in bezug auf die Normalwissenschaft - um einen kuhnschen Terminus zu verwenden - die Rede von der regelgeleiteten Praxis auf wichtige Bereiche der Physik zutrifft. Als Physikstudent lernt man, anhand paradigmatischer Fälle Experimente aufzubauen und Berechnungen durchzufuhren. Auch wenn eine gute Physikerin wissen muß, wie sie in einer bestimmten Situation idealisieren und abstrahieren sollte, ist für die Lösung ihres Problems nicht notwendig, daß sie
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1. Ziele
weiß, worauf diese Handlungen fielen. Wesentlich ist, daß die Physik eine erlernbare Praxis ist, in der es Kriterien für richtiges Handeln gibt, ζ. B. Kriterien dafür, wann eine Theorie als erfolgreich zu gelten hat. Voraussetzung für den Sinn der Frage nach dem Ziel der Physik ist, daß überhaupt nach solchen Kriterien entschieden wird, nicht aber, daß diese Kriterien irgendwo explizit angegeben sind. In diesem Sinne schreibt van Fraassen, um den Sinn der Frage nach dem Ziel zu klären: „What the aim is determines what counts as success in the enterprise as such."4 Die so anzustellende Betrachtung hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Bemühen eines Anthropologen, sich die Handlungen einer Gruppe von Menschen verständlich zu machen. Solche Untersuchungen sind relativ auf die Handlungen, die überhaupt betrachtet werden. Im Falle des Fußballspiels ζ. B. werden nur diejenigen Handlungen betrachtet, die auf dem Rasen stattfinden. Man kann aber auch einen weiteren Handlungsrahmen wählen, indem man die Zuschauer und ihr Verhalten im Stadion und außerhalb betrachtet. Man käme dann möglicherweise dazu, dem Fußballspiel als Ziel eine gesellschaftliche Ventilfunktion zuzusprechen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Rede vom Ziel der Physik, wie sie Duhem, Popper, van Fraassen u. a. führen, dann verständlich wird, wenn wir folgendes annehmen: Der Sinn der Frage nach dem Ziel der Physik besteht darin, sich eine Praxis oder die Handlungen innerhalb der Physik, die als rational vorausgesetzt werden, verständlich zu machen. Diejenigen, die diese Handlungen ausführen, müssen nicht imbedingt eine explizite Kenntnis davon haben, worauf diese Handlungen gerichtet und was die Kriterien des Erfolgs sind. Es wird angenommen, daß diese Handlungen eine durch Training erlernbare, regelgeleitete Praxis bilden. Das Ziel der Physik ist also etwas, durch dessen Angabe sich die Handlungen innerhalb der Physik aus einer externen Perspektive verständlich machen lassen. Wenn vom Ziel der Physik die Rede ist, dann ist damit auch immer schon Bezug auf einen Handlungsrahmen genommen, der als besonders relevant für die Physik betrachtet wird.
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van Fraassen 1980, S. 8.
1.1 Der Sinn der Frage nach dem Ziel der Physik
7
Nur relativ zu einem solchen Rahmen kann es eine Zielbestimmung geben. Hiermit sei der Begriff des Ziels hinreichend erläutert, um ein Verständnis der im folgenden zu diskutierenden Zielvorschläge zu ermöglichen. An obige Explikation werde ich in Abschnitt 1.2.5 anschließen, wenn ich mein eigenes methodologisches Vorgehen vorstellen werde. Bevor ein Überblick über die Vorschläge gegeben wird, die zum Ziel der Physik gemacht wurden, ist es nützlich, verschiedene Kategorien von Zielen zu unterscheiden, so daß die verschiedenen Vorschläge miteinander verglichen werden können. So kann man erreichbare ζ. B. von immerwährenden oder regulativen Zielen unterscheiden. Erreichbare Ziele sind solche im Sinne der Definition l.a), die besagt daß, ein Punkt oder Ort erreicht werden soll. So kann es unser Ziel sein, nach Rheinsberg zu fahren. Wir können dieses Ziel tatsächlich realisieren und auch die Kriterien angeben dafür, wann es realisiert ist. Eine andere Art von Ziel wäre es, wenn wir uns vornähmen, möglichst schnell in Rheinsberg zu sein, oder, besser noch, möglichst hoch zu springen. Hier können wir keinen Zustand oder kein Kriterium dafür angeben, wann das Ziel erreicht ist. Es lassen sich lediglich verschiedene Bemühungen, die auf dieses Ziel gerichtet sind, miteinander vergleichen hinsichtlich der Frage, welche der beiden Bemühungen dem Ziel näher gekommen ist. Hier haben wir es mit einem nicht zu erreichenden und in diesem Sinne immerwährenden oder regulativen Ziel zu tun. Weiter soll zwischen reduziblen und irreduziblen Zielen unterschieden werden. Reduzible Ziele sind solche, die stückweise realisiert werden können, ohne daß die verschiedenen Stücke oder Teile wechselseitig einander bedingen. Wenn es mein Ziel ist, 50 Hundehütten herzustellen, dann kann ich eine nach der anderen herstellen, ohne auf die als erstes hergestellten zurückgreifen zu müssen. Ein irreducibles Ziel dagegen ist es, eine einzige Hundehütte oder ein Hotel zu bauen. Ohne das Fundament, kann ich den Rest des Gebäudes z. B. nicht errichten. Man muß beim Realisieren eines irreduziblen Ziels immer das Ganze im Blick haben. In diesem Sinne läßt sich sagen, daß irreduzible Ziele anspruchsvoller sind als reduzible.
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1. Ziele
1.2 Vorschläge für das Ziel der Physik Die Frage nach dem Ziel der Physik ist zwar sporadisch von Wissenschaftstheoretikern behandelt worden, aber es hat sich - anders als beispielsweise bei der Frage nach dem, was eine wissenschaftliche Erklärung auszeichnet - daraus keine eigentliche Diskussion ergeben. Weder wird an Erreichtes angeknüpft, noch findet eine abgrenzende Bezugnahme zu anderen Positionen statt. Es lohnt sich, nach dem Grund für das Fehlen einer etablierten Diskussionslage zu fragen. Er ist in der Funktion der Äußerungen zu suchen, die typischerweise zur Frage nach dem Ziel der Physik gemacht werden. Es handelt sich gewöhnlich nicht um Behauptungen, die es in irgendeiner Art und Weise zu begründen gilt, vielmehr haben sie den Charakter eines Vehikels für bestimmte Konzeptionen. In ihnen werden prägnant und pointiert die erkenntnisoder wissenschaftstheoretischen Grundüberzeugungen des jeweiligen Autors ausgedrückt. Es sind diese Grundüberzeugungen, für die der Autor argumentiert. Dies ist auch der Grund dafür, daß die Zielvorschläge, die in der Literatur diskutiert werden, nicht - wie 1.1 nahelegt - anhand einer Analyse von Handlungen, die in der Physik stattfinden, gewonnen werden. Die Darstellung der verschiedenen Vorschläge erfordert es daher, diese im Zusammenhang der jeweiligen Grundüberzeugungen zu präsentieren, gewissermaßen in ihrer natürlichen Umgebung. Das Aufdecken dieses Zusammenhangs ist nicht nur notwendig, um die Zielvorschläge verständlich zu machen, es eröffnet sich dadurch auch die Möglichkeit, durch eine Untersuchung des Ziels der Physik Argumente für oder gegen die jeweiligen erkenntnis- oder wissenschaftstheoretischen Positionen zu gewinnen. Für den weiteren Verlauf dieser Untersuchungen ist es daher erforderlich, zu diskutieren, wie eng der Zusammenhang zwischen den Zielbestimmungen und den Kontexten tatsächlich ist. Eine solche Darstellung läuft darauf hinaus, Teile der Geschichte der Wissenschaftstheorie aus der Perspektive der Frage nach dem Ziel der Physik zu reformulieren. Da es keine etablierte Diskussionslage gibt, kann die Darstellung der Zielvorschläge die chronologische Reihenfolge zugunsten systematischer Gesichtspunkte in den Hintergrund stellen. Es soll im
1.2 Vorschläge für das Ziel der Physik
9
folgenden darum gehen, wichtige zeitgenössische wissenschaftstheoretische Grundpositionen in ihrem Verhältnis zum Zielbegriff zu untersuchen. Der Zusammenhang zwischen dem Ziel der Physik und der Position des Empirismus, des wissenschaftlichen Realismus und des Konstruktivismus wird im Detail untersucht. Abschließen werden diesen Abschnitt einige bekannte, ältere Positionen wie die Duhems, Poppers und Plancks, die zu den vorangegangenen Zielvorschlägen und Themenkomplexen in Beziehimg gesetzt werden sollen.
1.2.1 Der Empirismus und das Ziel der Physik In diesem Abschnitt soll der Zusammenhang zwischen der Position des Empirismus und der Frage nach dem Ziel der Physik untersucht werden. Ich werde die These vertreten, daß eine Empiristin, wenn sie nicht in Widerspruch zu grundlegenden Uberzeugungen des Empirismus geraten will, die Meinung vertreten muß, das alleinige Ziel der Physik sei es, empirisch angemessene Theorien zu konstruieren. Um diese These begründen zu können, müssen die Begriffe „Empirismus" und „empirische Angemessenheit" erläutert werden. Dann erst kann für die genannte These argumentiert werden. Im Anschluß daran soll gezeigt werden, daß Autoren wie Carnap, Hempel und Quine bei ihren Bemühungen, wissenschaftstheoretische Probleme zu behandeln, tatsächlich das Ziel der empirischen Angemessenheit als alleiniges - wenn auch implizit - vorausgesetzt haben. Ansonsten sind die Probleme, mit denen sie sich beschäftigt haben, nicht zu verstehen. Es soll gezeigt werden, wie grundlegend die Zielvorstellung der empirischen Angemessenheit fur die Entwicklung des Empirismus in diesem Jahrhundert ist. Dies wird die Reichweite des Problems verdeutlichen, das für den Empirismus dadurch entstehen könnte, daß ein anderes Ziel die Praxis der Physik besser erklärt. Darüber hinaus gilt es, den Sachverhalt zu bewerten, daß zumindest die logischen Empiristen explizit das Ziel der Einheitswissenschaft propagiert haben.
1. Ziele
10 1.2.1.1
Der Begriff des Empirismus
Was also ist der Empirismus? Die Antworten auf diese Frage sind zahlreich, sie stimmen aber in der Verwendung einer zentralen Metapher der Erkenntnistheorie überein: Die Quelle unseres Wissens, wird gesagt, sei die Erfahrung. So heißt es bei Locke (wenn auch nicht als Antwort auf unsere Frage): Whence has it [the Mind] all the Materials of Reason and Knowledge? To this I answer in one Word, From Experience: In that all our Knowledge is founded; Hahn, einer der Gründungsmitglieder des Wiener Kreises, schreibt: Die Grundthese des Empirismus ist diese: die einzige Quelle, die uns ein Wissen über die Welt, ein Wissen über Tatsachen, ein Wissen, dem Inhalt zukommt, liefern kann, ist die Erfahrung; Van Fraassen schließt an James und Reichenbach an: So, for James and Reichenbach, the core doctrine of empiricism is that experience is the only legitimate source of information about the world and that its limits are very strict. Die Quelle unseres Wissens ist die Erfahrung, heißt es, doch was ist damit gemeint? Was bedeuten diese Metaphern konkret, wie hängen sie ζ. B. mit den sogenannten Dogmen des Empirismus zusammen, also dem Reduktionismus und den Unterscheidungen zwischen analytischen und synthetischen Sätzen sowie zwischen Inhalt und Begriffsschema, die von Quine und Davidson als konstitutiv für den (traditionellen) Empirismus betrachtet werden? 8 Diese Fragen sollen nun kurz beantwortet werden. Den Empirismus zeichnet die Uberzeugung aus, die Quelle all unseres Wissens sei allein die Erfahrung. Verschiedene empiristische Positionen unterscheiden sich aber hinsichtlich der Antworten, die sie auf die Frage geben, in welcher Form uns diese Erfah-
5 6 7 8
Locke 1975, Buch II, Kap. i, Abschnitt 2. Hahn 1988a, S.55. van Fraassen 1985, S. 253. Dazu siehe Quine 1961 und Davidson 1984a.
1.2 Vorschläge für das Ziel der Physik
11
rung zugänglich ist. Die Erfahrung ist diesen verschiedenen Positionen zufolge in Form von Vorstellungen, Sätzen, physikalischen Gesetzen o. ä. gegeben. Das bedeutet aber nicht, daß alk Vorstellungen, Sätze oder Gesetze uns unmittelbare Erfahrungen zugänglich machen. Im Gegenteil ist für den Empirismus eine Zweiteilung der Vorstellungen, Sätze und Gesetze charakteristisch. Die Beantwortung der Frage nach dem Begriff des Empirismus hat also die Varianten zu berücksichtigen, in denen sich dieser manifestiert. Im klassischen Empirismus betraf diese Zweiteilung die Ideen oder Vorstellungen. So unterschied Locke zwischen einfachen Vorstellungen, die wir unmittelbar aus der Erfahrung haben, und solchen, die durch Zusammensetzung oder Erweiterung aus diesen entstehen können. Diese komplexen Vorstellungen haben wir nicht immer direkt aus der Erfahrung.9 Im frühen logischen Empirismus werden Protokollsätze vor anderen Sätzen ausgezeichnet. Das Beispiel eines solchen Satzes, das von Neurath stammt, lautet: „Karls Protokoll im Zeitraum 9 Uhr 14 Minuten an einem bestimmten Ort: Karls Formulierung (...) im Zeitraum um 9 Uhr 13 Minuten war: im Zimmer war im Zeitraum um 9 Uhr 12 Minuten 59 Sekunden ein von Karl wahrgenommener Tisch."10 Carnap war ursprünglich davon ausgegangen, daß sich Protokollsätze auf unmittelbare Erlebnisse oder Phänomene beziehen und keiner Bewährung bedürfen.11 Später wird zwischen zwei Sprachen unterschieden, einer Beobachtungssprache und einer theoretischen Sprache. Die Beobachtungssprache ist aus einem logischen Vokabular und nichtlogischen Konstanten, den sogenannten Beobachtungsbegriffen, z. B. „rot", „warm", „hart" aufgebaut. Von diesen Begriffen wird angenommen, daß sie interpretiert sind, daß wir durch unmittelbare Erfahrungen wissen, was sie bedeuten. Die theoretische Sprache konstituieren gleichfalls ein logisches Vokabular und nichdogische Konstanten. Diese letztgenannten nichdogischen
9 Locke 1975, Buch 2. 10 Neurath 1979a, S. 104. 11 Über den Status der Protokollsätze gab es innerhalb des Wiener Kreises unterschiedliche Ansichten. Eine Übersicht über die Protokollsatzdebatte findet man bei Koppelberg 1987, S. 20 bis 38.
12
1. Ziele
Konstanten haben keine entsprechende Interpretation und heißen theoretische Begriffe. „Elektron" und „Masse" sind Beispiele für solche theoretischen Begriffe.12 Van Fraassen unterscheidet empirische Strukturen, die beobachtbare Phänomene repräsentieren, von solchen Strukturen, die darüber hinausgehen und in die empirische Strukturen als Substrukturen eingebettet werden können.13 Ein Beispiel für eine Struktur der Erscheinungen, die durch eine empirische Substruktur isomorph abgebildet werden muß, sind die (beobachtbaren) Positionen der Himmelskörper, ihre Relationen zueinander im Verlaufe der Zeit. Diese empirische Struktur wird in eine umfassendere Struktur, die Newtonschen Dynamik, in der auch nichtbeobachtbare Größen wie ζ. B. Massen auftauchen, eingebettet. Eine weitere Variante der Unterscheidung zweier Ebenen, von der die eine als Erfahrungsebene bezeichnet werden kann, wird von Cartwright vertreten. Sie unterscheidet phänomenologische Gesetze von Fundamentalgesetzen.14 Phänomenologische Gesetze sind in dieser Konzeption das, was typischerweise von Seiten der Experimentalphysik als Ergebnis ihres Tuns veröffentlicht wird. Beispiele bilden hier die spezifische Wärme in Abhängigkeit von der Temperatur, die Absorption von Ultraschall in Abhängigkeit von der eingestrahlten Frequenz. Zu unterscheiden ist der Begriff eines phänomenologischen Gesetzes von den empirischen Gesetzen bei Carnap15 und Nagel16. Denn diese beiden Autoren legen Wert darauf, daß in den empirischen Gesetzen keine theoretischen Begriffe auftauchen. In den genannten Beispielen für phänomenologische Gesetze ist das aber sehr wohl der Fall; die spezifische Wärme wie auch die Temperatur sollten jedenfalls als theoretische Begriffe aufgefaßt werden. Cartwrights zweite Kategorie sind die Fundamentalgesetze, mit Hilfe derer die phänomenologischen Gesetze erklärt werden sollen. Die Newtonschen Gesetze sind diesbezüglich als Beispiel zu nennen.
12 13 14 15 16
Z. B. in Carnap 1956. van Fraassen 1980, S. 64. Cartwright 1983, S. 1. Carnap 1986, S. 226. Nagel 1961, S.79/80.
1.2 Vorschläge für das Ziel der Physik
13
Wir haben Unterscheidungen jeweils zweier Sorten von Vorstellungen, Sprachen, Strukturen und physikalischer Gesetze vorgestellt. Was allen diesen Unterscheidungen zugrundeliegt, ist die Trennung zwischen der Ebene der Erfahrung oder der empirischen Basis von einem anderen Bereich, auf den diese Charakterisierung nicht zutrifft. Die einfachen Vorstellungen, die Protokollsätze, die Sätze der Beobachtungssprache, die Strukturen der Erscheinungen und die phänomenologischen Gesetze bilden diese Erfahrungsebene oder empirische Basis. Gemeinsam ist den empiristischen Positionen, daß die Erfahrungsebene für erkenntnistheoretisch unproblematisch gehalten wird. Um diese Behauptung im einzelnen zu erläutern, ist es nützlich, mit Krüger zwei Projekte zu unterscheiden: einen Empirismus der Ideen oder der Bedeutung von einem Empirismus der Aussagen.17 Der Empirismus der Bedeutung besteht darin, die Bedeutung von Begriffen oder Vorstellungen auf die Bedeutimg schon verstandener Vorstellungen oder Begriffe zurückzufuhren, die der unmittelbaren Erfahrung besonders nahe sind. Bei Locke werden die komplexen Ideen auf die einfachen zurückgeführt und die logischen Empiristen bemühten sich, das theoretische Vokabular auf das Beobachtungsvokabular zurückzuführen. Erkenntnistheoretisch unproblematisch sind in diesem Fall die einfachen Ideen und das Beobachtungsvokabular deshalb, weil deren Bedeutung durch die Erfahrung gegeben ist. Problematisch dagegen sind bei Locke Vorstellungen wie die des Unendlichen oder des Raumes und bei den logischen Empiristen das theoretische Vokabular, wie „Elektron". Diese Begriffe oder Vorstellungen müssen auf die empirische Basis zurückgeführt werden. Die Auszeichnung und Abgrenzimg einer empirischen Basis für ein solches Projekt ist jedoch äußerst schwierig. Krüger hat auf diese Schwierigkeiten bei Locke hingewiesen, und auch die Auszeichnung eines Beobachtungsvokabulars durch die logischen Empiristen hat sich nicht durchsetzen können. Der Empirismus der Aussagen - um zu dem zweiten Projekt zu kommen - besagt, daß die Begründung der Wahrheit einer Aussage nur durch die Berufung auf die Erfahrung möglich ist. Das
17 Krüger 1973, S. 15ff.
14
1. Ziele
Erfahrene ist in Protokollsätzen, phänomenologischen Gesetzen und empirischen Substrukturen gegeben. An ihnen wird die Wahrheit anderer Sätze, Gesetze und Strukturen also überprüft. Daß die Erfahrungsebene - oder die empirische Basis - erkenntnistheoretisch unproblematisch ist, bedeutet hier etwas anderes als oben. Hier bedeutet es, daß an ihrer Wahrheit nicht gezweifelt werden kann. In der frühen Fassung Carnaps bedurften Protokollsätze keiner Bewährung.18 Für Cartwright setzen die phänomenologischen Gesetze den Standard dafür, was es heißen kann, daß Gesetze wahr sind.19 An Strukturen der Erscheinungen könne gleichfalls nicht gezweifelt werden. Diese Behauptung van Fraassens ist an dieser Stelle noch nicht zu begründen, wird aber weiter unten bei der Diskussion der empirischen Angemessenheit als fundiert erweisen. Der Empirismus der Aussagen setzt eine empirische Basis voraus, an deren Wahrheit ebenfalls kein Zweifel sein kann, weil die Protokollsätze oder empirischen Substrukturen unmittelbare Erfahrungen wiedergeben. In diesem Sinne, so die Empiristen, ist die empirische Basis erkenntnistheoretisch unproblematisch. Man fragt sich
18 Carnap 1931, S. 438. Unter dem Einfluß von Neurath hat Carnap diesen Glauben später aufgegeben. Neurath hatte argumentiert, daß auch die Protokollsätze, wenn sie anderen Sätzen widersprechen, aufgegeben werden können. Damit glaubte er aber nicht, den Empirismus aufgegeben zu haben: „So reduziert sich fur uns das Streben nach Wirklichkeitserkenntnis auf das Streben, die Sätze der Wissenschaft in Ubereinstimmung zu bringen mit möglichst vielen Protokollaussagen. Das ist aber sehr del: hierin ist der Empirismus begründet. D e n n wenn wir durch „Entschluß" den Protokollsätzen so großes Gewicht verleihen, daß sie über den Bestand einer Theorie letzten Endes entscheiden, so weicht unser neuer Säentismus trotz seiner Betonung der Logisierung nicht von dem alten Programm des Empirismus ab." (Neurath 1979a, S. 112/3.) Wenn die Protokollsätze ihren erkenntnistheoretisch priviligierten Status verlieren, dann stellt sich die Frage, weshalb Neurath fordert, daß wir gerade möglichst viele dieser Sätze aufrechterhalten sollen. Poppers Kritik, Neurath habe den Empirismus verlassen, scheint durchaus überzeugend (Popper 1973, S. 63). 19 Cartwright 1983, S. 3.
1.2 Vorschläge fur das Ziel der Physik
15
natürlich, ob sich die These von der erkenntnistheoretischen Unbedenklichkeit der empirischen Basis begründen läßt. Dazu ist zweierlei notwendig: Es muß nämlich einerseits gezeigt werden, daß sich eine Trennung zwischen Begriffen oder Strukturen ζ. B., die als empirisch ausgezeichnet werden sollen, und solchen, auf die das nicht zutrifft, durchgeführt werden kann. Häufig - so ζ. B. auch bei van Fraassen - wird auf den Begriff der Beobachtbarkeit zurückgegriffen. Der Begriff der Beobachtbarkeit ist jedoch oft auch als unzureichend für diesen Zweck gehalten worden. Auf diese Diskussion muß hier nicht eingegangen werden, denn es gibt noch eine zweite Anforderung, die erfüllt werden muß. Selbst wenn wir den Begriff der Beobachtbarkeit benutzen könnten, um eine Trennung der oben genannten Art durchzuführen, wäre damit das Entscheidende noch nicht geleistet, das darin besteht, daß die Beobachtbarkeit auch ein Garant für die erkenntnistheoretische Unbedenklichkeit der in Frage stehenden Begriffe und Strukturen ist. Für diese These wird selten eigens argumentiert, was um so erstaunlicher ist, als zu bestimmten Zeiten das Beobachten oder das sinnliche Wahrnehmen das Paradigma schlechthin für die Möglichkeit von Täuschung war. Es wird sich im Verlaufe dieser Arbeit zeigen, ob wir Grund haben, die genannte Hypothese bezüglich der Beobachtbarkeit zu akzeptieren. Wir können nun den Zusammenhang zu den von Quine und Davidson so genannten Dogmen des Empirismus herstellen. Das erste Dogma des Empirismus ist der Reduktionismus. Dieses Dogma ergibt sich dann, wenn man das Programm des Empirismus der Bedeutung umsetzen will. Hat man eine empirische Basis als erkenntnistheoretisch unproblematisch ausgezeichnet, so besteht das Programm gerade darin, die Bedeutung anderer Vorstellungen oder Begriffe auf die der empirischen Basis in der einen oder anderen Weise zurückzuführen. Die beiden anderen Dogmen.
20 Daß bei van Fraassen die Beantwortung der Frage danach, was beobachtbar ist und welche erkenntnistheoretische Relevanz dies gegebenenfalls hat, keine einfache ist, zeigt eine erregt geführte Diskussion zwischen J. Foss und W. Bourgeois. Dazu siehe: Foss 1984, Bourgeois 1987, Foss 1991.
16
1. Ziele
die Unterscheidung analytischer und synthetischer Sätze sowie die Unterscheidung von Begriffsschema und Inhalt, finden sich zuerst klar formuliert bei Kant, der ja gerade kein Empirist war. Diese Kantischen Unterscheidungen wurden von den logischen Empiristen aufgenommen und modifiziert, um Schwierigkeiten des klassischen Empirismus, mit denen auch Kant sich auseinandergesetzt hatte, begegnen zu können. Insbesondere ging es um das Problem der mathematischen Wahrheiten, als eines Beispiels allgemeiner Wahrheiten, die wir nicht aus der Erfahrung haben können. So schreibt Hahn: E s scheint also zunächst tatsächlich, als müßte am Bestehen der Mathematik der reine Empirismus scheitern, als hätten wir in der Mathematik ein Wissen über die Welt, das nicht aus der Erfahrung stammt.
Dieses Problem läßt sich auflösen, wenn man eine Unterscheidung zwischen dem empirisch Gegebenen und der ordnenden Tätigkeit des Verstandes einführt, die das empirisch Gegebene in ein Ordnungsschema fügt. Das ist die Unterscheidung zwischen empirischen Inhalt und Ordnungs- oder Begriffsschema, die Davidson als das dritte Dogma des Empirismus bezeichnet. Im Unterschied zu Kant, der aus den Kategorien und den Formen der Anschauung, die Teil dieses Ordnungsschemas waren, meinte Erkenntnisse über die Dinge, wie sie uns als Erscheinungen gegeben sind, ableiten zu können, wird die Tätigkeit des Verstandes bei den logischen Empiristen als ein bloßes Umformen aufgefaßt. So heißt es in dem von Neurath, Hahn und Carnap verfaßten Aufsatz „Die Bedeutung der wissenschaftlichen Weltauffassung insbesondere für Mathematik und Physik" aus dem Jahre 1930: Und hiermit sind wir wieder bei der Grundthese wissenschaftlicher Weltauffassung angelangt: nur zwei Mittel der Erkenntnis gibt es: Erfahrung und logisches Denken; dieses aber ist nichts als tautologisches Umformen, und somit gänzlich außerstande, aus sich heraus etwas über ein Dasein auszumachen, aus der Welt des Gegebenen heraus zu einer anmorphen Elementen, speziell den spezifischen Sinnesempfindungen.
Es ist gerade diese Emanzipation von dem in der Erfahrung Gegebenen, die Planck zufolge ein Argument für den wissenschaftlichen Realismus ist. Dadurch wird, so Planck „von der Individualität des bildenden Geistes" 117 abgesehen. Es ist dies derselbe Gedanke, den vor einigen Jahren T. Nagel in seinem Buch The View from Nowhere beschrieb: We may think of reality as a set of concentric spheres, progressively revealed as we detach gradually from the contingencies of the self.
Eine auf Einheit zustrebende Physik ist deshalb realistisch zu interpretieren, so Planck, weil durch die Integration oder Subsumption immer weiterer Teilbereiche eine Emanzipation von dem Kontingenten einzelner Erfahrungen erreicht wird - weil von ihnen abstrahiert wird. Planck bezog die Emanzipation vornehmlich auf Begriffe aus der unmittelbaren Erfahrung, wie „Farben" „Töne" und „Kräfte". 119 Indem sie sich von diesen Begriffen emanzipiert, verliert eine auf Einheit zustrebende Physik die Erfahrungswelt. Im Anschluß an die Plancksche Überlegung kann man grundsätzlich die Frage erörtern, ob man ein bewußtes Abweichen von
116 117 118 119
Planck 1983a, S. 31. Planck 1983a, S. 49. Nagel, T. 1986, S. 5. Planck 1983a, S. 30/1
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1. Ziele
dem in der Erfahrung Gegebenen - im Sinne eines Aufgebens des Ziels empirischer Angemessenheit - so interpretieren darf, daß dies ein Hinweis auf eine Physik ist, die sich auf eine Einheit hin entwickelt und realistisch zu interpretieren ist. So aufgefaßt steht eine solche Konzeption von der Einheit der Physik in Spannung zu der Konzipierung durch v. Weizsäcker, weil letzterer verlangt, daß die Phänomene abgeleitet werden, und diese Forderung die empirische Angemessenheit als Teilziel voraussetzt. Um die Vereinheitlichung von Theorien als ein Argument für den Realismus einzusetzen, ist der Nachweis zu erbringen, daß die Vereinheitlichung als eine semantische Tugend aufzufassen ist. Daß wir vereinheitlichende Theorien anderen vorziehen, könnte sich andernfalls durch pragmatische Ziele, wie das der Ökonomie, erklären lassen. Ein Empirist wie van Fraassen kann der von uns erweiterten Argumentation Plancks nicht zustimmen. Er würde darauf beharren, daß eine Theorie empirisch angemessen sein muß, um im Bereich des Beobachtbaren wahr zu sein und realistisch interpretiert werden zu können. Wird gegen die empirische Angemessenheit verstoßen, so ist dies für ihn ein Argument gegen die realistische Interpretation auch im Bereich des Beobachtbaren. Aus der Sicht des Empirismus wird eine Vereinheitlichung der Theorie zwar erreicht, wenn man sich von dem empirisch Gegebenen emanzpiert, aber der Schluß des Realisten auf eine zugrundeliegende Einheit der Natur wäre unbegründet.
1.2.4.3 Popper Popper hat zu unterschiedlichen Zeiten zwei, wie es zunächst scheint, unterschiedliche Vorschläge für das Ziel der Physik gemacht. Er hat von Erklärung und von Wahrheit als dem Ziel gesprochen. Es soll nun untersucht werden, wie sich diese Vorschläge zueinander und zu den schon genannten Zielvorschlägen gleichen Namens verhalten. Popper schlägt 1957 in seinem Aufsatz „Über die Zielsetzung der Erfahrungswissenschaft" als Ziel der Physik die Suche nach
1.2 Vorschläge fur das Ziel der Physik
75
befriedigenden Erklärungen, die er als Klassen von Sätzen definiert, vor: Ich nehme an, daß es das Ziel der empirischen Wissenschaft ist, befrieâgende Erklärungen zu finden für alles, was uns einer Erklärung zu bedürfen scheint. Mit einer Erklärung ist eine Klasse von Sätzen gemeint, von denen einer den Sachverhalt beschreibt, der erklärt werden soll (das explicandum), während die anderen, die erklärenden Aussagen, die „Erklärunjrj' im engeren Sinne des Wortes bilden (das explicans des explicandums). Weiter stellt Popper fest, daß das explicandum im allgemeinen als wahr vorausgesetzt wird. Das explicans m u ß wahr sein, auch wenn es als solches nicht bekannt ist. Jedenfalls darf es nicht als falsch bekannt sein. Es wird nun verlangt, daß das explicandum logisch aus dem explicans folgt. 121 W e n n nun das explicans nicht als wahr bekannt ist, dann m u ß es aber unabhängig von dem explicandum auf seine Wahrheit hin überprüft werden können. Je prüfbarer das explicans ist, so Popper, desto befriedigender ist die Erklärung. Dies fuhrt zu der Forderung, daß im explicans Naturgesetze auftreten müssen. D e n n Naturgesetze sind aufgrund ihrer Universalität prüfbarer als Einzelaussagen, die ζ. B. auf bestimmte Orte Bezug nehmen. Damit meint Popper, daß Naturgesetze als Allaussagen in weit größerem Maße als Einzelaussagen die Möglichkeit zulassen, falsifiziert zu werden. Eine solche Explikation dessen, was mit einer befriedigenden Erklärung gemeint ist, führt zu einer Reformulierung des ursprünglichen Zielvorschlags. Die Physiker suchen nach möglichst prüft areη Erklärungen:
120 Popper 1957/58, S. 21. 121 Popper hat den deduktiv-nomologischen Erklärungsbegriff in seiner Logik der Forschung von 1935 vorweggenommen. In beiden Fällen wird die logische Ableitbarkeit des explicandums (oder des explanandums) aus dem explicans (explanans) gefordert sowie die wesentliche Verwendung von Naturgesetzen im letzteren. Siehe: Popper 1973, Abschnitt 12.
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1. Ziele
Auf diese Weise fuhrt die Mutmaßung, daß es das Ziel der empirischen Wissenschaft sei, befriedigende Erklärungen zu finden, zu der weiteren Idee, die Güte der Erklärungen zu verbessern, indem man den Grad ihrer Prüfbarkeit verbessert, das heißt indem man zu immer besseren und immer prüfbareren Erklärungen fortschreitet. Das bedeutet aber, daß man zu Theorien fortschreitet mit einem reicheren Gehalt, einem höheren Grad von Universalität und einem höheren Grad von Genauigkeit. Popper behauptet, daß befriedigende Erklärungen solche sind, die auf Theorien Bezug nehmen, welche einen möglichst großen empirischen Gehalt haben. Damit sind Theorien gemeint, die eine möglichst große Klasse von Falsifizierungsmöglichkeiten zulassen. Eine Theorie ist dann falsifiziert, wenn sie im Widerspruch zu einem akzeptierten empirischen Basissatz steht. Diese empirischen Basissätze wiederum sind nun nicht etwa, wie bei Duhem, experimentelle Gesetze, sondern singulare Existenzaussagen der Form „Ein Ereignis der Form χ findet in der Region k statt." Der Gehalt einer Theorie ist somit um so reichhaltiger, je mehr den noch nicht akzeptierten Basissätzen eine solche Theorie widersprechen könnte. Die beiden weiteren von Popper genannten Tugenden lassen sich auf den empirischen Gehalt zurückfuhren. 123 Demnach besitzt eine Theorie einen hohen Grad an Genauigkeit, wenn sie eine sehr spezifische Aussage macht. Die Aussage „Alle Planeten bewegen sich auf Kreisen" ist genauer als „Alle Planeten bewegen sich auf Ellipsen", weil die Kreise eine echte Teilmenge der Ellipsen sind. Genauigkeit betrifft also zunächst einmal nicht die Darstellung eines experimentellen Sachverhalts durch eine Theorie. Je genauer eine Theorie ist, desto größer ist der Bereich möglicher Falsifizierungen und desto größer ist demnach ihr empirischer Gehalt. Die Aussage „Alle Himmelskörper bewegen sich auf Ellipsen" ist universeller als „Alle Planeten bewegen sich auf Ellipsen", weil die Menge der Planeten eine echte Teilmenge der Himmelskörper ist. So steigt mit zunehmender Universalität ebenfalls der empirische Gehalt.
122 Popper 1957/58, S. 23. 123 Popper 1973, Abschnitt 36.
1.2 Vorschläge für das Ziel der Physik
77
Zu Beginn seines genannten Aufsatzes erwähnt Popper den Fall einer Erklärung eines Sachverhaltes durch ein Naturgesetz. Durch diese Art von Erklärungen lasse sich die Aufgabe der Wissenschaft jedoch nicht erfüllen, sondern das Naturgesetz sei selbst wieder erklärungsbedürftig in dem Sinne, daß es aus einer Theorie abgeleitet werden sollte. Diese Theorie wiederum sollte durch eine andere Theorie erklärt werden, die sie an empirischem Gehalt übertreffe. Wenn es das Ziel der Wissenschaft ist, zu erklären, dann wird es auch ihr Ziel sein, das zu erklären, was bisher als ein explicans angenommen wurde, wie zum Beispiel ein Naturgesetz. Daher erneuert sich die Aufgabe der empirischen Wissenschaft beständig.
Wie hat man sich nun die Erklärung von Theorien durch Theorien vor dem Hintergrund der Popperschen These vorzustellen, daß Theorien im Laufe der Entwicklung der Wissenschaft gewöhnlich das Schicksal ereilt, falsifiziert und verworfen zu werden? Denn wenn eine alte Theorie aus einer neuen abgeleitet werden kann, wie es der bisher vorgestellte Erklärungsbegriff nahelegt, dann ist mit der Falsifikation der alten Theorie natürlich auch die neue, erklärende Theorie falsifiziert. Popper beseitigt das erwähnte Problem, indem er seinen Erklärungsbegriff modifiziert.125 Das wird an seiner als Beispiel angeführten Untersuchung des Verhältnisses der Galileischen und Keplerschen zur Newtonschen Physik deutlich. Galileis Fallgesetz und Keplers drittes Gesetz widersprechen, so Popper, der Gravitationstheorie Newtons. Daher können die ersten nicht aus der letzten abgeleitet werden. Stattdessen werden anstelle der beiden eigentlich zu erklärenden Gesetze oder Theorien andere, die die Vorhersagen der ursprünglichen approximieren, abgeleitet. Die Theorie, aus denen diese Substitute abgeleitet werden, in diesem Fall also Newtons Gravitationstheorie, sollte noch weitere Voraussagen machen als bloß diejenigen der abgeleiteten Theorien, um das Kriterium des größeren empirischen Gehaltes zu erfüllen.
124 Popper 1957/58, S. 23. 125 Dazu siehe: Scheibe 1976.
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1. Ziele
Newtons Theorie vereinigt diejenigen Galileis und Keplers. Aber weit davon entfernt, nur eine Konjunktion dieser beiden Theorien zu sein die die Rolle von explicanda für die Newtons spielen -, berichtigt sie diese, indem sie sie erklärt. Die ursprüngliche erklärende Aufgabe war die D e duktion der beiden älteren Theorien. Sie wird gelöst, nicht indem diese abgeleitet werden, sondern indem etwas Besseres an ihrer Stelle abgeleitet wird: neue Resultate, die, unter den besonderen Bedingungen der älteren Theorien, zahlenmäßig sehr nahe an diese älteren Theorien herankommen und sie gleichzeitig berichtigen.
Wenn wir den Popperschen Vorschlag zum Ziel der Physik mit dem Duhems vergleichen, ergibt sich folgendes Bild. Zunächst einmal zeigt sich ein Unterschied hinsichtlich der empirischen Basis, bezüglich derer die jeweiligen Ziele charakterisiert werden. Bei beiden Zielvorschlägen Duhems sind das die empirischen Gesetze.127 Diese Gesetze sollen entweder erklärt oder naturgemäß klassifiziert werden. Bei Popper hingegen gehört es zwar auch zur Aufgabe der Physik, die Gesetze zu erklären. Diese genießen aber keinen ausgezeichneten Status. Denn es sind zunächst die Einzelaussagen, die - und zwar mit Hilfe von Gesetzen - erklärt werden sollen. Diese werden dann selbst durch Theorien erklärt, usw. Bei Duhem werden zwar die Einzeltatsachen durch experimentelle Gesetze ersetzt, dieser Vorgang fällt für ihn aber nicht unter den Be128
griff der Erklärung oder der naturgemäßen Klassifikation. Es zeigt sich, daß auch Poppers möglichst prüfbaren Erklärungen als notwendige Bedingung empirisch angemessen sein müssen - jedenfalls dann, wenn wir uns an Poppers offizielle Definition einer Erklärung halten und nicht an das, was er als Beispiel dafür angeführt hat. Andernfalls könnte das explicandum nicht logisch aus dem explicans folgen. Dasjenige, demgegenüber die Theorien letztendlich empirisch angemessen sein müssen, ist aber wie bei 126 Popper 1957/58, S. 29. 127 Dazu die schon zitierte Stelle: „Diese Aussagen vergleicht man mit den experimentellen Gesetzen, die die Theorie darstellen soll. Wenn sie mit diesen Gesetzen in der Annäherung, wie es die angewendeten Meßmethoden zulassen, übereinstimmen, hat die Theorie ihr Ziel erreicht" D u h e m 1978, S. 22. 128 D u h e m 1978, S. 24.
1.2 Vorschläge für das Ziel der Physik
79
Duhem, und anders als ζ. B. bei van Fraassen, aber nicht etwas erkenntnistheoretisch Unproblematisches. Popper konzediert nämlich, daß die Basisaussagen - seine „Beobachtungs sätze" - selbst auch revidierbar sind und vom Konsens der wissenschaftlichen 129 Gemeinschaft abhängen. Hinsichtlich des Erklärungsbegriffes selbst betrifft der wesentliche Unterschied zwischen Duhem und Popper das, was Popper den Essentialismus genannt hat. Damit ist die These gemeint, daß Erklärungen irgendwann an ein Ende kommen, das dann erreicht ist, wenn man zu den wesentlichen Eigenschaften der Gegenstände vorgedrungen ist. Duhems Erklärungsbegriff ist ein essentialistischer, da „Erklärung" für ihn bedeutet, aus den wesentlichen Eigenschaften der Materie die empirischen Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Popper dagegen glaubt, wie wir sahen, nicht an Erklärungen, die prinzipiell nicht selbst wieder erklärungsbedürftig werden können. Das Ziel der Erklärung im Sinne von Popper ist unerreichbar, da jede Erklärung selbst wieder hinterfragt werden kann. Es ist irreduzibel, weil man nicht einzelne Bereiche der Wissenschaft losgelöst von anderen für erklärt halten kann. Die Erklärung anderer Bereiche führt, weil gute Erklärungen einen möglichst großen Anwendungsbereich haben, dazu, daß Theorien auch die von den Vorgängertheorien nicht berücksichtigten Bereiche unter sich zu subsumieren versuchen. Es ist dieser Drang zu einer vereinheitlichenden Theorie, die das von Popper vorgeschlagene Ziel zu einem irreduziblen macht. In dem Essay „Three Views Concerning Human Knowledge" aus Conjectures and Refutations greift Popper das Thema des Ziels der Physik wieder auf. Dabei bedient er sich des früher nicht verwendeten Begriffs der Wahrheit. Popper unterscheidet drei Thesen in bezug auf das Ziel der Wahrheit als dem Ziel der Physik oder der Naturwissenschaften: (1) The sdentisi aims at finding a true theoiy or description of the world (and especially of its regularities or 'laws'), which shall also be an explanation of the observablefacts. (...) 129 Popper 1973, Abschnitt 29.
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1. Ziele
(2) The sdentisi can succeed in finally establishing the truth of such theories beyond all reasonable doubt. (...) (3) The best, the truly scientific theories, describe the 'essences' of the 'essential natures' of things - the realities which lie behind the appearances. Popper verteidigt These (1) und lehnt (2) und (3) ab. These (2) verwirft Popper deshalb, weil sie klarerweise mit seinem Fallibilismus nicht zu vereinen ist. These (3) wird abgelehnt, weil selbst dann, wenn es Essenzen wirklich gäbe, sie in Erklärungen keine Rolle spielen könnten, da wir keine Kriterien für das Auffinden von Essenzen besitzen. 131 Dadurch, daß Popper die These (1) und damit die Wahrheit als Ziel der Physik vertritt, bekennt er sich zum wissenschaftlichen Realismus (genauer gesagt zum Theorienrealismus, der - wie wir sahen - einen Gegenstandsrealismus einschließt). Allerdings ist Popper der Meinung, daß wir niemals wissen können, ob wir uns auch tatsächlich im Besitze der Wahrheit befinden. Es gebe für die Wahrheit keine Kriterien (damit unterscheidet sich die Poppersche Position z. B. von der Friedmans, die im Abschnitt über den wissenschaftlichen Realismus zitiert wurde). Popper beschreibt seine Position so: It preserves the Galilean doctrine that the scientist aims at a true description of the world, or of some of its aspects, and at a true explanation of observable facts; and it combines this doctrine with the non-Galilean view that though this remains the aim of the scientist, he can never know for certain whether his findings are true, although he may sometimes establish with reasonable certainty that a theory is false. Zwei Fragen stellen sich nun. Ist der Realismus nicht dem gleichen Problem wie der Essentialismus ausgesetzt, wenn es keine Kriterien für Wahrheit gibt? Die Antwort darauf lautet: nein, denn erstens können wir immerhin sagen - das wurde im obigen Zitat bereits angedeutet - wann eine Theorie falsch ist und zweitens läßt sich der Begriff der Falsifikation ohne den der Wahrheit oder einer zugrun-
130 Popper 1972a, S. 103/4. 131 Popper 1972a, S. 105. 132 Popper 1972a, S. 114/5.
1.2 Vorschläge für das Ziel der Physik
81
deliegenden Realität nicht explizieren. Wir benötigen den Begriff der Wahrheit daher zumindest als regulative Idee, wie Popper an anderer Stelle bemerkt. 133 Zweitens stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Ziel der Erklärung und dem der Wahrheit. Hier treffen wir auf eine weitere interessante Modifikation oder Ergänzung der Position des wissenschaftlichen Realismus, insofern Popper nämlich Wahrheit keineswegs für das einzige Ziel der Physik oder der Naturwissenschaften hält. So heißt es in dem Essay „Truth, Rationality and the Growth of Scientific Knowledge": For the fact is that we too see science as the search for truth, and that, at least since Tarski, we are no longer afraid to say so. [...] Yet we also stress that truth is not the only aim of sáence. We want more than mere truth: what we look for is interesting truth - truth which is hard to come by. And in the natural sciences (as distinct from mathematics) what we look for is truth which has a high degree of explanatory power, in a sense which implies that it is logically improbable truth. Wir sind auf den Begriff der Wahrheit angewiesen, so Popper, weil wir ohne ihn die falsifikationistische Methodologie gar nicht formulieren könnten. Da wir aber nicht an beliebigen Wahrheiten interessiert sind, sondern an interessanten, suchen wir unter den Wahrheiten, bzw. unter den Theorien, die noch nicht falsifiziert wurden, diejenigen aus, die über ein größtmögliches Maß an Erklärungskraft verfugen. Diese Feststellung markiert einen wesentlichen Unterschied zu dem Verständnis von Wahrheit als dem Ziel der Physik bei den wissenschaftlichen Realisten, die wir bislang kennengelernt haben. Solange nämlich nicht eine zusätzliche Bedingung, wie die, daß die Wahrheiten interessant zu sein haben, hinzugefügt wird, scheint es ja wirklich so zu sein, als sei es das Ziel wissenschaftlicher Bemühungen in der Physik, beliebige Wahrheiten bloß anzuhäufen. Es ist dies ein wichtiger Punkt, auf den wir weiteren Verlauf dieser Arbeit noch eingehen werden: Ein anderes Ziel als die Wahrheit vorzuschlagen, wie z. B. Erklärungskraft, bedeutet nicht notwendigerweise, daß die Frage, ob die physikalischen Aus133 Popper 1972b, S. 226 134 Popper 1972b, S. 229.
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1. Ziele
sagen wahr sind, für irrelevant gehalten wird. Vielmehr kann es implizieren, daß man an ganz bestimmten Wahrheiten interessiert ist. Wir werden hier letztlich wieder zu der These zurückgeführt, daß es das Ziel der Physik sei, Theorien mit einer möglichst großen Erklärungskraft zu suchen. Die Einführung des Begriffs der Wahrheit bei Popper und ihre Nennung als Zielkandidatin dient lediglich dazu, den Falsifikationsgedanken zu explizieren. Weil Wahrheit keine zusätzlichen Kritierien für die Theorienwahl zur Verfügung stellt, bleibt die Erklärungskraft das einzige Kriterium.135
1.2.5 Methodisches Vorgehen In Abschnitt 1.2 haben wir gesehen, daß die Zielvorschläge häufig weniger auf einer Untersuchung dessen beruhen, was tatsächlich innerhalb der Physik geschieht, als daß sie erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundüberzeugungen der jeweiligen Autoren pointiert zum Ausdruck bringen. In der vorliegenden Untersuchung soll der Zielbegriff von dieser Vehikelfunktion befreit werden. Es gilt daher zu klären, wie die Frage nach dem Ziel der Physik angemessen beantwortet werden kann. Dazu knüpfen wir an die Betrachtungen aus Abschnitt 1.1 an, in denen dargelegt wurde, in welchem Sinne man von einem Ziel der Physik überhaupt reden kann. Die Physik wird als ein System von regelgeleiteten Handlungen aufgefaßt und es muß erläutert werden, worauf diese Handlungen „gerichtet" sind, d. h. danach gefragt werden, wodurch sie sich verständlich machen lassen. Den Ausgangspunkt dieser Erläuterung bildet die Überlegung, daß Ziele Handlungen erklären können. Warum schießt Kathrin 135 Popper vertritt an einigen Stellen die Ansicht, daß wir zwar kein Kriterium für Wahrheit, wohl aber für Wahrheitsähnlichkeit besitzen. Der Begriff der Wahrheitsähnlichkeit, so wie Popper ihn zunächst definiert hat, liefert aber deshalb nicht wirklich ein neues Kriterium, weil unter zwei nicht falsifizierten Theorien immer diejenige die größere Wahrheitsähnlichkeit hat, die die größere Erklärungskraft besitzt. Dazu siehe Popper 1972b.
1.2 Vorschläge für das Ziel der Physik
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Murr auf das gegnerische Tor? Um ein Tor zu erzielen und somit das Ziel, mehr Tore als die gegnerische Mannschaft zu schießen, zu realisieren. Bestimmte Handlungen einer Person können also durch ein Ziel erklärt werden, v. Wright hat ein solches Erklärungsschema im Anschluß an den praktischen Syllogismus eine „practical inference" genannt.136 v. Wrights Schema hat die folgende Struktur: (1) A hat das Ziel X. (2) Wenn die Handlung h nicht ausgeführt wird, dann kann X nicht realisiert werden. (3) Also wird die Handlung h ausgeführt werden (müssen). Dieses Schema handelt von Personen, die sich ihr Ziel bewußt selbst setzen. Eine Übertragung auf eine im Sinne von Abschnitt 1.1 als Regelfolgepraxis verstandene Physik führt zu dem folgenden Schema: (4) Das Ziel der Physik ist X (5) Wenn die Handlung h in der Physik nicht ausgeführt wird, dann wird X nicht realisiert. (6) Also muß die Handlung h in der Physik ausgeführt werden. Dieses Schema ist nicht gemeint als eines, das eine Physikerin benutzt, um sich darüber klar zu werden, was als nächstes getan werden muß. Vielmehr ist es ein Schema, das - gemäß der oben getroffenen Unterscheidung interner und externer Rekonstruktionen ein außenstehender Beobachter verwendet, um sich das Verhalten der Beteiligten, ihre Handlungen, verständlich zu machen. Das bedeutet, daß der außenstehende Beobachter Kenntnis von der entscheidenden Bedingung (5) besitzen muß, um den Schluß durchführen zu können. Wir haben es mit einer Erklärung einer Handlung immer dann zu tun, wenn h eine notwendige Bedingung zur Realisierung des Ziels ist. Wir können dann, wenn die Handlung h nicht ausgeführt wird, umgekehrt schließen, daß eine der beiden Prämissen falsch ist. Entweder muß das Ziel oder aber die notwendige Bedingung revidiert werden. Das Ziel X, das die von uns für relevant erachteten Handlungen erklären kann, ist der beste Kandidat, wenn es keine Alternativen gibt.
136 Wright 1963.
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1. Ziele
Handlungen lassen sich aber nicht immer als notwendig für das Erreichen eines ganz bestimmten Ziels charakterisieren. Ein Ziel könnte sich durch das Ausfuhren verschiedener Handlungen realisieren lassen. Wenn sich aber zeigen läßt, daß eine Handlung hj in stärkerem Maße zur Realisierung des in Frage stehenden Ziels beiträgt als eine ebenfalls mögliche Handlung h2, dann läßt sich wie folgt argumentieren: (7) Das Ziel der Physik ist X (8) Wenn die Handlung ausgeführt wird, dann wird ein größerer Beitrag zur Realisierung von X geleistet als wenn die Handlung h2 ausgeführt würde. (9) Also muß die Handlung hi in der Physik ausgeführt werden. Auch bei diesem praktischen Syllogismus handelt es sich wieder um einen Schluß, den ein außenstehender Beobachter durchführt; er muß Kenntnis von der entscheidenden Bedingung (8) besitzen. Wenn tatsächlich nachgewiesen werden kann, daß eine Bedingung wie (8) zutrifft, dann könnte durch Bezugnahme auf das Ziel erklärt werden, weshalb hi und nicht h2 ausgeführt wird. Wenn sich umgekehrt herausstellt, daß h2 die Handlung ist, die in der Physik umgesetzt wird, dann ist das ein Argument gegen die Behauptung, X sei das Ziel der Physik. In bezug auf das Verhältnis von Handlung und Ziel lassen sich drei Fälle unterscheiden. Wenn erstens die in Frage stehende Handlung eine notwendige Bedingung für das Erreichen des Ziels ist, dann können wir - gegeben den Fall, daß die Handlung nicht Teil der gängigen Praxis der Physik ist - das Argumentationsschema benutzen, um den Zielvorschlag zurückzuweisen. Wenn aber - und das ist der zweite Fall - eine Handlung und ein Ziel dem Schema genügen, dann ist damit noch nicht entschieden, daß der Vorschlag der einzig mögliche ist, welcher die in Frage stehende Handlung erklären kann. Bestimmte Handlungen sind nämlich typischerweise keine hinreichenden Bedingungen für die Realisierung eines Ziels. Aus diesem Grunde sind Zielvorschläge, die Handlungen erklären sollen, unterbestimmt. Sie sind dies insofern, als nicht ausgeschlossen werden kann, daß das vorgeschlagene Ziel selbst nur ein Mittel zu einem „höheren" Ziel ist. Wenn also eine Handlung h durch ein Ziel X erklärt werden kann, dann ist es durchaus möglich, daß X
1.2 Vorschläge für das Ziel der Physik
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nicht das eigentliche Ziel ist, sondern gewissermaßen bloß ein Etappenziel zum Erreichen des eigentlichen Ziels Z. Dennoch wird ein Zielvorschlag gestützt, wenn er in der Lage ist, bestimmte Handlungen zu erklären. Ein dritter Fall, der im weiteren Verlauf der Arbeit gleichfalls auftauchen wird, ist die Invarianz von Zielen gegenüber bestimmten Handlungen. So kann der Fall eintreten, daß ein Zielvorschlag eine bestimmte Gruppe von Handlungen weder zu erklären in der Lage ist, noch durch sie widerlegt wird. Ein solcher Fall kann eintreten, obwohl dieser Zielvorschlag durch eine andere Klasse von Handlungen gestützt wird. Gegenüber der hier vorgeschlagenen und mit allerlei Kautelen versehenen Methode, das Ziel der Physik zu bestimmen, lassen sich einige Vorbehalte äußern. So kann man dem Projekt als Ganzem entgegenhalten, die Untersuchungen zur Geschichte der Physik und anderer Wissenschaften hätten gezeigt, daß Theorien, die zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte der Wissenschaften vertreten wurden, untereinander nicht vergleichbar, also inkommensurabel sind. Wenn man aber aufeinanderfolgende Theorien nicht miteinander vergleichen kann, dann macht es keinen Sinn, von einer Entwicklung der Physik auf ein Ziel hin zu reden. Kuhn hat so argumentiert. A m Ende seines Buches über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen blickt er auf seine Untersuchungen zurück und schreibt: Der in diesem Essay beschriebene Entwicklungsprozeß geht von primitiven Anfingen aus - ein Prozeß, dessen aufeinander folgende Stadien durch ein zunehmend detaillierteres und verfeinertes Verstehen der Natur charakterisiert wird. Aber nichts von dem, was gesagt worden ist und noch gesagt werden kann, macht ihn zu einem Prozeß auf etwas hin. Zweifellos wird diese Lücke viele Leser gestört haben. Wir sind alle fest daran gewöhnt, die Wissenschaft als das Unternehmen zu sehen, das unausgesetzt einem von der Natur gesteckten Ziel näherkommt. Aber muß es denn ein solches Ziel geben? Dieser Einwand kann ohne großen Aufwand dadurch entkräftet werden, daß man auf eine diachrone Betrachtung der Physik ganz verzichtet und sich darauf beschränkt, lediglich die Handlungen
137 Kuhn 1973, S. 182.
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1. Ziele
heutiger Physik hinsichtlich ihrer Gerichtetheit auf ein Ziel hin zu untersuchen. Damit schiede also eine Argumentation, die die Geschichte der Physik als die Realisierung eines bestimmten Zieles interpretieren will, aus. Betrachtungen wie v. Helmholtz, Kirchhoff, Planck und Hawking sie angestellt haben, um für ihren jeweiligen Vorschlag zu argumetieren, sollen im folgenden nicht unternommen werden. Darüber hinaus bin ich allerdings der Meinung - ohne an dieser Stelle für sie argumentieren zu wollen -, daß die von mir in den nächsten Kapiteln betrachteten Handlungen - Abstraktionen, Idealisierungen, Vereinfachungen etc. - von den sich von Paradigma zu Paradigma ändernden Begriffen zu unterscheiden und daher von der Kuhnschen Inkommensurabilitätsthese nicht betroffen sind. Ein weiterer Vorbehalt betrifft die Auswahl der Handlungen, die ich betrachte. Alle Untersuchungen können nur relativ zu den Handlungen Gültigkeit beanspruchen, die ich hier überhaupt erwäge, d. h. relativ zu einem Handlungsrahmen, wie dies in Abschnitt 1.1 bezeichnet wurde. Wie aber kann eine solche Auswahl getroffen werden? Es ist ganz offensichtlich, daß eine vollständige Betrachtung aller Maßnahmen oder Handlungen, die in der Physik eine Rolle spielen, nicht einmal anzustreben sinnvoll ist. Ich kann mich lediglich darum bemühen, anhand eines Beispiels plausibel zu machen, daß die in den nächsten Kapiteln zu untersuchenden Handlungen oder Maßnahmen wie Idealisierungen, Abstraktionen, Vereinfachungen etc., eine wichtige und konstitutive Rolle in der Physik spielen.
2. Idealisierungen
2.1 Der Begriff der Idealisierung In Abschnitt 1.2.5 wurde vorgestellt, wie die Frage nach dem Ziel der Physik untersucht werden soll. Das Ziel der Physik muß erklären können, weshalb bestimmte Maßnahmen oder Handlungen in der Physik ausgeführt werden. Diese Handlungen werden als Beitrag zur Realisierung eines Ziels verstanden. Unter diesem Gesichtspunkt sollen im folgenden Idealisierungen im weiteren Sinne betrachtet werden. Darunter fallen Methoden der Datenbearbeitung, Idealisierungen im engeren Sinne, Vereinfachungen, Vernachlässigungen, Abstraktionen, die Herstellung von Untersuchungsgegenständen und die experimentelle Methode der Isolation. Mit dem Begriff der Idealisierung kann auf zweierlei Bezug genommen werden. Einerseits kann der Prozeß, die Maßnahme oder die Handlung des Idealisierens, andererseits auch das Resultat einer solchen Handlung oder das Produkt dieses Prozesses gemeint sein. Letzteres begegnet uns in physikalischen Abhandlungen, Lehrbüchern usw. Im folgenden werden Idealisierungen als Resultate oder Produkte von Handlungen Anlaß zu der Frage nach den Gründen der Handlung geben.1 Die Handlungen, mit denen wir es zu tun haben werden, sind also immer solche, die die Produkte, die uns in Lehrbüchern u. ä. begegnen, hervorgebracht haben. Produkt und Handlung werden mit dem gleichen Namen bezeichnet. Zunächst ist es aber notwendig, den Begriff der Idealisierung im weiteren Sinne (wie ich nun sagen werde, um ihn von der darunter fallenden Idealisierung im engeren Sinne zu unter scheiden) zumindest so genau zu fassen, daß klar wird, was den unter diesem Begriff gefaßten, im folgenden aufgelisteten Handlungen als gemein unterstellt wird: Unter Idealisierungen im weiteren Sinne sollen
1
Es wird hier nach Gründen - nicht nach der Motivation - von Handlungen gefragt, weil die physikalische Praxis als eine rationale vorausgesetzt wird (vgl. Abschnitt 1.1).
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2. Idealisierungen
Maßnahmen verstanden werden, bei denen etwas, ζ. B. ein physikalischer Gegenstand, Meßdaten oder eine mathematische Funktion, durch etwas anderes ersetzt wird, das gegenüber dem ursprünglichen physikalischen Gegenstand, den ursprünglichen Meßdaten oder der ursprünglichen mathematischen Funktion verändert ist. Eine derartige Ersetzung wird in Kenntnis dessen, daß es sich um eine Ersetzung handelt, durchgeführt. Wir müssen annehmen, daß es sich bei einer solchen Veränderung um eine Optimierung in einer bestimmten Hinsicht handelt, denn sonst hätten wir eine solche Maßnahme gar nicht erst durchgeführt. Die jeweilige Hinsicht der Optimierung gilt es im Einzelfall zu bestimmen. Idealisierungen sind von Annahmen, die sich als falsch herausstellen, zu unterscheiden. Ein erster Unterschied besteht darin, daß unter den Begriff der Idealisierung nicht nur theoretische Behauptungen, sondern auch - wie oben schon angedeutet - experimentelle Methoden fallen. Demgegenüber ist eine Annahme in jedem Fall eine (vorläufige) theoretische Behauptung. Eingeschränkt auf den Fall theoretischer Behauptungen ist der wesentliche Unterschied zwischen Idealisierungen und Annahmen, die sich als falsch herausstellen, der folgende: Eine Annahme kann sich als falsch herausstellen, d. h. es zeigt sich, daß - entgegen der ursprünglichen Vermutung - die in Frage stehende theoretische Behauptung auf den entsprechenden Gegenstand nicht zutrifft. Bei einer Idealisierung kann sich nicht herausstellen, daß sie auf einen Gegenstand nicht zutrifft, vielmehr ist das im Vorhinein offensichtlich. Für den Charakter einer Idealisierung wesentlich ist, daß eine Ersetzung des eigentlich zu beschreibenden Gegenstandes in Kenntnis dessen vorgenommen wird, daß es sich um eine Ersetzung handelt. Es wird bewußt und freiwillig in Kauf genommen, daß das beschriebene System der Beschreibung nicht (vollständig) genügt. Im Falle einer Idealisierung ist der Wahrheitswert einer theoretischen Behauptung bekannt (nämlich: falsch), im Falle einer Annahme dagegen nicht. Ob eine theoretische Behauptung eine Idealisierung oder eine Annahme ist, die sich als falsch herausstellt, hängt also nicht allein von dem Inhalt einer Behauptung selbst oder ihrem Wahrheitswert ab, sondern von der vorhandenen Evidenz zum Zeitpunkt des Aufstellens dieser Behauptung. Die Behauptung, daß sich ein bestimmtes
2.1 Der Begriff der Idealisierung
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physikalisches System gemäß der idealen Gasgleichung verhält, ist also in Abhängigkeit davon, ob sie zu einem Zeitpunkt aufgestellt wurde, vor oder nach dem es Evidenz fur die van der Waals-Gleichung gab, einmal als Annahme, das andere Mal als Idealisierung zu bezeichnen. Die Unterscheidung zwischen Idealisierungen und Annahmen, die sich als falsch herausstellen, läßt sich heranziehen, um einigen möglichen Einwänden gegen die Verwendung von Idealisierungen als Prämisse in dem in Abschnitt 1.2.5 vorgestellten praktischen Syllogismus zu begegnen. Ein solcher Einwand gibt zu bedenken, daß Idealisierungen unfreiwillig durchgeführt werden. Wenn Handlungen unfreiwillig durchgeführt werden, dann sind sie in der Tat ungeeignete Kandidaten für den praktischen Syllogismus aus Abschnitt 1.2.5, da unfreiwillig durchgeführte Handlungen einen Schluß auf die Absicht oder das Ziel nicht erlauben. Es ist nach dem oben gesagten klar, daß dann, wenn eine Handlung unfreiwillig ausgeführt wird, es sich - per definitionem - nicht um eine Idealisierung handeln kann. Bei einer Idealisierung werden nämlich bewußt Gegenstände, Meßdaten oder Funktionen durch andere ersetzt. Im Falle einer Annahme dagegen wird eine auf ein physikalisches System nicht zutreffende Behauptung nicht im Bewußtsein dieses Nichtzutreffens aufgestellt. Sie ist insofern unfreiwillig. Für die weitere Diskussion verschiedener Formen der Idealisierung ist daher die Bemerkung wichtig, daß es sich bei ihnen umfreiwilligausgeführte Handlungen handelt. Die Physik diachron und nicht, wie hier beabsichtigt, synchron zu untersuchen, ist häufig mit dem Versuch verbunden, die Abfolge von Theorien so zu rekonstruieren, daß Vorläufertheorien als Grenzfälle heute akzeptierter Theorien erscheinen. Die Vorläufertheorien lassen sich dann, so scheint es, als Idealisierungen im Verhältnis zu den heutigen Theorien rekonstruieren. Eine solche Betrachtung der Geschichte der Physik führt naturgemäß zu der Auffassung, Idealisierungen seien ein vorläufiger Zug der Physik, der im Verlaufe des Fortschritts derselben überwunden wird. Idealisierungen diesen Typs sind ζ. B. das Unendlichsetzen der Lichtgeschwindigkeit oder das Vernachlässigen des Planckschen
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2. Idealisierungen
Wirkungsquantums. Derartige Maßnahmen sind vom Standpunkt der Nachfolgertheorie tatsächlich als Idealisierungen zu qualifizieren. Das trifft aber nicht auf den Standpunkt derer zu, die die Vorläufertheorie aufgestellt haben. Aus deren Perspektive handelt es sich bei der Vorläufertheorie um eine Annahme, die sich (zumindest in einigen Anwendungsbereichen) als falsch herausgestellt hat. Es ist diese Annahme, die von der Nachfolgertheorie überwunden wurde, nicht aber eine Idealisierung. Erst dann, wenn die Nachfolgertheorie gegeben ist, läßt sich die Vorläufertheorie als Idealisierung verwenden. Die Rekonstruktion der Geschichte der Wissenschaften kann also nicht als ein Argument herangezogen werden, das zu zeigen beansprucht, daß Idealisierungen ein bloß vorläufiger Zug der Wissenschaften sind. In der Geschichte der Wissenschaften werden typischerweise falsche Annahmen, nicht aber Idealisierungen überwunden. Ein weiteres Mißverständnis des Begriffs der Idealisierung besteht in der Annahme, Idealisierungen hätten bloß heuristische Funktion. Damit ist wohl gemeint, daß Idealisierungen (als Handlungen) zwar Maßnahmen sind, die zum Erreichen des Ziels der Physik beitragen, nicht aber selbst (als Produkt) Teil einer endgültigen Physik sind. Eine Einteilung der Maßnahmen aus der Praxis der Physik in „heuristisch" und „nicht heuristisch" setzt demnach eine Vorentscheidung über das Ziel der Physik bereits voraus. Eine solche Vorentscheidung soll im Rahmen dieser Arbeit nicht getroffen werden. Es trifft jedoch durchaus zu, daß zuweilen auch Idealisierungen im weiteren Verlaufe der Forschung rückgängig gemacht werden. Dieser Sachverhalt kann an dieser Stelle noch nicht diskutiert werden. Es sei daher auf Abschnitt 2.3.4 verwiesen. Daß die heutige Physik durch Idealisierungen geprägt ist, kann nicht ernsthaft bestritten werden. Anhand eines Beispiels soll gezeigt werden, wie durchgängig auf solche Maßnahmen zurückgegriffen werden muß, um eine Theorie, die das Verhalten bestimmter physikalischer Systeme beschreibt, überhaupt zu ermöglichen. Die Untersuchung von Idealisierungen halte ich für grundlegend, um ein angemessenes Verständnis von Physik zu erlangen. Andere wissenschaftstheoretische Untersuchungen, die ζ. B. den
2.1 Der Begriff der Idealisierung
91
Erklärungsbegriff in der Physik oder die Rolle von Bestätigungen usw. zum Gegenstand haben, sind eigentlich immer - jedenfalls dann, wenn sie sich auf die Grundlage der heutigen Physik stützen - mit idealisierten Theorien konfrontiert. In einem systematischen Sinne ist daher eine Untersuchung von Idealisierungen gegenüber diesen vorrangig. Die Bedeutung der Idealisierungen wird noch offensichtlicher, wenn man sich klar macht, daß sie auf geradezu paradoxe Weise mit dem Aufschwung, den die Naturwissenschaften seit der Neuzeit genommen haben, verknüpft sind. Die Physik gilt als besonders erfolgreich erst seit den Tagen Galileis. Dieser Erfolg bezieht sich insbesondere auf die Genauigkeit der Vorhersagen. Seit dieser Zeit findet aber auch die Methode der Idealisierung in der Physik verstärkt Anwendimg, so daß diese Methode manchmal geradezu mit dem Namen Galileis identifiziert wird. 2 Mit dem Idealisieren, also dem Abweichen von der Wirklichkeit, geht ein außerordentlicher Vorhersageerfolg einher. Damit haben wir das Paradox: Offensichtlich sind wir erst durch die Abweichungen von der Wirklichkeit dazu gekommen, sie besonders genau beschreiben zu können und ihr Verhalten genau vorhersagen zu können. Im Rahmen der folgenden Untersuchungen, die sich der Frage widmen, in welchem Sinne verschiedene und noch zu unterscheidende Formen der Idealisierung einen Beitrag zur Realisierung eines Zieles der Physik leisten, wird sich auch das zitierte Paradox auflösen.
2.2 Formen der Idealisierung Das Ziel dieses Abschnittes soll sein, verschiedene Formen der Idealisierung, die in der Physik eine Rolle spielen, zu untersuchen und zu charakterisieren. Dabei werde ich so vorgehen, daß ich das Beispiel eines Experimentes betrachte, d. h. seine Durchführung, Auswertung und Einordnung in die Theorie. Eine vollständige Beschreibung dieser Sachverhalte würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen und ist zum Verständnis der hier vorhegenden Untersu-
2
Dazu siehe ζ. B. McMullin 1985 und Husserl 1992a.
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2. Idealisierungen
chung von Idealisierungen auch nicht notwendig. Ich werde mich daher darauf beschränken, einzelne charakteristische Schritte herauszugreifen, die für die Unterscheidung und Charakterisierung der unterschiedlichen Idealisierungen besonders instruktiv sind. Das Beispiel, das im weiteren Verlauf im Mittelpunkt stehen wird, ist die spezifische Wärme kristalliner und amorpher Festkörper. Die Größe der spezifischen Wärme bezeichnet die Wärmeoder Energiemenge, die ein Körper in Abhängigkeit von seiner Temperatur und seiner Masse aufnehmen kann. Für kristalline Festkörper ist der Verlauf dieser Größe in Abhängigkeit von der Temperatur seit langem bekannt. Für hohe Temperaturen, d. h. für Temperaturen über ca. 100 K, ist die spezifische Wärme konstant (Dulong-Petitsches Gesetz) und innerhalb des Rahmens der klassischen statistischen Mechanik berechenbar. Im Bereich tiefer Temperaturen fällt die spezifische Wärme unter den klassischen Wert und tendiert mit abnehmender Temperatur gegen Null. Die Möglichkeit dieses Verhalten durch die Quantenmechanik zu berechnen, war ein früher Erfolg derselben im Bereich der statistischen Mechanik. Die spezifische Wärme (und auch die Wärmeleitfähigkeit) amorpher Festkörper wurde zum ersten Mal Anfang der siebziger Jahre von Zeller und Pohl bestimmt.3 Eine Tabelle aus ihrer Veröffentlichung gibt Auskunft darüber, an welchen Materialien die Messungen vorgenommen wurden. Es werden dort der Name des jeweiligen Materials, der Lieferant und einige Eigenschaften desselben aufgeführt. Im Anschluß an diese Tabelle wird beschrieben, wie die genannten amorphen Festkörper hergestellt wurden. In bezug auf Germaniumoxid (eines der Materialien, die in der Tabelle genannt sind) heißt es ζ. B., daß das Germanium bei einer Temperatur von 1250° C im Vakuum geschmolzen wurde und dann 18 Stunden lang bei dieser Temperatur einem Sauerstoffdruck von 1 Atm ausgesetzt war. Anschließend wurde die Temperatur schlagartig auf 600° C heruntergekühlt und dann langsam an die Raumtemperatur herangeführt.
3
Zeller, Pohl 1973.
2.2 Formen der Idealisierung
93
Die Gegenstände, an denen die hier geschilderten Messungen durchgeführt werden, sind, so zeigt sich, Artefakte. Sie werden hergestellt. Eine solche Herstellung von Untersuchungsgegenständen läßt sich im folgenden Sinne als Idealisierung bezeichnen: Die Physik ist eine Wissenschaft, die von der Natur handelt. Dies legt sowohl die Etymologie des Begriffs als auch ihre Bezeichnung als Naturwissenschaft nahe. Insbesondere verbirgt sich dahinter der Anspruch, daß es sich auch um eine Wissenschaft der sogenannten „unberührten Natur" handelt. Die Frage, weshalb man sich mit Artefakten beschäftigt, wenn man von der unberührten Natur reden will, wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit immer wieder auftauchen. Die unberührte Natur wird durch ein Artefakt ersetzt - in diesem Sinne läßt sich die Herstellung von Untersuchungsgegenständen als Idealisierung auffassen. Die Messung der thermischen Leitfähigkeit und typischerweise auch der spezifischen Wärme wird in einem Kyrostaten vorgenommen. 4 Der Kyrostat hat die Funktion, zu verhindern, daß bei den Messungen im Tieftemperaturbereich von 0,75 Κ bis 100 Κ ein Energieaustausch zwischen dem Untersuchungsgegenstand und der Umwelt stattfindet. Es muß verhindert werden, daß noch andere Faktoren auf das Ergebnis der Messung Einfluß nehmen. Galison hat auführlich geschildert, welche Rolle diese Maßnahme bei dem Nachweis von Elementarteilchen spielt. Bei typischen Nachweisexperimenten in der Hochenergiephysik ist zu unterbinden, daß das Meßergebnis von einem anderen Teilchen, als dem, u m dessen Nachweis es geht, verursacht wurde. 5 McMullin hat diesen Isolationsprozeß als „causal idealization" bezeichnet: The move from the complexity of Nature to the specially contrived order of the experiment is a form of idealization. The diversity of causes found in Nature is reduced and made manageable. The influence of impediments, i. e. causal factors which affect the process under study in ways not at present of interest, is eliminated or lessened sufficiently that it may be ignored.
4 5 6
Zeller, Pohl 1973, S. 2032. Galison 1987, Kap. 4. McMullin 1985 S. 265.
2. Idealisierungen
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Diese Maßnahme soll im folgenden als Abschirmung oder Isolation bezeichnet werden. Bei einer Isolation handelt es sich um eine Idealisierung, weil ein komplexer Teil der Natur, d. h. eine Situation, in der verschiedene Faktoren Einfluß auf das Verhalten des Untersuchungsgegenstandes nehmen, durch eine Situation ersetzt wird, in der der Einfluß externer Faktoren ausgeschaltet wurde. Wenn wir Messungen an isolierten Gegenständen, wie an einem amorphen Festkörper vornehmen, dann erhalten wir typischerweise Meßpunkte oder Meßdaten. Die Daten werden in Tabellen eingetragen oder graphisch dargestellt. Ein Beispiel gibt die folgende Graphik, in der die spezifische Wärme verschiedener Proben des amorphen Festkörpers AS2S3 gegen das Quadrat der Temperatur aufgetragen ist. (Bei den vier Proben handelt es sich um auf unterschiedliche Art hergestellte Festkörper.) Vermutlich stellen die dort eingetragenen Meßpunkte bereits das Resultat verschiedener Auswahlmechanismen dar. Aber auch ohne ein Wissen darum läßt sich auf zwei unterschiedliche Maßnahmen der Datenbearbeitung 7 aufmerksam machen. 0.1 0.2
Ό
7
03
0.1
Temperature, Κ 0.5 0.6
0.4
0.2
0.3
Temperature 2 ,
0.7
Κ
0.4 2
0.5
0.6
Die folgende Graphik stammt aus Pohl 1981, S. 32. Dem SpringerVerlag Heidelberg sei für die freundliche Genehmigung, diese Abbildung hier abdrucken zu dürfen, herzlich gedankt.
2.2 Formen der Idealisierung
95
Erstens wird von einer endlichen Anzahl von Punkten zu einer unendlichen, zu einer Kurve nämlich, übergegangen. Das Problem, daß eine solche Kurve durch die Meßpunkte linterbestimmt ist, wurde schon von Duhem diskutiert.8 Im folgenden soll diese Maßnahme Datenextrapolation heißen. Es handelt sich dabei um eine Idealisierung im weiteren Sinne, weil eine endliche Anzahl von Punkten durch eine unendliche ersetzt wird. Zweitens wird neben der Datenextrapolation im allgemeinen auch eine Datenberichtigung durchgeführt. Damit ist gemeint, daß die Meßpunkte häufig gar nicht auf der Kurve liegen, die als phänomenologische Gesetzmäßigkeit präsentiert wird. Dabei bedient man sich der Gaußschen Methode der kleinsten Abweichun^squadrate, man unterscheidet zwischen Signal und Rauschen usw. Im weiteren Verlauf der Arbeit soll diesbezüglich geklärt werden, was die Legitimation solcher Maßnahmen ist. Bei der Datenberichtigung handelt es sich um eine Idealisierung im weiteren Sinne, weil Meßpunkte, die neben einer Kurve liegen durch solche, die auf einer Kurve liegen, ersetzt werden. Die Tatsache, daß überhaupt Messungen an Gegenständen vorgenommen werden, deren Daten aufbereitet werden, beruht darauf, daß wir, um zu einem theoretischen Verständnis derselben zu gelangen, sie repräsentieren müssen. Als Menschen haben wir - mit Kant zu reden - keine intellektuelle Anschauung, die „eine solche ist, durch die selbst das Dasein des Objekts der Anschauung gegeben wird."10 Für die theoretische Handhabe sind wir darauf angewiesen, daß wir eine Repräsentation oder ein Bild des Gegenstandes besitzen. Diese Ersetzung des Gegenstandes durch die Repräsentation derselben, die durch die Messung ermöglicht und durch die begriffliche Beschreibung vollendet wird, läßt sich ebenfalls als eine Idealisierung im weiteren Sinne verstehen. Da es aber, soweit dies zu sehen ist, gar keine andere Möglichkeit gibt, als so vorzugehen, ist dieses Vorgehen kein Kandidat für den praktischen Syllogismus aus Abschnitt 1.2.5.
8 Duhem 1978, S. 225/6. 9 Dieses Verfahren wird erläutert z. B. bei Walcher 1985, S. 28ff. 10 Kant 1983, Β 72.
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2. Idealisierungen
Bei unseren bisherigen Betrachtungen standen nichtmetallische amorphe Festkörper im Mittelpunkt der Betrachtung. Abgesehen von nicht-metallischen amorphen Festkörpern gibt es auch metallische amorphe Festkörper. Um die experimentelle Gesetzmäßigkeit, die wir in einem solchen Fall nach der Datenbearbeitung erhalten, in die Theorie integrieren zu können, werden im Falle der von uns betrachteten spezifischen Wärme des amorphen Festkörpers drei Rechnungen durchgeführt. Der amorphe Festkörper wird nämlich als ein Gesamtsystem betrachtet, das aus drei Teilsystemen zusammengesetzt ist. Bei diesen Teilsystemen handelt es sich um einen Kristall, ein Elektronengas und ein Ensemble von Tunnelsystemen. Die spezifische Wärme jedes dieser Teilsysteme wird jeweils unabhängig von den anderen berechnet. Es handelt sich um drei unabhängige Faktoren, die zu dem Gesamtverhalten, d. h. zur gesamten spezifischen Wärme des amorphen Festkörpers, beitragen. Häufig wird nicht einmal eigens erwähnt, daß bei solchen Rechnungen von den jeweils anderen Faktoren, die zu dem Gesamtsystem gehören, abgesehen wird. In dem Lehrbuch von Ashcroft und Mermin allerdings, das ich bei der folgenden Berechnung der spezifischen Wärme des Kristalls zugrundelege, wird explizit darauf hingewiesen, daß in diesem Fall von dem Einfluß der Elektronen abgesehen werden muß: • Die Elektronen bilden eine statische Hintergrundladung, die auf die dynamischen Eigenschaften (und auch auf die spezifische Wärme) des Kristalls keinen Einfluß haben.11 Wenn bei der Berechnung einer Größe eines Gesamtsystems ein ganzes physikalisches System, wie ζ. B. die Elektronen oder die Tunnelsysteme, die Teil dieses Systems sind, außer acht gelassen wird, damn handelt es sich um eine Abstraktion von einem physikalischen System. Abstraktionen von physikalischen Systemen sind Idealisierungen im weiteren Sinne, weil das Gesamtsystem durch ein Teil desselben ersetzt wird. Daß man bei der Berechnung einer solchen Größe wie der spezifischen Wärme gewissermaßen das ganze Universum, von einigen kleineren Anteilen desselben, wie
11
Ashcroft, Mermin 1976, S. 425ff.
2.2 Formen der Idealisierung
97
den Elektronen, den Tunnelsystemen oder dem Kristall abgesehen, außer acht läßt, ist gleichfalls eine Abstraktion. Der Rahmen, innerhalb dessen die spezifische Wärme berechnet wird, ist die statistische Mechanik. Die spezifische Wärme c v ist als Ableitung der Energiedichte des Systems nach der Temperatur bei konstant gehaltenem Volumen definiert. c v = (d/d1) v u Die Energiedichte u wiederum wird aus der Zustands summe berechnet. u =(l/V)Z qj Zur Bestimmung dieses Ausdrucks ist es erforderlich, die möglichen Energiezustände des fraglichen Systems, über die in der obigen Gleichung summiert wird, zu berechnen. Um die Energiezustände eines Kristalls zu bestimmen - auf die Betrachtung dieses einen Anteils zur gesamten spezifischen Wärme wollen wir uns hier beschränken -, geht man davon aus, daß die Gleichgewichtspositionen der Ionen gitterförmig angeordnet sind. Darüber hinaus setzen Ashcroft und Mermin voraus: • Der betrachtete Kristall hat keine Ränder; die Berechnungen werden so durchgeführt, als seien die jeweils gegenüberliegenden Enden des Kristalls zusammengefügt. Diese Behauptung ist ein Beispiel für eine Idealisierung im engeren Sinne. Dem physikalischen System wird hier eine Eigenschaft zugeschrieben, für die als Begründung nichts anzuführen ist als die Möglichkeit, das sich dann ergebende physikalische System mathematisch einfach handhaben zu können. Diese Idealisierung im engeren Sinne erleichtert die weitere Berechnung, weil das Gitter unter dieser Prämisse völlig periodisch ist und ohne Probleme fouriertransformiert werden kann. Wenn wir idealisieren, schreiben wir einem physikalischen System Eigenschaften zu, die es - nach allem, was wir wissen - so nicht besitzen kann, denn daß Kristalle Ränder besitzen, wissen wir. Dieser Idealisierung im engeren Sinne hat schon Galilei sich bedient, als er die Gegenstände, die die schiefe
12 Ashcroft, Mermin 1976, S. 431.
98
2. Idealisierungen
Ebene hinabrollten, als Kugeln auffaßte, sie mithin als rund annahm. Idealisierungen im engeren Sinne sind Idealisierungen im weiteren Sinne. Sie ersetzen das ursprüngliche physikalische System durch eines, bei dem einige Eigenschaften unter dem Gesichtspunkt der mathematischen Handhabbarkeit verändert wurden. Eigenschaften werden nicht nur modifÌ2Ìert, sondern manchmal auch ganz fortgelassen. Diese Methode kann man im Unterschied zu den Abstraktionen von physikalischen Systemen Abstraktionen von Eigenschaften nennen kann. Sich der Abstraktion in diesem Sinne zu bedienen, heißt, von bestimmten Eigenschaften, z. B. beim idealen Gas von der Ausdehnung der Gasmoleküle abzusehen. Wenn wir diesen Fall als historische Episode betrachten, ist dies im Sinne der eingangs vorgestellten Unterscheidung als eine Annahme zu bezeichnen und nicht als eine Idealisierung, da Boyle und andere diese Maßnahmen nicht in Kenntnis der Relevanz dieser Eigenschaft für das Gasgesetz durchgeführt haben. Wenn aber heute in Kenntnis des van der Waals-Gesetzes das ideale Gasgesetz benutzt wird, um ein physikalisches System zu beschreiben, dann muß das Abstrahieren von der Ausdehnung der Gasmoleküle als eine Idealisierung (im weiteren Sinne) und nicht als eine Annahme klassifiziert werden. Abstraktionen von Eigenschaften sind Idealisierungen im weiteren Sinne, weil sie das ursprüngliche System durch eines ersetzen, bei dem von einigen Eigenschaften abgesehen wurde. Fahren wir nun mit der Betrachtung exemplarischer Schritte in der Berechnung der spezifischen Wärme des Kristalls fort. Man kann die potentielle Wechselwirkungsenergie, die zwischen den einzelnen Ionen wirkt, in eine Taylorreihe entwickeln. Dabei nimmt man die folgende Möglichkeit in Anspruch: •
Terme der dritten und höherer Ordnung dürfen vernachlässigt werden. 13 Ein solches Vorgehen dient ganz offensichtlich der mathematischen Handhabbarkeit, denn die folgenden Berechnungen wären dann, wenn man auch Terme dritter und höherer Ordnung be-
13 Ashcroft, Mermin 1976, S. 424.
2.2 Formen der Idealisierung
99
rücksichtigte, nicht möglich. Diese Art von Vernachlässigungen tauchen bei fast jedem physikalischen Problem auf. Vernachlässigungen sind Idealisierungen im weiteren Sinnne, weil sie mathematische Funktionen durch andere ersetzen, die mathematisch einfacher zu handhaben sind. Eine Unterscheidung von Idealisierungen im engeren Sinne einerseits und Vernachlässigungen (und Vereinfachungen (s. u.)) andererseits ist für die vorliegende Arbeit nicht wesentlich, da diese im folgenden immer gemeinsam behandelt werden. Ich habe diese Trennung deshalb vorgenommen, weil sie wie mir scheint - Idealisierungen auf verschiedenen Repräsentationsstufen vornehmen. Bei der Konstruktion eines Modells für ein physikalisches System verständigt man sich im allgemeinen in einem ersten Schritt auf die relevanten physikalischen Größen. Als zweiter Schritt läßt sich das Etablieren von Beziehungen zwischen diesen Größen unterscheiden. Die Abstraktion physikalischer Systeme, die Abstraktion von Eigenschaften und die Idealisierung im engeren Sinne gehören zu den Maßnahmen die für den ersten Schritt der Konstruktion eines Modells konstitutiv sind. Vernachlässigungen treten dagegen erst auf der Ebene der funktionalen Abhängigkeiten zwischen physikalischen Größen auf.14
14
Der Modellbegriff wurde am Ende des 19. Jahrhunderts von Physikern wie Maxwell, Boltzmann oder Hertz verwendet, um die Übertragung von Denkweisen, die an der Mechanik geschult waren, auf andere Gebiete, wie die Elektrodynamik, zu rechtfertigen. Dabei wurde unter einem Modell in den Worten von Hertz folgendes verstanden: „Definition Ein materielles System heißt dynamisches Modell eines zweiten Systems, wenn sich die Zusammenhänge des ersteren durch solche Koordinaten darstellen lassen, daß den Bedingungen genügt ist: 1. daß die Zahl der Koordinaten des ersten Systems gleich der Zahl der Koordinaten des andern Systems ist, 2. daß nach passender Zuordnung der Koordinaten für beide Systeme die gleichen Bedingungsgleichungen bestehen, 3. daß der Ausdruck für die Größe einer Verrückung in beiden Systemen bei jener Zuordnung der Koordinaten übereinstimme." (Hertz 1910, Band III, S.197)
100
2. Idealisierungen
Durch die zitierte Vernachlässigung erhält man die sogenannte harmonische Approximation. Der entsprechende Hamiltonoperator, der sich durch den „Übergang" zur Quantenmechanik ergibt, hat diskrete Energiewerte.15 Die Energie der Schwingungszustände, Hieran knüpft auch Max Black mit dem an, was er ein „theoretisches" Modell genannt hat und was sonst als „analogisches" Modell bezeichnet wird (Black 1962, S.219ff). Er charakterisiert es -wie folgt: Gegeben seien zwei unterschiedliche Forschungsbereiche. Einer von beiden ist gut verstanden und wohl etabliert, in dem anderen hat man zwar einige Gleichungen aufgestellt, sucht aber noch nach Erklärungen. Der erste Bereich ist für den zweiten ein Modell, wenn die Beziehungen des zweiten eindeutig auf die des ersten abgebildet werden können (wie bei Hertz). Dieser Begriff eines Modells wird im folgenden nur von untergeordneter Bedeutung sein. Der Begriff des Modells, wie er hier - und auch bei Cartwright (Cartwright 1983, S. 158/9) - verwendet wird, hat vielmehr Ähnlichkeit mit Blacks „mathematischen" Modellen, von denen er behauptet, sie fanden im wesentlichen in den Sozialwissenschaften Anwendung. Gegeben ist diesmal ein Forschungsbereich. Es werden relevante Variablen herausgesucht, zwischen denen, so wird angenommen, irgendwelche Beziehungen bestehen. Zum Zwecke einer besseren mathematischen Formulierung und Handhabung werden Idealisierungen, Vereinfachungen, Vernachlässigungen usw. durchgeführt. Charakteristisch ist also, so Black, daß das Modell einfacher und abstrakter ist als das, was modelliert werden soll. Als Beispiele aus der Physik sind der harmonische Oszillator oder der Potentialtopf zu nennen. Van Fraassen stellt eine Beziehung zwischen diesem Begriff des Modells und Modellen im semantischen oder mathematischen Sinne, die er wie folgt charakterisiert: „A model is called a model of a theory exactly if the theory is entirely true if considered with respect to this model alone." (van Fraassen 1989, S. 218) her. Modelle im Sinne Cartwrights seien auch solche im Sinne der soeben zitierten Charaktierisierung, wenn man die Konstanten des Cartwrightschen Modells spezifizierte. Der harmonische Oszillator wäre demnach ein M o d e l l ^ im semantischen Sinne, oder eine Klasse solcher Modelle (van Fraassen 1980, S.44). 15 Der Übergang zur Quantenmechanik soll nicht ausführlich dargestellt werden. Eine detaillierte Darstellung findet man bei Ashcroft,
2.2 Formen der Idealisierung
101
die auch „Phononen" genannt werden, nimmt dank der quantenmechanischen Vertauschungsregeln nur die folgenden Werte Ε φ = (η φ + 1/2) Λω/q) an. Wir haben dabei eine Fouriertransformation vorgenommen, q ist ein Vektor im sogenannten reziproken Gitter (dem Fourierraum zum kristallinen Gitter) und j numeriert die 1 bis 3r möglichen Eigenfrequenzen. Die spezifische Wärme ergibt sich dann, wie erwähnt, als Ableitung des Mittelwertes der Energieeigenwerte der Phononen nach der Temperatur. CV = (l/V)Eqi (d/dT) V ist das Volumen des Festkörpers, (d/dT) die Ableitung nach der Temperatur und der thermodynamische Mittelwert der Energieeigenwerte. Die Einzelheiten sollen hier nicht eingehender behandelt werden, auf eine weitere Form der Idealisierung sei jedoch hingewiesen. Die Summation in der obigen Gleichung wird durch eine Integration ersetzt. Dazu muß die folgende Annahme gemacht werden: • Die Energieeigenwerte Eqj(q), die in der obigen Gleichung summiert werden, liegen dicht.16 Hier haben wir es mit einer mathematische Vereinfachung zu tun, die allein den Zweck hat, die Gleichung auf einfache Art und Weise lösbar zu machen. Eine mathematische Vereinfachimg ist eine Idealisierung im weiteren Sinne, weil hier eine mathematische Funktion, die in diesem Falle eine Verteilung von Energiewerten beschreibt, durch eine andere, einfachere ersetzt wird.
Mermin 1976 auf den Seiten 780 bis 783. Typischerweise wird zunächst eine Beschreibung des Kristalls in den Begriffen der klassischen Mechanik durchgeführt und erst im weiteren Verlauf der Berechnung eine Ersetzung der Impuls- und Ortskoordinaten durch die entsprechenden Operatoren vorgenommen. Es läßt sich aber auch die ganze Berechnung ab initio im quantenmechanischen Begriffen durchführen, vgl. Horner. 16 Ashcroft, Mermin 1976, S. 455.
102
2. Idealisierungen
Schwierigkeiten bei einer Integration bereitet die Dispersionsrelation der Eigenfrequenzen, die in den Energieeigenwerten über die Beziehung Eqi = ÄC0j(q) verborgen sind. Der nach Debye benannte Ansatz geht von folgender Behauptung aus: • Die Eigenfrequenzen gehorchen einer linearen Dispersionsrela^ 11 Hon. Diese weitere mathematische Vereinfachung führt auf folgenden Ausdruck für die Eigenfrequenzen: ω = cq Dabei entspricht die Proportionalitätskonstante c der Schallgeschwindigkeit. Andere Modelle der spezifischen Wärme von Festkörpern unterscheiden sich vom Debye-Modell typischerweise durch die Annahme einer anderen Dispersionsrelation. Das Einstein-Modell nimmt an, daß die Eigenfrequenzen konstant sind.18 Mit einigen weiteren Annahmen, die hier nicht spezifiziert werden sollen, gelangt man schließlich zu dem bekannten Ergebnis: c v = (12/5)7rtikB(T/eD)3
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Dabei ist η die Gesamtzahl der Phononenzustände, kB die Boltzmannkonstante und 9 D die sogenannte Debyetemperatur, die vom jeweiligen Material abhängt. Sie trennt den Bereich, der klassisch behandelt werden darf, von demjenigen, der quantenmechanisch behandelt werden sollte. Die hier vorgestellte Rechnung gilt nur für den Bereich kleiner Temperaturen, d. h. für Temperaturen, die im Vergleich zur Debye-Temperatur klein sind. Abschließend möchte ich die verschiedenen Formen der Idealisierung, die für den weiteren Verlauf der Arbeit relevant sind, noch einmal aufzählen und klassifizieren. Als erstes wurde die Herstel17 Ashcroft, Mermin 1976, S. 458. 18 Die Eigenfrequen2en bestimmen die möglichen Energiezustände der Phononen. Die unterschiedlichen Modelle (Einstein, Debye) lassen sich daher - äquivalent - anstelle der Dispersionsrelationen auch durch die Zustandsdichten charakterisieren. So ζ. B. in dem Lehrbuch Becker 1985, S. 21 Iff. In der Berechnung von Ashcroft und Mermin wird die Zustandsdichte im Energiemittelwert berücksichtigt.
2.2 Formen der Idealisierung
103
lung und die Isolation des Untersuchungsgegenstandes diskutiert. Diese beiden Maßnahmen konstituieren den Gegenstand, an dem Messungen vorgenommen werden und auf den die theoretische Behandlung Bezug nimmt. Daß wir an diesem Gegenstand Messungen vornehmen und die gewonnenen Meßdaten bearbeiten (die Datenextrapolation und die Datenberichtigung wurden diskutiert), bildet die Grundlage dafür, daß der Gegenstand und sein Verhalten repräsentiert werden kann. Wenn nun ein bestimmter Versuch unternommen wird, um ein Modell für den Untersuchungsgegenstand zu konstruieren, dann lassen sich verschiedene Maßnahmen unterscheiden, die als Idealisierungen zu klassifizieren sind. Derartige modellkonstitutive Maßnahmen, die diskutiert wurden, sind zunächst einmal die Abstraktion von physikalischen Systemen, also die Aufteilung eines Systems in getrennt zu berechnende Teilsysteme, sowie die Abstraktion von Eigenschaften und die Idealisierung im engeren Sinne. Letztere werden durch ihre Zuschreibung von Eigenschaften zu physikalischen Systemen charakterisiert, welche Eigenschaften auf diese Systeme, nach allem was bekannt ist, nicht zutreffen. Im weiteren Verlauf der Modellkonstitution werden funktionale Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Eigenschaften oder Größen hergestellt, wobei man sich typischerweise weiterer Idealisierungen wie der Vereinfachung oder der Vernachlässigung bedient. Eingangs hatte ich Idealisierungen von Annahmen unterschieden. Bei der Berechnung der spezifischen Wärme, von der einige Schritte hier vorgestellt wurden, spielen nicht nur Idealisierungen, sondern auch Annahmen eine Rolle, wie z. B. diejenige, daß die Entfernungen der Ionen aus ihren Gleichgewichtspositionen im Vergleich zu den Abständen der Ionen untereinander klein sind.19 Es handelt sich hier nicht um eine Idealisierung, denn - vorausgesetzt, man darf den Autoren glauben schenken - es liegt keine stichhaltige Evidenz dafür vor, daß die Behauptung nicht zutrifft. Ashcroft und Mermin bemerken im Anschluß an diese Annahme,
19 Ashcroft, Mermin 1976, S. 422
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2. Idealisierungen
daß sie wohl allein deshalb gemacht werde, weil sie der mathematischen Handhabbarkeit dient: [it] is not made out of strong conviction in its general validity, but on grounds of analytical necessity. It leads to a simple theory - the harmonic approximation - from which precise quantitative results can be extracted.
Diese Beobachtung trifft aber nicht nur auf die genannte Annahme, sondern in gleicher Weise auch auf einige der zitierten Idealisierungen zu, wie ζ. B. auf die Datenextrapolationen, Vernachlässigungen, Vereinfachungen und Idealisierungen im engeren Sinne. Es ist die Aufgabe des folgenden Abschnittes, die Relevanz der einfachen mathematischen Handhabbarkeit im Hinblick auf das Ziel der Physik zu erläutern. 2.3 Idealisierungen und das Ziel der Physik Idealisierungen sind Maßnahmen, die bewußt an Stelle eines Gegenstandes, einer Behauptung usw. einen anderen Gegenstand, eine andere Behauptung usw. setzen. Theorien der Idealisierung, d. h. Theorien, die verständlich zu machen versuchen, weshalb wir idealisieren, lassen sich grob zwei verschiedenen Richtungen zuordnen. Erstens kann angenommen werden, daß Idealisierungen uns zu einer wahren Beschreibung der Welt ¿/«fuhren. Damit wäre zugleich eine Kandidatin für das Ziel der Physik vorhanden, die erklärt, weshalb man sich dieser Methoden bedient. Diese dienen demzufolge dazu, eine wahre Beschreibung der Welt zu hefern, also das Ziel der Wahrheit zu realisieren. Die Schwierigkeit dieses Vorschlags besteht darin, trifftige Gründe dafür, daß Idealisierungen auf die tatsächliche Beschaffenheit der Welt hinführen, anzugeben. Man benötigt ein von den Idealisierungen selbst unabhängiges Kriterium für die Wahrheit, um zeigen zu können, daß Idealisierungen auf sie hinführen. Es kann zweitens behauptet werden, daß Idealisierungen von einer wahren Beschreibung der Welt Erführen. Auch für diese These wird ein von den Idealisierungen unabhängi-
20 Ashcroft, Mermin 1976, S. 422
2.3 Idealisierungen und das Ziel der Physik
105
ges Kriterium benötigt, um die These verteidigen zu können. Weiterhin muß erklärt werden, auf welches Ziel hin diese Maßnahmen durchgeführt werden. Harré hat diese beiden Positionen mit Galilei einerseits und Cartwright andererseits assoziiert: In Galileo's ontology the methodology of idealizations, expressed in the theorems of geometry, represents actual structures and processes which are the core of reality. (...) On the contrary Cartwright argues that just because the laws of nature express idealizations they cannot be true of the real world. And they express idealization because they are descriptions of idealized models of reality, not messy old world itself. Im folgenden werde ich argumentieren, daß nicht alle Idealisierungen sich durch eine dieser Interpretationsrichtungen verständlich machen lassen. Im wesentlichen behauptet die von mir vertretene Position, daß diejenigen Idealisierungen, die ganz offensichtlich der einfachen mathematischen Handhabung dienlich sind, nämlich Vereinfachungen, Vernachlässigungen und Idealisierungen im engeren Sinne, mit Hilfe der Cartwrightschen Interpretationsrichtung verständlich zu machen sind (Abschnitt 2.3), die übrigen Maßnahmen dagegen, wie die Herstellung der Untersuchungsgegenstände, die kausale Isolation und die Abstraktion physikalischer Gegenstände, durch eine an Galilei anschließende Deutung (Kapitel 3). 22
2.3.1 Der Vorschlag von Ullis Im ersten Teil dieses Kapitels wurde bereits darauf hingewiesen, daß sich Idealisierungen im engeren Sinne, Vereinfachungen, Vernachlässigungen und Datenextrapolationen durch ihren Beitrag zur mathematischen Handhabbarkeit von Theorien verständlich machen lassen. Es stellt sich die Frage, ob diese Maßnahmen, indem 21 Harré 1989, S. 190. 22 Ich verwende die von Harré vorgeschlagene Terminologie der Einfachheit halber, obwohl ich gewisse Vorbehalte hinsichtlich der Frage habe, ob Cartwrights Auffassungen in Cartwright 1989 sich durch den hier vorgestellten Begriff der Cartwrightschen Interpretationsrichtung noch angemessen verstehen lassen.
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2. Idealisierungen
sie die mathematische Handhabbarkeit befördern, im Sinne Galileis als Maßnahmen zu interpretieren sind, die uns zu einer wahren Beschreibung der Welt hinfuhren. Ellis hat in kompakter Weise für eine solche Position argumentiert. An ihr läßt sich die grundsätzliche Schwierigkeit verdeutlichen, mit der diese Interpretationsrichtung - wenn sie auf die genannten Idealisierungen angewandt wird behaftet ist. Ellis' Argumentation ist genau von der Art, die wir in Abschnitt 1.2.5 vorschlugen. Handlungen werden durch die Angabe eines Ziels erklärt. Das Ziel der Naturwissenschaften und damit der Physik ist Ellis zufolge, die essentielle Natur von natürlichen Arten und natürlichen Prozessen zu entdecken. Zur Realisierung dieses Ziels sind Idealisierungen notwendig: We idealÌ2e for reasons which have to do with the basic aims of scientific research. Physical science, it will be argued, is fundamentally concerned to discover the essential natures of the kinds of things that can exist, and the kinds of changes that can take place, in a world such as ours. And to achieve its aims, science must focus on the intrinsic properties and structures of the basic kind of things and processes which are to be found existing or occuring in nature. [...] The aim of science is not to describe what actually happens in nature, or to systematize our knowledge of what occurs by subsuming it under laws; it is to explain what happens by showing how what occurs can be seen to arise out of the essential natures of the natural kinds and 23 processes which constitute the real world.
Der entscheidende Gedanke ist, daß Idealisierungen uns nicht von dem, was wir über die Welt wissen wollen, fortfuhren, sondern im Gegenteil zu ihm hin. Ellis vertritt also eine These des nicht-defizitären Charakters von Idealisierungen im Sinne der Galileischen Interpretationsrichtung. Wir wollen ein Wissen von natürlichen Arten, Prozessen usw. gewinnen. Dieses Wissen, so meint Ellis, gewinnen wir nicht dadurch, daß wir das, was in der Erfahrung gegeben ist, wie z. B. phänomenologische Gesetzmäßigkeiten, unkritisch akzeptieren, indem wir versuchen, sie aus der Theorie abzuleiten, sondern wir gewinnen dieses Wissen dadurch, daß wir 23 Ellis 1992, S. 266.
2.3 Idealisierungen und das Ziel der Physik
107
es durch eine geeignete Methode aus dem in der Erfahrung Gegebenen gewissermaßen herausdestillieren - eben, indem wir idealisieren. Um diese These zu erläutern, ist die Frage zu klären, was mit einer natürlichen Art und einem natürlichen Prozeß gemeint ist. Als Beispiele für natürliche Arten führt Ellis Gold und Kupfer an. Sie unterscheiden sich durch ihre intrinsischen oder essentiellen Eigenschaften, wie der Nukleonen- und der Elektronenkonfiguration. Diese sind, so Ellis, die essentiellen Eigenschaften, weil auf sie Bezug genommen, wann immer das Verhalten dieser Gegenstände erklärt wird. Die Farbe des Goldes ist vermutlich keine essentielle Eigenschaft desselben. Natürliche Prozesse sind Ketten von Ereignissen, die durch essentielle Eigenschaften der natürlichen Arten, die an diesen Prozessen beteiligt sind, festgelegt werden. Ellis denkt dabei an chemische Reaktionen oder die Wechselwirkung zwischen Elementarteilchen. Natürliche Arten sind also durch ihre essentiellen Eigenschaften charakterisiert, auf die in Erklärungen des kausalen Verhaltens der einzelnen, eine natürliche Art instantiierenden Gegenstände Bezug genommen wird. Es soll nun überprüft werden, ob der Zielvorschlag von Ellis tatsächlich geeignet ist, die von uns gekennzeichneten Handlungen, sofern sie zur mathematisch einfachen Handhabbarkeit von Theorien beitragen, zu erklären. Eine Erklärung einer Handlung durch Ellis' Zielvorschlag hegt nur dann vor, wenn diese Handlung als eine interpretiert werden kann, bei der wir von einer nichtessentiellen Eigenschaft absehen und uns auf die Behandlung der essentiellen Eigenschaften des fraglichen Gegenstandes beschränken. Eine solche Interpretation ist keineswegs für alle von uns betrachteten Annahmen möglich. Eine der zitierten Annahmen im letzten Abschnitt besagte, daß Terme dritter und höherer Ordnung in der Entwicklung des Potentials vernachlässigt werden dürfen. Weshalb sollte eine Entwicklung eines Potentials bis zur zweiten Ordnung im Gegensatz zu einer Entwicklung bis zur dritten Ordnung auf eine essentielle Eigenschaft oder eine natürliche Art führen? Weshalb sollte die Tatsache, daß der Kristall so betrachtet wird, als habe er keine Ränder, auf eine natürliche Art führen?
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2. Idealisierungen
Das grundsätzliche Problem, das sich hier verbirgt, ist das folgende. Ein Teil der von mir angeführten Idealisierungen sind - wie wir gesehen haben - dadurch motiviert, daß sie zu einer einfachen mathematischen Handhabbarkeit führen. Wieso leitet die Orientierung an der mathematischen Handhabbarkeit auf essentielle Eigenschaften oder natürliche Arten? Wieso sollen Annahmen, die allein der mathematischen Handhabbarkeit dienlich sind, zu dem führen, was wir über die Welt wissen wollen. Um diese argumentative Lücke zu schließen, reicht es nicht aus, die Behauptung, das Buch der Natur sei in der Sprache der Mathematik geschrieben, zu begründen. Vielmehr muß darüber hinaus gezeigt werden, daß eine möglichst einfache mathematische Handhabbarkeit gute Evidenz für das Zutreffen der Theorie ist, daß also das Buch der Natur in einer einfachen Sprache der Natur geschrieben ist. Solange keine guten Gründe für den von Ellis Vorausgesetzen Piatonismus vorgebracht werden, ist seine Position wenig überzeugend. Das Problem der platonistischen Prämisse betrifft jeden Vorschlag der Galileischen Interpretationsrichtung in bezug auf solche Idealisierungen, die der mathematisch einfachen Handhabbarkeit dienen. Insbesondere ist daher auch der Vorschlag, daß Idealisierungen, die durch mathematisch einfache Handhabbarkeit motiviert sind, auf essentielle Eigenschaften führen, unbefriedigend. Wir haben es hier mit der Invarianz eines Zielvorschlags bezüglich bestimmter Handlungen zu tun. Weder kann der Vorschlag durch die diskutierten Handlungen definitiv ausgeschlossen werden, noch kann er sie erklären. Im Anhang zu Kapitel 3 werde ich allerdings hinsichtlich der Idealisierungen im weiteren Sinne, die bisher noch nicht diskutiert wurden (Abstraktionen und verwandte Handlungen), zu dem Urteil kommen, daß der Vorschlag von Ellis durch sie ausgeschlossen werden kann.
2.3.2 Das Ziel der vereinheitlichten Beschreibung Dem Versuch, die Idealisierungen im engeren Sinne, die Vereinfachungen, die Vernachlässigungen und die Datenextrapolation, die einer einfachen mathematischen Handhabung Vorschub leisten,
2.3 Idealisierungen und das Ziel der Physik
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dadurch verständlich zu machen, daß sie durch eine Interpretation im Sinne Galileis gedeutet werden, überzeugt also nicht. Dem möchte ich einen Vorschlag gegenüberstellen, der der Interpretationsrichtung Cartwrights zuzuordnen ist. Die Kandidatin, die ich als (vorläufiges) Ziel der Physik im Hinblick auf diese Idealisierungen vorschlagen möchte, ist die vereinheitlichte Beschreibung physikalischer Systeme. Es geht nun also positiv darum, einen Zielvorschlag durch die Praxis der Idealisierungen zu stützen. Um diesen Vorschlag zu erläutern, ist es nützlich, sich einer bestimmten Formulierung des Naturgesetzbegriffes zu bedienen, die auch im Verlaufe des nächsten Kapitels eine wichtige Rolle spielen wird. Als Standardformulierung eines Naturgesetzes werde ich die von Scheibe vorgeschlagene benutzen.24 Beispiele für eine solche Formulierung sind: „Alle idealen Gase verhalten sich entsprechend der Gleichung pV=RT" oder „Alle Wasserstoffatome verhalten sich gemäß der Schrödingergleichung mit Coulombpotential" etc. Diese Rekonstruktion der Naturgesetzformulierung rückt in den Blickpunkt, daß Aussagen über das Verhalten physikalischer Systeme getroffen werden. So gefaßt ist das ideale Gasgesetz nicht die Gleichung pV=RT, sondern die Behauptung, daß eine bestimmte Klasse von Gegenständen sich gemäß dieser Gleichung verhält. Der Begriff des physikalischen Systems ist demzufolge so zu verstehen, daß im Falle eines Masseteilchens im Gravitationsfeld, nicht das Masseteilchen, sondern das Masseteilchen zusammen mit dem Gravitationsfeld das physikalische System bildet. Naturgesetze behaupten, daß eine Beschreibung auf einen Bereich von physikalischen Gegenständen zutrifft. Formal läßt sich diese Formulierung wie folgt darstellen: Für alle y: wenn K(y), dann Σ (ai, ...am, xi?,... xn>)
(Ν)
Dabei steht y für die einzelnen physikalischen Systeme, K(y) für den Anwendungsbereich und Σ (ai, ...am, xi y ,... xny) für eine Eigenschaft die auf die y aus K(y) zutrifft, a die Konstanten und x? die Variablen des Systems. So ist etwa y ein bestimmtes ideales Gas, a
24 Ich orientiere mich an Scheibe 1995, Scheibe 1991a und 1991b.
Scheibe
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2. Idealisierungen
die Gaskonstante R, xi? bis sind die Variablen V (Volumen), ρ (Druck) und Τ (Temperatur) und Σ (R, Vx, p?, T>) beschreibt den Zusammenhang pV=RT, der auf das fragliche Gas zutrifft. Eine Schwierigkeit, die durch diese Formulierung deutlich wird, betrifft die Frage, wie sich der Gegenstandsbereich, auf den die Gleichung pV=RT zutrifft, auszeichnen läßt, ohne auf das Wissen rekurrieren zu können, daß sich die fraglichen Systeme dieser Gleichung entsprechend verhalten. Woher weiß ich, was ideale Gase sind, wenn ich nicht schon zuvor weiß, daß diese Systeme der in Frage stehenden Gleichung genügen? Welcher Begriffe und Methoden bedient man sich, um eine Zuordnung von physikalischen Systemen zu dem Anwendungsbereich einer physikalischen Theorie vorzunehmen? Ich erwähne dieses Problem hier, weil ich im folgenden darauf zurückkommen werde, ohne allerdings eine Lösung anbieten zu können. Das Ziel einer vereinheitlichten Beschreibung physikalischer Systeme besteht in einem Streben nach Theorien oder Beschreibungen, unter die möglichst viele physikalische Systeme fallen. Das vorgeschlagene Ziel betrifft also das Verhältnis von Beschreibung und Anwendungsbereich derselben. Von zwei Theorien leistet diejenige einen größeren Beitrag zu einer vereinheitlichten Beschreibung physikalischer Systeme, deren Anwendungsbereich der größere ist. Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, das Ziel der Vergrößerung des Anwendungsbereiches von Beschreibungen zu realisieren. Es kann einerseits eine Theorie oder Beschreibung durch eine andere, die einen größeren Anwendungsbereich besitzt, ersetzt werden und andererseits ist es möglich - bei vorgegebener Theorie oder Beschreibung - an den Methoden und Begriffen, mit Hilfe derer man eine Zuordnung von physikalischen Systemen zum Anwendungsbereich einer Beschreibung oder Theorie vornimmt, eine Modifikation vorzunehmen. Es kann also - um auf die Formel (N) zurückzugreifen - entweder das Σ durch ein Σ' ersetzt werden und infolgedessen das Κ durch ein K' oder es kann direkt das Κ durch
25 Die Größe eines Anwendungsbereiches zu definieren, ist ein Problem, das ich hier nicht behandeln kann.
2.3 Idealisierungen und das Ziel der Physik
111
ein K * ohne gleichzeitige Änderung des Σ ersetzt werden. Idealisierungen, so will ich vorschlagen, lassen sich dadurch verständlich machen, daß man sie im Sinne dieser zweiten Möglichkeit als Beiträge zu einer vereinheitlichten Beschreibung physikalischer Systeme auffaßt. Bei der ersten Möglichkeit, das Ziel der vereinheitlichten Beschreibung physikalischer Systeme zu realisieren, geht es darum, Theorien mit einem bestimmten Anwendungsbereich durch solche mit einem größeren Anwendungsbereich zu ersetzen. So können z. B. die Theorien Ti und T2 durch eine Theorie T3 ersetzt werden, deren Anwendungsbereich sowohl denjenigen von Ti als auch den von T2 umfaßt. Wenn die geometrische Optik und die Webersche Elektrodynamik durch die Maxwellsche Elektrodynamik ersetzt werden, so erhalten wir eine Theorie, die einen größeren Anwendungsbereich als die zuvorgenannten besitzt und insofern einen Beitrag zu einer vereinheitlichten Beschreibung physikalischer Systeme leistet. Die hier geschilderte Episode kann natürlich auch als ein Beispiel für das schon diskutierte Ziel der Einheit der Physik benutzt werden. Das Ziel der vereinheitlichten Beschreibung physikalischer Systeme unterscheidet sich von dem Ziel der Einheit der Physik dadurch, daß es neben der soeben geschilderten Möglichkeit, noch eine weitere, die schon erwähnte zweite Möglichkeit, es zu realisieren, gibt. Diese zweite hier zu diskutierende Möglichkeit, die die Zuordnung physikalischer Systeme zum Anwendungsbereich gegebener Theorien betrifft, ist kein Beitrag zur Realisierung des Ziels der Einheit der Physik, da letzteres das Verhältnis aufeinanderfolgender physikalischer Theorien zueinander betrifft. Eine Vergrößerung des Anwendungsbereiches ergibt sich hier nur als Folge der Ersetzung einer Theorie durch eine andere. Das Ziel der vereinheitlichten Beschreibung physikalischer Systeme dagegen schließt auch die Möglichkeit einer Variation der Zuordnungen zum Anwendungsbereich von Theorien - ohne daß an diesen selbst eine Änderung vorgenommen würde - ein, ist also allgemeiner als das Ziel der Einheit der Physik. Vor der Diskussion der zweiten Möglichkeit, das genannte Ziel zu realisieren, ist noch einmal auf das schon im Zusammenhang mit den Popperschen Zielvorschlägen diskutierte Verhältnis der
112
2. Idealisierungen
Newtonschen zu den Galileischen und Keplerschen Gesetzen einzugehen. Es ging in diesem Fall nicht bloß um eine Ersetzung, sondern auch um eine Verbesserung der beiden anderen Gesetze durch die Newtonschen. Das bedeutet, daß mit dem Akzeptieren der Newtonschen Theorie die Erkenntnis einherging, daß die Keplerschen Gesetze und das Galileische - im Sinne unserer eingangs dieses Kapitels eingeführten Terminologie - Annahmen sind, die sich als falsch herausgestellt haben. Es ist also nicht etwa so, daß Newton durch das Zurücknehmen von Idealisierungen einen Beitrag zu einer vereinheitlichten Beschreibung geleistet hat, denn das hätte vorausgesetzt, daß Galilei und Kepler sich der Unzulänglichkeit ihrer eigenen Gesetze bewußt gewesen wären. Aber selbst wenn man diese Verbesserungen als Deidealisierungen betrachten wollte, wären diese Vorgehensweisen nicht wesentlich für die Herstellung einer vereinheitlichen Beschreibung. Denn der Beitrag, den die Newtonsche Theorie zu einer Vereinheitlichung beigetragen hätte, wenn die Keplerschen und die Galileischen Gesetze (im Sinne der empirischen Angemessenheit) nicht hätten verbessert werden müssen, wäre der gleiche geblieben. Entscheidend ist nämlich, daß die jeweiligen Anwendungsbereiche in denjenigen der Newtonschen Theorie integriert wurden. Die zweite Möglichkeit, sich Theorien mit einem möglichst großen Anwendungsbereich zu verschaffen, besteht darin, nicht etwa an der Theorie oder Beschreibung Σ , sondern an der Zuordnung physikalischer Systeme zum Anwendungsbereich Κ einer Theorie oder Beschreibung eine Modifikation vorzunehmen. Ich hatte schon auf die Schwierigkeit hingewiesen, die damit verbunden ist, sich zu verdeutlichen, wie ein solcher Anwendungsbereich überhaupt auszuzeichnen ist. Mein Vorschlag, daß Idealisierungen dazu beitragen, diesen Anwendungsbereich zu vergrößern, ist daher insofern mit einer Schwierigkeit behaftet, als eine umfassende Beschreibung, wie ein solcher Anwendungsbereich im allgemeinen festzulegen ist, noch aussteht. Soviel zu dem Problem, die Begriffe und Methoden im allgemeinen zu bestimmen, mit deren Hilfe der Anwendungsbereich einer Theorie festgelegt wird. Im folgenden werde ich - in der Hoffnung, daß die weiteren Ausführungen nicht von einer Lösung desselben
2.3 Idealisierungen und das Ziel der Physik
113
abhängen - nicht weiter auf es eingehen. Ich werde also voraussetzen, daß wir ideale Gase, van der Waals-Gase, ideale Kristalle, amorphe Festkörper etc. ohne Schwierigkeiten auszuzeichnen vermögen. Die Behauptung, ideale Kristalle ließen sich durch die statistische Mechanik unter Verwendung eines spezifischen Hamiltonoperators beschreiben, trifft auf keine anderen Gegenstände als auf ideale Kristalle zu. Idealisierungen sind Maßnahmen, die andere physikalische Systeme, die keine idealen Kristalle sind, als ideale Kristalle beschreiben und somit dem Anwendungsbereich des entsprechenden Naturgesetzes zuordnen. Diese physikalischen Systeme werden so betrachtet, als ob sie ideale Kristalle seien.26 Ein idealer Kristall hat keine Ränder, das Potential, das die Dynamik der Bausteine des Kristalls bestimmt, ist quadratisch, usw. Durch die Idealisierungen werden physikalische Systeme so dargestellt, als träfe all dies auf sie zu. Wir fuhren Idealisierungen durch, die uns Beschreibungen von physikalischen Systemen derart liefern, daß diese dem Anwendungsbereich vorhandener Theorien (oder Lösungsschemata (darauf werden wir noch ausfuhrlicher eingehen)) zugeordnet werden können. Bisher haben wir festgestellt, daß Idealisierungen einerseits dazu dienen, mathematisch einfach zu handhabende Beschreibungen physikalischer Systeme zu ermöglichen, und andererseits dazu, den Anwendungsbereich einer Theorie oder eines Naturgesetzes zu vergrößern und mithin zu einer vereinheitlichten Beschreibung beizutragen. Somit stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen mathematischer Handhabbarkeit und vereinheitlichter Beschreibung physikalischer Systeme. Eine Antwort erhält man, wenn man den Begriff der einfachen mathematischen Handhabbarkeit zu erläutern versucht. Die bereits zitierte Äußerung von Ashcroft und Mermin gibt den entscheidenden Hinweis:
26 Darauf, daß Idealisierungen diesen „als ob"-Charakter besitzen, hat Cartwright hingewiesen Cartwright 1983, S. 129; siehe auch Scheibe 1991b.
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2. Idealisierungen
It leads to a simple theory - the harmonic^approximation precise quantitative results can be extracted.
- from which
Eine Beschreibung eines physikalischen Systems ist dann mathematisch einfach zu handhaben, wenn sich das Verhalten des Systems durch bekannte Hamiltonoperatoren, wie ζ. B. denjenigen für den harmonischen Oszillator oder für ein Ensemble derselben, darstellen läßt. Entweder verweist die mathematisch einfache Handhabbarkeit also auf die Zuordenbarkeit des fraglichen physikalischen Systems zum Anwendungsbereich eines bereits bekannten Naturgesetzes oder aber auf die Zuordenbarkeit zum Anwendungsbereich eines hösungsschemas. Mit der zweiten Alternative ist folgendes gemeint: Wenn ein physikalisches System als mit einem quadratischen Potential ausgestattet beschrieben wird, dann ist offensichtlich, daß sich der Hamiltonoperator für den harmonischen Oszillator verwenden läßt, selbst wenn noch keine Übereinkunft darüber getroffen wurde, wie die einzelnen Variablen und Konstanten zu interpretieren sind. Es wird dabei von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, den harmonischen Oszillator ganz unterschiedlich zu interpretieren. Im Falle des Quarzkristalls sind es Ionen, die oszillieren, manchmal sind es Molekülgruppen usw.28 Wegen der noch fehlenden Interpretation kann in einem solchen Fall nicht von der Zuordnung zum Anwendungsbereich eines gegebenen Naturgesetzes gesprochen werden, sondern allenfalls von der Zuordnung zum Anwendungsbereich eines noch zu explizierenden Naturgesetzes und insofern zum Anwendungsbereich eines Lösungsschemas. Auch Cartwright vertritt die hier vorgeschlagene Meinung, daß die Idealisierungen, die der mathematischen Handhabbarkeit dienen, einer vereinheitlichten Beschreibung physikalischer Systeme durch die Theorie Vorschub leisten. Die idealisierenden Maßnahmen ermöglichen es nämlich, Probleme unter bekannte Hamiltonoperatoren und somit unter vorhandene Naturgesetze oder Lösungsschemata zu subsumieren. 27 Ashcroft, Mermin 1976, S. 422 28 Beispiele finden sich in: Cohen-Tannoudji, Diu, Laloe 1977, Band I, S. 511 bis 528.
2.3 Idealisierungen und das Ziel der Physik
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A model is a work of fiction. Some properties ascribed to objects in the model will be genuine properties of the objects modelled, but others will be merely properties of convenience. [...] they are introduced into this model as a convenience, to bring the objects modelled into the range of the mathematical theory.
Daß durch Idealisierungen eine solche Zuordnung zum Anwendungsbereich von Naturgesetzen befördert wird, kann man sich durch die Betrachtung der Alternative zur Verwendung dieser Idealisierungen verdeutlichen. Die Alternative besteht darin, die genannten Maßnahmen nicht durchzufuhren und stattdessen von Voraussetzungen auszugehen, die mit allem Wissen, das wir ansonsten besitzen, im Einklang sind, um dann eine mathematische Theorie zu suchen oder zu entwickeln, die diesem schwierigeren Problem gerecht wird. Um an das Beispiel des vorhergehenden Abschnittes anzuschließen: Man könnte darauf verzichten, die Summation durch eine Integration zu ersetzen, die Taylorentwicklung nach dem quadratischen Term abzubrechen, oder die Voraussetzung, der Kristall hätte keine Ränder, fallen lassen. Diese Alternative zu realisieren bedeutete, auf Idealisierungen zugunsten empirisch angemessener Beschreibungen zu verzichten. Zugleich verspielten wir damit aber auch die Möglichkeit, das betrachtete physikalische System dem Anwendungsbereich der Theorie des (idealen) harmonischen Kristalls zuordnen zu können. Das System würde also nicht beschrieben, als ob es ein harmonischer Kristall wäre. Eine erste Schwierigkeit, die sich ergibt, ist die mangelnde mathematische Handhabbarkeit des exakt charakterisierten physikalischen Systems. Das bedeutet, daß ein geeigneter Hamiltonoperator, der das Verhalten eines solchen Systems beschreiben könnte, für einen solchen Fall vermutlich nur mit Mühe zu konstruieren ist. Bediente man sich der exakten Anfangsbedingungen und wendete von dort ausgehend die statistische Quantenmechanik an, um einen Ausdruck für das Verhalten des Untersuchungsgegenstandes zu bekommen, gäbe es jedoch nicht nur die Schwierigkeit, vor möglicherweise zunächst nicht zu lösenden mathematischen Problemen zu stehen. Es entstünde weiterhin das Problem, daß für 29 Cartwright 1983, S. 153.
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2. Idealisierungen
jeden Untersuchungsgegenstand, an dem eine spezifische Wärme gemessen wird, eine gänzlich neue Rechnung angestellt werden müßte. Man erhielte eine Vielzahl von Gesetzen, deren Anwendungsbereiche möglicherweise nicht mehr als ein einziges physikalisches System umfaßten. Wenn man sich dagegen Idealisierungen wie der Voraussetzung des quadratischen Potentials bedient, dann wird damit gewährleistet, daß sich der Untersuchungsgegenstand als harmonischer Kristall und damit als eine Sammlung harmonischer Oszillatoren betrachten läßt. Anstelle der exakten Berechnung des Verhaltens eines einzelnen Gegenstandes tritt ein idealisiertes Modell, das sich auf eine Vielzahl von Fällen anwenden läßt. Eine mathematisch einfach zu handhabende Beschreibung ist also als Beitrag zu einer vereinheitlichten Beschreibung physikalischer Systeme aufzufassen. Hinsichtlich der verschiedenen Idealisierungen möchte ich nun zeigen, in welchem Sinne sie einen Beitrag zu einer vereinheitlichten Beschreibung physikalischer Systeme liefern. Als erstes sei die Datenextrapolation genannt. An die Stelle einer endlichen Anzahl von Meßpunkten setzen wir eine kontinuierliche mathematische Funktion, die häufig nicht einmal durch alle Meßpunkte geht. Diese Funktionen zeichnen sich typischerweise durch niedrige ganzzahlige Exponenten oder durch exponentielles Verhalten aus. Selten findet man Abhängigkeiten der Form x=y1,07. Wenn derartige Abhängigkeiten doch einmal angegeben werden, so werden sie als lineare Abhängigkeit mit einer zusätzlich wirksamen Störung aufgefaßt. Für phänomenologische Gesetzmäßigkeiten, die Zusammenhänge durch Funktionen mit niedrigen ganzzahligen Exponenten oder durch Exponentialfunktionen beschreiben, stehen häufig Naturgesetze, unter die sie subsumiert werden können, oder Lösungsschemata bereits bereit. Diese Beobachtung hat auch R. Harre gemacht: Generalizations having these characteristics are clearly easier to fit into deductively related systems than general descriptive expressions based on exactness. According to the same principle the simpler the genera-
2.3 Idealisierungen und das Ziel der Physik
117
lization the more likely it is to have analogues both in the form of other established generalizations and of simple models. Solche Extrapolationen und Berichtigungen von Daten werden nicht willkürlich durchgeführt. Der Extrapolation liegt die Erfahrung zugrunde, daß man dann, wenn man z. B. bei der spezifischen Wärme zwischen zwei Meßpunkten, d. h. also zwischen zwei Temperaturwerten, eine weitere Messung vornimmt, einen weiteren Meßpunkt erhält. Die Datenberichtigung beruht auf der Auffassung, man könne zwischen verschiedenen Beiträgen zu einem Meßpunkt unterscheiden, zwischen dem eigentlichen Signal und einer Störung. Dazu mehr in Kapitel 3. Eine weitere Möglichkeit, einen Beitrag zu einer vereinheitlichten Beschreibung zu leisten, ergibt sich durch die an dieser Stelle bislang nicht diskutierte Abstraktion von physikalischen Systemen. Da diese in Kapitel 3 eingehend behandelt wird, sei ihr Beitrag zur vereinheitlichten Beschreibung hier nur kurz angedeutet. Eine Abstraktion physikalischer Systeme, wie z. B. die Aufteilung der Berechnung der spezifischen Wärme in drei Anteile im Falle des metallischen amorphen Festkörpers, eröffnet die Möglichkeit, die nunmehr getrennt zu betrachtenden Teilsysteme des Gesamtsystems dem Anwendungsbereich bekannter Naturgesetze zuzuordnen. So wird der metallische Festkörper in einen kristallinen Anteil und einen elektronischen Anteil aufgeteilt, die dem Anwendungsbereich des harmonischen Kristalls und des Elektronengases angehören. Die Voraussetzungen, die mit einer solchen Aufteilung des Gesamtverhaltens verbunden sind, werden im nächsten Kapitel behandelt. Bei Abstraktionen von Eigenschaften, Idealisierungen im engeren Sinne, ganz ähnlich wie bei Vereinfachungen und Vernachlässigungen sind es oft ganz naheliegende Vorteile hinsichtlich der einfachen mathematischen Handhabbarkeit, die diese zur Folge haben. So hat die Vernachlässigung von Termen höherer Ordnung die harmonische Näherung ermöglicht usw.
30 Harré 1989, S. 189.
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2. Idealisierungen
2.3.3 Idealisierungen und empirische Angemessenheit Bisher mag der Anschein erweckt worden sein, als könne man Idealisierungen beliebig durchführen, nur um den Anwendungsbereich von Theorien zu vergrößern. Das ist natürlich nicht der Fall. Vielmehr spielt die empirische Angemessenheit gleichfalls eine bedeutende, wenn auch nicht immer die dominierende Rolle. Die empirische Angemessenheit ist also bei der Theorienwahl durchaus ein Kriterium, kann aber der vereinheitlichten Beschreibung untergeordnet werden. In einem solchen Fall wird dann häufig der Begriff der Näherung verwandt. Idealisierungen gelten als legitim, wenn das Resultat der Gesamtrechnung näherungsweise empirisch angemessen ist. So heißt es in einem Buch über allgemeine Relativitätstheorie von J. L. Synge: Approximations based on the neglect o f small terms are very frequent in mathematical physics, and there is seldom any reason to object to them. O n e feels that if there is anything wrong, it will show up in some anomaly, and then one can revise the theory.
Synge kann hier nicht meinen, daß jede noch so kleine Abweichung von der empirischen Angemessenheit eine solche „Anomalie" ist das haben unsere Untersuchungen gezeigt und das legt auch der Begriff „Näherung" nahe. Aber eine beliebig weite Abweichung der Konsequenzen, die sich aus der Theorie ergeben, von den gemessenen, phänomenologischen Gesetzen wird auch nicht erlaubt sein. Es ist vermutlich in jedem Einzelfall eine Abwägung zwischen dem Grad an empirischer Angemessenheit und dem Beitrag zur Vereinheitlichung der Theorie durchzuführen.32 Das Ergebnis einer derartigen Beurteilung wird von pragmatischen Gesichtspunkten abhängig sein. Auch wenn Idealisierungen durchgeführt werden, muß innerhalb eines von pragmatischen Gesichtspunkten abhängigen Rahmens die empirische Angemessenheit der Theorie gewährleistet 31 32
Zitiert nach Laymon 1984, S 1 1 5 . W e n n ich v o n Graden empirischer Angemessenheit rede, dann verw e n d e ich den Begriff der empirischen Angemessenheit anders als van Fraassen, für den eine Theorie nur entweder empirisch angemessen oder unangemessen sein kann.
2.3 Idealisierungen und das Ziel der Physik
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sein.33 Häufig wird dieser Rahmen durch die Angabe von Einschränkungen der Theorie auf bestimmte Bereiche abgesteckt: Die Vernachlässigung von Potentialtermen dritter Ordnung setzt die Annahme kleiner Auslenkungen voraus und gilt daher nur für niedrige Temperaturen. Der Begriff der Näherung erlaubt es, Idealisierungen im engeren Sinne, Vereinfachungen und Vernachlässigungen als legitime Maßnahmen zu charakterisieren, da sie sich durch diesen Begriff in gängige Theorienkonzeptionen integrieren lassen.34 Als ein Beispiel einer solchen Untersuchung möchte ich den Beitrag von Niiniluoto vorstellen, der sich ohne größeren technischen Aufwand darstellen läßt. Mit Hilfe seines Begriffs der Näherung lassen sich die genannten Idealisierungen in das D-N-Modell der Erklärung integrieren. Theorien, die auf Idealisierungen im engeren Sinne, Vereinfachungen und Vernachlässigungen zurückgreifen, können der Konzeption von Niiniluoto zufolge (näherungsweise) ζ. B. Gesetze erklären. Die genannten Maßnahmen sind dann insofern als legitim zu betrachten, als dem Kriterium der angenäherten empirischen Angemessenheit genügen. Niiniluoto legt für seine Betrachtungen einen Zustandsraum zugrunde, in dem jeder Punkt ein mögliches physikalisches System charakterisiert. Auf einem solchen Zustandsraum definiert er eine Metrik, die es erlaubt, verschiedene physikalische Systeme hinsichtlich ihrer Ähnlichkeit zu vergleichen. Naturgesetze definieren Unterräume in diesem Zustandsraum. Reale physikalische Systeme, die diesen Naturgesetzen gehorchen, sind auf die entsprechenden Unterräume eingeschränkt. Es läßt sich durch die Metrik auch ein Ab33 Diese Überlegungen beziehen sich ausschließlich auf die Idealisierungen im engeren Sinne, Vereinfachungen, Vernachlässigungen usw., nicht aber auf die in Kapitel 3 zu diskutierenden Abstraktion physikalischer Systeme. Dazu siehe Abschnitt 3.1. 34 Beiträge verschiedener Autoren zu diesem Thema sind erschienen in: Hartkämper, Schmidt 1981. Siehe auch Balzer, Moulines, Sneed 1986, Kap. 7. Eine ausfuhrliche Darstellung, wie sich Idealisierungen in die sogenannte „received view", in die semantische Theorienauffassung und in den Strukturalismus Sneeds und Stegmüllers integrieren lassen, findet man in Haase 1995.
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2. Idealisierungen
stand dieser Unterräume voneinander definieren. Nun kann man expidieren, wann eine Theorie Τ ein Gesetz näherungsweise erklärt: A theory Τ approximately explains a law if and only if Τ explains an approximate counterpart of the law. Dabei greift Niiniluoto, um den Begriff des angenäherten Gegenstücks eines Gesetzes zu erläutern, auf die Formulierung „hinreichend kleiner Abstand" zurück: Two quantitative laws are approximate counterparts to each other if their distance is sufficiently small. Diese Überlegungen stellen eine Möglichkeit dar, den Begriff der angenäherten Erklärung und damit den Begriff der näherungsweisen empirischen Angemessenheit zu präzisieren. Die Unzulänglichkeit dieser und ähnlicher Überlegungen zum Begriff der Näherung besteht darin, daß sie - auf sich allein gestellt - keine Auskunft darüber geben, weshalb wir uns der Idealisierungen überhaupt bedienen. Es besteht noch Erklärungsbedarf hinsichtlich der Frage, weshalb die empirische Angemessenheit einem anderen Kriterium untergeordnet werden kann. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Idealisierungen im engeren Sinne, Vernachlässigungen usw. einen Beitrag zu einer vereinheitlichten Beschreibimg leisten dürfen, solange gewährleistet ist, daß die Theorien näherungsweise empirisch angemessen sind. Was in diesem Zusammenhang „näherungsweise" oder „hinreichend klein" bedeutet, hängt von pragmatischen Überlegungen ab. Der Näherungsgrad ist bei gleichbleibendem Beitrag zur Vereinheitlichung ein Indiz für die Legitimität der jeweiligen Idealisierungsmaßnahme. Das Abweichen von der empirischen Angemessenheit wird gegen den Beitrag, den eine Maßnahme zur empirischen Angemessenheit leistet, aufgerechnet. Die Abweichung von der empirischen Angemessenheit wird also durchaus als Deficit in Rechnung gestellt. Dies ist ein eindeutiges Indiz dafür, daß die entsprechenden Ideali35 Niiniluoto 1986, S. 271. 36 Niiniluoto 1986, S. 269.
2.3 Idealisierungen und das Ziel der Physik
121
sierungsmaßnahmen nicht als Beiträge aufgefaßt werden, die zu einer wahren Beschreibung physikalischer Systeme ¿/«fuhren. Die in diesem Abschnitt diskutierten Idealisierungen sind also im Sinne Cartwrights und nicht im Sinne Galileis zu verstehen (vgl. Beginn von Abschnitt 2.3).
2.3.4 Idealisierung und Deidealisierung Mit dem Begriff der Deidealisierung ist die Zurücknahme von Idealisierungen gemeint. Diese gilt es nicht mit Fällen zu verwechseln, in denen Annahmen, die sich als falsch herausgestellt haben, durch andere ersetzt werden. Typisch ist der folgende Fall: Eine Idealisierung wird zurückgenommen, weil sich inzwischen eine Möglichkeit ergeben hat, das Problem auch ohne die entsprechende Idealisierung zu lösen. Es wird dann - ohne die fragliche Idealisierung - die Einordnung des physikalischen Systems in den Anwendungsbereich einer anderen Theorie vorgenommen. Ein Beispiel ist die spezifische Wärme des harmonischen Kristalls. In diesem Fall wurde die Debyetheorie durch die sogenannte Gittertheorie ersetzt.37 Dazu ist zweierlei zu bemerken. Erstens macht die Gittertheorie bloß eine einzige Idealisierung rückgangig. Lediglich das Frequenzspektrum der Phononen wird geändert. Die Gittertheorie nimmt also die Idealisierung zurück, daß Phononen einer linearen Dispersionsrelation unterliegen. Alle anderen hier aufgezählten Maßnahmen bleiben durch diese Verbesserung unangetastet. Die Gittertheorie stellt aufgrund des weniger einfachen Frequenzspektrums einen komplexeren Zusammenhang zwischen den verschiedenen physikalischen Größen als die Debyetheorie her, ist dafür aber in höherem Maße empirisch angemessen. In diesem Fall wird also die empirische Angemessenheit der einfachen Handhabbarkeit vorgezogen, und das mag pragmatischen Gesichtspunkten geschuldet sein. Interessant an diesem Fall ist aber, und das muß als zweites bemerkt werden, daß die Debyetheorie durch die Gittertheorie nicht wirklich verdrängt wurde. Sie findet vielmehr wei-
37 Siehe Becker 1985, S. 239ff.
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2. Idealisierungen
terhin auch neben der Gittertheorie Verwendung. Das deutet darauf hin, daß der integrative Beitrag, der durch die einfachere Handhabbarkeit derselben geleistet wird, auch dann noch geschätzt wird, wenn die Idealisierung rückgängig gemacht werden kann. Je nach pragmatischem Bedürfnis wird ein gegebenes physikalisches System als ein solches beschrieben, das zu dem Anwendungsbereich der Debyetheorie, oder als ein solches, das dem Anwendungsbereich der Gittertheorie zuzuordnen ist. Diesen beiden Zuordnungsmöglichkeiten entspricht die jeweils verschiedene Bewertung der Kriterien der empirischen Angemessenheit und der vereinheitlichten Beschreibung. Es gibt einen weiteren Fall von Verbesserungen von Theorien in bezug auf die empirische Angemessenheit. Dabei handelt es sich um die Störungsrechnung. Diese geht davon aus, daß es zusätzlich zu einem bereits berechneten Beitrag zu dem zu erklärenden Verhalten eines physikalischen Systems noch einen weiteren Beitrag gibt, die sogenannte Störung. Die ursprüngliche Rechnung wird nicht revidiert, sondern ergänzt. Die Idealisierungen werden also nicht zurückgenommen. Zugrunde liegt die Auffassung, man könne bei einem Phänomen, das es zu erklären gilt, verschiedene Beiträge unterscheiden. Wenn nun eine Rechnung zu empirisch unangemessenen Resultaten gelangt, z. B. die Berechnung der spezifischen Wärme des amorphen Festkörpers durch das Modell des harmonischen Kristalls, dann lassen sich die Idealisierungen, die in das Modell eingeflossen sind, dadurch beibehalten, daß eine Störung, also ein weiterer Faktor, der zu einem zusätzlichen Beitrag führt, angenommen wird. In unserem Beispiel sind das die Tunnelsysteme (siehe Kapitel 3). Dieser Verbesserungsstrategie hegt die Möglichkeit der Abstraktion physikalischer Systeme zugrunde, mit der sich das nächste Kapitel ausfuhrlich befassen wird.
2.3.5 Das vorläufige Ziel der vereinheitlichten Beschreibung im Verhältnis anderen Zielvorschlägen In diesem Abschnitt geht es darum, den Teil meiner Untersuchungen zum Ziel der Physik, der die Zurückweisung traditioneller Ziel-
2.3 Idealisierungen und das Ziel der Physik
123
vorschlage betrifft, durchzufuhren. Es ist nicht nur so, daß diese Vorschläge den Ausschnitt der physikalischen Praxis, der in diesem Kapitel diskutiert wurde, nicht zu erklären vermögen (wie im Falle des Vorschlags von Ellis). Vielmehr zeigt sich darüber hinaus, daß sie durch die Praxis der Idealisierungen als Ziel der Physik definitiv ausgeschlossen werden können, weil diese Praxis das Umsetzen einer notwendigen Bedingung der traditionellen Vorschläge - der empirischen Angemessenheit nämlich - verhindert. Es hat sich gezeigt, daß die Idealisierungen - mit Ausnahme der Isolation und der Herstellung von Untersuchungsgegenständen, mit denen sich, neben der Abstraktion, das nächste Kapitel befaßt sich durch das Ziel einer vereinheitlichten Beschreibung erklären lassen. Wie verhält sich dieses Ziel nun zu den in Kapitel 1 vorgeschlagenen anderen Kandidaten für das Ziel der Physik? Als erstes gilt es die vereinheitlichte Beschreibung zu dem Ziel der empirischen Angemessenheit in Beziehung zu setzen, denn es hatte sich gezeigt, daß das Ziel der empirischen Angemessenheit für viele in Kapitel 1 erörterten Ziele eine notwendige Bedingung darstellt, insbesondere natürlich für den Vorschlag der empirischen Angemessenheit selbst. Im Falle des Ziels der Wahrheit in der Formulierung von van Fraassen war dies deshalb relevant, weil das, was er „Wahrheit" nennt, mit empirischer Angemessenheit im Bereich des Beobachtbaren zusammenfallt. Eine Erklärung im Sinne Duhems war eine Ableitung der experimentellen Gesetze aus metaphysischen Annahmen und mußte deshalb empirisch angemessen sein. Auch das Ziel der naturgemäßen Klassifikation bei Duhem setzte empirische Angemessenheit im Sinne der Ableitung der experimentellen Gesetze aus Prinzipien oder obersten Hypothesen voraus. Dank seines Erklärungsbegriffs ist auch für Poppers Vorschlag der zu maximierenden Erklärungskraft die empirische Angemessenheit notwendige Bedingung. Das explicandum (das sind die Sätze, die erklärt werden sollen, zu denen auch die Basissätze und darauf sich beziehende experimentelle oder phänomenologischen Gesetzmäßigkeiten gehören) muß nämlich aus dem explicans logisch folgen. Auch das Ziel der Einheit der Physik in der Fassung von v. Weizsäcker fällt in diese Rubrik, erhebt er doch den Anspruch, daß jede
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2. Idealisierungen
Linie des Eisenspektrums (empirisch angemessen) abgeleitet werden soll. Wenn die Realisierung der Theorietugend der empirischen Angemessenheit nun für all diese Zielvorschläge eine notwendige Bedingung darstellt, dann darf es keinen Gesichtspunkt oder keine andere Theorietugend geben, der die empirische Angemessenheit im Konfliktfalle unterliegen könnte, wie wir in Kapitel 1 zeigten.38 Das betrifft selbstverständlich auch das Ziel der empirischen Angemessenheit selbst. Idealisierungen dienen dazu, physikalische Systeme dem Anwendungsbereich von Naturgesetzen oder entsprechender Schemata zuzuordnen. Zu diesem Zweck beschreiben sie ein physikalisches System, als ob es ζ. B. ein idealer Kristall sei. Es wird wissentlich in Kauf genommen, daß, obwohl das fragliche reale System selbstverständlich Ränder besitzt, es als ein solches ohne Ränder beschrieben wird. Bei der Verwendung der in Abschnitt 2.3 diskutierten Idealisierungen wird also - darauf wurde schon hingewiesen - das Kriterium der empirischen Angemessenheit zugunsten einer vereinheitlichten Beschreibimg zurückgestellt. Der Tugend der empirischen Angemessenheit wird eine andere vorgezogen, die wir zuvor als „vereinheitlichte Beschreibung" bezeichnet hatten. Dies widerspricht eindeutig der Forderung van Fraassens, daß keine andere Tugend der empirischen Angemessenheit vorgezogen werden dürfe. Mit anderen Worten: Das Ziel der vereinheitlichten Beschreibung ist mit all den Zielen, die empirische Angemessenheit als notwendige Bedingung voraussetzen, nicht zu vereinbaren. Zielvorschläge, die die empirische Angemessenheit nicht als notwendige Bedingung voraussetzen, können mit der vereinheitlichten Beschreibimg durchaus verträglich sein, denn der Vorschlag der vereinheitlichten Beschreibung physikalischer Systeme ist insofern
38 Falls es mehrere Theorietugenden geben sollte, deren Realisierung jeweils notwendige Bedingung für ein bestimmtes Ziel sind, dürfen diese nicht in einen Konflikt zueinander geraten, da andernfalls der Zielvorschlag inkonsistent wäre. Also auch der Fall, in dem es mehrere Theorietugenden gibt, könnte ein Vergehen gegen die empirische Angemessenheit nicht entschulden.
2.3 Idealisierungen und das Ziel der Physik
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unterbestimmt, als sich nicht ausschließen läßt, daß sie bloß Mittel zu einem anderen Zweck ist. Eine Anzahl von Vorschlägen für solche „höheren Ziele" stammt von Cartwright. Das Ziel der vereinheitlichten Beschreibimg kann ihr zufolge als Mittel zum Zweck der Steigerung der Erklärungskraft einer Theorie verstanden werden: T h e aim is to cover a wide variety of different phenomena with a small number of principles [...]. It is no theory that needs a new Hamiltonian for each new physical circumstance. The explanatory power o f quantum theory comes from its ability to deploy a small number o f wellunderstood Hamiltonians to cover a wide range of cases. But this explanatory power has its price. If we limit the number o f Hamiltonians, that is going to constrain our abilities to represent situations realistically.
Mit der realistischen Repräsentation von Situationen ist hier die empirische Angemessenheit gemeint. Das Bemühen um eine Einheit ist in ihrer Sicht integraler Bestandteil des Bemühens um eine große Erklärungskraft einer Theorie. Die Steigerung der Erklärungskraft von Theorien betrachtet Cartwright also als ein Ziel, das erklärt, weshalb wir das Ziel der vereinheitlichten Beschreibung anstreben. Die Fähigkeit, mit einer geringen Anzahl von Hamiltonoperatoren, eine Vielzahl von Fällen zu beschreiben, nennt Cartwright auch „generality". Damit meint sie das, was ich zuvor „vereinheitlichte Beschreibung" genannt habe. Diese läßt sich auch als Mittel zu anderen Zwecken beschreiben: Als eine weitere Möglichkeit fuhrt Cartwright die technische Verwertbarkeit an, ohne genau zu spezifizieren, was damit gemeint ist: Generality and simplicity are the substance of explanation. But they are also crucial to application. In engeneering one wants laws with a reasonably wide scope, models that can be used first in one place then another.
39 Cartwright 1983, S. 139. 40 Cartwright 1983, S. 112.
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2. Idealisierungen
Man kann aber auch - so Cartwnght - die vereinheitlichte Beschreibung als notwendige Bedingung für das erfolgreiche Etablieren von Forschungstraditionen auffassen. Ihrer Meinung zufolge ergibt sich dieses Erfordernis, weil andernfalls keine Paradigmen im Sinne Kuhns entstünden, die aber für die Forschung unentbehrlich seien. The phenomena to be described are endlessly complex. In order to pursue any collective research, a group must be able to delimit the kinds of models that are even contenders. If there were endlessly many possible ways for a particular research community to hook up phenomena with intellectual constructions, model building would be entirely chaotic, and there would be no consensus of shared problems on which to work on. 41
Gemeinsam muß allen diesen Vorschlägen sein, daß die vereinheitlichte Beschreibung sich tatsächlich als ein Mittel erweist, das genannte Ziel herbeizuführen. Der praktische Syllogismus ist gewissermaßen ein zweites Mal anzuwenden. Selbst zum Ziel der Wahrheit könnte die vereinheitlichte Beschreibung ein Mittel sein. Es sollte dann allerdings nachgewiesen werden, daß die vereinheitlichte Beschreibung keine pragmatische, sondern eine semantische Tugend ist. Dieser Nachweis ist ein Desiderat für jeden Vertreter eines Theorienrealismus oder der Wahrheit als dem Ziel der Physik. Zu all diesen Möglichkeiten, das in diesem Kapitel vorgeschlagene, vorläufige Ziel der vereinheitlichten Beschreibung, als Mittel zu einem höheren Ziel zu begreifen, muß gesagt werden, daß die vorliegende Untersuchung keine Anhaltspunkte für oder gegen diese Vorschläge liefern kann. An dieser Stelle soll abschließend betont werden, daß es sich bei den vorgestellten Idealisierungen keineswegs um Idiosynkrasien der Theorie der spezifischen Wärme handelt. Meine Absicht war es, die Behauptungen, die ich aufgestellt habe, anhand eines Beispiels zu illustrieren, so wie man einen geometrischen Satz an einem bestimmten Dreieck illustrieren kann, ohne daß deshalb die Gültigkeit des Satzes auf dieses Dreieck beschränkt wäre. Wichtig dabei ist, daß nur auf allgemeine Züge des Beispiels Bezug genommen wird. Idealisierungen im engeren Sinne, Vereinfachungen etc. wie ich sie 41 Cartwnght 1983, S. 142/43
2.3 Idealisierungen und das Ziel der Physik
127
oben vorgestellt habe, treten nun aber überall in der Physik auf. Die Zurückstellung empirisch angemessener Beschreibungen zugunsten einer idealisierten Beschreibung, die im oben geschilderten Sinne zu einer Vereinheitlichung der Beschreibung beiträgt, ist daher ein systematischer Zug der Physik. Damit soll nicht behauptet werden, daß die empirische Angemessenheit grundsätzlich als eine zweitrangige Theorietugend behandelt wird, es sollte lediglich gezeigt werden, daß die empirische Angemessenheit zugunsten anderer Tugenden zurücktreten kann. Dies überzeugend gezeigt zu haben reicht nämlich aus, van Fraassens Vorschlag als unzureichend aufzuweisen. Festzuhalten bleibt also, daß es nicht das alleinige Ziel der Physik sein kann, empirisch angemessene Theorien zu konstruieren, weil die beschriebenen Handlungen der Idealisierung, Vernachlässigung und Vereinfachung mit diesem Zielvorschlag nicht verträglich sind. Andere Vorschläge wie Wahrheit im Sinne van Fraassens, die Vorschläge Duhems: Erklärung und naturgemäße Klassifikation, die Poppersche Erklärungskraft und die Einheit im Sinne v. Weizsäckers, die die empirische Angemessenheit als notwendige Bedingung zu ihrer Realisierung voraussetzen, scheiden gleichfalls als Kandidaten für das Ziel der Physik aus. Kandidaten dagegen, die die vereinheitlichte Beschreibung als Mittel verständlich machen können, sind zugelassen. Das Ziel der vereinheitlichten Beschreibung, das verwendet werden kann, um einige Idealisierungsmaßnahmen zu erklären, ist aber nicht nur aus diesem Grund ein vorläufiges.42 Erstens ist es auch deshalb provisorisch, weil die Idealisierungsmaßnahmen, die in dieser Arbeit betrachtet werden, nur einen Aspekt der physikalischen Praxis darstellen. Zweitens ist es aber auch hinsichtlich dieser Arbeit provisorisch, denn einige Idealisierungen, die anfangs aufgezählt wurden - wie die Herstellung und Isolation von Untersu-
42 Die Tatsache, daß die in Kapitel 1 vorgestellten Ziele, die als notwendige Bedingung ihrer Realisierung die empirische Angemessenheit der Theorien voraussetzten, den hier untersuchten Ausschnitt der physikalischen Praxis nicht verständlich zu machen vermögen, fällt nicht unter den Vorbehalt der Vorläufigkeit.
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2. Idealisierungen
chungsgegenständen - werden durch diesen Vorschlag noch nicht erklärt. In Kapitel 3 wird daher der bisherige Vorschlag, daß das Ziel der Physik die vereinheitlichte Beschreibung physikalischer Systeme ist, um die Beobachtung, daß es sich dabei um Beschreibungen handelt, die nur auf ganz bestimmte Situationen zutrifft, ergänzt werden.
3. Abstraktionen
Im vorangegangenen Kapitel wurden zwei Interpretationsrichtungen in bezug auf Idealisierungen unterschieden: die Galileische und die Cartwrightsche. Zufolge dem Galileischen Verständnis fuhrt die Verwendung von Idealisierungen zu einer wahren Beschreibungen der Natur hin. Idealisierungen im engeren Sinne, Vereinfachungen, Vernachlässigungen und Datenextrapolationen ließen sich durch eine solche Strategie aber nicht verständlich machen. Sie sind, das ergaben die Untersuchungen des letzten Kapitels, im Sinne des Cartwrightschen Vorschlags als Maßnahmen zu interpretieren, die von einer wahren Beschreibung jWfuhren und zu einer vereinheitlichten Beschreibung physikalischer Systeme beitragen. In Abschnitt 3.1.1 wird anhand eines Beispiels die Methode der Abstraktion physikalischer Systeme dargestellt werden. Diese Form der Idealisierung im weiteren Sinne besteht darin, das Verhalten eines physikalischen Systems auf das Verhalten verschiedener Teilsysteme zurückzuführen (in einem noch zu spezifizierenden Sinne von „zurückführen"). Es wurde bereits im letzten Kapitel darauf hingewiesen, daß auch die Abstraktion zu einer vereinheitlichten Beschreibung physikalischer Systeme beiträgt, da sie das zu beschreibende physikalische System dem Anwendungsbereich vorhandener Naturgesetze zuordnet. Dennoch gibt es einen guten Grund, diese Methode nicht im Sinne Cartwrights zu interpretieren. Anders als im Falle derjenigen Idealisierungen, die in Kapitel 2 im Mittelpunkt standen, wird nämlich der Beitrag der Abstraktionen zu einer vereinheitlichten Beschreibung nicht mit dem Beitrag zur empirischen Angemessenheit aufgerechnet (3.1.2). Um die Möglichkeit zu überprüfen, ob die Abstraktion als eine Idealisierung im Sinne Galileis interpretiert werden kann, werde ich das Verhältnis des Verhaltens der Teilsysteme zu dem Verhalten des Gesamtsystems untersuchen. Da das Verhalten von physikalischen Systemen durch Naturgesetze beschrieben wird, läßt sich diese Aufgabe wie folgt reformulieren: Es muß eine Naturgesetzkonzeption gefunden werden, die das Verhältnis derjenigen Gesetze, die
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3. Abstraktionen
das Verhalten der Teilsysteme beschreiben, zu demjenigen Gesetz, das das Verhalten des Gesamtsystems beschreibt, so auffaßt, daß die Methode der Abstraktion als eine legitime Maßnahme innerhalb der physikalischen Praxis zu erkennen ist. In der Wissenschaftstheorie hat die Methode der Abstraktion bislang nur am Rande Aufmerksamkeit gefunden. Allerdings wurde das Verhältnis verschiedener physikalischer Systeme zueinander gelegentlich im Zusammenhang mit sogenannten ceteris-paribus-Gesetzen diskutiert. Die Überlegungen zu diesen Gesetzen machen deutlich, daß eine Untersuchung des Verhältnisses von Teilsystemen zueinander und zum Gesamtsystem ein wichtiges Problem ist (3.1.3). In Abschnitt 3.2 wird ein Vorschlag unterbreitet, wie sich dieses Verhältnis verstehen läßt - und das heißt, wie die Abstraktion als legitime Methode ausgewiesen werden kann, wenn man annimmt, Naturgesetze beschrieben Dispositionen physikalischer Systeme. Abstraktionen, die Herstellung und Isolation von Untersuchungsgegenständen sowie die Datenberichtigung sind Maßnahmen der physikalischen Praxis, diese Dispositionen zu bestimmen. Wenn der bisherige Vorschlag für das Ziel der Physik dahingehend spezifiziert wird, daß als Ziel nunmehr die vereinheitlichte Beschreibimg physikalischer Systeme untergärig bestimmten Umständen (nichts anderes ist mit der Zuschreibung von Dispositionen gemeint) vorgeschlagen wird, dann lassen sich mit Hilfe dieser Kandidatin die soeben genannten Maßnahmen im Sinne Galileis verständlich machen.
3.1 Abstraktion und Überlagerung
3.1.1 Beispiele für Abstraktionen Bei einer Abstraktion löst man einen bestimmten Teil aus einem Zusammenhang heraus. Dieser Prozeß hat zwei Aspekte, die im transitiven und intransitiven Gebrauch des Verbes „abstrahieren" zum Ausdruck kommen. Zum einen wird ein Teil, derjenige nämlich, der aus irgendeinem Grund für besonders interessant gehalten wird, aus seinem Kontext herausgelöst: Wir abstrahieren diesen Teil.
3.1 Abstraktion und Überlagerung
131
Hinsichtlich der anderen Teile - des Kontextes - ist dann zu sagen, daß von ihnen abgesehen wird, es wird von ihnen abstrahiert. Wenn wir ein physikalisches System außerhalb eines Kontextes betrachten, dann geben wir vor, dieses System konstituiere schon die ganze Welt. Wir betrachten eine mögliche Welt, die ein einziges physikalisches System ist. Als Ausgangspunkt eines Beispiels für die Abstraktion physikalischer Systeme dient die Messung der spezifischen Wärme in Abhängigkeit von der Temperatur an einem amorphen, metallischen Festkörper. Wenn wir die Einordnung der phänomenologischen Gesetzmäßigkeit in die Theorie betrachten, begegnen wir zumindest an zwei Punkten deutlichen Beispielen von Abstraktionen. Der Festkörper, an dem die Messung durchgeführt wurde, befindet sich typischerweise in einem Kyrostaten, der sicherstellt, daß der Festkörper wärmeisoliert ist. Daran angeschlossen sind verschiedene Apparaturen zur Temperaturbestimmung, zur kontrollierten Wärmezuführung etc. Von diesem ganzen Kontext, der für die Messung der phänomenologischen Gesetzmäßigkeit konstitutiv ist, wird abstrahiert. Es wird nicht bloß von bestimmten Eigenschaften des betrachteten Systems, des Festkörpers also, sondern auch von eigenständigen physikalischen Systemen (den Kyrostaten können wir als ein solches bezeichnen) abgesehen. Diese erste Abstraktion bezieht sich also auf den experimentellen Kontext; man betrachtet das physikalische System isoliert, wenn es um die Einordnung der spezifischen Wärme in die Theorie geht.1 Ein zweiter Abstraktionsschritt wird dann vollzogen, wenn das ursprüngliche physikalische System, an dem die Messimg vorgenommen wurde, der amorphe, metallische Festkörper, in verschiedene physikalische Systeme aufgeteilt wird, die unabhängig voneinander betrachtet werden.
1
Es wird zuweilen gesagt, daß für die Beschreibung der Sachverhalte, von denen hier die Rede ist, eine Meßtheorie zuständig ist. Daß die Meßtheorie von der Theorie dessen, was gemessen wird, getrennt konstruiert werden kann, zeigt, daß es sich hier um einen Fall von Abstraktion handelt.
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3. Abstraktionen
Die thermodynamische Grundlage der Berechnung der spezifischen Wärme (die in Kapitel 2 nicht vorgestellt wurde) ist eine Verteilungsfunktion, die angibt, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich ein Untersystem eines Systems in einem bestimmten Energiezustand befindet. (Diese Wahrscheinlichkeit wurde benutzt um den Energiemittelwert des letzten Kapitels zu bilden.) In Kapitel 2 hatten wir den Fall des harmonischen Kristalls bzw. der Phononen als Untersysteme betrachtet. Im Gegensatz zu dieser einen Spezifizierung von Untersystemen in Kapitel 2, haben wir es hier, im Falle der spezifischen Wärme amorpher, metallischer Festkörper mit drei parallelen Konkretisierungen zu tun, die verwendet werden, um die phänomenologische Gesetzmäßigkeit abzuleiten. Das heißt, daß wir den amorphen Festkörper als aus drei verschiedenen Teilsystemen konstituiert betrachten, die ihrerseits jeweils durch Subsysteme charakterisiert sind. Das erste Teilsystem besteht aus Phononen (das sind die Schwingungen des harmonischen Kristalls), das zweite aus Elektronen und das dritte aus Tunnelsystemen2. Wir teilen also das Problem, eine spezifische Wärme zu berechnen in drei verschiedene und voneinander unabhängige Rechnungen auf, so als ob diese Untersysteme nicht das geringste miteinander zu tun hätten. Dabei handelt es sich in Wirklichkeit ja nur um einem einzigen Gegenstand, der diese Teilsysteme in irgendeiner Art umfaßt.
2
Die Vorstellung, die den Tunnelsystemen zugrundeliegt, ist die folgende. Ein Teil des abweichenden Verhaltens der Gläser von den kristallinen Festkörpern läßt sich verständlich machen, wenn man annimmt, daß in dem entsprechenden Festkörper Zweizustandssysteme verteilt sind. Diese Zweizustandssysteme können z.B. dadurch erzeugt werden, daß Molekülgruppen - anders als im reinen Kristall - zwei Gleichgewichtspositionen einnehmen können. Dieser Sachverhalt wird durch ein Doppelmuldenpotential beschrieben. In dem Temperaturbereich, der fiür die hier betrachteten Messungen relevant ist, müssen nur die jeweils energetisch niedrigsten Zustände der beiden Potentialmulden berücksichtigt werden. Zwischen diesen beiden Zuständen kann dann das „Tunnelteilchen", ζ. B. die Molekülgruppe, hin- und hertunneln. In diesem Sinne beschreiben Tunnelsysteme ganz spezifische Abweichungen der amorphen von den kristallinen Festkörpern.
3.1 Abstraktion und Überlagerung
133
Diese Maßnahme, die getrennte und unabhängige Betrachtung der Teilsysteme, ist ein exemplarisches Beispiel von Abstraktionen von physikalischen Systemen. Wenn die Phononen betrachtet werden, dann werden sie abstrahiert, und es wird von den Elektronen und den Tunnelsystemen abstrahiert (sowie von der restlichen Umwelt des realen Festkörpers). Wir erlauben uns in jedem der drei Fälle (Elektronen, Phononen, Tunnelsysteme), die Welt so zu betrachten, als sei je nur dieses eine physikalische System in ihr vorhanden, entweder nur die Phononen oder nur die Elektronen oder nur die Tunnelsysteme. Diese Betrachtung ist insbesondere im Falle der Tunnelsysteme überraschend, denn die Zweizustandssysteme, die ihnen zugrundeliegen, können ohne die Bausteine des Kristalls überhaupt nicht realisiert werden. Man gibt in der Berechnung vor, es gäbe ein Ensemble von Zweizustandssystemen oder Tunnelsystemen, ohne die Frage, wie diese denn realisiert sein könnten, zu beantworten. Von den jeweils anderen physikalischen Systemen wird abgesehen. Die Abstraktion ist eine analytische Maßnahme in dem Sinne, daß angenommen wird, die Welt könne in einzelne Gegenstände zerlegt werden, die getrennt voneinander angemessen behandelt werden können. 3 Abschließend noch ein kurzer Blick auf die Berechnung der spezifischen Wärme für die einzelnen Systeme. Die spezifische Wärme des Kristalls, d. h. der Phononen, wird nach Debye berechnet (vgl. Kapitel 2). Man erhält - für tiefe Temperaturen - einen Ausdruck der proportional zu T 3 ist: Cy = ( 1 2 / 5 ) π ^ ( Τ / θ 0 ) 3
3
Dazu siehe auch E. Scheibe: „The fact that this .method of the as if as it might be called works is a highly non-trivial fact about the universe: We can successfully investigate parts of the universe without considering everything. By this kind of success we are even entitled to assume that the portion of the universe isolated in our theory could exist by itself - is a physically possible world that might have been the actually existing universe without anything else being there." in: Scheibe 1991c, S. 216.
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3. Abstraktionen
9 d ist eine Materialkonstante, die sogenannte Debye-Temperatur; η ist die Ionendichte und k die Boltzmannkonstante.4 Für das Elektronensystem erhält man - für tiefe Temperaturen - einen Beitrag, der linear von der Temperatur abhängt: cv=(l/3)7Mg(EF) mit den gleichen Bezeichnungen. g(EF) ist eine materialspezifische Konstante, die Zustandsdichte in Abhängigkeit von der Fermienergie.5 Es ist bezeichnend für die Maßnahme der Abstraktion, daß die Einzelberechnungen, die zur Erklärung der gesamten spezifischen Wärme herangezogen werden, in den Lehrbüchern an ganz unterschiedlichen Orten behandelt werden.6 Bei den Einzelberechnungen wird von möglichen Zusammenhängen, in denen die Elektronen oder Kristalle sich befinden, abgesehen. Die Tunnelsysteme liefern ebenfalls - bei tiefen Temperaturen einen Beitrag, der linear von der Temperatur abhängt: c v = kTPln(l +(l-uz)°'5/umin) Ρ ist die Zustandsdichte der Tunnelsyteme, u2 und umin sind materialspezifische Parameter.7 Ein weiteres Beispiel für die Methode der Abstraktion ist die Berechnung des Verhaltens eines geladenen Teilchens im elektromagnetischen und Gravitationsfeld. Es werden zwei getrennte Rechnungen durchgeführt, eine für ein Teilchen mit der Masse m im Schwerefeld und eine für ein Teilchen mit der Ladimg q im elektromagnetischen Feld.
4 5 6
7
Dazu siehe: Ashcroft, Mermin 1976, S. 457ff. Dazu siehe: Ashcroft, Mermin 1976, S. 42ff. Der elektronische und der kristalline Anteil werden bei Ashcroft, Mermin 1976 in den Kapiteln 2 und 23 behandelt, bei Becker 1985, in den §§ 53 und 63. In Kapitel 2 bei Ashcroft, Mermin 1976 findet man eine Übersicht darüber, wie angemessen die Sommerfeldsche Näherung für Elektronengase, die hier zugrundegelegt wurde, für die spezifische Wärme ist. Die Ubereinstimmung zwischen berechnetem und gemessenem Wert sind für unterschiedliche Materialien unterschiedlich gut. Dazu siehe: Hunklinger, Raychauduri 1986.
3.1 Abstraktion und Überlagerung
135
Im Falle der Berechnung des Spektrums zweiatomiger Moleküle, wie ζ. B. des Kohlenmonoxids, wird das Molekül als ein harmonischer Oszillator einerseits und als starrer Rotator andererseits betrachtet. Die Energiezustände beider physikalischer Systeme werden getrennt berechnet, so als seien Rotator und Oszillator Gegenstände, die voneinander unabhängig sind.8
3.1.2 Abstraktion und empirische Angemessenheit In Kapitel 2 habe ich darauf hingewiesen, daß die dort diskutierten Idealisierungen im engeren Sinne, Vereinfachungen, Vernachlässigungen und Datenextrapolationen nur dann legitim sind, wenn sie eine gewisse Abweichung von der empirischen Angemessenheit nicht überschreiten. Sie müssen also näherungsweise empirisch angemessen sein. Hinsichtlich einzelner anzuwendender Maßnahmen findet ein Abwägen zwischen dem Beitrag statt, den diese zur empirischen Angemessenheit, und dem Beitrag, den sie zu dem von uns ins Spiel gebrachte Ziel der vereinheitlichten Beschreibung leisten. Das Abweichen von der empirischen Angemessenheit wird also negativ bewertet. Dies wurde zum Anlaß genommen, für die genannten Idealisierungen eine Interpretation im Sinne Cartwrights vorzustellen, die sich in dem Zielvorschlag der vereinheitlichten Beschreibimg manifestierte. Im Falle der Abstraktion von physikalischen Systemen ist die Situation hinsichtlich der empirischen Angemessenheit eine andere. Das wird besonders deutlich, wenn man den folgenden Fall betrachtet. Bei »«-¿/metallischen amorphen Festkörpern tritt ein elektronischer Beitrag naturgemäß nicht auf. Es wird aber ein zusätzlicher Beitrag gemessen, der, wie der kristalline Debye-Term, proportional zu T 3 ist. Die spezifische Wärme kann also als c
v = cDcbvc + aT + bT3
8
Dazu siehe: Böhm 1986, Kapitel 3.
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3. Abstraktionen
geschrieben werden. Der vorletzte Term dieses Ausdrucks wird den Tunnelsystemen zugeschrieben, der letzte Term ist noch unverstanden. Dazu heißt es in einem Übersichtsartikel: the origin of the „excess cubic term" bT 3 is less well understood. It cannot be caused by phonons in the ordinary sense because it is known from the acoustic experiments up to 400 Ghz [...] that long wavelength phonons in amorphous solids exhibit hardly any dispersion. On the other hand it cannot be attributed to TS [Tunneling Systems, A.H.] either as we will see [...]
Das Problem ist allein die Zuschreibimg des letzten Terms. Die Zuschreibung der ersten beiden Terme wird durch die Unsicherheit hinsichtlich des Ursprungs des letzten Terms nicht beeinträchtigt. Das bedeutet, daß die Theorie des Kristalls wie auch die Theorie der Tunnelsysteme auf das physikalische System eines nichtmetallischen Festkörpers angewandt werden kann, auch wenn ein dritter Term noch unverstanden ist. Von ihm kann abstrahiert werden. Die Frage, ob die Theorie des harmonischen Kristalls oder die Theorie der Tunnelsysteme auf den nichtmetallischen amorphen Festkörper angewandt werden darf, ist völlig unabhängig davon, ob der noch nicht verstandene Term bT3, der die Größe der empirischen Unangemessenheit der Behandlung des Problems durch die beiden bisherigen Theorien angibt, groß oder klein ist. Auf einen amorphen nichtmetallischen Festkörper wenden wir die Theorie des harmonischen Kristalls und die Theorie der Tunnelsysteme unabhängig davon an, wie groß der noch unverstandene Term ist. Vergleichen wir dies mit dem Fall der Idealisierungen des letzten Kapitels. Nehmen wir an, wir schrieben einem physikalischen System die Theorie des harmonischen Kristalls zu. Sei nun das in Frage stehende physikalische System streng genommen kein harmonischer Kristall, sondern durch eine Vernachlässigung eines Terms in der Beschreibung desselben dem Anwendungsbereich des Kristalls zuordenbar geworden. Messen wir an einem solchen Gegenstand die spezifische Wärme, dann wird durch eine große Abweichung des Meßergebnisses von der berechneten Größe die Legitimität der Idealisierung in Frage gestellt (vorausgesetzt, an den
9
Hunklinger 1986, S.96/97.
3.1 Abstraktion und Überlagerung
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anderen Voraussetzungen wird nicht gezweifelt). Aus diesem Grund war es sinnvoll, im Zusammenhang mit diesen Idealisierungen den Begriff der Näherung zu verwenden. Bedienen wir uns dagegen der Methode der Abstraktion und betrachten den harmonischen Kristall als ein Teilsystem eines größeren Gesamtsystems, von dessen anderen Bestandteilen wir abstrahieren, dann unterminiert eine Diskrepanz zwischen gemessenem Wert der spezifischen Wärme (für das Gesamtsystem) und dem berechneten Wert für den Kristall nicht die Anwendung der (abstrakten) Theorie des Kristalls auf das Gesamtsystem. Die Legitimität der Methode der Abstraktion wird durch ein großes Restglied - anders als bei den Idealisierungen im engeren Sinne usw. - nicht in Frage gestellt. Das Abweichen von der empirischen Angemessenheit wird hier also nicht als Defizit bewertet. D. h., daß die Zielvorschläge, die in Abschnitt 1.2 diskutiert wurden und die empirische Angemessenheit als notwendige Bedingung voraussetzen, durch die Praxis der Abstraktion noch eindeutiger als in Kapitel 2 ausgeschlossen werden können. Während für die in Abschnitt 2.3 diskutierten Idealisierungen zumindest eine angenäherte empirische Angemessenheit gefordert werden mußte, sind Abstraktionen mit beliebig großen Abweichungen verträglich. Wenn Abstraktionen nicht einmal näherungsweise empirisch angemessen sein müssen, dann stellt sich die Frage, aus welchem Grund eine solche Maßnahme legitim ist. Möglicherweise ist es im Falle der Abstraktion erforderlich, eine Galileische Interpretation dieser Maßnahme zu geben. Die Schwierigkeit, die Legitimität von Abstraktionen verständlich zu machen, betrifft Situationen, in denen sich das Verhalten verschiedener physikalischer Systeme als Teilsysteme überlagert. Die spezifische Wärme setzt sich aus drei Termen zusammen, die von unterschiedlichen Teilsystemen oder Faktoren herrühren. Das Hauptproblem, das es im folgenden zu untersuchen gilt, ist die Frage, wie derartige Uberlagerungssituationen zu verstehen sind. Unter Verzicht auf die in der Experimentalphysik durchaus übliche kausale Terminologie läßt sich das Problem wie folgt formulieren: Wenn uns das Verhalten zweier isolierter physikalischer Systeme bekannt ist, was setzen wir über diese beiden Systeme voraus, wenn
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3. Abstraktionen
wir annehmen, wir hätten dann, wenn sie Teilsysteme eines Gesamtsystems sind, auch Informationen über das Verhalten dieses Gesamtsystems ?
3.1.3 Ceteris-paribus-Vorbehalte und Oberlagerungssituationen Das Problem, sich die Legitimation der Abstraktion verständlich zu machen, ist in der wissenschaftstheoretischen Literatur bislang wenig diskutiert worden. Allerdings ist gelegentlich im Zusammenhang mit sogenannten ceteris-paribus-Gesetzen das Problem der Überlagerung physikalischer Systeme erörtert worden, dessen Lösung, wie wir gesehen haben, für das Problem, sich die Methode der Abstraktion verständlich zu machen, grundlegend ist. Die Schwierigkeiten, die im Zusammenhang mit den folgenden Überlegungen zu den ceteris-paribus-Gesetzen auftauchen, lassen eine systematische Untersuchung der Überlagerung physikalischer Teilsysteme dringend geboten erscheinen. Ceteris-paribus-Klauseln oder -Vorbehalte schränken Gesetze oder Begriffe auf Situationen, die durch „ansonsten gleiche Umstände" gekennzeichnet sind, ein. Die Schwierigkeit, auf die ich aufmerksam machen möchte, betrifft nicht das Problem, den Begriff der „ansonsten gleichen Umstände" zu explizieren, sondern die Tatsache, daß es sich um eine Einschränkung handelt. Die Anwendbarkeit eines Gesetzes oder eines Begriffs wird auf Situationen eingeschränkt, in denen es keine zusätzlichen oder störenden Faktoren gibt. Damit ist nicht gesagt, daß es für die Überlagerungssituation keine Gesetze oder Begriffe gibt, sondern lediglich, daß jedenfalls die ursprünglich ins Auge gefaßten Gesetze oder Begriffe in derartigen Überlagerungssituationen nicht zur Anwendung kommen können. Dies zeigt sich ζ. B. bei Carnaps Analyse theoretischer Begriffe, die er in „The Methodological Character of Theoretical Terms" vorgestellt hat. Die Einzelheiten dieser Konzeption wurden schon in Abschnitt 1.2.1.3 diskutiert und werden hier nicht wiederholt. Carnap bezeichnet es als einen Vorteil der Konzeption theoretischer Begriffe, die auf Korrespondenzregeln zurückgreift, gegen-
3.1 Abstraktion und Überlagerung
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über der Konzeption der Reduktionssätzen, die für Dispositionen angemessen sind, daß die erste, nicht aber die zweite, die Möglichkeit bietet, ceteris-paribus-Vorbehalte zu integrieren. Wenn wir es mit Reduktionssätzen zu tun haben, wie bei der Analyse von Dispositionen, dann müssen wir bei Ausbleiben des erwarteten Ergebnisses zwingend auf das Nichtvorhandensein der entsprechenden Disposition schließen: Angenommen, wir wollten überprüfen, ob ein Stoff wasserlöslich ist. Wenn wir diesen Stoff in Wasser gäben und er sich nicht auflöste, dann wäre - zufolge dieser Konzeption - dieser Stoff nicht in Wasser löslich. Diese Konzeption hat Carnap auch später noch für Dispositionen für richtig gehalten, nicht aber für genuin theoretische Begriffe wie „Elektron". Eine Theorie, die sich eines theoretischen Begriffs wie „Elektron" bedient, und mit Hilfe von Korrespondenzregeln Vorhersagen abzuleiten erlaubt, sollte nicht in jedem Fall des Ausbleibens des erwarteten Ergebnisses als falsifiziert gelten, denn dieses Ausbleiben kann ja der Wirksamkeit eines zusätzlichen Faktors, der Überlagerung des betrachten Systems mit einem anderen, geschuldet sein. Solche Fälle können - bei theoretischen Begriffen, nicht aber bei Dispositionen - ausgeschlossen werden, indem mit Hilfe eines entsprechenden Vorbehalts, die Verwendung des Begriffs „Elektron" eingeschränkt wird: T h e scientist will point out that the test procedure (...) should not be taken as absolutely reliable, but only with the tacit understanding „unless there are disturbing factors" or „provided the environment is in a normal state."
Ganz ähnlich hat Hempel argumentiert. Unsere Theorien schließen ihm zufolge weder aus noch behaupten sie, daß externe Faktoren Einfluß auf den Ausgang eines Experimentes nehmen. Er schließt nun folgendes: Wenn man einen Beobachtungssatz mit Hilfe von Korrespondenzregeln aus einer Theorie ableiten will, muß diese Ableitung der Tatsache gerecht werden, daß ein Experiment, auf das zusätzliche Faktoren einen Einfluß nehmen, nicht als Falsifikation der Theorie aufgefaßt werden darf. Dazu muß man neben den Korrespondenzregeln noch eine weitere Behauptung, eine Vorbe10 Carnap 1956, S. 69.
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3. Abstraktionen
haltsklausel (proviso) verwenden. Diese Klausel schließt dann nämlich aus, daß es weitere Faktoren gibt, die auf die uns interessierende Situation einen Einfluß haben. [...] a proviso has to be conceived as a clause that pertains to some particular application of a given theory and asserts that in the case at hand, no effective factors are present other than those explicidy taken into account.
Eine solche Vorbehaltsklausel schränkt die Theorien oder Gesetze, wie schon bei Carnap, ein. Die Anwendung von Theorien oder Gesetzen wird auf „reine" Fälle beschränkt, auf Fälle also, in denen neben den in dieser Theorie betrachteten Faktoren keine weiteren ins Spiel kommen. Die Prämissen, von denen eine Theorie ausgeht, müssen nicht nur wahr sein, sondern die gan^e Wahrheit (the whole truth) 12 beschreiben. Diese von Carnap und Hempel vorgeschlagene Einschränkung der Anwendung von Theorien auf reine Fälle steht nun im Gegensatz zu dem, was in der physikalischen Praxis üblich ist. Der in Abschnitt 3.1.1 vorgestellten Methode der Abstraktion physikalischer Systeme hegt die Möglichkeit zugrunde, Theorien auch auf nichtreine Fälle anzuwenden, z. B. die Theorie des Kristalls auf den amorphen Festkörper. Vor dem Hintergrund der von Carnap und Hempel vorgeschlagenen Interpretation von ceteris-paribus-Vorbehalten wird die Methode der Abstraktion unverständlich.13 Diese Probleme, in die man gerät, zeigen, daß es erforderlich ist, das Verhältnis des Verhaltens physikalischer Systeme, die sich überlagern, zu untersuchen.
11 Hempel 1988, S. 26. 12 Hempel 1988, S. 31. 13 Auf die Schwierigkeiten, die mit dieser Interpretation von ceterisparibus-Vorbehalten einhergehen, haben in jüngster Zeit Pietroski und Rey in ihrem Artikel „When Other Things Aren't Equal: Saving Ceteris-paribus-Laws from Vacuity" hingewiesen (Pietroski, Rey 1995).
3.2 Abstraktion, Naturgesetz und Disposition
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3.2 Abstraktion, Naturgesetz und Disposition
3.2.1 Der Begriff des Naturgesetzes Es geht im folgenden darum, zu verstehen, wie Situationen zu beschreiben sind, in denen der eben beschriebene Fall auftritt, nämlich das Verhalten verschiedener physikalischer Systeme sich überlagert. Wenn wir uns der Methode der Abstraktion bedienen, setzen wir voraus, daß immer dann, wenn das Verhalten zweier isolierter physikalischer Systeme, die Teilsysteme eines Gesamtsystems sind, bekannt ist, wir auch Informationen über das Verhalten dieses Gesamtsystems besitzen. Weshalb ist diese Annahme legitim? Das Verhalten physikalischer Systeme wird durch Naturgesetze beschrieben. Wenn wir den Grund der Legitimität der Methode der Abstraktion verstehen wollen, gilt es, das Verhältnis von Naturgesetzen, die sich auf Teilsysteme, zu jenen, die sich auf das Gesamtsystem beziehen, zu untersuchen. Ich werde im folgenden die These vertreten, daß die gängige empiristische Interpretation von Naturgesetzen die Methode der Abstraktion nicht verständlich machen kann. Wenn wir dagegen annehmen, daß Naturgesetze Dispositionen physikalischer Systeme zu einem bestimmten Verhalten beschreiben, dann wird einsichtig, weshalb die Abstraktion legitimerweise innerhalb der Physik verwendet werden darf. Im Vorhergehenden ist der Begriff des Verhaltens physikalischer Systeme verwendet worden. Mit dem Begriff des Verhaltens kann einerseits die dynamische Entwicklung eines physikalischen Systems gemeint sein, andererseits kann der Begriff des Verhaltens auch im Sinne eines Sachverhaltes gemeint sein. „Etwas verhält sich so und so" bedeutet dann: „Es ist der Fall, daß so und so". Ich benutze den Begriff des Verhaltens physikalischer Systeme in diesem zweiten Sinne. Die dynamische Entwicklung eines physikalischen Systems ist dann ein besonderer Fall eines solchen Verhaltens. Aber auch der Sachverhalt, daß ein ideales Gas, der Gleichung pV=RT genügt, wird im folgenden als ein Verhalten des entsprechenden Systems bezeichnet. Als Standardformulierung eines Naturgesetzes werde ich weiterhin die schon im vorangegangenen Kapitel vorgestellte Formu-
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3. Abstraktionen
lierung von Scheibe verwenden. Als Beispiele für eine solche Formulierung hatte ich die folgenden angegeben: „Alle idealen Gase verhalten sich entsprechend der Gleichung pV=RT" oder „Alle Wasserstoffatome verhalten sich gemäß der Schrödingergleichung mit Coulombpotential" etc. Diese Rekonstruktion der Naturgesetzformulierung rückt in den Blickpunkt, daß Aussagen über das Verhalten physikalischer Systeme getroffen werden. So gefaßt ist das ideale Gasgesetz nicht die Gleichung pV=RT, sondern die Behauptung, daß eine bestimmte Klasse von Gegenständen sich gemäß dieser Gleichung verhält. Der Begriff des Naturgesetzes wird dem der Theorie angeglichen. Ich komme nun zu den Thesen hinsichtlich des Naturgesetzbegriffs, die hier diskutiert werden sollen. Die These, die ich vertreten werde, lautet: • Naturgesetze schreiben physikalischen Systemen kontinuierlich manifestierbare Dispositionen bezüglich eines bestimmten Verhaltens zu. Der wesentliche Begriff in dieser Formulierung ist der der Disposition. Ich werde hier keine allgemeine Theorie der Dispositionen vorstellen können. Das einzige, was ich anbieten werde, sind einige allgemeine Bemerkungen dazu, wie sich dispositionelle Eigenschaften von nichtdispositionellen Eigenschaften unterscheiden. Ich glaube, daß man auch mit einem so wenig ausgefeilten Dispositionsbegriff auf einen interessanten Punkt in bezug auf den Begriff des Naturgesetzes aufmerksam machen kann. Die These, gegen die ich argumentieren und die ich auch als die empiristische These bezeichnen werde, ist die folgende: • Naturgesetze beschränken sich darauf, physikalischen Systemen ein tatsächliches, regelhaftes Verhalten zuzuschreiben. Hier fehlt also der Begriff der Disposition. Diese Position werde ich nun als erstes diskutieren.
3.2.2 Die empiristische Naturgeset^kon^eption Die empiristische Naturgesetzkonzeption rückt in das Zentrum ihrer Überlegungen, daß es in der Natur tatsächliche und beob-
3.2 Abstraktion, Naturgesetz und Disposition
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achtbare Regelmäßigkeiten gibt Carnap kennzeichnet Naturgesetze als die Beschreibung solcher Regelmäßigkeiten. Unsere alltäglichen Beobachtungen wie auch die systematischeren Beobachtungen der Wissenschaftler führen uns zu gewissen Wiederholungen und Regelmäßigkeiten in der Welt. Dem Tag folgt stets die Nacht; die Jahreszeiten wiederholen sich in der gleichen Ordnung; Feuer fühlt sich immer heiß an; Gegenstände, die wir los lassen, fallen abwärts; usw. Die Naturgesetze sind nichts anderes als Aussagen, welche diese Regelmäßigkeiten so genau wie möglich ausdrücken.
Naturgesetze beschreiben also - in unserer Diktion - das regelmäßige Verhalten physikalischer Systeme. Carnap denkt hier vermutlich daran, daß das Vokabular, das bei einer solchen Beschreibung verwendet werden sollte, ein sogenanntes Beobachtungsvokabular sein sollte. Die These, daß Naturgesetze Regelmäßigkeiten beschreiben, ist aber durchaus verträglich damit, daß eine solche Beschreibung auch mit Hilfe theoretischen Vokabulars durchgeführt wird. Bei den eingangs genannten Beispielen für Naturgesetze wurde keine Unterscheidung von Beobachtungs- und theoretischem Vokabular vorausgesetzt. Man könnte eine solche Unterscheidung selbstverständlich einführen, aber es sollte klar sein, daß es sich bei der Behauptung, diese Unterscheidung sei für den Naturgesetzbegriff relevant, um eine zusätzliche These handelt, die aus der vorgestellten Naturgesetzkonzeption keineswegs folgt. Verschiedene empiristische Positionen hinsichtlich des Verständnisses von Naturgesetzen unterscheiden sich in der Bestimmung, was zu den aktualen Regelmäßigkeiten noch hinzukommt. Daß zu der Korrelation von Eigenschaften noch etwas hinzukommen muß, damit Naturgesetze von zufälligen Korrelationen oder Regelmäßigkeiten unterschieden werden können, macht die Gegenüberstellung der beiden folgenden Regelmäßigkeiten klar. • Alle Kugeln aus Gold haben einen Durchmesser, der 10 Km nicht überschreitet. • Alle Kugeln aus angereichertem Uran haben einen Durchmesser, der 10 Km nicht überschreitet.
14 Carnap 1986, S. 11.
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3. Abstraktionen
Beide Aussagen sind wahr. Wir würden sagen, daß die erste eine bloß zufallige Regelmäßigkeit beschreibt, die zweite hingegen eine naturgesetzliche Regelmäßigkeit. Im wesentlichen gibt es zwei Vorschläge dafür, wie hier eine Differenzierung vorgenommen werden kann. • Die Beziehung zwischen dem physikalische System und seinem Verhalten wird als eine Universalie aufgefaßt. Neben der Korrelation von System und Verhalten gibt es also noch etwas, das diese miteinander verbindet und in irgendeinem Sinne existiert. Im Falle des Urans, so wird behauptet, ist eine solche Universalie instantiiert, im Falle des Goldes nicht. Deshalb halten wir die eine Regelmäßigkeit für naturgesetzlich, die andere für zufällig. Eine solche Position wird ζ. B. von Armstrong, Tooley und Dretske vertreten.15 • Dem steht eine Tradition gegenüber, die behauptet, daß es außer den Korrelationen von System und Verhalten in der Natur nichts gibt. Entscheidend ist, daß Naturgesetze eine ganz spezifische Rolle in unseren Theoriengebäude spielen, die bloße Regelmäßigkeiten nicht teilen, ζ. B. daß sie Axiome oder Theoreme einer idealen Theorie sind. In diese Rubrik gehören die Theorien von Braithwaite, Ramsey und D. Lewis.16 Die Einzelheiten dieser Positionen sind für das weitere nicht relevant. Entscheidend ist allein die gemeinsame Voraussetzung, daß Naturgesetze Regelmäßigkeiten, die in der Natur auftreten, beschreiben. Beide Positionen lassen sich durch die folgende These zusammenfassen: • Naturgesetze beschreiben Regelmäßigkeiten (also regelmäßige Assoziationen von Eigenschaften, die in der Natur tatsächlich (also nicht bloß möglicherweise) auftreten) + X . Der Unterschied beider Positionen besteht darin, daß das X einmal durch eine Universalie und das andere Mal durch eine Bedingung, die auf den Status der Regelmäßigkeit innerhalb einer Theorie Bezug nimmt, bestimmt ist.
15 Armstrong 1983, Tooley 1977, Dretske 1977. 16 Braithwaite 1968, Ramsey 1929, Lewis 1973.
3.2 Abstraktion, Naturgesetz und Disposition
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Eine Universalie zu postulieren ist sicherlich keine empiristische Vorgehensweise. Dennoch habe ich hier die Position von Armstrong und anderen unter den empiristischen Naturgesetzbegriff subsumiert, weil auch bei ihnen im Vordergrund steht, daß sich Naturgesetze auf die Beschreibung des tatsächlichen regelhaften Verhaltens physikalischer Systeme beschränken. Die Motivation, Naturgesetze als bloß von aktualem Verhalten physikalischer Systeme handelnd aufzufassen, ist insofern empiristisch, als durch das Beharren auf Aktualität eine Bedingung für die Erfüllung der empiristischen Forderung nach Beobachtbarkeit Genüge getan werden kann. In einem solchen Fall ist zudem gesichert, daß der „Quell" all unseres naturwissenschaftlichen Wissens die Erfahrung ist. Es ist aber durchaus vorstellbar, daß auch andere Konzeptionen von Naturgesetzen mit der empiristischen Grundmetapher verträglich sind, insbesondere die von mir vertretene. Allerdings ist die in diesem Abschnitt diskutierte Konzeption tatsächlich von empiristischer Seite vertreten worden, daher die Bezeichnung „empiristische Naturgesetzkonzeption". Andere empiristische Thesen, wie die Verifikationstheorie der Bedeutung oder die antirealistische Interpretation theoretischer Begriffe, sind damit keineswegs eingeschlossen. Allein die Annahme, daß die physikalischen Systeme, von denen in den Naturgesetzen die Rede ist, genau so in der aktualen Welt existieren, wie beschrieben und daß sie genau das Verhalten zeigen, das in den Naturgesetzen von ihnen ausgesagt wird, zeichnet diese Position aus.
3.2.3 Die Dispositionsthese Dieser empiristischen These soll die Behauptung gegenübergestellt werden, daß Naturgesetze Dispositionen physikalischer Systeme beschreiben, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten. Um diese These verstandlich zu machen, gilt es, den Begriff der Disposition zu erläutern. Dispositionen sind Eigenschaften von Gegenständen oder physikalischen Systemen. Der Unterschied zwischen Dispositionen und gewöhnlichen, nicht-dispositionellen Eigenschaften besteht
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3. Abstraktionen
darin, daß letztere unter allen Umständen, Dispositionen hingegen nur unter bestimmten Umständen manifest sind. Es ist allein dieses Merkmal, das für den Begriff der Disposition wesentlich ist und im folgenden in Anspruch genommen wird. Bei der hier vorgestellten Begriffsbestimmung handelt es sich keineswegs um eine willkürliche Festlegung (dagegen wäre allerdings gar nichts einzuwenden, wenn die Festlegung nur hinreichend deutlich ist). Sie befindet sich vielmehr im Einklang mit gängigen Auffassungen, wie die Einträge im Historischen Wörterbuch der Philosophie und das Handbook of Metaphysics dokumentieren. Unter dem Eintrag „Dispositionsbegriff' findet man im ersten: heißt eine Eigenschaft von oder Beziehung 2rwischen Gegenständen, die nicht ständig, sondern nur unter besonderen Bedingungen in Erscheinung tritt; die Disposition dazu, sich in der durch den D. gekennzeichnete Weise zu verhalten, ist jedoch immer vorhanden. Im Handbook ofMetaphysics heißt es: Dispositions are defined by conditionals that say how objects would behave in specified situations. Wenn also jemand einem Gegenstand eine Eigenschaft zuschreibt, die dieser nur unter bestimmten Bedingungen - wenn diese gegeben sind, aber immer - besitzt, dann handelt es sich um eine Zuschreibung einer Disposition zu diesem Gegenstand. Nichts anderes ist mit dem Begriff der Disposition gemeint. Dispositionen sind Eigenschaften von Gegenständen. Klassische Beispiele sind die Zerbrechlichkeit eines Glases und die Löslichkeit von Salz in Wasser. Die Manifestationen der entsprechenden Dispositionen sind das tatsächliche Zerbrochensein des Glases und das tatsächliche Aufgelöstsein des Salzes in Wasser. Manifestationen von Dispositionen sind also Zustände von Gegenständen oder physikalischen Systemen. Damit Dispositionen manifest sein können, müssen bestimmte Umstände realisiert sein. Im zweiten Fall muß das Salz in das Wasser gegeben worden sein. Im ersten Fall gibt es verschiedene Umstände, die zu einer Manifestation füh-
17 Brockhaus in: Ritter, Gründer 1972, Bd. 2, Spalte 226. 18 Mellor in: Burkhardt, Smith 1991, Bd. I, S. 22.
3.2 Abstraktion, Naturgesetz und Disposition
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ren können, von denen wenigstens einer realisiert sein muß. Entweder muß das Glas fallen gelassen worden sein oder jemand mit einem Hammer auf es eingeschlagen haben, usw. Manifestationen von Dispositionen sind Zustände von Gegenständen oder physikalischen Systemen und als solche Eigenschaften, die einem Gegenstand oder einem physikalischen System zukommen, wenn bestimmte Umstände realisiert sind. Es hat sich für Dispositionen, die nur unter einer bestimmten Menge von Bedingungen manifest sind, der Ausdruck „spezifische Disposition" eingebürgert. Dispositionen, die unter verschiedenen Mengen von Bedingungen manifest sind, heißen „generische Dispositionen".19 Wie verhalten sich nun Dispositionen zu gewöhnlichen, nichtdispositionellen Eigenschaften? Am einfachsten läßt sich das durch die Gegenüberstellung von gewöhnlichen Eigenschaften mit den Manifestationen von Dispositionen deutlich machen. Gegenstände haben zwei Sorten von Eigenschaften: erstens solche, die sie unter allen Umständen besitzen, wie ζ. B. im Falle des Salzes die molekulare Struktur desselben. Das sind die gewöhnlichen Eigenschaften. Zweitens haben sie andere Eigenschaften nur unter ganz bestimmten Umständen (wenn diese gegeben sind, dann aber auch in jedem Fall), ζ. B. im Falle des Salzes das Aufgelöstsein.20 Der Tatsache, daß einige Eigenschaften, die unter bestimmten Umständen einem Gegenstand zugeschrieben werden, nicht allein den Umständen geschuldet sind, sondern auch dem fraglichen Gegenstand, drückt man dadurch aus, daß dem Gegenstand eine Disposition zu diesem Zustand, diesem Verhalten oder dieser Eigenschaft zugeschrieben 19 Diese Terminologie geht auf Ryle zurück. Vgl. Mellor 1974, S. 169, n. 32. 20 Die Unterscheidung von Eigenschaften, die ein Gegenstand unter allen Umständen besitzt, von Eigenschaften, die er nur unter bestimmten besitzt (den Manifestationen von Dispositionen) fallt nicht mit der Unterscheidung essentieller und akzidenteller Eigenschaften zusammen. Daß ein physikalisches System, unter bestimmten Bedingungen ein bestimmtes Verhalten zeigt, kann sehr wohl zu seinem Wesen gehören. Das Verhalten, daß ζ. B. Elementarteilchen in Beschleunigern zeigen, gehört sicherlich zu ihrem „Wesen", wenn man sich denn dieser Terminologie bedienen möchte.
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3. Abstraktionen
wird. Der Dispositionsbegriff bringt dann zum Ausdruck, daß ein System sich auf eine bestimmte Weise verhält, wenn bestimmte Bedingungen realisiert sind. Das bedeutet, daß die Manifestationsbedingungen Teil des Dispositionsbegriffs sind. Diese Disposition besitzt der Gegenstand nun - wie die gewöhnlichen Eigenschaften unter allen Umständen. Während gewöhnliche Eigenschaften unter allen Umständen manifest sind, trifft dies auf Dispositionen nur unter bestimmten zu. Wir könnten nun noch die gewöhnlichen Eigenschaften als Grenzfälle der Manifestation von Dispositionen betrachten, als Manifestationen von Dispositionen, die unter allen Umständen manifest sind. Der Begriff der Manifestation einer Disposition ist ein ontologischer, kein erkenntnistheoretischer Begriff. Es geht darum, ob ein physikalisches System, ein Gegenstand, sich in einem bestimmten Zustand befindet oder nicht. Ob ein zerbrechliches Glas tatsächlich zerbrochen ist, hängt nicht von irgendwelchen Bedingungen, unter denen wir dies beobachten können, ab. Zu einer derartigen Gleichsetzung von Manifestationsbedingungen und Beobachtungsbedingungen können Carnaps Überlegungen zur Integration von Dispositionsbegriffen in die Beobachtungssprache verleiten. In Abschnitt 1.2.1.3 wurde sein Bemühen, Dispositionsbegriffe mit Hilfe von Reduktionssätzen zu interpretieren, vorgestellt. Sie nehmen Carnap zufolge eine Zwischenstellung zwischen theoretischen und Beobachtungsbegriffen ein. In my view they occupy an intermediate position between the observational terms (...) and the theoretical terms;
Carnap hatte die Reduktions sätze so konzipiert, daß in ihnen der Begriff einer Disposition durch Beobachtungsbegriffe (partiell) interpretiert wird. Die Beispiele die Carnap verwendet, sind Fälle, in denen Manifestationsbedingungen durch Beobachtungsbegriffe beschrieben werden. Diese Möglichkeit besteht keineswegs grundsätzlich.22 Man kann z. B. Polymeren oder anderen Mikrostruktu21 Carnap 1956, S. 63. 22 Darauf hat auch Mellor hingewiesen: „The disposition/display distinction cuts across the observable/theoretical distinction." Mellor 1971, S. 80.
3.2 Abstraktion, Naturgesetz und Disposition
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ren Dispositionen wie Elastizität etc. zuschreiben, ohne daß die Manifestationen solcher Dispositionen beobachtbar sind. Umgekehrt ist aber zutreffend, daß experimentelle Evidenz (ζ. B. durch Beobachtung) für eine Disposition nur dann eingeholt werden kann, wenn die Disposition auch manifest ist. Aus diesem Grund ist die Manifestation einer Disposition eine notwendige aber nicht hinreichende Bedingung für ihre Beobachtbarkeit. Die Gleichsetzung von Manifestationsbedingungen und Beobachtungsbedingungen hegt auch der Behauptung Poppers und Mellors zugrunde alle Universalien seien Dispositionen. Dies werde ich weiter unten ausführen. Wenn ich nun also behaupte, daß Naturgesetze physikalischen Systemen Dispositionen zu einem bestimmten Verhalten zuschreiben, dann bedeutet das, daß hier ein Verhalten beschrieben wird, das nur unter ganz bestimmten Bedingungen, die möglicherweise gar nicht realisiert werden oder sogar gar nicht realisiert werden können, manifest ist. Die Dispositionen zu diesem Verhalten allerdings, von denen in den Gesetzen die Rede ist, besitzen die Systeme unter allen Umständen. Der Umstand, unter dem eine Disposition, die in Naturgesetzen zugeschrieben wird, manifest ist, ist die Unabhängigkeit des physikalischen Systems. Der Begriff der Unabhängigkeit, den ich hier in Anspruch nehme, wird in den nächsten Abschnitten erläutert. Im weiteren Verlauf der Arbeit soll mit Hilfe des Begriffs der Disposition die Methode der Abstraktion verständlich gemacht werden. Nun sind die Manifestationsbedingungen von Dispositionen, die durch Naturgesetze beschrieben werden, typischerweise Umstände, in denen das physikalische System isoüert ist. Es entsteht dann die Frage, ob Dispositionen Überlagerungssituationen, Situationen also, in denen die Manifestationsbedingungen gerade nicht realisiert sind, verständlich machen können. Für die Lösung dieses Problems ist die im folgenden zu explizierende Unterscheidung kontinuierlich manifestierbarer Dispositionen von diskontinuierlich manifestierbaren Dispositionen relevant. Sie läßt sich an den Beispielen der Zerbrechlichkeit und der Löslichkeit demonstrieren. Im Falle der Zerbrechlichkeit des Glases verhält sich die Sache folgendermaßen: Das Glas ist entweder zerbrochen oder nicht. Die
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3. Abstraktionen
Realisierung der Manifestationsbedingungen führt zu einer diskontinuierlichen Änderung des Systems, hier des Glases. Die Disposition der Zerbrechlichkeit ist eine diskontinuierlich manifestierbare Disposition. Ob ein Glas zerbrechlich ist, wissen wir erst dann, wenn die Manifestationsbedingungungen auch tatsächlich realisiert sind. Zwar ist eine bestimmte Menge Salz auch entweder in Wasser gelöst oder nicht, aber dennoch macht es in diesem Falle Sinn bei einer schrittweisen Realisierung der Manifestationsbedingungen von einer parallelen schrittweisen Realisierung der Manifestation der Disposition zu sprechen. Je mehr Wasser ich in den Behälter, in dem sich das Salz befindet, schütte, um so mehr löst sich das Salz auf. Solche Dispositionen werde ich als kontinuierlich manifestierbare Dispositionen bezeichnen.23 Um zu wissen, daß die Disposition einer Menge Salz, sich in so und so viel Wasser aufzulösen, besteht, ist es nicht notwendig, die Manifestationsbedingungen tatsächlich zu realisieren. Daß dem Salz eine solche Disposition zukommt, läßt sich schon absehen, wenn man Versuche mit weniger Wasser gemacht hat. Daß die Manifestationsbedingungen tatsächlich realisiert sind oder realisiert werden, ist für die Frage, ob wir hinreichend Evidenz für die legitime Zuschreibung der Disposition besitzen, nicht entscheidend. Für das Vorhandensein kontinuierlich manifestierbarer Dispositionen kann es also auch dann experimentelle Evidenz geben, wenn die eigentlichen Manifestationsbedingungen nicht realisiert sind. Aus diesem Grunde sollte man sie - möglicherweise im Gegensatz zu den diskontinuierlich manifestierbaren - für legitimerweise zuschreibbare Eigenschaften halten. Die Dispositionen physikalischer Systeme sind typischerweise solche kontinuierlich manifestierbaren Dispositionen. Die Behauptung, Naturgesetze beschrieben die kontinuierlich manifestierbaren Dispositionen physikalischer Systeme, entstand
23 Die Kontinuität ergibt sich in diesem Beispiel deshalb, weil Salz als „mass-term" verwendet wurde. Ein einzelnes Salzkristall hat die diskontinuierlich manifestierbare Disposition sich aufzulösen. Diese Beobachtung ist zutreffend, aber kein Einwand gegen die vorgestellte Terminologie. Es geht mir lediglich darum, diese an einem Beispiel zu erläutern.
3.2 Abstraktion, Naturgesetz und Disposition
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bei dem Versuch, die These Cartwrights, daß Naturgesetze Wirkungsvermögen beschreiben, der kausalen Assoziationen des Begriffs „Wirkungsvermögen" zu entledigen. Dieser Begriff setzt eine Ursache voraus, die ein Vermögen besitzt, etwas zu bewirken. Typischerweise handelt es sich dabei um das Verhältnis, das zwischen dem Verhalten eines physikalischen Systems und demjenigen eines anderen physikalischen Systems besteht. Ζ. B. kann ich das Verhalten eines Billardballes als Ursache des Verhaltens eines anderen bezeichnen. Ich betrachte hier die beiden Billardbälle als Teil eines gemeinsamen Systems, dessen Verhalten ich beschreibe. Wenn man Ursache und Wirkung einen Platz zuteilen will, dann bezieht man diese Zuteilung auf einen Ort innerhalb des zu beschreibenden Verhaltens (bzw. der Disposition dazu) eines physikalischen Gesamtsystems und nicht auf das Verhältnis des physikalischen Systems zu seinem Verhalten. Darüber hinaus fehlt der Beziehung des physikalischen Systems zu seinem Verhalten eine typische Eigenschaft der Kausalrelation, nämlich die zeitliche Aufeinanderfolge. Aus diesem Grund operiere ich in der vorhegenden Arbeit mit dem Begriff der Disposition und nicht mit dem des Wirkungsvermögens (oder des kausalen Vermögens). Abschließend möchte ich noch das Verhältnis der These, Naturgesetze schrieben physikalischen Systemen Dispositionen zu, zu der Universalientheorie von Armstrong zu skizzieren. Dispositionen sind als Eigenschaften keine Partikularien, sondern Universahen. Es kann verschiedene Instantiierungen einer Disposition geben, ζ. B. in verschiedenen physikalischen Systemen der gleichen Art. Insofern Dispositionen Universahen sind, ist das hier vorgeschlagene Naturgesetzverständnis demjenigen von Armstrong und anderen ähnlich. Allerdings sind Dispositionen nicht diejenigen Universailen, die Armstrong für seine Konzeption benutzt. Während die von ihm postulierten Universalien Relationen zwischen Eigenschaften sind, die unter allen Umständen manifest sind, handelt es sich bei der Dispositionsthese um eine Relation zwischen einem physikalischen System (einem Einzelding) und seinem Verhalten oder Zustand, eine Eigenschaft, die ihm nur unter bestimmten Umständen zukommt.
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3. Abstraktionen
3.2.4 Extrapolation auf reine Fälle Als ein Beispiel für die Erklärungskraft der These, Naturgesetze beschrieben kontinuierlich manifestierbare Dispositionen, möchte ich den Fall der Extrapolation auf reine Fälle vorstellen.24 Dabei geht es mir nicht um die Behauptung, die empiristische Naturgesetzkonzeption könne diesen Fall nicht angemessen beschreiben, sondern darum, zu verdeutlichen, was genau durch meine These verständlich gemacht werden soll - und was nicht.25 In Lehrbüchern der Festkörperphysik findet man Angaben über das Verhalten von Kristallen wie Lithiumfluorid. Für die spezifische Wärme von Lithiumfluorid bei niedrigen Temperaturen gilt: Cy = (12/5)π^(Τ/θ 0 1 ') 3
(L) l
dabei gilt für die Debyetemperatur: 9D = 430 K. Ich gehe davon aus, daß es in der Natur keine reinen Lithiumfluoridkristalle gibt und daß auch noch nie ein solcher künstlich hergestellt werden konnte. Wenn es sich tatsächlich so verhielte, mit welcher Berechtigung könnten wir dann eine Aussage über Lithiumfluorid machen, wenn wir streng genommen, niemals Messungen an einem reinen Lithiumfluoridkristall vorgenommen haben? Folgendes Vorgehen scheint möglich zu sein: Ausgangspunkte sind verschiedene Festköper, in verschiedenem Maße verunreinigte Lithiumfluoridkristalle. Der Grad der Verunreinigung läßt sich ζ. B. durch spektroskopische oder ähnliche Untersuchungen bestimmen. Wenn wir nun das Verhalten dieser Festkörper hinsichtlich der spezifischen Wärme messen, dann haben wir es mit der Überlagerung des Verhaltens des Kristalls mit dem der Verunreinigungen zu tun. Die Festkörper lassen sich nun nach dem Grad der Verunreinigung ordnen. Die Messungen ergeben vermutlich eine Folge von Gleichungen, deren „Häufungspunkt" die Gleichung (L) ist. Mit welchem Recht darf man nun auf der Grundlage der Folge darauf
24 Dazu siehe auch Cartwright 1989, Kap. 5. 25 Armstrong, den ich als einen Vertreter der empiristischen Naturgesetzkonzeption genannt habe, behandelt das Problem ausfuhrlich in Kapitel 8 seines Buches über Naturgesetze. Siehe Armstrong 1983.
3.2 Abstraktion, Naturgesetz und Disposition
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schließen, daß für den reinen Lithiumfluoridkristall die Gleichung (L) gilt, wenn vorausgesetzt wurde, daß diese Gleichung selbst nicht Teil der Folge ist? Fassen wir Naturgesetze als die Zuschreibung kontinuierlich manifestierbarer Dispositionen physikalischer Systeme auf, ergibt sich das folgende Bild: Das Gesetz (L) beschreibt, wie sich ein Lithiumfluoridkristall unter bestimmten Bedingungen - und das heißt hier: wenn er ohne Verunreinigungen realisiert ist - hinsichtlich der spezifische Wärme verhielte. Da diese Bedingungen (nach Voraussetzung) jedoch noch nie realisiert wurden, handelt es sich um eine kontrafaktische Situation. Wenn die Bedingungen irgendwann einmal realisiert werden sollten, handelt es sich um eine faktische Situation. Ob Dispositionen faktische oder kontrafaktische Situationen beschreiben, ist nicht relevant. Relevant ist die Zuschreibung von Verhalten unter bestimmten Bedingungen. Doch zurück zu unserem Beispiel. Da wir es in der Physik mit kontinuierlich manifestierbaren Dispositionen zu tun haben (so die These), geht die schrittweise Realisierung der Manifestationsbedingungen, d.h. die Verringerung der Verunreinigungen, mit einer schrittweisen Annäherung des Verhaltens der jeweiligen Gesamtsysteme an das Verhalten des reinen Lithiumkristalls einher. Wenn eine derartige Kontinuität in der Natur vorausgesetzt wird, ist der Schluß von der Folge der Untersuchungsergebnisse auf den Fall des reinen Lithiumfluoridkristalls berechtigt. Wir haben hier ein Beispiel dafür, wie mit Hilfe der These, Naturgesetze beschrieben kontinuierlich manifestierbare Dispositionen, ein Ausschnitt aus der Praxis der Physik verständlich gemacht werden kann. Die Disposition soll nicht erklären, weshalb ein Lithiumkristall gerade diesen Verlauf der spezifischen Wärme und nicht etwa einen anderen besitzt. In dieser Hinsicht ist durch das Gesetz, unabhängig davon wie es interpretiert wird, schon alles gesagt. Die Dispositionsthese soll Teile der physikalischen Praxis verständlich machen. Sie macht verständlich, weshalb es legitim ist, auf den Grenzfall zu schließen.
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3. Abstraktionen
3.2.5 Die empiristische Naturgeset^kon^eption und das Problem der Überlagerungssitmtionen Mein Argument für die These, Naturgesetze handelten von kontinuierlich manifestierbaren Dispositionen, ist von der folgenden Form: Wenn nicht vorausgesetzt würde, daß Naturgesetze von solchen Dispositionen handelten, dann wäre völlig unverständlich, weshalb gewisse Argumentationen, derer man sich innerhalb der Physik bedient, legitim sind.26 Die Argumentationsmuster aus der physikalischen Praxis, die es hier verständlich zu machen gilt, betreffen ÜberlagerungsSituationen. Damit meine ich Situationen, in denen das Verhalten physikalischer Teilsysteme derart eine Einheit bildet, daß es nicht getrennt beobachtet oder gemessen werden kann. Wenn uns das Verhalten zweier isolierter physikalischer Systeme bekannt ist, dann stellt sich die Frage, was wir über diese beiden Systeme voraussetzen, wenn wir annehmen, wir hätten, wenn sie Teilsysteme eines Gesamtsystems wären, auch Informationen über das Verhalten dieses Gesamtsystems. Der Einfachheit halber werde ich die Diskussion auf Fälle ohne Wechselwirkung der beteiligten Teilsysteme beschränken. Ernst Mach hatte nicht so sehr gegen die Verwendimg des Begriffs des Naturgesetzes als gegen diejenige der Beziehung von Ursache und Wirkung argumentiert. Allerdings meinte er für diese Beziehung eine Regelmäßigkeit in der Natur voraussetzen zu müssen, so wie dies die empiristische Lesart von Naturgesetzen ebenfalls muß. Aus diesem Grund kann man Machs Kritik an der Ursache-Wirkungsbeziehung auch als Kritik an der empiristischen Naturgesetzkonzeption lesen.
26 Cartwright beginnt ihr Buch, in dem sie für Wirkungsvermögen argumentiert, mit den folgenden Worten: „Science is measurement; capacities can be measured; and science cannot be understood without them." (Cartwright 1987, S. 1) Wenn man in den Thesen Cartwrights die Wirkungsvermögen durch kontinuierlich manifestierbare Dispositionen ersetzt, dann erhält man die These, die ich hier vertreten möchte.
3.2 Abstraktion, Naturgesetz und Disposition
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In der Natur gibt es keine Ursache und keine Wirkung. Die Natur ist nur einmal da. Wiederholungen gleicher Fälle, in welchen A immer mit Β verknüpft wäre, also gleiche Erfolge unter gleichen Umständen, also das wesentliche des Zusammenhangs zwischen Ursache und Wirkung, existieren nur in der Abstraktion, die wir zum Zweck der Nachbildung der Tatsachen vornehmen.
Die Natur oder die Welt ist nur einmal da. Damit ist die Wiederholung gleicher Fälle aber noch nicht ausgeschlossen. Wiederholungen gleicher Fälle sind in einer Welt erst dann ausgeschlossen, wenn sich die As - in unserer Diktion die physikalischen Systeme - oder die Bs, also das Verhalten derselben, nicht von anderen As oder Bs trennen lassen. Dieses Problem der Isolation von Instanzen eines Naturgesetzes taucht aber auch dann schon auf, wenn es überhaupt nur eine Instanz gibt. Der Gesichtspunkt der Wiederholbarkeit verschärft dieses Problem lediglich. Unsere Theorien oder Gesetze physikalischer Systeme sind typischerweise abstrakt. Das heißt, wir sehen von der Wechselwirkung, dem kausalen Einfluß anderer physikalischer Systeme und von der Uberlagerung des Verhaltens der physikalischen Systeme ab. In den Naturgesetzen ist also von isolierten physikalischen Systemen die Rede, von „reinen Fällen". Wenn wir nun Naturgesetze als (vereinheitlichte) Beschreibungen bloß des tatsächlichen Verhaltens physikalischer Systeme auffassen, dann müssen die Systeme auch genau so existieren und sich genau so verhalten, wie sie beschrieben werden. Naturgesetze können demzufolge nur dann Anwendung finden, wenn folgende Bedingung erfüllt ist: Die physikalischen Systeme, von denen die Rede ist, müssen isoliert sein, denn sie werden als solche beschrieben. Diese Bedingung ist für die nun folgende Argumentation zentral, denn es wird sich zeigen, daß sie in vielen Fällen, in denen Naturgesetze angewandt werden, nicht erfüllt ist. Die Bedingung verlangt nicht nur, daß physikalische Systeme bezüglich Wechselwirkung abgeschlossen, also kausal isoliert sein müssen. Auch das Verhalten verschiedener physikalischer Systeme darf sich nicht überlagern, d. h. um Naturgesetze als Beschreibungen des tatsächlichen Verhaltens physikalischer Systeme
27 Mach 1982, S. 459.
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3. Abstraktionen
auffassen zu können, muß es als Verhalten dieses einen Systems auch identifizierbar sein. (Es wird sich zeigen, daß der zweite Teil der Unabhängigkeitsbedingung verletzt sein kann, auch wenn die Systeme kausal isoliert sind.) Diese Unabhängigkeitsbedingung dafür, daß es sich um eine Instanz eines Naturgesetzes handelt, d.h. daß wir ein Naturgesetz auf einen Fall anwenden dürfen, ergibt sich aus der empiristischen Interpretation von Naturgesetzen. Das Problem, um das es nun gehen soll, ist das folgende: De facto werden Naturgesetze auf zahlreiche Fälle, in denen die geforderte Unabhängigkeitsbedingung nicht erfüllt ist, angewendet. Die Theorie des harmonischen Kristalls wird auf metallische Festkörper oder sogar auf amorphe Festkörper angewandt. Die Maxwellschen Gleichungen werden auf Systeme angewandt, die der Gravitationskraft unterhegen, obwohl davon in den Maxwellgleichungen nicht die Rede ist. (Wenn ich hier von Anwendung spreche, dann meine ich die Verwendung zum Zwecke der Beschreibung, Vorhersage, Erklärung o. ä.) Die empiristische Naturgesetzkonzeption kann dies nicht erklären. Anders formuliert: Wenn die geforderte Unabhängigkeitsbedingung nicht erfüllt ist, dann ist nicht einzusehen, wie es in einer Welt Instanzen von Naturgesetzen geben kann, die nicht die Welt als ganze betreffen. Dieses Problem für die empiristische Naturgesetzkonzeption soll nun an einem Beispiel diskutiert werden. Das Beispiel anhand dessen wir diese Untersuchung durchführen, ist der schon vertraute Fall der spezifischen Wärme. Wir betrachten die spezifische Wärme dreier physikalischer Systeme, eines Kristalls, eines nichtwechselwirkenden Elektronengases und eines metallischen Festkörpers. Es gelten nun die folgenden drei Gesetze in Abhängigkeit von der Temperatur: Kristalle besitzen eine spezifische Wärme, für die gilt: cv = dT 3 . (1) Nichtwechselwirkende Elektronengase („Elektronenseen") besitzen eine spezifische Wärme, für die gilt: cv = aT. (2) Metallische Festkörper besitzen eine spezifische Wärme, für die gilt cv =aT+dT3. (3)
3.2 Abstraktion, Naturgesetz und Disposition
157
(Diese Formulierungen sind als neutral bezüglich der beiden Thesen, daß es sich bei dem ausgesagten Verhalten entweder um gewöhnliche Eigenschaften oder um Manifestationen von Dispositionen handelt, aufzufassen.) Das Verhältnis der Gesetze untereinander wird von Physikern häufig so beschrieben, daß der metallische Festkörper aus einem Kristall und einem nicht wechselwirkenden Elektronengas zusammengesetzt aufgefaßt werden muß und daß von einem Beitrag sowohl der kristallinen Struktur als auch einem Beitrag der Elektronen zur spezifischen Wärme auszugehen ist. Zusammengenommen, so wird behauptet, ergeben diese Faktoren die spezifische Wärme (aT+dT3 ). In einem solchen Fall wird die Kenntnis des Verhaltens der einzelnen Systeme in den Situationen, in denen sie isoliert vorhanden sind und sich nicht wechselseitig stören oder überlagern, verwendet, um auch das Verhalten in den Überlagerungssituationen verständlich zu machen. Es stellt sich die Frage, wie diese metaphorische Redeweise unter Zuhilfenahme des Naturgesetzbegriffs interpretiert werden sollte. Zunächst sollen die Möglichkeiten des Vertreters der empiristischen Naturgesetzkonzeption untersucht werden, das Verhältnis der Gesetze zueinander zu spezifizieren. Eine erste Möglichkeit besteht darin, zu behaupten, es handele sich um drei voneinander unabhängige Gesetze im folgenden Sinne: Das erste treffe auf Kristalle und deren Verhalten, das zweite auf nichtwechselwirkende Elektronengase und deren Verhalten und das dritte auf metallische Festkörper und deren Verhalten zu. Soweit ist diese Behauptung sicher richtig. Entscheidend ist nun der Zusatz: Mehr sei dazu nicht zu sagen. Diese Antwort läßt die physikalische Praxis, einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Gesetzen herzustellen, völlig willkürlich erscheinen. Der Zusammenhang besteht darin, daß auf der Grundlage des Verhaltens des Kristalls ein Term in der Gleichung für den metallischen Festkörper berechnet wird. Man bedient sich der Methode der Abstraktion und das bedeutet, daß man die Gesetze, denen die Teilsysteme folgen würden, wenn sie isoliert wären, auch auf das Gesamtsystem anwendet. Es ist jedoch auf der Grundlage der soeben vorgestellten Reaktion des Vertreters der empiristischen Naturgesetzkonzeption nicht zu erkennen, weshalb es legitim sein sollte,
3. Abstraktionen
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das Gesetz über den Kristall auch auf den metallischen Festköroer 28
anzuwenden. Eine yweite Möglichkeit, die derjenige hat, der Naturgesetze im wesentlichen als Beschreibungen von Regelmäßigkeiten auffaßt, besteht darin, zu bestreiten, daß das dritte Gesetz, also dasjenige, das das Verhalten des metallischen Festkörpers beschreibt, ein eigenes Gesetz in dem Sinne ist, daß es einen physikalischen Sachverhalt zum Ausdruck bringt, der über das hinaus geht, was in den beiden anderen Gesetzen bereits zum Ausdruck gebracht wurde. Letztlich ließe sich also, so die Behauptung, auf das dritte Gesetz
28 Von empiristischer Seite könnte man zu argumentieren versuchen, daß es hier überhaupt keinen Erklärungsnotstand gibt, da die folgende Strategie anwendbar sei: Man fuhrt eine Unterscheidung zwischen den phänomenologischen Gesetzen einerseits, also denen, die gemessen wurden, und den theoretischen Gesetzen, die zur Erklärung herangezogen werden, andererseits ein. Auch wenn beide Gesetze auf den gleichen Ausdruck fuhren, müsse diese Unterscheidung getroffen werden. Weiter könnte dann argumentiert werden, daß von einem Fall (Kristall) auf den anderen (metallischer Festkörper) nur die theoretischen Gesetze übertragen werden, nicht aber die phänomenologischen. Wenn man nun zusätzlich noch als Hypothese einfuhrt, daß lediglich die phänomenologischen Gesetze eigentliche Naturgesetze seien, nicht aber die theoretischen, dann taucht das von mir skizzierte Problem überhaupt nicht auf. Das in diesem Sinne eigentliche Gesetz in bezug auf die spezifische Wärme des Kristalls, das phänomenologische also, wird nur auf den Kristall, nicht aber auf den metallischen Festkörper angewandt. Die theoretischen Gesetze werden instrumentalistisch gedeutet. Dem ist entgegenzuhalten, daß die empiristische Naturgesetzkonzeption keine Handhabe bietet, eine solche Unterscheidung einzuführen, da auch die theoretischen Gesetze Beschreibungen von Regelmäßigkeiten sind. Zu der bisher diskutierten Konzeption müßte eine zusätzliche Hypothese hinzukommen, die verständlich macht, weshalb man bestimmte Beschreibungen von Verhalten physikalischer Systeme nicht als Naturgesetze verstanden wissen will. Eine solche zusätzliche Hypothese wäre nicht durch die Naturgesetzkonzeption selbst motiviert und bedeutete daher eine Schwächung der ursprünglichen Konzeption.
3.2 Abstraktion, Naturgesetz und Disposition
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verzichten, da es keine weitere Regelmäßigkeit gegenüber denjenigen, die in den Gesetzen über den Kristall und das nichtwechselwirkende Elektronengas beschrieben wurden, aussagt. Solange zwischen dem Kristall und den Elektronen keine Wechselwirkung besteht, handele es sich eigentlich um zwei getrennte Systeme, die dann natürlich auch getrennt berechnet werden müssen. Die Methode der Abstraktion, also die getrennte Berechnung der beiden Beiträge zur spezifischen Wärme des metallischen Festkörpers, wäre damit legitimiert. Diese Analyse des Verhältnisses der drei Gesetze zueinander übersieht, daß das dritte Gesetz, also dasjenige, das das Verhalten des Gesamtsystems beschreibt, gegenüber denjenigen Gesetzen, die das Verhalten der Teilsysteme beschreiben, sehr wohl einen zusätzlichen physikalischen Sachverhalt beschreibt: Die spezifische Wärme des Gesamtsystems setzt sich aus denjenigen der Teilsysteme additiv zusammen. Obwohl hier (nach Voraussetzung) die kausale Unabhängigkeit der Teilsysteme gegeben ist, lassen sich die Verhalten derselben nicht isolieren. Es kann nur eine, nämlich die „addierte" spezifische Wärme gemessen werden. Der zweite Teil der Unabhängigkeitsbedingung, der zu der Behauptung einer Instantiierung eines empiristisch verstandenen Naturgesetzes notwendig ist, nämlich die unabhängige Meßbarkeit der Verhalten der Teilsysteme, ist nicht gegeben. Unter Voraussetzung der These, daß Naturgesetze tatsächliche Regelmäßigkeiten beschreiben, muß nämlich insbesondere gefordert werden, daß Instanzen solcher Regelmäßigkeiten auch wirklich vorhanden sind, um von einer Instantiierung eines Gesetzes sprechen zu können. Das wiederum bedeutet, daß für diese Konzeption vorausgesetzt werden muß, daß das Verhalten des Kristalls einerseits sowie das Verhalten der nichtwechselwirkenden Elektronen andererseits isolierbar sein muß. Identifizierbar ist aber nur das Gesamtverhalten des metallischen Festkörpers, nicht aber dasjenige des Kristalls oder dasjenige der Elektronen. Die Voraussetzung, die für diese zweite Möglichkeit, die Methode der Abstraktion als legitim auszuweisen, in Anspruch genommen wird, die Identifizierbarkeit des Verhaltens der Teilsysteme, besteht also nicht.
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3. Abstraktionen
An dem folgenden Beispiel wird noch deutlicher, daß man nicht behaupten kann, das Verhalten eines Gesamtsystems sei dadurch zu beschreiben, daß die Gesetze, die das Verhalten der Teilsysteme beschreiben, auf das Gesamtsystem zutreffen. Denn das Verhalten der Teilsysteme, das diese in isolierten Situationen zeigen würden, zeigt sich in einer Uberlagerungssituation nicht. (Vorausgesetzt wird hier weiterhin die empiristische Naturgesetzkonzeption.) In Fällen, bei denen man nicht mit positiv definiten Funktionen wie der spezifischen Wärme zu tun hat, wird offenbar, daß man in Überlagerungssituationen nicht davon sprechen kann, daß sowohl das eine Verhalten wie auch, getrennt davon, das andere Verhalten vorhanden ist. Ein solcher Fall ist das Natriumatom (oder irgend 29
ein anderes). Solange kein Magnetfeld oder kein externes elektrisches Feld vorhanden ist, kann man am Natrium ein ganz spezifisches Linienspektrum messen, das Aufschluß über die Energieniveaus der Elektronen gibt. Wir haben ein Gesetz, das das Verhalten eines Elektrons im Coulombpotential des Natriumkerns beschreibt. Schaltet man nun ein Magnetfeld ein, verschieben sich die Energieniveaus und man erhält andere Spektrallinien. (Das Elektron im Magnetfeld ist hier das zweite Teilsystem. Das Gesamtsystem ist das Elektron im Coulombfeld und im Magnetfeld.) Die neuen Energieniveaus werden gemeinsam von den Coulombpotentialen und dem Magnetfeld hervorgerufen. Das Energieniveau, das allein durch das Coulombpotential hervorgerufen wurde, ist dann, wenn das Magnetfeld eingeschaltet wird, nicht mehr vorhanden. Es hat sich hier noch deutlicher als im Falle der spezifischen Wärme gezeigt, daß das Gesamtverhalten, das durch das Gesetz, welches sich auf das Gesamtsystem bezieht, beschrieben wird, nicht mit dem Verhalten des einen Teilsystems und dem Verhalten des anderen Teilsystems gleichzusetzen ist. Aus diesem Grund kann auf das Gesetz, das das Gesamtverhalten beschreibt, nicht verzichtet werden. Die Strategie, zu behaupten, das dritte Gesetz in der oben genannten Liste bringe keinen neuen physikalischen Sachverhalt zum Ausdruck, ist damit gescheitert. Das dritte Gesetz
29 Ein Beispiel dieser Art wird in Cartwright 1983, S. 67ff diskutiert.
3.2 Abstraktion, Naturgesetz und Disposition
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ist keineswegs überflüssig. Damit bleibt das Problem der Anwendung der anderen Gesetze auf diesen Fall weiterhin ungelöst. Ein Einwand gegen diese Überlegungen soll noch diskutiert werden. Man mag an dieser Stelle einwenden wollen, daß aber doch im ersten Fall das Verhalten der Teilsysteme, d. h. die Beiträge zur spezifischen Wärme des Gesamtsystems, sich erhalten, im Gegensatz zum soeben geschilderten Fall. Daher ist die zweite Möglichkeit, das Verhältnis der Gesetze untereinander im Einklang mit der empiristischen Naturgesetzkonzeption verständlich zu machen, zumindest im Falle der spezifischen Wärme durchaus vertretbar. Ich möchte hier nicht die Behauptung zurückweisen, daß sich die Beiträge erhalten, es sollte nur klar gemacht werden, daß sie nicht von Seiten des Empiristen zur Stützung der Behauptung herangezogen werden kann, die Abstraktion ließe sich auch vor dem Hintergrund einer empiristischen Naturgesetzkonzeption als eine legitime Methode ausweisen. Aus folgendem Grund nicht: Im Falle des dritten Gesetzes ist experimentell nur die gesamte spezifische Wärme des metallischen Festkörpers identifizierbar. Aus diesem Grund kann das empiristisch verstandene Naturgesetz (3) auf das Gesamtsystem angewandt werden. Experimentell identifizierbar am metallischen Festkörper ist also nur das Gesamtverhalten desselben, nicht aber dasjenige der Teilsysteme - des Kristalls oder der Elektronen. Wegen der fehlenden experimentellen Identifizierbarkeit läßt sich von Beiträgen zur gesamten spezifischen Wärme, die sich erhalten nur dann reden, wenn man sich der theoretischen Methode der Abstraktion bedient (und „in Gedanken" den jeweils anderen Beitrag abzieht). Da der Ausweis der Legitimität der Abstraktion vor dem Hintergrund des empiristischen Naturgesetzverständnisses aber gerade zur Debatte steht, darf auf die Abstraktion in dieser Argumentation nicht zurückgegriffen werden. Eine dritte Möglichkeit, die empiristische Naturgesetzkonzeption zu retten, besteht darin, das Gesetz über den metallischen Festkörper fur das allein geltende Gesetz zu halten, aus dem die anderen durch Spezifikation hervorgehen: Die beiden anderen Regelmäßigkeiten wären demnach Spezialfälle des allgemeinen Gesetzes. Dem ist folgendes entgegenzuhalten: Wir erhalten hier lediglich eine Rechenvorschrifi, wie wir von der mathematischen Beschreibung
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3. Abstraktionen
eines physikalischen Systems (des metallischen Festkörpers) zu der mathematischen Beschreibung eines anderen physikalischen Systems (des Kristalls oder des Elektronengases) gelangen. Für unser eigentliches Problem, die Frage, weshalb ein so gewonnener Ausdruck auf ein System angewandt werden darf, ist damit nichts gewonnen. Die Frage ist ja, weshalb wir den Ausdruck für den Kristall, den wir möglicherweise durch die Spezifizierung eines anderen Gesetzes erhalten haben, auch auf den metallischen Festkörper anwenden dürfen. Durch den Hinweis darauf, wie wir durch eine Rechenoperation einen Ausdruck aus einem anderen gewinnen, ist für die Frage der Legitimität der Anwendung der einzelnen Ausdrücke auf spezielle Situationen nichts gewonnen. Durch die Rechenvorschrift wird ja nichts daran geändert, daß das Verhalten, von dem in dem Gesetz über den Kristall die Rede ist, ein anderes ist, als das Verhalten, das der metallische Festkörper zeigt. Eine Variante dieser dritten Möglichkeit besteht darin, auf das quantenmechanische Postulat, das uns angibt, wie Teilsysteme zu Gesamtsystemen zu kombinieren sind, zu verweisen. Die Beschreibung von Überlagerungs fällen erfordert eine zusätzliche Annahme. Diese Zusatzannahme ist unabhängig davon, ob die Teilsysteme des Gesamtsystems miteinander wechselwirken. Deshalb betrifft sie auch unser Beispiel. Wörtlich heißt es in dem Lehrbuch von A. Böhm: With the notion of direct product of spaces we can formulate the basic assumption about the physical combination of two quantummechanical systems: IVa. Let one physical system be described by an algebra of operators, Aj, in the space R b and the other physical system by an algebra A 2 in R2. The direct-product space Rt ® R2 is then the space of physical states of the physical combinations of these two systems, and its observables are operators in the direct-product space. The particular observables of the first system alone are given by A, ® I, and the observables of the second system alone are given by I® A 2 (I = identity operator).
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We reemphasize that IVa is a basic assumption of quantum mechanics and can only be justified by the fact that such physical systems exist.
Übertragen auf unser Beispiel bedeutet das Postulat: Nehmen wir einmal an, wir könnten den Kristall allein durch einen Hamiltonoperator charakterisieren. Das Verhalten des isolierten Kristalls würde dann durch einen Operator der Form Ηκ beschrieben. Analog würde das Verhalten des isolierten Elektronengases durch einen Hamiltonoperator HE beschrieben. Wenn wir diese beiden physikalischen Systeme als Teilsysteme eines Gesamtsystems metallischer Festkörper betrachten, dann ordnen wir den Teilsystemen die Operatoren Η Κ ® 1 und I ® H E ZU. Das jeweilige Tensorprodukt mit dem Identitätsoperator besagt, daß die Wahrscheinlichkeit, das je andere Teilsystem in demjenigen Zustand zu finden, in dem es sich befände, wenn es isoliert wäre, gleich Eins ist (das gilt für fehlende Wechselwirkung). Insgesamt ergeben sich drei Gesetze. • Das Verhalten des Kristalls wird durch einen Hamiltonoperator Ηκ beschrieben. • Das Verhalten des Elektronengases wird durch einen Hamiltonoperator HE beschrieben. • Das Verhalten des metallischen Festkörpers wird durch einen Hamiltonoperator Ηκ® I + I®HE beschrieben (bei fehlender Wechselwirkung). Wir sind damit an den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurückgekehrt. Wir sind mit drei Gesetzen konfrontiert, deren Zusammenhang durch die empiristische Naturgesetzkonzeption nicht expliziert werden kann. Das dritte Gesetz legitimiert die Abstraktion insofern, als es für einen wechselwirkungsfreien Fall vorschreibt, daß auf den metallischen Festkörper das Gesetz für den Kristall einerseits und das Gesetz für das Elektronengas andererseits anzuwenden ist. Mit dieser quantenmechanischen Vorschrift ist dem Empiristen aber keineswegs geholfen. Es bleibt nämlich unklar, weshalb diese Vorschrift mit der empiristischen Naturgesetzkonzeption überhaupt verträglich ist, denn an der Tatsache, daß die Unabhängigkeitsbedingung, die zufolge dieser Konzeption 30 Böhm 1986, S. 147.
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notwendige Voraussetzung für die Legitimität der Anwendung der Naturgesetze ist, nicht erfüllt ist, hat sich auch durch diese Vorschrift nichts geändert. Die Unabhängigkeitsbedingung und die quantenmechanische Vorschrift sind nicht miteinander in Einklang zu bringen. Weil das Verhalten der drei physikalischen Systeme jeweils ein anderes ist, die empiristische Konzeption sich aber auf die Beschreibung des aktualen Verhaltens beschränkt, vermag diese Konzeption nicht, den in diesem Postulat ausgedrückten Zusammenhang zwischen den physikalischen Systemen verständlich zu machen. Weit davon entfernt, dem Vertreter der empiristischen Konzeption eine Hilfe zu sein, zeigt dieses Postulat erneut, wie unzureichend die empiristische Konzeption von Naturgesetzen ist. Es ist nun an der Zeit, zu untersuchen, wie die Dispositionskonzeption mit diesem Problem umzugehen vermag.
3.2.6
Dispositionskon^eption und Überlagerungssituationen
Die Schwierigkeiten der empiristischen Naturgesetzkonzeption verdanken sich dem Umstand, daß das Verhalten von physikalischen Systemen als gewöhnliche Eigenschaft aufgefaßt wird, d. h. als Eigenschaft, die unter allen Umständen manifest ist. In vielen Fällen, in denen Naturgesetze verwendet werden, ist das Verhalten, von dem in den Naturgesetzen die Rede ist, aber nicht manifest. Dazu gehören die Uberlagerungssituationen. Die obigen Überlegungen haben gezeigt, daß wir die Legitimation der gängigen physikalischen Praxis der Abstraktion nicht verständlich machen können, wenn wir annehmen, Naturgesetze schrieben physikalischen Systemen Eigenschaften zu, die unter allen Umständen (also auch in Überlagerungssituationen) manifest sind. Aus diesem Grund möchte ich die These vertreten, daß Naturgesetze physikalischen Systemen Eigenschaften zuschreiben, die nur unter ganz bestimmten Bedingungen manifest sind, nämlich dann, wenn die Systeme isoliert sind. Diese These bedeutet aber nichts anderes, als zu behaupten, daß Naturgesetze physikalischen Systemen Dispositionen zu-
3.2 Abstraktion, Naturgesetz und Disposition
165
schreiben, sich in Isolationssituationen auf bestimmte Art zu verhalten. Wenn Naturgesetze als Beschreibungen oder Zuschreibungen von kontinuierlich manifestierbaien Dispositionen aufgefaßt werden, dann ist verständlich, weshalb man ein Naturgesetz auch dann anwenden kann, wenn das Verhalten, das ein physikalisches System unter Manifestationsbedingungen zeigen würde, nicht manifest ist. Es wird nicht das Verhalten selbst, sondern die Disposition dazu, die auch dann vorhanden ist, wenn die Manifestationsbedingungen nicht realisiert sind, dem physikalischen System zugeschrieben. Es folgt hieraus: Das gemäß der empiristischen Konzeption interpretierte Gesetz über die spezifische Wärme eines Kristalls trifft auf metallische Festkörper nicht zu, weil das Verhalten, das in einem solchen Gesetz beschrieben wird, nicht vorhanden ist. Das gemäß der Dispositionskonzeption interpretierte Gesetz über die spezifische Wärme des Kristalls dagegen trifft nicht nur auf den Kristall, sondern auch auf den metallischen Festkörper zu, da in beiden Fällen die Disposition zu diesem Verhalten vorhanden ist. Das quantenmechanische Postulat beschreibt, wie sich aus den kontinuierlich manifestierbaren Dispositionen der Teilsysteme eine kontinuierlich manifestierbare Disposition des physikalischen Gesamtsystems ergibt. Dabei wird diese letztere Disposition gegebenenfalls maßgeblich durch einen Term bestimmt, der die Wechselwirkung zwischen den Teilsystemen beschreibt. Ob es eine solche Wechselwirkung gibt, und wie groß sie gegebenenfalls ist, muß im Einzelfall überprüft werden. Gegenüber der empiristischen Naturgesetzkonzeption hat die hier vorgestellte einen weiteren Vorteil: Wenn man Naturgesetze als Zuschreibungen von Dispositionen zu physikalischen Systemen auffaßt, dann läßt sich zwanglos verständlich machen, weshalb Naturgesetze kontrafaktische Behauptungen stützen können. Naturgesetze können deshalb zur Begründung kontrafaktischer Aussagen herangezogen werden, weil sie Aussagen über das Verhalten physikalischer Systeme unter ganz bestimmten Bedingungen machen. Falls diese Bedingungen nicht realisiert sind, handelt es sich bei ihnen selbst um kontrafaktische Aussagen.
166
3. Abstraktionen
Man könnte denken, daß ein zusätzliches Problem für diese Naturgesetzinterpretation ins Spiel kommt, sobald die physikalischen Systeme, über die eine Aussage gemacht wird, hinsichtlich der Wechselwirkung nicht - wie wir es immer vorausgesetzt haben abgeschlossen sind. Es ergibt sich aber lediglich ein Problem für die empiristische Naturgesetzkonzeption. Dieser letzteren Konzeption zufolge ist ein Naturgesetz die Beschreibung allein des aktualen Verhaltens eines physikalischen Systems. Daraus hatte sich als Unabhängigkeitsbedingung ergeben: Das Verhalten des physikalischen Systems darf sich nicht mit anderen überlagern und das System selbst muß hinsichtlich der Wechselwirkung abgeschlossen sein, andernfalls handelt es sich um ein neues physikalisches System, für das ein anderes Gesetz gilt. Wenn nun die Dispositionskonzeption vorausgesetzt wird, dann muß man sich für die Frage der Identität eines physikalischen Systems nicht auf die aktuale Welt beschränken. Das Gesetz macht über physikalische Systeme unter ganz bestimmten Bedingungen eine Aussage. Zu diesen Manifestationsbedingungen der Disposition muß dann gehören, daß das entsprechende physikalische System bezüglich der Wechselwirkung abgeschlossen ist. Während also für die empiristische Konzeption die Unabhängigkeitsbedingung - fehlende Verhaltensüberlagerung, kausale Isolierung - 'inter allen Umständen, unter denen das Gesetz angewendet werden soll, realisiert sein muß, betrifft die Unabhängigkeitsforderung im Fall der Dispositionskonzeption nur ganz bestimmte Bedingungen, nämlich die Manifestationsbedingungen. Die mögliche-Welten-Konzeption von Naturgesetzen teilt mit der Dispositionskonzeption die Einsicht, daß man sich nicht darauf beschränken kann, Naturgesetze als Beschreibungen aktualen Verhaltens physikalischer Systeme aufzufassen. Der Vorschlag, Naturgesetze als Beschreibungen möglicher Welten aufzufassen, leidet unter den folgenden Problemen, die eng miteinander verwandt sind: Weshalb ist die Beschreibung möglicher Welten relevant für unsere aktuale Welt? Gibt es eine Möglichkeit, Aussagen über andere mögliche Welten zu überprüfen? Die Dispositionskonzeption entgeht diesen Schwierigkeiten, weil sie die möglichen Welten gewissermaßen in die aktuale Welt integriert. Die Disposi-
3.2 Abstraktion, Naturgesetz und Disposition
167
donen kommen physikalischen Systemen der aktualen Welt zu. Sie werden unter ganz bestimmten Bedingungen manifest. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Bedingungen erfüllt sind oder nicht, d.h. ob die entsprechenden Situationen faktische oder kontrafaktische sind. Es läßt sich für die Dispositionen auch dann, wenn die Manifestationsbedingungen nicht realisiert sind, experimentelle Evidenz finden, weil sie kontinuierlich manifestierbare Dispositionen sind (vgl. Abschnitt 3.2.4). Umgekehrt ist dies auch der Grund für die Relevanz kontrafaktischer Situationen (Situationen in denen die Manifestationsbedingungen erfüllt wären) für faktische Situationen, in denen die Manifestationsbedingungen nicht erfüllt sind. Da es sich um kontinuierlich manifestierbare Dispositionen handelt, können wir uns in bezug auf solche Situationen, ζ. B. in bezug auf Uberlagerungssituationen, den „Beitrag" der Disposition verständlich machen.
3.2.7
Das Verhältnis
anderen Dispositionskon^eptionen
In diesem Abschnitt soll das Verhältnis dargestellt werden, in dem meine These, daß Naturgesetze physikalischen Systemen Dispositionen zuschreiben, zu anderen Thesen steht, die physikalischen Systemen gleichfalls Dispositionen zuschreiben. Diese verschiedenen Zuschreibungen von Dispositionen, so möchte ich behaupten, sind voneinander unabhängig. Damit meine ich, daß die von mir vertretene Naturgesetzinterpretation weder als ein Argument für noch gegen andere Dispositionszuschreibungen verwendet werden kann. Insbesondere bedeutet dies, daß meine These mit anderen Dispositionszuschreibungen kombiniert werden kann. Auf eine Erörterung anderer Dispositionsthesen kann daher, wenn die Kompatibilität erst einmal gezeigt ist, verzichtet werden. Um das Verhältnis zwischen verschiedenen Dispositionszuschreibungen zu erläutern, ist es notwendig Dispositionen verschiedener Ordnung zu unterscheiden. 31 Einem System oder Ge-
31 Den Vorschlag, den Begriff „Dispositionen Ordnung" einzuführen, verdanke ich Ulrich Kühne.
verschiedener
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3. Abstraktionen
genstand eine Disposition zuzuschreiben bedeutet, zu behaupten, daß dieses System oder dieser Gegenstand sich unter bestimmten Bedingungen auf eine bestimmte Art und Weise verhält, daß eine Eigenschaft nur unter diesen Bedingungen manifest ist. Aufgrund dieser Erinnerung an schon zuvor Gesagtes lassen sich nun Dispositionen verschiedener Ordnung wie folgt definieren: • Di ist eine Disposition erster Ordnung, wenn sie unter den Bedingungen Ai,..., Am manifest ist. • D2 ist eine Disposition zweiter Ordnung relativ zu Di wenn sie unter den Bedingungen Ai,..., Am, Bi,..., Bn manifest ist. Die Zuschreibung von Dispositionen zu physikalischen Systemen gemäß der von mir vorgetragenen Naturgesetzinterpretation ist von anderen Dispositionszuschreibungen unabhängig, weil sie als Dispostionen erster Ordnung und jede weitere Zuschreibung als eine solche höherer Ordnung aufgefaßt werden kann. Ob man dem System - bzw. Subsystemen desselben - weitere Dispositionen, die dann solche höherer Ordnung wären, zuschreibt oder darauf verzichtet, ändert nichts an dem Charakter derjenigen Dispositionen, die gemäß der hier vorgestellten Naturgesetzinterpretation physikalischen Systemen zugeschrieben werden müssen. Die Zuschreibung von Dispositionen aufgrund der Naturgesetzthese ist sowohl mit der Zuschreibung weiterer Dispositionen als auch mit dem Verzicht darauf verträglich. Die Bedingung A, unter der die Disposition eines physikalischen Systems, sich auf die durch das Naturgesetz beschriebene Art und Weise zu verhalten, manifest ist, ist die Unabhängigkeitsbedingung. Das physikalische System muß kausal isoliert sein und sein Verhalten darf sich mit anderen Systemen nicht überlagern. Wenn diese Umstände gegeben sind, dann ist das Verhalten, das von einem physikalischen System in einem Naturgesetz ausgesagt wird, manifest. Diese Behauptung ist mit anderen Dispositionszuschreibungen verträglich, wenn man sie als Disposition zweiter oder höherer Ordnung auffassen kann. Nehmen wir einmal an, Teil unserer Physik seien Gesetze über die Löslichkeit von Salz in Wasser. Nehmen wir als Beispiel die Behauptung, daß χ kg Salz in y 1 Wasser löslich sind (S). Dann besagt das Gesetz (S), daß unter den Bedingungen, daß erstens das System aus Salz und Wasser isoliert ist
3.2 Abstraktion, Naturgesetz und Disposition
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und zweitens das Salz in das Wasser geschüttet wird, sich jenes in diesem auflöst. Das Gesamtsystem aus Salz und Wasser hat die Disposition erster Ordnung sich so zu verhalten, wie das Gesetz es beschreibt, weil dann, wenn die Unabhängigkeitsbedingung (A) erfüllt ist, das folgende Verhalten gemäß (S) manifest ist: Das Salz (als Subsystem des Gesamtsystems aus Wasser und Salz) hat die Disposition zweiter Ordnung, löslich zu sein, weil es dann, wenn nicht nur die Unabhängigkeitsbedingung erfüllt ist, sondern es auch in das Wasser geschüttet wurde, gelöst ist. Die Behauptung, daß es Dispositionen, wie die der Löslichkeit einer Menge Salz oder die der Zerbrechlichkeit eines Glases gibt, ist mit der von mir vorgetragenen These verträglich, wenn man sie als Zuschreibung von Dispositionen zweiter Ordnung auffaßt. Aber auch die These, daß es diese Dispositionen nicht wirklich gibt, daß das entsprechende Verhalten vielmehr auf der Basis der Quantenmechanik erklärt werden kann, ohne Begriffe wie Löslichkeit oder Zerbrechlichkeit in Anspruch zu nehmen, ist mit der hier vorgestellten Naturgesetzinterpretation verträglich. Es gibt dann eben keine Disposition zweiter Ordnung. Die Gesetze, die in Anspruch genommen werden, um Zerbrechlichkeit zu erklären, schreiben nichtsdestoweniger physikalischen Systemen Dispositionen erster Ordnung zu. In analoger Weise läßt sich die These beurteilen, alle Eigenschaften seien deshalb Dispositionen, weil sie nur unter bestimmten Bedingungen beobachtbar sind. Um von der Tatsache, daß Eigenschaften nur unter bestimmten Bedingungen beobachtbar sind, darauf zu schließen, daß es sich um Dispositionen handelt, muß vorausgesetzt werden, daß Beobachtungsbedingungen zugleich Manifestationsbedingungen für die fraglichen Eigenschaften sind. Das heißt Beobachtungs- und Manifestationsbedingungen gleichzusetzen und anzunehmen, die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis von Eigenschaften seien zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Existenz von Eigenschaften. Popper und Mellor haben in dieser Weise argumentiert. Bei Popper heißt es: Daß alk Universalien dispositional sind, wird oft übersehen (...) Ähnlich sagen wir von einer Fläche, daß sie rot oder weiß ist, wenn sie die Disposition hat, rotes oder weißes Licht zu reflektieren, und folglich die Disposition, bei Tageslicht rot oder weiß auszusehen. Im allgemeinen
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3. Abstraktionen
wird der dispositionale Charakter jeder universalen Eigenschaft deutlich hervortreten, sobald wir überlegen, welche Prüfungen wir anstellen würden, wenn wir im Zweifel wären, ob die betreffende Eigenschaft in einem besonderen Fall vorliegt oder nicht.
Daß diese These von Popper mit der Naturgesetzinterpretation verträglich ist, sieht man dann, wenn man die Beobachtbarkeit von physikalischen Eigenschaften als eine Disposition höherer Ordnung auffaßt. Es ergibt sich dann folgendes: Das Verhalten eines Systems ist manifest, wenn die Unabhängigkeitsbedingung (A) erfüllt ist. Die Beobachtbarkeit des entsprechenden Verhaltens - eine Disposition höherer Ordnung - ist nur unter speziellen Bedingungen, unter Beobachtungsbedingungen manifest, wenn also zusätzlich zu der Bedingung A eine Menge von weiteren Bedingungen, Bi,..., Bm realisiert ist. Ob man diese Beobachtungsbedingungen als (zusätzliche) Manifestationsbedingungen für das Verhalten des physikalischen Systems oder aber lediglich als Manifestationsbedingungen für die Beobachtbarkeit desselben auffaßt, ist unabhängig von der von mir vorgetragenen These. An dieser Stelle können Realisten und Idealisten ihre Argumente austauschen. Darauf muß ich mich hier aber nicht einlassen. Die These, daß quantenmechanische Eigenschaften von physikalischen Systemen Dispositionen seien, weil sie nur dann manifest seien, wenn sie gemessen würden, ist ein Spezialfall der Gleichsetzung von Manifestationsbedingungen und Beobachtungsbedingungen. Hinsichtlich der Kompatibilität mit der Naturgesetzinterpretation gilt daher das oben Gesagte. Ein Unterschied zwischen allgemeinem und Spezialfall besteht darin, daß im letzteren ein zusätzliches Argument für eine Gleichsetzimg von Manifestationsbedingungen und Beobachtungsbedingungen vorhanden ist. Falls diese beiden Bedingungen nicht gleichgesetzt werden, kommt es zu Schwierigkeiten bei der konsistenten Interpretation der Quantenmechanik. Das muß uns hier aber nicht weiter beschäftigen. Einzig wichtig ist, daß die verschiedenen hier vorgestellten Dispositionszuschreibungen zu physikalischen Systemen mit unserer Naturge-
32 Popper 1973, S. 378/9.
3.3 Dispositionen und das Ziel der Physik
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Setzinterpretation verträglich sind und wir diese zusätzlichen Zuschreibungen daher nicht diskutieren müssen.
3.3 Dispositionen und das Ziel der Physik Das Ergebnis der vorangegangenen Überlegungen stellt eine Reinterpretation des Begriffs des Naturgesetzes dar. Naturgesetze beschreiben Dispositionen und damit das Verhalten physikalischer Systeme in kausal isolierten Situationen. Hierdurch wird eine Ergänzung des bereits vorgestellten Zielvorschlags für die Physik nahegelegt. Wir hatten in Kapitel 2 auf der Grundlage eines Ausschnitts der Praxis der Idealisierungen behauptet, es sei das Ziel der Physik, eine vereinheitlichte Beschreibung physikalischer Systeme zu geben. Es hat sich nun gezeigt, daß es sich um Beschreibungen handelt, die ganz bestimmte Bedingungen betreffen, nämlich Bedingungen, in denen die fraglichen Systeme isoliert sind, um Beschreibungen reiner Fälle. Das Ziel der Physik ist es, so läßt sich nun formulieren, eine vereinheitlichte Beschreibung kontinuierlich manifestierbarer Dispositionen physikalischer Systeme zu geben. Voraussetzung für die Möglichkeit einer solchen Ergänzung ist, daß die Ausschnitte aus der Praxis der Idealisierung, die jeweils einen Aspekt des Zielvorschlags stützen, nicht den jeweils anderen ausschließen. Diejenigen Maßnahmen, die sich durch die Realisierung des Ziels, eine Beschreibung von Dispositionen physikalischer Systeme zu geben, erklären lassen, schließen die Realisierung einer vereinheitlichten Beschreibung solcher Dispositionen nicht aus. In Abschnitt 2.3.2 hatten wir sogar gesehen, daß die Abstraktion auch positiv zu einer vereinheitlichten Beschreibung beiträgt. Daß darauf abgezielt wird, eine Beschreibung physikalischer Systeme unter ganz bestimmten Bedingungen (reine Fälle) und nicht unter behebigen zu geben, wird durch die in Kapitel 2 diskutierten Maßnahmen gleichfalls nicht ausgeschlossen, so daß sich die beiden Komponenten unseres Zielvorschlags auch tatsächlich verknüpfen lassen. Das Ziel einer vereinheitlichten Beschreibung von Dispositionen physikalischer Systeme hat den Vorzug, nicht nur theoretische
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3. Abstraktionen
sondern auch experimentelle Maßnahmen innerhalb der Physik verständlich machen zu können. Aus diesem Grund muß ich mich nicht - wie Duhem - darauf beschränken, ein Ziel physikalischer Theorien anzugeben, oder mich - wie van Fraassen - darauf verpflichten, das Durchfuhren von Experimenten als die Fortsetzung der Theorienkonstruktion mit anderen Mitteln aufzufassen. Die Methoden der Herstellung und der Isolation von Untersuchungsgegenständen dienen dazu reine Fälle, also physikalische Systeme unter ganz spezifischen Bedingungen zu realisieren. In den physikalischen Labors wird die spezifische Wärme nicht irgendwelcher Festkörper gemessen, sondern solcher, die nach ganz bestimmten Vorschriften hergestellt wurden. In den Beschleunigern läßt man nicht irgendwelche Gegenstände aufeinanderprallen, man betrachtet vielmehr physikalische Systeme, die nach Möglichkeit von dem Einfluß anderer kausaler Faktoren ferngehalten werden.33 Geben Daten Anlaß zu der Vermutung, daß sie einem zufälligen äußerem Einfluß geschuldet sind, werden sie ausgeschlossen. Die Datenberichtigung läßt sich also auch durch unseren Zielvorschlag verständlich machen. Mit Popper können wir sagen, daß wir nicht zu irgendwelchen Wahrheiten, sondern zu besonders interessanten kommen möchten. Diese artifiziellen Bedingungen sind deshalb so interessant, weil sie den Versuch bilden, die Manifestationsbedingungen von Dispositionen zu realisieren. Wir wissen demnach nicht nur etwas über das Verhalten eines physikalischen Systems unter den spezifischen Bedingungen eines einzigen Experimentes in der kausal isolierten Situation, wir können auch etwas über das Verhalten physikalischer Systeme in Überlagerungssituationen er-
33 Ph. Lenard hat solche Experimente in seiner Nobelpreisrede „reine Versuche" genannt: „Reine Versuche nenne ich solche, bei denen es sicher steht, daß das Beobachtete wirklich der angenommenen Ursache, die man verfolgen will, zugehört und nicht etwa ganz anderen Dingen, die noch mitspielen, weil man versäumt hat oder außer stände war, sie gehörig zu erfassen und auszuschalten." Im Gegensatz zu „unreinen Versuche", gilt für sie: „Reine Versuche dagegen bilden stets Bausteine, die dauernd eine Rolle spielen im Gesamtgefüge der Wissenschaft (...)." Lenard 1920, S.70/71.
3.3 Dispositionen und das Ziel der Physik
173
fahren, da es sich bei den Dispositionen um kontinuierlich manifestierbare Dispositionen handelt. Die Maßnahmen der Herstellung und der Isolation von Untersuchungsgegenständen sowie der Abstraktion physikalischer Systeme fuhren auf eine Beschreibung des Verhaltens physikalischer Systeme unter Manifestationsbedingungen und damit auf eine Beschreibung der Dispositionen hin. Die genannten Idealisierungen sind hier also im Sinne der Galileischen Interpretation verständlich gemacht worden. Das Ziel der vereinheitlichten Beschreibung von Dispositionen physikalischer Systeme steht unter den Vorbehalten, die schon mehrfach erwähnt wurden. Erstens kann sich herausstellen, daß dann, wenn weitere Aspekte der physikalischen Praxis in die Untersuchung einbezogen werden, selbige durch dieses Ziel nicht mehr erklärt werden können. Zweitens ist nicht auszuschließen, daß der hier genannte Vorschlag nur ein Mittel zu einem anderen Zweck ist, ζ. Β der technischen Beherrschbarkeit oder der Wahrheit. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß durch die vorgeschlagene Konzeption von Naturgesetzen das scheinbare Paradox aufgelöst wird, daß der Erfolg der Physik oder Naturwissenschaften hinsichtlich der Beschreibung der Natur seit der frühen Neuzeit, dadurch erkauft wird, daß anstelle der tatsächlichen Natur, der tatsächlichen, aktualen Welt, fiktive, bloß mögliche Welten gesetzt werden. Bei Zugrundelegung der Konzeption der Dispositionen zeigt sich, daß hier kein Rätsel verborgen ist. Mit Hilfe der Abstraktion beschreiben wir einzelne Dispositionen auch dann, wenn sie in der aktualen Welt nicht isoliert von anderen realisiert werden können, wie das ζ. B. auf die spezifische Wärme der Tunnelsysteme zutrifft. Eine Beschreibung einer solchen Disposition kann eine Beschreibung einer kontrafaktischen Situation sein, in der die entsprechenden Manifestationsbedingungen realisiert sind. Aber wegen des dispositionellen Charakters handelt es sich natürlich gleichzeitig um ein Beschreibung eines Teils der wirklichen Welt, denn die ÜberlagerungsSituationen der wirklichen Welt lassen sich deshalb mit Hilfe der Dispositionen verständlich machen, weil es sich um kontinuierlich manifestierbare handelt. Wenn man also voraussetzt,
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3. Abstraktionen
daß Naturgesetze kontinuierlich manifestierbare Dispositionen beschreiben, verschwindet das Paradox.
3.4 Anhang zu Kapitel 3 In diesem Anhang soll untersucht werden, ob das nowaksche Verständnis von Theorien bzw. Naturgesetzen dem Vertreter der empiristischen Naturgesetzkonzeption dabei behilflich sein kann, verständlich zu machen, weshalb es physikalische Praxis ist, das Wissen um das Verhalten physikalischer Systeme von kausal isolierten Situationen auf Überlagerungssituationen zu übertragen. Es soll dieser Ansatz nur für den Fall dessen, was wir „Abstraktionen" genannt haben, betrachtet werden. Darauf ist diese Konzeption auch insbesondere zugeschnitten ist. Somit können wir die Frage, ob andere Idealisierungen, wie ζ. B. die Vereinfachungen oder die Idealisierungen im engeren Sinne, durch den „Idealizational Approach" angemessen beschrieben werden, ausklammern. Die grundlegende Idee des „Idealizational Approach to Science" besteht darin, daß ein ideales oder - in unserer Terminologie - abstraktes Gesetz auf eine Situation, die komplex und durch das Vorhandensein vieler Einfußfaktoren charakterisiert ist, anwendbar ist, weil dieses abstrakte Gesetz einen essentiellen Faktor der Überlagerungssituation beschreibt. 34 Von den anderen Faktoren darf abgesehen werden, weil sie sekundär sind. Der Zusammenhang zwischen dem abstrakten Gesetz und dem Gesetz, daß die Überlagerungssituation vollständig beschreibt wird durch einen Prozeß, der „Konkretisierung" genannt wird, hergestellt. Damit ist die schrittweise Anpassung an „realistische" Umstände gemeint, d. h. die verschiedenen Einflußfaktoren werden im Prozeß der Konkretisierung nach und nach in das Gesetz einbezogen. Wie sieht diese Konzeption nun im Einzelnen aus? In einem abstrakten Gesetz soll die Abhängigkeit einer physikalischen Größe
34 Im wesentlichen haben wir es hier also mit der gleichen Konzeption zu tun, die Ellis vergeschlagen hat. (Vgl. Abschnitt 2.3.1.). Nowak allerdings hat sie lange vor Ellis vertreten.
3.4 Anhang zu Kapitel 3
175
F von Faktoren G, die von den Forschenden als essentiell betrachtetet werden, zum Ausdruck kommen. Alle anderen Faktoren ρ werden für sekundär gehalten und Null gesetzt. Nowaks Absicht ist es also, die Methode der Abstraktion unter der Voraussetzung einer Unterscheidung zwischen essentiellen und sekundären Faktoren verständlich zu machen, so wie ich zuvor diese Methode unter Voraussetzung von Dispositionen verständlich gemacht habe. Ein solches abstraktes Gesetz wird konkretisiert, indem nach und nach alle sekundären Faktoren p, die zunächst Null gesetzt wurden, wieder hinzugefügt werden. Das abstrakte Gesetz wird so der konkreten Situation angepaßt, indem Korrekturen an ihm vorgenommen werden. Betrachten wir den Prozeß der Konkretisierung. Ausgangspunkt ist ein abstraktes Gesetz, das in der Terminologie von Nowak wie folgt geschrieben wird:35 Tt : [G(x) & p,(x)=0 & p2(x)=0...pk(x)=0] ^ F(x)=fk[G(x)] Dabei steht χ für physikalische Systeme, die durch das Antezedens spezifiziert werden. G(xJ ist im Gegensatz zu den p(x) eine realistische, keine idealisierende Beschreibung, hier werden also die Faktoren G(x), die für essentiell gehalten werden, beschrieben. Der Index k steht für die k-te Stufe der Idealisierung bzw. Abstraktion. Die Funktion fk beschreibt die funktionelle Abhängigkeit der zu messenden Größe F von den essentiellen Faktoren G. Wenn es kein physikalisches System gibt, auf das die Spezifizierung vor dem Folgerungspfeil zutrifft, ist das Gesetz trivialerweise wahr. Ein gutes Beispiel, um das nowaksche Schema zu illustrieren, ist das Verhältnis der spezifischen Wärmen im harmonischen Kristall und im amorphen, metallischen Festkörper. Schwierigkeiten bereitet allerdings die Frage, wie die Ausdrücke G(x) und p(x) zu interpretieren sind. G(xJ könnte ζ. B. die einzelnen Bausteine (ζ. B. SiO^ des Untersuchungsgegenstandes bezeichnen. Als die sekundären, Null zu setzenden Faktoren könnten wir die Elektronen- und Tunnelsy-
35 Die Darstellung orientiert sich an: Nowak 1992.
176
3. Abstraktionen
stemdichten wählen. Sei also ncl die Elektronendichte und n T die Dichte der Tunnelsysteme. T 2 : [G(x) & nel(x)=0 & nT(x)=0] => cv«(x)[G(x)] = cDcbye(x) Die Konkretisierung des idealen Gesetzes wird dadurch bewerkstelligt, daß die einzelnen Faktoren p, die zunächst für sekundär gehalten wurden, Schritt für Schritt wieder hinzugefugt werden. Wir kommen dadurch im ersten Schritt zu folgendem Ausdruck: T " : [G(x) & P l (x)=0 & p2(x)=0...pk_1(x)=0 & pk(x)*0] => F(x) = Up k (x),G(x)] Im Falle unseres Beispiels wird dann nur noch von den Tunnelsystemen abgesehen: T 2 1 : [G(x) & nel(x)>0 & nT(x)=0] => cvO)(x)[nel,G(x)] = cel(x) + cDcbye(x) Letztlich erhalten wir dann ein Gesetz T°, das wie folgt aussieht: T° : [G(x) & pj(x)^0 & p2(x)*0 ... & pk(x)*0] => F(*)=folPi(x)> P2W, -PkW> G(x)] Hier wurden alle sekundären Faktoren als Korrekturen hinzuaddiert, d.h. die Abstraktionen wurden rückgängig gemacht. Die Abhängigkeit F(x)=f0[p1(x), p2(x), ···, pk(x), G(x)] sollte eine phänomenologische Gesetzmäßigkeit sein, die tatsächlich gemessen wurde oder wird. Ein Beispiel für ein solches Gesetz ist unser phänomenologisches Gesetz der spezifischen Wärme: T° : [G(x) & nel(x)>0 & nT(x)>0] => cv(°)(x)[nT(x), nel(x), G(x)] = a(x)T + ce,(x) + cDebye(x) Die Nowaksche Theorie hat gegenüber der Dispositionskonzeption einen entscheidenden Nachteil hinsichtlich der Erklärung der Abstraktion. Betrachten wir noch einmal den Fall des amorphen Festkörpers. Nowak erklärt die Anwendung der Theorie des Kristalls auf denselben dadurch, daß der kristalline Faktor des amorphen Festkörpers essentiell sei, die beiden anderen hingegen sekundär. Von diesen kann daher abgesehen werden. Die Nowaksche Theorie kann nicht erklären, weshalb wir die Theorie der Tunnelsysteme gleichfalls auf den amorphen Festkörper anwenden und
3.4 Anhang zu Kapitel 3
177
dabei unter anderem von dem als essentiell aufgefaßten kristallinen Faktor abstrahieren. Die Methode der Abstraktion ist grundsätzlich symmetrisch. Diejenigen Systeme von denen in einer Berechnung abstrahiert wird, können in einer anderen Rechnung selbst abstrahiert werden. Diese Symmetrie geht verloren, wenn man mit Begriffen wie „essentiell" und „sekundär" operiert. Diese Kritik trifft in gleicher Weise auf den Vorschlag von Ellis zu, der in Abschnitt 2.3 diskutiert wurde. Insgesamt zeigt sich, daß die Nowaksche Konzeption die Praxis der Zuschreibung von Beiträgen zu einzelnen Faktoren zwar richtig erkennt, die Legitimität des Übergangs von isolierten Situationen zu ÜberlagerungsSituationen aber nicht begründen kann. Die Praxis der Abstraktion, die hinsichtlich der verschiedenen Beiträge typischerweise eine symmetrische ist, läßt sich also dazu benutzen, Zielvorschläge, die auf essentielle Faktoren oder Beiträge rekurrieren, wie die Nowaks oder Ellis', auszuschließen.
4. Neubewertungen
Die Untersuchungen der beiden vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, daß sich die Praxis der verschiedenen Formen von Idealisierungen in der Physik durch das Ziel der vereinheitlichten Beschreibung von Dispositionen physikalischer Systeme verstehen läßt. Zurückgewiesen werden mußte dagegen der Vorschlag van Fraassens, es sei das allen anderen übergeordnete Ziel der Physik, empirisch angemessene Theorien zu konstruieren. Weitere Vorschläge, die die empirische Angemessenheit als notwendige Bedingung voraussetzen, kamen gleichfalls nicht als Kandidaten in Frage. In Kapitel 1 haben wir auf die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Kandidaten für das Ziel der Physik und den Positionen des Empirismus, des Konstruktivismus und des wissenschaftlichen Realismus hingewiesen. Vor diesem Hintergrund gilt es nun, die genannten Positionen neu zu bewerten.
4.1 Das Ziel der Physik und der Empirismus Den Empirismus hatten wir durch die folgenden Annahmen charakterisiert: 1) Der Quell all unseren Wissens (und aller akzeptabler Theorien) ist die Erfahrung. (Vgl. Abschnitt 1.2.1.1) 2) Diese Metapher ist durch den Begriff der Beobachtbarkeit und der empirischen Angemessenheit zu explizieren. (Vgl. Abschnitt 1.2.1.2)
Weiterhin wird im Empirismus - auch wenn dies bislang nicht eigens erwähnt wurde - implizit vorausgesetzt: 3) Die Physik liefert uns Wissen (oder akzeptable Theorien) in genau diesem Sinne. Quelle und damit Grundlage unserer Erkenntnis und somit auch der physikalischen Theorien soll die Beobachtung sein. Das, was durch die Beobachtung gegeben ist, muß also erkenntnistheoretisch unbedenklich sein. Es gibt nun aber eine skeptische Tradition, die
4.1 Das Ziel der Physik und der Empirismus
179
genau dies in Zweifel zieht - ja, die sogar das, was uns durch die Sinne gegeben ist, als erkenntnistheoretisch besonders fragwürdig betrachtet. „Alles nämlich, was ich bisher am ehesten für wahr angenommen habe, habe ich von den Sinnen oder durch Vermittelung der Sinne empfangen." 1 wußte schon Descartes zu berichten. Es war aber nun genau dieser Umstand, der - vor allem in der frühen Neuzeit - zum Anlaß genommen wurde, an der Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse zu zweifeln. So schreibt Descartes in direktem Anschluß an den zitierten Satz: „Nun aber bin ich dahinter gekommen, daß diese uns bisweilen täuschen, und es ist ein Gebot der Klugheit, niemals denen ganz zu trauen, die uns auch nur einmal getäuscht haben." Ganz ähnlich bemerkt Montaigne: „Ich komme bey dieser Gelegenheit auf die Betrachtung der Sinnen in welchem der stärkste Grund und Beweis unserer Unwissenheit liegt." Montaigne diskutiert dann die Argumente aus der Tradition des pyrrhonischen Skeptizismus, die die Unzuverlässigkeit der Sinneswahrnehmung demonstrieren. Vor dem Hintergrund dieser Tradition wirkt es etwas befremdlich, daß gerade die Beobachtbarkeit ein Merkmal für erkenntnistheoretische Unbedenklichkeit und die empirische Angemessenheit oberstes Kriterium für Theorienakzeptanz sein soll. In Abschnitt 1.2.1.2 ist darauf aufmerksam gemacht worden, daß der Empirismus als oberstes Ziel der Physik die empirische Angemessenheit vertreten muß. Wird gegen dieses Ziel oder Kriterium der Theorienakzeptanz verstoßen, dann würde damit nämlich die erkenntnistheoretische Unbedenklichkeit der als empirisch ausgezeichneten Basis in Frage gestellt. Denn die Akzeptanz von Theorien, die nicht empirisch angemessen sind, impliziert, daß wir Theorien zulassen, aus denen sich Sätze über beobachtbare Ereignisse etc. ableiten lassen, die im Widerspruch zu den Sätzen der empirischen Basis stehen. Nun hat sich in den Kapiteln 2 und 3 gezeigt, daß die empirische Angemessenheit nicht das Ziel der Physik ist, daß es also Fälle gibt, in denen andere Kriterien als die em-
1 2
Descartes 1972, S. 12. Montaigne 1992, Band II, S. 350.
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4. Neubewertungen
pirische Angemessenheit am höchsten bewertet werden. Das bedeutet, daß in der Praxis der Physik das, was über beobachtbare Gegenstände oder Ereignisse gesagt werden kann, zugunsten anderer Erwägungen in den Hintergrund treten kann. Die Frage, die sich somit stellt ist die folgende: Wie kann der Empirismus auf den Sachverhalt, daß die empirische Angemessenheit nicht das Ziel der Physik ist, reagieren? Es scheint zumindest drei Möglichkeiten zu geben. Eine erste mögliche Reaktion besteht darin, zu konzedieren, daß sich gezeigt habe, daß die empirische Angemessenheit offensichtlich kein gutes Kriterium ist, um die Theorien der Physik auf ihre Legitimität hin zu überprüfen. Damit wird dann die Behauptung, der Quell all unseres Wissens sei die Erfahrung, zurückgenommen, wenn man an Annahme 2) festhalten möchte. Man könnte dann zwar weiterhin die Physik als das Paradigma rationaler Erkenntnisgewinnung bewundern. Unklar allerdings wäre, wie sich ein Empirismus dann noch von einem bloßen Szientismus unterschiede. Das Desiderat bestünde darin, zu erklären, weshalb man die Physik als Paradigma rationaler Erkenntnis akzeptieren sollte. Zweitens kann darauf insistiert werden, daß der Empirismus in erster Linie eine normative Position sei. Die Untersuchungen in den vorangegangenen Kapiteln hätten gezeigt, daß es sich bei der Konstruktion physikalischer Theorien gar nicht um ein rationales Unternehmen handele, dem es darauf ankommt unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten legitime Behauptungen aufzustellen. Insbesondere die Orientierung an pragmatischen Tugenden bei der Theorienwahl zeige, daß es gar nicht um ein Erkenntnisinteresse gehe, sondern um ganz andere Interessen, wie z. B. um dasjenige, die Natur technisch verfügbar zu machen. Die Tatsache, daß Modelle oder Theorien in der Physik auch dann akzeptiert werden können, wenn sie dem Kriterium der empirischen Angemessenheit nicht genügen, dürfe nicht als Argument dafür herhalten, daß dieses ungeeignet sei, Behauptungen auf ihre erkenntnistheoretische Legitimität hin zu überprüfen, denn bei physikalischen Aussagen geht es um solche nicht, wenn sie pragmatischer Gründe wegen akzeptiert werden. Eine solche Reaktion muß verständlich machen, weshalb Generationen von Empiristen die Naturwissenschaften für
4.1 Das Ziel der Physik und der Empirismus
181
ein Paradigma von Aussagen, Modellen etc. gehalten haben, die auf vorbildliche Weise in der Erfahrung gründen. Weiter muß gefragt werden: Wenn schon naturwissenschaftliche Theorien erkenntnistheoretisch illegitim im Sinne des Empirismus sind, was ist denn dann ein erkenntnistheoretisch legitimes Paradigma? Weiterhin muß angemerkt werden, daß diese Reaktion hinsichtlich der in Kapitel 2 diskutierten Maßnahmen zwar eine gewisse Plausibilität besitzt, nicht aber in bezug auf die Abstraktion. In solchen Fällen dürfen Theorien auf physikalische Systeme unter Absehung der Größe der empirischen Unangemessenheit angewendet werden. Dennoch, so hatte sich gezeigt, muß die Methode der Abstraktion im Sinne Galileis, d.h. als zu einer wahren Beschreibung hinführend, interpretiert werden. Aus diesem Grund ist es nicht sehr überzeugend zu behaupten, daß dann, wenn gegen die empirische Angemessenheit als Kriterium verstoßen wird, kein Erkenntnisinteresse vorliegt. Van Fraassen hat in jüngster Zeit die in Abschnitt 1.2.1 zitierte Behauptung, daß der Empirismus die folgende These vertrete: „Experience is our one and only source of information" insofern zurückgenommen, als er den Empirismus nicht mehr als eine Position auffassen möchte, die diese These dogmatisch verficht.3 Stattdessen möchte er den Empirismus als eine Einstellung, wie er in Anlehnung an Husserl sagt, verstanden wissen. Mit solchen Einstellungen sind zwar auch Überzeugungen verbunden, wie z. B. die eben zitierte und die sich daraus ergebende Behauptung, daß das Ziel der Physik die empirische Angemessenheit sei, aber auch und das ist der Unterschied zu einer dogmatischen Position - kontrafaktische Annahmen darüber, wie man seine Überzeugungen ändern würde, wenn sich herausstellte, daß die empirischen Angemessenheit nicht das Ziel der Physik ist. Van Fraassen erwägt die beiden Alternativen, die soeben vorgestellt wurden. Empiricism certainly includes a belief that the actual cultural phenomenon everyone refers to as science involves centrally theoretical activity whose most important criterion of success is accordance with the data. Suppose now that I who have both this attitude and that factual belief, 3
van Fraassen 1994 und van Fraassen 1993.
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4. Neubewertungen
am deprived of the latter. This could happen if sociologists of science were to convince me that this criterion is systematically overriden by and does not override other criteria of success. I would no longer be able to say that empirical adequacy is the point of the game of science actually played (and so-called) in our culture. One option for me would be to say that today we have no genuine science (and perhaps we never did). Instead, I take it, my resolve (as I see it today) requires that I relinquish my belief about science, and re-evaluate my attitude: perhaps it would still be one of admiration, perhaps not. Wenn also nicht behauptet werden soll, daß das, was wir für Wissenschaft halten, gar keine ist, dann stellt sich die Frage, ob die Hochachtung vor der Wissenschaft oder das empiristische Kriterium für das Akzeptieren von Theorien höher bewertet werden soll: I may react with: I value science so highly and for so many reasons independent of (my belief in) its search for empirically adequate theories, that I would take whatever the sociologists revealed to me a the true paradigm of rational inquiry. Das ist die szientistische Reaktion auf unsere Untersuchungen. Alternatively I may react with: my paradigm of rational inquiry is science as I presently conceive of it (which subordinates all other criteria to „fit" with respect to the observable phenomena). Therefore I would then cease to say that science embodies rational inquiry (even imperfectly), and maintain that it should not have its common, current role of guiding factual opinion. Er fügt hinzu, daß diese letzte Alternative diejenige sei, die seinem Verständnis von Empirismus zufolge, die angemessene ist. Eine dritte Möglichkeit der Reaktion auf unseren Befund besteht darin, in Frage zu stellen, ob die Auflösung der Metapher von der Erfahrung als dem Quell der Erkenntnis durch die Begriffe der Beobachtbarkeit und der empirischen Angemessenheit zufriedenstellend ist. Tetens beispielsweise bemängelt genau diese Gleichsetzung von Erfahrung und Beobachtung, ohne allerdings im Verlaufe seiner Untersuchungen klar zu machen, weshalb eine alternative
4 5
van Fraassen 1994, S. 330. van Fraassen 1994, S. 330/1.
4.1 Das Ziel der Physik und der Empirismus
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Explikation des Erfahrungsbegriffs, beispielsweise unter Hinweis auf technische Handlungen in der Physik, eine angemessenere Explikation darstellt.6 Festzuhalten bleibt, daß nicht gleichzeitig die folgenden drei Aussagen behauptet werden können: Der Quell all unseren Wissens (und aller akzeptabler Theorien) ist die Erfahrung. Diese Metapher ist durch den Begriff der Beobachtbarkeit und der empirischen Angemessenheit zu explizieren. Die Physik liefert uns Wissen (oder akzeptable Theorien) in genau diesem Sinne. Bevor nun die Auswirkungen der Untersuchungen aus Kapitel 2 und 3 auf den Konstruktivismus untersucht werden, möchte ich noch eine (nicht ganz kurze) Bemerkung zu den Erwartungen machen, die mit dem Begriff der Erfahrung verknüpft werden. Der Empirismus erwartet von der Erfahrung, daß sie als Kriterium zur Überprüfung von Erkenntnisansprüchen dienen kann. Um dies zu gewährleisten muß die Erfahrung (wenigstens) zwei Bedingungen erfüllen. Sie muß erstens unabhängig von denjenigen Meinungen, Theorien etc sein, die es zu überprüfen gilt. Schon Locke war es aus diesem Grund wichtig, darauf zu insistieren, daß der menschliche Geist bei der Wahrnehmung der einfachen Ideen (seiner empirischen Basis) gänzlich passiv ist. Die gleiche Motivation hegt den Versuchen zugrunde, einen Bereich von mit bloßem Auge (also ohne theoretische Hilfsmittel) beobachtbaren Gegenständen auszusondern. Damit die Erfahrung oder die Beobachtung als ein Kriterium überhaupt fungieren kann, muß zweitens gefordert werden, daß wir einen privilegierten Zugang zu unserer Erfahrung haben. Das bedeutet, daß die Möglichkeit, daß wir uns hinsichtlich des Erfahrungsinhaltes systematisch täuschen, ausgeschlossen sein muß. Andernfalls wären die Prüfungen unserer Theorien an der Erfahrung wertlos. Diese beiden Forderungen, die an den Erfahrungsbegriff gestellt werden müssen, können nicht gleichzeitig erfüllt werden. Das möchte ich anhand des Beispiels des von van Fraassen entwickelten Beobachtungsbegriffs zeigen.
6
Tetens 1987, S.2.
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4. Neubewertungen
Beobachtbarkeit sei, so van Fraassen, ein Begriff, der sich auf Ereignisse, Prozesse oder Sachverhalte bezieht, auf Partikularien also, nicht auf Universalien.7 Der Versuch, diesen Begriff deutlich zu machen, ist zu linterscheiden von der Frage, ob es eine Beobachtungsspräche gibt. Daß die Begriffe, mit denen auf beobachtbare Gegenstände wie Telefone Bezug genommen wird, theoriegeladen sein mögen, ficht van Fraassen daher nicht an. Wenn es auch keine klare Unterscheidung zwischen Beobachtungsbegriffen und theoretischen Begriffen geben mag, so ist damit noch nichts für das Problem der Beobachtbarkeit selbst entschieden. Nur dann, wenn angenommen würde, daß das theoriegeladene Begriffssystem konstitutiv für die Wirklichkeit ist, hätten wir das Problem, daß die Unmöglichkeit der Trennung von Beobachtungsbegriffen und theoretischen Begriffen nach sich ziehen würde, daß die Gegenstände selbst nicht unabhängig von der sprachlichen Unterscheidung in die Rubriken beobachtbar und imbeobachtbar einsortiert werden könnten. Wie einige andere Dispositionsbegriffe auch, ist „beobachtbar" für van Fraassen ein anthropozentrischer Begriff, insofern implizit auf menschliche Fähigkeiten Bezug genommen wird. Ein Fernsehgerät ist tragbar, wenn ein Mensch mit mittleren physischen Kräften, dieses Gerät ohne große Schwierigkeiten tragen kann. Analog relativiert van Fraassen den Begriff der Beobachtbarkeit auf eine Erkenntnisgemeinschaft (epistemie community). Daß der Begriff eine solche Relativierung erfährt, sollte uns im übrigen nicht besonders stören. Letztlich geht es ja um die Frage, ob unsere Erfahrungsbasis uns dazu berechtigt, bestimmte Existenzbehauptungen aufzustellen. Die Grenze zwischen beobachtbaren und unbeobachtbaren Gegenständen zieht van Fraassen wie folgt. Beobachtbar ist ein Gegenstand dann, wenn er unter geeigneten Umständen mit bloßem Auge, also ohne technische Hilfsmittel wie Lupen oder Mikroskope, wahrnehmbar ist. Ein Auto wird nur in dem Sinne durch eine Fensterscheibe beobachtet, als wir das Fenster öffnen können und es dann mit bloßem Auge sehen können. Aus dem gleichen
7
van Fraassen 1992, S. 16.
4.1 Das Ziel der Physik und der Empirismus
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Grund dürfen wir die Monde des Jupiter als beobachtbar bezeichnen, obwohl sie von der Erde aus nur mit Hilfe von Fernrohren wahrnehmbar sind: Wir könnten dorthin fliegen und sie betrachten. Gegenstände, von denen wir gemeinhin sagen, sie seien nur durch ein Mikroskop beobachtbar, fallen dagegen für van Fraassen in die Kategorie der unbeobachtbaren Gegenstände, weil es keine Möglichkeit gibt, sie mit bloßem Auge zu erkennen. In dem Aufsatz, dem die zitierte Charakterisierung des Beobachtungsbegriffs entnommen ist, stellt van Fraassen sich die folgende Frage: So how can experience be the objective touchstone of science [...]?
Erfahrung soll also nicht nur als Kriterium fungieren, das über die Akzeptanz wissenschaftlicher Theorien befindet, es soll ein objektives Kriterium sein. Mit der Forderung nach Objektivität meint van Fraassen natürlich nicht, daß die Erfahrung bzw. Beobachtbarkeit keinen Bezug zum Menschen habe dürfe, daß Beobachtbarkeit anthropozentrisch ist, hatte er ja selbst schon festgestellt. Objektiv soll Beobachtbarkeit in dem Sinne sein, daß sie theorienunabhängig sein soll. Sie soll nicht nur unabhängig von dieser oder jener Theorie sein, die es gerade zu überprüfen gilt, sondern schlechthin von jeglicher Theorie und damit von unseren Meinungen. Dazu bedient van Fraassen sich der folgenden Unterscheidung: Was beobachtbar ist, ist nicht zu verwechseln mit dem, was Beobachter für beobachtbar halten. Wenn ζ. B. eine Person im 18. Jahrhundert geglaubt hat, sie sähe Phlogiston entweichen, so bedeutet das nicht, daß sie tatsächlich das Ereignis des Entweichens von Phlogiston beobachtet hat. Das, was wir zu beobachten meinen, ist theorieabhängig, das, was wir tatsächlich beobachten, dagegen nicht. Of course, we should expect then that our opinions about what is observable will change as science changes. But that does not mean that what is observable changes too. The recent paper by Laudan and Leplin (1991) falls into exactly that confusion. They point out quite correctly that what we regard as observable is not constant across the history of science.
8
van Fraassen 1992, S. 13.
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4. Neubewertungen
But then they conclude that the line between what is and what is not observable has shifted right along with it.
Durch diese Unterscheidung wird der Begriff der empirischen Angemessenheit unabhängig von unseren Meinungen und Theorien. Damit ist also die erste Forderung, die an den Erfahrungs- bzw. Beobachtungsbegriff gestellt wird, erfüllt. Aber es ist nun gerade diese Erfüllung der ersten Forderung, die ein Genügen der zweiten ausschließt. Denn die Theorienunabhängigkeit dessen, was beobachtbar oder empirisch angemessen ist, hat zur Folge, daß es unabhängig davon ist, was wir glauben und meinen: Our judgements of empirical adequacy of theories will of course vary; but whether those theories are empirically adequate - just like whether or not they are true - is a characteristic which they do not loose when we begin to think differently.
Wenn aber das, was empirisch angemessen ist, und das, was wir für empirisch angemessen halten, auseinanderfällt, dann kann die empirische Angemessenheit nicht mehr als Kriterium für die Überprüfung von Erkenntnisansprüchen herangezogen werden. Eine Überprüfung von Erkenntnisansprüchen anhand eines Kriteriums bezüglich dessen wir uns systematisch täuschen können, verdient diesen Namen nicht. Das Dilemma ist also das folgende: Entweder ist Erfahrung, Beobachtbarkeit oder empirische Angemessenheit objektiv (und das heißt schlechthin unabhängig von unseren Theorien und Meinungen), dann können wir sie nicht als Kriterium für die Beurteilung von Erkenntnisansprüchen verwenden, weil wir uns in bezug auf sie täuschen können. Wenn dagegen Erfahrung, Beobachtbarkeit und empirische Angemessenheit so konzpiert werden, daß wir uns in bezug auf sie nicht täuschen können, dann so haben die traditionellen Explikationsversuche gezeigt - sind sie von unseren Meinungen und Theorien abhängig, also nicht objektiv.
9
van Fraassen 1992, S. 20. Van Fraassen bezieht sich auf Laudan, Leplin 1991. 10 van Fraassen 1992, S. 20.
4.2 Das Ziel der Physik und der Konstruktivismus
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4.2 Das Ziel der Physik und der Konstruktivismus Die Behauptung aus Kapitel 2 und 3, das Ziel der Physik sei die vereinheitlichte Beschreibung von Dispositionen physikalischer Systeme, ist verträglich mit der weitergehenden Behauptung, es sei das Ziel der Physik, die Natur technisch beherrschbar zu machen, denn die vereinheitlichte Beschreibung von Dispositionen kann als Mittel zum Zweck der Beherrschung verstanden werden. Unser Zielvorschlag ist in dieser Hinsicht unterbestimmt. Um beurteilen zu können, ob damit die Position der konstruktiven Wissenschaftstheorie gestärkt ist, die ja behauptet, es sei das Ziel der Physik, die Natur (technisch) beherrschbar zu machen, muß der Sinn der Beherrschungsmetapher geklärt werden. Das Ziel der vereinheitlichten Beschreibung von Dispositionen physikalischer Systeme ist möglicherweise selbst bloß ein Mittel um den Zweck der Naturbeherrschung zu befördern. Mit einer solchen Formulierung kann einerseits gemeint sein, daß die vereinheitlichte Beschreibung von Dispositionen die Möglichkeit bietet, die entsprechenden Beschreibungen technisch zu verwerten, so wie eine Landkarte zur Kriegsführung beitragen kann, indem man mit ihrer Hilfe feindliche Stellungen aufspürt. Wenn mit der technischen Beherrschbarkeit eine solche mögliche Ausnut^ng des Wissens gemeint ist, läßt sich wohl kaum bestreiten, daß das physikalische Wissen hier als Mittel zum Zweck eingesetzt werden kann. Wenn jedoch, wie im Konstruktivismus, mit der technischen Beherrschbarkeit der Natur ein viel strengerer Sinn verknüpft ist, daß nämlich die Physik in eindeutiger Weise lehrbare Handlungsanweisungen hervorbringt, dann ist weniger klar, ob sich das von uns vorgeschlagene Ziel als Mittel zu einem solchen Zweck benutzen läßt. Insbesondere die Forderung nach Eindeutigkeit und die sich daraus ergebende Forderung nach eindeutiger operationaler Definition theoretischer Größen läßt sich nur schwer mit den Möglichkeiten, die die Methode der Abstraktion eröffnet, vereinbaren. Die Methode der Abstraktion erlaubt es, Theorien auf physikalische Systeme auch dann anzuwenden, wenn sie nicht isoliert sind, in Überlagerungssituationen also. Bei der Beschreibung einer solchen Situation bietet sie die Möglichkeit von allen bis auf einen Einfluß-
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4. Neubewertungen
faktor abzusehen. Experimentelle Kontexte, die zur operationalen Definition eines theoretischen Begriffes herangezogen werden könnten, sind Spezialfälle solcher Überlagerungssituationen. Hier die Methode der Abstraktion verwenden zu können, bedeutet, daß ζ. B. die Theorie des Elektrons auf physikalische Systeme in unterschiedlichen experimentellen Kontexten angewendet werden kann. Damit wird eine eindeutige operationale Definition eines theoretischen Begriffes durch einen experimentellen Kontext zwar nicht ausgeschlossen, denn sie kann ja einfach stipuliert werden, aber es ist nicht zu erwarten, daß es in der physikalischen Praxis eine solche ausgezeichnete Zuordnung geben sollte. Wenn ζ. B. das Modell des harmonischen Kristalls auf möglichst viele experimentelle Situationen angewandt wird, wenn zusätzlich sogar idealisierende Maßnahmen ergriffen werden, um den Anwendungsbereich zu vergrößern, dann wird die Behauptung, es sei ein experimenteller Kontext ausgezeichnet, der den Begriff des harmonischen Kristalls festlegt, wenig überzeugend. Somit ergibt sich, daß der Zielvorschlag der konstruktiven Wissenschaftstheorie durch unsere Untersuchungen insofern geschwächt wurde, als er die physikalische Praxis nicht zu erklären vermag. Wie im Falle des Empirismus sind natürlich auch hier mehrere Reaktionen möglich. Aber die Auffassung, daß die konstruktive Wissenschaftstheorie eine normative Position ist, dominiert eindeutig, so daß sich für den konstruktiven Wissenschaftstheoretiker als Konsequenz ergibt, daß die Physik entsprechend seiner Zielvorschrift verbessert werden muß. In Kapitel 1 habe ich in bezug auf den Konstruktivismus dessen antirealistische Neigungen geschildert, die mit der oben geschilderten Rekonstruktionsmethode aber nicht notwendig zusammenhängen (vgl. Abschnitt 1.2.3). Die eindeutig lehrbaren Handlungsanweisungen, die auf die technische Beherrschung der Natur zielen, beziehen sich typischerweise auf Situationen, die wir als „kausale Isolierungen" bezeichnet haben. Fälle kausaler Isolierung sind theoretisch besonders einfach handhabbar. Solche Situationen werden, darauf wurde bereits hingewiesen, durch das Eingreifen z. B. einer Experimentalphysikerin hergestellt. Dieser Sachverhalt wird von seiten der konstruktiven Wissenschaftstheorie zum Anlaß
4.2 Das Ziel der Physik und der Konstruktivismus
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genommen, eine Trennung zwischen Laborsituation und unberührter Natur dergestalt einzuführen, daß die Ergebnisse physikalischen Theoretisierens nur auf im Labor hergestellte Situationen oder Systeme zutrifft. Um diese Trennung zu bewerten ist es notwendig, zwei ihr zugrundeliegende Motive zu unterscheiden, die häufig in den Argumentationen der konstruktiven Wissenschaftstheoretiker nicht voneinander getrennt werden. Das eine Motiv besteht darin, daß angenommen wird, physikalisches Wissen, das in einer kausal isolierten Situation gewonnen wird, könne nicht auf eine kausale Überlagerungssituation übertragen werden. Durch Isolation und Begradigung gelingt es den Physikern, Verläufe zu realisieren, die besonders einfachen (genauer: einfach zu formulierenden) Gesetzmäßigkeiten genügen. Allerdings kosten Isolation und Begradigung ihren Preis. Letzdich können die Physiker nur Gesetze aufstellen für künstlich erzeugte, für sozusagen „reine" Laborfälle.
An anderen Stellen steht das eigentlich konstruktivistische Motiv im Vordergrund: Laborphänomene seien in erster Linie deshalb von der unberührten Natur zu unterscheiden, weil die Physiker und Physikerinnen im Labor handelnd eingreifen. Die Laborphänomene seien von unseren Handlungen und damit, weil wir uns in unserem Handeln an ihnen orientieren, von unseren Theorien abhängig. D a also die Laborversuche immer auch zu einer Theorie passend gemacht werden, gibt es keine theorieunabhängigen und unveränderlichen Daten, auf die die Theorie in jedem Falle zu beziehen wäre. 1 2
Die Laborphänomene besäßen einen anderen ontologischen Status, weil sie - im Gegensatz zu denjenigen in der freien Natur - von uns und unseren Theorien abhängen. Vor dem Hintergrund unserer Untersuchungen ist zu diesen beiden Motiven folgendes zu sagen. Das Problem, von kausal isolierten Situationen auf Überlagerungssituationen zu schließen, tritt nicht nur beim Übergang vom Labor zur unberührten Natur auf, sondern auch innerhalb des Labors (vgl. spezifische Wärme des Kristalls zu spezifische Wärme amorpher Festkörper). Um diese
11 Tetens 1987, S.32. 12 Tetens 1987, S.55.
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4. Neubewertungen
Praxis innerhalb von Laborsituationen zu verstehen, war es notwendig, Naturgesetze dahingehend zu interpretieren, daß sie von Dispositionen physikalischer Systeme handeln. Ein solches Verständnis von Naturgesetzen erlaubt nun nicht nur, innerhalb des Labors das physikalische Wissen von Dispositionen von kausal isolierten Situationen auf Überlagerungssituationen zu übertragen, sondern auch auf Überlagerungssituationen außerhalb des Labors. Der Begriff der kausalen Überlagerung kann also nicht dazu herangezogen werden, eine erkenntnistheoretisch relevante Unterscheidung zwischen Labor und Natur zu etablieren. Betrachten wir nun das zweite Motiv, das einer Trennung von freier Natur und Labor zugrundeliegt. Hier ist genau zu untersuchen, was im einzelnen von den Handlungen der Physiker abhängt. Tetens unterscheidet im Anschluß an von Wright zwischen Ergebnis und Folgen einer Handlung. Das Ergebnis dieses Tuns ist die dann zur Verfugung stehende Versuchsanordnung. Schaltet er die Versuchsanordnung daraufhin ein, und löst einen Verlauf aus, so sind die dabei auftretenden Veränderungen die Folge seines voraufgegangenen Tuns.
Tetens geht davon aus, daß Folgen von Handlungen intendiert sind und nur im Falle von Ursachenüberlagerung eine intendierte Folge nicht eintritt. 14 Um bei dem Beispiel der spezifischen Wärme zu bleiben: Das Ergebnis des Tuns der Physiker ist die kausale Isolierung ζ. B. eines Kristalls mitsamt der Versuchsanordnung zur Messung der spezifischen Wärme (auch die Herstellung eines Untersuchungsgegen-standes könnte an dieser Stelle genannt werden). Die Folge ist das Resultat der Messung der spezifischen Wärme des Kristalls. Tetens ist nun entgegenzuhalten, daß der Sachverhalt, ob der Temperaturverlauf nun proportional zu T 3 , zu T 4 oder zu T 17 ist, völlig kontingent und unabhängig von den vorangegangenen Handlungen der Herstellung der Untersuchungsgegenstände und der kausalen Isolierung derselben ist. 15 Es zeigt sich also, daß kein
13 Tetens 1987, S.19. 14 Tetens 1987, S.18/19. 15 Falkenburg bemängelt bei Falkenburg 1994, S. 57/58.
Tetens
denselben
Punkt.
Siehe
4.2 Das Ziel der Physik und der Konstruktivismus
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zwingender Grund angegeben wurde, anzunehmen, daß sich das Verhalten physikalischer Systeme durch das eingreifende Handeln der Physiker in irgendeiner Weise verändert und insofern von diesen und damit von irgendwelchen Theorien abhängt. Die Handlungen der Physiker können also nicht als Grund für eine Trennung von Labor und Natur angeführt werden, die zur Folge hätte, daß physikalische Theorien nur auf Laborsituationen angewendet werden könnten. Die Kritik an der Unterscheidung Labor/Natur trifft auch den soziologischen Konstruktivisten, weil auch hier diese Trennung benutzt wurde, antirealistische Schlußfolgerungen zu ziehen. Ansonsten haben unsere Untersuchungen zum Ziel der Physik auf dieses Unternehmen nur bedingt eine Auswirkung. Eine mögliche solche Auswirkung ist die Untergrabung der Motivation, nach soziologischen Erklärungen für die Handlungen aus der physikalischen Praxis zu suchen. Es ist eine bekannte Beobachtung, daß soziologische (oder psychologische oder historische) Erklärungen immer dann besonders nachgefragt werden, wenn sich ein rationales Verständnis von Äußerungen oder Handlungen nicht finden läßt. Nun lassen sich die Idealisierungen durch das gangige Ziel der empirischen Angemessenheit nicht erklären, so daß die Handlungen der Physiker - wenn man ihnen dieses Ziel unterstellt - irrational werden, und nach einer soziologischen, psychologischen oder historischen Erklärung verlangen. Das Voraussetzen des Ziels der vereinheitlichten Beschreibung von Dispositionen physikalischer Systeme beseitigt diesen Erklärungsnotstand und damit die Notwendigkeit an dieser Stelle auf derartige Erklärungen zurückzugreifen. Damit soll nicht unterstellt werden, soziologische Beschreibungen all derjenigen Handlungen, die zum erfolgreichen Experimentieren, ζ. B. zum Betreiben eines Teilchenbeschleunigers erforderlich sind, trügen nicht zu einem Verständnis von Physik bei. Es wird lediglich gezeigt, daß es nicht immer notwendig ist, auf soziologische Erklärungen zurückzugreifen, um sich Ausschnitte der physikalischen Praxis verständlich zu machen.
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4. Neubewertungen
4.3 Das Ziel der Physik und der wissenschaftliche Realismus 4.3.1
Die antirealistischen Abgren^ungsversuche
Bei der Debatte um den wissenschaftlichen Realismus geht es um die Legitimität von Existenzbehauptungen hinsichtlich Gegenständen, die nur in der wissenschaftlichen Erfahrung gegeben sind. Es geht also um die Frage, ob wir von Quarks mit dem gleichen Recht behaupten dürfen, sie existierten, wie von den uns vertrauten Gegenständen des täglichen Lebens. Die antirealistischen Positionen, die die Legitimität solcher Existenzbehauptungen bestreiten, stützen sich dabei auf die Unterscheidungen entweder wissenschaftlicher und alltäglicher Erfahrung oder von Labor und freier Natur. In bezug auf die Versuche, diese Unterscheidungen für die Beantwortung der oben genannten Fragestellung zu benutzen, gilt es vor dem Hintergrund der vorangegangenen Untersuchungen folgendes festzuhalten. Der empiristisch motivierte Antirealismus unterscheidet Existenzbehauptungen, die den Bereich des Beobachtbaren betreffen, von solchen, die darüber hinausgehen. In den vorangegangenen Kapiteln hatte sich gezeigt, daß das Kriterium der Beobachtbarkeit bzw. der empirischen Angemessenheit nicht das einzige Kriterium ist, das herangezogen wird, um über die Akzeptanz von Theorien und über die damit verbundenen Existenzaussagen zu entscheiden. Die Praxis der Physik bietet also keinen Anhaltspunkt dafür, der Beobachtbarkeit und der empirischen Angemessenheit den erkenntnistheoretischen Status zuzubilligen, den der Empirismus ihnen verleiht. Es gibt daher keinen Grund, die Legitimität von Aussagen, deren Inhalt lediglich Beobachtbares betrifft, höher zu veranschlagen, als Aussagen auf die das nicht zutrifft. Im Rahmen einer Rekonstruktion der wissenschaftlichen Praxis kann das Kriterium der Beobachtbarkeit also nicht herangezogen werden, um grundsätzlich zwischen gerechtfertigten und solchen, denen gegenüber wir uns bestenfalls agnostisch verhalten sollten, zu unterscheiden. Das Argument des konstruktivistischen Antirealisten beruht auf einer Unterscheidung zwischen Labor und freier Natur. Im voran-
4.3 Das Ziel der Physik und der wissenschaftliche Realismus
193
gegangenen Abschnitt wurde bereits gezeigt, daß eine solche Unterscheidung erkenntnistheoretisch nicht relevant ist. Wenn die Unterscheidung an dem Begriff der Überlagerungssituationen festgemacht wird, dann ist dem entgegenzuhalten, daß diese Situationen erstens nicht allein bei dem Übergang von Labor zu Natur, sondern auch innerhalb des Labors auftreten und daß zweitens bei Voraussetzung von Dispositionen physikalischer Systeme ohnehin nicht zu sehen ist, weshalb Überlagerungssituationen dazu fuhren sollten, das physikalische Wissen auf solche Fälle nicht anwenden zu können. Wird dagegen die Unterscheidung an dem eingreifenden Handeln der Physiker festgemacht, so ist zu sagen, daß das Verhalten der physikalischen Systeme, nicht deshalb schon von ihnen abhängt, weil es durch die Handlungen der Physiker isoliert wird (vgl. 4. 2). Es ist also nicht zu sehen, wie das Handeln dazu benutzt werden kann, hier eine erkenntnistheoretisch relevante Grenzziehimg durchzuführen.
4.3.2 Idealisierungen und wissenschaftlicher Realismus Es zeigt sich, daß die Unterscheidungen, die zur Begründung antirealistischer Positionen herangezogen werden, keine erkenntnistheoretische Relevanz besitzen. Durch diesen Befund wird die Position des wissenschaftlichen Realismus gestärkt. Es bleibt zu untersuchen, ob nicht nur die Argumente gegen den wissenschaftlichen Realismus geschwächt werden, sondern auch die positiven Argumente, die für eine solche Position vorgebracht werden, durch unsere Untersuchungen gestärkt werden. Wie sieht es mit dem Erfolgsargument für den wissenschaftliche Realismus aus, das in Kapitel 1 zitiert wurde? Läßt sich aus der Praxis der Idealisierungen ein Argument für oder gegen den wissenschaftlichen Realismus gewinnen? Welche Form des Realismus wurde durch unsere Untersuchung gestärkt, der Theorienrealismus oder der Gegenstandsrealismus? Zunächst zu dem Erfolgsargument. In Kapitel 1 wurde bereits das Argument von Putnam vorgestellt, demzufolge der Erfolg der Wissenschaft nur durch den wissenschaftlichen Realismus erklärt
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4. Neubewertungen
werden kann. Ansonsten bleibe er ein völliges Rätsel, so Putnam. Daß Wissenschaft erfolgreich ist, hatten wir vorausgesetzt. Ich war davon ausgegangen, daß die Naturwissenschaften eine rationale Praxis darstellen, d. h. ich habe angenommen, sie ist erfolgreich in dem Sinne, daß die Handlungen, die in der Physik ausgeführt werden, angemessene Mittel sind, um den angestrebten Zweck oder das angestrebte Ziel zu realisieren. Ohne diese Annahme hätte ich die Untersuchungen in Kapitel 2 und 3, in denen ich dieses Ziel bestimmt habe, nicht durchführen können. Physik ist also erfolgreich und zwar erfolgreich hinsichtlich der Realisierung einer vereinheitlichten Beschreibung von Dispositionen physikalischer Systeme, wie wir in Kapitel 3 gesehen haben. Wie ist vor dem Hintergrund dieser Zielbestimmung das Erfolgsargument zu beurteilen? Das Bedürfnis, den Erfolg der Wissenschaften zu erklären, stellt sich nur dann ein, wenn es um Vorhersagectiolg geht. Dabei haben wir einen neuartigen Vorhersageerfolg zu unterscheiden von einer Vorhersage, die eine bloß erfolgreiche Projektion schon bekannten Verhaltens in die Zukunft ist. Der Erfolg bei Vorhersagen im zweiten Sinne ist höchstens deshalb verwunderlich, weil das Induktionsprinzip vorausgesetzt werden darf. Wenn wir dieses aber als gültig anerkennen, gibt es keinen weiteren Erklärungsbedarf für Vorhersagen dieser Art. Nur auf völlig neuartige Verhaltensweisen oder Regelmäßigkeiten bezieht sich das Erfolgsargument.16 Diese Überlegung liegt auch dem Argument von E. McMullin zugrunde, wenn dieser behauptet, nur der wissenschaftliche Realist könne dem Kriterium der Nicht-ad-hoc-heit (non-adbocness) Rechnung tragen. Eine Ad-hoc-Hypothese ist eine, die nur vergangene Ereignisse zu beschreiben vermag, aber keine neuartigen Vorhersagen macht. Die Fähigkeit zu solchen neuartigen Vorhersagen, sowie die Bedeutung, die dieser Tugend, die McMullin auch als „Fruchtbarkeit der Theorien" bezeichnet, lassen sich, so McMullin, 17
nur durch den wissenschaftlichen Realismus erklären. Was behauptet das Erfolgsargument nun genau? Die Prämissen des Argumentes sind die beiden folgenden: 1) Nur wenn die Be16 Dazu siehe Carrier 1991, S. 25 bis 28. 17 McMullin 1984, S. 30ff.
4.3 Das Ziel der Physik und der wissenschaftliche Realismus
195
hauptungen einer Theorie auf die Gegenstände, von denen sie handelt, zutreffen, wenn sie also wahr ist, dann kann man die Theorie dazu benutzen, neuartige Verhaltensweisen oder Regelmäßigkeiten erfolgreich vorherzusagen. Die Wahrheit der Theorie ist also eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit erfolgreicher Vorhersage. 2) Die von uns benutzten Theorien geben uns die Möglichkeit zur erfolgreichen Vorhersage im obigen Sinne. Der Satz, auf den man gerne schließen möchte ist der folgende: Unsere Theorien sind wahr. Dazu muß deutlich werden, daß Wahrheit tatsächlich eine notwendige Bedingung für den neuartigen Vorhersageerfolg ist, daß es also keine alternativen Erklärungsmöglichkeiten gibt. Die Untersuchungen der vorangegangenen Kapitel bieten weder die Möglichkeit eine solche Alternative aufzuweisen, noch zeigen sie, daß es solche nicht geben kann. Es kann lediglich gezeigt werden, daß eine denkbare konstruktivistische Erklärungsalternative nicht leistet, was sie verspricht. Ein möglicher Einwand gegen das Erfolgsargument ist nämlich der folgende. Wir hatten bereits darauf hingewiesen, daß Experimente typischerweise unter ganz artifiziellen Bedingungen stattfinden. Es geht gewöhnlich um die Herstellung von Manifestationsbedingungen von Dispositionen physikalischer Systeme. Es sei kein Wunder, so könnte man einwenden, daß sich die Gegenstände so verhalten, wie wir dies vorhersagen, da wir sie ja selbst entsprechend manipulieren. Wir selbst tragen ja Sorge dafür, daß die Bedingungen unter denen die Theorie gültig ist, auch realisiert werden. So hat ζ. B. Latour den Erfolg Pasteurs bei der Behandlung von Milzbrand auf landwirtschaftlichen Betrieben erklärt. Die artifiziellen Bedingungen des Labors werden auf den entsprechenden Betrieben gleichfalls hergestellt. Die Wissenschaft ist erfolgreich, weil Pasteur in der Lage ist, die eingeschränkten Bedingungen, unter denen die Theorie gilt, auf den Betrieben zu implementieren.18 Hier wird eine alternative Erklärung zu geben versucht, deren Zutreffen anzeigte, daß Wahrheit keine notwendige Bedingung für den Vorhersageerfolg ist. Ein solches Beispiel ist als Gegenargument aber nicht stichhaltig (und war von Latour als ein
18 Latour 1983.
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4. Neubewertungen
solches auch nicht gemeint). Latour erklärt lediglich, wieso eine bekannte Verhaltensweise außerhalb des Labors reprodu2iert werden kann (deshalb nämlich, weil die relevanten Laborbedingungen dort in gleicher Weise realisiert werden). Es geht also gar nicht um die Vorhersage eines neuartigen Ereignisses. Aber auch im Falle der Entdeckung eines neuartigen Elementarteilchens, so könnte man weiter einwenden, wird experimentell manipuliert. Dem ist entgegenzuhalten, daß die experimentelle Manipulation sich typischerweise darauf beschränkt, Manifestationsbedingungen herzustellen. Das Verhalten des zu untersuchenden physikalischen Systems wird dadurch aber keineswegs festgelegt (vgl. Abschnitt 4.2). Im übrigen täte sich dann, wenn der konstruktivistische Einwand gegen das Erfolgsargument überzeugte, an anderer Stelle ein ganz analoger Erklärungsbedarf auf. Es wäre nämlich nunmehr ein Wunder, daß trotz der experimentellen Manipulation und der damit - nach Voraussetzung - gegebenen Möglichkeit die Resultate festzulegen, es dennoch zu falschen Vorhersagen kommen kann, die auch nicht durch weitere Manipulationen in Einklang mit den Vorhersagen gebracht werden können, so daß es bisweilen dazu kommt, daß Theorien sogar verworfen werden müssen. Abgesehen davon, daß dieser konstruktivistische Einwand gegen das Erfolgsargument auf der Grundlage unserer Untersuchungen zurückgewisen werden kann, reichen diese nicht aus, eine abschließende Bewertung des Erfolgsargumentes zu erlauben. Insbesondere die Frage, ob es sich bei diesem Argument um eine petitio principa handelt, bleibt unberührt.19 Betrachten wir nun die Argumente, die sich aus der Praxis der Idealisierung ergeben könnten. Man könnte die folgende Überlegung anstellen. Bei einer Idealisierung handelt es sich um eine Maßnahme, die Gegenständen Eigenschaften zuschreibt, die diese anerkanntermaßen nicht besitzen. Willentlich und wissentlich wird ein realer Gegenstand durch einen fiktiven Gegenstand ersetzt, der sich dadurch auszeichnet, daß sein Verhalten mathematisch handhabbar ist. Diese Explikation des Idealisierungsbegriffes verpflichtet denjenigen, der den Begriff der Idealisierung verwendet auf die 19 Fine 1984 und Krüger 1995.
4.3 Das Ziel der Physik und der wissenschaftliche Realismus
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Annahme derjenigen Gegenstände, die diese Idealisierung betrifft. Mit dieser Überlegung ließe sich Laymons Bemerkung dem Antirealisten gegenüber motivieren: The problem of explaining the sense in which a theory of unobservables can be said to be idealized remains. If unobservables do not exist, how 20 can descriptions of them be idealized?
Dem ist entgegenzuhalten, daß eine Antirealistin eine solche Beschreibung der Idealisierung keineswegs akzeptieren muß. Für sie ist die Zuschreibung fiktiver Eigenschaften zu einem Gegenstand nicht als Abweichung von der Beschreibung des realen Gegenstandes aufzufassen, sondern vielmehr das Abweichen von einer anderen Beschreibung, die im Sinne der empirischen Angemessenheit erfolgreich war. Idealisierungen (im weiten Sinne) sind für die Antirealistin also als von erfolgreichen Beschreibungen abweichende Beschreibungen zu verstehen. Damit kann sie dem genannten Einwand entgehen. Laymon bringt in dem bereits zitierten Aufsatz ein weiteres Argument für den wissenschaftlichen Realismus, das es nun zu bewerten gilt. Den Ausgangspunkt zu diesem Argument bilden seine Überlegungen zu der Frage, wie man idealisierte Theorien bestätigen kann. Die Schwierigkeit, die bei der Bestätigung idealisierter Theorien auftaucht, ist die folgende: Theorien scheinen immun gegen Falsifikationen zu sein, wenn in sie Annahmen eingegangen sind, die idealisiert sind. Denn wenn es in einem Experiment zu einem Ergebnis kommt, das mit der Vorhersage der idealisierten Theorie nicht übereinstimmt, läßt sich diese Diskrepanz immer auf die Idealisierungen schieben. Gestützt auf die Untersuchimg historischer Fälle stellt Laymon dem eine Konzeption gegenüber, derzufolge eine idealisierte Theorie dann bestätigt ist, wenn eine sukzessive Deidealisierung zu einer Annäherung von experimentellem Ergebnis und Vorhersage fuhrt. In compressed slogan form, the view proposed is this: a theory is confirmed if it can be shown that it is possible to show that more accurate but still idealized or approximate descriptions will lead to improved ex-
20 Laymon 1984, S. 114.
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perimental fit, a theory is äs confirmed when it can be shown that such improvement is impossible. Diese Theorie der Bestätigung idealisierter Theorien vorausgesetzt, läßt sich nun folgendermaßen ein Argument für den wissenschaftlichen Realismus konstruieren: Nur die Position des wissenschaftlichen Realismus kann die erfolgreiche Konvergenz von Vorhersage und Ergebnis erklaren: Realist and antirealist perhaps can agree on this methodological point: proceed as if one were developing ever more accurate descriptions of an existing reality. Given this agreement an argument for realism is that cases of successful convergence to better experimental fit are miraculous coincidences for the antirealist. Laymon selbst bemerkt, daß sein Argument eine große Ähnlichkeit mit dem Erfolgsargument besitzt, das wir schon diskutiert haben. Aber in diesem Fall ist das Erfolgsargument nicht schlüssig, denn der Antirealist hat die Möglichkeit eine alternative Erklärung für den Vorhersageerfolg zu präsentieren: Es ist kein Wunder, daß wir durch diese Methode zu besseren Vorhersagen gelangen, denn die Abweichungen von schon zuvor als erfolgreich ausgezeichneten Beschreibungen sind verringert worden. Deidealisierungen sind Annäherungen an bewährte Projektionen. Bleibt also festzuhalten, daß sich aus der Verwendimg von Idealisierungen kein Argument für den wissenschaftlichen Realismus ableiten läßt.
4.3.3 Theorienrealismus vs. Gegenstandsrealismus Nachdem klar geworden ist, daß die antirealistischen Versuche, eine erkenntnistheoretisch relevante Grenzziehung zwischen den Bereichen durchzufuhren, die uns in der alltäglichen Erfahrung, und den Bereichen, die uns in der wissenschaftlichen Erfahrung zugänglich sind, gescheitert sind und die Position des wissenschaftlichen Realismus somit gestärkt wurde, gilt es nun die Frage zu be-
21 Laymon 1984, S. 117. 22 Laymon 1984, S. 118.
4.3 Das Ziel der Physik und der wissenschaftliche Realismus
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antworten, welche Form des Realismus - der Gegenstandsrealismus oder der Theorienrealismus - durch unsere Untersuchungen gestärkt wurde. Der Theorienrealismus ist - darauf wurde schon hingewiesen die stärkere der beiden Positionen. Er beinhaltet nicht nur den Gegenstandsrealismus, sondern behauptet darüber hinaus, daß die Theorien über die fraglichen Gegenstande wahr sind. Die Untersuchungen in Kapitel 3 haben ergeben, daß sich die Praxis der Abstraktionen nur erklären läßt, wenn man Dispositionen physikalischer Systeme voraussetzt. Es handelt sich also um ein Argument für die Realität von Dispositionen physikalischer Systeme und damit um ein Argument für den Gegenstandsrealismus. Es stellt sich nun die Frage, ob darüberhinaus auch die Annahme, daß die Theorien, die von diesen Gegenständen handeln, wahr sind, gestärkt wurde. Das ist nicht der Fall. Zunächst mag es so scheinen als sei das „Hauptargument" gegen den Theorienrealismus - das Unterbestimmtheitsargument - durch unsere Untersuchungen geschwächt worden. Wenn die empirische Angemessenheit nicht das allen anderen übergeordnete Kriterium der Theorienakzeptanz ist, dann sind empirisch äquivalente Theorien nicht mehr schlechterdings äquivalent. Infolgedessen, so scheint es, ist das Argument der Unterbestimmtheit der Theorien durch empirische Evidenz entschärft worden. Das trifft aber nicht zu. Das Problem wird lediglich verlagert. Solange eine endliche Anzahl von Kriterien für die Akzeptanz von Theorien relevant ist, ist eine Äquivalenz und die sich daraus ergebende Unterbestimmtheit bezüglich dieser endlichen Menge von Kriterien nicht auszuschließen. Solange es eine endliche Anzahl von Kriterien gibt, die dazu dienen sollen, wahre Theorien zu selektieren, ist nicht auszuschließen, daß es mehrere sich widersprechende Theorien geben kann, die allen Kriterien genügen. Nur eine von ihnen kann aber wahr sein. Da es keine weiteren Kriterien gibt, hat man keinen Grund irgendeine der verschiedenen Theorien für wahr zu halten. Das spricht für eine agnostische Haltung gegenüber dem Anspruch der Theorie auf Wahrheit. Dieses Argument betrifft die realistische Interpretation von Theorien nicht nur insofern sie über Beobachtbares hinaus-
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geht, sondern schlechthin, da die empirische Äquivalenz nicht mehr das alleinige Kriterium ist. Ein Einwand gegen den Theorienrealismus beruht darauf, daß man sich bei Vernachlässigungen, Vereinfachungen und Idealisierungen im engeren Sinne an der pragmatischen Tugend der mathematisch einfachen Handhabbarkeit orientiert. Wir hatten gesehen, daß diese Maßnahmen im Sinne Cartwrights, also als von wahren Beschreibungen physikalischer Systeme fortführend, interpretiert werden müssen. Der Beitrag, den diese Idealisierungen zu einer vereinheitlichten Beschreibung von Dispositionen physikalischer Systeme leisten, ist also dem Wahrheitsanspruch, der mit Theorien verknüft wird, abträglich.
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Register
Abstraktion 86; 96; 98; 99; 103; 117; 119; 122; 123; 129-177; 181; 187; 189 amorphe Festkörper 92; 96; 113; 156; 189 Annahme 88-90 Anwendungsbereich von Theorien 79; 109-118; 121; 129; 136 Armstrong, D. M. 144; 145; 151; 152 Artefakt 53; 58; 60; 93 Ashcroft, N. W. 96-104; 113; 134 Balzer, W. 119 Becker, R. 102; 121; 134 Beobachtungsbegriff 21-24; 28; 29; 148 Beobachtungssprache 11; 13; 23; 25; 26; 28; 29; 184 Black, M. 100 Böhm, A. 135; 162; 163 Bourgeois, W. 15 Boyd, R. 50; 52; 54 Braithwaite, R. 144 Carnap, R. 9; 11; 12; 14; 16; 2229; 34-37; 46; 138-140; 143; 148 Carrier, M. 67; 194 Cartwright, Ν. 12; 14; 42; 43; 100; 105; 113-115; 125; 126; 152; 154; 160 Craigsches Theorem 28; 29; 31 Datenbearbeitung 87; 96 Datenberichtigung 95; 130; 172 Davidson, D. 10; 15; 16 Deidealisierung 121-122; 197 Descartes, R. 53; 63; 64; 179
Dilemma der Theoretikerin 21; 27; 30; 32; 34; 65 Dingler, H. 57 Disposition 130; 139-175; 178; 187; 190; 191; 193; 194; 195; 199; 200 Diu, B. 114 Dogmen des Empirismus 10; 15-17 Dretske, F. 144 Duhem, P. 1; 2; 6; 33; 48; 6269; 76; 78; 79; 95; 123; 172 Einfachheit 48; 105 Einheit 35; 37; 65; 69-74; 11; 123; 125; 127; 154 Elektron 12; 13; 24; 28; 46; 58; 139: 160 Ellis, Β. 21; 105-108; 123; 174; 177 empirische Angemessenheit 9; 14; 17-23; 27-34; 44; 45; 47; 49; 61; 65; 74; 112; 118-124; 127; 129; 135; 137; 178-183; 186; 191; 192; 197 empirische Basis 13; 15; 18; 21; 22; 47; 498; 76; 78; 179 Empirismus 9-46; 74; 178-188; 192 empiristische Naturgesetzkonzeption 142-144; 152; 154164 Erfahrung 10; 11; 13; 16; 17; 21; 24; 30; 39; 40; 46; 54; 57; 60; 64; 67; 72; 73; 74; 106; 117; 145; 178-186; 192; 198 Erfolgsargument 49; 52; 193196; 198 Erklärung 18; 27; 43; 48; 51; 6268; 74-81; 83; 107; 119; 120;
210
Register
123; 127; 134; 156; 158; 176; 191; 195; 198 essentielle Eigenschaften 106108; 175; 176 Experiment 5; 42; 59; 69; 139; 172 Falkenburg, Β. 190 Fine, Α. 196 Foerster, Η., v. 54 Foss.J. 15 Friedman, M. 47 Galilei, G. 97; 105; 112 Galison, P. 93 Gegenstandsrealismus 41-43; 193; 198-200 Gesamtsystem 137; 141; 160; 161 Gittertheorie 121 Haase, M. 119 Hacking, I. 40-43; 54 Hahn, H. 10; 16; 34; 35 Harré, R. 105; 116; 117 Hartkämper, Α. 119 Hawking, S. 70; 86 Heisenberg, W. 71; 72 Heimholte, Η., v. 54; 70; 86 Hemp el, C. G. 9; 18; 22; 23; 2732; 65; 139; 140 Herstellung von Untersuchungsgegenständen 34; 35; 87; 93; 105; 112; 123; 130; 172; 173; 190; 195 Hertz, H. 65; 99; 100 Horner, H. 101 Hunklinger, S. 134; 136 Husserl, E. 91; 181 Idealisierung 86; 87-128; 129; 135; 136; 171; 173; 174-176; 178; 191; 193; 196; 197; 200 Invarianz 85; 108 Janich, P. 51; 55-60
Kant, I. 16; 52; 53; 54; 95 kausale Isolation 87; 94; 103; 130; 155; 172; 173; 189 Kirchhoff, G. 69; 70; 86 Köhnke, Κ . 35 Konkretisierung von Gesetzen 174-176 Konstruktivismus 9; 52-61; 178; 183; 197-191 kontrafaktische Bedingungen 153; 165; 167; 181 Koppelberg, D. 11 Korrespondezregel 25; 26; 139 Kristall 92; 96; 97; 107; 113; 115; 132; 134; 137; 156; 157; 158; 159; 162; 163; 165; 176 Kriterien der Theorienwahl 6; 7; 20; 21; 33; 42; 45; 47; 48; 49; 61; 64; 65; 77; 80; 82; 104; 118; 199; 120; 122; 124; 179; 180; 182; 183; 185; 186; 192; 194; 199 Krüger, L. 13; 196 Kuhn, T. 1; 71; 85 Labor 55; 56; 59; 60; 62; 189192 Laloe, F. 114 Latour, B. 195 Laudan, L. 185 Laymon, R. 118; 197-198 Lenard, P. 172 LeplinJ. 50; 51; 185 Lewis, D. 144 Locke, J. 10; 11; 13; 40; 183 Mach, E. 65; 154; 155 Magnetfeld 26; 160 Manifestation von Dispositionen 146-150 Manifestationsbedingungen 149; 153; 165; 166; 167; 169; 170; 173 mathematische Handhabbarkeit 98; 104; 108; 114 Maxwellgleichungen 156 McMullin, E. 91; 93; 194
Register Mellor; H. 146; 147; 148; 169 Mermin, Ν. D. 96-104; 113; 114; 134 Modell 18; 99-103; 116; 119; 122; 188 Montaigne, M., de 179 Morrison, M. 43 Moulines, U. 119 Murr, K. 82-83 Nagel, E. 12 Nagel, T. 73 Näherung 118-120; 134; 137 Natur 45; 51; 55-62; 66; 69; 74; 85; 93; 94; 106; 108; 117; 129; 142; 144; 152; 154; 155; 163; 164; 173; 180; 187-192 naturgemäße Klassifikation 6268; 127 Naturgesetz 75; 77; 109; 114; 119; 129; 141-168; 171; 174; 190 Neurath, O. 11; 14; 16; 34; 35 Newton, I. 33; 63; 112 Niiniluoto, I. 118-120 Nowak, L. 174-177 Oppenheim, P. 18; 35 Phononen 101; 102; 121; 132; 133 physikalisches System 89; 96; 98; 103; 110; 113; 114; 116; 117; 119; 122; 124; 129; 131; 133; 135; 142; 146; 147; 151; 155; 164; 165; 166; 167; 168; 169; 172; 175; 181; 187 Pietrorski, P. 140 Planck, M. 73; 86 Pohl, R. 92; 93 Popper, K. R. 1; 2; 4; 6; 14; 51; 74-82; 169; 170; 172 Protophysik 45; 55-60; 62 Putnam, H. 35; 50; 51; 53; 193 Quine, W. ν. O. 9; 10; 15; 19; 22; 32; 33; 42
211 Ramsey, F. P. 28; 29; 31; 144 Rationalität 5; 60; 61 Realismus 9; 38-51; 52; 53; 55; 56; 60; 67; 73; 74; 80; 81; 192200 Reiner, R. 43 Rey, G. 140 Scheibe, E. 71; 72; 77; 109; 113; 133; 142 Schmidt, H.-J. 119 Schnädelbach, H. 35 Smith, Β. 146 Sneed, J. 119 spezifische Wärme 12; 91-103; 116; 117; 121; 122; 126; 131137; 152; 153; 156-161; 165; 172; 173; 175; 189; 190 Teilsystem 132; 137; 160; 163 Tetens, H. 55-59; 182; 189-190 theoretische Begriffe 12; 23-34; 42; 46; 58; 138; 145 Theorienrealismus 41; 42; 44; 50; 80; 126; 193; 198-200 Tooley, M. 144 Tunnelsystem 132-134; 136; 173; 176 Überlagerungssituationen 59; 60; 130; 138: 139; 152; 154167; 190 Universalien 144; 145; 151; 169; 184 Unterbestimmtheit 33; 199 Ursache 151; 154; 155; 172 van Fraassen, B. 1; 2; 6; 10; 12; 14-21; 32; 40; 41; 44-49; 53; 64; 74; 79; 100; 118; 123; 127; 172; 178; 181-186 Vereinfachung 101-103 vereinheitlichte Beschreibung 108; 110-113; 120; 122127;129; 171; 173; 178; 187
212
Register
Wahrheit 13; 38; 40-45; 47-52; 64; 74; 75; 79-82; 104; 123; 126; 127; 140; 173; 195 Walcher, W. 95 Weinberg, S. 70
Weizsäcker, C. F., v. 71-74; 123 Wirkungs vermögen 151; 154 Wright, G. Η., v. 82-84 Zeller, R. 92; 93