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German Pages 516 [518] Year 2024
JUS PUBLICUM Beiträge zum Öffentlichen Recht Band 327
Nils Schaks
Demokratische Dekonsolidierung Eine rechtsdogmatische und rechtsvergleichende Untersuchung zum Schutz der liberalen Demokratie durch das Grundgesetz
Mohr Siebeck
Nils Schaks, geboren 1978; Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Potsdam, der Université Paris X-Nanterre sowie der Humboldt-Universität zu Berlin; 2004 Erstes Staatsexamen; 2007 Promotion (FU Berlin); Rechtsreferendariat am Kammergericht; Rechtsanwalt in Düsseldorf; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Sozialrecht der Freien Universität zu Berlin; Juniorprofessor für Öffentliches Recht an der Universität Mannheim; 2021 Habilitation; ab 2004 Professor für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Life Sciences-Recht an der Universität Basel. orcid.org/0000-0002-1515-0998
Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat sowie der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung, Hamburg. ISBN 978-3-16-162238-0 / eISBN 978-3-16-163399-7 DOI 10.1628/978-3-16-163399-7 ISSN 0941-0503 / eISSN 2568-8480 (Jus Publicum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Textservice Zink in Schwarzach gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.
Für Michael
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2020/2021 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin als Habilitationsschrift angenommen. Sie entstand während meiner Zeit zunächst als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin, dann als Juniorprofessor an der Fakultät für Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre der Universität Mannheim sowie während eines Forschungsaufenthalts an der Universität Stellenbosch (Südafrika). Für die Drucklegung mussten einige Entwicklungen nachgetragen werden – das Problem der demokratischen Dekonsolidirung hat nichts an Aktualität eingebüßt. Die Arbeit befindet sich im Wesentlichen auf dem Stand von Juni 2023, vereinzelt konnte noch Rechtsprechung und Literatur bis August 2023 berücksichtigt werden. Herrn Universitätsprofessor Dr. Helge Sodan, Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin a.D., danke ich sehr herzlich für die vorzügliche Begleitung und Betreuung der Arbeit, auch nach meinem Wechsel nach Mannheim, sowie das Erstgutachten. Die genossene akademische Freiheit und Förderung weiß ich sehr zu schätzen. Herrn Universitätsprofessor Dr. Markus Heintzen danke ich herzlich für die überaus rasche Erstellung des Zweitgutachtens und weiter gehende Anregungen, z.B. hinsichtlich der Einführung der „Dekonsolidierungsverfassungsbeschwerde“. Herrn Professor Dr. Henk Botha und Herrn Professor Dr. Wessel le Roux danke ich für ihre Unterstützung in Stellenbosch und Kapstadt sowie für ihre Diskussionsbereitschaft und zahlreiche Hinweise und Erläuterungen zum südafrikanischen Recht. Meinen Kolleginnen und Kollegen an der Freien Universität Berlin und der Universität Mannheim gebührt großer Dank für die Rücksichtnahme auf die Nöte eines Habilitanden und ihre große Hilfsbereitschaft. Außerdem möchte ich meinem Habilitationskreis für Anregungen und Motivation danken. Frau Marisa Doppler und Herrn Michael Beerens danke ich vielmals für die Mühen des Korrekturlesens und ihre redaktionelle Begleitung. Für die äußerst großzügige finanzielle Unterstützung bei der Veröffentlichung danke ich dem Bundesministerium des Innern und für Heimat, Berlin, und der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung, Hamburg. Die Arbeit an der Habilitationsschrift hat Zeit und Kraft gekostet. Hierunter hatten Freunde, Familie und Partnerschaft zu leiden. Für Zuspruch, Unter-
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Vorwort
stützung, Motivation, offene Ohren und Verzicht danke ich Euch aufs Herzlichste und auch dafür, dass Ihr mich in einer Phase ertragen habt, die SARSCoV-2 nicht angenehmer gemacht hat. Mannheim, im August 2023
Nils Schaks
Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . Inhaltsverzeichnis . . . . Zur Übersetzung und zur Abkürzungsverzeichnis .
. . . . . . . . . . . . . . Zitierweise . . . . . . .
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
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. VII . XI XIX XXI
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I. Globaler Befund: Gefährdungen der liberalen Demokratie durch „demokratische Dekonsolidierung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Nationale Folge: Demokratische Dekonsolidierung als Herausforderung für die deutsche Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Forschungsgegenstand: De-facto-Verfassungsänderung durch Maßnahmenkumulation im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . IV. Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 6 37 58 66 71
B. Methodische und begriffliche Grundlegungen . . . . . . . . . . . . 73 I. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 II. Begriffe: Demokratie und demokratische Dekonsolidierung . . . . . . . 97
C. Antizipation im Grundgesetz
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
I. Prävention – Antizipation – Reaktion . . . . . . . . . . . . . . II. Der Begriff der Antizipation in der deutschen Rechtsordnung und Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Antizipation in Bestimmungen des Grundgesetzes . . . . . . . IV. Antizipation und verwandte Konzepte . . . . . . . . . . . . . . V. Zwischenergebnis: Das Grundgesetz als antizipative Verfassung
D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
. . . . . 120 . . . . . . . . . . . . . . .
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123 138 210 251
. . . . . . . . . . . . 253
I. Vermeintliche Bedeutungslosigkeit der Wesensgehaltsgarantie II. Wesensgehaltsgarantie als geltendes Recht mit konkreten Anwendungsbereichen . . . . . . . . . . . . . III. Handhabbarkeit der Wesensgehaltsgarantie . . . . . . . . . . IV. Verständnis der Wesensgehaltsgarantie . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenführung: Wesensgehaltsgarantie, Antizipation und demokratische Dekonsolidierung . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . 261 . . . . . . 267 . . . . . . 274 . . . . . . 292 . . . . . . 308
X
Inhaltsübersicht
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit . . . . . . . 315 I. Die Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 II. Methodik: Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 III. Verfassungsprozedurale und rechtswissenschaftliche Umsetzungen . . 422 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
F. Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick
. . . . . . . . . . 435
I. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 II. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . Inhaltsübersicht . . . . . Zur Übersetzung und zur Abkürzungsverzeichnis .
. . . . . . . . . . . . . . Zitierweise . . . . . . .
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. VII . IX XIX XXI
A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung . . . . . . . . .
1
I. Globaler Befund: Gefährdungen der liberalen Demokratie durch „demokratische Dekonsolidierung“ . . . . . . . . . . . . . .
6
1. Das Beispiel Ungarns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Entmachtung der (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit . . . . . . b) Die Beeinträchtigung der Grundrechte und der Zivilgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Manipulationen des Wahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Beispiel Polens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Disziplinierung der (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit . . . . . b) Die Beeinträchtigung der Grundrechte und der Zivilgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Politisierung des Wahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Übereinstimmende Kennzeichen und Bewertung . . . . . . . . . . a) Demokratische Dekonsolidierung, nicht bloßer demokratischer Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Veränderung des Verfassungscharakters . . . . . . . . . . . . . c) Veränderung des Verfassungscharakters durch Maßnahmenkumulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Versagen des Gewaltenteilungsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . e) Inkurs: Modifikation der Gewaltenteilung in Südafrika . . . . . f) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 9 . 10 . . . . .
12 14 15 16 17
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21 22 22 23
. 23 . 26 . . . .
26 27 32 37
II. Nationale Folge: Demokratische Dekonsolidierung als Herausforderung für die deutsche Rechtsordnung . . . . . . . 37 1. Ein fiktives Szenario: Die Coronadiktatur . . . . . . . . . . . . . . . 39 a) Zum Schutze der Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 b) Zur Sprengung der Verfassungsordnung . . . . . . . . . . . . . . 40
XII
Inhaltsverzeichnis
2. Bisherige Schwerpunkte rechtswissenschaftlicher Forschung im Zusammenhang mit dem Schutz der Demokratie und Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wehrhafte Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Verfassungsfestigkeit“ als Forschungsgegenstand . . . . . c) Populismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Demokratische Funktionsbedingungen . . . . . . . . . . . aa) Erosionen der Staatselemente . . . . . . . . . . . . . . bb) Demokratisches Ethos als Voraussetzung der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Demokratische Öffentlichkeit als Funktionsbedingung dd) Fragmentierungen als Gefährdungen der Demokratie . 3. Leerstellen rechtswissenschaftlicher Forschung . . . . . . . . .
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43 44 46 49 51 51
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52 54 55 56
III. Forschungsgegenstand: De-facto-Verfassungsänderung durch Maßnahmenkumulation im deutschen Recht . . . . . . . .
58
1. Ergebnis der demokratischen Dekonsolidierung: De-factoVerfassungsänderung – Änderung des Verfassungscharakters . . . . 2. Mittel der demokratischen Dekonsolidierung: Maßnahmenbündel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
IV. Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
1. Erste These: Das Grundgesetz als antizipative Verfassung . . . . 2. Zweite These: Schutz der Verfassungsordnung durch feste Verfassungsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dritte These: Schutz der Verfassungsordnung durch Schutz vor Kumulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Synthese und praktische Anwendung: Die Wesensgehaltsgarantie als Schutz vor der demokratischen Dekonsolidierung . . . . . . .
58
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66
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67
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68
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70
V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
B. Methodische und begriffliche Grundlegungen . . . . . . . . .
73
I. Methode
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1. Das geltende Verfassungsrecht als Ausgangspunkt . . . . . 2. Methodische Dilemmata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Offenheit des Verfassungstextes . . . . . . . . . . . . . b) Stufenbau der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . c) Zeitgebundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsvergleichung mit Südafrika . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsvergleichung als zulässige rechtswissenschaftliche Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Funktionale Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Voraussetzungen der funktionalen Methode . . . . . . . aa) Ähnlichkeit der Verfassungen . . . . . . . . . . . .
73
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73 75 75 76 80 81
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82 85 87 88
XIII
Inhaltsverzeichnis
bb) Alter der Verfassungen . . . . . . . . cc) Universalität . . . . . . . . . . . . . . dd) Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenergebnis: Dogmatik im Kontext und Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . . . . . . . . . . . 97
II. Begriffe: Demokratie und demokratische Dekonsolidierung . . . 97 1. „Demokratie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vieldeutigkeit des Begriffs „Demokratie“ . . . . . . . . . . . . b) Demokratieprinzip des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . c) Exkurs: Legitimation nach der südafrikanischen Verfassung . d) Demokratie und Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Demokratieprinzip, verfassungsmäßige Ordnung, freiheitliche demokratische Grundordnung, Verfassungsidentität . . . . . 2. Demokratische Dekonsolidierung . . . . . . . . . . . . . . . . .
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97 97 99 103 106
. . 110 . . 111
C. Antizipation im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 I. Prävention – Antizipation – Reaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 II. Der Begriff der Antizipation in der deutschen Rechtsordnung und Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. 2. 3. 4.
Keine ausdrückliche Verwendung im Grundgesetz . . . . . Sehr seltene Verwendung im deutschen Fachrecht . . . . . Seltene Verwendung im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . Gelegentliche Verwendung im juristischen Sprachgebrauch a) Straf- und Strafprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Notwehrantizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verbot der Beweisantizipation . . . . . . . . . . . . b) Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht . . . . . . . aa) Antizipiertes Sachverständigengutachten . . . . . . . bb) Antizipierte Verwaltungspraxis bei Art. 3 I GG . . . 5. Zwischenergebnis: „Antizipation“ im Sinne dieser Arbeit .
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III. Antizipation in Bestimmungen des Grundgesetzes . . . . . . . . . 138 1. Der Antizipationsgedanke als Bestandteil der sog. Ewigkeitsklausel (Art. 79 III GG) . . . . . . . . . . . . a) Bedeutung für innerstaatliche Verfassungsänderungen aa) Begriff der Verfassungsänderung . . . . . . . . . bb) Inhaltliche Bedeutung des Art. 79 III GG . . . . cc) Erfassung von Kumulationen . . . . . . . . . . . b) Bedeutung im Rahmen der Europäischen Union . . aa) Übertragung von Hoheitsrechten . . . . . . . . . bb) Ausübung der übertragenen Hoheitsrechte . . .
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138 139 139 141 146 148 150 152
XIV
Inhaltsverzeichnis
2. 3. 4. 5. 6.
7.
c) Bedeutung für Art. 24 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Südafrikanisches Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufsbeamtentum, Art. 33 IV, V GG . . . . . . . . . . . . . . . . . Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, Art. 28 II GG . . . . Richteranklage, Art. 98 II GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Innerer Notstand, v.a. Art. 91, 87a IV GG . . . . . . . . . . . . . . Der Antizipationsgedanke und der Grundrechtsschutz . . . . . . . a) Menschenwürde und Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundrechte und Gesetzesvorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . c) Verfassungsmäßige Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verfassungstreue, Art. 5 III 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Freiheitliche demokratische Grundordnung . . . . . . . . . . . . aa) Freiheitliche demokratische Grundordnung und Parteiverbot, Art. 21 II 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Freiheitliche demokratische Grundordnung und Ausschluss von der Parteienfinanzierung, Art. 21 III 1 GG . . . . . . . cc) Freiheitliche demokratische Grundordnung, Art. 10 II 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Freiheitliche demokratische Grundordnung, Art. 11 II GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Freiheitliche demokratische Grundordnung und Grundrechtsverwirkung, Art. 18 GG . . . . . . . . . . . . . ff) Südafrikanisches Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . f) „Diese Ordnung“ und Widerstandsrecht, Art. 20 IV GG . . . . g) Einrichtungsgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Wesensgehaltsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
157 157 159 160 164 167 170 171 172 174 176 178 181 181 186 187 188 189 191 191 199 207 207 208
IV. Antizipation und verwandte Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . 210 1. Der Grundsatz der wehrhaften Demokratie . . . . . . . . . . . a) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ursprünge der wehrhaften Demokratie . . . . . . . . . . . . c) Sammelbegriff oder Substanzbegriff . . . . . . . . . . . . . . d) Südafrikanisches Verfassungsrecht und wehrhafte Demokratie e) Antizipativer Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Notstandsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ursprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Südafrikanisches Verfassungsrecht und Notstandsverfassung d) Antizipativer Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfassungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ursprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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210 211 215 224 225 229 229 229 231 232 234 234 234 237
XV
Inhaltsverzeichnis
4.
5.
6.
7.
c) Südafrikanisches Verfassungsrecht . . . . . . . . . . d) Antizipativer Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . Staatsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Südafrikanisches Verfassungsrecht und Staatsschutz c) Antizipativer Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausnahmezustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Südafrikanisches Verfassungsrecht . . . . . . . . . . d) Antizipativer Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsatz der Nachhaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Südafrikanisches Verfassungsrecht . . . . . . . . . . d) Antizipativer Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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237 237 238 239 240 240 241 241 243 245 245 245 245 246 249 250 250
V. Zwischenergebnis: Das Grundgesetz als antizipative Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG . . . . . . . . . 253 I. Vermeintliche Bedeutungslosigkeit der Wesensgehaltsgarantie . . 261 1. 2. 3. 4.
Wesensgehaltsgarantie ist nicht änderungsfest Vermeintliche Impraktikabilität . . . . . . . . Zeitgebundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . .
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262 263 266 267
II. Wesensgehaltsgarantie als geltendes Recht mit konkreten Anwendungsbereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 1. Wahrung des Art. 19 II GG bei und nach der Übertragung von Hoheitsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Deutsche Mitwirkung in der EU, Art. 23 I GG . . . . . b) Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen, Art. 24 I GG . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Relevanz im Prozess der Wiedervereinigung, Art. 143 GG 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . 269 . . . . . 269 . . . .
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272 273 273 274
III. Handhabbarkeit der Wesensgehaltsgarantie . . . . . . . . . . . . . 274 1. Anwendung bei Kernbereichen . . . . . . . . . . . a) Menschenwürdegehalte der Grundrechte . . . . b) Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Art. 2 I i.V.m. c) Kollektive Koalitionsfreiheit, Art. 9 III GG . .
. . . . . . . . . . . . . . . . Art. 1 I GG . . . . . . . .
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XVI
Inhaltsverzeichnis
d) Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis: Handhabbarkeit von Kernbereichen . . . 2. Anwendung im Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wesensgehaltsgarantie des Art. 52 I 1 EUGrCh . . . . . . . . b) Wesensgehaltsrechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis: Handhabbarkeit von Wesensgehaltsgarantien
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279 280 281 282 287 291
IV. Verständnis der Wesensgehaltsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . 292 1. Die Wesensgehaltsgarantie bezieht sich auf das objektive Grundrecht und die individuelle Rechtsposition . . . . . 2. Wesensgehaltsgarantie ist absolut zu verstehen . . . . . . a) Einwand: Finaler Rettungsschuss . . . . . . . . . . . . b) Einwand: Enteignungen . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Einwand: Lebenslange Freiheitsstrafe . . . . . . . . . 3. Wesensgehaltsgarantie erfasst auch Kumulationen . . . . 4. Von Art. 19 II GG erfasste Rechte . . . . . . . . . . . . . 5. Von Art. 19 II GG erfasste Grundrechtsberührungen . . 6. Zwischenergebnis: Wesensgehaltsgarantie gilt absolut und erfasst Gesetzeskumulationen . . . . . . . . . . . . .
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V. Zusammenführung: Wesensgehaltsgarantie, Antizipation und demokratische Dekonsolidierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit . . . 315 I. Die Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG . . . . . . . . . . . . . . 316 II. Methodik: Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 1. Auslegung nach dem Wortlaut . . . . . . . . . a) Wortlaut des Art. 19 II GG . . . . . . . . . aa) Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . b) Wortlaut des Art. 8 GG . . . . . . . . . . . aa) Alle Deutschen . . . . . . . . . . . . . bb) Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sich zu versammeln . . . . . . . . . . . (1) Räumliche Zusammenkunft und Ort (2) Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Zweck der Zusammenkunft . . . . . (4) Personenzahl . . . . . . . . . . . . . (5) Erfasste Handlungen . . . . . . . . dd) Ohne Anmeldung oder Erlaubnis . . . (1) Anmeldeerfordernis . . . . . . . . . (2) Genehmigungserfordernis . . . . . .
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XVII
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(3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Friedlich und ohne Waffen . . . . . . . . . . . . . . ff) Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Systematik des Art. 19 II GG . . . . . . . . . . . . . . . aa) Einrichtungsgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Grundrechtsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die europäischen Wesensgehalte . . . . . . . . . . . b) Systematik des Art. 8 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rechtsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Grundrechtsbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Grundrechtsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . (2) EU-Ausländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Juristische Personen . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Anzahl der Grundrechtsträger . . . . . . . . . . dd) Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . gg) Enger oder weiter Versammlungsbegriff . . . . . . . hh) Selbstbestimmung und staatliche Neutralität . . . . (1) Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii) Friedlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . jj) Infrastrukturelle Begleiteinrichtungen . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Historie des Art. 19 II GG . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Historie des Art. 8 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Subjektives Recht gegen den Staat, aber nicht Private bb) Deutschengrundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . ee) Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Selbstbestimmung und staatliche Neutralität . . . . gg) Enger oder weiter Versammlungsbegriff . . . . . . . hh) Personenanzahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii) Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . jj) Friedlichkeit und Waffenlosigkeit . . . . . . . . . . kk) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Auslegung nach Sinn und Zweck . . . . . . . . . . . . . . .
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XVIII
Inhaltsverzeichnis
a) Telos des Art. 19 II GG . . . . . . . . . . . . . b) Telos des Art. 8 GG . . . . . . . . . . . . . . . aa) Persönlichkeitsentfaltung . . . . . . . . . . (1) Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Bindung des Staates . . . . . . . . . . . (3) Mindestpersonenanzahl . . . . . . . . . (4) Enger oder weiter Versammlungsbegriff (5) Deutschengrundrecht . . . . . . . . . . (6) Versammlungsorte . . . . . . . . . . . . (7) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . bb) Demokratische Funktionen . . . . . . . . . (1) Plebiszitfunktion . . . . . . . . . . . . . (2) Publikationsfunktion . . . . . . . . . . (3) Minderheitenschutz . . . . . . . . . . . (4) Warnfunktion . . . . . . . . . . . . . . (5) Stabilisierungsfunktion . . . . . . . . . 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Verfassungsprozedurale und rechtswissenschaftliche Umsetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 1. Verfassungsprozessuale Umsetzung . . . . . . . . . . . a) Methoden und Strategien bei der Ermittlung des Wesensgehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfahrensarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Darlegungslast, insbesondere bei Kumulationen . . d) Entscheidungsinhalt, insbesondere bei Kumulationen 2. Rechtswissenschaftlicher Wirkmechanismus . . . . . .
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IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
F. Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick . . . . . . . 435 I. Zusammenfassung 1. 2. 3. 4. 5.
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Demokratische Dekonsolidierung: Begriff, Beispiele, Probleme Forschungsgegenstand und -frage . . . . . . . . . . . . . . . . . Thesen und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Antizipationsgedanke des Grundgesetzes . . . . . . . . . . Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG als Ausprägung der Antizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Dogmatische Anwendung am Beispiel der Versammlungsfreiheit
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435 436 437 437
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II. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491
Zur Übersetzung und zur Zitierweise Diese Arbeit ist auch eine rechtsvergleichende Untersuchung, wobei das südafrikanische Recht die Vergleichsrechtsordnung darstellt. Ausgewertet wurden die englischsprachige1 Literatur und Rechtsprechung. Da diese einerseits gut über das Internet verfügbar sind und andererseits die gedruckten Werke in deutschen Bibliotheken kaum vorhanden sind, wird – sofern möglich – eine über das Internet verfügbare Quelle als Beleg angegeben. Die Übersetzungen sind Arbeitsübersetzungen des Verfassers. Diese Arbeit ist auf Deutsch verfasst. Dementsprechend weicht die Zitierweise der südafrikanischen Rechtsprechung und Literatur von den südafrikanischen Gepflogenheiten ab und ist an die deutschen Usancen angepasst. So werden im südafrikanischen Recht die einzelnen Vorschriften der Verfassung als „Section“ und nicht als Artikel bezeichnet, aus Gründen der Einheitlichkeit und Vertrautheit wird hier jedoch stets von „Artikeln“ gesprochen. Um nicht deutsche Zeitschriften leichter auffinden zu können, wurde auf eine Abkürzung der Zeitschriftentitel verzichtet und der ausgeschriebene Titel verwendet. Außerdem orientieren sich die Zitate an der in Deutschland üblichen Reihenfolge Autor, Titel des Beitrags, Titel der Zeitschrift, ggf. Bd., Erscheinungsjahr, Seitenzahl, was in Südafrika oft anders ist. Bei Buchbeiträgen werden die Herausgeber mit dem Kürzel „Hrsg.“ und nicht mit dem englischen „ed(s).“ gekennzeichnet. Da Mitte der 1990er-Jahre kurz nacheinander zwei südafrikanische Verfassungen in Kraft traten2 und beide in den Rechtsvergleich einbezogen werden, wird stets kenntlich gemacht, auf welche Verfassung sich die Aussagen zum südafrikanischen Verfassungsrecht beziehen. „IC“ ist die Abkürzung für die nicht mehr in Kraft befindliche Interimsverfassung („Interim Constitution“), „FC“ diejenige für die endgültige Verfassung („Final Constitution“), die noch in Kraft ist. Die Aufzählung der Amtssprachen in der Fußnote auf dieser Seite bezieht sich also auf Art. (eigentlich „Section“) 6(1) der endgültigen (finalen) Verfassung (FC) von 1996.
1 Die anderen zehn offiziellen Amtssprachen Südafrikas sind Sepedi, Sesotho, Setswana, siSwati, Tshivenda, Xitsonga, Afrikaans, isiNdebele, isiXhosa und isiZulu, vgl. Art. 6(1) FC. 2 Siehe zum komplizierten Verfassungsgebungsprozess Kotzé, The New (Final) South African Constitution, Journal of Theoretical Politics 8 (1996), 133 ff.
XX
Zur Übersetzung und zur Zitierweise
Das südafrikanische Verfassungsgericht, der „Constitutional Court“ (vgl. Art. 167 FC), wird im Text als südafrikanisches Verfassungsgericht bezeichnet, in den Fußnoten wird er mit „CC“ abgekürzt. In der Datenbank „http:// www.saflii.org/“, die eine gute Quelle für die südafrikanische Rechtsprechung darstellt, wird den südafrikanischen Gerichten zumeist das Kürzel „ZA“ für Südafrika vorangestellt, z.B. „ZACC“ für das südafrikanische Verfassungsgericht. Hierauf wird verzichtet. Der Entscheidungsname und der die Entscheidungsgründe formulierende Richter sind in den Fußnoten als zusätzliche Information aufgenommen, auch wenn dies in Deutschland nicht üblich ist. Die anderen südafrikanischen Gerichte wurden nicht abgekürzt, um die Verständlichkeit nicht durch zu zahlreiche Abkürzungen zu beeinträchtigen. Die sonstigen verwendeten Abkürzungen, sofern sie nicht im Abkürzungsverzeichnis aufgeführt sind, sind allgemein bekannt oder lassen sich Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 10. Aufl. 2021, entnehmen.
Abkürzungsverzeichnis ALR ANC BKartA CC CEU FC Fidesz HerrenChE IC JW KDNP KPD ME VersG NGO PiS PVS RGA RVG SATAWU SRP VvB WRV
Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 African National Congress, südafrikanische Partei Bundeskartellamt Constitutional Court, Verfassungsgericht der Republik Südafrika Central European University Final Constitution, geltende Verfassung der Republik Südafrika (Inkrafttreten am 4.2.1997) Fidesz – Magyar Polgári Szövetség (deutsch: Fidesz – Ungarischer Bürgerbund), ungarische Partei Verfassungsentwurf des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee (1948) Interim Constitution (Übergangsverfassung der Republik Südafrika, Inkrafttreten am 27.4.1994) Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) Kereszténydemokrata Néppárt (deutsch Christlich-Demokratische Volkspartei), ungarische Partei Kommunistische Partei Deutschland (1956 verboten) Musterentwurf Versammlungsgesetz Non-Governmental Organisation (deutsch: Nichtregierungsorganisation) Prawo i Sprawiedliwość (deutsch: Recht und Gerechtigkeit), polnische Partei Politische Vierteljahresschrift (Zeitschrift) Regulation of Gatherings Act, südafrikanisches Versammlungsgesetz Reichsvereinsgesetz South African Transport and Allied Workers Union, südafrikanische Gewerkschaft Sozialistische Reichspartei (1952 verboten) Verfassung von Berlin Weimarer Reichsverfassung
A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung „Le but de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescriptibles de l’homme. Ces droits sont la liberté, la propriété, la sûreté et la résistance à l’oppression.“ Art. 2 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26.8.17891
„Das Ende der Geschichte“2 ist noch nicht das Ende der Geschichte: Der 1989 vorhergesagte weltweite Siegeszug der liberalen Demokratie ist zumindest bislang nicht eingetreten, vielmehr hat sich die Geschichte „mit einiger Brutalität zurückgemeldet“3. Der Sinn für Ironie der Geschichte zeigt sich darin, dass gerade in einigen derjenigen Staaten, die den Kommunismus überwanden und damit die Vorhersage vom „Ende der Geschichte“ veranlassten, die liberale Demokratie derzeit einen besonders schweren Stand hat. 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer sprach sich beispielsweise der ungarische Ministerpräsident dafür aus, einen illiberalen, d.h. nicht liberalen Staat4, zu formen. 1 „Der Zweck jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Menschenrechte. Diese Rechte sind das Recht auf Freiheit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Sicherheit und das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung.“ [Übersetzung des Verfassers] 2 Vgl. Fukuyama, The End of History?, The National Interest 16 (1989), 3 (4, 15–17, 18); Fukuyama, The End of History and the Last Man, 1992, S. XI–XIV, XX–XXII, passim. Fukuyama ging nach dem Ende des Kommunismus 1989 jedoch nicht davon aus, dass der Siegeszug der liberalen Demokratie rasch oder ohne Rückschläge erfolgen würde. 3 P. v. Kielmansegg, Die Grammatik der Freiheit, 2013, S. 236. 4 Prime Minister Viktor Orbán’s Speech at the 25th Bálványos Summer Free University and Student Camp, 26 July 2014, Tusnádfürdő (Băile Tuşnad), Romania, https://budapestbeacon. com/full-text-of-viktor-orbans-speech-at-baile-tusnad-tusnadfurdo-of-26-july-2014/ (Stand: 10.8.2023). Zu früheren Äußerungen dieser Art siehe Halmai, A Coup Against Constitutional Democracy. The Case of Hungary, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 243 (246 mit Fn. 6). Siehe außerdem Pech/Scheppele, Illiberalism Within: Rule of Law Backsliding in the EU, Cambridge Yearbook of European Legal Studies 19 (2017), 3 (4); Drinóczi/Bień-Kacała, Illiberal Constitutionalism: The Case of Hungary and Poland, German Law Journal 20 (2019), 1140 (1140–1142, 1148–1152). Für Forsthoff, Der totale Staat, 1933, S. 7 war der totale Staat das Gegenstück zum liberalen Staat. Siehe zu diesen Begriffsgegensätzen BVerfGE 2, 1 (12); 5, 85 (137–139); 144, 20 (203); Lehne, Demokratie ohne Illusion, 1967, S. 34–37; Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten, 1968, S. 37.
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
Dabei war Ungarn einer der ersten Staaten, der durch seine Öffnung der Grenze zu Österreich 1989 zum Mauerfall beigetragen5 und sich für die liberale Demokratie entschieden hatte. Anstelle eines immer weiter gehenden demokratischen Fortschritts ist nunmehr ein als „democratic deconsolidation“6, „democratic backsliding“7 und teilweise auch als „rule of law backsliding“8 bezeichnetes Phänomen9 zu beobachten.10 Wörtlich übersetzt bedeuten diese Begriffe so viel wie „demokratische Dekonsolidierung“, „demokratischer Rückschritt“, „demokratischer Rückfall“ oder „Rechtsstaatsrückschritt“11. Hiermit ist ein etappenweiser Abbau demokratischer Werte, Verfahren und Normen gemeint. Dabei handelt es sich um einen Prozess, bei dem gewählte Vertreter hoheitlicher Gewalt absichtlich Maßnahmen umsetzen, die darauf abzielen, innerstaatliche Machtbegrenzungen systematisch zu schwächen, zu beseitigen oder zu überwinden, um den liberalen demokratischen Staat abzuschaffen und die dauerhafte Herrschaft der regierenden Partei zu etablieren.12 Die wesentlichen Angriffspunkte dieses Prozesses sind die wettbewerblichen Wahlen, die Grundrechte der Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie der Rechtsstaat mit 5 Hierzu Kilian, Der Vorgang der deutschen Wiedervereinigung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. I, 3. Aufl. 2003, § 12 Rn. 22–24. 6 Foa/Mounk, The Signs of Deconsolidation, Journal of Democracy 28 (2017), 5 (15), wobei der Begriff „deconsolidation“ bereits im Titel auftritt. Siehe auch Choudhry, Resisting democratic backsliding: An essay on Weimar, self-enforcing constitutions, and the Frankfurt School, Global Constitutionalism 7 (2018), 54 (54 f.). 7 Siehe zum Begriff Waldner/Lust, Unwelcome Change: Coming to Terms with Democratic Backsliding, Annual Review of Political Science 21 (2018), 93 (95); Bermeo, On Democratic Backsliding, Journal of Democracy 27 (2016), 5 ff. 8 So die Überschrift des Aufsatzes von Pech/Scheppele, Illiberalism Within: Rule of Law Backsliding in the EU, Cambridge Yearbook of European Legal Studies 19 (2017), 3 ff. 9 Weitere Begriffe sind u.a. „abusive constitutionalism“, „bad faith constitutionalism“, „de-constitutionalism“, „constitutional retrogression“, „constitutional rot“, „constitutional decay“, „constitutional crisis“, „constitutional failure“, „democratic recession“. Siehe hierzu und den dahinterstehenden Konzepten Daly, Democratic Decay: Conceptualising an Emerging Research Field, Hague Journal on the Rule of Law 11 (2019), 9 (9, 10 f., 20–32) und Waldner/Lust, Unwelcome Change: Coming to Terms with Democratic Backsliding, Annual Review of Political Science 21 (2018), 93 (97–106). Siehe auch Graber/Levinson/Tushnet, Constitutional Democracy in Crisis? Introduction, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 1 (1 f.). 10 A.A. Levitsky/Way, The Myth of Democratic Recession, in: Diamond/Plattner (Hrsg.), Democracy in Decline?, 2016, S. 58 (59). 11 Vgl. Volkmann, Krise der konstitutionellen Demokratie?, Der Staat 58 (2019), 643 (643 f.). 12 Pech/Scheppele, Illiberalism Within: Rule of Law Backsliding in the EU, Cambridge Yearbook of European Legal Studies 19 (2017), 3 (10): „process through which elected public authorities deliberately implement governmental blueprints which aim to systematically weaken, annihilate or capture internal checks on power with the view of dismantling the liberal democratic state and entrenching the long-term rule of the dominant party“. Siehe ausführlich zum Begriff unten B. II. 2.
A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
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unabhängigen Gerichten.13 Die Stoßrichtung ist offensichtlich: Gerichte als unabhängige Kontrollinstanzen, die sich gegen die beiden anderen Gewalten richten können, werden systematisch ausgeschaltet. Das Wahlrecht wird manipuliert, um sich dauerhaft eine Mehrheit zu sichern, auch wenn der Rückhalt in der Bevölkerung schwinden sollte. Die öffentliche Meinungsbildung wird durch Macht über Multiplikatoren wie Presse und Rundfunk zu den eigenen Gunsten beeinflusst. Diese Bereiche, die für eine funktionierende Demokratie essenziell sind, werden durch gezielte Rechtsänderungen umgestaltet. Zwar kann die Fassade einer Demokratie aufrechterhalten werden, weil beispielsweise Wahlen weiterhin abgehalten werden und ein Verfassungsgericht existiert. Aber diese Institutionen und Verfahren können ihre Funktionen nicht mehr erfüllen, da die Verfassungsgerichte wesentlicher Kompetenzen beraubt wurden,14 die Richterbänke mehrheitlich mit politischen Anhängern besetzt sind („court packing“)15 oder das Wahlrecht den Erfolgswert missachtet oder anderweitig manipuliert wird. Diese Maßnahmen werden sukzessive ergriffen, sodass sich ihre demokratieschädlichen Effekte nicht nur summieren, sondern sogar wechselseitig verstärken. Ungarn ist nicht der einzige Staat, der eine „illiberale Demokratie“ (falls es eine solche überhaupt geben kann) errichtet. Hingewiesen sei des Weiteren auf Russland16, die Türkei17, die Philippinen, Venezuela18, Brasilien und Polen19. Die Liste lässt sich fortsetzen.20 Auch wenn im Folgenden zwei Mitgliedstaa13 Huq/Ginsburg, How to Lose a Constitutional Democracy, UCLA Law Review 65 (2018), 78 (87–92, 96 f., 117); Grimm, How can a democratic constitution survive an autocratic majority? (13.12.2018), https://verfassungsblog.de/how-can-a-democratic-constitu tion-survive-an-autocratic-majority/ (Stand: 10.8.2023); C. Möllers, Die Staatsrechtswissenschaft bei Anbruch der Dämmerung, Der Staat 56 (2017), 485 (487 f.); Tóth, Constitutional Markers of Authoritarianism, Hague Journal on the Rule of Law 11 (2019), 37 (50–55). 14 Siehe unten am Beispiel Ungarns unter A. I. 1. a). 15 Hierzu EuGH, Urt. v. 24.6.2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531 – Kommission/ Polen; Ehs, Felix Frankfurter, Hans Kelsen, and the Practice of Judicial Review, ZaöRV 73 (2013), 451 (465–468); Láncos, Passivist Strategies Available to the Hungarian Constitutional Court, ZaöRV 79 (2019), 971 (982); Voßkuhle, Rechtsstaat und Demokratie, NJW 2018, 3154 (3155). Siehe auch unten die Beispiele von Ungarn (A. I. 1. a]) und Polen (A. I. 2. a]). 16 P.M. Huber, Europäische Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit in Bedrängnis, Der Staat 56 (2017), 389 (394 f.). 17 P.M. Huber, Europäische Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit in Bedrängnis, Der Staat 56 (2017), 389 (396 f.). 18 Corrales, Autocratic Legalism in Venezuela, in: Diamond/Plattner/Walker (Hrsg.), Authoritarianism Goes Global, 2016, S. 78 ff.; Landau, Constitution-Making and Authoritarianism in Venezuela, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 161 ff. 19 Siehe zu Polen sogleich unter A. I. 2. 20 Siehe die Länderkapitel in Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018 sowie Daly, Democratic Decay: Conceptualising an Emerging Research Field, Hague Journal on the Rule of Law 11 (2019), 9 (11 f.); Volkmann, Krise der konstitutionellen Demokratie?, Der Staat 58 (2019), 643 (649).
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ten der EU als Beispielsfälle herangezogen werden und sich eine europäische Rechtsstaatlichkeitskrise nicht bestreiten lässt,21 handelt es sich gleichwohl um ein globales und nicht nur ein europäisches Phänomen. Deshalb ist es kein Zufall, dass in den letzten Jahren Publikationen mit Titeln wie „How Democracies Die“22, „How to Lose a Constitutional Democracy“23, „How to Save a Constitutional Democracy“24, „How Constitutional Norms Break Down“25, „(Re)Constructing Democracy in Crisis“26 oder „Constitutional Democracy in Crisis?“27 erschienen sind, die allesamt die demokratische Dekonsolidierung in verschiedenen Staaten der Erde thematisieren. Mittlerweile gibt es sogar einen Blog im Internet, der sich mit dem „democratic decay“ (wörtlich: „demokratische Fäulnis“ oder „demokratischer Zerfall“) befasst.28 Im deutschen Schrifttum sind die Titel der wissenschaftlichen Beiträge zumindest bislang gemäßigter formuliert, aber auch hier tragen Veröffentlichungen teils alarmierende Überschriften wie „Populismus gefährdet die Rechtsstaaten in ganz Europa“29, „Rettet die EU den Rechtsstaat in Polen?“30, „Der Kampf um Demokratie in Polen und Ungarn“31, „Die Staatsrechtswissenschaft bei Anbruch der Dämmerung“32, „Europäische Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit in Bedrängnis“33, „Wertesicherung in der Europäischen Union. Prävention, Quarantäne und Aufsicht als Bausteine eines Rechts der Verfassungskrise?“34, „Ein Rettungsschirm für europäische Grundrechte“35, „Das systemische Defizit – Merkmale, Instrumente und Probleme am Beispiel der Rechtsstaatlich-
21 Baade, Die Konditionalitätsverordnung: Erwartungen und Realität anlässlich ihrer ersten Anwendung auf Ungarn, NVwZ 2023, 132 ff. 22 Levitsky/Ziblatt, How Democracies Die, 2018. Weitere Beispiele bei Volkmann, Krise der konstitutionellen Demokratie?, Der Staat 58 (2019), 643 (644 f.). 23 Huq/Ginsburg, How to Lose a Constitutional Democracy, UCLA Law Review 65 (2018), 78 ff. 24 Ginsburg/Huq, How to Save a Constitutional Democracy, 2018. 25 Chafetz/Pozen, How Constitutional Norms Break Down, UCLA Law Review 65 (2018), 1430 ff. 26 Rahman, (Re)Constructing Democracy in Crisis, UCLA Law Review 65 (2018), 1552 ff. 27 Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018. 28 https://www.democratic-decay.org/ (Stand: 10.8.2023). 29 Sandherr, Populismus gefährdet die Rechtsstaaten in ganz Europa, DRiZ 2018, 198 ff. 30 Brauneck, Rettet die EU den Rechtsstaat in Polen?, NVwZ 2018, 1423 ff. 31 Franzius, Der Kampf um Demokratie in Polen und Ungarn, DÖV 2018, 381 ff. 32 C. Möllers, Die Staatsrechtswissenschaft bei Anbruch der Dämmerung, Der Staat 56 (2017), 485 ff. 33 P.M. Huber, Europäische Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit in Bedrängnis, Der Staat 56 (2017), 389 ff. 34 Schorkopf, Wertesicherung in der Europäischen Union. Prävention, Quarantäne und Aufsicht als Bausteine eines Rechts der Verfassungskrise?, EuR 2016, 147 ff. 35 V. Bogdandy et al., Ein Rettungsschirm für europäische Grundrechte, ZaöRV 72 (2012), 45 ff.
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keit und des neuen Rechtsstaatlichkeitsaufsichtsverfahrens“36 oder „Jenseits der Rechtsgemeinschaft – Begriffsarbeit in der europäischen Sinn- und Rechtsstaatlichkeitskrise“37. Somit lässt sich ohne Übertreibung festhalten, dass der Schutz der Demokratie im In- und Ausland ein fester Gegenstand der (rechts-)wissenschaftlichen Debatte der Gegenwart ist. Hierbei handelt es sich nicht um eine bloß theoretische Debatte, das sprichwörtliche „akademische Glasperlenspiel“. Nationale und supranationale Institutionen sehen sich zum Handeln verpflichtet. In Deutschland wird der Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Maßnahmen zur Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung, Extremismusprävention und politischen Bildung (Demokratiefördergesetz – DFördG) beraten.38 Die „Europäische Kommission für Demokratie durch Recht“ des Europarats (im Folgenden: „Venedig-Kommission“39) hat am 11.10.2017 die „Rule of Law Checklist“, also die „Rechtsstaatscheckliste“, beschlossen.40 Mit dieser soll der Versuch unternommen werden, Rechtsstaatlichkeit messbar und Rückschritte in der Rechtsstaatlichkeit transparent zu machen. Allerdings umfasst das Dokument mehr als 70 Seiten und ist damit für eine „checklist“ nicht gerade schlank. Auch dies dürfte man als Zeichen ansehen können, wie schwierig die Problemerfassung ist. Die EU-Kommission hat am 30.9.2020 erstmals ihren „Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020“41 veröffentlicht, der ebenfalls Anlass zur Besorgnis gibt, insbesondere im Hinblick auf die Länderkapitel Polen42 und Ungarn43. Die 36 V. Bogdandy/Ioannidis, Das systemische Defizit. Merkmale, Instrumente und Probleme am Beispiel der Rechtsstaatlichkeit und des neuen Rechtsstaatlichkeitsaufsichtsverfahrens, ZaöRV 74 (2014), 283 ff. 37 V. Bogdandy, Jenseits der Rechtsgemeinschaft – Begriffsarbeit in der europäischen Sinn- und Rechtsstaatlichkeitskrise, EuR 2017, 487 ff. 38 BT-Drs. 20/5823. 39 Vgl. Bílková, The Council of Europe and the Rule of Law – The Venice Commission, in: Kadelbach/Hofmann (Hrsg.), 70 Years of Human Rights and the Rule of Law in Europe, 2021, S. 115 (115–119); Fuchs, Die Vermessung der Rechtsstaatlichkeit, EuGRZ 2018, 237 (237 f.). 40 Ausführlich Fuchs, Die Vermessung der Rechtsstaatlichkeit, EuGRZ 2018, 237 ff. 41 Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020, Die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union v. 30.9.2020, COM(2020) 580 final. 42 Länderkapitel zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn, Begleitunterlage zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020, Die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union v. 30.9.2020, SWD(2020) 320 final. 43 Länderkapitel zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn, Begleitunterlage zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020, Die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union v. 30.9.2020, SWD(2020) 316 final.
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folgenden Berichte über die Rechtsstaatlichkeit aus den Jahren 202144 und 202245 haben die Sorgen nicht zerstreuen können. Diese und andere offizielle Stellungnahmen und Entscheidungen der europäischen Institutionen zeigen, dass es sich bei der demokratischen Dekonsolidierung um ein von vielen Seiten anerkanntes Phänomen und Problem handelt. Der eingangs zitierte Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der vom „Ende der Geschichte“ gesprochen hatte, befasste sich zuletzt nicht mehr mit dem Siegeszug der liberalen Demokratie. Stattdessen untersuchte er in seiner Monografie aus dem Jahre 2018, weshalb die liberale Demokratie derzeit so geschwächt dasteht.46 Diese Tatsache illustriert, wie sehr der Optimismus von 1989 verflogen ist und die Demokratie als Staatsform heute einen ganz anderen, schwereren Stand hat. Diese Lage ist der Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung. Sie wird sich der Frage widmen, wie das deutsche Verfassungsrecht vergleichbaren Entwicklungen in der Bundesrepublik begegnen könnte. Hierbei spielen politische Erwägungen keine Rolle. Ziel ist es nicht, unter dem Vorwand des Rechts bestimmte Positionen als verfassungswidrig einzustufen oder ihnen Einhalt zu gebieten. Der verfolgte Ansatz ist unabhängig von bestimmten politischen Positionen, sondern soll sich gerade allgemein und dauerhaft bewähren.
I. Globaler Befund: Gefährdungen der liberalen Demokratie durch „demokratische Dekonsolidierung“ Zur Illustration dessen, was mit „demokratischer Dekonsolidierung“ gemeint ist47 und u.a. in der Politikwissenschaft, Soziologie, Philosophie und Rechtswissenschaft ungefähr seit dem Jahr 2010 diskutiert wird,48 seien die Beispiele 44 Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2021, Die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union v. 20.7.2021, COM(2021) 700 final. 45 Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2022, Die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union v. 13.7.2022, COM(2022) 500 final. 46 Fukuyama, Identity, 2018. 47 Zu einer Kurzdefinition siehe oben A., ausführlich unten B. II. 2. 48 Teilweise sind einige Untersuchungen auch älteren Datums wie etwa Linz/Stepan (Hrsg.), The Breakdown of Democratic Regimes, 1978. Überwiegend befasste sich die Literatur aber mit der Frage des Übergangs hin zur Demokratie. Erst mit den Entwicklungen in Ungarn seit 2010, in Polen seit 2015, der Brexit-Abstimmung 2016 in Großbritannien und der US-Präsidentenwahl im selben Jahr setzte eine regere Forschungstätigkeit ein, sodass von einem „sich herausbildenden Forschungsgebiet“ die Rede ist. Siehe hierzu Daly, Democratic Decay: Conceptualising an Emerging Research Field, Hague Journal on the Rule of Law 11 (2019), 9 (9, 32 f.); Volkmann, Krise der konstitutionellen Demokratie?, Der Staat 58
I. Gefährdung der liberalen Demokratie durch „demokratische Dekonsolidierung“
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der EU-Mitgliedstaaten Ungarn und Polen in den Fokus genommen.49 Beide Staaten werden seit Jahren von der Venedig-Kommission sorgenvoll beobachtet und mit äußerst kritischen Stellungnahmen bedacht.50 Als Mitgliedstaaten der EU dürften die dortigen Entwicklungen eher Rückschlüsse für die Bundesrepublik zulassen als die Rechtslage in Staaten, zu denen weniger enge politische und historische Beziehungen bestehen, etwa Venezuela oder die Philippinen. Polen und Ungarn haben überdies gemeinsam, dass gegen sie Verfahren nach Art. 7 I EUV eingeleitet wurden.51 Art. 7 I EUV ist der erste Schritt in einem mehrstufigen Eskalationsmechanismus bei (befürchteten) Verstößen gegen die Grundwerte der EU. Die Vorschrift besagt, dass auf „begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission […] der Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen [kann], dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 [EUV]52 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht.“ Gem. Art. 7 II EUV („Sanktionsmechanismus“) könnte im nächsten Schritt sogar „auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Eu49 (2019), 643 (644). Diamond/Plattner/Walker, Introduction, in: Diamond/Plattner/Walker (Hrsg.), Authoritarianism Goes Global, 2016, S. 3 (3) nennen die Mitte der 2000er-Jahre als Beginn der Entwicklung und B.F. Walter, How Civil Wars Start, 2022, S. 26 das Jahr 2006. 49 Hierbei wird nicht auf alle Aspekte der Entwicklung eingegangen werden können. Es werden pars pro toto die wichtigsten Etappen analysiert. Wegen fehlender Polnisch- und Ungarischkenntnisse beruht die Darstellung auf Sekundärquellen der Literatur und der Institutionen der EU und des Europarats. Hierbei wurden aber auch englischsprachige Veröffentlichungen polnischer und ungarischer Autoren (u.a. Bánkuti, Bień-Kacała, Drinóczi, Halmai, Sadurski, Sajó, Uitz) herangezogen, welche die Sprachen der relevanten Rechtsdokumente beherrschen. Gleichwohl kann es zu Unschärfen und Ungenauigkeiten infolge der Übersetzungen kommen, indes dürften diese das Gesamtbild der Verfassungsentwicklungen in Polen und Ungarn nicht sehr trüben: zu einheitlich sind die Stellungnahmen in der Wissenschaft und den internationalen Organisationen in ihrem Tenor. 50 Vgl. Müller-Franken, Beschränkungen der Wirksamkeit von Verfassungsgerichten durch Gesetze, AöR 142 (2017), 276 (292). Die länderspezifischen Dokumente sind abrufbar unter https://www.venice.coe.int/WebForms/documents/by_country.aspx?lang=DE (Stand: 10.8.2023). 51 Gegen Polen hat die EU-Kommission am 20.12.2017 einen begründeten Vorschlag präsentiert: Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Feststellung der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch die Republik Polen, COM(2017) 835 final. Gegen Ungarn hat das EU-Parlament am 12.9.2018 einen begründeten Vorschlag vorgelegt, siehe: Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12.9.2018 zu einem Vorschlag, mit dem der Rat aufgefordert wird, im Einklang mit Artikel 7 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte, auf die sich die Union gründet, durch Ungarn besteht (2017/2131[INL]), ABl. EU 2019, C 433/66. Über beide Vorschläge wurde indes noch nicht abschließend entschieden (Stand: 10.8.2023). Die Klage Ungarns hiergegen hat der EuGH abgewiesen, Urt. v. 3.6.2021 – C-650/18, ECLI:EU:C:2021:426 – Ungarn/Parlament.
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ropäischen Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments […] der Europäische Rat einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Artikel 2 [EUV] genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, nachdem er den betroffenen Mitgliedstaat zu einer Stellungnahme aufgefordert hat“. Wurde diese Feststellung getroffen, „so kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten einschließlich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im Rat“ (Art. 7 III 1 EUV). Polen und Ungarn werden aber den Beschluss gegen den jeweils anderen Staat nicht unterstützen.53 Somit hat das Verfahren nach Art. 7 II EUV, welches Einstimmigkeit verlangt, derzeit keine Erfolgsaussichten, selbst wenn tatsächlich „eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat“ vorliegen sollte. Als eine der Reaktionen auf die unbefriedigende Situation, in der eine harte Sanktion nicht beschlossen werden kann und weiche Maßnahmen nicht fruchten, wurde die „Konditionalitätsverordnung“54, auch Rechtsstaatsmechanismus genannt, beschlossen. Sie soll dadurch finanziellen Druck ausüben, dass bei Verstößen gegen EU-Recht keine EU-Gelder mehr an die betroffenen Staaten ausgezahlt werden.55 Der EuGH hat die Konditionalitätsverordnung im Februar 2022 gebilligt,56 woraufhin die Kommission im September 2022 erstmalig vorgeschlagen hat, den „Rechtsstaatlichkeitsmechanismus“ zur Anwendung zu bringen – gegen Ungarn.57 Auch wenn die beiden eingeleiteten Verfahren nach Art. 7 EUV noch keinen Abschluss gefunden haben, zeigen sie ebenso wie die verschiedenen Ver-
52 Art. 2 EUV lautet: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Hierzu Schorkopf, Der Wertekonstitutionalismus der Europäischen Union, JZ 2020, 477 ff. 53 Vgl. C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 65. 54 Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2020 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union, Abl. L 433I, 1. 55 Hierzu Baade, Die Konditionalitätsverordnung: Erwartungen und Realität anlässlich ihrer ersten Anwendung auf Ungarn, NVwZ 2023, 132 ff. 56 EuGH, Urt. v. 16.2.2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 – Ungarn/Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union. 57 Europäische Kommission, Vorschlag für einen Durchführungsbeschluss des Rates über Maßnahmen zum Schutz des Haushalts der Union vor Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn, COM(2022) 485 final.
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tragsverletzungsverfahren,58 das eingeleitete Verfahren nach der Konditionalitätsverordnung und die Stellungnahmen der Venedig-Kommission,59 dass die Entwicklungen in Polen und Ungarn das europäische Modell des Rechtsstaats und der liberalen Demokratie zumindest herausfordern.
1. Das Beispiel Ungarns Nach dem Sieg der Partei „Fidesz – Magyar Polgári Szövetség“ (deutsch: „Fidesz – Ungarischer Bürgerbund“60) bei den Wahlen in Ungarn im Jahr 2010 hat Viktor Orbán seine zweite Amtszeit (nach 1998 bis 2002) als Ministerpräsident angetreten. Die Fidesz-Partei gewann zusammen mit dem kleinen christdemokratischen Koalitionspartner (KDNP)61 rund 53% der Stimmen bei der Parlamentswahl. Aufgrund des nicht repräsentativen Wahlsystems ergab sich aber hieraus eine Zweidrittelmehrheit im Parlament.62 Im April 2014 fand die nächste Parlamentswahl in Ungarn statt. Trotz eines Stimmenrückgangs auf ca. 45% blieb der Fidesz-Partei die Mehrheit von zwei Dritteln der Sitze im Parlament – u.a. dank einiger Wahlrechtsänderungen – zunächst erhalten.63 Auch die Wahlen im April 2018 brachten erneut eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, obwohl diesmal rund 50% der Wählerinnen und Wähler für Fidesz stimmten.64 Gleiches gilt für die Wahlen im April 2022.65 Diese Mehrheiten wurden seit 2010 zu einer umfassenden Umgestaltung der
58 U.a. EuGH, Urt. v. 6.11.2012 – C-286/12, ECLI:EU:C:2012:687 – Kommission/Ungarn; Urt. v. 5.11.2019 – C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924 – Kommission/Polen; Urt. v. 18.6.2020 – C-78/18, ECLI:EU:C:2020:476 – Kommission/Ungarn. 59 Eine Auflistung aller Stellungnahmen bezüglich Ungarns ist abrufbar unter: https:// www.venice.coe.int/webforms/documents/?country=17&year=all und bezüglich Polens unter https://www.venice.coe.int/webforms/documents/?country=23&year=all (Stand jeweils: 10.8.2023). 60 Der Einfachheit halber wird nachfolgend allein von Fidesz gesprochen. 61 C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 53. Siehe auch die Darstellung bei Fournier, From rhetoric to action, a constitutional analysis of populism, German Law Journal 20 (2019), 362 (368–372). 62 Halmai, A Coup Against Constitutional Democracy. The Case of Hungary, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 243 (245). 63 Halmai, A Coup Against Constitutional Democracy. The Case of Hungary, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 243 (247). Aufgrund von Nachwahlen ging diese Mehrheit im Laufe der Wahlperiode allerdings verloren. 64 Halmai, A Coup Against Constitutional Democracy. The Case of Hungary, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 243 (247 f.). 65 Löwenstein, Den Herausforderer nicht mal ignoriert, in: F.A.Z. v. 5.4.2022, Nr. 80, S. 5.
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ungarischen Rechtsordnung genutzt66 zu einem „hochkomplexen und geschickt manipulierten politischen System“67. a) Die Entmachtung der (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit Bereits im November 2010 wurde u.a. die Änderung des Art. 32 der ungarischen Verfassung von 1949 beschlossen.68 Die Rechte des Verfassungsgerichts wurden hierdurch dergestalt beschränkt, dass das Verfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit von bestimmten Gesetzen nur noch eingeschränkt überprüfen konnte und diese Gesetze lediglich in seltenen Fällen annulliert werden durften.69 Die Richter wurden nun ausschließlich vom Parlament gewählt, die vorherige Verständigung über Parteigrenzen hinweg war nicht mehr erforderlich.70 Kurz darauf wurden noch weitreichendere Umgestaltungen angestoßen. Im April 2011 wurde eine neue Verfassung innerhalb kurzer Zeit beraten und beschlossen, wobei die Opposition nicht eingebunden war.71 Die neue Verfassung bzw. die separat erlassenen Übergangsbestimmungen mit Verfassungsrang sahen u.a. eine Erhöhung der Anzahl der Richter am Verfassungsgericht von elf auf fünfzehn72 sowie die Verlängerung ihrer Amtszeit von neun auf zwölf Jahre73 vor. Das Rentenalter wurde für alle Richter von 70 Jahren auf 62 66 Scheppele, Autocratic Legalism, University of Chicago Law Review 85 (2018), 545 (549 f.). 67 Donáth, Absolutely Corrupted: The Rise of an Illiberal System and the Future of Hungarian Democracy, Brown Journal of World Affairs 27(2) (Spring/Summer 2021), 83 (84). 68 Insgesamt wurde die Verfassung im ersten Jahr der neuen Fidesz-Regierung zwölf Mal geändert, über 50 Verfassungsbestimmungen waren hiervon betroffen, Bánkuti/Halmai/ Scheppele, Hungary’s Iliberal Turn: Disabling the Constitution, Journal of Democracy 23 (2012), 138 (139). Siehe auch Uitz, Can you tell when an illiberal democracy is in the making?, International Journal of Constitutional Law 13 (2015), 279 ff. 69 Fournier, From rhetoric to action, a constitutional analysis of populism, German Law Journal 20 (2019), 362 (371). Siehe auch Venedig-Kommission, Stellungnahme 614/2011 v. 28.3.2011, CDL-AD(2011)001, S. 3, 5. 70 Bánkuti/Halmai/Scheppele, Hungary’s Iliberal Turn: Disabling the Constitution, Journal of Democracy 23 (2012), 138 (139); Fournier, From rhetoric to action, a constitutional analysis of populism, German Law Journal 20 (2019), 362 (371 f.). 71 Siehe hierzu Venedig-Kommission, Stellungnahme 614/2011 v. 28.3.2011, CDLAD(2011)001, S. 5; Fournier, From rhetoric to action, a constitutional analysis of populism, German Law Journal 20 (2019), 362 (368–370); P.M. Huber, Europäische Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit in Bedrängnis, Der Staat 56 (2017), 389 (390 f.). 72 In den eineinhalb Jahren nach den von der Fidesz-Partei gewonnenen Parlamentswahlen konnte die Partei sieben der nunmehr 15 Richter des Verfassungsgerichts ernennen, vgl. Bánkuti/Halmai/Scheppele, Hungary’s Iliberal Turn: Disabling the Constitution, Journal of Democracy 23 (2012), 138 (140). 73 Hierzu Venedig-Kommission, Stellungnahme 621/2011 v. 20.6.2011, CDL-AD (2011)016, S. 19.
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Jahre herabgesetzt, was 274 Richter des Landes betraf.74 Der EuGH hat hierin zwar eine Verletzung der Verpflichtungen der Richtlinie 2000/78 wegen Altersdiskriminierung gesehen.75 Gleichwohl blieb es bei dem personellen Austausch der Richterinnen und Richter, denn nur wenige der zwangspensionierten Richter kehrten in ihre früheren Positionen zurück.76 Die Ausgestaltung der Gerichtsbarkeit blieb in weiten Teilen den sog. Kardinalgesetzen überlassen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie lediglich durch eine qualifizierte Mehrheit, nämlich eine Zweidrittelmehrheit der anwesenden Parlamentsmitglieder, abänderbar sind.77 Die Venedig-Kommission kritisierte den inflationären Gebrauch dieser Gesetze, da diese der gegenwärtigen Mehrheit erlaubten, den status quo zu zementieren und zukünftige Wahlen ihrer Bedeutung zu berauben.78 Solange eine neue Mehrheit keine Zweidrittelmehrheit erlangt, was ohnehin schwierig ist und durch die Wahlrechtsänderungen noch weiter erschwert wurde, kann eine etwaige neue, aber bloß einfache parlamentarische Mehrheit auf vielen Feldern keine neuen Gesetze erlassen, denn die Kardinalgesetze können auch nur mit einer Zweidrittelmehrheit wieder geändert oder aufgehoben werden.79 Die neue Verfassung trat am 1.1.2012 in Kraft. Kurz zuvor wurden sowohl Kardinalgesetze als auch Übergangsvorschriften mit Verfassungsrang erlassen. Am 11.3.2013 wurde eine umfangreiche Änderung der jungen Verfassung beschlossen, die mittlerweile vierte Verfassungsnovelle (4. Verfassungsreformgesetz).80 Hierdurch wurden die Rechte des Verfassungsgerichts weiter be74 Venedig-Kommission, Stellungnahme 621/2011 v. 20.6.2011, CDL-AD(2011)016, S. 22. Siehe hierzu M. Hailbronner, How can a democratic constitution survive an autocratic majority? A report on the presentations of the judiciary (8.12.2018), https://verfassungs blog.de/how-can-a-democratic-constitution-survive-an-autocratic-majority-a-report-on-thepresentations-on-the-judiciary/ (Stand: 10.8.2023). 75 EuGH, Urt. v. 6.11.2012 – C-286/12, ECLI:EU:C:2012:687 – Kommission/Ungarn. 76 C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 56. Auch beim Wahlrecht lässt sich ein dauerhafter Effekt feststellen: Selbst wenn die derzeitige Minderheit die Mehrheit erringt, ist diese wenig wert, wenn es sich nicht um eine solche Zweidrittelmehrheit handelt, die die Änderung der Verfassung oder zumindest der Kardinalgesetze gestattet, vgl. hierzu Arato/Sajó, Restoring Constitutionalism: An open letter (17.11.2021), https://verfassungsblog.de/restoring-constitutionalism/ (16.6.2022). 77 Venedig-Kommission, Stellungnahme 621/2011 v. 20.6.2011, CDL-AD(2011)016, S. 6. Demgegenüber kann die Verfassung nur mit Zweidrittelmehrheit aller Parlamentsmitglieder geändert werden, vgl. Venedig-Kommission, Stellungnahme 621/2011 v. 20.6.2011, CDLAD(2011)016, S. 7. 78 Venedig-Kommission, Stellungnahme 621/2011 v. 20.6.2011, CDL-AD(2011)016, S. 6 f.; Venedig-Kommission, Stellungnahme 720/2013 v. 17.6.2013, CDL-AD(2013)012, S. 29 f. 79 Küpper, Parlamentswahl in Ungarn: Einzementierte Vetopositionen?, in: Legal Tribune Online, 29.3.2022, https://www.lto.de/persistent/a_id/47973/ (Stand: 10.8.2023). 80 Drinóczi/Bień-Kacała, Illiberal Constitutionalism: The Case of Hungary and Poland, German Law Journal 20 (2019), 1140 (1153–1155); C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 58.
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
schränkt,81 sodass dieses nun Verfassungsänderungen und -zusätze nicht mehr inhaltlich, sondern nur noch in formaler Hinsicht kontrollieren darf.82 Darüber hinaus wurde die bisherige „liberale“ Verfassungsrechtsprechung als unmaßgeblich eingestuft.83 Außerdem wurden Bestimmungen in die Verfassung eingeführt, die zuvor als einfachrechtliche Vorschriften vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden waren.84 Als Summe dieser Maßnahmen besteht das Verfassungsgericht nunmehr überwiegend aus Anhängern der Regierung, verfügt über deutlich geringere Kompetenzen und weniger Kontrollmaßstäbe. Eine robuste Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von staatlichen Maßnahmen kann von dieser Instanz nicht mehr erwartet werden. b) Die Beeinträchtigung der Grundrechte und der Zivilgesellschaft Auch die Freiheitsrechte blieben bei der Umgestaltung der ungarischen Rechtsordnung nicht ausgespart. Im Dezember 2010 und Januar 2011 erfolgte eine Reform des Medien- und Presserechts mit Äußerungsverboten und Registrierungspflichten.85 Die neuen Gesetze verpflichten u.a. Journalisten zu ausgewogener Berichterstattung und zur Stärkung der nationalen Identität. Sowohl öffentlich-rechtliche als auch private Medien wurden unter die Aufsicht einer Medienbehörde gestellt.86 Überdies wurde ein Medienrat geschaffen, der die Befugnis hat, Geldstrafen wegen politisch unausgewogener Berichterstattung zu verhängen.87 Dies gestattet, inhaltlich auf die Berichterstat81 Venedig-Kommission, Stellungnahme 720/2013 v. 17.6.2013, CDL-AD(2013)012, S. 18– 20, 26 f. 82 Venedig-Kommission, Stellungnahme 720/2013 v. 17.6.2013, CDL-AD(2013)012, S. 23–25; C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 58. 83 Venedig-Kommission, Stellungnahme 720/2013 v. 17.6.2013, CDL-AD(2013)012, S. 20–23; Halmai, A Coup Against Constitutional Democracy. The Case of Hungary, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 243 (247). 84 Venedig-Kommission, Stellungnahme 720/2013 v. 17.6.2013, CDL-AD(2013)012, S. 18–20; Halmai, A Coup Against Constitutional Democracy. The Case of Hungary, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 243 (247). Siehe zur Kritik hieran: Bericht über die Lage der Grundrechte: Standards und Praktiken in Ungarn (gemäß der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. Februar 2012) (2012/2130[INI]), ABl. EU 2016, C75/09 v. 25.6.2013 (sog. Tavares-Report). 85 C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 54. Kritik hieran wurde auch geübt durch die Venedig-Kommission, Stellungnahme 798/ 2015 v. 22.6.2015, CDL-AD(2015)015. 86 Hong, “Constitutional resilience – How can a Democratic constitution survive an autocratic majority?”: Freedom of Speech, Media and Civil Society in Hungary and Poland (9.12.2018), https://verfassungsblog.de/constitutional-resilience-how-can-a-democraticconstitution-survive-an-autocratic-majority-freedom-of-speech-media-and-civil-society-inhungary-and-poland/ (Stand: 10.8.2023). 87 C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 54.
I. Gefährdung der liberalen Demokratie durch „demokratische Dekonsolidierung“ 13
tung Einfluss zu nehmen und Journalisten durch ein Klima der Unsicherheit einzuschüchtern.88 Das ungarische Verfassungsgericht erklärte am 19.12.2011 Teile der Mediengesetze für verfassungswidrig.89 Daraufhin reduzierte der ungarische Gesetzgeber die Eingriffe in die Medienfreiheit zwar geringfügig, veränderte aber das Grundkonzept der Reformen nicht.90 Durch das Verbot der politischen Werbung in kommerziellen (privaten) Medien infolge des 4. Verfassungsreformgesetzes wurden nicht nur die Wahlwerbungsmöglichkeiten der Opposition beschränkt,91 sondern wurde auch die Medienfreiheit weiter beeinträchtigt. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die kommerziellen Medien in Ungarn verbreiteter als öffentlich-rechtliche Medien sind. Der Opposition wird somit eine wichtige Möglichkeit genommen, für ihre Ansichten wirksam zu werben und die vorherrschende Position der Regierung in der Medienberichterstattung auszugleichen.92 Das Europäische Parlament äußerte sich insgesamt besorgt über diese Entwicklung.93 Im April 2017 hat Ungarn sein Hochschulgesetz geändert (sog. lex CEU).94 Hochschulen aus Staaten außerhalb der EU dürfen demnach nur in Ungarn tätig sein, wenn ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen Ungarn und ihrem Herkunftsstaat besteht. Außerdem müssen alle ausländischen Hochschulen, die eine Hochschulausbildung in Ungarn anbieten wollen, eine solche auch in ihrem Herkunftsstaat anbieten. Die einzige Universität, welche hiervon negativ betroffen ist, ist die von George Soros unterstützte Central European University (CEU). Diese hatte ihren Sitz ursprünglich in Budapest, hat ihn mittlerweile aber nach Wien verlegt. Der EuGH sieht in dem Hochschulgesetz einen Verstoß gegen Art. 13 II EUGrCh (Wissenschaftsfreiheit), Art. 14 III EU-
88 Fournier, From rhetoric to action, a constitutional analysis of populism, German Law Journal 20 (2019), 362 (370 f.). 89 Vgl. C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 55. 90 Bánkuti/Halmai/Scheppele, Hungary’s Iliberal Turn: Disabling the Constitution, Journal of Democracy 23 (2012), 138 (140 f.). 91 Venedig-Kommission, Stellungnahme 720/2013 v. 17.6.2013, CDL-AD(2013)012, S. 10–12; Fournier, From rhetoric to action, a constitutional analysis of populism, German Law Journal 20 (2019), 362 (371). 92 Venedig-Kommission, Stellungnahme 720/2013 v. 17.6.2013, CDL-AD(2013)012, S. 10 f.; Venedig-Kommission, Stellungnahme 798/2015 v. 22.6.2015, CDL-AD(2015)015. 93 Bericht über die Lage der Grundrechte: Standards und Praktiken in Ungarn (gemäß der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. Februar 2012), (2012/2130[INI]) v. 24.6.2013 (sog. „Tavares-Report“). 94 Vgl. C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 60 f.; Pech/Scheppele, Illiberalism Within: Rule of Law Backsliding in the EU, Cambridge Yearbook of European Legal Studies 19 (2017), 3 (23–25). Kritik hieran in der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17.5.2017 zur Lage in Ungarn (2017/2656[RSP]), ABl. EU 2018/C 307/09 und von der Venedig-Kommission, Stellungnahme 891/2017 v. 9.10.2017, CDL-AD(2017)022.
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
GrCh (Freiheit zur Gründung von Lehranstalten) sowie gegen die Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUV.95 Kurz darauf wurde im Juni 2017 das sog. NGO-Gesetz verabschiedet. Dieses sieht u.a. vor, dass bestimmte Nichtregierungsorganisationen, die Spenden ab einer bestimmten Höhe aus dem Ausland erhalten, der Registrierung bedürfen und sich fortan als „aus dem Ausland unterstützte Organisation“ kennzeichnen müssen.96 Bei der Registrierung müssen die Anzahl der Unterstützer, die über 500.000 Forint97 gespendet haben, sowie der genaue Betrag der Spenden angegeben werden. Diese Informationen werden veröffentlicht.98 Der EuGH sieht in dem Gesetz eine Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit des Art. 63 AEUV sowie eine Verletzung der Grundrechte der EU-Charta auf Achtung des Privatlebens (Art. 7 EUGrCh), auf Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 EUGrCh) und auf Vereinigungsfreiheit (Art. 12 EUGrCh).99 Die EU-Kommission ist bemüht, den von ihr als solchen wahrgenommenen Verstößen gegen das EU-Recht effektiv zu begegnen. In dem Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn wegen des Gesetzes „Nr. LXXIX von 2021 über ein strengeres Vorgehen gegen pädophile Straftäter und die Änderung bestimmter Gesetze zum Schutz von Kindern“100 stützt die Kommission ihre Klage – soweit ersichtlich erstmals – auch auf eine Verletzung von Art. 2 EUV.101 Es bleibt abzuwarten, inwieweit der EuGH diesem Ansatz folgt und inwieweit er der demokratischen Dekonsolidierung in Ungarn etwas entgegenzusetzen vermag. c) Die Manipulationen des Wahlrechts Bereits vor den von der Fidesz-Partei gewonnenen Parlamentswahlen 2010 war das ungarische Wahlrecht (Kombination aus Mehrheits- und Verhältnis95 96
EuGH, Urt. v. 6.10.2020 – C-66/18, ECLI:EU:C:2020:792 – Kommission/Ungarn. Vgl. C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018,
S. 61. 97
Das entspricht ca. 1.285 Euro (Stand: 10.8.2023). Siehe hierzu aus der Literatur C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 61 f. 99 EuGH, Urt. v. 18.6.2020 – C-78/18, ECLI:EU:C:2020:476 – Kommission/Ungarn. 100 „Das Gesetz enthalte Änderungen zahlreicher unterschiedlicher Rechtsvorschriften, die sich unter anderem auf die Mediendienste, die Werbung, den elektronischen Geschäftsverkehr und den Unterricht erstreckten. Die Änderungen schrieben zahlreiche Verbote und Beschränkungen in Bezug auf die Vermittlung und/oder Darstellung der Abweichung von der dem Geschlecht bei der Geburt entsprechenden Identität, der Geschlechtsumwandlung sowie der Homosexualität vor.“ 101 Europäische Kommission, Klage, eingereicht am 19.12.2022 – Europäische Kommission/Ungarn, Rs. C-769/22, 2023/C 54/19. Hierzu Dresler, Der Brüsseler Testballon: Kommission betritt mit Klageschrift gegen Ungarns Anti-LGBTQ-Gesetz Neuland, (21.2.2023), https://verfassungsblog.de/der-brusseler-testballon/ (Stand: 10.8.2023). 98
I. Gefährdung der liberalen Demokratie durch „demokratische Dekonsolidierung“ 15
wahlrecht102) nicht auf eine verhältnismäßige Abbildung der Wählerstimmen ausgerichtet, was auch die Zweidrittelmehrheit im Parlament bei lediglich 53% der Wahlstimmen in den Parlamentswahlen 2010 erklärt. Kurz nach der gewonnenen Parlamentswahl 2010 wurde die Wahlkommission mit FideszAnhängern besetzt und ihre bis dahin überparteiliche Zusammensetzung abgeschafft.103 Im Dezember 2011 wurde das Wahlrecht weiter zugunsten der Regierungsmehrheit verändert.104 Die Anzahl der Abgeordnetensitze wurde reduziert und die Wahlkreise wurden nach den voraussichtlichen Siegchancen der Fidesz-Partei neu zugeschnitten (sog. „gerrymandering“105). Die Bedeutung des Mehrheitswahlrechts wurde vergrößert, die Stichwahl in einer zweiten Runde beim Mehrheitswahlrecht abgeschafft (sodass die einfache Mehrheit in einem Wahlkreis ausreicht) sowie eine „Gewinner-Prämie“ eingeführt.106 Außerdem wurde eine 10%-Hürde für Parteienverbindungen von zwei Parteien und eine 15%-Hürde für Parteienverbindungen von mehr als zwei Parteien aufgestellt.107 Am 23.12.2013 wurde das Wahlrecht im Vorgriff auf die im April 2014 anstehenden Wahlen erneut geändert, und die Wahlkreise wurden wieder anders zugeschnitten.108 d) Zwischenergebnis Im Ergebnis behielt die Fidesz-Partei seit 2010 ihre dominierende Stellung, obwohl sie zwischenzeitlich bei einem reinen Verhältniswahlrecht die absolute Mehrheit auch mit ihrem kleineren Koalitionspartner verloren hätte. Zwar war die Fidesz-Partei mit 45 bis 53% der Stimmen seit den Parlamentswahlen 2010 tatsächlich stets die mit Abstand stärkste Partei. Aber eine Zweidrittelmehrheit hätte sie bei einem reinen Verhältniswahlrecht zu keinem Zeitpunkt erlangt. Die gleichwohl erzielte qualifizierte Mehrheit wurde genutzt, 102
Vgl. hierzu OSZE und Venedig-Kommission, Gemeinsame Stellungnahme 662/2012 v. 18.6.2012, CDL-AD(2012)012, S. 7. 103 Bánkuti/Halmai/Scheppele, Hungary’s Iliberal Turn: Disabling the Constitution, Journal of Democracy 23 (2012), 138 (140). 104 Siehe hierzu OSZE und Venedig-Kommission, Gemeinsame Stellungnahme 662/2012 v. 18.6.2012, CDL-AD(2012)012, S. 8, wo es heißt, dass das neue System noch weniger eine verhältnismäßige Abbildung der Stimmverteilung bewirke als das vorherige Wahlrecht. 105 Hierzu RhPfVerfGH, NVwZ-RR 2016, 161 (162 f.); Butzer, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 38 Rn. 79–79.2 (Stand: 15.5.2023); Norris, Why Elections Fail, 2015, S. 53–55; K.A. Schäfer, Wahlkreise und Überrepräsentation, VR 2011, 81 (83). 106 Halmai, A Coup Against Constitutional Democracy. The Case of Hungary, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 243 (247 mit Fn. 7). 107 OSZE und Venedig-Kommission, Gemeinsame Stellungnahme 662/2012 v. 18.6.2012, CDL-AD(2012)012, S. 8. 108 Fournier, From rhetoric to action, a constitutional analysis of populism, German Law Journal 20 (2019), 362 (370).
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
die eigenen Positionen durch die Verfassungsneuschaffung, Verfassungsänderungen und den Erlass von Kardinalgesetzen vor etwaigen Änderungen maximal abzuschirmen.109
2. Das Beispiel Polens Mit großer Skepsis wird auch die Entwicklung in Polen betrachtet.110 Anders als die Fidesz-Partei in Ungarn verfügte die PiS-Partei („Prawo i Sprawiedliwość“, deutsch: „Recht und Gerechtigkeit“) nicht über eine verfassungsändernde Mehrheit, sondern seit der Parlamentswahl am 25.10.2015 lediglich über eine einfache Mehrheit im Sejm.111 Allerdings beruhte diese absolute Mehrheit nicht allein auf der Stärke der PiS, sondern – wie in Ungarn – auf den Besonderheiten des Wahlsystems, denn die PiS erhielt lediglich 38% der Stimmen.112 Diese einfache Mehrheit konnte die PiS-Partei in den Wahlen 2019 allerdings verteidigen und ausbauen.113 Gleichwohl konnte und kann sie ihre Politik lediglich durch einfache, aber nicht durch verfassungsändernde Gesetze verfolgen. Die einfachen Gesetze unterliegen zudem der Kontrolle des Verfassungsgerichts, welches zunächst nicht mehrheitlich von Anhängern der PiS-Partei besetzt war. Jedoch verfügte die PiS-Partei auch in der zweiten Parlamentskammer, dem Senat, zumindest zeitweise über eine Mehrheit, und auch das Staatsoberhaupt, Staatspräsident Andrzej Duda, wurde und wird seit 2015 (Wiederwahl 2020) von der PiS gestellt.114 Wegen der fehlenden Mehrheit für eine Verfassungsänderung ist der Machtkampf zwischen Judikative und Legislative aber andauernder und heftiger als in Ungarn. Die folgende Darstellung beschränkt sich erneut auf die drei besonders bedeutsamen Aspekte Gerichtsbarkeit, Grundrechte/Zivilgesellschaft und Wahlrecht.
109 Siehe die Besorgnis im Entschließungsantrag des Europäischen Parlaments zu den laufenden Anhörungen gemäß Artikel 7 Absatz 1 EUV zu Polen und Ungarn v. 9.1.2020, 2020/2513(RSP), B9–0032/2020. 110 Siehe hierzu P.M. Huber, Europäische Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit in Bedrängnis, Der Staat 56 (2017), 389 (392 f.); C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 68–81; Sadurski, Constitutional Crisis in Poland, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 257 ff. 111 C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 68. 112 Sadurski, Constitutional Crisis in Poland, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 257 (257 f.). 113 Gnauck, PiS baut absolute Mehrheit aus, in: F.A.Z. v. 15.10.2019, Nr. 239, S. 1. 114 C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 68.
I. Gefährdung der liberalen Demokratie durch „demokratische Dekonsolidierung“ 17
a) Die Disziplinierung der (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit Die Änderungen der neuen Parlamentsmehrheit hinsichtlich der Gerichtsbarkeit betreffen die Staatsanwaltschaft, die ordentliche Gerichtsbarkeit, den Landesjustizrat sowie das Oberste Gericht.115 Auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist zunehmend betroffen.116 Als Erstes widmete sich die aus den Parlamentswahlen am 25.10.2015 hervorgegangene neue Mehrheit aber dem Verfassungsgericht117 und seiner Besetzung, nachdem erst im Sommer 2015 eine Reform des Verfassungsgerichtsgesetzes noch durch die alte Parlamentsmehrheit erfolgt war. Diese Reform stellte weitgehend eine Kodifizierung der bis dahin befolgten Praxis dar und hatte lediglich präzisierenden oder klarstellenden Charakter.118 Streit bestand insofern nicht. Umstritten war allein eine Neuregelung, welche vorsah, dass die fünf noch im Jahre 2015 aus dem Verfassungsgericht ausscheidenden Richter von dem damals noch amtierenden Sejm zu wählen seien und nicht von dem neuen Sejm, wie er nach der Parlamentswahl im Herbst 2015 zusammengesetzt sein würde.119 Drei dieser fünf zu wählenden Richter schieden vor dem Zusammentritt des neuen Sejms aus dem Amt und wurden im Oktober vom alten Sejm gewählt. Die Amtszeit zweier weiterer Richter endete erst nach dem erstmaligen Zusammentritt des neuen Sejms und sie wurden ebenfalls noch vom alten Sejm gewählt. Der Staatspräsident Duda von der PiS vereidigte diese fünf Richter aber nicht.120 Rund einen Monat nach der gewonnenen Parlamentswahl stellte der neue Sejm fest, dass diese kurz zuvor erfolgten Richterwahlen unzulässig waren, und wählte fünf andere Verfassungsrichter auf die bereits vergebenen Posten. Die fünf später gewählten Richter wurden auch vom Staatspräsidenten vereidigt.121 Das polnische Verfassungsgericht entschied am 3.12.2015 und am 9.12.2015, dass die Wahl der drei Richter im Oktober rechtmäßig erfolgte und 115 Siehe hierzu de Vries, Bedrohungen für die Unabhängigkeit der Justiz in Polen – Teil 1, WiRO 2018, 105 ff.; de Vries, Bedrohungen für die Unabhängigkeit der Justiz in Polen – Teil 2, WiRO 2018, 129 ff. 116 Kenntner, Die polnische Verwaltungsgerichtsbarkeit in Zeiten der PiS-Justizreform, NVwZ 2021, 610 ff. 117 „Demontage“ heißt es hierzu bei Masing, Verfassung im internationalen Mehrebenensystem, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 2 Rn. 104. 118 De Vries, Der Konflikt um den polnischen Verfassungsgerichtshof – Teil 1, WiRO 2016, 71 (72). 119 De Vries, Der Konflikt um den polnischen Verfassungsgerichtshof – Teil 1, WiRO 2016, 71 (71). Siehe zur Chronologie der Ereignisse Venedig-Kommission, Stellungnahme 833/2015 v. 11.3.2016, CDL-AD(2016)001, S. 4–7. 120 Hierzu ausführlich de Vries, Der Konflikt um den polnischen Verfassungsgerichtshof – Teil 1, WiRO 2016, 71 ff. sowie de Vries, Der Konflikt um den polnischen Verfassungsgerichtshof – Teil 2, WiRO 2016, 104 ff. 121 C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 69.
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sie vom Staatspräsidenten ernannt werden müssten; dies gelte aber ebenso für die Wahl von zwei Richtern durch den neuen Sejm. Die übrigen Wahlen waren hingegen widerrechtlich. Jedoch weigerte sich der polnische Staatspräsident auch weiterhin, wenigstens die drei zuvor durch den alten Sejm korrekt gewählten Richter zu vereidigen.122 Der EGMR hat zwischenzeitlich entschieden, dass das polnische Verfassungsgericht nicht ordentlich zusammengesetzt war und dass das Recht der Beschwerdeführer auf ein „auf Gesetz beruhendem Gericht“ aus Art. 6 I EMRK verletzt worden ist.123 Daraufhin wurden auch Garantien der EMRK als mit der polnischen Verfassung unvereinbar befunden.124 Am 22.12.2015 wurde eine weitere Novelle des Verfassungsgerichtsgesetzes verabschiedet, welche u.a. explizit die Regel einführte, dass die Amtszeit eines Richters erst mit seiner Vereidigung beginnt, alle Entscheidungen des Verfassungsgerichts mit Zweidrittelmehrheit getroffen werden müssen, 13 von 15 Richtern anwesend sein müssen125 und alle Verfahren chronologisch nach dem Eingangsdatum abzuarbeiten sind.126 Diese Maßnahmen bezweckten, dass das Verfassungsgericht entweder gar nicht arbeitsfähig ist oder es zumindest äußerst unwahrscheinlich würde, dass ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt würde. Außerdem sollte die Überprüfung der gerade erlassenen Gesetze weit in die Zukunft geschoben werden. Die Novelle wurde aber – unter Nichtbefolgung der neuen Gesetze – vom Verfassungsgericht am 9.3.2016 für verfassungswidrig erklärt. Jedoch wurde dieses Urteil mit der Begründung, es sei nicht wirksam nach den neuen Regeln zustande gekommen, von der Regierung weder veröffentlicht noch vollzogen.127 Dazu wurde im Juli 2016 ein weiteres Gesetz erlassen, das die Veröffentlichung von Gerichtsurteilen nicht mehr als zwingend vorsieht, sondern in das Ermessen der 122 C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 69–71. Die Venedig-Kommission schloss sich der Meinung des Verfassungsgerichts an, Venedig-Kommission, Stellungnahme 833/2015 v. 11.3.2016, CDL-AD(2016)001, S. 9–16. Gärditz, Richterwahl im Vergleich: Polen und Deutschland, DRiZ 2018, 20 (20) bezeichnet das Vorgehen als „staatsstreichartig“. 123 EGMR, Urt. v. 7.5.2021 – 4907/18, Rn. 243–291 – Xero Flor w Polsce sp. z o.o. v. Polen, https://hudoc.echr.coe.int/?i=001–210065 (Stand. 10.8.2023) = NJW 2022, 1229 ff. 124 Blanke/Sander, Die europäische Rechtsstaatlichkeit und ihre Widersacher – Anmerkungen zur Situation in Polen mit einem Seitenblick auf Ungarn, EuR 2023, 54 (69). 125 Da bei drei der 15 Richter Streit bestand, ob diese rechtmäßig dem Gericht angehören, konnte die nunmehr erforderliche Anzahl von 13 Richtern nicht erreicht werden, ohne den Streit um die Ernennungen wieder aufbrechen zu lassen. 126 Siehe hierzu auch Müller-Franken, Beschränkungen der Wirksamkeit von Verfassungsgerichten durch Gesetze, AöR 142 (2017), 276 (278 f.). 127 C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 70 f. Kritik hieran von der Venedig-Kommission, Stellungnahme 860/2016 v. 14.10.2016, CDL-AD(2016)026, S. 16–20. Zum deutschen Recht Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2020, Rn. 1542 f., 1546–1563.
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Regierung stellt.128 Auch dieses Gesetz wurde vom Verfassungsgericht am 11.8.2016 für verfassungswidrig erklärt, aber ebenfalls von der Regierung nicht veröffentlicht.129 Anfang Juni 2016 leitete die EU-Kommission den EU-Rahmen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in Polen ein (Vorstufe zum Verfahren nach Art. 7 I EUV).130 Gleichwohl folgten im Sommer 2017131 weitere Justizreformen, welche den Einfluss von Parlament und Regierung auf die Justiz vergrößerten. Zunächst trat das Gesetz über das „System der ordentlichen Gerichte“132 in Kraft. Es sah z.B. eine neue Ruhestandsregelung für Richterinnen und Richter vor. Richterinnen, die das 60. Lebensjahr vollendet hatten, und Richter, die das 65. Lebensjahr vollendet hatten, wurden mit sofortiger Wirkung in den Ruhestand versetzt, wobei der Justizminister im Einzelfall eine längere Amtsdauer zulassen konnte.133 Außerdem erhielt der Justizminister das Recht, die Gerichtspräsidenten ohne Beteiligung der richterlichen Selbstverwaltung zu ernennen, die Versetzungsregelungen für Richter wurden geändert, die Aufsichtsmöglichkeiten der höheren Instanzen über untere Instanzen erhöht und spezielle Disziplinargerichte eingeführt.134 Weitere Reformen betrafen den Nationalen Rat der Justiz, auch Landesjustizrat135 genannt, und das Oberste Gericht136. Durch das neue Gesetz über das 128
C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 71 unter Verweis auf P.M. Huber, Europäische Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit in Bedrängnis, Der Staat 56 (2017), 389 (392). 129 Empfehlung (EU) 2017/146 der Kommission v. 21.12.2016 zur Rechtsstaatlichkeit in Polen in Ergänzung zur Empfehlung (EU) 2016/1374, ABl. EU 2017/L 22/65, Rn. 10. 130 Hierzu Oesch, Das Rechtsstaatlichkeitsverfahren der EU gegen Polen – Bestandsaufnahme und Zwischenfazit, EUZ 2016, 130 ff. 131 Siehe hierzu die Chronologie bei Venedig-Kommission und Generaldirektion für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit (DGI) des Europarats, Gemeinsame Stellungnahme 977/2020 v. 16.1.2020, CDL-PI(2020)002, S. 3–5. 132 Vgl. de Vries, Bedrohungen für die Unabhängigkeit der Justiz in Polen – Teil 1, WiRO 2018, 105 (107–109). 133 Der EuGH sah hierin eine Verletzung von Art. 157 AEUV sowie von Art. 5 lit. a) und Art. 9 I lit. f) der Richtlinie gegen Diskriminierung 2006/54/EG: EuGH, Urt. v. 5.11.2019 – C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924 – Kommission/Polen. Vgl. hierzu Leick, Fortgesetzte Sicherung europäischer Werte in Polen – die Macht der kleinen Schritte, NVwZ 2020, 291 ff. Auch die Venedig-Kommission äußerte Kritik, vgl. Venedig-Kommission, Stellungnahme 904/2017 v. 11.12.2017, CDL-AD(2017)031, S. 11 f., wobei das unterschiedliche Renteneintrittsalter für Richterinnen und Richter nicht thematisiert wird. 134 Siehe de Vries, Bedrohungen für die Unabhängigkeit der Justiz in Polen – Teil 1, WiRO 2018, 105 (108 f.). 135 Siehe de Vries, Bedrohungen für die Unabhängigkeit der Justiz in Polen – Teil 1, WiRO 2018, 105 (109 f.). 136 Siehe hierzu de Vries, Bedrohungen für die Unabhängigkeit der Justiz in Polen – Teil 2, WiRO 2018, 129 (129). Diese Reform wurde nach massiven Protesten und Kritik aus dem In- und Ausland vom Staatspräsidenten zunächst abgelehnt, trat aber dann im folgenden Jahr in nur geringfügig abgeschwächter Form in Kraft.
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Oberste Gericht wurde z.B. das Ruhestandsalter der Richter am Obersten Gericht von 70 auf 65 Jahre gesenkt. Das Pensionsalter kann aber vom Staatspräsidenten im Einzelfall um weitere drei Jahre heraufgesetzt werden. Hiermit können freiwerdende Stellen nach Belieben vom Staatspräsidenten besetzt werden. Außerdem wurde die Anzahl der Richter am Obersten Gericht auf 120 erhöht,137 was eine weitere Möglichkeit bietet, Anhänger der Regierungspartei an das Oberste Gericht zu bringen. In dem entsprechenden Vertragsverletzungsverfahren ordnete der EuGH zunächst an, dass die Anwendung der nationalen Bestimmungen zur Senkung des Ruhestandsalters der Richter am Obersten Gerichtshof unverzüglich auszusetzen sei.138 Am 24.6.2019 hat der EuGH in seinem Urteil in der Hauptsache einen Verstoß gegen Art. 19 I UAbs. 2 EUV (Pflicht zur Schaffung von Rechtsbehelfen für einen effektiven Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen) bejaht.139 Am 20.12.2019 wurden vom polnischen Sejm weitere Änderungen des Justizwesens beschlossen. Unter anderem wird jegliche politische Tätigkeit von Richtern verboten, sie werden zur Offenlegung ihrer Mitgliedschaft in Verbänden verpflichtet und unterliegen besonderen Disziplinarkammern.140 Diese Disziplinarkammern hat der EuGH zwar für mit Unionsrecht unvereinbar erklärt, gleichwohl war die politisch besetzte Kammer zunächst weiterhin aktiv und versucht, missliebige Richter aus dem Amt zu entfernen.141 Um den Erhalt von EU-Geldern für die Erholung von der Coronapandemie nicht zu gefährden, wurde die Disziplinarkammer 2022 zwar aufgelöst.142 Aber die Neuregelungen erfolgten nur halbherzig, sodass der EuGH dass verhängte Zwangsgeld von 1 Mio. Euro pro Tag lediglich halbierte.143 Der Gegenwind aus Brüssel und Luxemburg veranlasste die inzwischen auf Linie gebrachte polnische Verfassungsgerichtsbarkeit aber nicht dazu, europäische Entscheidungen zu beachten; vielmehr wurde der Vorrang des Unions137
De Vries, Bedrohungen für die Unabhängigkeit der Justiz in Polen – Teil 2, WiRO 2018, 129 (129). 138 EuGH, Beschl. v. 17.12.2018 – C-619/18 R, ECLI:EU:C:2018:1021 – Kommission/ Polen. 139 EuGH, Urt. v. 24.6.2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531 – Kommission/Polen. 140 Siehe die Kritik von Venedig-Kommission und Generaldirektion für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit (DGI) des Europarats, Gemeinsame Stellungnahme 977/2020 v. 16.1.2020, CDL-PI(2020)002, S. 6, 7–9. Der EuGH hat die Republik Polen verpflichtet, Teile des Gesetzespaktes vorläufig unangewendet zu lassen, vgl. EuGH, Beschl. v. 8.4.2020 – C-791/19 R, ECLI:EU:C:2020:277 – Kommission/Polen. 141 Hassel, Richter im Visier, in: SZ v. 13.10.2020, Nr. 236, S. 6; Kenntner, Die polnische Verwaltungsgerichtsbarkeit in Zeiten der PiS-Justizreform, NVwZ 2021, 610 (613). 142 Siehe Blanke/Sander, Die europäische Rechtsstaatlichkeit und ihre Widersacher – Anmerkungen zur Situation in Polen mit einem Seitenblick auf Ungarn, EuR 2023, 54 (73 f.). 143 EuGH, Beschl. v. 21.4.2023 – C-204/21 R-RAP, ECLI:EU:C:2023:334 – Polen/Kommission. Hierzu Geuss (T.G.), EuGH halbiert Zwangsgeld, in: F.A.Z. v. 22.4.2023, Nr. 94, S. 6.
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rechts bestritten.144 Am deutlichsten wurde dies wohl in einem Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom 7.10.2021. Auf einen Antrag des Premierministers hin entschied das Gericht, dass mehrere Kernbestimmungen des Primärrechts, wie etwa Art. 1 i.V.m. Art. 4 III, 19 I UA 2 EUV und Art. 2 EUV verfassungswidrig seien.145 Die EU reagierte ihrerseits mit weiteren Vertragsverletzungsverfahren. b) Die Beeinträchtigung der Grundrechte und der Zivilgesellschaft Im Dezember 2015 begann auch in Polen eine Reform des Mediengesetzes.146 Zunächst wurden die bis dahin unabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten unter die Aufsicht der Regierung gestellt.147 Im Juli 2016 wurde dazu ein Rat der Nationalen Medien geschaffen, dessen Mitglieder von Sejm, Senat und Staatspräsident gewählt werden und welcher die Vorstände der öffentlich-rechtlichen Medienanstalten bestimmt. Er kontrolliert die öffentlichrechtlichen Medien.148 Hierdurch ist eine Einflussnahme auf den Inhalt der Berichterstattung möglich. Bitten der Europäischen Kommission um Stellungnahmen, da die Wahrung der Freiheit und Vielfalt der Medien anzuzweifeln sei, blieben unbeantwortet.149 Eine weitere Form der Einflussnahme auf den Inhalt der öffentlichen Debatte stellt die „lex Gross“, auch „Holocaust-Gesetz“ genannte Vorschrift, dar. Sie verbietet, den polnischen Staat und die polnische Nation als mitverantwortlich für Verbrechen der Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs zu bezeichnen. Ein Verstoß kann mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren geahndet werden. Ebenfalls verboten ist es, Aussagen zu tätigen, welche die Ehre und Reputation Polens oder der polnischen Nation verletzen. Dieses Gesetz bezieht sich auch auf historische Forschung, sodass ein abschreckender Effekt durch diese Gesetze befürchtet wird.150 144
Hassel, Warschau geht auf Konfrontation, in: SZ v. 15.7.2021, Nr. 160, S. 1. Blanke/Sander, Die europäische Rechtsstaatlichkeit und ihre Widersacher – Anmerkungen zur Situation in Polen mit einem Seitenblick auf Ungarn, EuR 2023, 54 (69). 146 Hong, “Constitutional resilience – How can a Democratic constitution survive an autocratic majority?”: Freedom of Speech, Media and Civil Society in Hungary and Poland (9.12.2018), https://verfassungsblog.de/constitutional-resilience-how-can-a-democraticconstitution-survive-an-autocratic-majority-freedom-of-speech-media-and-civil-society-inhungary-and-poland/ (Stand: 10.8.2023). 147 C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 71 f. 148 C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 72. 149 C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018, S. 72. 150 Sadurski, Constitutional Crisis in Poland, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 257 (269). 145
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Gegendemonstrationen gegen von Staat oder Kirche organisierte Versammlungen sind in der unmittelbaren Nähe der Erstversammlung unzulässig, während Versammlungen, die patriotische, religiöse oder besondere historische Ereignisse betreffen, privilegiert werden.151 Dies hat zu einer zunehmenden Härte der Polizei gegen Gegendemonstrationen geführt.152 Zur Kontrolle von Nichtregierungsorganisationen wurden zwei neue Behörden geschaffen. Die eine ist die höchste Instanz in allen Fragen der Finanzierung, Kontrolle und Entwicklung von Nichtregierungsorganisationen. Sie besteht überwiegend aus Regierungsmitgliedern. Die andere ist für die Vergabe von Zuwendungen nach den Vorgaben der Regierungsrichtlinien zuständig. Allerdings garantieren die zugrunde liegenden Gesetze keine inhaltliche Neutralität gegenüber den Zielen der Nichtregierungsorganisationen, vielmehr besteht die Möglichkeit, regierungsnahe Organisationen zu bevorzugen. So werden in der Präambel des einschlägigen Gesetzes christliche Werte besonders hervorgehoben.153 c) Die Politisierung des Wahlrechts Ende 2017/Anfang 2018 wurde das Wahlsystem modifiziert. Bestimmendes Merkmal hierbei ist, dass die bis dahin von unabhängigen Richtern verschiedener Gerichte wahrgenommenen Funktionen der Wahlbehörden nunmehr von Personen ausgeübt werden, die vom Sejm oder von der Regierung ernannt wurden. Im Ergebnis können nun alle im Zusammenhang mit Wahlen relevanten Posten einschließlich der Zuständigkeiten für die Wahlkreiseinteilung an Mitglieder oder Anhänger der Parlamentsmehrheit übertragen werden.154 Auch Streitigkeiten im Zusammenhang mit den Wahlen werden von diesen Gremien entschieden.155 d) Zwischenergebnis Auch in Polen versuchte – oftmals erfolgreich – die neue Parlamentsmehrheit, mit ihrer Regierung die demokratischen Spielregeln zu ihren Gunsten zu verändern, um so dauerhaft die eigenen Positionen durchsetzen zu können. Die 151 Sadurski, Constitutional Crisis in Poland, in: Graber/Levinson/Tushnet Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 257 (268 f.). 152 Sadurski, Constitutional Crisis in Poland, in: Graber/Levinson/Tushnet Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 257 (269). 153 Sadurski, Constitutional Crisis in Poland, in: Graber/Levinson/Tushnet Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 257 (270). 154 Sadurski, Constitutional Crisis in Poland, in: Graber/Levinson/Tushnet Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 257 (270). 155 Sadurski, Constitutional Crisis in Poland, in: Graber/Levinson/Tushnet Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 257 (270).
(Hrsg.), (Hrsg.), (Hrsg.), (Hrsg.), (Hrsg.),
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Ausschaltung des Verfassungsgerichts als unabhängige Kontrollinstanz, die Einflussnahme auf die Justiz insgesamt sowie die Besetzung von Schlüsselpositionen im Hinblick auf Wahlen und Medien mit Gefolgsleuten waren die entscheidenden Schritte.156 Die Parlamentarische Versammlung des Europarats hat am 28.1.2020 beschlossen, ein Monitoring-Verfahren gegen Polen wegen der Verschlechterung des Rechtsstaats einzuleiten.157
3. Übereinstimmende Kennzeichen und Bewertung Es zeigt sich ein klares Muster: In Ungarn und Polen haben die jeweils herrschenden Mehrheiten gezielt und in grundlegender Weise die Rechtsordnung verändert. Selbst in Polen, wo die Regierungsmehrheit über keine verfassungsändernde Mehrheit verfügt, kann man von einer De-facto-Verfassungsänderung sprechen.158 Eingewirkt wurde auf die Justiz (Verfassungsgerichtsbarkeit mit ihrer Organisation, ihren Kompetenzen und Verfahrensanforderungen, Unabhängigkeit der Gerichte), die Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit, das Parteien-, Vereins- und Stiftungsrecht, die Wissenschaftsfreiheit sowie die Versammlungsfreiheit. a) Demokratische Dekonsolidierung, nicht bloßer demokratischer Wettbewerb Die Entwicklungen in Polen und Ungarn können deshalb beispielhaft den demokratischen Rückschritt, die demokratische Dekonsolidierung, illustrieren. Zwar würden wohl sowohl die Fidesz- als auch die PiS-Partei es weit von sich weisen, undemokratisch zu sein. Vielmehr bezeichnen sie sich selbst als Demokraten159 und verteidigen die ergriffenen Maßnahmen damit, dass diese 156
Siehe insgesamt die Besorgnis über die Entwicklung in: Entschließung des Europäischen Parlaments zu den laufenden Anhörungen gemäß Artikel 7 Absatz 1 EUV zu Polen und Ungarn v. 9.1.2020, 2020/2513(RSP), B9–0032/2020. 157 Parlamentarische Versammlung des Europarats, The functioning of democratic institutions in Poland, Resolution 2316 (2020), Rn. 17, https://pace.coe.int/en/files/28504/html (Stand: 10.8.2023). Hierzu M. Breuer, The Struggle of Strasbourg. The Council of Europe’s Response to Rule of Law Backsliding and Serious Violations of Fundamental Principles (3.2.2020), https://verfassungsblog.de/the-struggle-of-strasbourg/ (Stand: 10.8.2023). 158 Daly, Between Fear and Hope: Poland’s Democratic Lessons for Europe (and Beyond); European Constitutional Law Review 15 (2019), 752 (755). Siehe auch Sadurski, Constitutional Crisis in Poland, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 257 (258 f.). 159 Das allein ist selbstverständlich nicht ausschlaggebend. Auch Nordkorea bezeichnet sich als Demokratie, vgl. Ginsburg/Huq, Defining and Tracking the Trajectory of Liberal Constitutional Democracy, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 29 (33); Volkmann, Krise der konstitutionellen Demokratie?, Der Staat 58 (2019), 643 (645).
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zum Schutz der Demokratie oder des Volks unerlässlich seien.160 Darüber hinaus wird auf vergleichbare Maßnahmen der Vorgängerregierungen hingewiesen.161 Schließlich wurden in beiden Staaten in aufeinanderfolgenden Wahlen Mehrheiten errungen, die den Schluss zulassen, dass das Volk die ergriffenen Maßnahmen mehrheitlich befürwortet.162 Handelt es sich möglicherweise nur um den Dualismus von Mehrheit und Minderheit, der dem demokratischen Ringen immanent ist und in den genannten zwei Staaten derzeit nur besonders intensiv ausgefochten wird? Liegt womöglich kein Angriff auf die Demokratie vor, sondern zeigt sich lediglich, dass ein Machtwechsel zu einem Wechsel der politischen Prioritäten und zu veränderten Gesetzen führt?163 Wäre dies der Fall, ließe sich der Vorwurf erheben, dass die abgewählten Mehrheiten schlechte Verlierer seien. Die Grenzziehung zwischen der zulässigen Ausgestaltung des demokratischen Systems durch die jeweilige Mehrheit und der demokratischen Dekonsolidierung kann diffizil sein.164 Nicht jede – ggf. auch bloß vorübergehende – Verschlechterung kann als demokratischer Rückschritt eingestuft werden. Der demokratische Gesetzgeber hat einen Spielraum beim Gesetzeserlass und muss diesen auch haben. Während Veränderungen und damit auch einzelne Verschlechterungen nicht per se unzulässig sind, so gibt es doch Grenzen der strukturellen Verschiebbarkeit auf Verfassungsebene und – erst recht – auch der jeweiligen Mehrheitsmacht beim Gesetzeserlass.165 So wird z.B. in der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip gem. 160 So wurden z.B. in Polen die Maßnahmen zur Beeinträchtigung der Unabhängigkeit der Justiz mit einer verbesserten demokratischen Legitimation begründet, vgl. VenedigKommission und Generaldirektion für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit (DGI) des Europarats, Gemeinsame Stellungnahme 977/2020 v. 16.1.2020, CDL-PI(2020)002, S. 3. Vgl. Volkmann, Krise der konstitutionellen Demokratie?, Der Staat 58 (2019), 643 (653): „Gefahren drohen der konstitutionellen Demokratie auf diese Weise wesentlich von innen, so wie auch der Angriff gegen sie von innen heraus erfolgt, teils ausdrücklich im Namen der Demokratie geführt wird, teils mit den Mitteln, die sie bereitstellt.“ 161 Hierzu Parlamentarische Versammlung des Europarats, The functioning of democratic institutions in Poland, Resolution 2316 (2020), Rn. 10, https://pace.coe.int/en/files/ 28504/html (Stand: 10.8.2023); Grabenwarter, Constitutional Resilience (6.12.2018), Ziff. II b), https://verfassungsblog.de/constitutional-resilience/ (Stand: 10.8.2023). 162 Vgl. Manow, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, 2020, S. 17. 163 Volkmann, Krise der konstitutionellen Demokratie?, Der Staat 58 (2019), 643 (645), der die Frage auch stellt, formuliert: „Möglicherweise drückt sich in der verbreiteten Krisendiagnose ja nur das Erschrecken eines linksliberalen, kosmopolitischen und wirtschaftlich gut gestellten Milieus darüber aus, dass plötzlich die anderen gewinnen. Möglicherweise haben wir es aber doch mit den Vorboten einer größeren, tieferliegenden Veränderung zu tun, deren Folgen derzeit erst dunkel abzusehen sind.“ 164 Zu dieser Schwierigkeit Waldner/Lust, Unwelcome Change: Coming to Terms with Democratic Backsliding, Annual Review of Political Science 21 (2018), 93 (95 f.). 165 Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Januar 2022), Art. 20 II Rn. 51–53. Ein Gleichsetzen des demokratischen Prinzips mit der reinen Mehrheitsentscheidung lässt sich jedoch des Öfteren in der politischen Auseinandersetzung feststellen.
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Art. 20 I GG ein sozialstaatliches Rückschrittsverbot diskutiert,166 welches aber überwiegend abgelehnt wird.167 Gleiches gilt auch für das Demokratieprinzip. Auch aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit nicht der Begriff „demokratischer Rückschritt“, sondern der von der Diskussion um ein Rückschrittsverbot unberührte Begriff „demokratische Dekonsolidierung“ verwendet. Art und Ausmaß der Umwälzungen in Polen und Ungarn rechtfertigen, von einer demokratischen Dekonsolidierung auszugehen und die Besorgnisse der europäischen Institutionen für begründet zu erachten. Der Verweis auf die gewonnenen Parlamentswahlen ändert hieran nichts, denn nach den umfangreichen Gesetzesänderungen waren die Chancen für die einzelnen Parteien ungleich verteilt. Das betrifft Wahlwerbung in Medien und auf Versammlungen sowie das Wahlrecht. Dieses wurde in Ungarn gezielt so modifiziert, dass der regierenden Fidesz-Partei dauerhaft ein beträchtlicher struktureller Vorteil verschafft wurde. Aus einer einfachen Mehrheit bei den abgegebenen Stimmen wurde eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, welche auch Verfassungsänderungen bzw. Verfassungsneuschöpfungen gestattet. Kurz vor den Wahlen wurde das Wahlrecht teilweise mehrfach geändert und auch die Wahlkreiseinteilung „angepasst“. Damit wird deutlich, dass es um mehr als lediglich die unterschiedliche Beurteilung einzelner Sachfragen geht. Vielmehr sind die Grundlagen des demokratischen Prozesses betroffen. Demokratie bedeutet Herrschaft auf Zeit; die Minderheit muss die Chance haben, die Mehrheit zu erlangen, und die Mehrheit muss fürchten, zur Minderheit zu werden.168 Diese Gegebenheit anzuerkennen und sich entsprechend zu verhalten, verlangt das demokratische Ethos.169 Hiermit ist die „vorbehaltlose Anerkennung der demokratischen Spielregeln, insbesondere der gleichen Chance politischer Machtgewinnung“ gemeint.170 Ernst-Wolfgang Böckenförde formuliert mit 166
Bieback, Verfassungsrechtlicher Schutz gegen Abbau und Umstrukturierung von Sozialleistungen, 1997; Schlenker, Soziales Rückschrittsverbot und Grundgesetz, 1986. 167 Heyers, Möglichkeiten und Grenzen einer Ökonomisierung des Sozialrechts am Beispiel der Priorisierung in der Gesetzlichen Krankenversicherung, MedR 2016, 857 (860); Schmidt-Aßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, 2001, S. 31–33 m.w.N.; Schmidt-Aßmann, Verfassungsfragen der Gesundheitsreform, NJW 2004, 1689 (1690). 168 So zur deutschen Verfassungslage BVerfGE 44, 125 (139); 144, 20 (196 f.), siehe hierzu unten B. II. 1. 169 Zum Begriff E.-W. Böckenförde, Vom Ethos der Juristen, 2. Aufl. 2011, S. 11–13; speziell zum demokratischen Ethos E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 74–80. In diese Richtung tendieren auch Fox/Nolte, Intolerant Democracies, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1 (12, 14); Harbarth, Der Auftrag des Staates zur Verwirklichung seiner Voraussetzungen als produktives Dilemma, AöR 148 (2023), 1 (9–11). Siehe ausführlicher unten A. II. 1. d) bb). 170 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 74–80, insbes. 76.
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Blick auf Wahlrechtsmanipulationen: „Solche Manipulationen treffen die Demokratie im Kern.“171 Dies legt nahe, dass es sich nicht lediglich um den politischen Wettbewerb zwischen Mehrheit und Minderheit, sondern vielmehr den Versuch handelt, gerade diesen Wettbewerb auszuschalten und den Verlust der Mehrheit so zuverlässig wie möglich zu verhindern.172 Für die Demokratie ist der friedliche Wechsel der Macht jedoch charakteristisch.173 Adam Przeworski hat lakonisch formuliert, dass die Demokratie ein System sei, in welchem Parteien Wahlen verlieren.174 Eine Partei, die immer nur Wahlen gewinnt, erringt die Siege möglicherweise nicht in einem demokratischen System. Die Verhinderung des friedlichen Machtwechsels wird durch zahlreiche Maßnahmen für diverse Lebensbereiche (Medien, Vereinigungen, Universitäten, Wahlen, Gerichtsbarkeit) angestrebt. Indem der demokratische Konsens aufgekündigt wird, wird eine faktische Verfassungsänderung durch eine Vielzahl an gesetzlichen Maßnahmen vorgenommen. b) Veränderung des Verfassungscharakters Durch die demokratische Dekonsolidierung wird der Charakter der Verfassungsordnung insgesamt verändert.175 Ungarn hat sich von einer liberalen Demokratie zu einer „illiberalen“ Staatsform entwickelt, was einen fundamentalen Wandel darstellt. Die polnische Entwicklung ist indes noch aufschlussreicher, da dort keine verfassungsändernde, sondern „bloß“ eine absolute Mehrheit agiert. Gleichwohl kommen die Auswirkungen der verschiedenen Maßnahmen einer grundlegenden Verfassungsänderung zumindest nahe (De-facto-Verfassungsänderung). Dies gilt insbesondere dann, wenn festgestellte Verfassungsverstöße – wie in Polen – ohne Sanktionen bleiben oder – wie in Ungarn – verfassungswidrige Gesetze in die Verfassung aufgenommen werden. Dass die im Verfassungsprozess unterlegene Regierung ihre Niederlage dadurch ungeschehen machen kann, das Urteil nicht zu publizieren, spricht rechtsstaatlichen Prinzipien und dem Vorrang der Verfassung Hohn. c) Veränderung des Verfassungscharakters durch Maßnahmenkumulation Der Verfassungscharakter wird nicht auf einen Schlag verändert. Die Verfassungsordnung wird vielmehr etappenweise durch Maßnahmenbündel, welche 171
E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 76. 172 So auch Lübbe-Wolff, Das europäische Frankensteinproblem, in: F.A.Z. v. 13.1.2022, Nr. 10, S. 14. 173 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I, 7. Aufl. 1992, S. 149 f. 174 Przeworski, Democracy and the Market, 1991, S. 10. 175 Siehe ausführlich zur deutschen Rechtslage unten A. III. 1.
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unterschiedliche Rechtsgebiete und Gesellschaftsbereiche betreffen und sich wechselseitig verstärken,176 verändert.177 Das ist gerade das Charakteristische der demokratischen Dekonsolidierung und deckt sich mit den Erkenntnissen der Politikwissenschaft.178 Nicht der überraschende Staatsstreich mit Gewalt ist das Mittel der Wahl, sondern die scheinbar legale Machterringung durch Wahlen, gefolgt von einer anhaltenden Umgestaltung der Rechtsordnung durch zahlreiche Einzelmaßnahmen. Fehlen eine freie und unbeeinflusste Presse, unabhängige Gerichte mit rechtsstaatlichen Maßstäben und ein gerechtes Wahlsystem, welches nicht a priori eine Partei bevorzugt, wird es schwer für die Minderheit, zur Mehrheit zu werden. Damit wird eine Aufhebung der ergriffenen Maßnahmen erheblich erschwert und der illiberale Charakter der neuen Verfassungsordnung zementiert. Die Ausschaltung der Verfassungsgerichte lässt auch unverhältnismäßige, nicht rechtsstaatliche und undemokratische Maßnahmen unsanktioniert. Die Verfassungslage ist nach diesen Maßnahmen eine gänzlich andere als zuvor.179 d) Versagen des Gewaltenteilungsgrundsatzes Die zuvor geschilderten Entwicklungen sind möglich, weil der Grundsatz der Gewaltenteilung180 erst nicht zur Anwendung gelangen konnte und dann gezielt ausgehebelt wurde. Parteien gewannen in Polen und Ungarn auf legale Weise Wahlen und konnten die Schlüsselpositionen der verschiedenen Gewalten besetzen. Die Judikative als die Gewalt, die sie nicht durch Wahlen gewinnen konnten, wurde dann mit teilweise verfassungswidrigen gesetzgeberischen Maßnahmen „auf Linie“ gebracht. 176 So auch Sadurski, Poland’s Constitutional Breakdown, 2019, S. 124, passim. Hervorgehoben auch von Daly, Between Fear and Hope: Poland’s Democratic Lessons for Europe (and Beyond); European Constitutional Law Review 15 (2019), 752 (756). 177 Huq/Ginsburg, How to Lose a Constitutional Democracy, UCLA Law Review 65 (2018), 78 (97); Volkmann, Krise der konstitutionellen Demokratie?, Der Staat 58 (2019), 643 (654) spricht von „inkrementell und schleichend“. Siehe hierzu ausführlicher unten A. III. 2. und B. II. 2. 178 Vgl. Albertazzi/Mueller, Government and Opposition 48 (2013), 343 (346, 350); Daly, Democratic Decay: Conceptualising an Emerging Research Field, Hague Journal on the Rule of Law 11 (2019), 9 (17); Rummens, Populism as a Threat to Liberal Democracy, in: Rovira Kaltwasser et al. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Populism, 2017, S. 554 (565 f.); Sadurski, Poland’s Constitutional Breakdown, 2019, S. 123 f., passim; so wohl auch Volkmann, Krise der konstitutionellen Demokratie?, Der Staat 58 (2019), 643 (654). 179 Albert, Constitutional Amendments, 2019, S. 76–92, passim, spricht in diesem Zusammenhang von „constitutional dismemberment“, also von „Verfassungszerstückelung“. 180 Es wird der klassische Begriff der Gewaltenteilung beibehalten. Er bringt klarer als der Begriff „Gewaltengliederung“ – hierzu C. Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 25 – zum Ausdruck, dass staatliche Gewalt nicht nur in Legislative, Exekutive und Judikative gegliedert ist, sondern dass die Aufgabenwahrnehmung zwischen ihnen auch (auf-)geteilt ist. Siehe aber auch Horst, Transnationale Gewaltenteilung und Gewaltengliederung, DÖV 2020, 313 (313), der zwischen Gewaltengliederung und Gewaltenteilung unterscheidet.
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
Der Grundsatz der Gewaltenteilung, der in der Bundesrepublik Deutschland in Art. 20 II 2 GG anklingt, aus Art. 20 III GG hergeleitet wird und in zahlreichen Einzelbestimmungen des Grundgesetzes seine konkreteren Ausprägungen erfahren hat, dient allgemein der Verhinderung von Machtkonzentration und Machtmissbrauch.181 In der westlichen Verfassungstradition ist die Trennung und Aufteilung von Macht auf verschiedene Akteure seit der Aufklärung das verfassungsrechtliche Desiderat.182 Die Ausübung der Staatsmacht (Legislative, Exekutive, Judikative) wird auf unterschiedliche Organe aufgeteilt, und über eine gegenseitige Verschränkung und Begrenzung der Macht soll verhindert werden, dass ein übermächtiger Herrscher seine Macht missbraucht.183 Die Gewaltenteilung lässt sich in der Bundesrepublik Deutschland in horizontaler (Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung, Bundespräsident, BVerfG) und vertikaler Hinsicht (Bund, Länder und in geringerem Maße die kommunalen Selbstverwaltungsebenen184) weiter strukturieren.185 Gewaltenteilung ist unabhängig von bestimmten Ereignissen, sie ist eine dauerhafte Strukturvorgabe des Grundgesetzes. Allerdings kann es in äußersten Krisensituationen186 zu Modifikationen des grundgesetzlichen „Normalfalls“ der Gewaltenteilung kommen. So greifen z.B. in den Fällen des äußeren Notstands die Notstandsregelungen der Art. 115a bis 115l GG.187 Diese Regelungen für
181 Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Januar 2022), Art. 20 V Rn. 29. Das BVerfG spricht zumeist von „gegenseitige[r] Kontrolle und Begrenzung mit der Folge der Mäßigung der Staatsgewalt“, so in BVerfGE 139, 321 (362) m.w.N. So auch die Deutung von C. Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 16 (m.w.N. in Fn. 87), 68; Puhl, Gewaltenteilung, in: FS P. Kirchhof, 2013, § 23 Rn. 5. 182 Montesquieu, De L’Esprit des Lois. 2ème Partie, Livre XI, 1758, Chapitre 6, http://clas siques.uqac.ca/classiques/montesquieu/de_esprit_des_lois/partie_2/esprit_des_lois_Livre_2. pdf (Stand: 10.8.2023). Venter, Economic Freedom Fighters and Others v. Speaker of the National Assembly and Others Cases (S Afr), MPECCoL (Stand: Juli 2017), Rn. 36 m.w.N. weist darauf hin, dass die Verfassung von Taiwan eine fünfteilige Gewaltenteilung kenne und dass dieser Gedanke auf eine jahrtausendelange Historie zurückblicken könne. 183 BVerfGE 9, 268 (279 f.); 67, 100 (130); 95, 1 (15); 137, 185 (231); 139, 321 (361 f.); Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Januar 2022), Art. 20 V Rn. 29; Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 20 Rn. 81; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 68. 184 Zu den Gemeinden und Kreisen Peters, Die Gewaltentrennung in moderner Sicht, 1954, S. 26. 185 Vgl. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Januar 2022), Art. 20 V Rn. 13–88. 186 Zum Begriff der Krise siehe A. Schwerdtfeger, Krisengesetzgebung, 2018, S. 6–11. Es handelt sich nicht um einen Begriff, den das Grundgesetz ausdrücklich verwendet, vielmehr regelt es „Krisen“ spezifischer, vgl. Heintzen, Bundeskompetenzen in Krisensituationen, ZRP 2016, 66 (66). Kritisch zur Dichotomie von Normalität und Ausnahme Finke, Krisen, 2020, S. 2, 4. 187 Siehe hierzu unten C. IV. 2.–C. IV. 2. b).
I. Gefährdung der liberalen Demokratie durch „demokratische Dekonsolidierung“ 29
den Verteidigungsfall188 begrenzen die Gesetzgebungsbefugnisse des Gemeinsamen Ausschusses nach Art. 53a GG. So darf durch ein Gesetz des Gemeinsamen Ausschusses das Grundgesetz „weder geändert noch ganz oder teilweise außer Kraft oder außer Anwendung gesetzt werden“ (Art. 115e II 1 GG). Zum Erlass von Gesetzen nach Art. 23 I 2, Art. 24 I oder Art. 29 GG ist er ebenfalls nicht befugt (Art. 115e II 2 GG). Darüber hinaus wird über Art. 115g GG auch das BVerfGG besonders vor Änderungen durch den Gemeinsamen Ausschuss geschützt: „Die verfassungsmäßige Stellung und die Erfüllung der verfassungsmäßigen Aufgaben des Bundesverfassungsgerichtes und seiner Richter dürfen nicht beeinträchtigt werden“ und das „Gesetz über das Bundesverfassungsgericht darf durch ein Gesetz des Gemeinsamen Ausschusses nur insoweit geändert werden, als dies auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Gerichtes erforderlich ist“ (Art. 115g Satz 1 und 2 GG). „Bis zum Erlaß eines solchen Gesetzes kann das Bundesverfassungsgericht die zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit des Gerichtes erforderlichen Maßnahmen treffen“ (Art. 115g Satz 3 GG).189 Somit sieht das Grundgesetz die Gefahren, die im Verteidigungsfall drohen, und versucht, hiergegen Vorsorge zu treffen. Allerdings gelten diese Regelungen nur für den Verteidigungsfall, also einen Angriff von „außen“, der nicht zum hiesigen Forschungsgegenstand gehört.190 Darüber hinausgehende Sonderregelungen enthält das Grundgesetz nicht, allenfalls Art. 20 IV GG191 kann – je nach Sachverhaltsgestaltung – als Korrektiv angesehen werden. Hierbei muss jedoch seine zweifelhafte Praxistauglichkeit bedacht werden. Vergleicht man die deutsche Verfassungslage unter dem Grundgesetz mit der Rechtslage in Polen und Ungarn, zeigt sich, dass im Grundsatz dieselben Strukturen (Gewaltenteilung) mit der gleichen Zielsetzung (Verhinderung der Machtkonzentration und des Machtmissbrauchs) gelten. In der Ausgestaltung im Detail bestehen allerdings Unterschiede, die einen demokratischen Rückschritt mehr oder weniger hemmen. So hat Ungarn ein Parlament mit nur einer Kam-
188
Hierzu Gläß, Das Bundesverfassungsgericht als „Hüter der Verfassung“, in: Donath et al. (Hrsg.), Verfassungen – ihre Rolle im Wandel der Zeit, 2019, S. 263 (279–281) sowie Gläß, Das Bundesverfassungsgericht als „Hüter der Verfassung“ in Krisenzeiten, DÖV 2020, 263 ff. 189 Die Beschlüsse nach Art. 115g Satz 2 und Satz 3 GG fasst das BVerfG mit der Mehrheit der anwesenden Richter, Art. 115g Satz 4 GG. Da kein Quorum besteht, kann nach Auffassungen in der Literatur auch bei Anwesenheit von nur drei Richtern ein wirksamer Zustimmungsbeschluss gefasst werden, so Grote, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 115g Rn. 8; Fremuth, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2021, Art. 115g Rn. 20. 190 Siehe unten B. II. 2. 191 Siehe hierzu unten C. III. 6. f).
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
mer,192 welches auch den Staatspräsidenten wählt.193 Für eine Verfassungsänderung muss folglich nicht in zwei Organen eine Zweidrittelmehrheit errungen werden. Klassische Gewaltenteilung kann somit strenger oder weniger streng ausgestaltet und zur Machtbegrenzung unterschiedlich gut geeignet sein. Sie allein ist aber kein hinreichender Garant zur Aufhaltung der demokratischen Dekonsolidierung, denn die Gewaltenteilung kann nicht verhindern, dass die Wählerinnen und Wähler für entsprechende Mehrheiten in den verschiedenen Organen votieren. Das klassische westliche Gewaltenteilungsverständnis dürfte somit der Weiterentwicklung bedürfen, da seine ursprüngliche Stoßrichtung, die Macht des absoluten Herrschers zu begrenzen, den heutigen Gegebenheiten nicht mehr hinreichend gerecht wird. Da die demokratische Dekonsolidierung von staatlichen Stellen ausgeht, die über die zum Gesetzerlass erforderliche Mehrheit verfügen, ist der Widerstand hiergegen in doppelter Weise erschwert. Erstens fehlt es der Opposition an rechtlicher „Macht“, um die demokratische Dekonsolidierung zu verhindern. Die Macht hat nunmehr die undemokratische Regierung inne. Zweitens wurden die Mehrheiten – anders als im Falle des Staatsstreichs – auf legalem Wege errungen. Das spricht für die Legitimität der Anliegen der Mehrheit und erschwert die Opposition hiergegen, da diese als undemokratisch – weil gegen die (vermeintliche) Mehrheit gerichtet – abgetan werden kann. Allerdings kann die Gewaltenteilung auch deshalb versagen, weil ein Organ aufgrund innerer Zerstrittenheit so funktionsunfähig ist, dass ein anderes Organ dessen Funktion übernehmen kann.194 In historischer Perspektive lässt sich auf die Befugnisse des deutschen Reichspräsidenten gem. Art. 48 WRV verweisen. Dessen außerordentliche Machtbefugnisse wurden zunächst enger verstanden und zur Lösung der Nachkriegsprobleme eingesetzt, etwa für bewaffnete Auseinandersetzungen im Reich. In der Folgezeit wurden die durch Art. 48 WRV vermittelten Kompetenzen immer großzügiger interpretiert, was sowohl von der Rechtspraxis als auch der Rechtswissenschaft befürwortet oder hingenommen wurde. Schließlich ließ sich Art. 48 WRV in antiparlamentarischer Weise zur „Lösung“ von Problemen heranziehen, die eine parlaments- und demokratiefeindliche Haltung des Reichspräsidenten erst hervorgerufen hatte.195 Eine Grenze der sog. „Diktaturgewalt“196 des Reichspräsidenten war am Ende nicht mehr erkennbar. 192 Kovács/Tóth, Hungary’s Constitutional Transformation, European Constitutional Law Review 7 (2011), 183 (185). 193 Hierzu Bánkuti/Halmai/Scheppele, Hungary’s Illiberal Turn: Disabling the Constitution, Journal of Democracy 23 (2012), 138 (141). 194 Vgl. Di Fabio, Die Weimarer Verfassung, 2018, S. 174–187, 190–193. 195 Siehe hierzu Gusy, Die zweifache „Diktatur“ des Reichspräsidenten, Der Staat 58 (2019), 507 (524–533); Wißmann, Verfassungsrechtsprechung im Übergang, Der Staat 47 (2008), 187 (200–206, 207). Vgl. auch Di Fabio, Die Weimarer Verfassung, 2018, S. 190–193. 196 Zum Begriff und seiner Entwicklung Gusy, Die zweifache „Diktatur“ des Reichspräsidenten, Der Staat 58 (2019), 507 ff.
I. Gefährdung der liberalen Demokratie durch „demokratische Dekonsolidierung“ 31
Fest steht jedenfalls, dass der Gewaltenteilungsgrundsatz allein Machtkonzentration und Machtmissbrauch nicht verhindern kann. Er weist folgende Defizite auf: Erstens kann (und soll) er nicht verhindern, dass Mehrheiten in verschiedenen Gewalten von derselben Partei errungen werden. Zweitens bezieht er sich lediglich auf die Ausübung hoheitlicher Gewalt. Private Stellen werden traditionell vom Grundgesetz197 weder als zu begrenzende demokratiegefährdende Machtfaktoren198 (hierfür dient v.a. das Kartellrecht199) noch als für die Förderung der Demokratie zu mobilisierenden Akteure in den Blick genommen, sondern lediglich über ihre Grundrechte als Machtbegrenzer (Grundrechte als negative Kompetenzbestimmungen200) wahrgenommen. Grundsätzlich findet aber keine Verknüpfung von Staat und privat auf Ebene der Verfassung statt. Als Ausnahme kann man die politischen Parteien ansehen, deren Einordnung indes changierend201 ist: einerseits Faktor des Verfassungslebens, der Antragsteller im Organstreitverfahren nach Art. 94 I Nr. 2 GG sein kann, andererseits privatrechtliche Vereinigung von Bürgern mit der Fähigkeit, Verfassungsbeschwerde zu erheben,202 und grund-
197 Auf der Ebene des europäischen Sekundärrechts gibt es u.a. mit dem Digital Services Act (Verordnung [EU] 2022/2065 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.10.2022 über einen Binnenmarkt für digitale Dienste und zur Änderung der Richtlinie 2000/31/EG [Gesetz über digitale Dienste], L 277, 1) und dem Digital Markets Act (Verordnung [EU] 2022/1925 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.9.2022 über bestreitbare und faire Märkte im digitalen Sektor und zur Änderung der Richtlinien [EU] 2019/1937 und [EU] 2020/1828 [Gesetz über digitale Märkte], L 265/1) jedoch eine veränderte Wahrnehmung zu verzeichnen. 198 Soziale Netzwerke sind bereits zuvor in den Blick der nationalen Gesetzgeber geraten, vgl. das Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) v. 1.9.2017, BGBl. I, 3352 ff., zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes zur Durchführung der Verordnung (EU) 2021/784 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2021 zur Bekämpfung der Verbreitung terroristischer Online-Inhalte und zur Änderung weiterer Gesetze v. 21.7.2022, BGBl. I, 1182 (1184). Siehe auch die Entscheidung des BKartA gegen Facebook, BKartA (6. Beschlussabteilung), Beschl. v. 6.2.2019 – B6–22/16, BeckRS 2019, 4895, die Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen den Beschluss des BKartA durch OLG Düsseldorf, MMR 2019, 742 ff. sowie den aufhebenden Beschluss BGH, GRUR-RS 2020, 20737. 199 Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 74 Rn. 114–117. Siehe jetzt aber auch Stall, Eine Untersuchung des Verhältnisses von Demokratie und Kartellrecht mit besonderen Bezügen zum Marktmachtmissbrauch in der Digitalwirtschaft, 2023. 200 So Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, S. 30; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 185 mit Fn. 141. Siehe auch Denninger, Freiheitsordnung – Wertordnung – Pflichtordnung, JZ 1975, 545 (549); Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, VVDStRL 12 (1954), 8 (18). Dem entspricht es, wenn das ein Gesetz aufhebende Gericht als der „negative Gesetzgeber“ bezeichnet wird, Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), 30 (56). 201 C. Möllers, Staat als Argument, 2. Aufl. 2011, S. 334–349. 202 BVerfGE 7, 99 (103 f.); 14, 121 (129); 47, 198 (222 f.); 67, 149 (151); 84, 290 (299).
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sätzlicher Zuständigkeit der Zivilgerichtsbarkeit für die inneren Angelegenheiten.203 Drittens gilt der Grundsatz der Gewaltenteilung undifferenziert in stets derselben Weise insofern, als er nicht danach unterscheidet, ob beispielsweise eine Partei alle Gewalten oder nur eine beherrscht. Da Abstufungen im Gewaltenteilungsgrundsatz bislang nicht Teil des geltenden Verfassungsrechts sind, scheidet die Befassung mit diesem Fragenkomplex im Rahmen der vorliegenden Untersuchung aus.204 Wenn der Gewaltenteilungsgrundsatz als rechtsstaatliches Gebot205 und zentrales Element der westlichen Verfassungstradition der demokratischen Dekonsolidierung nicht hinreichend begegnen kann, besteht Anlass, über weitere Mechanismen zu ihrer Verhinderung zu forschen. Auch wenn im Rahmen dieser Arbeit nicht de constitutione ferenda argumentiert werden soll, sei ein Blick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung geworfen, wie er in der Republik Südafrika gilt. Denn er zeigt durch seine Besonderheiten erkenntnisstiftende Perspektiven auch für die deutsche Rechtslage auf. e) Inkurs: Modifikation der Gewaltenteilung in Südafrika In der Republik Südafrika etabliert die Verfassung eine Gewaltenteilung nach dem klassischen Muster mit Legislative, Exekutive und Judikative, auch wenn der Begriff „Gewaltenteilung“ nicht ausdrücklich im Verfassungstext zu finden ist.206 Die strikt getrennte Behandlung der Gewalten in den Kapiteln der Verfassung zeigt jedoch, dass der Gedanke bei der Abfassung des Verfassungstexts Pate stand. Neben den drei klassischen Gewalten gibt es aber auch einige südafrikanische Besonderheiten, auf die nachfolgend ebenfalls eingegangen wird. Die Gewaltenteilung bezieht sich auf die nationale, die provinzielle (Art. 103 bis 150 FC) und die lokale bzw. gemeindliche (Art. 151 bis 164 FC) Ebene. In dieser Untersuchung liegt der Fokus auf der nationalen Ebene. Deren Legislative wird durch die beiden Kammern des Parlaments gebildet: die National Assembly (Art. 42 I, 46 bis 59 FC, entspricht dem Bundestag) und den National Council of Provinces (Art. 42 I, 60 bis 72 FC, entspricht dem Bundesrat). Die Exekutive besteht aus dem Präsidenten und den Ministern, die gemeinsam das Cabinet bilden (Art. 83 bis 102 FC). Unabhängige Gerichte mit dem Con203
BGHZ 75, 158 ff. Siehe zu diesem Fragenkreis Sodan, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 40 Rn. 463–466 m.w.N. 204 Siehe unten B. I. 1. 205 Rux, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 20 Rn. 156 (Stand: 15.5.2023); Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 20 Rn. 77, 79–81; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 197. 206 De Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 99, 102.
I. Gefährdung der liberalen Demokratie durch „demokratische Dekonsolidierung“ 33
stitutional Court als eigenständigem Verfassungsgericht (Art. 167 FC) und dem Supreme Court of Appeal (Art. 168 FC) an der Spitze der Fachgerichtsbarkeit unterfallen den Vorschriften zum Justizwesen (Art. 165 bis 180 FC). Anders als die strikt getrennte Behandlung der Gewalten im Verfassungstext vermuten lassen könnte, sind – wie in der Bundesrepublik – insbesondere die Kompetenzen von Exekutive und Legislative, z.B. die der Gesetzgebung (Art. 73 bis 82 FC), nicht exklusiv einer Gewalt zugewiesen, sondern werden oftmals „geteilt“ bzw. gemeinsam ausgeübt. Weiterhin hat das Parlament die Aufgabe, unter der Aufsicht des Verfassungsgerichtspräsidenten den Präsidenten der Republik zu wählen (Art. 86 FC) und die Exekutive zu kontrollieren (Art. 55(2) FC). Dies ist mit den Grundsätzen des Grundgesetzes weitestgehend vergleichbar. Der in der Republik Südafrika bestehende Gewaltenteilungsgrundsatz wird aber um zusätzliche Institutionen angereichert. Die im 9. Kapitel der Verfassung geregelten Institutionen werden unter dem Oberbegriff „State Institutions Supporting Constitutional Democracy“ (Staatliche Institutionen zur Unterstützung der konstitutionellen Demokratie), umgangssprachlich auch „Chapter 9 Institutions“ („Kapitel 9 Institutionen“), zusammengefasst. Sie werden in Art. 181(1) FC aufgelistet und in den folgenden Art. 182 bis 194 FC näher geregelt.207 Im Wesentlichen haben sie zwei Aufgaben. Sie sollen die Regierung kontrollieren und zu einer Gesellschaft der sozialen Gerechtigkeit beitragen.208 Die sechs Institutionen haben gemeinsam, dass sie unabhängig und unparteiisch sein (Art. 181(2) FC) und von anderen Staatsorganen unterstützt und geschützt werden müssen (Art. 181(3) FC). Nach Art. 181(5) FC sind diese Institutionen nur der National Assembly verantwortlich und müssen dieser gegenüber einmal jährlich über ihre Tätigkeit Bericht erstatten. Wie sich diese Institutionen in das traditionelle Bild der Gewaltenteilung einfügen, ist nicht restlos geklärt.209 Aber zumindest in einem sehr bemerkenswerten Fall hat eine dieser Institutionen gezeigt, dass sie einen wichtigen Beitrag zur Verantwortlichkeit der Staatsorgane gegenüber dem Bürger und damit für das Demokratieprinzip leisten kann. Diese Institution ist der „Public Protector“ nach Art. 182 FC. Die Amtsinhaberin hat mit ihren Berichten über Machtmissbrauch und Zweckentfremdung von Staatsgeldern durch den damaligen Staats207 Es handelt sich um (a) The Public Protector, (b) The South African Human Rights Commission, (c) The Commission for the Promotion and Protection of the Rights of Cultural, Religious and Linguistic Communities, (d) The Commission for Gender Equality, (e) The Auditor-General, (f) The Electoral Commission. 208 De Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 258; Murray, The Human Rights Commission et al: What is the role of South Africa’s Chapter 9 Institutions?, Potchefstroom Electronic Law Journal Vol. 9 Nr. 2 (2006), 121 (125). 209 De Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 258.
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
präsidenten Jacob Zuma maßgeblich zu dessen Sturz beigetragen.210 Der Staatspräsident hatte seine Privatresidenz in der Ortschaft Nkandla mit Steuergeldern angeblich „sicherer“ gemacht, allerdings wurden auch Pools, Unterhaltungsräume und Ställe für Tiere errichtet.211 Diese Ausgaben dürfen schwerlich die Sicherheitslage für das Staatsoberhaupt verbessert haben. Die Parlamentsmehrheit weigerte sich, den Empfehlungen im Bericht des „Public Protector“ nachzukommen und den Präsidenten zur Rechenschaft zu ziehen. In zwei wichtigen Entscheidungen hat das südafrikanische Verfassungsgericht auf Anträge der parlamentarischen Opposition die Rechte des „Public Protector“ gestärkt. Zwar sind ihre bzw. seine Empfehlungen nicht verbindlich, aber das Parlament ist verpflichtet, sich mit den Berichten auseinanderzusetzen und für die Abstellung der Mängel zu sorgen.212 Der Public Protector spielt somit eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung des Rechtsstaats.213 Während die meisten der Kommissionen des 9. Kapitels v.a. die Aufgabe haben, die Integrität der staatlichen Verwaltung und Regierung auf allen Ebenen sicherzustellen,214 gibt es zwei Kommissionen, die einen direkteren Bezug zur Bevölkerung zeigen und einen Förder- und Erziehungsauftrag haben. So soll die südafrikanische Menschenrechtskommission u.a. den Respekt vor den Grundrechten und eine Kultur der Grundrechte fördern sowie den Schutz und die Entwicklung der Grundrechte voranbringen (Art. 184(1)(a) und (b) 210 Vgl. Klug, State Capture or Institutional Resilience, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 295 (303–309). 211 Public Protector South Africa, Secure in Comfort. Report on an investigation into allegations of impropriety and unethical conduct relating to the installation and implementation of security measures by the Department of Public Works at and in respect of the private residence of President Jacob Zuma at Nkandla in the KwaZulu-Natal province, Report No: 25 of 2013/24, 19.3.2014, https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source= web&cd=&ved=2ahUKEwi3-pjO3NKAAxVfbvEDHYZPDakQFnoECCIQAQ&url=https %3A%2F%2Fwww.gov.za%2Fsites%2Fdefault%2Ffiles%2Fgcis_document%2F201409 %2Fpublic-protectors-report-nkandlaa.pdf&usg=AOvVaw03oqq0pUVJU5nqwPDznHC&opi=89978449 (Stand: 10.8.2023).Siehe hierzu Yacoob, In Light of ‚Nkandla‘, What is the Role of the Public Protector in Upholding the Rule of Law in South Africa?, Pretoria Student Law Review 10 (2016), 170 ff. 212 Zwei wichtige Entscheidungen waren CC, 31.3.2016 – CCT/143/15 und CCT/171/15 – Economic Freedom Fighters v. Speaker of the National Assembly and Others; Democratic Alliance v. Speaker of the National Assembly and Others, http://www.saflii.org/za/cases/ ZACC/2016/11.html und CC, 29.12.2017 – CCT/76/17 – Economic Freedom Fighters and Others v. Speaker of the National Assembly and Another, http://www.saflii.org/za/cases/ ZACC/2017/47.html (Stand: 10.8.2023). Siehe hierzu Venter, Economic Freedom Fighters and Others v. Speaker of the National Assembly and Others Cases (S Afr), MPECCoL (Stand: Juli 2017). 213 Woolman, South Africa’s aspirational Constitution and our problems of collective action, South African Journal on Human Rights 32 (2016), 156 (167). 214 Klug, State Capture or Institutional Resilience, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 295 (303) nennt sie deshalb auch „integrity institutions“.
I. Gefährdung der liberalen Demokratie durch „demokratische Dekonsolidierung“ 35
FC). Zu diesem Zweck ist die Kommission befugt, wissenschaftliche Forschung zu betreiben und Aufklärungsarbeit zu leisten (Art. 184(2)(c) und (d) FC). Dies unterscheidet sich vom Grundgesetz, das solche Institutionen nicht kennt. Allenfalls die Instrumente der wehrhaften Demokratie könnten als Schutzschilde für die Grundrechte angesehen werden, allerdings mit dem großen Unterschied, dass sich die wehrhafte Demokratie zum Schutz der demokratischen Gesellschaft insgesamt repressiv auch gegen Grundrechtsträger wendet. In Deutschland wird diskutiert, ob und welche Kompetenzen der Bund für positive Fördermaßnahmen zum Schutz der Demokratie hat.215 Inzwischen hat der Bundestag ein Gesetz zur Errichtung einer „Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte“216 beschlossen und die Bundesregierung einen Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Maßnahmen zur Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung, Extremismusprävention und politischen Bildung (Demokratiefördergesetz) in den Bundestag eingebracht.217 Schwerpunkt der Vorschriften des Entwurfs ist die Verstetigung der finanziellen Förderung von Organisationen der Zivilgesellschaft.218 Ähnliche Aufgaben und Befugnisse hat in ihrem Zuständigkeitsbereich auch die „Kommission für die Förderung und den Schutz der Rechte der kulturellen, religiösen und sprachlichen Gemeinschaften“ (Art. 185 f. FC). Sie soll ebenfalls Respekt fördern, allerdings gegenüber kulturellen, religiösen und sprachlichen Gemeinschaften, was angesichts der zahlreichen Gruppen unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Sprachen („rainbow nation“) nicht überraschend ist.219 Die Kommission soll Frieden, Freundschaft, Menschlichkeit, Toleranz, nationale Einheit auf der Basis der Gleichheit, Nichtdiskriminierung und des freiwilligen Zusammenschlusses unter den kulturellen, religiösen und sprachlichen Gemeinschaften vorantreiben (Art. 185(1)(b) FC). Dies klingt beim ersten Lesen sehr hoffnungsfroh und nahezu naiv. Bedenkt man weiter die schwache wirtschaftliche Lage und die hohe Kriminalitätsrate,220 wirkt der idealistische Anspruch der Verfassung, der hier zum Ausdruck kommt, noch krasser. Jedoch war auch den Verfassungsgebern bewusst, dass es sich um zu fördernde Ziele handelt. Hierfür hat die Kommission u.a. 215
Hierzu C. Möllers, Gutachten „Demokratie dauerhaft fördern“, 2020, https://www. progressives-zentrum.org/wp-content/uploads/2022/04/DPZ_Rechtsgutachten_Moellers_ Demokratie_dauerhaft_foerdern.pdf (Stand: 10.8.2023). 216 Gesetz v. 16.7.2021, BGBl. I, 3014. 217 BT-Drs. 20/5823. 218 Siehe zum Referentenentwurf Schaks, Vers la démocratie constructive? Une future loi sur la promotion de la démocratie en Allemagne – La Demokratieförderungsgesetz (23.11.2022), https://blog.juspoliticum.com/2022/11/23/vers-la-democratie-constructiveune-future-loi-sur-la-promotion-de-la-democratie-en-allemagne-la-demokratieforderunge setz-par-nils-schaks/ (Stand: 10.8.2023). 219 Für einen Eindruck: Art. 6(1) FC zählt die elf Amtssprachen auf, die Nationalhymne besteht aus Textpassagen aller elf Sprachen.
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
die Befugnisse zur Überwachung, Untersuchung, Forschung, Erziehung, Bildung, Lobbyarbeit, Beratung und Berichterstattung in Fragen, die die Rechte der kulturellen, religiösen und sprachlichen Gemeinschaften betreffen (Art. 185(2) FC). Angesichts der Spaltungen in vielen Gesellschaften weltweit, wie z.B. den USA, ist es vielleicht doch keine so naive Vorgabe, eine „Kommission für die Förderung und den Schutz der Rechte der kulturellen, religiösen und sprachlichen Gemeinschaften“ einzurichten. Auch in Deutschland nimmt die Spaltung in der Gesellschaft zu (Fragmentierung, Polarisierung), obwohl ein Mindestmaß an Homogenität als Voraussetzung der Demokratie angesehen wird.221 Da der ANC („African National Congress“) bislang im Parlament stets die Mehrheit hatte und das Parlament auf die Bestellung der Mitglieder der Institutionen nach Kapitel 9 Einfluss hat, dürfte das Potenzial dieser Institutionen bislang kaum entfaltet sein. In der Bundesrepublik Deutschland bedürfte die Anreicherung des Gewaltenteilungsgrundsatzes einer Verfassungsänderung, weshalb diesem Punkt hier nicht weiter nachgegangen werden soll.222 So begrüßenswert die Stärkung der Gewaltenteilung und die Verhinderung von Machtmissbrauch sind, bleiben dennoch Zweifel an den Erfolgsaussichten eines solchen neuen Modells. Die Demokratie ist die Staatsform, die die Balance aus individueller Freiheit und Sicherheit zwischen den extremen Gegensätzen der totalen Anarchie und der absoluten Diktatur am besten herstellt.223 Die Stärkung des „Diskurses“ sowie die Einbindung neuer Akteure und Beteiligungsformen können zur Schwächung der Effektivität staatlichen Handelns führen und damit auf Ablehnung stoßen oder ungewollte Nebenfolgen herbeiführen. Dies gilt es zu bedenken, wie die – allerdings nicht einheitliche – rechtsvergleichende Wissenschaft im Hinblick auf sog. „legal transplants“ anmahnt.224 220
Woolman, South Africa’s aspirational Constitution and our problems of collective action, South African Journal on Human Rights 32 (2016), 156 (165) beschreibt die südafrikanische Demokratie im Jahr 2016 dahin gehend, dass sie (i) nach wie vor eine von einer Partei dominierte Demokratie ist, untergraben von Klientelismus, Vetternwirtschaft und Korruption; (ii) mit einer offiziellen Arbeitslosenquote von 27,4% (tatsächlich deutlich höher); (iii) mit magerem Wirtschaftswachstum; (iv) mit einem der höchsten Gini-Koeffizienten in der Welt; (v) mit einer Bevölkerung, in der jede dritte schwarze Frau HIV hat, 55% der schwangeren Frauen Gewalt in der Partnerschaft erleben und in der die Unterstützung für die Behandlung mit antiretroviralen Arzneimitteln dramatisch zurückgegangen ist; (vi) einem Bildungssystem, das in den Entwicklungsländern ganz unten steht. 221 Siehe hierzu unten A. II. 2. d) bb). 222 Siehe unten B. I. 1. 223 Zu diesem Gedanken Pinker, Enlightenment Now, 2019, S. 199–213. Siehe auch W. Leisner, Die Demokratische Anarchie, 1982. 224 Hierzu Perju, Constitutional Transplants, Borrowing, and Migration, in: Rosenfeld/ Sajó (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, 2012, Kap. 63, S. 1304 (1309–1311).
II. Demokratische Dekonsolidierung als Herausforderung für die Rechtsordnung
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f) Zwischenergebnis Die skizzierten Entwicklungen der demokratischen Dekonsolidierung lassen sich nicht nur für Polen und Ungarn, sondern auch für andere Staaten nachweisen. Hierbei handelt es sich um einen globalen Trend,225 den der Grundsatz der Gewaltenteilung nicht zu verhindern vermochte. Im Folgenden sollen die soeben im internationalen Kontext ermittelten Kennzeichen und Problembereiche der demokratischen Dekonsolidierung aufgegriffen und im Rahmen der deutschen Verfassungsordnung untersucht werden.
II. Nationale Folge: Demokratische Dekonsolidierung als Herausforderung für die deutsche Rechtsordnung Man könnte meinen, bei den polnischen oder ungarischen Entwicklungen handelte es sich um innere Angelegenheiten, welche ohne Auswirkungen auf die Bundesrepublik Deutschland seien. Dies trifft jedoch wegen der Verflochtenheit der Rechtsordnungen nicht zu. Hier wird der Frage nachgegangen werden, ob sich die polnischen oder ungarischen Entwicklungen in der Bundesrepublik ebenfalls ereignen könnten und wie dies zu verhindern wäre. Konsequenzen der Entwicklungen in Polen und Ungarn bestehen für die Bundesrepublik Deutschland in dreierlei Hinsicht, wobei die dritte Ebene diejenige ist, die hier weiterverfolgt wird. Die erste Auswirkung erfolgt über die organisatorische Verflechtung mit und in der EU. Diese gründet sich nach Art. 2 Satz 1 EUV auf die Werte der Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaat225 So C. Möllers, Die Staatsrechtswissenschaft bei Anbruch der Dämmerung, Der Staat 56 (2017), 485 (485). Ähnlich Baer, The Rule of – and not by any – Law. On Constitutionalism, Current Legal Problems 71 (2018), 335 (336–339); Choudhry, Resisting democratic backsliding: An essay on Weimar, self-enforcing constitutions, and the Frankfurt School, Global Constitutionalism 7 (2018), 54 (55); Daly, Between Fear and Hope: Poland’s Democratic Lessons for Europe (and Beyond); European Constitutional Law Review 15 (2019), 752 (753, 754); Daly, Democratic Decay: Conceptualising an Emerging Research Field, Hague Journal on the Rule of Law 11 (2019), 9 (10, 11 f.); Diamond/Plattner/Walker, Introduction, in: Diamond/Plattner/Walker (Hrsg.), Authoritarianism Goes Global, 2016, S. 3 (4); Di Fabio, Die Weimarer Verfassung, 2018, S. 19; Graber/Levinson/Tushnet, Constitutional Democracy in Crisis?, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 1 (1, 3 f.); P.M. Huber, Europäische Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit in Bedrängnis, Der Staat 56 (2017), 389 (389); Kersten, Parlamentarismus und Populismus, JuS 2018, 929 (929 f.); Manow, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, 2020, S. 15; Schmidt-Aßmann, Stand und Perspektiven des demokratischen Prinzips, in: Broemel/Pilniok (Hrsg.), Die digitale Gesellschaft als Herausforderung für das Recht in der Demokratie, 2020, S. 11 (12); Tóth, Authoritarianism, MPECCoL (Stand: Februar 2017), Rn. 5; Volkmann, Krise der konstitutionellen Demokratie?, Der Staat 58 (2019), 643 (643 f., 649). Vgl. auch die Länderkapitel in Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018.
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
lichkeit und der Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören („Werteverbund“226). Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind diese Werte allen Mitgliedstaaten einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Männern und Frauen auszeichnet.227 Erstens fragt es sich, wie die weitere Zusammenarbeit in der EU und ihren Organen mit Staaten aussehen kann, welche die verbindenden und begründenden Werte der EU aufkündigen.228 Hier ist zunächst die EU zu einer Reaktion gezwungen, z.B. durch Vertragsverletzungsverfahren und die Verfahren gem. Art. 7 EUV.229 Aber auch die Mitgliedstaaten, die indes hierfür kaum geeignete Mittel haben, müssen reagieren. So hat zwar das OLG Karlsruhe am 17.2.2020 – soweit ersichtlich – als erstes deutsches230 Gericht entschieden, wegen der Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit in Polen einen Auslieferungshaftbefehl gegen einen in Auslieferungshaft befindlichen polnischen Verfolgten aufzuheben.231 In der Folge werden solche Entscheidungen – so begründet sie im Einzelfall sein mögen – die Europäische Union, deren Rechtsordnung von der gegenseitigen Anerkennung lebt, vor große Herausforderungen stellen. 226 Calliess, Europa als Wertegemeinschaft – Integration und Identität durch europäisches Verfassungsrecht?, JZ 2004, 1033 (1041–1045). 227 Hierzu Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 2 EUV Rn. 30 f.; C. Möllers, Die Staatsrechtswissenschaft bei Anbruch der Dämmerung, Der Staat 56 (2017), 485 (487) hingegen kritisiert, dass diese Norm so viele Werte lose aneinanderreiht, „dass letztlich axiomatisch unklar bleiben muss, was sie genau schützt“. Schorkopf, Der Wertekonstitutionalismus der Europäischen Union, JZ 2020, 477 (482) kritisiert, dass über Art. 2 EUV die Kompetenzabgrenzung zwischen den Mitgliedstaaten und der EU überspielt werden könne. 228 Vgl. hierzu C. Möllers/Li. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, 2018; Pech/Scheppele, Illiberalism Within: Rule of Law Backsliding in the EU, Cambridge Yearbook of European Legal Studies 19 (2017), 3 ff.; Voßkuhle, Rechtsstaat unter Druck, in: Die Zeit v. 27.9.2018, Nr. 40, S. 6. 229 Siehe zu den Reaktionen der EU Pech/Scheppele, Illiberalism Within: Rule of Law Backsliding in the EU, Cambridge Yearbook of European Legal Studies 19 (2017), 3 ff. 230 Auf eine Vorlage des High Court of Ireland hat der EuGH entschieden, dass, trotz des Vertrauens der Mitgliedstaaten untereinander und des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung, dem Auslieferungsgesuch unter außergewöhnlichen Umständen ausnahmsweise keine Folge zu leisten ist, wenn die zuständige Stelle „nach einer konkreten und genauen Prüfung des Einzelfalls feststellt, dass es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die dieser Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach ihrer Übergabe an die ausstellende Justizbehörde einer echten Gefahr ausgesetzt sein wird, dass ihr Grundrecht auf ein unabhängiges Gericht verletzt und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird“, EuGH, Urt. v. 25.7.2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 73 – Minister for Justice and Equality/LM. Hierzu Daly, Between Fear and Hope: Poland’s Democratic Lessons for Europe (and Beyond); European Constitutional Law Review 15 (2019), 752 (763). 231 OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.2.2020 – Ausl 301 AR 156/19, BeckRS 2020, 1720. Siehe in diesem Zusammenhang auch Kulick, Rechtsstaatlichkeitskrise und gegenseitiges Vertrauen im institutionellen Gefüge der EU, JZ 2020, 223 ff.
II. Demokratische Dekonsolidierung als Herausforderung für die Rechtsordnung
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Zweitens berufen sich die Vertreter der illiberalen Staaten auf vermeintlich vergleichbare Regelungen oder das Fehlen von Regelungen in anderen – als Demokratien anerkannten – Staaten.232 Damit soll gegenüber den Kritikern die Bedeutung oder Gefahr der nationalen Regelungen in Abrede gestellt und sollen Kritiker der Doppelmoral bezichtigt werden.233 Diese ersten beiden Verbindungslinien werden hier nicht weiterverfolgt, auch wenn sie zeigen, dass der Umgang mit den zuvor skizzierten Phänomenen auf europäischer Ebene ebenfalls schwerfällt. Ausgangspunkt dieser Arbeit ist vielmehr die dritte Verbindungslinie, inwieweit ein vergleichbarer demokratischer Rückschritt auch in der Bundesrepublik Deutschland möglich wäre und wie ihm begegnet werden könnte.234 Die Schwäche des Gewaltenteilungsgrundsatzes wurde bereits aufgezeigt. Die Diskussionen über und in Polen sowie Ungarn belegen überdies, dass sich eine demokratische Dekonsolidierung nicht sicher ausschließen lässt.
1. Ein fiktives Szenario: Die Coronadiktatur Dass und wie eine demokratische Dekonsolidierung in Deutschland erfolgen könnte, sei anhand eines fiktiven, aber nicht gänzlich unvertrauten Szenarios dargestellt. a) Zum Schutze der Bevölkerung Zu Beginn des Jahres 2020 tritt in einem weit entfernten Land eine bislang unbekannte Viruserkrankung auf. Erkenntnisse über den Erreger, seine Wirkung, Verbreitungsweise und etwaige Bekämpfungsmöglichkeiten liegen anfänglich wegen der Neuartigkeit des Virus noch nicht vor. Jedoch wird schnell deutlich, dass die Krankheit tödlich verlaufen kann. Das Virus breitet sich in einer global vernetzten Welt rasch aus und wird auch in Deutschland nachgewiesen. Die Krankenhäuser füllen sich mit immer mehr Patienten, die aufwendiger intensivmedizinischer Betreuung bedürfen. Zum Schutz der Bevölkerung werden in allen Bundesländern Kontaktverbote ausgesprochen. Personen, die nicht in einem Haushalt leben, dürfen keinen physischen Kontakt zueinander aufnehmen. Diese Kontaktverbote gelten 232 Scheppele, The Rule of Law and the Frankenstate: Why Governance Checklists Do Not Work, Governance 26 (2013), 559 ff.; dies., Autocratic Legalism, University of Chicago Law Review 85 (2018), 545 (565–568). Speziell zu Europa Lübbe-Wolff, Das europäische Frankensteinproblem, in: F.A.Z. v. 13.1.2022, Nr. 10, S. 14. 233 Hierzu Grabenwarter, Constitutional Resilience (6.12.2018), Ziff. II b), https://ver fassungsblog.de/constitutional-resilience/ (Stand: 10.8.2023). 234 Das ist auch die Frage, der Fahrner, Vulnerabilität und Resilienz der freiheitlichen Demokratie, 2022 im Hinblick auf die freiheitliche demokratische Grundordnung nachgeht.
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
für das gesamte Bundesgebiet. Bei Verstößen werden Bußgelder verhängt. Verund Ansammlungen werden, sofern sie sich überhaupt bilden, rasch aufgelöst, und die als Folge des Rechtsverstoßes verhängten Bußgelder sind empfindlich. Da es zu Beginn der Pandemie auf einer Karnevalsfeier zu zahlreichen Infektionen kam und die Verfolgung der Infektionsketten mühsam und zeitaufwendig ist, wird eine „App“ für Smartphones entwickelt, die verpflichtend ist. Die Daten werden zunächst auf unbekannte Zeit gespeichert, sie sollen der Wissenschaft umfassend zur Verfügung stehen. Später erleichtern sie aber auch den Ordnungsbehörden die Ahndung von Verstößen gegen die neuen Gesetze. Die Bundesregierung und die Landesregierungen drängen die Bevölkerung zur Vorsicht und häuslichen Abschottung. Dramatische Bilder aus Staaten, die noch stärker von der Viruspandemie betroffen sind und hohe Todesopfer zu beklagen haben, bestärken die Regierung in ihrem Kurs, der auch in der Bevölkerung hohe Zustimmung findet. Zur effektiven Gefahrenbekämpfung erteilen Bundestag und Bundesrat der Bundesregierung per Gesetz die Kompetenz, alle im Zusammenhang mit der Pandemie erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Aus Sicherheitsgründen vermeidet auch das Parlament seine Zusammenkunft. Die bevorstehende Bundestagswahl wird auf unbestimmte Zeit verschoben. Zwei am BVerfG freiwerdende Richterstellen, für welche die Opposition das Vorschlagsrecht hatte, werden einstweilen nicht nachbesetzt. Die Fachgerichte sollen ihren Betrieb so weit wie möglich einstellen, um ebenfalls die Verbreitung des Virus zu verhindern. Da sich die Lage über Wochen kaum bessert, werden immer drastischere Maßnahmen ergriffen, während die Angst in der Bevölkerung wächst und die Medien ein noch aktiveres und noch entschlosseneres Handeln der Politik fordern. b) Zur Sprengung der Verfassungsordnung Dieses soeben geschilderte Szenario entspricht nicht in jeder Hinsicht den tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten in der Bundesrepublik Deutschland während der Coronapandemie. Durch die Übertreibungen wird jedoch die mögliche Dynamik besonders plastisch. Die tatsächlichen Geschehnisse in anderen Staaten, insbesondere in solchen mit autokratischen Regierungen oder mit einer demokratischen Dekonsolidierung, zeigen, wie leicht sich mit vermeintlich guten Absichten demokratische und rechtsstaatliche Kernelemente schleifen lassen. Speziell auf die Versammlungsfreiheit bezogen wird deutlich, dass flächendeckende Kontaktverbote, zumal über längere Zeiträume, bei gleichzeitig fehlendem Rechtsschutz das Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG praktisch leerlaufen lassen. Dabei mag man sich über die einzelnen ergriffenen Maßnahmen streiten. Möglicherweise sind die meisten Maßnahmen für sich genommen (noch) zumutbar und verhältnis-
II. Demokratische Dekonsolidierung als Herausforderung für die Rechtsordnung
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mäßig. Die Kumulation aller dieser Maßnahmen, die von verschiedenen Hoheitsträgern (Bund, Länder, Kommunen) ergriffen werden, führt jedoch im Ergebnis dazu, dass von der Versammlungsfreiheit kaum etwas verbleibt. Die Covid-19-Pandemie veranschaulicht besonders deutlich, weshalb es der rechtzeitigen Ermittlung von Verfassungsinhalten und Verfassungsverständnissen bedarf. Nach Auftreten der Pandemie waren auch die Gerichte mit der neuartigen Lage konfrontiert. In Eilbeschlüssen musste in kürzester Zeit über schwierige Rechtsfragen entschieden werden.235 Muße, um z.B. über die Wesensgehaltsgarantie zu sinnieren, hatte kein Richter. Gleichzeitig erschien es sinnvoll, von staatlicher Seite gegen die Pandemie vorzugehen. Angesichts der zunächst unklaren Faktenlage erschien es auch schwierig, die Maßnahmen aufzuheben. Sofern es überhaupt zu Erörterungen der Wesensgehaltsgarantie kam, wurde diese relativ verstanden und im Ergebnis mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip gleichgesetzt.236 Schließlich ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip vertraut und wird in der täglichen Arbeit sicher beherrscht. Allenfalls in Randbereichen, z.B. bei einzelnen Versammlungsauflagen, wurde ein Verstoß gegen Art. 19 II GG angenommen, dieser aber in der Regel nicht vertieft begründet.237 Das ist angesichts der Kürze der Zeit im Eilrechtsschutz durchaus nachvollziehbar. Interessanterweise gingen gerade die Oberverwaltungsgerichte bzw. Verwaltungsgerichtshöfe weniger als die erstinstanzlichen Verwaltungsgerichte auf die Wesensgehaltsgarantie ein;238 das BVerfG hat, soweit ersichtlich, in den Coronaentscheidungen auf Art. 19 II GG überhaupt nicht Bezug genommen, selbst nicht in der grundlegenden Entscheidung Bundesnotbremse I.239 Es konnte sich mit der Folgenabwägung, fehlenden Ermessenserwägungen, der Überschreitung der gesetzlichen Grundlage, fehlender Substanziierung und ähnlichen Argumentationsmustern, die nicht im Zusammenhang mit Art. 19 II GG stehen, behelfen.240 Auch in der Literatur finden sich eher tastende Aussagen, wonach es nicht ausgeschlossen erscheine, dass 235
Siehe pars pro toto VG Hannover, Beschl. v. 27.3.2020 – 15 B 1968/20, BeckRS 2020,
4665. 236 OVG Weimar, Beschl. v. 10.4.2020 – 3 EN 248/20, Rn. 30, BeckRS 2020, 6395; OVG Bautzen, Beschl. v. 30.4.2020 – 3 B 148/20, Rn. 34, BeckRS 2020, 9349; VG Hamburg, Beschl. v. 17.4.2020 – 15 E 1640/20, Rn. 21, BeckRS 2020, 6394; VG Hamburg, Beschl. v. 29.4.2020 – 11 E 1790/20, Rn. 5, BeckRS 2020, 7213. 237 VG Köln, ZD 2020, 431, VG Köln, COVuR 2020, 211 (212), wo aber jeweils mit der abschreckenden Wirkung und der Intensität des Grundrechtseingriffs argumentiert wird, was in Richtung Verhältnismäßigkeitsprüfung deutet; VG Mainz, Beschl. v. 2.6.2020, 1 L 361/20.MZ, Rn. 17 f., BeckRS 2020, 13462. 238 Eher vermeidend z.B. OVG Münster, NVwZ-RR 2021, 162 (164); OVG Münster, Beschl. v. 23.9.2020 – 15 B 1421/20, Rn. 10, BeckRS 2020, 24542. 239 BVerfGE 159, 223 ff. 240 Siehe beispielsweise BVerfG(K), NJW 2020, 1426 (1427); BVerfG(K), NVwZ 2020, 711 (712 f.); BVerfG(K), NVwZ-RR 2020, 761 (762); BVerfG(K), Beschl. v. 28.8.2020 – 1 BvQ 92/20, Rn. 2 f., BeckRS 2020, 27792; BVerfG(K), NVwZ 2020, 1749 (1750 f.).
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
der Wesensgehalt des Art. 19 II GG angetastet werde oder man dem sehr nahekomme.241 Deutlich wird, dass im Krisenfalle keine Zeit besteht, Maßstäbe erst zu entwickeln. Da der Zeitpunkt des Kriseneintritts aber unbekannt ist, müssen die rechtlichen Grundlagen stets, konstant und damit auch jetzt hinreichend sicher ermittelt werden bzw. sein. Hieran fehlt es jedoch u.a. im Hinblick auf Art. 19 II GG. Dabei hat Peter Lerche schon 1961 mit Blick auf die Wesensgehaltsgarantie darauf hingewiesen, dass sie „bedrohliche Entwicklungen zu rechter Zeit“ abfangen könne und wohl auch solle.242 Der Druck zeitlicher und inhaltlicher Art gestattet es nicht, erstmals mit nicht erprobten, noch nicht anerkannten oder nicht sicher ermittelten Rechtsregeln und Argumentationsfiguren zu operieren. Fritz Ossenbühl hat dies in kleinerem Maßstab für die Versammlungsfreiheit unter dem Grundgesetz festgestellt.243 Das betrifft zum einen – wie soeben gesehen – die kontrollierenden Gerichte, aber zum anderen auch und erst recht die Legislative und die Exekutive. Sie müssen sich bei ihrer Tätigkeit ebenfalls an Art. 19 II GG halten und hierfür dessen Inhalt kennen. Im Hinblick auf Versammlungen lassen sich vier Regelungsmuster in der Covid-19-Pandemie erkennen. Das erste besteht darin, Versammlungen von den Kontaktverboten auszunehmen und das bislang geltende Versammlungsrecht beizubehalten. So ist jedoch allein die Freie Hansestadt Bremen vorgegangen.244 Alle anderen Bundesländer erließen ausdrückliche ausnahmslose Versammlungsverbote, mittelbare ausnahmslose Versammlungsverbote (über Kontaktverbote) oder repressive Versammlungsverbote mit Befreiungsvorbehalt.245 Hätte mehr Klarheit über den Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit bestanden, insbesondere im Hinblick auf Genehmigungsvorbehalte,246 wäre bereits frühzeitig der Hinweis möglich gewesen, dass generelle Versammlungsverbote den Wesensgehalt antasten und verfassungswidrig sind. Das fiktive Szenario ist in der Bundesrepublik nicht eingetreten, aber es zeigt, dass es der Befassung mit der demokratischen Dekonsolidierung bedarf.
241
Schmitz/Neubert, Praktische Konkordanz in der Covid-Krise, NVwZ 2020, 666
(669). 242
Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 244. Ossenbühl, Versammlungsfreiheit und Spontandemonstration, Der Staat 10 (1971), 53 (56 f.). 244 Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 3. Aufl. 2022, S. 353. Hierzu auch S. Martini/Plöse, Politische „Bewegung an der frischen Luft“ – Teil I: Versammlungsermöglichung im gesperrten öffentlichen Raum (31.3.2020), https://www.ju wiss.de/42–2020/ (Stand: 10.8.2023); Völzmann, Versammlungsfreiheit in Zeiten von Pandemien, DÖV 2020, 893 (893 f.). 245 Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 3. Aufl. 2022, S. 353–358 m.w.N. 246 Siehe hierzu unten E. II. 2. b) dd) (2). 243
II. Demokratische Dekonsolidierung als Herausforderung für die Rechtsordnung
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2. Bisherige Schwerpunkte rechtswissenschaftlicher Forschung im Zusammenhang mit dem Schutz der Demokratie und Abgrenzungen Der Schutz der Demokratie ist eine permanente Herausforderung und hat sich nicht mit der einmaligen Etablierung eines demokratisch-parlamentarischen Regierungssystems mit freien Wahlen und Grundrechtsschutz erledigt.247 Vielmehr gilt die Aussage des Zweiten Senats des BVerfG im Urteil zum zweiten NPD-Parteiverbotsverfahren: „Die Sicherung der Stabilität der demokratischen Strukturen im Geltungsbereich des Grundgesetzes bleibt eine Daueraufgabe.“248
Dies wird derzeit ernster und breiter diskutiert als noch vor einigen Jahren.249 Ende des Jahres 2018 fand ein Workshop „Constitutional Resilience“ des Centers for Global Constitutionalism des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) statt, auf welchem Fragen der demokratischen Dekonsolidierung diskutiert wurden.250 Zunehmend wendet sich die rechtswissenschaftliche Forschung nicht nur den üblichen Verdächtigen (Polen und Ungarn), sondern auch der deutschen Rechtsordnung zu. So wird in einem Aufsatz aus dem Jahr 2020 das Beispiel gebracht, dass eine Bundesregierung mittels einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat parteipolitisch „zuverlässige“ Richter am BVerfG wählt, das Höchstalter für Richter absenkt und sich weigert, unliebsame Entscheidungen des BVerfG anzuerkennen251 – also die aus Polen und Ungarn bekannten Techniken anwendet.252 Für die Untersuchung auf der bundesdeutschen Landesebene hat der Verfassungsblog 2023 das Thüringen-Projekt initiiert.253 Die vielfältige wissenschaftliche Befassung mit dem Schutz der Demokratie im In- und Ausland belegt, dass Forschungsbedarf gegeben ist, insbesondere 247
BVerfGE 144, 20 (198). BVerfGE 144, 20 (198). 249 Siehe die zahlreichen Nachweise oben unter A., insbes. Fn. 7–37 sowie Fahrner, Vulnerabilität und Resilienz der freiheitlichen Demokratie, 2022. 250 Die Berichte sind unter www.verfassungsblog.de unter dem Suchbegriff „constitutional resilience“ einsehbar. 251 Kulick, Rechtsstaatlichkeitskrise und gegenseitiges Vertrauen im institutionellen Gefüge der EU, JZ 2020, 223 (223 f.). 252 Vom politik- und rechtswissenschaftlichen Fachdiskurs ist die Frage der demokratischen Dekonsolidierung sogar in den Fokus der breiten Öffentlichkeit gewandert. So fragen große Tageszeitungen, ob ein Bundeskanzler mit den Mitteln der Verfassung das Grundgesetz aushebeln könnte, so Steinbeis, Ein Volkskanzler (6.9.2019), https://www.sueddeut sche.de/kultur/volkskanzler-gastbeitrag-steinbeis-1.4588860?reduced=true (Stand: 10.8.2023), und wie man das Grundgesetz vor seinen Feinden schützt, so Bubrowski, Wie schützt man das Grundgesetz vor seinen Feinden? (7.11.2019), https://www.faz.net/aktuell/poli tik/inland/wie-schuetzt-man-das-grundgesetz-vor-seinen-feinden-16470117.html (Stand: 10.8.2023). 253 https://verfassungsblog.de/das-thuringen-projekt/ (Stand: 10.8.2023). 248
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
weil noch keine rechtliche Handhabe gegen eine demokratische Dekonsolidierung entwickelt wurde. Diese Forschungslücke versucht die vorliegende Arbeit zu schließen, die sich hierdurch von den bisherigen Forschungsansätzen zum Schutz der Demokratie abgrenzt. Zuvor sei der gegenwärtige Forschungsstand im Hinblick auf den Schutz der Demokratie dargestellt. Aktuell lässt sich die Literatur zur Sicherung der Demokratie grob in vier Bereiche unterteilen. Ein Teil der Forschung befasst sich mit der wehrhaften Demokratie (a]). Eine andere Strömung ermittelt Vorschriften des „materiellen“ Verfassungsrechts, die nicht im Verfassungstext niedergelegt und deshalb einer Abänderung mit einfacher Mehrheit zugänglich sind (b]). Weiterhin wächst die Befassung auch im rechtswissenschaftlichen Schrifttum mit dem Phänomen „Populismus“ (c]). Schließlich gibt es intensive Forschung zu den Gelingensbedingungen der Demokratie (d]). a) Wehrhafte Demokratie Forschung zur „wehrhaften Demokratie“254 mit den Regelungen über Parteiund Vereinsverbote, über das Widerstandsrecht, zur Grundrechtsverwirkung und mit der Ewigkeitsgarantie wird man in der Rechtswissenschaft als klassisch bezeichnen können.255 Hinzugekommen ist in jüngerer Zeit das Instrument des Ausschlusses von der Parteienfinanzierung nach Art. 21 III GG.256 Auf diese Fragen wird unten genauer eingegangen werden. Hierbei wird jedoch stets die Parallele zur Weimarer Republik gezogen. Dies ist im Ansatz ebenso richtig wie unvermeidbar. Schließlich ist die wehrhafte Demokratie des Grundgesetzes eine Reaktion auf das Scheitern der Weimarer Republik. Möglicherweise verstellt diese Perspektive aber den Blick dafür, dass der heutige Kontext ein anderer ist und sich deshalb ggf. auch die Gefahren für die liberale Demokratie unterscheiden. Auch wenn der Vergleich von Bonn bzw. Berlin mit Weimar257 in 254
Siehe hierzu unten C. IV. 1.–C. IV. 1. d). Hierzu die Beiträge in Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003 und ausführlich unten C. IV. 1.–C. IV. 1. e), C. III. 6. c) aa) und cc), C. III. 6. e) ee) sowie C. III. 6. f). 256 Vgl. Ipsen, Das Ausschlussverfahren nach Art. 21 Abs. 3 GG – ein mittelbares Parteienverbot?, JZ 2017, 933 ff.; M. Müller, Der Ausschluss von der staatlichen Finanzierung als milderes Mittel zum Parteiverbot – Zur Systematik von Art. 21 n.F. GG, DVBl. 2018, 1035 ff.; Shirvani, Parteienfinanzierungsausschluss als verfassungsrechtliche Ausprägung streitbarer Demokratie, DÖV 2018, 921 ff. sowie unten C. III. 6. e) bb). 257 So bereits Allemann, Bonn ist nicht Weimar, 1956, S. 411. Neben dem Titel des Werks trägt auch das IX. Kapitel die Überschrift „Bonn ist nicht Weimar“. Siehe auch Birrenbach, Sind Symptome von Weimar in der Bundesrepublik Deutschland erkennbar?, in: Erdmann/ Schulze (Hrsg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, 1980, S. 11–22; Di Fabio, Die Weimarer Verfassung, 2018, S. 5–8; Friesenhahn, Zur Legitimation und zum Scheitern der Weimarer Reichsverfassung, in: Erdmann/Schulze (Hrsg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, 1980, S. 81 (81 f.); Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 3. Aufl. 1999; hierzu M. Will, Ephorale Verfassung, 2017, S. 478 f., 496–500. 255
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der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland immer wieder angestellt wurde und die Weimarer Verfassung als „Negativbild“ diente,258 muss sich die derzeitige rechtswissenschaftliche Diskussion von früheren Debatten dieser Art unterscheiden. Erstens geht es nicht um einen etwaigen deutschen „Sonderweg“, sondern im Gegenteil darum, ob die Bundesrepublik Teil eines globalen Trends259 demokratischer Dekonsolidierung wird. In dieser Wissenschaftsdebatte wird darauf hingewiesen, dass auch ältere Demokratien vor einem demokratischen Rückschritt nicht gefeit seien260 und das Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) zeige, dass auch in den klassischen westlichen Demokratien das System der „checks and balances“ herausgefordert werde.261 An258 Grimm, Die Bedeutung der Weimarer Verfassung in der deutschen Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. 1992, S. 1; K. Groh, Zwischen Skylla und Charybdis, in: Gusy (Hrsg.), Weimars langer Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, 2003, S. 425 (426). Siehe hierzu Wahl, Die Weimarer Verfassung vor ihrem 100-jährigen Jubiläum, Der Staat 57 (2018), 321 ff. 259 So C. Möllers, Die Staatsrechtswissenschaft bei Anbruch der Dämmerung, Der Staat 56 (2017), 485 (485). Ähnlich Choudhry, Resisting democratic backsliding: An essay on Weimar, self-enforcing constitutions, and the Frankfurt School, Global Constitutionalism 7 (2018), 54 (55); Daly, Between Fear and Hope: Poland’s Democratic Lessons for Europe (and Beyond); European Constitutional Law Review 15 (2019), 752 (753, 754); Daly, Democratic Decay: Conceptualising an Emerging Research Field, Hague Journal on the Rule of Law 11 (2019), 9 (10, 11 f.); Diamond/Plattner/Walker, Introduction, in: Diamond/Plattner/Walker (Hrsg.), Authoritarianism Goes Global, 2016, S. 3 (4); Di Fabio, Die Weimarer Verfassung, 2018, S. 19; Graber/Levinson/Tushnet, Constitutional Democracy in Crisis?, in: Graber/ Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 1 (1, 3 f.); P.M. Huber, Europäische Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit in Bedrängnis, Der Staat 56 (2017), 389 (389); Kersten, Parlamentarismus und Populismus, JuS 2018, 929 (929 f.); Manow, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, 2020, S. 15; Schmidt-Aßmann, Stand und Perspektiven des demokratischen Prinzips, in: Broemel/Pilniok (Hrsg.), Die digitale Gesellschaft als Herausforderung für das Recht in der Demokratie, 2020, S. 11 (12); Tóth, Authoritarianism, MPECCoL (Stand: Februar 2017), Rn. 5; Volkmann, Krise der konstitutionellen Demokratie?, Der Staat 58 (2019), 643 (643 f., 649). Vgl. auch die Länderkapitel in Graber/ Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018. 260 Rose-Ackerman, Beyond Electoral Mandates – Oversight and Public Participation (7.12.2018), https://verfassungsblog.de/beyond-electoral-mandates-oversight-and-publicparticipation/ (Stand: 10.8.2023). Auch in Österreich und Italien waren populistische Parteien in die Regierungen eingebunden, in den Niederlanden und Frankreich gibt es starke populistische Oppositionsparteien. Zu Frankreich vgl. Fournier, From rhetoric to action, a constitutional analysis of populism, German Law Journal 20 (2019), 362 (375–380). 261 Huq/Ginsburg, How to Lose a Constitutional Democracy, UCLA Law Review 65 (2018), 78 ff., (insbes. 162 ff.) stellen ganz direkt die Frage, ob die USA Gefahr liefen, eine demokratische Dekonsolidierung zu erleben; Choudhry, Resisting democratic backsliding: An essay on Weimar, self-enforcing constitutions, and the Frankfurt School, Global Constitutionalism 7 (2018), 54 (54). Siehe auch Grunenberg, Demokratie als Versprechen, 2022, S. 159; Steinmeier, Geschichte für die Republik, in: Steinmeier (Hrsg.), Wegbereiter der deutschen Demokratie, 2021, S. 11 (18); B.F. Walter, How Civil Wars Start, 2022. Huq, The Supreme Court and the Dynamics of Democratic Backsliding, Annals of the American Academy of Political and Social Science, Vol. 699 (2022), 50 (54–62) sieht sogar vier verschiedene Kategorien von „democratic backsliding“ in der Rechtsprechung des US Supreme Court.
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griffe auf die Demokratie werden auch für Großbritannien262 und Israel263, wo die Kompetenzen des Verfassungsgerichts beschnitten werden sollen, diskutiert. Zweitens sei bereits hier betont, dass bei aller Nützlichkeit und Sinnhaftigkeit von „wehrhaften“ Elementen in der Verfassung die Erwartungen an die „wehrhafte Demokratie“ zu hoch sind. Die Verfassung allein, selbst wenn sie „wehrhaft“ ist, wird die „Sicherung der Stabilität der demokratischen Strukturen im Geltungsbereich des Grundgesetzes“, von denen das BVerfG sprach,264 nicht bewerkstelligen können.265 Das wirft die Frage auf, wie die verfassungsmäßige Ordnung gesichert werden kann, wenn die hierfür eigentlich vorgesehenen Instrumente nicht so tauglich wie gedacht sind. De constitutione ferenda wird man positive Fördermaßnahmen wie in Südafrika in Betracht ziehen können. Drittens richten sich die Instrumente der wehrhaften Demokratie überwiegend gegen die Bürger und nicht gegen den Staat. Von diesem geht aber die Gefahr im Falle der demokratischen Dekonsolidierung aus. b) „Verfassungsfestigkeit“ als Forschungsgegenstand Ein weiterer Teil der deutschen rechtswissenschaftlichen Forschung, die sich gegenwärtig mit der demokratischen Dekonsolidierung befasst, fragt danach, ob und welche Regelungen des einfachen Rechts krisenfester gemacht, also in der Verfassung verankert werden müssen („Konstitutionalisierung“).266 Dieser Ansatz geht davon aus, dass sich das formelle und das materielle Verfassungsrecht nicht vollständig decken. Auf der einen Seite ist nicht alles, was in dem Verfassungsdokument textlich niedergelegt ist („Verfassung im formellen Sinne“) und an seiner erschwerten Abänderbarkeit teilhat, inhaltlich so bedeutsam für das Gemeinwesen, dass es zwingend dieses Verfassungsrangs bedürfte. Ein Beispiel hierfür dürfte Art. 27 GG darstellen, wonach alle deutschen Kauffahrteischiffe eine einheitliche Handelsflotte bilden. Trotz der fehlenden Bedeutung der Vorschrift267 handelt es sich formal um „Verfassungs262
Mount, Ein Angriff auf die Demokratie: Boris Johnsons fünf entsetzliche Gesetze, in: F.A.Z. v. 25.5.2022, Nr. 120, S. 12. 263 Vgl. Averbukh, Israels Staatsumbau (13.3.2023), https://verfassungsblog.de/israelsstaatsumbau/ (Stand: 10.8.2023); Harel, The Proposed Constitutional Putsch in Israel (14.3.2023), https://verfassungsblog.de/the-proposed-constitutional-putsch-in-israel/ (Stand: 10.8.2023). 264 BVerfGE 144, 20 (198). 265 Wahl, Die Weimarer Verfassung vor ihrem 100-jährigen Jubiläum, Der Staat 57 (2018), 321 (322). 266 Hinweis auf dieses Problem auch bei Kulick, Rechtsstaatlichkeitskrise und gegenseitiges Vertrauen im institutionellen Gefüge der EU, JZ 2020, 223 (223 f.). 267 Haratsch, in; Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 27 Rn. 1.
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recht“. Auf der anderen Seite sind Aspekte, die für die Verfassungsordnung von großer Bedeutung sind, nicht in der Verfassung im formellen Sinne geregelt, z.B. die bedeutsame Frage des Wahlsystems. Das BVerfG spricht im Hinblick auf das Wahlrecht von „Entscheidungen von großer Tragweite“.268 Die Verfasser des Grundgesetzes haben die Frage des Wahlsystems bewusst offengelassen269 und ihre Beantwortung dem einfachen Gesetzgeber überlassen (vgl. Art. 38 III GG). Das BVerfG formuliert: „Er [scil: der Gesetzgeber] hat damit ein Stück materiellen Verfassungsrechts offengelassen, das vom Wahlgesetzgeber auszufüllen ist.“270 Auch in einer anderen Entscheidung heißt es, dass der Gesetzgeber im Hinblick auf das Wahlsystem aufgerufen sei, „ein Stück materiellen Verfassungsrechts auszufüllen“.271 Auch wenn das Wahlsystem somit durch das Grundgesetz nicht vorgegeben ist,272 also nicht zur Verfassung im formellen Sinne gehört, hat es derart weitreichende Auswirkungen auf den politischen Prozess und die Verfassungsordnung, dass man die Bedeutung mit der Formulierung „materielles Verfassungsrecht“ zum Ausdruck bringen möchte.273 An diese Unterscheidung knüpft ein Forschungsansatz an. Bei der „Verfassungsfestigkeit“ oder auch „Konstitutionalisierung“ geht es darum, Rechtsmaterien oder einzelne Regelungen vom Status des nur materiellen Verfassungsrechts in den Rang auch des formellen Verfassungsrechts zu erheben. Auf diese Weise soll das bisherige nur „materielle“ Verfassungsrecht an der erschwerten Abänderbarkeit des „formellen“ Verfassungsrechts (Art. 79 I bis III GG) teilhaben. Hierbei wird v.a. auf das Wahlrecht und die Regelungen zum BVerfG verwiesen, die in weiten Teilen mit einfacher Mehrheit abänderbar sind und keiner Zustimmung des Bundesrats bedürften.274 Betrachtet man das Vorgehen in Polen und Ungarn, wird die Bedeutung sowohl des Wahl268
BVerfGE 95, 335 (349). So die Ansicht des BVerfG, siehe BVerfGE 95, 335 (349); 121, 266 (296); 131, 316 (335). Bei Füßlein, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 349 f. wird dies indes nicht sehr deutlich; klarer hingegen in Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 13/I, 2002, S. 7, 9, 14, 17, 26, Bd. 14/I, 2009, S. 27–31. Siehe zum Wahlgesetz und den dortigen Streitigkeiten Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 6, 1994, S. XXVII–XXXI. 270 BVerfGE 95, 335 (349) – Hervorhebung nicht im Original. 271 BVerfGE 121, 266 (296) – Hervorhebung nicht im Original. 272 Demgegenüber enthält die südafrikanische Verfassung nicht nur Wahlrechtsgrundsätze (Art. 1(d), Art. 19(2) FC), sondern verlangt auch, dass das Wahlrecht grundsätzlich zu einer proportionalen Repräsentation in der National Assembly führen muss, obwohl das Wahlsystem selbst durch einfache Gesetzgebung festzulegen ist, Art. 46(1) FC. 273 So auch Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 59–62, 75–79, 139–146, der auf S. 139–145 auf das Wahlrecht und das BVerfGG eingeht. 274 Steinbeis, It can happen here (20.1.2018), https://verfassungsblog.de/it-can-happenhere/ (Stand: 10.8.2023). Siehe auch Kulick, Rechtsstaatlichkeitskrise und gegenseitiges Vertrauen im institutionellen Gefüge der EU, JZ 2020, 223 (223 f.). 269
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rechts als auch des Rechts der Verfassungsgerichtsbarkeit besonders deutlich. Die Verfassungsgerichte als bedeutsame und nicht den Parlaments- und Regierungsmehrheiten zuzurechnende Institutionen können die Umgestaltung des Staates zumindest behindern. Ihre Entmachtung ist deshalb Voraussetzung, um weitere antidemokratische Maßnahmen ungehindert durchführen zu können. Mit unabhängigen Gerichten, insbesondere der Verfassungsgerichtsbarkeit,275 kann die zumeist – im doppelten Sinne des Wortes – entscheidende Instanz aus dem Spiel genommen werden276. In ähnlicher Weise wird die genauere Festlegung des Wahlrechts im Grundgesetz diskutiert,277 da mit einer einfachen Mehrheit das Bundeswahlgesetz (BWahlG) geändert werden kann. Dies vermag entscheidende Auswirkungen für die parlamentarische Mehrheit nach sich zu ziehen, wie die Beispiele Polen und Ungarn allzu eindringlich zeigen. Da – abgesehen von den Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 38 I 1 GG – alles Weitere lediglich durch ein einfaches Bundesgesetz bestimmt wird (Art. 38 III GG), eröffnen sich hier weitreichende Manipulationsmöglichkeiten für eine skrupellose einfache Bundestagsmehrheit. Nicht einmal die folgenschwere Entscheidung, ob ein Verhältnis- oder Mehrheitswahlrecht gilt, wird – anders als in Art. 22 I 1 WRV – vom Grundgesetz getroffen, sondern vielmehr dem einfachen Bundesgesetzgeber überlassen.278 Fragen der verfassungsrechtlichen Regulierung des Internets279 werden ebenfalls zunehmend erörtert. Hierbei wird auch die Frage aufgeworfen, inwieweit das Medienrecht der verfassungsrechtlichen Verankerung bedarf.280
275 Siehe zum historischen österreichischen Beispiel Müller-Franken, Beschränkungen der Wirksamkeit von Verfassungsgerichten durch Gesetze, AöR 142 (2017), 276 (280 f.). 276 Die Gerichte als Schiedsrichter aus dem Spiel zu nehmen, ist eine klassische Strategie autoritärer Regierungen, vgl. Levitsky/Ziblatt, How Democracies Die, 2018, S. 78–81, 92, passim. 277 Bertel, Konstitutionalisierung des Wahlrechts als Beitrag zur Stabilisierung der Demokratie?, in: Donath et al. (Hrsg.), Verfassungen – ihre Rolle im Wandel der Zeit, 2019, S. 243 ff. 278 Bertel, Konstitutionalisierung des Wahlrechts als Beitrag zur Stabilisierung der Demokratie?, in: Donath et al. (Hrsg.), Verfassungen – ihre Rolle im Wandel der Zeit, 2019, S. 243 (245, 248); A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S. 23. In historischer Perspektive Smend, Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung durch die Verhältniswahl, in: Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 4. Aufl. 2010, S. 60 ff. 279 Vgl. Härtel, Digitalisierung im Lichte des Verfassungsrechts – Algorithmen, Predictive Policing, autonomes Fahren, LKV 2019, 49 ff.; W. Werner, Schutz durch das Grundgesetz im Zeitalter der Digitalisierung, NJOZ 2019, 1041 ff. 280 Hong, “Constitutional resilience – How can a Democratic constitution survive an autocratic majority?”: Freedom of Speech, Media and Civil Society in Hungary and Poland (9.12.2018), https://verfassungsblog.de/constitutional-resilience-how-can-a-democraticconstitution-survive-an-autocratic-majority-freedom-of-speech-media-and-civil-society-inhungary-and-poland/ (Stand: 10.8.2023).
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Dieser Forschungsstrang der Verfassungsfestigkeit bedarf der Vertiefung und Erweiterung. Insbesondere muss eine gründliche Bestandsaufnahme erfolgen, welche Regelungen des einfachen Rechts „Verfassungsrecht im materiellen Sinne“ darstellen und einer verfassungsrechtlichen Absicherung bedürfen. Dies dürfte beim Wahlrecht, auch wenn es, formal gesehen, lediglich einfaches Recht ist, in weiten Teilen der Fall sein.281 Die Beispiele Polen und Ungarn zeigen, wie schnell mit etwas juristischer Phantasie und einer gehörigen Portion Desinteresse für demokratische Konventionen die verfassungsmäßige Ordnung durch einfachgesetzliche Maßnahmen umgestaltet und beschädigt werden kann.282 Jedoch darf auch die demokratische Mehrheit nicht um des kurzfristigen politischen Erfolgs willen die Grundlagen der Demokratie kompromittieren. Deshalb muss bei allen Konstitutionalisierungsbestrebungen sorgfältig geprüft werden, ob die Aufnahme von Vorschriften in das Grundgesetz tatsächlich rechtlich sachlich geboten ist oder bloße Parteipolitik darstellt. Dieser Forschungsstrang soll hier indes nicht vertieft werden, da er Verfassungsänderungen zum Ziel hat und er de constitutione ferenda argumentiert. Ansatz dieser Arbeit ist demgegenüber, was das derzeit bereits geltende Verfassungsrecht einer demokratischen Dekonsolidierung entgegenzusetzen vermag.283 c) Populismus Teilweise wird die Gefährdung der liberalen Demokratie im Zusammenhang mit „Populismus“ diskutiert,284 welcher selbst keinen Rechtsbegriff dar281 Bertel, Konstitutionalisierung des Wahlrechts als Beitrag zur Stabilisierung der Demokratie?, in: Donath et al. (Hrsg.), Verfassungen – ihre Rolle im Wandel der Zeit, 2019, S. 243 (244). 282 Allerdings darf nicht verkannt werden, dass die Konstitutionalisierung einen Preis hat. Da die Verfassung des Grundgesetzes im Vergleich zu einem einfachen Gesetz nur erschwert abänderbar ist (Art. 79 II GG), ist auch schneller eine Blockademinorität erreicht. Sollte beispielsweise de constitutione ferenda im Grundgesetz festgelegt werden, dass die Richterinnen und Richter des BVerfG mit Zweidrittelmehrheit zu wählen sind (vgl. derzeit § 6 I 2, § 7 BVerfGG), so wäre diese Regel zwar erschwert abänderbar und Richterkandidaten mit extremeren Ansichten hätten geringere Chancen, gewählt zu werden (vgl. Engst et al., Zum Einfluss der Parteinähe auf das Abstimmungsverhalten der Bundesverfassungsrichter – eine quantitative Untersuchung, JZ 2017, 816 ff.). Allerdings könnte eine Minderheit von einem Drittel die Wahl von Richterinnen oder Richtern gänzlich verhindern. Welche Folgen es haben kann, wenn in einem Spruchkörper freiwerdende Richterstellen nicht nachbesetzt werden, zeigt sich derzeit am Beispiel der Welthandelsorganisation (WTO), vgl. Glöckle/Würdemann, Die Appellate Body-Krise der WTO – eine Analyse der US-Kritikpunkte, EuZW 2018, 976 ff.; Wilske/Markert/Ebert, Entwicklungen in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit im Jahr 2019 und Ausblick 2020, SchiedsVZ 2020, 97 (117 f.). 283 Siehe unten B. I. 1. 284 Issacharoff, Populism versus Democratic Governance, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 445 ff.; Magen, Kontexte der Demo-
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stellt,285 aber gleichwohl Auswirkungen im Recht und auf das Recht hat oder zumindest haben kann.286 Populismus ist gekennzeichnet durch eine Verachtung der „korrupten“ Eliten, eine (Über-)Betonung des „reinen“ Volks als einer homogenen Einheit (Anti-Pluralismus) sowie eine Entgegensetzung von Volk und Eliten, wobei dem „wahren“ bzw. „reinen“ Volk ein Alleinvertretungsanspruch zukommt.287 Die vorliegende Arbeit verfolgt keinen spezifischen auf Populismus bezogenen Ansatz, auch wenn in Teilbereichen Überschneidungen vorhanden sind. Populistische Parteien, die einen Alleinvertretungsanspruch verfolgen und es dem politischen Wettbewerber nicht zugestehen, dass dieser die Mehrheit erlangt (hat), lassen das demokratische Ethos288 vermissen und sind als die Demokratie destabilisierend einzuschätzen.289 Es macht aber einen Unterschied, ob eine populistische Partei in der Regierung vertreten ist, möglicherweise die Parlamentsmehrheit erringt, oder nicht.290 In beiden Fällen stellen sich unterschiedliche Rechtsfragen. In dieser Arbeit richtet sich der Blick auf die Parteien, ob populistisch oder nicht, die eine Mehrheit errungen haben, sodass sie diese zur Umgestaltung der Rechtsordnung einsetzen können. Insbesondere wird unabhängig von Fragen des Populismus untersucht, wie der gezielte Einsatz des Rechts zur Abschaffung der liberalen Demokratie verhindert werden kann.
285 kratie: Parteien – Medien – Sozialstrukturen, VVDStRL 77 (2018), 67 (70–75); J.-W. Müller, Populism and Constitutionalism, in: Rovira Kaltwasser et al. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Populism, 2017, S. 590 ff.; Rummens, Populism as a Threat to Liberal Democracy, in: Rovira Kaltwasser et al. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Populism, 2017, S. 554 ff. 285 Dörr, Völkerrechtliche Grenzen des Populismus? Der amerikanische Präsident und das geltende Völkerrecht, JZ 2018, 224 (224). 286 Siehe hierzu Kersten, Parlamentarismus und Populismus, JuS 2018, 929 ff.; Voßkuhle, Demokratie und Populismus, Der Staat 57 (2018), 119 ff. Aus der völkerrechtlichen Perspektive Dörr, Völkerrechtliche Grenzen des Populismus? Der amerikanische Präsident und das geltende Völkerrecht, JZ 2018, 224 ff.; Krieger, Populist Governments and International Law, European Journal of International Law 30 (2019), 971 ff. 287 Barber, Populist leaders and political parties, German Law Journal 20 (2019), 129 (130 f.); Kersten, Parlamentarismus und Populismus, JuS 2018, 929 (929 f.); J.-W. Müller, Populism and Constitutionalism, in: Rovira Kaltwasser et al. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Populism, 2017, S. 590 (590, 592–596); Rummens, Populism as a Threat to Liberal Democracy, in: Rovira Kaltwasser et al. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Populism, 2017, S. 554 (559); Tushnet, Varieties of populism, German Law Journal 20 (2019), 382 (382); Voßkuhle, Demokratie und Populismus, Der Staat 57 (2018), 119 (121 f.). 288 Siehe hierzu sogleich ausführlicher unter A. II. 2. d) bb) und bereits zuvor unter A. I. 3. a). 289 Ähnlich Rummens, Populism as a Threat to Liberal Democracy, in: Rovira Kaltwasser et al. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Populism, 2017, S. 554 (554), der Populismus und liberale Demokratie für unvereinbar hält. 290 Vgl. J.-W. Müller, Populism and Constitutionalism, in: Rovira Kaltwasser et al. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Populism, 2017, S. 590 (596 f.).
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d) Demokratische Funktionsbedingungen Wie und warum Demokratien leben oder sterben, ist ein intensiv betrachtetes Phänomen. Die Möglichkeiten, das Sterben der Demokratie zu verhindern, sind umstritten. Mit den Funktionsbedingungen der Demokratie befasst sich die rechtswissenschaftliche Forschung bereits seit geraumer Zeit, wobei in jüngerer Zeit neue Facetten hinzugekommen sind (Digitalisierung, soziale Netzwerke). Ein erster Ansatz befasst sich mit den Voraussetzungen des Staates und sieht hier Gefahren für die Demokratie (aa]), teilweise werden die ethisch-moralischen Fundierungen der Demokratie betont (bb]). Ebenso werden die Öffentlichkeit im Sinne einer öffentlichen Sphäre als Funktionsbedingung (cc]) oder die Spaltung der Gesellschaft in sich nicht verstehende Subgruppen als Gefahr für die Demokratie (dd]) erörtert. aa) Erosionen der Staatselemente Ein erster Forschungsansatz richtet den Fokus zur Erhaltung eines demokratischen Staates auf den „Staat“, der nach klassischem Verständnis durch die drei Elemente Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt konstituiert wird.291 Werden bei diesen Elementen Erosionstendenzen ausgemacht, schwächt dies nicht nur den Staat, sondern auch die Demokratie als Staatsform.292 Solche Schwächungen werden in den Blick genommen: Der Nationalstaat klassischer Prägung kann seine Staatsgewalt auf immer weniger Feldern allein behaupten. Regelungsmacht wandert zum einen zu privaten Akteuren und zum anderen zu supranationalen Organisationen.293 Beim Legitimationssubjekt „Staatsvolk“ ist u.a. eine zunehmende Inkongruenz von Inhabern der politischen Herrschaft (Volk) und den ihr nur Unterworfenen, aber nicht an ihrer Ausübung Beteiligten festzustellen; die Wahlbeteiligung sinkt, das Parlament als Herzkammer des demokratischen Staates verliert an Gestaltungsmacht etc.294 Teilweise werden auch das Wahl- und das Parla291 Klassisch hierzu G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1966, S. 394–434. Zu diesem C. Möllers, Staat als Argument, 2. Aufl. 2011, S. 12–35. 292 Die Krise der repräsentativen Staatsform war auf der Staatsrechtslehrertagung 2012 in Kiel Tagungsgegenstand, siehe hierzu Cancik, Wahlrecht und Parlamentsrecht als Gelingensbedingungen repräsentativer Demokratie, VVDStRL 72 (2013), 268 (270–277); Pünder, Wahlrecht und Parlamentsrecht als Gelingensbedingungen repräsentativer Demokratie, VVDStRL 72 (2013), 191 (193–196). 293 H. Dreier, Vom Schwinden der Demokratie, in: Graf/Meier (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2018, S. 29 (41–51). Ähnlich Calliess, Repräsentanten unter Druck: Zwischen Vertrauensverlust und Ohnmacht, in: Botha/Schaks/Steiger (Hrsg.), Das Ende des repräsentativen Staates?, 2016, S. 51 (51–54); Masing, Verfassung im internationalen Mehrebenensystem, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 2 Rn. 156–167. 294 H. Dreier, Vom Schwinden der Demokratie, in: Graf/Meier (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2018, S. 29 (52–71).
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mentsrecht in diese Betrachtung einbezogen.295 Schließlich wurde wegen stark gestiegener Zahlen von Migranten auch die Frage diskutiert, inwieweit das Staatsgebiet durch die Überquerung der Staatsgrenzen „erodiert“.296 Die vorgeschlagenen Lösungen sehen zumeist Rechtsänderungen vor, z.B. wenn eine Reduktion der EU-Kompetenzen vorgeschlagen bzw. die Reflexion hierüber297 oder die Ausweitung von politischen Beteiligungsrechten in Betracht gezogen wird.298 Allerdings ist damit der Bereich des geltenden Rechts, wie er hier als Forschungsgegenstand vorgegeben ist, verlassen. bb) Demokratisches Ethos als Voraussetzung der Demokratie Die Verfassung alleine, der bloße Verfassungstext, kann das Überleben der Verfassungsordnung nicht garantieren.299 Die Voraussetzungen, damit die Demokratie funktioniert, sind vielfältig. Ernst-Wolfgang Böckenförde nennt soziokulturelle (Emanzipationsstruktur der Gesellschaft, Abwesenheit theokratischer Religionsformen, relative Homogenität innerhalb der Gesellschaft, entwickeltes Schulsystem, Information und Kommunikation innerhalb der Gesellschaft), politisch-strukturelle (eigene Beurteilbarkeit der politischen Entscheidungsfragen; begrenzbare Interdependenz politischer Entscheidungen; Steuerbarkeit der gesellschaftlichen Teilsysteme durch politische Entscheidungen) und ethische (Wirksamkeit eines demokratischen Ethos; Bereitschaft, politische Entscheidungen von den gemeinsamen Interessen aller her zu
295 Cancik, Wahlrecht und Parlamentsrecht als Gelingensbedingungen repräsentativer Demokratie, VVDStRL 72 (2013), 268 (270–277); Pünder, Wahlrecht und Parlamentsrecht als Gelingensbedingungen repräsentativer Demokratie, VVDStRL 72 (2013), 191 (193–196). 296 Siehe zu diesem Fragenkreis auch Gärditz, Die Ordnungsfunktion der Staatsgrenze: Demokratizität, Liberalität und Territorialität im Kontext, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2. Aufl. 2017, S. 105 ff.; Horn, Grenzschutz im Migrationsrecht, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2. Aufl. 2017, S. 142 ff.; Di Fabio, Migrationskrise als föderales Verfassungsproblem, Gutachten im Auftrag des Freistaates Bayern v. 8.1.2016, S. 30–106, https:// img.welt.de/bin/di-fabio-gutachten-150937063.pdf (Stand: 10.8.2023). Siehe allgemeiner zu Entgrenzungen Hoffmann-Riem, Gesetz und Gesetzesvorbehalt im Umbruch, AöR 130 (2005), 5 (11–16). 297 H. Dreier, Vom Schwinden der Demokratie, in: Graf/Meier (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2018, S. 29 (73). Optimistischer hingegen v. Bogdandy, Parlamentarismus in Europa: eine Verfalls- oder Erfolgsgeschichte?, AöR 130 (2005), 445 ff. 298 H. Dreier, Vom Schwinden der Demokratie, in: Graf/Meier (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2018, S. 29 (75–77). 299 So bereits Anschütz, Lücken in den Verfassungs- und Verwaltungsgesetzen, VerwArch 14 (1906), 315 (336). Siehe auch Brenner, Die wehrhafte Demokratie: Eine Lehre aus Weimar?, in: Eichenhofer (Hrsg.), 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung – Was ist geblieben?, 1999, S. 95 (103); Cuéllar, From Doctrine to Safeguards in American Constitutional Democracy, UCLA Law Review 65 (2018), 1398 (1412–1420); Levitsky/Ziblatt, How Democracies Die, 2018, S. 97–100; Sadurski, Poland’s Constitutional Breakdown, 2019, S. 185.
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treffen) Voraussetzungen.300 Dies kann man so zusammenfassen, dass die Bevölkerung die Staatsform der Demokratie mehrheitlich wollen, von ihr überzeugt und zum Umgang mit ihr in der Lage sein muss. Gegen eine Mehrheit an Ablehnung kann sich die Demokratie nicht behaupten. Die Weimarer Republik dürfte hierfür ein besonders prominentes und tragisches Beispiel sein. Bei dem „demokratischen Ethos“ handelt es sich um „die die Demokratie mittragende gelebte politische Gesittung“.301 Diese verlangt die „vorbehaltlose Anerkennung der demokratischen Spielregeln, insbesondere der gleichen Chance politischer Machtgewinnung“.302 Eine Verbindung zum demokratischen Ethos weist die soziokulturelle Voraussetzung der Demokratie „Homogenität“ auf. Danach ist eine relative Homogenität innerhalb der Gesellschaft Voraussetzung der Demokratie, damit sich ein Gemeinschaftswillen bilden kann.303 Zu beobachten ist jedoch, dass die politische Lage immer polarisierter wird.304 Dem politischen Gegner wird zunehmend abgesprochen, legitime Interessen zu vertreten oder überhaupt am öffentlichen Diskurs teilnehmen zu dürfen. Nicht nur Oppositionsparteien, sondern auch Vertretern von Regierungsparteien wird vorgeworfen, zuweilen das demokratische Ethos zu missachten.305 Eine Freund-Feind-Konstellation droht zu entstehen.306 Wenn aber die Anerkennung gleicher Chancen bei der Machtgewinnung – so Ernst-Wolfgang Böckenförde – Voraussetzung der Demokratie ist, dann kann das Schwinden des demokratischen Ethos nicht folgenlos für die Demokratie bleiben. Allerdings befasst er sich überwiegend mit den faktischen Voraussetzungen der Demokratie wie etwa der Bildung oder der inneren Einstellung zur Demokratie. Diese sind von grundlegender Bedeutung, aber nicht Gegenstand dieser Arbeit, welche sich mit rechtlichen Maßnahmen und ihrer Eignung zur Demokratieschwächung befasst. 300
E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 58–80. Siehe auch Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation, AöR 119 (1994), 238 (255–257). 301 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 75. In diesem Sinne auch Sadurski, Poland’s Constitutional Breakdown, 2019, S. 185. 302 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 76. Ähnlich Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 300–306. 303 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 63–66. 304 Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 306–309. 305 C. Schönberger, Wie die Regierung die Demokratie beschädigt (28.2.2019), https:// www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wie-die-regierung-die-demokratie-beschaedigt16063633.html (Stand: 10.8.2023). 306 Hierzu C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1932, S. 26 f. Dem folgend Forsthoff, Der totale Staat, 1933, S. 7.
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
cc) Demokratische Öffentlichkeit als Funktionsbedingung Demokratie lebt von Debatten. Das klassische demokratische Idealbild geht von einem „Markt der Meinungen“ aus, auf dem das stärkere Argument sich gegen das schwächere durchsetzt („geistige Auseinandersetzung der Meinungen“307), wo ein „rationaler Diskurs“ herrscht. Über Polarisierung wird auch als Erosion dieser demokratischen Öffentlichkeit gestritten, wobei insbesondere die neueren Medien im Zentrum der Diskussion stehen (Stichworte: Echokammer, Filterblase). Dieser Forschungsstrang hängt eng mit dem demokratischen Ethos zusammen. Bereits im Jahr 2008 war die Erosion der demokratischen Öffentlichkeit als Gefahr für die Demokratie Gegenstand der Staatsrechtslehrertagung in Erlangen.308 Ausgegangen wird bei diesen Betrachtungen von dem Phänomen der Medienverschiebung. Die klassischen Medien (Zeitungen, Radio, Fernsehen) als traditionelle Informationsmittler befinden sich in der Krise und vermögen immer weniger, „rationalen“ Einfluss zu nehmen und Debatten zu versachlichen. Ihnen wird misstraut, stattdessen scheinen moderne Kommunikationsmittel wie etwa Facebook, Twitter bzw. „X“, Instagram die Medien der Wahl zu werden. Diese zeichnen sich jedoch durch mehrere ungünstige Eigenschaften aus: So finden keine oder allenfalls rudimentäre Qualitätskontrollen in Formen von Tatsachenüberprüfungen statt, wie sie für Qualitätsmedien Standard sein sollten; die Botschaften sind extrem verkürzt (max. 280 Zeichen bei Twitter bzw. „X“); die Urheber (mitunter sog. Trolle, teilweise Agenten z.B. aus Russland) sind oft nicht zu identifizieren; suggestive Bildbotschaften setzen auf Emotionen und nicht auf Rationalität; Nachrichten werden personalisiert übermittelt, ohne dass alle Wählerinnen und Wähler die gleiche Werbung zu sehen bekommen.309 Die Datenverarbeitung ist so eingestellt, dass reißerische und extreme Aussagen den Nutzern zuerst angezeigt werden.310 Dies widerspricht deutlich dem demokratischen Idealbild. Auch wenn dieses ohnehin zu idealistisch sein dürfte, weil der Mensch eben nicht nur rational ist, bleiben die faktischen Änderungen nicht ohne Auswirkungen auf die geistige Auseinan-
307
Siehe zum Argument der geistigen Auseinandersetzung BVerfGE 5, 85 (134–136); 124, 300 (320 f.); 144, 20 (200); Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 163; Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 349–366 (der allerdings selbst von einem „mit Idealisierungen befrachtete[n] Verfahrenskonzept“ spricht, S. 349). Dies als Illusion ansehend Willke, Demokratie im Umbruch, Der Staat 56 (2017), 357 (364). 308 Holznagel, Erosion demokratischer Öffentlichkeit?, VVDStRL 68 (2009), 381 ff.; Horn, Erosion demokratischer Öffentlichkeit?, VVDStRL 68 (2009), 413 ff. 309 Schliesky, Digitalisierung – Herausforderung für den demokratischen Verfassungsstaat, NVwZ 2019, 693 (696 f.); Magen, Kontexte der Demokratie: Parteien – Medien – Sozialstrukturen, VVDStRL 77 (2018), 67 (73 f.). 310 Siehe hierzu Aust, Undermining Human Agency and Democratic Infrastructures?, American Journal of International Law Unbound 112 (2018), 334 (337).
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dersetzung und damit die Demokratie. Mit „rechtlichen Verfahren und rechtlich mitgeformten Prozessen, die der Wahrheitsfindung dienen“,311 befasst sich Björnstjern Baade in seiner Habilitationsschrift aus dem Jahr 2023. Hierbei geht er auch auf die Störungen der Wahrheitsfindung ein, die sich nachteilig auf den öffentlichen Diskurs auswirken können.312 Insgesamt aber handelt es sich bei der demokratischen Öffentlichkeit, ihren Voraussetzungen und Gefährdungen um einen Bereich, der dem Gegenstand dieser Arbeit vorgelagert ist. Bei der demokratischen Öffentlichkeit als Funktionsbedingung geht es nicht um die Abwehr rechtlicher Angriffe auf die Demokratie durch die Verfassung selbst, sondern um die Schaffung der tatsächlichen Gegebenheiten und ihrer einfachgesetzlichen Ausgestaltung, welche die Demokratie benötigt. dd) Fragmentierungen als Gefährdungen der Demokratie Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Saarbrücken hatte 2017 das Oberthema „Fragmentierungen“, „Parteien – Medien – Sozialstrukturen“ war hier eines der Unterthemen. Die beiden Referate zu diesem Unterthema befassten sich schwerpunktmäßig mit den Problemen übermäßiger Fragmentierungen für die Demokratie. Das Thema der Demokratiesicherung wurde also nicht vom anzustrebenden Ideal, sondern von einem möglichen Negativfaktor aus angegangen. Das Referat von Indra Spiecker gen. Döhmann geht zunächst davon aus, dass Fragmentierungen Teil der Demokratie und nicht per se negativ zu beurteilen seien.313 Sie erläutert aber dann, wie die Digitalisierung und die damit einhergehenden Möglichkeiten extreme Positionen bevorzugen, während konsensorientierte Positionen weniger Gehör finden.314 Zur Verringerung der Fragmentierung setzt sie auf grundrechtliche Verbürgungen, den Erziehungsauftrag der Schule und die rechtliche Einhegung der Medien. Stefan Magen betont in seinem Referat die antidemokratische und antiliberale Haltung, die hinter Alleinvertretungsansprüchen steht.315 Er sieht die Lösung aber v.a. in einem verbesserten Schutz vor gruppenbezogenen Herabwürdigungen, weil er hinter den Polarisierungen Gruppenphänomene ausmacht.316
311
Baade, Wahrheit und Recht, 2023, S. 5. Baade, Wahrheit und Recht, 2023, S. 399 ff., 551 ff. 313 Spiecker gen. Döhmann, Kontexte der Demokratie: Parteien, Medien und Sozialstrukturen, VVDStRL 77 (2018), 9 (13–33). 314 Spiecker gen. Döhmann, Kontexte der Demokratie: Parteien, Medien und Sozialstrukturen, VVDStRL 77 (2018), 9 (38–46). 315 Magen, Kontexte der Demokratie: Parteien – Medien – Sozialstrukturen, VVDStRL 77 (2018), 67 (70–72). 316 Magen, Kontexte der Demokratie: Parteien – Medien – Sozialstrukturen, VVDStRL 77 (2018), 67 (87–91). 312
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
Er adressiert das Parteiverbot317 und regt zum Nachdenken über ein Recht gegen den unlauteren politischen Wettbewerb an.318 Wie auch bei anderen Funktionsbedingungen sind die tatsächlichen Gegebenheiten als Verfassungsvoraussetzungen betroffen, die ebenso wenig Gegenstand dieser Arbeit sind wie die Rechtsordnung de lege ferenda.
3. Leerstellen rechtswissenschaftlicher Forschung In Deutschland wird zwar verstärkt über Gefahren für die Demokratie etwa durch Schwächung der tatsächlichen Gelingensbedingungen geforscht. Die vorliegende Arbeit grenzt sich von den bisherigen Forschungsansätzen jedoch ab. Denn es wird bislang nicht näher auf die oben ermittelten Charakteristika (Veränderung der Verfassungsordnung durch Maßnahmenkumulationen) eingegangen. Stattdessen sind Gegenstand der Forschung die faktischen Gelingensbedingungen, während es hier um rechtliche Angriffe auf die Demokratie geht. Außerdem wird oft de constitutione ferenda argumentiert, während diese Arbeit das geltende Recht behandelt. Schließlich befasst sich die wehrhafte Demokratie mit Maßnahmen gegen den Bürger, nicht gegen staatliche Organe. Auch aus anderer Perspektive wird sichtbar, dass das deutsche Verfassungsrecht die demokratische Dekonsolidierung noch nicht hinreichend erforscht hat. In den wissenschaftlichen Beiträgen zum Thema „demokratische Dekonsolidierung“ findet man auf der einen Seite oft Beschreibungen des Phänomens in verschiedenen Ländern, Erklärungen und politische Betrachtungen, jedoch kaum rechtswissenschaftliche Ansätze zur Verhinderung. Auf der anderen Seite befassen sich die „herkömmlichen“ wissenschaftlichen Texte (z.B. zur Gewaltenteilung) mit der Funktion der Machtbeschränkung, allerdings wird hierbei dem Phänomen der demokratischen Dekonsolidierung (einschließlich der synonym verwendeten Begriffe und Anglizismen) nahezu keine Beachtung geschenkt. Eine Befassung mit den hier identifizierten Gefahren steht in der rechtswissenschaftlichen Literatur somit noch aus. Tom Daly, der Initiator des bereits erwähnten Blogs über demokratische Dekonsolidierung, formuliert: „Zwar gibt es mittlerweile eine beträchtliche Menge an Literatur, welche die subtilen Bedrohungen, denen sich die liberale Demokratie in einer Vielzahl von Staaten weltweit ausgesetzt sieht, nachzeichnet; einen Schwerpunkt auf die Widerstandsfähigkeit
317 Magen, Kontexte der Demokratie: Parteien – Medien – Sozialstrukturen, VVDStRL 77 (2018), 67 (96 f.). 318 Magen, Kontexte der Demokratie: Parteien – Medien – Sozialstrukturen, VVDStRL 77 (2018), 67 (97 f.).
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gegenüber oder auf den Widerstand gegen Beschädigungen der Verfassung zu legen, war jedoch eine eher nachrangige Besorgnis.“319 [Übersetzung des Verfassers]
Ziel dieser Arbeit ist es, die Widerstandsfähigkeit des Grundgesetzes im Hinblick auf die demokratische Dekonsolidierung als Kumulation von Rechtsmaßnahmen zu erforschen. Hierfür bedarf es klarer Grenzen für den Gesetzgeber und der Möglichkeit, Maßnahmenkumulationen rechtswissenschaftlich zu erfassen. Dies muss überdies rechtzeitig geschehen. Konkret im Hinblick auf die deutsche Rechtslage und verfassungsrechtliche Ausnahmelagen bezogen, wird bedauert, dass der Inhalt der Wesensgehaltsgarantie der Grundrechte unzureichend ermittelt ist, obwohl Art. 19 II GG in Ausnahmesituationen bedeutsam sein könnte.320 Anna-Bettina Kaiser stellt explizit fest: „Es bleibt die Aufgabe der Rechtsprechung und der Literatur, diese notstandsfesten Kerne näher zu konturieren.“321
Anna Leisner-Egensperger vertritt die Ansicht, dass sich die bisherigen, um Begriffe kreisenden Diskussionen der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG auch in Zukunft als nicht zielführend erweisen werden: „Die bisherige Diskussion um Art. 19 Abs. 2 GG wurde weithin um Begriffsprobleme geführt. Es verwundert daher nicht, daß sie kaum zu Ergebnissen vordringen konnte, welche bei den einzelnen Grundrechten zu näherer Bestimmung ihres materiell-inhaltlichen Wesensgehalts geführt hätten. Überzeugungskraft werden auf Dauer aber weder die bisherigen Ansätze noch der hier entwickelte gewinnen, wenn es nicht gelingt, für wichtige Einzelgrundrechte einigermaßen faßbare, feste Zentralbereiche ihres Schutzes festzulegen. Nur so kann dann auch, gewissermaßen induktiv, das hier aufgestellte Gerüst zum Grundrechtsgebäude werden.“322
Die auch von Tom Daly und Anna-Bettina Kaiser konstatierte Leerstelle versucht diese Arbeit mit einem konkreten Vorschlag, wie von Anna LeisnerEgensperger gefordert, zu schließen, indem die drei Perspektiven miteinander verbunden werden: Es soll nach einem Instrument im geltenden Recht gegen die demokratische Dekonsolidierung gesucht werden, welches notstands- und abwägungsfest ist, Kumulationen erfasst und von Gerichten praktikabel eingesetzt werden kann. Hierbei wird die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG die Hauptrolle spielen. 319 Daly, Between Fear and Hope: Poland’s Democratic Lessons for Europe (and Beyond); European Constitutional Law Review 15 (2019), 752 (762), wörtlich: „While a very significant literature now exists on anatomising the subtler threats faced by liberal democracy in a variety of states worldwide, a focus on resilience to, or resistance against, constitutional damage has been a somewhat secondary concern.“ 320 A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 279–282. 321 A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 281. 322 Leisner-Egensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 71.
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
Ein naheliegender Einwand ist, dass die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten, die verfassungsmäßige Ordnung aufrechtzuerhalten, begrenzt sind. Die noch so umfassende Interpretation des Verfassungstextes kann nicht sicherstellen, dass eine liberale Demokratie dauerhaft erhalten bleibt. So ist die Weimarer Republik nicht allein an etwaigen Unzulänglichkeiten ihrer Verfassung gescheitert, und es bleibt pure Spekulation, ob und wie eine „Verbesserung“ der Weimarer Reichsverfassung ihr zu einer längeren Lebensdauer verholfen hätte. Aber auch dann, wenn die „Webfehler“323 bzw. „Konstruktionsfehler“324 der Weimarer Verfassung nicht die alleinige Ursache waren, können sie gleichwohl einen Beitrag zum Scheitern der Weimarer Republik geleistet haben. Überdies darf nicht übersehen werden, dass die derzeitige Lage eine andere ist als die damalige. Die – oft beklagte – Verrechtlichung und die zunehmende Kontrolldichte des BVerfG, das ohnehin über erhebliche Kontrollkompetenzen verfügt,325 gestatten, in stärkerem Maße rechtlich zu reagieren, als dies der Gerichtsbarkeit zu Zeiten der Weimarer Republik möglich war. Schließlich belegen die hartnäckigen politischen Bemühungen, die Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen und Ungarn zu domestizieren, das Widerstandspotenzial einer unabhängigen (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit gegenüber der demokratischen Dekonsolidierung.
III. Forschungsgegenstand: De-facto-Verfassungsänderung durch Maßnahmenkumulation im deutschen Recht Das Phänomen der demokratischen Dekonsolidierung mit ihren beschriebenen charakteristischen Merkmalen ist also der Forschungsgegenstand dieser Arbeit. Forschungsfrage ist, wie das Grundgesetz dieser begegnen kann.
1. Ergebnis der demokratischen Dekonsolidierung: De-facto-Verfassungsänderung – Änderung des Verfassungscharakters Die demokratische Dekonsolidierung kann, wenn sie „erfolgreich“ ist, zu einer Änderung des Verfassungscharakters, einer De-facto-Verfassungsände323
Di Fabio, Die Weimarer Verfassung, 2018, S. 16, passim. Roellecke, Konstruktionsfehler der Weimarer Verfassung, Der Staat 35 (1996) 599 ff. 325 Vgl. E.-W. Böckenförde, Nachwort. Gesetzesbegriff und Gesetzesvorbehalt, in: Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. 1981, S. 375 (402); Brohm, Die Funktion des BVerfG – Oligarchie in der Demokratie?, NJW 2001, 1 ff.; Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 77 (119–123, 137– 141, passim); C. Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 ff.; Rüthers, Geleugneter Richterstaat und vernebelte Richtermacht, NJW 2005, 2759 ff. In internationaler Perspektive Bickel, The Least Dangerous Branch, 2. Aufl. 1986; Hirschl, Towards Juristocracy, 2007. A.A. und von einem „counter-majoritarian advantage“ sprechend, Masing, Politische Friedensgewähr und Idealität der Verfassung, JZ 2022, 137 (138). 324
III. De-facto-Verfassungsänderung durch Maßnahmenkumulation
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rung führen.326 Eine Verfassungsänderung de facto und nicht de iure wäre sie deshalb, weil die Verfassung – im Falle der Bundesrepublik Deutschland – nicht nach den in Art. 79 GG vorgeschriebenen Modalitäten, sondern durch einfache Gesetze vorgenommen würde. Dass die Verfassungsordnung trotz ihres rechtlichen Vorrangs (Art. 1 III, 20 III GG) einfachgesetzlich „verbogen“ werden kann, ist keine neue Erkenntnis. Hier sei nur auf die Handhabung des Notverordnungsrechts aus Art. 48 II WRV verwiesen.327 Hinnerk Wißmann führt zu der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs aus der Endzeit der Weimarer Republik aus: „Er akzeptierte eine Vorhand der Exekutive bei der Anwendung des Notstandsregimes auch noch da, wo sie die Grundentscheidungen der Verfassung veränderte.“328 Da Demokratie i.S.d. Art. 20 I, II GG wandelbar ist und auch sein muss, kann nicht jede Einschränkung oder Beeinträchtigung demokratischer Elemente als demokratische Dekonsolidierung bezeichnet werden.329 Aber es kann auch nicht jede beliebige Maßnahme als mit dem Demokratieprinzip vereinbar angesehen werden. Ebenso können nicht mehrere Maßnahmen, die in ihrer Kumulation das Demokratieprinzip schwächen, als demokratiekompatibel angesehen werden, nur weil die Einzelmaßnahmen bei isolierter Betrachtung verfassungsgemäß sind. Entscheidend ist somit die Grenze des Verfassungsbildes insgesamt. Wenn eine De-facto-Verfassungsänderung durch einfache Gesetze verhindert werden soll, muss das Unveränderbare der Verfassung bekannt sein, d.h. das, was die Verfassung zu dieser macht. Dies erfordert eine genauere Bestimmung, was mit „Demokratie“ gemeint sein soll und was zu ihr gehört.330 Der Weimarer Reichsverfassung wurde ihre zu große Neutralität bzw. ihr Relativismus331 teils vorgehalten,332 teils wurde sie dafür gerühmt.333 Mit entsprechenden Mehrheiten gem. Art. 76 I WRV ließ sich ein Gesetz beliebigen 326
Es wird nicht verkannt, dass auch faktische Maßnahmen (Desinformation, Propaganda, Diskreditierung etc.) zur Destabilisierung beitragen können, sie liegen aber außerhalb des Untersuchungsgegenstands. 327 Hierzu Gusy, Die „zweifache“ Diktatur des Reichspräsidenten, Der Staat 58 (2019), 507 ff.; Wißmann, Verfassungsrechtsprechung im Übergang, Der Staat 47 (2008), 187 ff. 328 Wißmann, Verfassungsrechtsprechung im Übergang, Der Staat 47 (2008), 187 (188 f.). 329 Siehe unten B. II. 2. 330 Siehe hierzu unten B. II. 1.–B. II. 1. e). 331 Hierzu K. Groh, Zwischen Skylla und Charybdis, in: Gusy (Hrsg.), Weimars langer Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, 2003, S. 425 (440–450); Wagrandl, Wehrhafte Demokratie in Österreich, 2019, S. 11–17. 332 Aus entgegengesetzten Gründen Loewenstein, Autocracy Versus Democracy in Contemporary Europe I, American Political Science Review 29 (1935), 571 (579) einerseits und Forsthoff, Der totale Staat, 1933, S. 12–14 andererseits. 333 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. 101–103; Radbruch, Die politischen Parteien im System des deutschen Verfassungsrechts, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, S. 285 (289).
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
Inhalts erlassen, inhaltliche Grenzen der Verfassungsänderung bestanden kaum.334 Das Grundgesetz ist nicht in diesem Sinne „relativ“ oder „neutral“. Das BVerfG hat früh judiziert, dass der Staat des Grundgesetzes nicht wertneutral sei, sondern eine Wertordnung verkörpere.335 Diese Wertorientierung findet im Grundgesetz ihren Niederschlag, wenn etwa Art. 79 III GG bestimmte Verfassungsänderungen aus inhaltlichen Gründen für unzulässig erklärt, in Art. 1 I 2 GG dem Staat explizit336 eine Schutzpflicht zugunsten der Menschenwürde auferlegt wird und Art. 23 I 1 GG die Mitwirkung an einem vereinten Europa zu einem Staatsziel erklärt und diese Mitwirkung an die Einhaltung inhaltlicher Standards knüpft. Die Wertebindung des Grundgesetzes wird traditionell vor dem Hintergrund des Scheiterns der Weimarer Republik entfaltet, nicht im Hinblick auf die aktuellen Fragen der demokratischen Dekonsolidierung. Allerdings dürfte die Aussage Fritz René Allemanns zutreffen, wonach sich die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zur Weimarer Republik „eigenen und neuen Gefahren ausgesetzt“ sehen wird.337 Eine im Vergleich zur Weimarer Republik neue Gefahr dürfte darin bestehen, dass die großen Fragen der Gegenwart (wie etwa Klimaschutz, Migration, Digitalisierung) nur international gelöst werden können, eine hohe Komplexität bei gleichzeitiger Unsicherheit der tatsächlichen Datengrundlagen aufweisen und die Bundesregierung in auswärtigen Angelegenheiten eine besonders starke Position innehat. Somit kommt der Bundestag als das unmittelbar demokratisch legitimierte Organ in mehrfacher Weise unter Druck.338 Demgegenüber sind das Prinzip „Demokratie“ und der Bundestag selbst nicht grundsätzlich als Institution umstritten. Das macht aber den Druck auf ihn nur umso größer. Will man den Verfassungscharakter des Grundgesetzes bewahren, benötigt man ein klares Verständnis der demokratischen Verfassung und die genauere Kenntnis der Grenzen, welche die Verfassung gegenüber Angriffen auf sie selbst zieht. Hiermit tut sich die Rechtswissenschaft schwer, die anhand der klassischen dogmatischen Methode prüft, ob eine einzelne gesetzliche Maßnahme (noch) verfassungsgemäß ist. Exemplarisch wird dies bei der Angemessenheitsprüfung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit. Hier fragt das BVerfG, 334
Siehe hierzu ausführlich unten C. III. 1 a) bb). BVerfGE 7, 198 (205). Hierzu E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, 1529 (1533 f.); Di Fabio, Grundrechte als Werteordnung, JZ 2004, 1 ff. 336 Vgl. BVerfGE 49, 89 (142). Das BVerfG geht in seiner Rechtsprechung davon aus, dass die Schutzpflicht auch zugunsten weiterer Grundrechte gilt, vgl. z.B. BVerfGE 125, 39 (78) zur Religionsfreiheit; siehe auch Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Vor Art. 1 Rn. 35–38. 337 Allemann, Bonn ist nicht Weimar, 1956, S. 411. So auch Ellenberger/Hug, Schutz des Grundrechtsschutzes, VBlBW 2019, 177 (180). 338 Hierzu Calliess, Repräsentanten unter Druck: Zwischen Vertrauensverlust und Ohnmacht, in: Botha/Schaks/Steiger (Hrsg.), Das Ende des repräsentativen Staates?, 2016, S. 51 ff.; Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 5–9. 335
III. De-facto-Verfassungsänderung durch Maßnahmenkumulation
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ob die „Grenze der Zumutbarkeit“ noch gewahrt ist.339 Dabei ist die Grenze zwischen Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit nicht exakt kartografiert. Versucht wird, anhand aller Umstände des Einzelfalls zu ermitteln, auf welcher Seite der – unbekannten – Grenze der Zumutbarkeit die zu überprüfende Vorschrift steht. Auch wenn das Grundgesetz nicht wertneutral, sondern wertegebunden ist, lassen sich doch Relativierungen erkennen, die das Verfassungsbild zu schwächen geeignet sind. Dies trifft insbesondere auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu, den großen „Gleich- und Weichmacher der Verfassungsmaßstäbe“.340 Sofern sich die Gründe für einen Grundrechtseingriff als gewichtig oder dringend genug darstellen, sind Eingriffe angemessen und gerechtfertigt.341 Als Beispiel lässt sich der sog. Kampf gegen den Terror anführen, der seit Beginn der 2000er-Jahre zu einer kontinuierlichen Verschärfung der Sicherheitsgesetze national, unionsweit und international geführt hat.342 Ein ganz anderes, aber jüngeres Beispiel sind die Maßnahmen zur Bekämpfung der SARS-CoV-2-Pandemie. Wegen der Gefahr für Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen waren die Gründe für die diversen Eingriffe in grundrechtliche Freiheiten gewichtig und dringend. Deshalb waren auch gravierende Eingriffe zu rechtfertigen. Hinzu kommt, dass die Datenlage unklar war, was den zuständigen Stellen zusätzliche Einschätzungsprärogativen eröffnet hat, die gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar waren. Kommen solche Entwicklungen plötzlich und unerwartet, fehlt es also an einem erprobten Kriseninstrumentarium, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass die „richtigen“ Maßnahmen im „richtigen“ Ausmaß ergriffen werden, geringer. Denn die neue bedrohliche Situation übertönt alles andere.343 Hieraus folgt zwar, dass die Demokratie des Grundgesetzes wertgebunden und deshalb nicht relativ im Sinne von neutral ist. Sie enthält hiermit allein aber noch keine festen, unübersteigbaren Grenzen für den Gesetzgeber, denn sie lässt Abwägungen in weitem Umfang zu. In die Menschenwürdegarantie des Art. 1 I GG, die den Mittelpunkt des grundgesetzlichen Wertsystems darstellt,344 darf nie eingegriffen werden, da Eingriffe nach ganz überwiegendem Verständnis nicht zu rechtfertigen sind.345 339
BVerfGE 61, 291 (312). Vgl. auch BVerfGE 68, 272 (282); 90, 145 (185). Ossenbühl, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen: Diskussionsbeitrag, VVDStRL 39 (1981), 189 (189). 341 Siehe BVerfGE 120, 274 (321 f.). 342 Vgl. Steiger, Das völkerrechtliche Folterverbot und der „Krieg gegen den Terror“, 2013. 343 Siehe hierzu Heinig et al., Why Constitution Matters – Verfassungsrechtswissenschaft in Zeiten der Corona-Krise, JZ 2020, 861 ff. 344 BVerfGE 39, 1 (43); Sodan, Verfassungsrechtliche Grundlagen der Krankenversicherung, in: Sodan (Hrsg.), Handbuch des Krankenversicherungsrechts, 3. Aufl. 2018, § 2 Rn. 52. 345 So BVerfGE 75, 369 (380); 93, 266 (293); Höfling, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 1 Rn. 10 f.; Kunig/Kotzur, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 1 Rn. 17; Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 27. 340
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
Es existiert also eine Vorschrift mit absolutem Gehalt. Jedoch fehlt es an einer konsentierten positiven Bestimmung des Inhalts der Menschenwürdegarantie.346 Somit besteht zwar noch weitgehend Einigkeit darüber, dass die Menschenwürdegarantie nicht relativiert werden darf, aber nicht darüber, wann eine Relativierung vorliegt. Auch die – absolut zu verstehenden – Menschenwürdegehalte der einzelnen Grundrechte wurden erst jüngst einer umfassenden Untersuchung unterzogen,347 ohne dass indes schon Konsens über ihren Inhalt oder ihre Reichweite bestünde. Hinweisen lässt sich noch auf Art. 79 III GG,348 der ebenfalls für absolute Gehalte und feste Grenzen herangezogen werden kann. Ansonsten herrschen Relativierungen vor. Mit Michael Brenner lässt sich damit das folgende Zwischenfazit ziehen: „Jenseits vager und teilweise formelhafter Vorstellungen wissen wir bis heute nicht genau, was den Kern der Verfassung ausmacht, was mit anderen Worten verfassungsänderungsfest ist. Weder dem Bundesverfassungsgericht noch der Staatsrechtslehre ist es bislang gelungen, das genau zu definieren, was eigentlich das Schutzgut der wehrhaften Demokratie darstellt.“349
Dies ist nicht nur bei der – in praxi seltenen – Befassung mit den Vorschriften der wehrhaften Demokratie misslich. Darüber hinaus ist ganz allgemein bedeutsam, was die „liberale Demokratie“ ausmacht. Dies wird augenscheinlich, wenn die Demokratie mit dem Mehrheitsprinzip gleichgesetzt350 und argumentiert wird, dass „das Volk“ eine bestimmte Politik wolle und sich das Recht dem Volkswillen nicht entgegenstellen dürfe.351 Dies ist indes eine unzulässige Verkürzung des Demokratieprinzips, wie sie bereits Hermann Heller kritisiert hat.352 Erforderlich sind deshalb absolute Verfassungsgehalte, also solche, die nicht durch andere gegenläufige Interessen relativierbar sind. Neben der Menschenwürdegarantie und ihren Gehalten in den Freiheitsrechten kommt für absolute Gehalte die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG in Betracht. Sie wird deshalb für die folgende Untersuchung von besonderer Bedeutung sein. 346 Hierzu H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 1 Abs. 1 Rn. 52–63; Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Mai 2009), Art. 1 Abs. 1 Rn. 33–51; Kunig/Kotzur, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 1 Rn. 30–36. 347 Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte, 2019. 348 Siehe hierzu unten C. III. 1.–C. III. 1. e). 349 Brenner, Die wehrhafte Demokratie: Eine Lehre aus Weimar?, in: Eichenhofer (Hrsg.), 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung – Was ist geblieben?, 1999, S. 95 (109). Siehe auch Wagrandl, Wehrhafte Demokratie in Österreich, 2019, S. 29–35. 350 Vgl. Voßkuhle, Rechtsstaat unter Druck, in: Die Zeit v. 27.9.2018, Nr. 40, S. 6. Siehe hierzu auch unten B. II. 1. b) und d). 351 Hierzu Baade, Die Identität der Mehrheit und die Grenzen ihres Schutzes, AöR 142 (2017), 566 (567–570). Gärditz, Völkerrechtliche Integration und kompensatorische Rechtsschutzgarantie, EuGRZ 2018, 530 (537) spricht von „vulgär-demokratische[n] Argumente[n] der Mehrheitsherrschaft“. 352 Siehe unten B. II. 1. d) m.w.N.
III. De-facto-Verfassungsänderung durch Maßnahmenkumulation
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2. Mittel der demokratischen Dekonsolidierung: Maßnahmenbündel Charakteristisch für die demokratische Dekonsolidierung ist die Summe der demokratiefeindlichen Maßnahmen. Man kann die verschiedenen Etappen beim demokratischen Rückschritt, die unterschiedliche Regelungsbereiche betreffen, zwar rechtlich isoliert beurteilen. Eine isolierte Prüfung vermag aber dem Phänomen der demokratischen Dekonsolidierung nicht ansatzweise Rechnung zu tragen. Demokratischer Rückschritt bezeichnet nicht lediglich kleinere Veränderungen der demokratischen Ausgestaltung des Staatswesens. Vielmehr bilden die einzelnen Etappen des demokratischen Rückschritts in ihrer Zielrichtung eine Einheit und fügen sich in ein größeres übergeordnetes Bild ein. Die schrittweise ergriffenen Maßnahmen ergeben in ihrer Gesamtschau die Aufhebung der liberalen Demokratie. Hierbei handelt sich um die Änderung nicht bloß technischer Details, sondern des Charakters der politischen Grundordnung. Die Frage im Zusammenhang mit der demokratischen Dekonsolidierung darf deshalb nicht nur sein, ob eine Maßnahme zulässig ist. Vielmehr muss auch gefragt werden, ob diese weitere neben den bereits bestehenden Maßnahmen auch noch zulässig ist, was also an demokratischen Elementen vorhanden sein muss, damit noch von einer liberalen Demokratie die Rede sein kann. Die Kumulation von undemokratischen Maßnahmen ist nicht nur deshalb so gefährlich, weil es um mehrere Maßnahmen geht, sondern auch, da sie sich wechselseitig verstärken und es darüber hinaus bislang keine rechtlichen Instrumente gibt, gegen Kumulationen vorzugehen. Das Unionsrecht ist in dieser Hinsicht aufschlussreich: Der EuGH hat in seinen Entscheidungen zwar einzelne Gesetze für unionsrechtswidrig erklärt. Im Falle der ungarischen Altersgrenzen für Richter folgte hieraus jedoch nichts.353 Überdies ist die Antidiskriminierungsrichtlinie nicht geeignet, dem gesamten Prozess der demokratischen Dekonsolidierung zu begegnen. Bei der frühzeitigen Pensionierung älterer Richter handelt es sich lediglich um einen kleinen Baustein von vielen bei der Neustrukturierung der Verfassungsordnung. Bei dieser Neuordnung geht es nicht um das Alter der Richter, dieses ist nur ein möglicher Anknüpfungspunkt. Stattdessen kann auch über die Disziplinarkammern, staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen Rechtsbeugung, Bestechlichkeit oder dergleichen Druck auf missliebige Richter ausgeübt werden. Ohne einen spezifischen Ansatz zum Umgang mit der demokratischen Dekonsolidierung gleicht das Vorgehen der EU-Kommission gegen die Maßnahmen der demokratischen Dekonsolidierung einem „Hase-und-IgelRennen“.
353
Siehe hierzu oben A. I. 1. a).
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
Die bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle befasst sich – von wenigen Einzelfällen abgesehen – mit Einzelakten, nicht mit Maßnahmenbündeln.354 Verfassungsnormen, die sich ausdrücklich mit Kumulationen beschäftigen und sie einer Lösung zuführen, sind äußerst rar. Lediglich Art. 103 III GG (Verbot der Mehrfachbestrafung)355 und Art. 106 III 4 Nr. 2 GG, der den Bund und die Länder dazu verpflichtet, ihre Steuergesetzgebungen so aufeinander abzustimmen, dass u.a. „eine Überbelastung der Steuerpflichtigen vermieden“ wird,356 enthalten explizite Aussagen. Die Anwendungsbereiche dieser Bestimmungen sind jedoch eng. Art. 106 III 4 Nr. 2 GG ist außerdem „gespickt“ mit unbestimmten Rechtsbegriffen, sodass die normative Wirkung gering ist.357 Das BVerfG nennt dieses Gebot „gleichsam selbstverständlich“358. Mehr als die Anerkennung, dass eine übermäßige Belastung in ihrem jeweiligen – schmalen – Anwendungsbereich zu vermeiden ist, lässt sich diesen Vorschriften wohl nicht entnehmen.359 Zwar kennt das Grundgesetz auch die Zusammenfassung grundlegender Verfassungsprinzipien unter bestimmten Oberbegriffen (wie etwa „verfassungsmäßige Ordnung“ in Art. 9 II GG360, „freiheitliche demokratische Grundordnung“ u.a. in Art. 21 II 1 GG361 oder „diese Ordnung“ in Art. 20 IV GG362). Aber diese Vorschriften richten sich ausschließlich oder – im Falle von Art. 20 IV GG zumindest auch – gegen sog. Angriffe „von unten“. Gemeint sind damit Angriffe aus der gesellschaftlichen Sphäre durch Bürgerinnen und Bürger, aber nicht durch staatliche Stellen.363 Für diese wird der Begriff „An354 Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 191, der im „Präventionsstaat“ die Gefahr der Kumulation bzw. Summierung sieht, insbes. S. 217 f. 355 Siehe hierzu BVerfGE 21, 378 (383–391). Vgl. aber auch BVerfGE 28, 264 (276–280) und BVerfGE 130, 372 (392 f.) zum Nebeneinander von Freiheitsstrafen und freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung. 356 Siehe hierzu Heintzen, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2021, Art. 106 Rn. 31; Kube, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 106 Rn. 22 (Stand: 15.5.2023); Seiler, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: September 2017), Art. 106 Rn. 148 f. 357 Heintzen, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2021, Art. 106 Rn. 31. 358 BVerfGE 115, 97 (115 f.). Kritische Würdigung auch bei Seiler, in: Dürig/Herzog/ Scholz, GG, Losebl. (Stand: September 2017), Art. 106 Rn. 149. 359 Schaks, Das Verbot der Belastungskumulation als Bestandteil der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, DÖV 2015, 817 (818). Lücke, Der additive Grundrechtseingriff sowie das Verbot der übermäßigen Gesamtbelastung des Bürgers, DVBl. 2001, 1469 (1477) und Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 105 sehen Art. 103 III und Art. 106 III 4 Nr. 2 GG als ausdrückliche verfassungsrechtliche Anerkennung des Verbots der Belastungskumulation an. 360 Siehe hierzu unten C. III. 6. c). 361 Siehe hierzu unten C. III. 6. e) aa). 362 Siehe hierzu unten C. III. 6. f). 363 Zur Trennung von Staat und Gesellschaft siehe Heintzen, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), 220 (235–237). In historischer Perspektive Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 60–66 sowie S. 75–95 im internationalen und rechtsvergleichenden Kontext.
III. De-facto-Verfassungsänderung durch Maßnahmenkumulation
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griffe von oben“ verwendet.364 Angriffe von „unten“ hat eine Partei, die etwa eine Bundestagswahl gewonnen hat, wohl nicht nötig, unabhängig davon, wie hoch die Anforderungen an diese Haltung zu schrauben sind.365 Vielmehr kann die Regierung dann selbst die Möglichkeiten von Vereinsverboten etc. nutzen. Die Vorschriften der Verfassung hätten bei einem solchen Sachverhalt allenfalls eine sehr geringe Problemlösungskapazität. Selbst beim Thema der Belastungskumulationen366 im Grundrechtsbereich, dem rechtswissenschaftlich am intensivsten untersuchten Bereich der Kumulationsproblematik,367 ist man von einer allgemein konsentierten Dogmatik weit entfernt. Dabei wird diese Frage zumindest schon seit den 1980er-Jahren368 erörtert. Es wäre jedoch hilfreich und wünschenswert, über eine solche Methode zu verfügen, die es erlaubt, unterschiedliche Maßnahmen in ihren Wechselwirkungen und Summierungseffekten rechtlich zu erfassen. Zahlreiche Autoren gehen davon aus, dass die Summation häufiger und gefährlicher ist als der „extreme Einzelakt“.369 Peter Lerche formulierte im Hinblick auf Art. 19 II GG, dass „der Gesetzgeber kaum je einen direkten Stoß in das Herz eines Grundrechts führen“370 werde. „Democracy dies by inches“, nicht nur weil zunächst einzelne Akteure ausgeschaltet und die eigenen Machtpositionen gefestigt werden müssen, sondern auch, weil man sich an schrittweise Veränderungen leichter gewöhnt. Der Diskurs und die Wahrnehmung verschieben sich, die 364 Diese Terminologie ist unschön, ruft sie doch mit „oben“ und „unten“ Erinnerungen an den „Untertanen“ hervor. Deshalb versuchen einige Autoren sich durch die Setzung von Anführungszeichen von diesen Begriffen zu distanzieren, z.B. bei Papier/Durner, Streitbare Demokratie, AöR 128 (2003), 340 (348). Die Begriffe dürfen gleichwohl als eingebürgert gelten. 365 In BVerfGE 144, 20 (220) wird die Definition aus dem KPD-Urteil erwähnt, aber der Akzent auf „ein planvolles Handeln im Sinne qualifizierter Vorbereitung einer Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder einer Gefährdung des Bestandes der Bundesrepublik Deutschland“ gelegt, BVerfGE 144, 20 (221–223). Siehe hierzu Uhle, Das Parteiverbot gem. Art. 21 II GG, NVwZ 2017, 583 (587–589). 366 Zum Begriff Schaks, Das Verbot der Belastungskumulation als Bestandteil der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, DÖV 2015, 817 (819 f.). 367 Siehe hierzu die Monografien Brade, Additive Grundrechtseingriffe, 2020; Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007; Heu, Kulminierende Grundrechtseingriffe, 2018; Kromrey, Belastungskumulation, 2018; Puschke, Die kumulative Anordnung von Informationsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen der Strafverfolgung, 2006; Ruschemeier, Der additive Grundrechtseingriff, 2019. 368 Kloepfer, Belastungskumulationen durch Normenüberlagerungen im Abwasserrecht, VerwArch 74 (1983), 201 ff.; Sodan, Wirtschaftslenkung im Recht der Arzneimittelversorgung, in: Peter/Rhein (Hrsg.), Wirtschaft und Recht, 1989, S. 69 (94–96). 369 Siehe zu den beiden Möglichkeiten des Staatsstreichs und der demokratischen Dekonsolidierung B. II. 2. unten und Huq/Ginsburg, How to Lose a Constitutional Democracy, UCLA Law Review 65 (2018), 78 (83–86, 92–96), die zwischen „authoritarian reversion“ und „constitutional retrogression“ unterscheiden. 370 Lerche, Grundrechtsschranken, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 122 Rn. 28. Nahezu wortgleich Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 244.
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
Ausnahme wird zur Regel und dies alles – vermeintlich – ganz legal. Insofern ist der synonym zu „demokratische Dekonsolidierung“ verwendete bildhafte Begriff „democratic backsliding“ („demokratisches Zurückrutschen“) sehr treffend: Einmal auf die schiefe Ebene der demokratischen Dekonsolidierung geraten, verschlechtert sich der Zustand der Demokratie immer schneller, denn jede Schwächung der Demokratie erleichtert weitere Angriffe auf sie. Dem Summationseffekt mehrerer – isoliert betrachtet – verfassungsmäßiger Maßnahmen zu begegnen, stellt also nach wie vor eine Herausforderung der Rechtsordnung dar. Überdies wird das Phänomen der Kumulationen auch fast ausschließlich im Hinblick auf die Grundrechte diskutiert. Im übrigen Verfassungsrecht sucht man vergebens nach einer entsprechenden Kontroverse. Dies deckt sich mit der grundlegenden Annahme, wonach das Staatsorganisationsrecht generell weniger konzeptionell durchdrungen worden sei als der Grundrechtsbereich.371 Möglicherweise kann durch die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG über den Grundrechtsbereich hinaus ein Ansatz zur Bewältigung der demokratischen Dekonsolidierung entwickelt werden.
IV. Thesen Im weiteren Verlauf der Arbeit wird untersucht, ob und inwieweit das geltende Verfassungsrecht Schutz vor einer demokratischen Dekonsolidierung bieten kann. Leitender Gedanke hierbei ist, das Grundgesetz sei antizipativ in dem Sinne, dass es Gefahren vorhersieht und auch die zur Lösung erforderlichen Mechanismen bereithält (1.). Dies geschieht u.a. dadurch, dass die Verfassung feste Grenzen zieht, also absolute, auch im Einzelfall nicht relativierbare Gehalte aufweist (2.), mit denen auch Maßnahmenkumulationen begegnet werden kann (3.). Die relevante Vorschrift ist die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG. Der Schutz vor Maßnahmenkumulationen soll abschließend am Beispiel des Wesensgehalts der Versammlungsfreiheit verdeutlicht werden (4.). Diese Gedanken geben den weiteren Gang der Untersuchung vor.
1. Erste These: Das Grundgesetz als antizipative Verfassung Ausgangspunkt und erste These ist, dass das Grundgesetz in stärkerem Maße zukunftsgerichtet ist, als es bislang interpretatorisch durchdrungen wurde. Verfassungsbestimmungen sind nicht nur dadurch zukunftsgerichtet, dass sie für die Entscheidung zukünftiger Streitfälle bereitstehen. Aus den Vorschrif371 Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (223 f.). Hierzu auch Aust, Grundrechtsdogmatik im Staatsorganisationsrecht?, AöR 141 (2016), 415 ff.
IV. Thesen
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ten muss bereits vorher ein Inhalt ermittelt werden, der kontinuierlich das Handeln der staatlichen Gewalten anleitet und es äußerstenfalls auch begrenzt.372 Dieser Inhalt gilt nicht erst im (gerichtlichen) Sanktionsfall. Der Antizipationsgedanke geht aber über die bloße Zukunftsgerichtetheit des Rechts hinaus und wird im Hinblick auf die Antizipation der Krise „demokratische Dekonsolidierung“ verfolgt. Gemeint ist, dass das Grundgesetz besondere Krisensituationen antizipiert und zu ihrer Bewältigung Lösungsmechanismen bereithält. Wenn es um den Schutz der Demokratie geht, wird ein Teil dieses Befunds herkömmlicherweise mit dem Begriff der „wehrhaften Demokratie“373 beschrieben, welche u.a. Partei- oder Vereinsverbote vorsieht. Diese Instrumente sind repressiv, was auf Dauer unzureichend ist. Hier soll die These aufgestellt werden, dass das Grundgesetz nicht bei der wehrhaften Demokratie stehen bleibt. Vielmehr handelt es sich bei der Gefahrenantizipation um einen allgemeinen Gedanken, der sich eigenständig durch die gesamte Verfassung des Grundgesetzes zieht. Dieser kann teleologisch Wirkung entfalten, wenn man die Leitbildfunktion der Verfassung374 mit Leben und Inhalt füllen möchte. Er wird im Hinblick auf die demokratische Dekonsolidierung entwickelt. Hieraus folgt auch, dass es der rechtzeitigen Inhaltsermittlung der Vorschriften zum Schutze der Verfassung bedarf.
2. Zweite These: Schutz der Verfassungsordnung durch feste Verfassungsgrenzen Der antizipative Gedanke ist – so die zweite These – auch in Art. 19 II GG enthalten. Die Wesensgehaltsgarantie zeichnet sich dadurch aus, dass sie feste Grenzen zieht, die auch in Notsituationen nicht überschritten werden dürfen. Hiermit sind absolute Verfassungsgehalte gemeint, die nicht im Wege der Abwägung relativiert oder überwunden werden dürfen, unabhängig davon, wie gewichtig die Gegengründe sein mögen. Dies erscheint vor dem Hintergrund der demokratischen Dekonsolidierung auch geboten. Um die Umkehrung eines liberalen Staates in einen illiberalen verhindern zu können, muss erstens bewusst sein, was einerseits den liberalen und andererseits den illiberalen Staat ausmacht. Nur wenn von beiden ein hinreichend klares Bild besteht, lassen 372 Der Antizipationsgedanke geht also über die Unterscheidung zwischen „situativem“ und „legalistischem“ Recht hinaus, siehe aber hierzu Poscher, Das Grundgesetz als Verfassung des verhältnismäßigen Ausgleichs, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 3 Rn. 4–6. 373 Siehe hierzu unten C. IV. 1. 374 Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 325 f.; Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 82, 96–98; Voßkuhle, Stabilität, Zukunftsoffenheit und Vielfaltssicherung – Die Pflege des verfassungsrechtlichen „Quellcodes“ durch das BVerfG, JZ 2009, 917 (917).
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
sich Entwicklungen in Richtung der demokratischen Dekonsolidierung zutreffend bewerten und verhindern. Zweitens muss eine Entdemokratisierung aufgehalten werden können. Relative Verständnisse können dem nicht hinreichend Rechnung tragen. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG erklärt bestimmte Grundrechtsgehalte, nämlich den jeweiligen Wesensgehalt, für unantastbar. Wörtlich heißt es in Art. 19 II GG: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“ Damit wirkt die Wesensgehaltsgarantie aber im Sinne einer absoluten Grenze. Wird der jeweilige Wesensgehalt eines Grundrechts positiv ermittelt, können Rechtswissenschaft und Rechtspraxis rechtzeitig auf Anzeichen einer demokratischen Dekonsolidierung reagieren, denn diese ergreift auch den Grundrechtsbereich und hier insbesondere die „politischen“ Grundrechte der Meinungs-, Presse-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit.375 Mit einem absoluten Grundrechtskern besteht ein Referenzpunkt, der Orientierung bietet. Je früher Rechtsprechung und Wissenschaft dieser Aufgabe nachkommen, desto eher lässt sich ein Konsens erreichen und desto früher kann dieser Konsens wirken. Die politik- und rechtswissenschaftliche Forschung zeigt, dass der Beginn der demokratischen Dekonsolidierung schwierig zu erfassen ist und die demokratische Dekonsolidierung erst dann bemerkt wird, wenn ihre negativen Auswirkungen fassbar werden. Unabhängig von den absoluten Gehalten muss der Inhalt des Rechts ermittelt sein, wenn man die Fragen beantworten will, was, wann und wie das Recht schützt.
3. Dritte These: Schutz der Verfassungsordnung durch Schutz vor Kumulation Der Schutz vor antidemokratischen Gesetzeskumulationen durch die Wesensgehaltsgarantie kann – so die dritte These – als Ausprägung der antizipativen Verfassung verstanden werden. Als charakteristisches Merkmal der demokratischen Dekonsolidierung wurde die Kumulation von Hoheitsakten ausgemacht. Die traditionelle Vorgehensweise, mehrere Maßnahmen jeweils separat zu bewerten, verschleiert aber den Blick vor den Gefahren der Kumulation von Maßnahmen. Kommt die Sprache auf sich addierende Verschlechterungen, denen ein absolut geschützter Gehalt gegenübergestellt wird, fällt der Blick auf Art. 19 II GG, die Wesensgehaltsgarantie. Ihr Anwendungsbereich ist nicht auf die Erfassung von Einzelakten beschränkt, sondern sie vermag auch mehrere sich 375
Siehe hierzu Huq/Ginsburg, How to Lose a Constitutional Democracy, UCLA Law Review 65 (2018), 78 (87–92, 96 f.).
IV. Thesen
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addierende Belastungen zu erfassen.376 Somit ist die Wesensgehaltsgarantie im Zusammenhang mit der demokratischen Dekonsolidierung aufschlussreich. Beschäftigt man sich näher mit der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, wird rasch deutlich, dass dieser Vorschrift eine Mahn-, Warn- oder Appellfunktion beigemessen wird.377 Dabei wird davon ausgegangen, dass diese Warnfunktion derzeit weniger und nur äußerstenfalls – also besten- oder schlimmstenfalls – in der Zukunft relevant sei.378 Damit scheint diese Vorschrift prima facie Merkmale aufzuweisen, die im Zusammenhang mit der Antizipation von Gefahren für die demokratische Grundordnung hilfreich sein können, nämlich absolute Gehalte sowie das Vermögen, Kumulationen verschiedener Akteure zu erfassen. Versucht man aber, sich den Mechanismus der Warnfunktion des Art. 19 II GG näher anzuschauen, stößt man rasch an Grenzen. Wann, wen, wie und wovor Art. 19 II GG warnt oder warnen soll, bleibt zumeist offen. Die Tatsache, dass Art. 19 II GG überhaupt existiert, scheint wohl Signal und Warnung genug zu sein. Regelmäßig379 wird nicht präzise ermittelt, was konkret der Wesensgehalt eines bestimmten Grundrechts ist. Schon eher, aber auch nicht häufig werden einzelne Elemente eines Grundrechts als zu dessen Wesensgehalt gehörig380 bezeichnet oder gerade nicht. Auch bei wohlwollender Betrachtung ist dieser Befund für eine Warnfunktion ein wenig dürftig, denn selbst für eine bloße Warnfunktion muss der Inhalt einer Vorschrift erkennbar sein. Anders kann die Wesensgehaltsgarantie ihre Funktion nicht erfüllen. 376 Ipsen, Staatsrecht II, 24. Aufl. 2021, Rn. 218 f. Dies ist auch meine Auffassung, vgl. Schaks, Das Verbot der Belastungskumulation als Bestandteil der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, DÖV 2015, 817 (821). 377 Z.B. von Hochhuth, Das abwägungsfeste Übermaßverbot als gesellschaftsvertragliche Gegenleistung, ARSP 92 (2006), 382 (394); Lerche, Grundrechtsschranken, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 122 Rn. 32; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 840. Für F. Klein, in: v. Mangoldt/Klein, GG, Bd. I, 2. Aufl. 1957, Art. 19 Anm. V. 7. b) ist Art. 19 II GG das „mahnende ‚Ausrufezeichen‘“, ähnlich bereits zuvor unter Vorbemerkungen B. XV. 3. c) (S. 133): „Ausrufezeichen“. 378 Lerche, Grundrechtsschranken, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 122 Rn. 32: „In allem Gesagten liegt, daß Art. 19 Abs. 2 GG, wiewohl eine eigenständige Norm, doch nur selten zu praktischem Gewicht gelangt. Sie hat dennoch für das Grundkonzept des Verfassungsgesetzes Signalbedeutung; denn sie läßt erkennen, daß auch der Ausgleichsgedanke, insbesondere die gleichzeitige Berücksichtigung kollidierender Verfassungsgehalte, in Schranken gewiesen werden muß.“ – Hervorhebung nicht im Original. Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, S. 104 spricht von einem „mahnenden Ausrufungszeichen“. 379 Ausnahme aber z.B. bei Chlosta, Der Wesensgehalt der Eigentumsgewährleistung, 1975. 380 Beispielhaft W.-R. Schenke, Anmerkung zum Urteil des BVerfG v. 14.5.1985, 1 BvR 233/81 (Brokdorf-Entscheidung), JZ 1986, 35 (35) im Hinblick auf die Genehmigungsfreiheit von Spontanversammlungen. Siehe auch die Auswertung der einschlägigen Rechtsprechung am Ende der Kommentierung zu Art. 19 II GG bei P.M. Huber, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 172–178.
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A. Einleitung: Demokratische Dekonsolidierung
4. Synthese und praktische Anwendung: Die Wesensgehaltsgarantie als Schutz vor der demokratischen Dekonsolidierung Ausgehend von dem antizipativen Charakter der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG und ihrer Eignung als absolutes Instrument gegen Kumulationen soll in einem letzten Schritt exemplarisch für ein Grundrecht der Schutz dieses Grundrechts in Verbindung mit der Wesensgehaltsgarantie gegen die demokratische Dekonsolidierung herausgearbeitet werden. Denn hinsichtlich individueller Freiheiten verläuft heute die Hauptkonfliktlinie im demokratischen Diskurs. Fand in der Weimarer Republik die Staatsform „Demokratie“ an sich wenig Unterstützung, ist dies heute nicht der Fall.381 Zwar ist im Zusammenhang mit Polen und Ungarn von einer Rechtsstaatskrise382 gesprochen worden und wäre auch hier eine noch weiter gehende Befassung mit dem Rechtsstaatsprinzip lohnend. Aber erstens ist die Wesensgehaltsgarantie unterentwickelt (verglichen mit den Auflistungen der Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzip in der Kommentarliteratur383) und zweitens enthält sie klare Hinweise darauf, dass sie Kumulationen erfasst und absolut zu verstehen ist. Ableitungen aus der Wesensgehaltsgarantie lassen sich deshalb enger auf den Verfassungstext zurückführen und verfügen über eine größere Überzeugungskraft. Mit diesem Ansatz wird schließlich ein Problem in Angriff genommen, das gegen Ende der Weimarer Republik formuliert wurde, aber nicht mehr rechtswissenschaftlich verfolgt werden konnte. So schrieb Gustav Giere in seiner 1932 veröffentlichten Dissertation, nachdem er zuvor die herrschende Meinung kritisiert hatte, die zum Leerlaufen der Grundrechte führte: „Es geht daher nicht an, sie [die Grundrechte] einem formal gefaßten Vorbehalt auszuliefern, der imstande wäre, das, was an ihnen wesentlich ist, wegzudekretieren. Es entspricht nicht dem Sinn der Verfassung, Eigentum oder Selbstverwaltung durch Vorbehaltsgesetzgebung so einengen zu lassen, daß praktisch diese Institute verschwinden […]. Das bedeutet für die Rechtswissenschaft: für jedes Grundrecht ist der geistesgeschichtliche Gehalt herauszuarbeiten, sein Telos, sein Wesenskern oder wie man es sonst umschreiben will. Wir müssen zu einer institutionellen Ansicht kommen, müssen angeben können, was Lehrfreiheit, Elternrecht, Selbstverwaltung, wohler381 Siehe unten B. II. 1. a) sowie Manow, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, 2020, S. 16–19. 382 Siehe statt aller Baade, Die Konditionalitätsverordnung: Erwartungen und Realität anlässlich ihrer ersten Anwendung auf Ungarn, NVwZ 2023, 132 ff. 383 Pars pro toto Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 20 Rn. 77 f. Zudem finden sich in der Kommentarliteratur auch Ausführungen dazu, was der über Art. 79 III GG besonders geschützte Gehalt des Art. 20 III GG ist, vgl. Hain, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 79 Rn. 88–118 (auch wenn er „das“ Rechtsstaatsprinzip nicht als von Art. 20 III GG erfasst ansieht). Vergleichbares fehlt aber gerade für die Grundrechte und Art. 19 II GG.
V. Zwischenergebnis
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worbene Rechte, Minderheit, Koalitionsrecht, kurz, die großen objektiven Ordnungen bedeuten. Alsdann wird man entscheiden können, ob ein ,Eingriff‘ ihre Integrität berührt oder nicht.“384
Diese Forderung an die Rechtswissenschaft wurde auch in den folgenden 90 Jahren nicht eingelöst. Hierfür bietet sich in besonderer Weise das Grundrecht der Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG als „Referenzgrundrecht“ an, denn die Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG ist eines der klassischen politischen Rechte385 und damit eines, das in Zeiten politischer Umwälzungen besonders relevant ist. Es hat überdies enge Beziehungen zum Demokratieprinzip386 und ist folglich auch im politischen Alltag von Bedeutung für den politischen Prozess.387 Das BVerfG spricht von „schlechthin konstituierend“.388
V. Zwischenergebnis Ausgehend von der Beobachtung, dass in vielen Staaten der Welt derzeit eine demokratische Dekonsolidierung stattfindet, zeigt sich, dass die Kumulation von Maßnahmen eine besondere Bedrohung der verfassungsmäßigen Ordnung darstellt. Durch verschiedene sich in ihren Wirkungen verstärkende Maßnahmen wird die Verfassungs- und Rechtsordnung insgesamt dergestalt verändert, dass typische Merkmale der liberalen Demokratie abgeschafft werden, wenn die Barriere der Gewaltenteilung überwunden worden ist. Hier besteht im deutschen Recht noch eine Forschungslücke, denn es wurde bislang keine absolute Grenze ermittelt, an der sich antidemokratische Maßnahmen stoßen und welche der demokratischen Dekonsolidierung entgegengehalten werden kann. Ob sich ein solcher absoluter Gehalt der Verfassung des Grundgesetzes, den Wesensgehalten der Grundrechte, entnehmen lässt und einer demokratischen Dekonsolidierung in der Bundesrepublik Deutschland entgegengehalten werden kann, soll im weiteren Verlauf untersucht werden. Dabei werden die demokratische Dekonsolidierung als zu verhinderndes Phänomen und die Verfassungsordnung des Grundgesetzes als der zu erhaltende Zustand betrachtet. Damit bleiben Angriffe von außen ebenso ausgeklammert wie die faktischen Gelingensbedingungen der Demokratie, da die demokratische Dekonsolidierung sich primär durch die Umgestaltung der Rechtsordnung von innen auszeichnet. 384
Giere, Das Problem des Wertsystems der Weimarer Grundrechte, 1932, S. 117 f. – Hervorhebung nicht im Original. 385 BVerfGE 69, 315 (343–347). 386 BVerfGE 69, 315 (346 f.). Siehe auch Höfling/Augsberg, Versammlungsfreiheit, Versammlungsrechtsprechung und Versammlungsgesetzgebung, ZG 2006, 151 (152). 387 Siehe bereits oben B. II. 1. b) und d). 388 BVerfGE 69, 315 (344 f.).
B. Methodische und begriffliche Grundlegungen Ziel der Arbeit ist es, die demokratische Dekonsolidierung in der Bundesrepublik Deutschland zu erforschen, insbesondere zu untersuchen, was das geltende Verfassungsrecht einer demokratischen Dekonsolidierungsbewegung, also der etappenweisen Abschaffung demokratischer Elemente durch vermeintlich rechtlich zulässige Maßnahmen, entgegenzusetzen hat. Hierfür werden zunächst die Methode und die relevanten Begriffe geklärt, auf denen die vorliegende Untersuchung aufbaut.
I. Methode Die Arbeit untersucht das geltende Recht und unterzieht es einer Analyse, wie es Schutz vor einer demokratischen Dekonsolidierung bietet. Somit handelt es sich um eine rechtsdogmatische Untersuchung (1.). Das dogmatische Vorgehen stößt allerdings auf methodische Herausforderungen (2.). Diese und der Umgang mit ihnen sollen zunächst offengelegt werden. Zur Absicherung der Untersuchungsergebnisse werden auch rechtsvergleichende Betrachtungen hinsichtlich der südafrikanischen Verfassungen von 1994 und 1996 angestellt (3.). Die gewählte Methode lässt sich im Ergebnis als Dogmatik im Kontext bezeichnen (4.).
1. Das geltende Verfassungsrecht als Ausgangspunkt Will man über die Zukunftsfähigkeit des geltenden Rechts schreiben, so muss auch das geltende Recht und nicht eine vermeintliche Ideal- oder Wunschvorstellung dessen, was Recht sein oder wie es sein sollte, als Ausgangspunkt genommen werden. Dies gilt auch und insbesondere, wenn man der Verfassung einen bestimmten Inhalt entnehmen will. Dieser muss in der geltenden Verfassung selbst angelegt sein, anderenfalls betreibt man Verfassungsneuschöpfung.1 Das wäre methodisch unsauber, und man könnte keine Erkenntnisse zur Behandlung der demokratischen Dekonsolidierung gewinnen. Diese Arbeit ist deshalb eine rechtsdogmatische und keine rechtstheoretische, rechts1
Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004, S. 15.
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
philosophische oder rechtspolitische. Sie argumentiert dementsprechend auch nicht de constitutione ferenda.2 Auch wenn die demokratische Dekonsolidierung mittlerweile Gegenstand rechtswissenschaftlicher Betrachtung ist, so ist ein großer Teil der Literatur, der sich mit der demokratischen Dekonsolidierung befasst, der Politikwissenschaft3 zuzuordnen. Politikwissenschaftliche Erkenntnisse werden zwar herangezogen, um das globale Phänomen der demokratischen Dekonsolidierung zu beschreiben und zu analysieren. Dies ändert aber nichts an der Maßgeblichkeit des geltenden Verfassungsrechts für die Zwecke dieser Untersuchung. Das Erkenntnisinteresse, dem geltenden Recht Aussagen zur demokratischen Dekonsolidierung zu entnehmen, zwingt dazu, in besonderem Maße die Ansicht der Rechtsprechung zur Kenntnis zu nehmen, die das geltende Recht maßgeblich auslegt und anwendet.4 Dies schließt Kritik an der Rechtsprechung nicht aus, verbietet aber eine Herangehensweise, die grundlegende Annahmen und Rechtsprechungslinien verwirft. Mit „Rechtsprechung“ ist nicht allein die des BVerfG und der Fachgerichte, insbesondere der Verwaltungsgerichtsbarkeit, gemeint. Vielmehr wird auch – soweit vorhanden und einschlägig – die Rechtsprechung des EuGH und des EGMR herangezogen. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts5 sowie der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Befolgung der EMRK und des innerstaatlichen Grundsatzes
2 Aus diesem Grund werden auch etwaige Modifikationen des Gewaltenteilungsgrundsatzes und die Fragen der Verfassungsfestigkeit nicht aufgegriffen, hierzu A. II. 2. b). 3 Z.B. Mounk, The People vs. Democracy, 2018; Waldner/Lust, Unwelcome Change: Coming to Terms with Democratic Backsliding, Annual Review of Political Science 21 (2018), 93 ff. 4 Smend, Das Bundesverfassungsgericht, in: Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 4. Aufl. 2010, S. 581 (582): „Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne.“ Vgl. zuvor bereits Hughes, Addresses and Papers of Charles Evans Hughes. Governor of New York 1906–1908, 1908, S. 139: „We are under a Constitution, but the Constitution is what the judges say it is […]“. „Wir stehen unter einer Verfassung, aber die Verfassung ist das, was die Richter sagen, was sie ist.“ [Übersetzung des Verfassers] Das englische Zitat geht allerdings weiter, als es zumeist überliefert wird, und endet mit „[…] and the judiciary is the safeguard of our liberty and of our property under the Constitution.“ „[…] und die Judikative ist der Schutz unserer Freiheit und unseres Eigentums im Rahmen der Verfassung.“ [Übersetzung des Verfassers] 5 Grundlegend EuGH, Urt. v. 15.7.1964 – 6/64, ECLI:EU:C:1964:66 S. 1269 f. – Costa/ ENEL. Aus jüngerer Zeit EuGH, Urt. v. 19.1.2010 – C-555/07, ECLI:EU:C:2010:21 Rn. 54 – Kücükdeveci. Aus der Sicht des BVerfG: BVerfGE 123, 267 (353 f.); 126, 286 (301–304); 142, 123 (186–188); 146, 216 (255 f.). Aus der Literatur Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 1 EUV Rn. 46–49; Ludwigs/Sikora, Der Vorrang des Unionsrechts unter Kontrollvorbehalt des BVerfG, EWS 2016, 121 ff.; Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen, 2017, § 1 Rn. 65–75. Zur Divergenz der beiden Sichtweisen Heintzen, Die „Herrschaft“ über die Europäischen Gemeinschaftsverträge, AöR 119 (1994), 564 (578–582).
I. Methode
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der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes6 können und müssen auch dem europäischen Recht Aussagen entnommen werden.
2. Methodische Dilemmata Die Arbeit steht vor drei grundlegenden Herausforderungen: erstens vor der Offenheit des Verfassungstextes (a]), zweitens vor dem Stufenbau der Rechtsordnung (b]) und drittens vor der Zeitgebundenheit des Rechts (c]). Insbesondere die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG ist eine abstrakte Vorschrift, bei welcher sich alle drei Herausforderungen in besonderem Maße stellen. a) Offenheit des Verfassungstextes Bei der Beantwortung der Frage, was die Verfassung einer demokratischen Dekonsolidierung entgegensetzen kann, scheint Zurückhaltung angebracht. Der Verfassungstext kann – nach der oft bemühten Sentenz von Ernst-Wolfgang Böckenförde – die Voraussetzungen der eigenen Existenz nicht garantieren.7 Vor allem aber ist der Verfassungstext abstrakt formuliert und auf konkretisierende Verwirklichung angelegt.8 Ihm präzise, zwingende Aussagen für konkrete Situationen entnehmen zu wollen, dürfte ein methodisch zweifelhaftes Vorgehen darstellen. Das Grundgesetz stellt eine Rahmenordnung dar, die insbesondere dem Gesetzgeber Spielräume einräumt und auch einräumen muss.9 So steht dem Gesetzgeber beispielsweise eine Einschätzungsprärogative bei der Tatsachenbeurteilung zu.10 Hinsichtlich der Angemessenheit im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung fragt das überprüfende BVerfG lediglich, ob bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs für den Betroffenen und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der für den Eingriff sprechenden Gründe die Grenzen der Zumutbarkeit noch gewahrt sind.11 Zwin6 St. Rspr. BVerfG: BVerfGE 111, 307 (315–330); 128, 326 (366–372); 148, 296 (343, 350– 356); 151, 1 (26–37). Siehe hierzu Masing, Verfassung im internationalen Mehrebenensystem, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 2 Rn. 129–133 und kritisch Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 55–57; Voßkuhle, Rechtspluralismus als Herausforderung, ZaöRV 79 (2019), 481 (483– 488). Zur historischen Perspektive Vöneky, Verfassungsrecht und völkerrechtliche Verträge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Bd. XI, HStR, 3. Aufl. 2013, § 236 Rn. 12. 7 E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 2006, S. 112. So auch Levitsky/Ziblatt, How Democracies Die, 2018, S. 97–100. 8 BVerfGE 62, 1 (45): „Offenheit des Normtextes“. So auch Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 89–93. 9 Siehe hierzu bereits oben A. I. 3. a). 10 BVerfGE 138, 136 (190 f.); 146, 71 (121, 124 f.). Besonders instruktiv BVerfGE 159, 223 ff. zu den Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen im Rahmen der Coronapandemie. 11 BVerfGE 61, 291 (312) m.w.N. Vgl. auch BVerfGE 68, 272 (282); 90, 145 (185).
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
gende Handlungsaufträge an den Gesetzgeber sind selten, thematisch eng umgrenzt (z.B. Art. 6 V GG12), oder die Feststellung ihrer Verletzung ist an hohe Voraussetzungen geknüpft, wie dies bei grundrechtlichen Schutzpflichten der Fall ist. Ihre Verletzung kann das BVerfG erst dann feststellen, wenn der Gesetzgeber gänzlich untätig geblieben ist oder lediglich evident unzureichende Maßnahmen ergriffen hat,13 was nahezu nie vorkommt. Auch im Bereich des Bundeshaushalts wird die Freiheit des Gesetzgebers betont, das Haushaltsgesetz nach politischen Prioritäten zu beschließen („eine wirtschaftliche Grundsatzentscheidung für zentrale Bereiche der Politik“).14 Wegen der „lapidare[n] Sprachgestalt“15 der auszulegenden Verfassungsbestimmungen wie z.B. Art. 8 GG oder Art. 19 II GG bedarf die Interpretation einer behutsamen Herangehensweise.16 Angesichts der Offenheit der Grundrechtsverbürgungen stellt somit bereits die „einfache“ Grundrechtsauslegung, also unabhängig von Art. 19 II GG, keine triviale Aufgabe dar, bei der rasch ein klares Ergebnis offenkundig zutage tritt; zumindest werden zumeist mehrere Deutungsmöglichkeiten vertretbar bleiben.17 Nicht überraschend nennt Uwe Volkmann gerade die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, welcher hier besondere Aufmerksamkeit zukommen wird, wenn es darum geht, ein Beispiel für die „fragmentarische, offene und oft nur prinzipienhafte Regelungsstruktur der Verfassung“ zu geben.18 Hier ist dann erst recht Behutsamkeit angeraten. b) Stufenbau der Rechtsordnung Die Frage des Umgangs mit der Offenheit des Verfassungstextes spitzt sich für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung noch zu. Denn die relevante We12 Hierzu BVerfGE 8, 210 (216); 25, 167 (173); Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 6 Rn. 307. 13 BVerfGE 77, 170 (214 f.). So auch BVerfGE 56, 54 (80–82); Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 39 f.; Jarass, Die Grundrechte: Abwehrrechte und objektive Grundsatznormen, in: FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 35 (49). 14 BVerfGE 45, 1 (31 f.); Kube, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Dezember 2013), Art. 110 Rn. 35–37, siehe dort aber auch zu den faktischen Grenzen Rn. 38–41. 15 Begriff in BVerfGE 79, 127 (143). Siehe auch Hettich, Versammlungsrecht in der Praxis, 3. Aufl. 2022, Rn. 6 a.E.; Horn, Vom Staat der Demokratie, 2015, S. 11. 16 Dies gilt nicht nur, aber in besonderer Weise für Verfassungsbestimmungen. Auch in der Rechtstheorie allgemein geht man davon aus, dass die Bedeutungen von Wörtern nicht so offenkundig sind, wie sie gelegentlich scheinen, vgl. Hart, The Concept of Law, 3. Aufl. 2012, S. 124–136; F. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, 11. Aufl. 2013, Rn. 351a–351g. 17 R. Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, in: FS Maihofer, 1988, S. 87 (100); Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, 2013, S. 138 f. 18 Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, 2013, S. 138 f.
I. Methode
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sensgehaltsgarantie bezieht sich mit dem Begriff „Wesensgehalt“ auf einen Ausschnitt aus dem Grundrecht und macht eine Abgrenzung des Grundrechtswesens vom restlichen Grundrecht erforderlich, ohne eindeutige Kriterien hierfür vorzugeben. Hiermit allein ist zwar noch nicht der Stufenbau der Rechtsordnung angesprochen, denn Art. 19 II GG bezieht sich auf die Grundrechte und diese stehen im selben Rang wie die Wesensgehaltsgarantie. Was das Grundrecht aber schützen will und sogar derart schützenswert ist, dass es auch von der Wesensgehaltsgarantie umfasst sein soll, ergibt sich oftmals erst unter Berücksichtigung des einfachen Rechts, teilweise sogar des vergangenen einfachen Rechts. Dieses einfache Recht beeinflusst den Inhalt des heutigen Verfassungsrechts. So ist das explizite Zensurverbot, wie es sich in Art. 5 I 3 GG findet und zuvor in Art. 118 II 1 WRV19 und § 143 II Paulskirchenverfassung20 fand, eine Reaktion auf die tatsächlich erfolgte Zensur infolge von Zensurgesetzen, z.B. in der Restaurationszeit nach dem Wiener Kongress.21 Pathetischer bringt es Dieter-Dirk Hartmann zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Grundrechte sind Abwehrrechte. Ihre einzelnen Sätze, oft unter blutigen Opfern erkauft, ziehen Lehren aus erlittener Geschichte. Sie schützen einzelne, erfahrungsgemäß besonders verletzliche Lebensbereiche gegen Machtansprüche und Ordnungsvorstellungen, die auch freiheitlichen Rechtsstaaten eignen. Ihre Auslegung muß deshalb die einer freiheitlichen Verfassung eigentümlichen Möglichkeiten des Unrechts aufsuchen.“22
Folgt man diesem Gedankengang weiter und fragt, wo das einfache Recht herrührt, dann lässt sich dies als Verschriftlichung praktizierter Gebräuche oder als Reaktion auf menschliches Verhalten begreifen.23 Das Recht greift natürliche, soziale oder sonstige tatsächliche Bedürfnisse und historische Entwick-
19
„Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden.“ 20 „Die Preßfreiheit darf unter keinen Umständen und in keiner Weise durch vorbeugende Maaßregeln, namentlich Censur, Concessionen, Sicherheitsbestellungen, Staatsauflagen, Beschränkungen der Druckereien oder des Buchhandels, Postverbote oder andere Hemmungen des freien Verkehrs beschränkt, suspendirt oder aufgehoben werden.“ 21 Z.B. Art. 1. Preußische Zensur-Verordnung v. 18.10.1819, Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, 224 (227): „Alle im Unserem Lande herauszugebende Bücher und Schriften, sollen der in den nachstehenden Artikeln verordneten Zensur zur Genehmigung vorgelegt, und ohne deren schriftliche Erlaubniß weder gedruckt noch verkauft werden.“ 22 D.-D. Hartmann, Verwirkung von Grundrechten, AöR 95 (1970), 567 (572). So der Sache nach auch Ossenbühl, Versammlungsfreiheit und Spontandemonstration, Der Staat 10 (1971), 53 (53 f.). Etwas anders der Ansatz von H.-P. Schneider, Rechtssatz und geronnene Geschichte, in: FS Hufen, 2015, S. 93 (96–98). Gegen eine allein historisch ausgerichtete Grundrechtsinterpretation aber Bleckmann, Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997, § 8 Rn. 4 f. 23 Hierzu G. Winkler, Zeit und Recht, 1995, S. 242–245.
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
lungen auf. Es basiert auf Tatsachen, auf menschlichem Verhalten.24 Um das Verfassungsrecht entfalten zu können, bedarf es der Kenntnisse des einfachen Rechts und seiner Geschichte. Dies scheint jedoch dem Stufenbau der Rechtsordnung zu widersprechen, welcher gleichwohl der deutschen Rechtsordnung zugrunde liegt.25 Der Begriff „Stufenbau der Rechtsordnung“ geht auf Adolf Julius Merkl26 und Hans Kelsen27 zurück und beschreibt die „rechtsordnungseigene Gliederung“.28 Eine Norm bezieht ihre Geltung daraus, dass sie den Vorgaben des höherrangigen Rechts gemäß zustande gekommen ist.29 Das in der Normenhierarchie unter der Verfassung stehende und nach ihren Regeln erzeugte Recht wird in der Regel30 konkreter, aber es soll seinerseits wiederum verfassungskonform im Lichte des höherrangigen Rechts ausgelegt und angewendet werden.31 Die darüber liegenden Stufen wie die verfassungsrechtlichen Grundrechte greifen dann zumeist der Erfahrung nach besonders bedeutsame Aspekte auf und abstrahieren diese.32 So ist in Umdrehung des Satzes, dass Verwaltungsrecht konkretisiertes Verfassungsrecht sei, auch davon die Rede, Verfassungsrecht sei abstrahiertes Verwaltungsrecht.33 Zwar gilt die Normenhierarchie, aber was z.B. in der Verfassung geschützt wird und werden soll, lässt sich nicht ohne Rückgriff auf historische Erfahrungen und das einfache Recht ermitteln. Die Auswirkungen im tatsächlichen Bereich können erhebliche Folgen haben. Als Beispiel sei auf Vermummungen anlässlich von Versammlungen hingewiesen. § 17a II VersG verbietet u.a. bei öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel, Aufzügen oder sonstigen öffentlichen Veranstaltungen unter freiem Himmel oder auf dem Weg dorthin, in einer Aufmachung teilzunehmen, „die geeignet und den Umständen nach darauf gerichtet ist, die Feststellung der Identität zu verhindern, oder den Weg zu der24 Vgl. auch Pschorr/Spanner, Verfassungswandel messbar machen, in: Donath et al. (Hrsg.), Verfassungen – ihre Rolle im Wandel der Zeit, 2019, S. 137 (141–144). 25 Hierzu Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 298–306 u.a. mit Art. 1 III und Art. 20 III GG als bedeutsamen Ausprägungen. 26 Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft, 1923, S. 181 f., 189, 208–228; Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz, in: Mayer-Maly/Schambeck/Grussmann (Hrsg.), Adolf Julius Merkl. Gesammelte Schriften, Bd. 1, Teilbd. 1, 1993, S. 227 (228 f., passim). 27 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 233 f., 248–255, 361–363; Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, S. 62–89. 28 Lepsius, Normenhierarchie und Stufenbau der Rechtsordnung, JuS 2018, 950 (951). 29 Lepsius, Normenhierarchie und Stufenbau der Rechtsordnung, JuS 2018, 950 (951). 30 Dies muss jedoch nicht stets so sein. So sprechen sowohl Art. 8 I GG als auch § 1 VersG von „Versammlung“, verwenden also dasselbe Wort. 31 Grundlegend BVerfGE 7, 198 (205–207). 32 Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2006, S. 12. 33 Kloepfer, Die Entfaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, in: FG BVerwG, 2003, S. 329 (330); C. Möllers, Methoden, in: Voßkuhle/Eifert/Möllers (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2022, § 2 Rn. 13. Hierzu auch Kersten, Was kann das Verfassungsrecht vom Verwaltungsrecht lernen?, DVBl. 2011, 585 (585).
I. Methode
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artigen Veranstaltungen in einer solchen Aufmachung zurückzulegen“ (sog. Vermummungsverbot34). Verstöße hiergegen können gem. §§ 27 und 29 VersG als Straftaten geahndet werden. Ob ein solches Verbot vor Art. 8 GG Bestand hat, hängt auch von dem außerrechtlichen Kontext ab. Gerade bei politisch umstrittenen Versammlungen, bei denen es zu Gegenversammlungen kommt, filmen sich seit einigen Jahren die (Gegen-)Demonstranten, um Aufnahmen über soziale Netzwerke zu verbreiten und die politischen Gegner sozial, z.B. beim Arbeitgeber, zu diskreditieren. Hierauf reagieren die Gefilmten mit Vermummungen. Das Bestehen eines Vermummungsverbots und dessen Anwendung und Durchsetzung, wobei für die Straftaten das Legalitätsprinzip der §§ 152 II, 160, 163 StPO gilt, haben also bei zunehmender Digitalisierung und damit einhergehender erleichterter Herstellung und Verbreitung von Filmaufnahmen eine neue Brisanz erhalten,35 die das Recht zur Kenntnis nehmen und verarbeiten muss. Hierbei kann sich die verfassungsrechtliche Bewertung ändern. Nicht immer werden diese historischen Wechselbezüge relevant werden. Das positive Recht ist als solches bekannt und wird aufgrund seiner Geltung unabhängig davon angewendet, wie die gegenwärtige Setzung ursprünglich entstanden ist. Die zuvor geschilderten Wechselbeziehungen bereiten für die vorliegende Arbeit aber dadurch eine Herausforderung, dass die Wesensgehaltsgarantie Bezug auf einen Ausschnitt aus der Versammlungsfreiheit nimmt. Art. 19 II GG spricht indes nur vom „Wesensgehalt“ eines Grundrechts. Der Wortlaut der Vorschrift gibt keine weiteren Anhaltspunkte, was hierunter zu verstehen ist und wie der Wesensgehalt methodisch oder praktisch zu ermitteln wäre. Somit verweist die engere36 auf die weitere Norm, deren Inhalt jedoch auch nicht exakt ermittelbar ist. Insgesamt besteht bei dieser Gemengelage die Gefahr, dass ein Grundrechtstext weniger ausgelegt wird, als vielmehr etwas in ihn hineingelegt wird. Dieses Dilemma ist nicht vollständig auflösbar, sodass als methodische Anforderung zunächst verbleibt, sich dessen bewusst zu sein. Immerhin hilft der Rechtsvergleich, da eine fremde Rechtsordnung als Orientierung dienen kann.37 34 Die während der Covid-19-Pandemie geltende Maskenpflicht sei an dieser Stelle ausgeklammert, siehe aber hierzu M. Martini/Thiessen/Ganter, Zwischen Vermummungsverbot und Maskengebot: Die Versammlungsfreiheit in Zeiten der Corona-Pandemie, NJOZ 2020, 929 ff. 35 Nach OLG Karlsruhe, NStZ 2022, 621 soll das strafbewehrte Vermummungsverbot auch dann gelten, wenn nicht die Identifizierung durch Behörden, sondern durch Gegendemonstranten verhindert werden soll. Zum Vermummungsverbot in Zeiten der Covid-19Pandemie M. Martini/Thiessen/Ganter, Zwischen Vermummungsverbot und Maskengebot: Die Versammlungsfreiheit in Zeiten der Corona-Pandemie, NJOZ 2020, 929 ff. 36 Ranghöher wäre ein unzutreffender Begriff, da Art. 8 I GG und Art. 19 II GG abstrakt gleichrangig sind, da beide Vorschriften Verfassungsrang haben und in identischer Weise abänderbar sind, Art. 79 III GG. Siehe zur Aufhebbarkeit unten D. I. 1. 37 Siehe hierzu sogleich unter B. I. 3.–B. I. 3. a).
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
c) Zeitgebundenheit Schließlich liegt eine grundsätzliche Schwierigkeit darin, dass die Untersuchung in hohem Maße zeitabhängig ist. Bereits das Phänomen der demokratischen Dekonsolidierung ist definitionsgemäß ein Prozess, der sich über mehr oder weniger lange Zeitperioden erstrecken kann. Ihn zu erkennen oder nicht fälschlich als gegeben zu betrachten, stellt eine erste Schwierigkeit dar. Je nach Zeitpunkt der Betrachtung fällt die zutreffende Einschätzung leichter oder schwerer. Für die vorliegende Untersuchung ist dies indes die geringste Schwierigkeit, da von der grundsätzlichen Möglichkeit einer solchen demokratischen Dekonsolidierung angesichts der weltweiten Entwicklung ausgegangen werden muss und für diesen Fall generell Vorsorge getroffen werden soll. Schwierigkeiten bereitet jedoch die Tatsache, dass der Inhalt der Verfassung nicht statisch ist und dies auch nicht sein darf. Die Verfassung als Grundordnung muss Veränderungen aller Art (z.B. gesellschaftliche, politische, technische, wirtschaftliche) aufgreifen und verarbeiten können, sie muss in diesem Sinne offen oder flexibel sein.38 Sie ist ein Kompromiss zwischen Rigidität und Flexibilität,39 wobei das Grundgesetz als in hohem Maße dynamische Verfassung angesehen wird.40 Das BVerfG konkretisiert alte Gehalte in neuen Kontexten, die sich im Wege systematischer Interpretation auch auf andere Bestimmungen auswirken können,41 mitunter kommt es zu Änderungen der Rechtsprechung42 oder zu einem Verfassungswandel43. Dies gilt auch für die Grundrechte44 und für Art. 8 GG45. Deshalb ist nach wohl überwiegender An38
Voßkuhle, Stabilität, Zukunftsoffenheit und Vielfaltssicherung – Die Pflege des verfassungsrechtlichen „Quellcodes“ durch das BVerfG, JZ 2009, 917 (918, 919–923). 39 Voßkuhle, Stabilität, Zukunftsoffenheit und Vielfaltssicherung – Die Pflege des verfassungsrechtlichen „Quellcodes“ durch das BVerfG, JZ 2009, 917 (918, 924). Neben „Stabilität“ und „Offenheit“ nennt er als dritte erforderliche Eigenschaft der Verfassung die „Vielfaltssicherung“. 40 Heinig et al., Why Constitution Matters – Verfassungsrechtswissenschaft in Zeiten der Corona-Krise, JZ 2020, 861 (862). 41 Voßkuhle, Der Wandel der Verfassung und seine Grenzen, JuS 2019, 417 (418–421). 42 Siehe hierzu die Entscheidungen zum muslimischen Kopftuch im Schuldienst, einerseits BVerfGE 108, 282 ff. und andererseits BVerfGE 138, 296 ff.; zum Luftsicherheitsgesetz einerseits BVerfGE 115, 118 ff., andererseits BVerfGE 132, 1 ff. 43 Umstritten, siehe hierzu G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, 1906; G. Winkler, Zeit und Recht, 1995, S. 270–279; Voßkuhle, Der Wandel der Verfassung und seine Grenzen, JuS 2019, 417 (418), dort auch zur Kritik. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, 2013, S. 141 ordnet die mit dem Verfassungswandel verbundenen Fragen in den größeren Zusammenhang der Grenzen der Normkonkretisierung ein. 44 Siehe zum Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG Sodan, Verfassungsrechtsprechung im Wandel – am Beispiel der Berufsfreiheit, NJW 2003, 257 ff. 45 Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. IV, 2011, § 106 Rn. 22.
I. Methode
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sicht auch der Wesensgehalt eines Grundrechts nicht statisch, sondern kann sich im Laufe der Zeit verändern.46 Deshalb ist es schwierig, ihn für einen gegebenen Zeitpunkt zu ermitteln oder zu wissen, ob ein früher ermittelter Wesensgehalt noch Geltung beansprucht. Diese Zeitgebundenheit wird bei neuartigeren Entwicklungen besonders augenscheinlich. Zusätzlich zu dem bereits erwähnten Beispiel des Vermummungsverbots sei auf eine weitere Auswirkung der Digitalisierung hingewiesen. Erst vor wenigen Jahren sahen sich Rechtswissenschaft und -praxis veranlasst, zu „Flashmobs“, „Smart Mobs“ und ähnlichen Phänomenen Stellung zu beziehen.47 Die Durchführung solcher „spontanen“48 Veranstaltungen wurde durch neue Kommunikationsmittel und insbesondere durch die sog. sozialen Netzwerke infolge der Digitalisierung ermöglicht oder zumindest stark erleichtert. Hier stellte sich die grundsätzliche Frage, ob solche Veranstaltungen Versammlungen seien und damit dem Schutz des Art. 8 GG unterfielen oder es sich um nicht von Art. 8 GG geschützte bloße Spaßveranstaltungen handelte. Diese Schwierigkeiten stehen indes der Befassung mit der Wesensgehaltsgarantie nicht grundsätzlich entgegen, da alles Recht veränderbar ist.
3. Rechtsvergleichung mit Südafrika Die zuvor skizzierten methodischen Herausforderungen belegen die Gefahr, dass die Ergebnisse der Analyse durch subjektive Vorverständnisse ge- oder vielleicht sogar verfärbt werden. Um diese Gefahr zu reduzieren, strebt die vorliegende Arbeit auch eine Absicherung der Erkenntnisse über die Methode der Rechtsvergleichung an. So wird das südafrikanische Verfassungsrecht49 unterstützend herangezogen, um die Ermittlung des Schutzes des Grundgesetzes vor einer demokratischen Dekonsolidierung methodisch abzusichern.
46 So v. Arnauld, Die normtheoretische Begründung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, JZ 2000, 276 (277 mit Fn. 19); Leisner-Egensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/ Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 76; Woolman, Riding the push-me pull-you: Constructing a test that reconciles the conflicting interests which animate the limitation clause, South African Journal on Human Rights 10 (1994), 60 (71 mit Fn. 40). Siehe unten D. I. 3. 47 Siehe hierzu BVerfG(K), NJW 2015, 2485 f.; VG Karlsruhe, Urt. v. 28.6.2010 – 3 K 2444/09, BeckRS 2010, 50884; Ernst, Die öffentlich-rechtliche Behandlung von Flashmobs und die Zurechnung von Informationsflüssen, DÖV 2011, 537 ff.; Lenski, Flashmobs, Smartmobs, Raids: Sicherheitsrechtliche Antworten auf neue Formen von Kollektivität, VerwArch 103 (2012), 539 ff. 48 Oftmals sind sie sorgfältig organisiert, und nur für den Unwissenden erscheinen sie spontan. 49 Zur Geschichte des südafrikanischen Verfassungsrechts vgl. Wittneben, Die Rolle des National Council of Provinces in der südafrikanischen Verfassung, 2005, S. 21–67.
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
a) Rechtsvergleichung als zulässige rechtswissenschaftliche Methode Die Verfassungsvergleichung unternimmt es, Rechtserkenntnis dadurch zu gewinnen, dass Problemlösungen unterschiedlicher Rechtsordnungen untersucht werden.50 In der rechtsvergleichenden Literatur besteht Einigkeit darüber, dass die Befassung mit anderen Rechtsordnungen den Blick auf das eigene Recht schärft.51 Vieles muss jedoch im Detail als ungeklärt gelten. Im rechtsvergleichenden Spezialdiskurs ist es umstritten, ob die Rechtsvergleichung eine fünfte Auslegungsmethode darstellt52 oder nicht53. Außerhalb des rechtsvergleichenden Spezialschrifttums, z.B. in den etablierten Lehrbüchern des Verfassungsrechts, wird die Rechtsvergleichung nach wie vor54 – weder als zulässige noch als abzulehnende Methode – näher erläutert.55 Teilweise wird bestritten, dass Verfassungsvergleichung zulässig ist,56 jedenfalls sofern keine nationalstaatliche Gestattung besteht.57 Ein dem Art. 39(1)(c) 50 Müller-Franken, Verfassungsvergleichung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 26 Rn. 2; Sommermann, Funktionen und Methoden der Grundrechtsvergleichung, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. I, 2004, § 16 Rn. 26; Rechtsvergleichung fand bereits in der Antike statt, vgl. Voßkuhle, Rechtspluralismus als Herausforderung, ZaöRV 79 (2019), 481 (488). 51 Klassisch Rabel, Aufgabe und Notwendigkeit der Rechtsvergleichung, in: Leser (Hrsg.), Rabel, Gesammelte Aufsätze, Bd. III, 1967, S. 1 (6): „Der Name ihres Ziels heißt einfach: Erkenntnis.“ So auch Bryde, Warum Verfassungsvergleichung?, JöR n.F. 64 (2016), 431 (433); Fleiner, Rechtsvergleichung: Chancen und Lehren für den Föderalismus, in: FS H.-P. Schneider, 2008, S. 255 (259); v. Münch, Einführung in die Verfassungsvergleichung, ZaöRV 33 (1973), 126 (131); C. Schönberger, Verfassungsvergleichung heute: Der schwierige Abschied vom ptolemäischen Weltbild, VRÜ 2010, 6 (6 f., 18, 21 f.); Starck, Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, JZ 1997, 1021 (1023); Strebel, Vergleichung und vergleichende Methode im öffentlichen Recht, ZaöRV 24 (1964), 405 (406). 52 So Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, 913 (916–918). Begrüßend Tschentscher, Dialektische Rechtsvergleichung – Zur Methode der Komparistik im öffentlichen Recht, JZ 2007, 807 (812 f.). Allerdings hat bereits zuvor Zweigert, Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode, RabelsZ 15 (1949/50), 5 ff. die Rechtsvergleichung als „universale Interpretationsmethode“ empfohlen. 53 Ablehnend Müller-Franken, Verfassungsvergleichung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 26 Rn. 33; Sommermann, Funktionen und Methoden der Grundrechtsvergleichung, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. I, 2004, § 16 Rn. 39 f. 54 Siehe bereits Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, AöR 99 (1974), 193 (193 f.). 55 Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 2 Rn. 65 formuliert sogar: „Trotz all dieser Ansätze spielt die rechtsvergleichende Auslegung in der Diskussion außerhalb rechtsvergleichender Zirkel kaum eine Rolle. Selbst die akademische Methodenlehre steht ihr gar nicht so sehr ablehnend gegenüber, sondern ignoriert sie auf weiten Strecken schlicht.“ 56 Siehe den Überblick über die Argumentationsmuster bei Oberheiden, Typologie und Grenzen des richterlichen Verfassungsvergleichs, 2011, S. 34–66. Siehe aber auch die sprechende Zwischenüberschrift bei Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 2 A.: „Fehlende Rechtfertigungsbedürftigkeit der Rechtsvergleichung“ (S. 47) und die entsprechenden Ausführungen unter § 2 Rn. 1– 4. Dementsprechend rechtfertigen z. B. Determann/Heintzen,
I. Methode
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FC vergleichbares Pendant, welches den südafrikanischen Gerichten die Rechtsvergleichung explizit gestattet, sie aber nicht hierzu verpflichtet, enthält das deutsche Grundgesetz nicht.58 Als Einwand gegen die Rechtsvergleichung wird deshalb vorgetragen, dass die Eigenständigkeit der nationalen Rechtsordnung durch eine Rechtsvergleichung missachtet werde.59 Diese grundsätzliche Ablehnung in Teilen des Schrifttums steht der Verfassungsvergleichung indes nicht entgegen. Das südafrikanische Recht wird als Erkenntnisquelle für das geltende deutsche Recht und nicht als Rechtsquelle herangezogen. Überdies heißt „vergleichen“ nicht automatisch „übernehmen“. Der Vergleich kann durchaus zu dem Ergebnis kommen, dass die ausländische Rechtsordnung keinen Beitrag zur Entfaltung der inländischen Rechtsordnung zu leisten vermag. Konrad Zweigert spricht in diesem Zusammenhang von „Kontrollfunktion“ und meint damit, dass Ergebnisse, die anhand der „üblichen Methode“ erzielt wurden, im Wege der Rechtsvergleichung bestätigt oder als verfehlt enttarnt werden können.60 Gerade wegen der „lapidaren Sprachgewalt“61, der geringen Anzahl an Vorschriften, der Uneinheitlichkeit der Terminologie und des Fehlens von Legaldefinitionen62 in den Verfassungen bietet sich die Absicherung der Interpretationsergebnisse mittels einer weiteren
Die57 verfassungsgerichtliche Normenkontrolle in Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika im Vergleich, ZG 2019, 52 ff. ihr rechtsvergleichendes Vorgehen mit keinem Wort. 57 Liegt eine solche Anordnung vor, legitimiert also das Verfassungsrecht selbst die Berücksichtigung ausländischen Rechts, werden keine Einwände erhoben, vgl. bereits Nawiasky, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, VVDStRL 3 (1927), 25 (26). 58 C. Hillgruber, Die Bedeutung der Rechtsvergleichung, JöR n.F. 63 (2015), 367 (372). Art. 39(1)(c) FC lautet: „When interpreting the Bill of Rights, a court, tribunal or forum […] may consider foreign law.“ „Bei der Auslegung der Grundrechte darf ein Gericht, Tribunal oder Schiedsstand ausländisches Recht berücksichtigen.“ [Übersetzung des Verfassers] Siehe Wolfrum, The use of foreign law in the jurisprudence of the Constitutional Court of South Africa, in: Liber Amicorum Ranjeva, 2013, S. 381 ff. Vgl. auch H.-P. Schneider, Grundrechte in der Verfassung Südafrikas, in: FS Stern, 2012, S. 1155 (1161 f.). 59 C. Hillgruber, Die Bedeutung der Rechtsvergleichung, JöR n.F. 63 (2015), 367 (368– 377). Ablehnend bereits Nawiasky, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, VVDStRL 3 (1927), 25 (26 f.). Weitere Nachweise aus der internationalen Rechtsprechung und Literatur bei Baer, Verfassungsvergleichung und reflexive Methode: Interkulturelle und intersubjektive Kompetenz, ZaöRV 64 (2004), 735 (737 in Fn. 6–8). A.A. Baer, Verfassungsvergleichung und reflexive Methode: Interkulturelle und intersubjektive Kompetenz, ZaöRV 64 (2004), 735 (738); dies., Zum Potenzial der Rechtsvergleichung für den Konstitutionalismus, JöR n.F. 63 (2015), 389 (397). Differenzierend Zweigert, Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode, RabelsZ 15 (1949/50), 5 (10 f.). 60 Zweigert, Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode, RabelsZ 15 (1949/50), 5 (17 f). 61 Siehe oben B. I. 2. a). 62 Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, AöR 99 (1974), 193 (213).
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
Konkretisierungsmethode, der Verfassungsvergleichung, grundsätzlich an.63 Matthias Mahlmann formuliert sogar: „Der positiv-rechtliche Grundrechtsbestand stellt schlichtweg so viele Fragen, dass auf keine positivrechtlich anschlussfähigen Begründungsressourcen verzichtet werden kann, aus welcher Rechtsordnung diese auch stammen mögen.“64 Die deutsche Verfassung selbst gibt weder konkrete Interpretationsmethoden vor,65 noch wie sich diese zueinander zu verhalten hätten. Ausdrücklich wird die Rechtsvergleichung vom Grundgesetz weder generell zugelassen noch generell verboten.66 Deshalb ist die Aussage, dass allein die deutsche Verfassung bestimme, inwieweit auf ausländisches Recht zurückgegriffen werden könne,67 unergiebig. Dementsprechend enthalten auch insbesondere umfangreichere Grundgesetzkommentierungen Hinweise zur Ideengeschichte auch in rechtsvergleichender Hinsicht.68 Dieses Vorgehen ist mitunter auch mehr als lediglich angeraten, denn so mancher Verfassungsbestandteil wie „Demokratie“69 oder „Gewaltenteilung“ ist keine originär deutsche oder grundgesetzliche Errungenschaft. Zur umfassenden Sinnentfaltung einiger Vorschriften ist deshalb der rechtsvergleichende Blick unerlässlich. Dementsprechend finden sich selbst in den klassischen Lehrbüchern, die üblicherweise kein eigenständiges Kapitel zur Verfassungsvergleichung enthalten, zumindest partielle Hinweise auf ausländische Vorbilder.70 Man kann insofern zumindest hinsichtlich der europäisch-atlantischen Staatengruppe von einem gemeinsamen, durchgehenden Verfassungsstandard sprechen.71 An diesem Standard hat sich auch der südafrikanische Verfassungsgeber Mitte der 1990er-Jahre orientiert.72 Schließlich praktiziert selbst das BVerfG, dessen Auslegung und
63 Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, AöR 99 (1974), 193 (213 f.). 64 Mahlmann, Grundrechtstheorien in Europa, EuR 2011, 469 (475). 65 BVerfGE 88, 145 (166 f.). 66 Von diesem Befund geht auch Oberheiden, Typologie und Grenzen des richterlichen Verfassungsvergleichs, 2011, S. 20 f. in seiner Untersuchung aus. 67 C. Hillgruber, Die Bedeutung der Rechtsvergleichung, JöR n.F. 63 (2015), 367 (368). 68 So beispielsweise B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 1–60; C. Hillgruber, in Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Juli 2021), Art. 92 Rn. 8 f. mit Verweisen auf Locke und Montesquieu; C. Hillgruber, in: Dürig/ Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: März 2022), Art. 97 Rn. 6–9. 69 Hierzu Wiegand/Zabel, Der demokratische Verfassungsstaat zwischen Ideal und Wirklichkeit, Der Staat 50 (2011), 73 (76). 70 Epping, Grundrechte, 9. Aufl. 2021, Rn. 2–4; Kingreen/Poscher, Grundrechte, 38. Aufl. 2022, Rn. 23–28; Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 2 Rn. 29–39; Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 20 Rn. 1–6. 71 So Heintzen, Private Außenpolitik, 1989, S. 11. 72 Siehe zur Entstehung der endgültigen Verfassung von 1996 de Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 23–25.
I. Methode
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Anwendung des Verfassungsrechts als leitend anerkannt wurde,73 Verfassungsvergleichung.74 Erfüllt sein müssen aber die wissenschaftsimmanenten Anforderungen an die Rechtsvergleichung. Ist wissenschaftliche Forschung definiert als die „geistige Tätigkeit mit dem Ziele, in methodischer, systematischer und nachprüfbarer Weise neue Erkenntnisse zu gewinnen“,75 ist zunächst nur das Definitionsmerkmal „Erkenntnisstreben“ erfüllt, es bedarf noch des methodischplanmäßigen Vorgehens. b) Funktionale Methode Das methodisch-planmäßige Vorgehen bei der Rechtsvergleichung wird unterschiedlich praktiziert. Nicht nur das Ob der Rechtsvergleichung ist umstritten, sondern auch die Art und Weise, wie Rechtsvergleichung richtigerweise, also methodisch korrekt, vorzunehmen ist.76 Das BVerfG hat in seinen Entscheidungen nicht explizit einen deutsch-südafrikanischen Verfassungsvergleich vorgenommen bzw. offengelegt,77 sodass hierauf nicht aufgebaut werden kann. Auch wenn das BVerfG Rechtsvergleichung im Hinblick auf andere Rechtsordnungen als die südafrikanische betrieben hat, kann nicht von einer einheitlichen Methodik gesprochen werden, die vorliegend übernommen werden könnte.78 Mangels unmittelbarer rechtlicher oder gerichtlicher Vorgaben, an denen sich orientiert werden kann, ist die Methode eigenständig zu bestimmen. Die Methode muss so angewendet werden, dass das Erkenntnisinteresse gefördert wird.79 Deshalb dürfte angesichts der Vielfalt an möglichen Forschungsfragen der Streit um die eine richtige Methode für alle Fälle fruchtlos sein.80 Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit ist die Eignung des Grundgeset73
Siehe hierzu oben B. I. 1. Hierzu Voßkuhle, Rechtspluralismus als Herausforderung, ZaöRV 79 (2019), 481 (498 f.) spricht von einer Vielfalt an unterschiedlichen Angeboten. 75 So BVerfGE 35, 79 (113). Zustimmend Britz, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 5 Abs. 3 (Wissenschaft) Rn. 19. 76 Voßkuhle, Rechtspluralismus als Herausforderung, ZaöRV 79 (2019), 481 (494–498). 77 Oberheiden, Typologie und Grenzen des richterlichen Verfassungsvergleichs, 2011, S. 69. 78 Oberheiden, Typologie und Grenzen des richterlichen Verfassungsvergleichs, 2011, S. 69. 79 Müller-Franken, Verfassungsvergleichung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 26 Rn. 44; Sommermann, Funktionen und Methoden der Grundrechtsvergleichung, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. I, 2004, § 16 Rn. 53, 63, 67. Voßkuhle, Rechtspluralismus als Herausforderung, ZaöRV 79 (2019), 481 (498 f.) spricht von einer „funktionierenden Methode“. 80 Ähnlich Starck, Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, JZ 1997, 1021 (1026); Strebel, Vergleichung und vergleichende Methode im öffentlichen Recht, ZaöRV 24 (1964), 405 (406). 74
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
zes zur Verhinderung einer demokratischen Dekonsolidierung. Da also eine konkrete Zielrichtung der geltenden Verfassungslage Gegenstand der Arbeit ist, bietet sich der funktionale Ansatz81 der Rechtsvergleichung an.82 Denn die funktionale Vergleichsmethode ist für die auf konkrete Rechtsanwendung festgelegte Verfassungsrechtsprechung besonders interessant83 und die Verfassungsrechtsprechung wurde zuvor bereits als maßgeblich identifiziert. Dabei bedeutet „funktionale Methode“, dass eine Rechtsregel auf ihre praktische Funktion in der tatsächlich gelebten Rechtsordnung hin untersucht wird, wobei der jeweilige Kontext Berücksichtigung finden muss. Forschungsgegenstand ist primär die deutsche und nicht die südafrikanische Verfassungslage (sog. asymmetrischer Vergleich84), weshalb es keines separaten Länderberichts85 für das südafrikanische Recht bedarf. Vielmehr erfolgt eine zielgerichtete Bezugnahme auf das südafrikanische Recht an den relevanten Punkten,86 wo dieses Gedanken enthält, welche die deutsche Diskussion bereichern können. Dabei wird nicht der Ansicht gefolgt, dass es stets eines „tertium comparationis“ bedarf, um Rechtsvergleichung betreiben zu können.87 Da sowohl eine nicht mehr in Kraft befindliche Verfassung (Interims81 So bereits Zweigert, Zur Methodenlehre der Rechtsvergleichung, Studium Generale 13 (1960), 193 (197); siehe auch Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie, 2006, S. 37– 41; Strebel, Vergleichung und vergleichende Methode im öffentlichen Recht, ZaöRV 24 (1964), 405 (419); Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 32–34. Peters/Schwenke, Comparative Law beyond Post-Modernism, International and Comparative Law Quarterly 49 (2000), 800 (808) ordnen den funktionalen Ansatz dem Universalismus in der vergleichenden Wissenschaft zu. Kritisch zum funktionalen Ansatz Brand, Conceptual Comparisons, Brooklyn Journal of International Law 32 (2007), 405 (415–421). Kischel verzichtet auf den Begriff „funktionale Rechtsvergleichung“ zugunsten des Begriffs „kontextuelle Rechtsvergleichung“, will den Kerngedanken der funktionalen Methode indes behalten, Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 3 Rn. 199 f. 82 Müller-Franken, Verfassungsvergleichung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 26 Rn. 44; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 32–34. 83 Voßkuhle, Rechtspluralismus als Herausforderung, ZaöRV 79 (2019), 481 (499). 84 Müller-Franken, Verfassungsvergleichung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 26 Rn. 17 m.w.N. in Fn. 56; Sommermann, Funktionen und Methoden der Grundrechtsvergleichung, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. I, 2004, § 16 Rn. 69. 85 Hierzu Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 1 Rn. 12, § 3 Rn. 12, 53. Generell ablehnend Tschentscher, Dialektische Rechtsvergleichung – Zur Methode der Komparistik im öffentlichen Recht, JZ 2007, 807 (811 f., 815 f.). Auch Marsch, in: Voßkuhle/Eifert/Möllers (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2022, § 3 Rn. 12; Müller-Franken, Verfassungsvergleichung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 26 Rn. 61 halten den (separaten) Länderbericht nicht für zwingend. 86 Auch dieses methodische Vorgehen ist Rechtsvergleichung, siehe zum Begriffsverständnis Müller-Franken, Verfassungsvergleichung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 26 Rn. 2 mit Fn. 3. 87 So aber Pünder, Exekutive Normsetzung in den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland, 1995, S. 19–29.
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verfassung von 1993) als auch die derzeit geltende Verfassung der Republik Südafrika herangezogen werden, lässt sich das Vorgehen sowohl als diachroner als auch als synchroner Vergleich88 verstehen. c) Voraussetzungen der funktionalen Methode Rechtsvergleichung – will sie ertragreich sein – ist an Gelingensbedingungen geknüpft. Dies gilt für die funktionale Methode ebenso wie für andere Methoden der Rechtsvergleichung. Erstens wird Verfassungsvergleichung als umso zielführender erachtet, je vergleichbarer die zu betrachtenden Rechtsordnungen sind.89 Dies bedeutet, dass die Rechtsordnungen verwandt genug sein und ähnliche Strukturen sowie Probleme aufweisen sollten,90 wobei gewisse Unterschiede bestehen müssen,91 denn ein – wohl nur theoretisch denkbarer – „Vergleich“ zweier „identischer“ Rechtsordnungen wäre nicht erkenntnisstiftend (hierzu nachfolgend aa]). Zweitens begünstigen unterschiedliche Alter der zu vergleichenden Verfassungen den Rechtsvergleich,92 da Verfassungen durch eine erschwerte Abänderbarkeit des Verfassungstexts gekennzeichnet sind.93 Eine jüngere Verfassung wird dementsprechend eher auf neue Entwicklungen reagiert haben als eine ältere Verfassung94 und explizitere Aussagen zu einer Frage enthalten (bb]). 88 Hierzu Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd. II, 1972, S. 51–57; Müller-Franken, Verfassungsvergleichung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 26 Rn. 7 m.w.N. in Fn. 20. Für Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, AöR 99 (1974), 193 (196) stellt der Vergleich vergangener mit gegenwärtigen Verfassungen, also der diachrone Vergleich, indes keinen Rechtsvergleich dar, sondern nur der Vergleich zweier gleichzeitig geltender Verfassungen (synchroner Vergleich). Jedoch wird diese Annahme nicht weiter begründet. 89 Differenzierend nach dem mit dem Vergleich verfolgten Zweck Müller-Franken, Verfassungsvergleichung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 26 Rn. 51. 90 Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie, 2006, S. 33; Ha. Krüger, Eigenart, Methode und Funktion der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, in: FS Kriele, 1997, S. 1393 (1404 f.); J.H. Kaiser, Vergleichung im Öffentlichen Recht, ZaöRV 24 (1964), 391 (397); S. Martini, Vergleichende Verfassungsrechtsprechung, 2018, S. 31. Großzügiger Zweigert, Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode, RabelsZ 15 (1949/50), 5 (13). 91 Müller-Franken, Verfassungsvergleichung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 26 Rn. 48. 92 Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie, 2006, S. 33. 93 Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform (Erster Teil), in: Friedrich (Hrsg.), Verfassung, 1978, S. 355 (366 f.); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, Rn. 25; Lang, Funktionen der Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 266 Rn. 17, 27, 45. Vgl. auch Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 95 f. 94 Häberle, Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in: Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3 (3 f., 7).
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
Drittens werden „Rechtsgebiete mit einer kosmopolitischen Funktion oder einer Tendenz zum Universalismus“ als besonders geeignet für die Rechtsvergleichung angesehen95 (cc]). Viertens muss beachtet werden, dass die Verfassungen zumeist in unterschiedlichen Sprachen, mit unterschiedlichen (Rechts-)Begriffen und in unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten abgefasst worden sind.96 Selbst dort, wo Begriffe möglicherweise identisch sind oder sich eine scheinbar naheliegende Übersetzung finden lässt,97 täuscht dieser erste Eindruck zumeist. Deshalb muss der Rechtsvergleicher – rein praktisch – die Rechtssprache der fremden Rechtsordnung verstehen können. Weiterhin muss er vermeiden, durch die Verwendung spezifischer Rechtsbegriffe einer Rechtsordnung die Forschungsfrage zu verfälschen (dd]). aa) Ähnlichkeit der Verfassungen Das südafrikanische Recht ist von vielerlei Einflüssen geprägt.98 Mit Beginn der europäischen Kolonialisierung der Kap-Region 1652 wurde das damalige römisch-holländische Recht eingeführt, das in Teilen heute noch gilt. Später war das englische Recht („common law“) dominierend, in jüngerer Zeit sind es eher US-amerikanische Einflüsse. Gleichzeitig sind und waren stets die lokalen Rechte vorhanden. Diese unterschiedlichen Rechts„arten“ haben teilweise auch ihre eigenen Interpretations- und Methodenregeln.99 Mit englisch geprägtem „case law“ wird anders gearbeitet als mit geschriebenem Gesetzesrecht („statutory law“) oder ungeschriebenen lokalen Rechten100. Bei der Verfassungsgebung in den 1990er-Jahren war man bemüht, nach Jahren der politischen Isolation zum internationalen Verfassungsstandard aufzuschließen.101 Dabei haben sich die Verfassungsgeber von US-amerikanischen, kanadischen, indischen und europäischen (EMRK) Einflüssen inspirieren lassen. Das südafrikanische Verfassungsrecht, präziser die südafrikanischen Verfassungen von 1994 und 1996, ist aber auch stark vom Grundgesetz
95 Zweigert, Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode, RabelsZ 15 (1949/50), 5 (11–13), wobei er sich auf das Zivilrecht bezog. 96 Hierzu Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 1 Rn. 20–26, § 3 Rn. 146, 199 f. 97 Ein klassisches Beispiel ist der „Bundesrat“ in der Schweiz und in Deutschland, hierzu Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 1 Rn. 20–26. 98 Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 8 Rn. 6–9; C. Möller, Grußwort, in: Botha/ Schaks/Steiger (Hrsg.), Das Ende des repräsentativen Staates?, 2016, S. 13 (14). 99 Siehe z.B. das Kapitel „Traditional African Jurisprudence“ von Pieterse, in: Roederer/ Moellendorf (Hrsg.), Jurisprudence, 2004, § 17, S. 438 ff. 100 Zu diesen seit 1994 Nhlapo, Customary law in post-apartheid South Africa: constitutional confrontations in culture, gender and ‚living law‘, South African Journal on Human Rights 33 (2017), 1 ff. 101 Vgl. de Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 23–25.
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inspiriert.102 Dies ist zunächst bereits aus formalen Gründen wenig verwunderlich, da u.a. deutsche Rechtswissenschaftler beratend bei den Ausarbeitungen der Verfassungen beteiligt waren.103 Dieser Einfluss schlägt sich nach wie vor im Grundrechtsteil der Verfassung mit der Betonung der Menschenwürde104, der Freiheit und Gleichheit, aber auch bei den Organen z.B. mit dem Council of Provinces (Art. 42(1)(b), 60 bis 72 FC), der an den Bundesrat angelehnt ist, nieder.105 Die deutschen Einflüsse waren besonders stark, wenn es um Rechte und Rechtsdurchsetzung ging.106 Die starke Stellung des südafrikanischen Verfassungsgerichts, das wie das BVerfG als separates Gericht fungiert und nicht – wie der US Supreme Court – in den Instanzenzug integriert ist,107 gilt hierfür als ein Beispiel. Das südafrikanische Verfassungsgericht darf – wie das BVerfG – allein letztverbindlich über die Nichtigkeit von Gesetzen entscheiden (Art. 167(5) FC). Das junge südafrikanische Verfassungsgericht besuchte 1996 das BVerfG, von welchem jenes sich beraten ließ.108 Gemeinsam ist beiden Verfassungen weiterhin, dass sie bestimmte Werte zugrunde legen und schützen. Im Grundgesetz ist dieser Gedanke nicht so explizit angesprochen wie in der südafrikanischen Verfassung. Dort heißt es in Art. 1 FC, dass die Republik Südafrika ein einheitlicher, souveräner, demokratischer Staat ist, der auf den folgenden Werten beruht: Menschenwürde, Erzie102 Botha, Learning to Live with Plurality and Dissent: The Grundgesetz in South Africa, in: Häberle (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, 2011, S. 409 ff.; de Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 49–52; L.M. du Plessis, German Verfassungsrecht under the Southern Cross, in: FS H.-P. Schneider, 2008, S. 524 (527–534); Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, 2000, S. 124, 136 f., 150–156, passim; Venter, Constitutional Comparison, 2000, S. 48; Wiechers, „Zeige mir Dein Staatsrecht […]“, in: FS Stern, 1997, S. 377 (381). Zum Entstehungsprozess siehe Botha, Instituting Public Freedom or Extinguishing Constituent Power? Reflections on South Africa’s Constitution Making Experiment, South African Journal on Human Rights 26 (2010), 66 ff.; L.M. du Plessis, A Background to Drafting the Chapter on Fundamental Rights, in: De Villiers (Hrsg.), Birth of a Constitution, 1994, S. 89 ff. (zur Interim-Verfassung). 103 Botha, Learning to Live with Plurality and Dissent: The Grundgesetz in South Africa, in: Häberle (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, 2011, S. 409 (410). 104 Hierzu Botha, Learning to Live with Plurality and Dissent: The Grundgesetz in South Africa, in: Häberle (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, 2011, S. 409 (418–423). 105 De Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 136; Wittneben, The role of the National Council of Provinces within the framework of co-operative government in South Africa, VRÜ 2002, 232 (233). Ausführlicher hierzu Wittneben, Die Rolle des National Council of Provinces in der südafrikanischen Verfassung, 2005, S. 97, 141, 146–148, 164 f., passim. 106 Rose-Ackerman/Egidy/Fowkes, Due Process of Lawmaking, 2015, S. 103, allerdings wurde die deutsche Tradition mit partizipativen Elementen angereichert, siehe hierzu unten B. II. 1. c). 107 Vgl. Wesel, Der Gang nach Karlsruhe, 2004, S. 24. Zum südafrikanischen Verfassungsgericht siehe A. Meyer, Die Bedeutung des südafrikanischen Verfassungsgerichts für den Schutz der Menschenrechte, DÖV 2014, 374 (377). 108 Häberle, Wechselwirkungen zwischen deutschen und ausländischen Verfassungen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. I, 2004, § 7 Rn. 23.
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
len von Gleichheit, Förderung der Menschenrechte und -freiheiten, Nichtrassismus und Nichtsexismus, Vorrang der Verfassung und Herrschaft des Rechts, allgemeines Erwachsenenstimmrecht, nationales einheitliches Wählerverzeichnis, regelmäßige Wahlen und Mehrparteiensystem demokratischer Staatsgewalt, um Verantwortlichkeit, Responsivität und Offenheit zu sichern.109 An dieser Stelle ist ausdrücklich von „Werten“ die Rede.110 Der Begriff „Werte“ ist auch andernorts explizit zu finden. Bereits die Präambel spricht von demokratischen Werten. Art. 7(I) FC betont, dass der Grundrechtskatalog (Bill of Rights) der Verfassung die demokratischen Werte der Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit bekräftigt. Hinsichtlich der Interpretation der Grundrechte schreibt Art. 39(I)(a) FC vor, dass jedes Gericht die Werte, die einer offenen und demokratischen Gesellschaft gegründet auf Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit zugrunde liegen, fördern muss („When interpreting the Bill of Rights, a court, tribunal or forum […] must promote the values that underlie an open and democratic society based on human dignity, equality and freedom“). Art. 143(II)(a) FC, der mit Art. 28 I GG vergleichbar ist, bestimmt, dass auch die Verfassungen der Provinzen die zuvor genannten Werte beachten müssen. Die öffentliche Verwaltung wird in Art. 195(1) FC auf die demokratischen Werte der Verfassung verpflichtet, was in Art. 196(4) FC in unterschiedlichem Ausmaße speziell für die „Public Service Commission“ spezifiziert wird. Auch wenn das Grundgesetz nicht ausdrücklich den Begriff „Werte“ verwendet,111 hat das BVerfG früh entschieden, dass „das Grundgesetz […] keine wertneutrale Ordnung sein will“; vielmehr hat es „in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet […]“ und „hierin [kommt] eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck […]“.112 „Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Ge109 „The Republic of South Africa is one, sovereign, democratic state founded on the following values: (a) Human dignity, the achievement of equality and the advancement of human rights and freedoms. (b) Non-racialism and non-sexism. (c) Supremacy of the constitution and the rule of law. (d) Universal adult suffrage, a national common voters roll, regular elections and a multi-party system of democratic government, to ensure accountability, responsiveness and openness.“ 110 Sie ist die Bestimmung der südafrikanischen Verfassung, die am schwersten abänderbar sind, vgl. Art. 74(1) FC, siehe hierzu Albert, Constitutional Amendments, 2019, S. 48 f. Siehe zu Werten in der südafrikanischen Verfassung allgemein Albertyn, Values in the South African Constitution, in: Davis/Richter/Saunders (Hrsg.), An Inquiry into the Existence of Global Values, 2017, S. 321 (323–356). 111 Am nächsten kommt dem Art. 1 II GG, wo es heißt, dass das deutsche Volk sich „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ bekennt. 112 BVerfGE 7, 198 (205).
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setzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse.“113 Dieser Gedanke ist somit beiden Verfassungsordnungen gemeinsam;114 beide Staaten lassen sich als „Verfassungsstaaten“ mit demokratischen und rechtsstaatlichen Elementen115 begreifen. Die Vergleichung der deutschen mit der südafrikanischen Verfassungsrechtslage bietet sich bereits deshalb als Analysemittel an. Aber es gibt auch ganz spezifische Ähnlichkeiten im Detail, welche die Verfassungsvergleichung für den vorliegenden Zweck fruchtbar werden lassen. Erkenntnisstiftend kann Südafrika v.a. im Hinblick auf die Wesensgehaltsgarantie sein. So enthielt die vorläufige Verfassung von 1993 noch in ihrem Art. 33(I)(b) IC die folgende Bestimmung: „The rights entrenched in this Chapter may be limited by law of general application, provided that such limitation […] shall not negate the essential content of the right in question […].“ Die in diesem Kapitel verankerten Rechte dürfen durch ein allgemein geltendes Gesetz beschränkt werden, vorausgesetzt, dass eine solche Beschränkung nicht den Wesensgehalt des fraglichen Rechts aufhebt. [Übersetzung des Verfassers]
Diese Vorschrift war bewusst und deutlich erkennbar an die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG angelehnt.116 Sie wurde jedoch nicht in die endgültige Verfassung übernommen und ist somit nicht mehr in Kraft. Gleichwohl gibt es Entscheidungen südafrikanischer Gerichte, welche auch auf die Wesensgehaltsgarantie eingehen, was für die Verfassungsvergleichung hilfreich ist. Die südafrikanische Verfassung enthält auch die Versammlungsfreiheit (Art. 17 FC), anhand derer später der Wesensgehalt eines konkreten Grundrechts entfaltet werden soll. Wie die Kodifizierung von aus der deutschen Verfassungsdogmatik vertrauten Elementen (z.B. Drittwirkung in Art. 8 FC oder Schutzpflichten in Art. 7(2) FC) zeigt, bestehen die erforderlichen inhaltlichen Ähnlichkeiten und damit die nötige Vergleichbarkeit der beiden Rechtsordnungen. Dies betrifft auch und sehr grundlegend die Entstehungsbedingungen beider Verfassungen, die 113
BVerfGE 7, 198 (205). Herdegen, Verfassungsinterpretation als methodische Disziplin, JZ 2004, 873 (877) meint, dass das Wertordnungsdenken in die Grundrechtsrechtsprechung Südafrikas „triumphalen Einzug gehalten“ habe. 115 Hierzu Marsch, in: Voßkuhle/Eifert/Möllers (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2022, § 3 Rn. 23. 116 CC, 6.6.1995 – CCT/3/94 Rn. 132 (Chaskalson), Rn. 167 (Ackermann), Rn. 194 (Kentridge) – The State v. Makwanyane, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/1995/3.html (Stand: 10.8.2023); Botha, Learning to Live with Plurality and Dissent: The Grundgesetz in South Africa, in: Häberle (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, 2011, S. 409 (424); de Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 350; Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, 2000, S. 150 m.w.N. 114
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
Reaktionen auf Unrechtserfahrungen darstellen.117 Das Grundgesetz gibt eine Antwort auf die nationalsozialistische Unrechtsherrschaft, die südafrikanische Verfassung auf die Apartheid118. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn Peter Häberle und Rüdiger Wolfrum auf die Menschenwürdegarantie als deutschen Export nach Südafrika hinweisen.119 Das BVerfG bezeichnet das Grundgesetz als Gegenentwurf zur nationalsozialistischen Herrschaft,120 das südafrikanische Verfassungsgericht nennt in gleicher Weise die südafrikanische Verfassung eine „,never again‘ Constitution“,121 also eine „nie wieder Verfassung“. Eines der Schlüsselelemente der neuen südafrikanischen Verfassung ist, dass sie einen entscheidenden Bruch mit dem unkontrollierten Missbrauch der Staatsgewalt während der Apartheid wollte.122 Somit besteht eine gemeinsame Grundströmung beider Verfassungen darin, eine vorherige Ordnung zu über117 CC, 15.5.1996 – CCT/8/95 Rn. 92 (Ackermann) – Du Plessis and Others v. De Klerk and Another, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/1996/10.html (Stand: 10.8.2023); Botha, Learning to Live with Plurality and Dissent: The Grundgesetz in South Africa, in: Häberle (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, 2011, S. 409 (411); L.M. du Plessis, German Verfassungsrecht under the Southern Cross, in: FS H.-P. Schneider, 2008, S. 524 (531); A. Meyer, Die Bedeutung des südafrikanischen Verfassungsgerichts für den Schutz der Menschenrechte, DÖV 2014, 374 (374, 376). 118 Hierzu van der Merwe, South Africa: Addressing the Unsettled Accounts of Apartheid, in: Hoeres/Knabe (Hrsg.), After Dictatorship, 2023, S. 149 (149–169). 119 Häberle, Das GG als Exportgut im Wettbewerb der Rechtsordnungen, in: Hillgruber/ Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, 2010, S. 173 (181) m.w.N.; Wolfrum, The use of foreign law in the jurisprudence of the Constitutional Court of South Africa, in: Liber Amicorum Ranjeva, 2013, S. 381 (382). 120 BVerfGE 124, 300 (328); 144, 20 (229). So auch Bulla, Die Lehre von der streitbaren Demokratie, AöR 98 (1973), 340 (346); Bickenbach, Kampf gegen eine Hydra – Rechtliche Mittel gegen den Rechtsextremismus, DVBl. 2017, 149 (157); Di Fabio, Bonn ist nicht Weimar, in: Heinig/Schorkopf (Hrsg.), 70 Jahre Grundgesetz, 2019, S. 13 (13); umfassend Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 3. Aufl. 1999, S. 195–220. Teilweise wird auch davon gesprochen, dass bestimmte Bestimmungen des Grundgesetzes eine Reaktion auf die nationalsozialistische Herrschaft waren, so BVerfGE 39, 1 (36 f.); Krebs, Freiheitsschutz durch Grundrechte, Jura-Extra 1990, 60 (61) – im Hinblick auf die Menschenwürdegarantie. Siehe auch Di Fabio, Die Weimarer Verfassung, 2018, S. 16 f.; U.K. Preuß, The Implications of „Eternity Clauses“: The German Experience, Israel Law Review 44 (2011), 429 (439). Dazu, dass mit der Verfassung sich nicht automatisch die politische Realität ändert, vgl. Perels, Die Nachwirkungen der NS-Diktatur im demokratischen Rechtsstaat, in: Perels, Das juristische Erbe des „Dritten Reiches“, 1999, S. 11 ff. 121 CC, 13.6.2012 – CCT/112/11 Rn. 63 (Mogoeng; Yacoob, Cameron, Froneman, Khampepe, Maya, Nkabinde, Skweyiya, van der Westhuizen concurring) – South African Transport and Allied Workers Union and Another v. Garvas and Others, http://www.saf lii.org/za/cases/ZACC/2012/13.html (Stand: 10.8.2023). Hierzu auch Klug, The Constitution of South Africa, 2010, S. 229 f. 122 CC, 31.3.2016 – CCT/143/15 und CCT/171/15 Rn. 1 (Mogoeng; Moseneke, Bosielo, Cameron, Froneman, Jafta, Khampepe, Madlanga, Mhlantla, Nkabinde, Zondo concurring) – Economic Freedom Fighters v. Speaker of the National Assembly and Others; Democratic Alliance v. Speaker of the National Assembly and Others, http://www.saflii.org/za/cases/ ZACC/2016/11.html (Stand: 10.8.2023).
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winden und einen Rückfall zu verhindern. Diese Erfahrung lässt sich bei der historischen und teleologischen Auslegung fruchtbar machen, auch wenn die Unterschiede beider Unrechtserfahrungen und die unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Reaktionen hierauf nicht übersehen werden dürfen. Nachdem die Übergangsverfassung und auch die endgültige Verfassung die Vorherrschaft des Parlaments123 überwunden und den Vorrang der Verfassung124 begründet haben (vgl. Art. 1(c) FC einerseits und Art. 1 III, 20 III GG andererseits), entspricht die Verfassung nunmehr der Tradition von 1776 und 1789, in der auch das deutsche Grundgesetz steht. Beide Verfassungen lassen sich als „westliche“ oder „moderne“ Verfassungen bezeichnen, welche jeweils eine „liberale“ oder „konstitutionelle“ Demokratie etablieren. Hinzu kommt schließlich, dass Art. 39(1)(c) FC dem Verfassungsgericht ausdrücklich gestattet, zur Interpretation der Grundrechte (Bill of Rights) auf ausländisches Recht zurückzugreifen. Die Bezugnahmen zeigen sich u.a. in der Rezeption deutscher Rechtsprechung und Literatur durch südafrikanische Autoren125 und Gerichte126. Dies hat das Gericht v.a. in den Anfangsjahren seiner Existenz besonders häufig getan, sodass es als Ausnahmefall bezeichnet wird.127 Allerdings ist in dieser Hinsicht in den letzten Jahren ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen.128
123 Das war noch das dominierende Prinzip der „Tricameral Constitution“ von 1983, Republic of South Africa Constitution Act 110 of 1983, vgl. Wittneben, Die Rolle des National Council of Provinces in der südafrikanischen Verfassung, 2005, S. 62–67. 124 Hierzu Botha, Learning to Live with Plurality and Dissent: The Grundgesetz in South Africa, in: Häberle (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, 2011, S. 409 (412); Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, 2000, S. 69 f.; A. Meyer, Die Bedeutung des südafrikanischen Verfassungsgerichts für den Schutz der Menschenrechte, DÖV 2014, 374 (374). 125 So zitieren Botha, Fundamental rights and democratic contestation: reflections on freedom of assembly in an unequal society, Law, Democracy & Development 21 (2017), 221 (226 f.); Davis, Assembly, in: Cheadle/Davis, South African Constitutional Law. The Bill of Rights, Kap. 12, 12–1 f., 12–6; de Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 552 f.; Woolman, Freedom of Assembly, in: Woolman/Bishop (Hrsg.), Constitutional Law of South Africa, Bd. 3, 2. Aufl. (Stand: Februar 2005), Kap. 43, 43-2, 43-8, 4320, 43-29 des Öfteren den Brokdorf-Beschluss des BVerfG (wobei de Vos/Freedman auf die Fundstelle der Mutlangen-Entscheidung verweisen). 126 CC, 6.6.1995 – CCT/3/94 Rn. 108, 132 (Chaskalson), Rn. 167 (Ackermann) – The State v. Makwanyane, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/1995/3.html (Stand: 10.8.2023). Siehe zu der Makwanyane-Entscheidung G.A. du Plessis, S v Makwanyane and Another Case (S Afr), MPECCoL (Stand: Mai 2017). Kritisch hierzu Fowkes, Building the Constitution, 2016, S. 6–25. 127 S. Martini, Vergleichende Verfassungsrechtsprechung, 2018, S. 247. 128 C. Rautenbach/L.M. du Plessis, In the Name of Comparative Constitutional Jurisprudence: The Consideration of German Precedents by South African Constitutional Court Judges, German Law Journal 14 (2013), 1539 ff.
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
bb) Alter der Verfassungen Auch die zeitliche Komponente verspricht einen fruchtbaren Verfassungsvergleich. Die derzeit geltende südafrikanische Verfassung wurde am 18.12.1996129 verkündet und trat mit der Mehrzahl ihrer Bestimmungen am 4.2.1997 in Kraft.130 Sie ist somit fast 50 Jahre jünger als das bundesdeutsche Grundgesetz in seiner Urfassung.131 Da die südafrikanische Verfassung nach Ende des Kalten Krieges erlassen wurde, konnte sie auf die globalen Umwälzungen nach 1989 reagieren. Als moderne Errungenschaften, die das Grundgesetz so nicht aufweist oder zumindest nicht ausdrücklich enthält, lassen sich z.B. anführen der Grundsatz der Responsivität (Art. 1(d) FC und konkreter in Art. 59(1)(a), Art. 72(1)(a) sowie Art. 118(1)(a) FC),132 die Kodifizierung der Anforderung an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen in einer eigenen, für alle Grundrechte geltenden Bestimmung (Art. 36 FC),133 die Kodifizierung der Dimensionen der Grundrechte (Art. 7(2) FC)134 und ihrer (Dritt-)Wirkungen (Art. 8, 39(2) FC)135 sowie die Gewährung von sozioökonomischen Grundrechten136 (u.a. Art. 26 FC: Recht auf angemessenen Wohnraum, Art. 27 FC: Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge, zu ausreichend 129 Da die Interimsverfassung von 1993 nur etwa drei Jahre älter als die derzeitige Verfassung ist, gelten die Ausführungen zur aktuellen Verfassung entsprechend auch für die Interimsverfassung. Siehe zu ihrer Entstehungsgeschichte und speziell zum Grundrechtsteil H.P. Schneider, Grundrechte in der Verfassung Südafrikas, in: FS Stern, 2012, S. 1155 (1156– 1158); Wittneben, Die Rolle des National Council of Provinces in der südafrikanischen Verfassung, 2005, S. 68–88. 130 Seitdem wurde sie 17 Mal geändert, vgl. https://www.justice.gov.za/legislation/consti tution/SAConstitution-web-eng.pdf (Stand: 10.8.2023). 131 Es wurde seitdem 68 Mal geändert, zuletzt durch Gesetz v. 19.12.2022, BGBl. I, 2478 (Stand: 10.8.2023). 132 CC, 17.8.2006 – CCT/12/05 Rn. 110–116 (Ngcobo; Langa, Moseneke, Madala, Mokgoro, Nkabinde, O’Regan and Sachs concurring), Rn. 228–231 (Sachs), Rn. 273–279 (Yacoob) – Doctors for Life International v. Speaker of the National Assembly and Others, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2006/11.html (Stand: 10.8.2023). Aus deutscher Sicht H. Dreier, Vom Schwinden der Demokratie, in: Graf/Meier (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2018, S. 29 (37–39, insbes. 38) m.w.N. in Fn. 28; Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, 2008, S. 80–82. 133 Hierzu Botha, Learning to Live with Plurality and Dissent: The Grundgesetz in South Africa, in: Häberle (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, 2011, S. 409 (423–427); Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, S. 221–224; H.-P. Schneider, Grundrechte in der Verfassung Südafrikas, in: FS Stern, 2012, S. 1155 (1162 f.). 134 Vgl. Currie/de Waal, The Bill of Rights Handbook, 6. Aufl. 2013, S. 262–267 im Hinblick auf das Grundrecht auf Leben. 135 Botha, Learning to Live with Plurality and Dissent: The Grundgesetz in South Africa, in: Häberle (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, 2011, S. 409 (413–418); L.M. du Plessis, German Verfassungsrecht under the Southern Cross, in: FS H.-P. Schneider, 2008, S. 524 (534 f.). 136 Siehe hierzu H.-P. Schneider, Grundrechte in der Verfassung Südafrikas, in: FS Stern, 2012, S. 1155 (1159 f., 1168 f.); Trilsch, Die Justiziabilität wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte im innerstaatlichen Recht, 2012, S. 207–246.
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Nahrung und Wasser sowie zur Sozialversicherung). Weiterhin existieren Interpretationsregeln (Art. 39 FC).137 Überdies wurden in Kapitel 9 der Verfassung (Art. 181 bis 194 FC) die bereits erwähnten „State Institutions Supporting Constitutional Democracy“ aufgenommen, also Regelungen über staatliche Institutionen, welche die verfassungsmäßige Demokratie unterstützen sollen.138 Als funktionales Äquivalent139 zu den „State Institutions“ ließen sich im Grundgesetz die Vorschriften über die wehrhafte Demokratie140 anführen. Schließlich wird das südafrikanische Verfassungsrecht als Vorbild für Entwicklungs- und Schwellenländer betrachtet, welches – auch bedingt durch sein jugendliches Alter – zu einem Modell „transformativen Konstitutionalismus“ weiterentwickelt wird, der auf den umfassenden Abbau politischer und ökonomischer Benachteiligungen abzielt.141 cc) Universalität Der Begriff „demokratische Dekonsolidierung“ ist kein spezifischer Begriff der deutschen oder südafrikanischen Rechtsordnung. Vielmehr wird er international verwendet, um ein global zu beobachtendes Phänomen zu beschreiben.142 Es repräsentiert in nahezu idealer Weise die für die Verfassungsvergleichung geforderte „Tendenz zum Universalismus“. Überdies handelt es sich nicht um einen Rechtsbegriff im technischen Sinne. Deshalb besteht keine Gefahr, bereits durch die Verwendung des Begriffs „demokratische Dekonsolidierung“ Voreingenommenheiten zu transportieren.143 Auch Zusammenkünfte von Menschen, um Protest auszudrücken, sind keine deutsche Besonderheit, sondern ein transnationales Phänomen.144
137 Botha, Learning to Live with Plurality and Dissent: The Grundgesetz in South Africa, in: Häberle (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, 2011, S. 409 (412); L.M. du Plessis, German Verfassungsrecht under the Southern Cross, in: FS H.-P. Schneider, 2008, S. 524 (534 f.); S. Martini, Vergleichende Verfassungsrechtsprechung, 2018, S. 247 f., 261–264; H.-P. Schneider, Grundrechte in der Verfassung Südafrikas, in: FS Stern, 2012, S. 1155 (1161 f.). 138 Siehe hierzu oben A. I. 3. e). 139 Hierzu Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 3 Rn. 3–5 und zu der Gefahr, funktionale Äquivalente beim Verfassungsvergleich zu übersehen, Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 3 Rn. 213–226. 140 Siehe hierzu unten C. IV. 1. 141 Volkmann, Krise der konstitutionellen Demokratie?, Der Staat 58 (2019), 643 (648). Siehe allerdings zur ökonomischen und politischen Realität Botha/Schaks/Steiger, Editorial: The Current State of Democracy in South Africa, VRÜ 2015, 259 (259–261); van der Westhuizen, Democratising South Africa: Towards a ‘Conflictual Consensus’, in: Botha/ Schaks/Steiger (Hrsg.), Das Ende des repräsentativen Staates?, 2016, S. 75 (85–87). 142 Siehe oben die Nachweise unter A. 143 Hierzu Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 32–34. 144 Eickenjäger/Fischer-Lescano, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, VersR, 2. Aufl. 2020, S. 258 f.
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
dd) Sprache Schließlich ist Englisch eine der elf Amtssprachen Südafrikas (Art. 6(I) FC), sodass Rechtsprechung und Literatur auf Englisch verfügbar sind und für den Rechtsvergleich – trotz aller verbleibenden Schwierigkeiten145 – erschließbar machen.146 Ausgewertet wurden die englischsprachige Rechtsprechung und Literatur. Bei der Zitierung der Rechtsprechung wurde – entgegen der deutschen Gepflogenheit, primär amtliche Sammlungen zu zitieren – so weit wie möglich auf die frei verfügbare Seite „http://www.saflii.org/“ rekurriert. Dies erleichtert den Zugriff auf die relevante Rechtsprechung, da südafrikanische Literatur und Rechtsprechung nur rudimentär in deutschen Bibliotheken vertreten sind. ee) Zwischenergebnis Die Voraussetzungen für einen Rechtsvergleich zwischen der südafrikanischen und deutschen Verfassungslage sind insgesamt erfüllt. Somit eignet sich Südafrika für den vorliegenden Verfassungsvergleich in besonderem Maße als Vergleichsstaat.147
145 Hierzu Kischel, Legal Cultures – Legal Languages, in: Olsen/Lorz/Stein (Hrsg.), Translation Issues in Language and Law, 2009. S. 7 ff. 146 Siehe hierzu Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 1 Rn. 20–26, § 3 Rn. 203–206; Sommermann, Funktionen und Methoden der Grundrechtsvergleichung, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. I, 2004, § 16 Rn. 71–73. 147 Ebenfalls Deutschland und Südafrika vergleichend u.a. Botha/Schaks/Steiger, Zur Zukunft der Demokratie, in: Botha/Schaks/Steiger (Hrsg.), Das Ende des repräsentativen Staates?, 2016, S. 17–32; Botha/Schaks/Steiger, Editorial: The Current State of Democracy in South Africa, VRÜ 2015, 259 ff.; Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, 2000; Grupp, Südafrikas neue Verfassung, 1999; Hugo/T.M.J. Möllers (Hrsg.), Legal Certainty and Fundamental Rights, 2020; Krammig, Das Recht der Bankenaufsicht in Deutschland und Südafrika, 2001; le Roux, Migration, Representative Democracy and Residence Based Voting Rights in Post-Apartheid South Africa and Post-Unification Germany (1990–2015), in: Botha/Schaks/Steiger (Hrsg.), Das Ende des repräsentativen Staates?, 2016, S. 173 ff.; Midgley/ Ring/Pfaff, Boycotts and Similar Actions, South African Law Journal 119 (2002), 352 ff.; Mireku, Constitutional Review in Federalised Systems of Government, 1999; Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, S. 221–246; I.M. Rautenbach, The liability of organisers for damage caused in the course of violent demonstrations as a limitation of the right to freedom of assembly, Journal of South African Law 2013, 151 ff.; B.G. Schubert, Affirmative Action und Reverse Discrimination, 2003; Trilsch, Die Justiziabilität wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte im innerstaatlichen Recht, 2012, S. 189–246, 247 ff.; Venter, Constitutional Comparison, 2000; Wittneben, The role of the National Council of Provinces within the framework of co-operative government in South Africa, VRÜ 2002, 232 ff.; Wittneben, Die Rolle des National Council of Provinces in der südafrikanischen Verfassung, 2005.
II. Begriffe: Demokratie und demokratische Dekonsolidierung
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4. Zwischenergebnis: Dogmatik im Kontext und Rechtsvergleichung Die Offenheit des Verfassungstextes bedarf der interpretatorischen Begrenzungen. Aus diesem Grund wird die dogmatische Grundkonzeption der Arbeit um geschichtliche148 und rechtsvergleichende149 Erwägungen angereichert. Das Grundgesetz stellt einen Gegenentwurf zur Terrorherrschaft der Nationalsozialisten und eine Reaktion auf Diskussionen in der Weimarer Republik sowie ihr Scheitern dar.150 Beide Aspekte sind bei der Auslegung des Grundgesetzes bedeutsam. Die historischen Bezüge sind wohl am markantesten, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, wie die liberale Demokratie des Grundgesetzes dauerhaft gesichert werden kann. Die vorliegend verfolgte dogmatische Methode sowie die historischen und rechtsvergleichenden Elemente können deshalb als „Dogmatik im Kontext“ bezeichnet werden.151
II. Begriffe: Demokratie und demokratische Dekonsolidierung Zentrale Begriffe dieser Arbeit sind „Demokratie“ (1.) und „demokratische Dekonsolidierung“ (2.). Sie werden im Folgenden erläutert.
1. „Demokratie“ a) Vieldeutigkeit des Begriffs „Demokratie“ Der Begriff „Demokratie“, der vereinfachend mit „Volksherrschaft“ übersetzt werden kann, war nicht der erste Begriff für das, was heute „Demokratie“ genannt wird; die erste Beschreibung „einer Ordnung, in der das Volk die ‚Obmacht‘ hatte“, lautete „Isonomia“.152 Dies bedeutet so viel wie „Ordnung (staats)bürgerlicher Gleichberechtigung“ oder „Gleichheitsordnung“.153 Der Begriff „Demokratie“ konnte ursprünglich auch als Begriff der Kritiker ver-
148 Heintzen, Fremde in Deutschland, Der Staat 36 (1997), 327 (327 f.) weist darauf hin, wie der historische Blickwinkel erkenntnisstiftend und lohnend sein kann. Ausführlicher Noltenius/Roßner/Schuster-Oppenheim, Annäherung an die Rechtsgeschichte, in: Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, 4. Aufl. 2021, § 6 Rn. 2 f. 149 Siehe hierzu oben B. I. 3.–B. I. 3. c) ee). 150 Siehe hierzu unten D. V. 151 Hierzu A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 16 m.w.N. 152 Meier, Entstehung des Begriffs „Demokratie“, 4. Aufl. 1981, S. 15. Zur Entstehung des Begriffs „Isonomia“ Meier, Entstehung des Begriffs „Demokratie“, 4. Aufl. 1981, S. 36– 44. Siehe auch Vorländer, Demokratie, 3. Aufl. 2019, S. 13 f. 153 Meier, Entstehung des Begriffs „Demokratie“, 4. Aufl. 1981, S. 15, 36 f. Zu den Voraussetzungen in der Antike siehe Bleicken, Die athenische Demokratie, 4. Aufl. 1995, S. 338–360.
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
standen werden.154 Zwar sind Demokratiekonzepte vielgestaltig,155 allerdings erfreut sich der Begriff „Demokratie“ insgesamt eines guten Rufs.156 Das war nicht immer so. Bis weit in das 19. Jahrhundert hatte Demokratie einen schlechten Ruf.157 Heute schmücken sich hingegen selbst Staaten, deren Staatsform weit davon entfernt ist, „demokratisch“ zu sein, gerne mit diesem Attribut, z.B. Nordkorea (offiziell: „Demokratische Volksrepublik Korea“).158 Demokratie ist ein vielschichtiger Begriff, der zudem in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen Forschungsgegenstand ist. Werke über Demokratie vermitteln deshalb ganz unterschiedliche Konzepte.159 „Volksdemokratien“ sowjetischer Prägung160 sind etwas anderes als gelenkte, illiberale oder autokratische Demokratien, die sich wiederum von den liberalen Demokratien westlicher Prägung161 unterscheiden, die ihrerseits anders ausgestaltet sind als neuere Ansätze partizipativer Demokratie oder digitaler Demokratie.162 Demokratie kann eher oder rein prozedural, aber auch inhaltlich verstanden werden.163 Für einige ist „Demokratie“ ihrer Natur nach ein umstrittenes Konzept
154 Meier, Entstehung des Begriffs „Demokratie“, 4. Aufl. 1981, S. 44 f. Siehe auch Wiegand/Zabel, Der demokratische Verfassungsstaat zwischen Ideal und Wirklichkeit, Der Staat 50 (2011), 73 (86 f.). 155 Grimm, Stufen der Rechtsstaatlichkeit, JZ 2009, 596 (600); Lehne, Demokratie ohne Illusion, 1967, S. 1. 156 A.A. C. Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, 3. Aufl. 2012, Nr. 10, S. 15. 157 Manow, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, 2020, S. 29–36. 158 Hierzu Ginsburg/Huq, Defining and Tracking the Trajectory of Liberal Constitutional Democracy, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 29 (33); Volkmann, Krise der konstitutionellen Demokratie?, Der Staat 58 (2019), 643 (645). Siehe zum nationalsozialistischen „Demokratie“verständnis die Beiträge T. Weber, Nationalsozialistische illiberale Demokratie, S. 47 ff. und Richter, Wahlen im Nationalsozialismus: Eine dunkle Seite der Demokratiegeschichte, S. 63 ff. jeweils in: T. Weber (Hrsg.), Als die Demokratie starb, 2022. 159 Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten, 1968, S. 35 f.; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 63 m.w.N. in Fn. 251 f. Siehe auch Ginsburg/Huq, Defining and Tracking the Trajectory of Liberal Constitutional Democracy, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 29 (33); Volkmann, Krise der konstitutionellen Demokratie?, Der Staat 58 (2019), 643 (645 f.). 160 Vgl. Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 74. 161 Zur Entstehung des modernen Demokratiebegriffs vgl. Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 64–67 m.w.N. 162 Vgl. Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 80 f. 163 Hierzu Fox/Nolte, Intolerant Democracies, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1 (14–20).
II. Begriffe: Demokratie und demokratische Dekonsolidierung
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par excellence.164 Klaus Stern hat in seiner Untersuchung über 50 verschiedene Demokratietypen ausgemacht.165 Die vorliegende Arbeit behandelt das geltende Verfassungsrecht. Deshalb wird der rechtliche166 Demokratiebegriff des Grundgesetzes, welcher sich primär auf die Bundesebene bezieht,167 der weiteren Analyse zugrunde gelegt. Hierbei ist zu beachten, dass es auch außerhalb des Art. 20 I, II GG zahlreiche Vorschriften im Grundgesetz gibt, die sich mit der Demokratie befassen (z.B. Art. 38, 39, 42, 46 GG). Die speziellen Aussagen des Grundgesetzes zur Demokratie sind vorrangig heranzuziehen, sie prägen aber auch den Demokratiebegriff des Art. 20 I, II GG.168 b) Demokratieprinzip des Grundgesetzes Nach dem grundgesetzlichen Demokratiebegriff ist Träger der Staatsgewalt das Volk (Art. 20 II 1 GG),169 von welchem alle Staatsgewalt ausgeht (Volkssouveränität). Hiermit ist nicht nur eine positive Aussage, sondern (negativ) auch eine Absage an alle anderen denkbaren Legitimationsgrundlagen, z.B. religiöser, moralischer oder monarchischer Natur, verbunden: „Damit ist zunächst in allgemeiner Weise ausgesagt, daß demokratische Herrschaft sich nicht auf dynastische Legitimität oder die Blaublütigkeit von Adelsgeschlechtern, nicht auf die Idee des Staates als göttliche Stiftung oder auf überkommene Traditionen, nicht auf das Charisma eines Führers oder das Gottesgnadentum eines Monarchen stützt […].“170
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Gallie, Essentially Contested Concepts, Proceedings of the Aristotelian Society 56 (1956), 167 (168, 183–187). Ähnlich Daly, Democratic Decay: Conceptualising an Emerging Research Field, Hague Journal on the Rule of Law 11 (2019), 9 (13); H. Dreier, Vom Schwinden der Demokratie, in: Graf/Meier (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2018, S. 29 (29); H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 60: „Der Demokratiebegriff ist durch seine notorische Unschärfe gekennzeichnet und entzieht sich daher wie kaum ein zweiter der kompakten Definition.“ 165 Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 590–592. 166 H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 60. 167 Dieser hat allerdings Auswirkungen auf die Länder (Art. 28 I 1 GG), die EU (Art. 23 I 1 und 3 GG), Parteien (Art. 21 I 3 GG) sowie im Falle von Verfassungsänderungen (Art. 79 III GG), vgl. Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 20 Rn. 12. 168 Im Einzelfall kann es schwierig sein zu ermitteln, ob das Fehlen einer ausdrücklichen Aussage in einer speziellen Vorschrift den Rückgriff auf den allgemeineren Rechtssatz sperren oder gestatten will, vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, §§ 35–44 (S. 44–52). 169 BVerfGE 83, 37 (50); 83, 60 (71 f.). 170 H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 83. Siehe auch H. Dreier, Vom Schwinden der Demokratie, in: Graf/Meier (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2018, S. 29 (29 f.); Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. 102; Müller-Franken, Die demokratische Legitimation öffentlicher Gewalt in den Zeiten der Globalisierung, AöR 134 (2009), 542 (548).
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
Dies entspricht dem klassischen Gedanken der Volkssouveränität, wie er in Art. 3 der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 Ausdruck fand und wonach keine Hoheitsgewalt ausgeübt werden darf, die nicht vom Volk ausgeht.171 „Volk“ im Sinne des Grundgesetzes ist die Summe der Staatsangehörigen, meint somit das deutsche Volk.172 Die Staatsangehörigen, also die Bürgerinnen und Bürger, sind frei und gleich,173 zumindest in ihren rechtlichen Eigenschaften.174 Die Staatsgewalt „wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“ (Art. 20 II 2 GG). Direktdemokratische Elemente, also die in Art. 20 II 1 GG angesprochenen Abstimmungen, sind auf der Bundesebene nicht vorhanden,175 sodass der Ausübung der Staatsgewalt „durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung“ (Art. 20 II 2 a.E. GG), insbesondere durch den Bundestag, überragende Bedeutung zukommt.176 Da die besonderen Organe der drei Gewalten die Staatsgewalt lediglich ausüben, aber selbst nicht ihre Träger sind, bedarf die Ausübung von Hoheitsgewalt durch diese Organe der Anbindung an das Volk.177 Dieses ist aber nicht homogen, weshalb nicht vereinfachend
171
Im Original: „Le principe de toute souveraineté réside essentiellement dans la nation. Nul corps, nul individu ne peut exercer d’autorité qui n’en émane expressément.“ Heintzen, Fremde in Deutschland, Der Staat 36 (1997), 327 (329 f.) macht darauf aufmerksam, dass hier auch die Geburtsstunde eines modernen Staatsangehörigkeitsrechts liege. 172 BVerfGE 83, 37 (51); 83, 60 (71). Dabei kann der Singular „Volk“ eine Homogenität suggerieren, die tatsächlich nicht besteht. Bereits das Mehrheitsprinzip, das als wichtiges Element des Demokratieprinzips anzusehen ist, geht davon aus, dass Einstimmigkeit in politischen Fragen eine unrealistische Erwartung wäre, vgl. Badura, Die parlamentarische Demokratie, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 25 Rn. 29; H. Dreier, Vom Schwinden der Demokratie, in: Graf/Meier (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2018, S. 29 (33 f.); H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 67. Siehe auch Möllers, Die verfassungsrechtliche Missbilligung eines materialisierten Volksbegriffs als Element des Schutzes der Verfassung, Der Staat 62 (2023), 181 ff. 173 BVerfGE 44, 125 (141 f.); 138 (abw. Meinung Gaier, Masing, Baer), 136 (252); 144, 20 (208); Badura, Die parlamentarische Demokratie, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 25 Rn. 2; C. Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, 3. Aufl. 2012, Nr. 10, S. 15. 174 Zum Problem der wirtschaftlichen Ungleichheit BVerfGE 93 (abw. Meinung Böckenförde), 149 (162–165); 138 (abw. Meinung Gaier, Masing, Baer), 136 (252). 175 Bei den Fällen der Länderneugliederung (Art. 29, 118 GG) handelt es sich nicht um Volksabstimmungen, sondern um Bevölkerungsabstimmungen, vgl. H. Dreier, Vom Schwinden der Demokratie, in: Graf/Meier (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2018, S. 29 (35). 176 Badura, Die parlamentarische Demokratie, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 25 Rn. 5. 177 BVerfGE 107, 59 (86 f.); 136, 194 (261); H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 109.
II. Begriffe: Demokratie und demokratische Dekonsolidierung
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Demokratie als die Identität von Herrschern und Beherrschten dargestellt werden kann.178 Der notwendige Zurechnungszusammenhang kann nach Ansicht des BVerfG durch Formen der institutionellen, funktionellen, sachlich-inhaltlichen und personellen Legitimation vermittelt werden.179 Entscheidend ist, dass insgesamt ein hinreichendes Legitimationsniveau erreicht wird,180 wobei einzelne Legitimationsstränge schwächer als andere ausgeprägt sein dürfen.181 Eine vollständige Ersetzung des personellen Legitimationsstrangs durch andere Legitimationsformen ist hingegen nach traditioneller Ansicht ausgeschlossen.182 Sofern das Grundgesetz nicht selbst Legitimation spendet (z.B. im Falle der Bundesbank, Art. 88 GG183), bedarf die Ausübung von Staatsgewalt durch besondere Organe folglich der Rückbindung an den Bundestag, da nur dieser unmittelbar vom Volk als Träger der Staatsgewalt gewählt wird. Dem Bundestag kommt deshalb für die Demokratie des Grundgesetzes essenzielle Bedeutung zu. Er trifft seine Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip184 (vgl. Art. 42 II, 63 II, 63 IV, 79 II GG), wobei „Mehrheit“ je nach Kontext Unterschiedliches bedeuten kann. Auch relative, absolute oder qualifizierte Mehrheiten können mit dem Demokratieprinzip vereinbar sein.185 Das Mehrheitsprinzip gilt auch sonst zumeist bei der Fällung von Entscheidungen in Gremien oder Organen, die sich aus mehreren Personen zusammensetzen. Dieses Prinzip gewährleistet am ehesten, dass der geringsten Anzahl von Personen eine
178 Kischel, Parteienstaat und demokratische Stabilität, in: Manssen (Hrsg.), Die Finanzierung von politischen Parteien in Europa, 2008, S. 167 (168 f.). 179 BVerfGE 83, 60 (72); 93, 37 (66 f.); 107, 59 (87). Siehe hierzu F. Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005, S. 364. 180 Siehe Heintzen, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), 220 (230 f.) zu Abstufungen in der Bindung. 181 BVerfGE 83, 60 (72); 135, 155 (222); 136, 194 (262); F. Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005, S. 359–364; H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 113. 182 F. Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005, S. 364 f.; E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 23; Heintzen, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), 220 (244 f.); Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 170; a.A. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Januar 2022), Art. 20 II Rn. 130; Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, 1993, S. 284. Kritik auch bei Dederer, Korporative Staatsgewalt, 2004, S. 229–239. 183 Vgl. Sodan, Die funktionelle Unabhängigkeit der Zentralbanken, NJW 1999, 1521 (1521 f.). Siehe auch Haratsch, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 88 Rn. 6 f.; W.-R. Schenke, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Dezember 2018), Art. 65 Rn. 234. 184 Hierzu C. Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit, AöR 127 (2002), 460 ff.; R. Schmidt, Das Mehrheitsprinzip in der Moderne, DÖV 2023, 405 ff. 185 Vgl. NWVerfGH, NVwZ 2009, 1096 (1097–1099).
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
von ihnen nicht gewollte Folge auferlegt wird,186 Einstimmigkeit zu verlangen, wäre hingegen unrealistisch.187 Das Mehrheitsprinzip bedeutet aber nicht, dass die Mehrheit ihren Willen stets und ständig einseitig und rücksichtslos durchsetzen könnte. Die Kehrseite des Mehrheitsprinzips ist in der Demokratie des Grundgesetzes der Grundsatz des Minderheitenschutzes. Beide Prinzipien sind unauflöslich miteinander verbunden,188 denn Demokratie ist Herrschaft auf Zeit, sie lebt von der Abänderbarkeit von getroffenen Entscheidungen189 und von dem Ringen um die angemessene Problemlösung. Dies gelingt nur dann, wenn das demokratische Ethos190 gewahrt wird und der Minderheit Rechte zustehen, die es ihr ermöglichen, Mehrheiten für ihre Positionen zu erringen.191 Demokratie schützt auch zukünftige Mehrheiten,192 sie ist ein offener Prozess mit der Möglichkeit der Selbstkorrektur (Matthias Mahlmann). Wegen der besonderen Bedeutung des Bundestags ist auch die Art und Weise seiner Wahl essenziell. Die Wahl der Bundestagsabgeordneten muss deshalb die Freiheit und Gleichheit der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger widerspiegeln. Dies bezieht sich nicht nur auf den Wahlakt selbst, für welchen die Wahlrechtsgrundsätze der Allgemeinheit, Unmittelbarkeit, Freiheit, Gleichheit und Geheimheit in Art. 38 I 1 GG verfassungsrechtlich garantiert sind, sondern auch für das Vorfeld der Wahl.193 Da sich die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen entwickeln muss,194 ist eine staatliche Beeinflussung des Bürgers vor den Wahlen unzulässig195 und der Schutz der freien Willensbildung besonders geboten. Dabei werden die Anforderungen umso höher, je – zeitlich und räumlich – näher die Stimmabgabe rückt.196 Diese Wah186 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, Rn. 142; C. Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit, AöR 127 (2002), 460 (462 f.); Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. 9 f.; R. Schmidt, Das Mehrheitsprinzip in der Moderne, DÖV 2023, 405 (406). Streitig, vgl. hierzu H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 67–72. 187 R. Schmidt, Das Mehrheitsprinzip in der Moderne, DÖV 2023, 405 (408). 188 Vgl. Grimm, Stufen der Rechtsstaatlichkeit, JZ 2009, 596 (600). 189 BVerfGE 44, 125 (139); 144, 20 (196 f.); Gärditz, Zukunftsverfassungsrecht, AöR 148 (2023), 79 (86–91); Grimm, Politische Parteien, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, Bd. 2, 2. Aufl. 1994, § 14 Rn. 10. 190 Siehe oben A. II. 2. d) bb). 191 BVerfGE 123, 267 (342 f.); 138, 102 (109 f.); Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 17 f.; C. Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit, AöR 127 (2002), 460 (465). 192 So C. Möllers, Die Staatsrechtswissenschaft bei Anbruch der Dämmerung, Der Staat 56 (2017), 485 (488). 193 BVerfGE 20, 56 (97–100); 44, 125 (139). 194 BVerfGE 44, 125 (140 f.). 195 BVerfGE 44, 125 (139, 140 f.); RhPfVerfGH, NVwZ 2014, 1089. 196 BVerfGE 44, 125 (zeitliches Element: „heiße Phase“ des Wahlkampfs); RhPfVerfGH, NVwZ 2014, 1089 (zeitliches und räumliches Element: Moment der Stimmabgabe in der Wahlkabine). Es ließe sich auch noch auf das Verbot von Wahlwerbung im näheren Umfeld der Wahllokale hinweisen.
II. Begriffe: Demokratie und demokratische Dekonsolidierung
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len müssen in regelmäßigen Abständen stattfinden (Art. 39 I 1 GG), Demokratie ist immer nur Herrschaft auf von vornherein begrenzte Zeit. Nur dann bleiben die Staatsorgane dem Volk verantwortlich.197 So darf auch die laufende Mandatszeit weder nachträglich verlängert198 noch verkürzt199 werden. c) Exkurs: Legitimation nach der südafrikanischen Verfassung Auch Südafrika ist ein demokratischer Staat mit einem vergleichbaren und teilweise ähnlichen politischen System wie die Bundesrepublik Deutschland.200 Gestaltet ist es als eine quasiföderale Republik mit Provinzen, denen im Unterschied zu den Ländern keine eigene Staatlichkeit zukommt, die aber – wie die Länder – über eigene Rechtsetzungskompetenzen verfügen. Das Parlament besteht auf nationaler Ebene aus zwei Kammern: der National Assembly und dem National Council of Provinces. Die Wahl der National Assembly ist zum einen in Art. 46(1) und (2) FC geregelt, wonach das Wahlalter 18 Jahre beträgt, es ein einheitliches nationales Wahlregister geben und die Wahl zu einer repräsentativen proportionalen Vertretung führen muss. Einzelheiten sind einem Wahlgesetz überlassen. Darüber hinaus bestimmt Art. 1(d) FC, der nur mit einer Dreiviertelmehrheit in der National Assembly abänderbaren Vorschrift, dass es neben dem nationalen Wahlregister auch ein allgemeines Erwachsenenwahlrecht, regelmäßige Wahlen und ein Mehrparteiensystem geben muss, um Rechenschaftspflicht, Responsivität und Offenheit zu gewährleisten. Art. 19(2) FC gestaltet dann das Wahlrecht subjektivrechtlich aus, indem die Vorschrift jedem Bürger das Recht auf freie, faire und reguläre Wahlen für jedes gesetzgebende Organ, das im Sinne der Verfassung eingerichtet wurde, gewährt. Die National Assembly wählt den Staatspräsidenten (Art. 86(1) FC), der vom Vertrauen des Parlaments abhängig ist (Art. 89, 102 FC) und eher einem Premierminister als einem Präsidenten in einem Präsidialsystem entspricht.201 Direktdemokratische Elemente spielen in der südafrikanischen Verfassung (bislang) keine Rolle. Zwar kann der Staatspräsident nach Art. 84(2)(g) FC ein Referendum abhalten, aber dies steht in seinem Ermessen. Von dieser Kompetenz hat jedoch bislang noch kein Präsident Gebrauch gemacht. Da bislang der ANC stets über die absolute Mehrheit in der National Assembly verfügte und auch den Präsidenten stellte, bestand wohl aus Präsidentensicht auch kein Bedürfnis an Referenden. Wegen der überragenden Stellung einer Partei, des
197 198 199 200 201
BVerfGE 44, 125 (139); 144, 20 (196 f.). BVerfGE 1, 14 (33); 18, 151 (154); 62, 1 (32). BVerfGE 62, 1 (32). Siehe hierzu bereits oben B. I. 3. c) aa). Zur Gewaltenteilung siehe A. I. 3. e). Rose-Ackerman/Egidy/Fowkes, Due Process of Lawmaking, 2015, S. 105.
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
ANC, wird Südafrika auch als „dominant party system“202 bezeichnet, also als politisches System mit einer dominierenden Partei. Teilweise wird auf die Versammlungsfreiheit des Art. 17 FC als Moment der direkten Demokratie verwiesen,203 was aber nach deutschem Verständnis nicht zutreffend ist. Jedoch lebt auch die südafrikanische Demokratie von Grundrechten, und die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit wurden vom südafrikanischen Verfassungsgericht als Grundlage und Voraussetzung der Demokratie eingestuft204 – vergleichbar mit dem Lüth-Urteil und dem Brokdorf-Beschluss205. In der SATAWU-Entscheidung wurde die Bedeutung von Versammlungen zur Überwindung der Apartheid betont.206 Südafrika wird deshalb als repräsentative Demokratie eingestuft. Dies ist insofern richtig, als es zumindest in der gelebten Praxis keine Elemente direkter Demokratie gibt. Zutreffender dürfte es jedoch sein, Südafrika als „partizipative“ Demokratie zu bezeichnen, um zum Ausdruck zu bringen, dass die Demokratie nicht ausschließlich repräsentativ ist, denn die Verfassung versucht, Bürgerbeteiligung auf allen Ebenen sicherzustellen.207 Diese Besonderheit der südafrikanischen Demokratie wird auch als „Responsivität“ bezeichnet. Der bereits erwähnte Art. 1(d) FC nennt die Responsivität, und Art. 59(1)(a), Art. 72(1)(a) sowie Art. 118(1)(a) FC schreiben vor, dass die National Assembly, der National Council of Provinces und die Legislativen der Provinzen jeweils die öffentliche Beteiligung an den Legislativ- und sonstigen Prozessen ermöglichen müssen. Was dies bedeuten könnte, lässt der weitere Verfassungstext jedoch offen. In zwei Entscheidungen aus dem Jahr 2006 hat das Verfassungsgericht entschieden, dass es sich hierbei um individuell einklagbare 202
Choudhry, ‘He had a Mandate’, Constitutional Court Review 2 (2009), 1 (8–34). De Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 87. Siehe hierzu ausführlicher unten E. I. 204 CC, 26.5.1999 – CCT/27/98 Rn. 7 f. (O’Regan) – South African National Defence Union v. Minister of Defence and Another, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/1999/ 7.html; CC, 11.4.2001 – CCT/44/00 Rn. 37 (Kriegler) – The State v. Mamabolo, http:// www.saflii.org/za/cases/ZACC/2001/17.html; CC, 11.4.2002 – CCT/36/01 Rn. 26–30 (Langa) – Islamic Unity Convention v. Independent Broadcasting Authority and Others, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2002/3.html (Stand: 10.8.2023). So auch Davis, Assembly, in: Cheadle/Davis, South African Constitutional Law. The Bill of Rights, Kap. 12, 12–2; Omar, A legal analysis in context: The Regulation of Gatherings Act – a hindrance to the right to protest?, South African Crime Quarterly 62 (2017), 21 (21 f). 205 BVerfGE 7, 198 ff. bzw. BVerfGE 69, 315 ff. 206 CC, 13.6.2012 – CCT/112/11 Rn. 61–63 (Mogoeng; Yacoob, Cameron, Froneman, Khampepe, Maya, Nkabinde, Skweyiya, van der Westhuizen concurring) – South African Transport and Allied Workers Union and Another v. Garvas and Others, http://www.saf lii.org/za/cases/ZACC/2012/13.html (Stand: 10.8.2023). Siehe auch CC, 19.11.2018 – CCT/ 32/18 Rn. 60–67 (Petse; Basson, Cameron, Dlodlo, Froneman, Goliath, Khampepe, Mhlanthla and Theron concurring) – Mlungwana and Others v. The State and Another, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2018/45.html (Stand: 10.8.2023). 207 Rose-Ackerman/Egidy/Fowkes, Due Process of Lawmaking, 2015, S. 103. 203
II. Begriffe: Demokratie und demokratische Dekonsolidierung
105
Rechte der Bürger handelt, und hat zwei Gesetze wegen mangelhafter Beteiligung für nichtig erklärt.208 Die gebundenen Organe müssen angemessene Maßnahmen ergreifen, um der Verpflichtung nachzukommen. Was „angemessen“ in diesem Sinne ist, hängt von einem Bündel von Kriterien ab (Natur der Angelegenheit, ihre Bedeutung, ihre Auswirkungen auf die Öffentlichkeit, ihre Dringlichkeit, aber auch die Einschätzungen des Parlaments209). Die Verpflichtung zur Einbeziehung der Öffentlichkeit kann sich v.a. bei Parlamentsgesetzen auf die gesamte Bevölkerung erstrecken.210 Das Parlament hat aber auch sicherzustellen, dass erkennbar besonders betroffene Personengruppen einbezogen werden.211 Allerdings bedeutet dies nicht, dass die gesetzgebenden Körperschaften an das Vorbringen der Öffentlichkeit gebunden wären, sie müssen es lediglich zur Kenntnis nehmen und bei ihrer Entscheidung berücksichtigen.212 Der Grundsatz der Responsivität soll weiter gehende Beteiligungsmöglichkeiten auch zwischen den Wahlen einräumen und das Parlament dazu bringen, bei der Verabschiedung von Gesetzen transparent und verantwortlich zu handeln. Überdies zeigen die Vorschriften und ihre Interpretation durch das Verfassungsgericht die Sorge vor dem Ausschluss der Bevölkerung von politischen Entscheidungen, was für das Regime der Apartheid kennzeichnend war.213 Jedoch ist es nach den beiden zitierten Entscheidungen aus 2006 um den Grundsatz stiller geworden, und bislang wurden keine weiteren Gesetze wegen fehlender Responsivität für nichtig erklärt. Schwierig ist es auch, die Grenze zwischen einer (zulässigen) Nichtbeachtung des Vorbringens der Öffentlichkeit und einer (unzulässigen) bloßen Pro-forma-Beteiligung zu 208
CC, 17.8.2006 – CCT/12/05 – Doctors for Life International v. Speaker of the National Assembly and Others, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2006/11.html; CC, 18.8.2006 – CCT/73/05A – Matatiele Municipality and Others v. President of the Republic of South Africa and Others, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2006/12.html (Stand: 10.8.2023). 209 CC, 17.8.2006 – CCT/12/05 Rn. 118–129, 145 f. (Ngcobo; Langa, Moseneke, Madala, Mokgoro, Nkabinde, O’Regan and Sachs concurring) – Doctors for Life International v. Speaker of the National Assembly and Others, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2006/ 11.html; CC, 18.8.2006 – CCT/73/05A Rn. 68 (Ngcobo) – Matatiele Municipality and Others v. President of the Republic of South Africa and Others, http://www.saflii.org/za/ca ses/ZACC/2006/12.html (Stand: 10.8.2023). 210 CC, 17.8.2006 – CCT/12/05 Rn. 130–134 (Ngcobo; Langa, Moseneke, Madala, Mokgoro, Nkabinde, O’Regan and Sachs concurring) – Doctors for Life International v. Speaker of the National Assembly and Others, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2006/11.html (Stand: 10.8.2023). 211 CC, 18.8.2006 – CCT/73/05A Rn. 68 (Ngcobo) – Matatiele Municipality and Others v. President of the Republic of South Africa and Others, http://www.saflii.org/za/cases/ ZACC/2006/12.html (Stand: 10.8.2023). 212 Siehe hierzu Rose-Ackerman/Egidy/Fowkes, Due Process of Lawmaking, 2015, S. 114–120. 213 Das Grundgesetz hingegen ist dem direkten Bürgereinfluss gegenüber skeptischer eingestellt.
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
ziehen. Im Ergebnis werden wohl nur offensichtlich grob fehlerhafte Verfahren erfasst.214 In der Bundesrepublik existieren keine vergleichbaren Regelungen, diese Aussage gilt jedoch nur für die Bundesebene. Auf der Landesebene hat sich z.B. Baden-Württemberg anders positioniert und seit 2011 die Partizipation einfachgesetzlich systematisch ausgebaut.215 In verfassungshistorischer Perspektive sei auf die Erarbeitung des preußischen Allgemeinen Landrechts (ALR) verwiesen, bei der die Bevölkerung aufgerufen war, Verbesserungsvorschläge einzureichen.216 d) Demokratie und Grundrechte Demokratie setzt voraus, dass es einen Raum der Gleichheit und der Freiheit gibt, in dem die politischen Fragen zur Sprache kommen können und die freie Kommunikation gewährleistet ist.217 Diese gleiche Freiheit der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger muss nicht nur und erst zum Zeitpunkt der Stimmabgabe, sondern bereits vor dem Wahlakt gewährleistet sein, da anderenfalls keine selbstbestimmte Wahlentscheidung möglich ist.218 Dieser „Raum“ muss grundsätzlich staatlich unbeeinflusst in dem Sinne sein, dass sich die Willensbildung vom Volk zu den staatlichen Organen entwickelt und nicht umgekehrt; nur dann geht die Staatsgewalt vom Volk aus.219 Ohne das Recht auf freie und gleiche Wahlen (Art. 38 I 1 GG), ohne Meinungsfreiheit (Art. 5 I 1 Var. GG),220 ohne Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG)221 lässt sich schwerlich von einem demokratischen Gemeinwesen sprechen. So wie die Grundrechte die individuelle Selbstbestimmung ermöglichen, ermöglicht die demokratische Staatsform die kollektive Selbstbestimmung.222 Zwar wird oft formuliert, dass Demokratie einerseits und Grundrechte sowie Rechtsstaatlichkeit andererseits in einem Spannungsverhältnis stünden oder stehen können.223 Die Grund214
Fowkes, Building the Constitution, 2016, S. 197. Reidinger, Baden-Württemberg zwischen Wählen, Mitreden und Entscheiden – Mehr Partizipation als Regierungsauftrag, in: Botha/Schaks/Steiger (Hrsg.), Das Ende des repräsentativen Staates?, 2016, S. 273 ff. 216 C. Möller, Grußwort, in: Botha/Schaks/Steiger (Hrsg.), Das Ende des repräsentativen Staates?, 2016, S. 13 (15). 217 BVerfGE 7, 198 (208); 69, 315 (344 f.); 85, 1 (16); 90, 27 (31–33); 121, 30 (63 f.); 132, 39 (50 f.). 218 BVerfGE 20, 56 (97–100); 44, 125 (139). 219 BVerfGE 44, 125 (138–144); 138, 102 (109). 220 Vgl. BVerfGE 7, 198 (208). 221 Hierzu BVerfGE 69, 315 (344 f.). 222 BVerfGE 151, 202 (284–287); Steiger, L’État, c’est moi! L’État, c’est nous!, in: Heschl et al. (Hrsg.), L’État, c’est quoi? Staatsgewalt im Wandel, 2015, S. 79 (83–85). Siehe auch Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 17. 223 Voßkuhle, Rechtsstaat unter Druck, in: Die Zeit v. 27.9.2018, Nr. 40, S. 6. 215
II. Begriffe: Demokratie und demokratische Dekonsolidierung
107
rechte – verstanden als individuelle und gegen den Staat gerichtete Rechte224 – können z.B. gegen den Willen der Mehrheit gewendet und somit als antidemokratisch verstanden werden.225 Die Grundrechte können darüber hinaus nicht nur zur Durchsetzung individueller Interessen im Einzelfall dienen, sondern auch zum grundsätzlichen Kampf gegen die Demokratie als Staatsform genutzt werden. Auf der anderen Seite kann die demokratische Mehrheit sich gegen die Rechte von Minderheiten wenden, wie z.B. die Verbote, Minarette zu bauen226 oder in der Öffentlichkeit die Burka zu tragen227. Allerdings beruhen diese Versuche, einen Gegensatz zwischen Demokratie und Grundrechten zu konstruieren,228 zumeist auf der Gleichsetzung der Demokratie mit dem Mehrheitsprinzip, was indes unzutreffend ist.229 Der Demokratiebegriff des Grundgesetzes ist kein bloß formal-prozeduraler. Das Mehrheitsprinzip ist zwar vom Demokratieprinzip vorgegeben und hat Verfassungsrang,230 ist aber lediglich ein Element unter mehreren des Demokratieprinzips. Demokratie ist die auf das Volk rückführbare, rechtlich begrenzte Machtausübung, beruhend auf der Gleichheit und Freiheit der Staatsangehörigen. Die Verbindung zur Rechtsstaatlichkeit und den Grundrechten ist hierbei essenziell.231 Es lässt sich von einem „Amalgam“ verschiedener Aspekte sprechen.232 Eine Betrachtung, welche die Beschränkungen von öffentlichen Äußerungsmöglichkeiten gesellschaftlicher Kräfte lediglich als Frage der verhältnismäßigen Ausgestaltung von Freiheitsrechten einordnet oder die Reduzierung der gerichtlichen Kontrollmöglichkeiten lediglich als justizorganisationsrechtliches Detail, trägt dem Demokratieprinzip nicht hinreichend Rechnung. Rechtsstaatlichkeit (ein224
Vgl. BVerfGE 128, 226 (244 f.); Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Vorb. Art. 1
Rn. 1. 225 Hiergegen aber zu Recht Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 20 Rn. 16. Überdies wird nicht zwischen dem Recht selbst und seiner Ausübung im Einzelfall unterschieden. Für die Auflösung von Konflikten, die sich aus einer undemokratischen Rechtsausübung ergeben, hat die Verfassung regelgeleitete Mechanismen vorzuhalten. 226 Vgl. EGMR, Entsch. v. 28.6.2011 – 65840/09 – Hafid Ouardiri v. Schweiz, http:// hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–105619 (Stand: 10.8.2023) = NVwZ 2012, 289 ff. 227 Vgl. EGMR, Urt. v. 1.7.2014 – 43835/11 – S.A.S. v. Frankreich, http://hudoc.echr.coe. int/eng?i=001–145466 (Stand: 10.8.2023) = NJW 2014, 2925 ff. 228 Ablehnend bereits Heller, Rechtsstaat oder Diktatur?, 1930, S. 20. Dass beide Prinzipien in einen Gegensatz zueinander treten können, meint auch Schmidt-Aßmann, Stand und Perspektiven des demokratischen Prinzips, in: Broemel/Pilniok (Hrsg.), Die digitale Gesellschaft als Herausforderung für das Recht in der Demokratie, 2020, S. 11 (23). 229 BVerfGE 144, 20 (196 f.). 230 BVerfGE 1, 299 (315); 29, 154 (165); 44, 125 (141 f.); 112, 118 (140); 123, 267 (341 f., 342 f.). 231 Siehe auch C. Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit, AöR 127 (2002), 460 (468). Zu anderen Deutungen H. Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, JZ 1994, 741 (751). 232 Wiegand/Zabel, Der demokratische Verfassungsstaat zwischen Ideal und Wirklichkeit, Der Staat 50 (2011), 73 (76).
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
schließlich der Grundrechte) und Demokratie gehören zusammen und widersprechen sich nicht. Dieser Befund sollte nicht überraschen, sprechen doch zahlreiche Grundgesetzbestimmungen diesen Zusammenhang ausdrücklich aus. So ist in Art. 10 II 1, Art. 11 II, Art. 18 Satz 1, Art. 21 II, III, Art. 73 I Nr. 10 b), Art. 87a IV 1, Art. 91 I GG von der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“233 die Rede. Unabhängig davon, was damit in den verschiedenen Fällen gemeint ist, handelt es sich um die Essenz der Verfassungscharakteristika, welche Demokratie und Grundrechte aufs Engste verbindet.234 Demokratie lebt von der gleichen Freiheit aller Staatsbürgerinnen und -bürger und setzt diese Freiheiten voraus. Sie sind die „funktionelle Grundlage“235 oder das „Fundament“236 der Demokratie. Hermann Heller hat darauf hingewiesen, dass es diktatorische Bestrebungen sind, welche die Volkssouveränität gegen die Grundrechte ausspielen wollen und Grundrechte als undemokratisch herabsetzen237 und betont, wie Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Vorrang des Gesetzes zusammengehören.238 Die einzelnen Staatsstrukturbestimmungen und sonstigen Verfassungsgehalte werden also nicht isoliert und als teilweise Gegensätze betrachtet, sondern in ihrer Gesamtheit, was die liberale Demokratie kennzeichnet. Die Verfassung selbst geht somit von der engen Verbindung einzelner Prinzipien aus und fasst sie begrifflich zusammen.239 Dies gilt auch für die Republik Südafrika. Die südafrikanische Verfassung bringt diesen engen Zusammenhang ebenfalls mehrfach explizit zum Ausdruck. So lautet bereits Art. 1(a) FC, dass 233
Siehe hierzu unten C. III. 6. e)–C. III. 6. e) ee). Wiegand/Zabel, Der demokratische Verfassungsstaat zwischen Ideal und Wirklichkeit, Der Staat 50 (2011), 73 (77–81). Siehe speziell zur Versammlungsfreiheit Benda, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Mai 1995), Art. 8 Rn. 2 f. 235 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 17. 236 H. Dreier, Vom Schwinden der Demokratie, in: Graf/Meier (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2018, S. 29 (39). 237 Heller, Rechtsstaat oder Diktatur?, 1930, S. 20. Gegen einen Widerspruch von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), 53 (80). Siehe auch Voßkuhle, Rechtsstaat unter Druck, in: Die Zeit v. 27.9.2018, Nr. 40, S. 6. 238 Heller, Rechtsstaat oder Diktatur?, 1930, S. 19 f., 23 f. Ähnlich Heller, Europa und der Fascismus, 1929, S. 65 f. Zum Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit siehe auch E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 81–94; Hesse, Der Rechtsstaat im Verfassungssystem des Grundgesetzes, in: FG Smend, 1962, S. 71 ff. 239 Von dieser Verbindung gehen auch aus H. Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, JZ 1994, 741 (751); P.M. Huber, Europäische Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit in Bedrängnis, Der Staat 56 (2017), 389 (398 f.); Voßkuhle, Rechtsstaat und Demokratie, NJW 2018, 3154 (3154). Für die USA Huq/Ginsburg, How to Lose a Constitutional Democracy, UCLA Law Review 65 (2018), 78 (86–89). 234
II. Begriffe: Demokratie und demokratische Dekonsolidierung
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die Republik Südafrika ein demokratischer Staat sei, der auf den Werten der Menschenwürde, der Erreichung von Gleichheit und der Förderung der Menschenrechte und Freiheiten beruht. Noch deutlicher wird Art. 7(1) FC, wo es heißt, dass der Grundrechtskatalog (Bill of Rights) ein Eckpfeiler der Demokratie in Südafrika ist.240 Beschränkungen der Bill of Rights dürfen nach Art. 36(1) FC nur vorgenommen werden, soweit dies vernünftig und gerechtfertigt ist in einer offenen und demokratischen Gesellschaft, die auf der Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit beruht („[…] to the extent that the limitation is reasonable and justifiable in an open and democratic society based on human dignity, equality and freedom […]“). Den Bezug zwischen Menschenrechten, ihren Beschränkungen und dem Demokratieprinzip stellt auch die EMRK her, wenn sie etwa in ihren Art. 9 II, Art. 10 II, Art. 11 II 1 nur solche Einschränkungen gestattet, die „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“241 sind.242 Der EGMR geht davon, dass Demokratie das einzige politische Modell ist, dass mit der Konvention – und damit auch der Versammlungsfreiheit – vereinbar ist.243 Im Hinblick auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948, welche diese Formulierung ebenfalls enthält, wird darauf hingewiesen, dass der Ausdruck einen freiheitlichen und antitotalitären Zungenschlag hatte.244 Mit Heinz Klug lässt sich – über den südafrikanischen Kontext hinaus – formulieren, dass die konstitutionelle Demokratie auf zwei tragenden Säulen – einer gewaltenteilenden Verfassungsstruktur, welche die Demokratie vor Usurpation bewahrt, und justiziablen Grundrechten, um politische, soziale und sonstige Minderheiten zu schützen – ruht.245 Wenn von liberaler Demokratie die Rede ist, dann ist dieser Zusammenhang zwischen rechtsstaatlicher Freiheit des Individuums und der kollektiven Selbstbestimmung des Volkes ge240 Hierzu Woolman, The Selfless Constitution, 2013, S. 266–269. Siehe auch Klug, The Constitution of South Africa, 2010, S. 114. 241 Kritisch zur Rechtsprechung des EGMR in dieser Hinsicht Zysset, Searching for the Legitimacy of the European Court of Human Rights, Global Constitutionalism 5 (2016), 16 ff. 242 Es handelt sich um eine „Standardformulierung des internationalen Menschrechtsschutzes“, Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 76, siehe dort auch zu weiteren Rechtstexten, die diese Formulierung verwenden. Zu einer frühen Befassung mit der Rechtsprechung des EGMR in dieser Hinsicht K. Hailbronner, Die Einschränkung von Grundrechten in einer demokratischen Gesellschaft. Zu den Schrankenvorbehalten der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: FS Bernhardt, 1983, S. 359 ff. 243 EGMR, Urt. v. 30.1.1998 – 19392/92, Rn. 45 – United Communist Party of Turkey u.a. vs. Türkei, https://hudoc.echr.coe.int/?i=001–58128 (Stand: 10.8.2023); Urt. v. 26.7.2007 – 10519/03, Rn. 24 – Barankevich v. Russland, https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=002–2589 (Stand: 10.8.2023). 244 Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 77. 245 Klug, State Capture or Institutional Resilience, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 295 (296).
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
meint, im Unterschied zu einem formalen Demokratieverständnis, welches sich in dem Mehrheitsprinzip erschöpft. Hans-Detlef Horn fasst den Demokratiebegriff des Grundgesetzes wie folgt zusammen: „Zur Demokratie gehören das Recht der Bürger zur freien, allgemeinen und gleichen Wahl ihrer staatlichen Repräsentanten, der gleiche Zugang für alle in die Ämter der politischen Führung, die periodische Erneuerung der gleichen und weisungsunabhängigen Herrschaftsmandate, die reguläre Bildung einer verantwortlichen Regierung, der wirksame Schutz der Opposition und Minderheit zur Bewahrung ihrer Chance, zur Mehrheit zu werden, die strukturelle Koppelung zwischen der institutionalisierten Staatsphäre und den politischen Systemen der Gesellschaft im Raum der Öffentlichkeit.“246
e) Demokratieprinzip, verfassungsmäßige Ordnung, freiheitliche demokratische Grundordnung, Verfassungsidentität Bei der demokratischen Dekonsolidierung geht es nicht nur um einzelne Veränderungen des Demokratieprinzips, wie dies eben skizziert wurde. Deshalb muss ein übergreifenderer Bezugspunkt gewählt werden, da ansonsten womöglich vorschnell eine demokratische Dekonsolidierung angenommen wird. Die Verbindung von Demokratie, Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit kommt im Grundgesetz in zahlreichen Bestimmungen zum Ausdruck, welche von „verfassungsmäßige Ordnung“, „freiheitliche demokratische Grundordnung“ oder „dieser Ordnung“ sprechen. Dies ist nach Ansicht des BVerfG „Ausdruck einer pluralistischen, aber zugleich wehrhaften verfassungsstaatlichen Demokratie“.247 Hierbei handelt es sich um Zusammenfassungen, die in komprimierter, aber auch abstrakter Weise das Selbstverständnis des Grundgesetzes als Verfassung einer liberalen Gesellschaft widerspiegeln. Dies ist der Charakter des demokratischen Verfassungsstaats, wie er sich seit der nordamerikanischen und den französischen Revolutionen Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet hat. Die beiden wesentlichen grundgesetzlichen Zusammenfassungen sind die „Verfassungsidentität“248 und die „freiheitliche demokratische Grundordnung“249. Beide Konzepte überschneiden sich, sind aber nicht identisch.250 Die 246
Horn, Vom Staat der Demokratie, 2015, S. 31 f. BVerfGE 149, 160 (194). 248 Siehe hierzu unten C. III. 1.–C. III. 1. e). 249 Siehe hierzu unten C. III. 6. e) aa). 250 BVerfGE 144, 20 (206): „Der Regelungsgehalt des Art. 79 Abs. 3 GG geht über den für einen freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaat unverzichtbaren Mindestgehalt hinaus. Zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zählen insbesondere nicht die von Art. 79 Abs. 3 GG umfassten Prinzipien der Republik und des Bundesstaats, da auch konstitutionelle Monarchien und Zentralstaaten dem Leitbild einer freiheitlichen Demokratie entsprechen können […].“ 247
II. Begriffe: Demokratie und demokratische Dekonsolidierung
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Verfassungsidentität251 umfasst den nicht durch eine Verfassungsänderung (Art. 79 GG) änderbaren Grundgehalt des Grundgesetzes, wobei sich Art. 79 GG an die für Verfassungsänderung zuständigen Organe richtet. Demgegenüber dient die engere freiheitliche demokratische Grundordnung der Abwehr von Gefahren, die nicht von den für Verfassungsänderungen zuständigen Organen ausgehen. Vielmehr wird dieses Schutzgut gegen verfassungswidrige Parteien (Art. 21 II 1, III 1 GG), Vereine (Art. 9 II GG) oder Personen (Art. 18 GG) in Stellung gebracht. Wenn deshalb im Folgenden von „liberaler Demokratie“ oder der „Demokratie des Grundgesetzes“ bzw. demokratischer Verfassungsordnung oder Verfassungskern die Rede ist, dann ist dieses engere Verständnis gemeint, denn das Demokratieprinzip des Art. 20 I, II GG ist grundsätzlich ausgestaltbar und wird nicht durch einzelne Verschlechterungen infrage gestellt. Problematisch und zum Problemkreis der demokratischen Dekonsolidierung zugehörig sind Gesetzesbündel, mit denen der Kern der Verfassungsordnung verändert wird, worauf sogleich bei der demokratischen Dekonsolidierung vertieft einzugehen ist.
2. Demokratische Dekonsolidierung In dieser Arbeit wird der Begriff „demokratische Dekonsolidierung“ verwendet, allenfalls gelegentlich die Synonyme wie etwa „democratic backsliding“ oder „demokratischer Rückschritt“.252 Der Begriff „demokratische Dekonsolidierung“ soll besser als der Begriff „democratic backsliding“ zum Ausdruck bringen, dass auch etablierte Demokratien von diesem Phänomen betroffen sein können und nicht nur sich erst in der Entwicklung befindliche Demokratien, die in einen erst kürzlich überwundenen vordemokratischen Zustand „zurückrutschen“. Mit diesem Begriff wird sich keiner bestimmten politikwissenschaftlichen Theorie oder Denkschule angeschlossen. Vielmehr wird er als Symptombeschreibung dafür verwendet, dass die liberale Demokratie in der Krise ist.253 Dementsprechend werden auch die Synonyme „demokratischer Rückschritt“ etc. – sofern überhaupt – lediglich zur sprachlichen Variation verwendet, aber nicht als Ausdruck einer anderen Konzeption. Der Begriff „demokratischer Rückschritt“ wird auch deshalb gemieden, weil es hinsichtlich des Sozialstaatsprinzips eine Debatte gab, inwieweit von einmal errungenen sozialstaatlichen Begünstigungen wieder abgewichen werden darf, ob es also ein sozialstaatliches Rückschrittsverbot gibt. Um eine Vermischung 251 252 253
643 ff.
Hierzu Polzin, Verfassungsidentität, 2018. Siehe zu den weiteren Begriffen oben A. m.w.N. Siehe hierzu Volkmann, Krise der konstitutionellen Demokratie?, Der Staat 58 (2019),
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B. Methodische und begriffliche Grundlegungen
der Themen zu vermeiden, sollen sich bereits die verwendeten Begriffe deutlich unterscheiden. Demokratische Dekonsolidierung bezeichnet eine Verschlechterung der Demokratie, so könnte eine erste Kurzdefinition lauten. Damit ist das Bestehen eines demokratischen Staates vorausgesetzt. Da die Bundesrepublik Deutschland unter dem Grundgesetz eine Demokratie darstellt, wird auf diesen Aspekt nicht weiter eingegangen, sondern der Blick auf die Verschlechterung der Demokratie gelenkt, insbesondere wie diese durch das Grundgesetz verhindert werden kann. Hier ist eine Abgrenzung erforderlich. Nicht Gegenstand der Arbeit ist der gewaltsame, schlagartige Staatsstreich,254 mit welchem die Macht von bisherigen Regierungsmitgliedern oder Dritten unter Missachtung der verfassungsrechtlichen Regeln an sich gerissen und im Folgenden ausgeübt wird.255 Demokratische Dekonsolidierung ist ein schleichender Prozess innerer Auszehrung der Demokratie, der zu Beginn zumeist nicht recht bemerkt wird,256 aber die Qualität der Demokratie deutlich und nachhaltig verschlechtert. Mit Verschlechterungen der Demokratie sind nur solche gemeint, welche das Recht in
254 Erst recht nicht der Gegenbegriff, die Revolution, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich die Machtverhältnisse gerade umkehren, vgl. „Revolution“, in: Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 6. Aufl. 2007. 255 Hierzu Huq/Ginsburg, How to Lose a Constitutional Democracy, UCLA Law Review 65 (2018), 78 (83 f., 92–99), die zwischen „authoritarian reversion“ und „constitutional retrogression“ unterscheiden. „Authoritarian reversion“ entspricht dem hier nicht untersuchten Staatsstreich, während „constitutional retrogression“ die hier relevante demokratische Dekonsolidierung bezeichnet. Die Begriffe „Staatsstreich“ und „Putsch“ werden zwar nicht einheitlich verstanden, hier geht es aber darum, den gewaltsamen Verfassungsbruch von dem legalen oder scheinbar legalen Vorgehen abzugrenzen, vgl. Volkmann, Krise der konstitutionellen Demokratie?, Der Staat 58 (2019), 643 (653 f.). Allerdings wird z.B. das Vorgehen von Präsident Nicolás Maduro in Venezuela teilweise als „Staatsstreich von oben“ bezeichnet, vgl. https://www.deutschlandfunk.de/venezuelas-parlament-entmachtet-dasist-ein-staatsstreich.694.de.html?dram:article_id=382778 (Stand: 10.8.2023), obwohl Maduros Vorgehen in Venezuela als Beispiel in der wissenschaftlichen Literatur zur demokratischen Dekonsolidierung herangezogen wird, Landau, Constitution-Making and Authoritarianism in Venezuela, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 161 ff. 256 Volkmann, Krise der konstitutionellen Demokratie?, Der Staat 58 (2019), 643 (656). So auch Daly, Between Fear and Hope: Poland’s Democratic Lessons for Europe (and Beyond), European Constitutional Law Review 15 (2019), 752 (756, 758); Daly, Democratic Decay: Conceptualising an Emerging Research Field, Hague Journal on the Rule of Law 11 (2019), 9 (17); Huq/Ginsburg, How to Lose a Constitutional Democracy, UCLA Law Review 65 (2018), 78 (118 f.); Manow, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, 2020, S. 128; Sadurski, Constitutional Crisis in Poland, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, 2018, S. 257 (258); Uitz, Can you tell when an illiberal democracy is in the making?, International Journal of Constitutional Law 13 (2015), 279 (280, 300, passim).
II. Begriffe: Demokratie und demokratische Dekonsolidierung
113
der Demokratie von innen negativ beeinflussen,257 nicht jedoch die faktischen Gelingensbedingungen und keine Angriffe von außen.258 Damit ist die Art der möglichen Angriffe beschrieben, aber noch nicht ihre Intensität. Demokratische Dekonsolidierung betrifft deshalb nicht nur die Abschwächung oder Einschränkung einzelner Merkmalen des Demokratieprinzips. Kann man die demokratische Dekonsolidierung als De-facto-Verfassungsänderung beschreiben, so wird von demokratischer Dekonsolidierung erst dann ausgegangen, wenn Verfassungskerne, wie die freiheitliche demokratische Grundordnung in Art. 10 II 1, Art. 11 II, Art. 18 Satz 1, Art. 21 II 1, III 1, Art. 73 I Nr. 10 b), Art. 87a IV 1, Art. 91 I GG, die Verfassungsidentität nach Art. 79 III GG oder diese Ordnung i.S.d. Art. 20 IV GG betroffen sind.
257 Hierzu Loewenstein, Autocracy versus Democracy in Contemporary Europe I, American Political Science Review 29 (1935), 571 (579 f.). 258 Mit Grunenberg, Demokratie als Versprechen, 2022, S. 159 ist jedoch davon auszugehen, dass die Angriffe von innen der häufigere Fall sind.
C. Antizipation im Grundgesetz Zukünftige Entwicklungen und Bedürfnisse rechtzeitig zu erkennen oder zu erahnen und sich hierauf einzustellen, erscheint sinnvoll, insbesondere wenn man hierdurch Notlagen vorbeugen kann. In der Literatur hat das bereits Äsop in seiner Fabel von der Grille und der Ameise zum Ausdruck gebracht. Dem Vorsorgegedanken entspricht es, wenn in der Bundesrepublik für den Notfall Lebensmittelreserven auf der Grundlage des Gesetzes über die Sicherstellung der Grundversorgung mit Lebensmitteln in einer Versorgungskrise und Maßnahmen zur Vorsorge für eine Versorgungskrise (Ernährungssicherstellungsund -vorsorgegesetz – ESVG1) bereitgehalten werden, selbst wenn die staatlichen Funktionsträger den Eintritt eines solchen Notfalls vermeiden wollen. Im Gesundheitsbereich wird Prävention als Vorsorge vor und Verhütung von Krankheiten immer wichtiger. Impfungen und die durch sie erzielbare Immunität sind ein sprechendes Beispiel – nicht erst seit Covid-19. Die Gesetzesbegründung zum „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG)“2 aus dem Jahr 2000 formuliert diesen Gedanken in großer Klarheit: „Die Prävention einer Infektion ist die wirksamste, kostengünstigste und damit wichtigste Maßnahme zum Schutz vor übertragbaren Krankheiten.“3 Im Zuge der Covid-19Pandemie sind Regelungen zum Katastrophenschutz wie etwa Pandemiepläne auch der breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Auch an vielen anderen Stellen im einfachen Recht lassen sich Vorsorge- und Präventionsmechanismen erkennen, so z.B. im Polizeirecht (als klassisches Gefahrenabwehrrecht4) oder im Umweltrecht mit dem Vorsorgeprinzip.5 Für die Zwecke dieser Bearbeitung ist die Entwicklung, der vorgebeugt werden soll, die soeben skizzierte demokratische Dekonsolidierung. Sie ist das 1 Gesetz v. 4.4.2017, BGBl. I, 772, zuletzt geändert durch Art. 12 des Gesetzes zur Anpassung von Gesetzen und Verordnungen an die neue Behördenbezeichnung des Bundesamtes für Güterverkehr v. 2.3.2023, BGBl. I, Nr. 56. 2 Art. 1 des Gesetzes zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften (Seuchenrechtsneuordnungsgesetz – SeuchRNeuG) v. 20.7.2000, BGBl. I, 1045. 3 BT-Drs. 14/2530, S. 43. 4 Hier lässt sich zudem eine Tendenz zur ständigen Vorverlagerung der Eingriffsbefugnisse feststellen, Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Schoch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 2018, Kap. 1, Rn. 10–13. 5 Siehe hierzu Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 153–249.
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C. Antizipation im Grundgesetz
mögliche Szenario, welches das Grundgesetz antizipiert – so die vorliegend verfolgte These. Hierfür wird im nächsten Schritt der Begriff „Antizipation“ entwickelt. In der römischen Republik diente die „Diktatur“,6 die sich als einflussreich auf staatliche Notstandsregeln weltweit erweisen sollte,7 als antizipiertes Notregime für außergewöhnliche Situationen. Niccolò Machiavelli, ein Bewunderer dieser Konstruktion, formulierte einige Jahrhunderte später ebenfalls die Notwendigkeit der Antizipation und Vorsorge für Krisen: „Ein Freistaat wird daher niemals vollkommen sein, wenn er nicht in seinen Gesetzen alles vorgesehen, für jedes Ereignis nicht die entsprechende Abhilfe festgelegt und die Art und Weise bestimmt hat, sie anzuwenden.“8
James Madison bezeichnete es in „Federalist No. 57“ als Ziel einer jeden Verfassung, wirksame Vorkehrungen zu treffen, um die Inhaber öffentlicher Ämter „tugendhaft“ zu halten.9 Hieran knüpfen Notstandsregeln in verschiedenen Verfassungen der Welt10 und in internationalen Menschenrechtskonventionen11 an.12 In Südafrika regelt beispielsweise Art. 37 FC, wann der Notstand ausgerufen werden darf, wie dies zu erfolgen hat, wer über die Verlängerung zu entscheiden hat und welche Grundrechte wie stark derogiert werden dürfen.13 Diese Idee beanspruchte auch für das deutsche Verfassungsrecht Geltung. Gerhard Anschütz ging für das deutsche Kaiserreich von 1871 von der Notwendigkeit aus, bestimmte Aspekte in der Verfassung zu regeln, und erkannte das Dilemma, wenn dies nicht der Fall ist.14 Dass ihm diese Gefahr so deutlich vor Augen stand, lag nicht zuletzt am preußischen Verfassungskonflikt der 6 Hierzu Svensson-McCarthy, The International Law of Human Rights and States of Exception, 1998, S. 11–19. Siehe auch Krieger, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, 3. Aufl. 2022, Kap. 8 Rn. 1. Ausführlicher hierzu unten C. IV. 2. b). Rossiter, Constitutional Dictatorship, 1963, S. 5 griff dies auf und ging davon aus, dass Krisen besondere Maßnahmen erforderten, was mit weniger Rechten der Bevölkerung einherging. 7 Heun, in: Dreier, GG, Bd. III, 3. Aufl. 2018, Vorb. zu Art. 115a–115l GG Rn. 1 m.w.N. 8 Machiavelli, Discorsi: Gedanken über Politik und Staatsführung, 2. Aufl. 1977, S. 96. Freilich formulierte er diese Passage im Hinblick auf den Notstand und die Rechtfertigung der Diktatur der römischen Republik. 9 Madison, in: Hamilton/Madison/Jay, The Federalist Papers, No. 57, S. 347 (347). 10 Etwa 90% der Verfassungen weltweit verfügen über besondere Regelungen für Ausnahmesituationen, Bjørnskov/Voigt, The architecture of emergency constitutions, International Journal of Constitutional Law 16 (2018), 101 (101 f.). Zur südafrikanischen Verfassung siehe unten C. IV. 2. c). 11 Z.B. Art. 15 EMRK, Art. 27 American Convention on Human Rights (ACHR), Art. 4 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IpbpR). 12 Vgl. Gross/Ní Aoláin, Law in Times of Crisis, 2006, S. 27. 13 Siehe hierzu ausführlich unten C. IV. 2. c). 14 Anschütz, Lücken in den Verfassungs- und Verwaltungsgesetzen, VerwArch 14 (1906), 315 (332–339).
C. Antizipation im Grundgesetz
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Jahre 1862 bis 1866, auch preußischer Heereskonflikt genannt.15 Die revidierte Preußische Verfassung von 185016 (im Folgenden: Preußische Verfassung 1850) sah vor, dass der Haushalt jährlich als Gesetz für ein Jahr beschlossen werde und es hierfür der Übereinstimmung der beiden Kammern und des Königs bedürfe (Art. 99 I, II, Art. 62 I, II Preußische Verfassung 1850). Dabei fehlte es aber an einer Regelung für den Fall, dass es nicht zur Einigung käme.17 Genau diese Konstellation trat anlässlich von Bestrebungen zu einer Heeresreform zu Beginn der 1860er-Jahre ein. Weder Übergangslösungen noch Neuwahlen führten zur Behebung des Konflikts, weshalb der neu berufene preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck entgegen der Verfassung zunächst ohne Haushalt regierte. Erst nach den gewonnenen Kriegen Preußens gegen Dänemark (1864) sowie Österreich (1866) und mit der Aussicht auf eine Reichseinigung erfolgte eine Verständigung in Gestalt einer nachträglichen Legalisierung des gesetzlosen Zustands.18 Auch wenn der Konflikt schon damals Jahrzehnte zurücklag, war er gleichwohl im juristischen Diskurs präsent und beschäftigte auch noch zu Beginn der Weimarer Republik die Staatsrechtslehre.19 Obwohl es um einen Verfassungskonflikt und den Umgang mit einer von der Verfassung nicht geregelten Konstellation ging, entwickelte sich die Diskussion zunehmend in eine andere Richtung. Gerhard Anschütz20 formulierte: „Das Staatsrecht hört hier auf; die Frage, wie bei nicht vorhandenem Etatgesetz zu verfahren sei, ist keine Rechtsfrage.“ Demgegenüber verband Carl Schmitt die Frage der Verfassungslücke mit dem Ausnahmezustand und der Souveränität und gelangte zur Rechtfertigung des Ausnahmerechts, zur Suspendierung der Verfassungsordnung.21 Damit ist auch der Bezug zur demokratischen Dekonsolidierung hergestellt, der De-facto-Verfassungsänderung. Aktueller formuliert Helmut Willke im Hinblick auf die Gefahr von etwaigen Mehrheiten von „Populisten, Irrationalen, Inkompetenten oder Post-Faktischen“, die er für manifest demokratiegefährdend hält: „Eine ernst gemeinte und wehrhafte Demokratie sollte sich die Freiheit leisten, vorher über mögliche Korrekturen und Abhilfen nachzu15
Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776–1868, 1988, S. 231, 234. Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat v. 31.1.1850, Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, 17 ff. Siehe hierzu Kotulla, Das konstitutionelle Verfassungswerk Preußens (1848–1918), 2003, S. 22–30. Zu ihrem Grundrechtsgehalt Sodan, Landesgrundrechte in Berlin, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. VIII, 2017, § 247 Rn. 1 f. 17 Ausführlich zu diesem Problem und den verschiedenen Lösungsansätzen G. Meyer/ Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. 1919, S. 902–906. 18 Siehe zu diesem Konflikt Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 20. Aufl. 2022, Rn. 387–393; Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776–1868, 1988, S. 231–240; A.B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 94–96; Straßburger, Herrschaft als Auftrag, 2022, S. 81–92. 19 Hierzu A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 100–112. 20 G. Meyer/Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. 1919, S. 906. 21 Hierzu insgesamt A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 96–112. 16
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C. Antizipation im Grundgesetz
denken.“22 Nüchterner ist die Formulierung von Peter Badura, der feststellt, dass Überlegungen zur Verteidigung des Rechtsstaats „durchaus angebracht“ seien, selbst wenn gerade keine Krisensituation vorliege.23 Im Hinblick auf die Covid-19-Pandemie betonen Verfassungsrechtler, dass das Verfassungsrecht sogar stärker als andere Fächer „strukturell krisenreaktionsfähig“ sein müsse.24 In der Krise „gilt es vom ersten Moment an, Rechtfertigungslasten zu benennen, Abwägungen einzufordern, Grenzen auch für das Krisenmanagement zu ziehen – damit Politik, Öffentlichkeit und Rechtsprechung wissen, was auf dem Spiel steht“.25 Nach hier vertretener Ansicht sollte – sofern möglich – die Krisenreaktionsfähigkeit sogar noch früher und nicht erst mit dem Eintritt der Krise beginnen. Vielmehr sind die Rechtfertigungslasten etc. bereits vorher zu klären und zu etablieren. Es bedarf nicht nur der Reaktion, sondern auch der Antizipation. Karl R. Popper formulierte: „Und ich halte es in der Politik für ein kluges Prinzip, wenn wir uns, so gut wir können, für das Ärgste vorbereiten, obschon wir natürlich zur gleichen Zeit versuchen sollten, das Beste zu erreichen.“26
Aber aus der Notwendigkeit oder Sinnhaftigkeit eines Vorgehens allein kann noch nicht geschlossen werden, dass dieses Vorgehen auch in der Verfassung selbst angelegt ist. Wie dargelegt, entsprang der preußische Verfassungskonflikt gerade aus der Nichtregelung einer – durchaus vorhersehbaren – Konstellation (fehlende Einigung zwischen den Häusern des Parlaments und dem König), obwohl es sinnvoll gewesen wäre, für diesen Fall eine Regelung zur Verfügung zu haben. Ob das Grundgesetz die demokratische Dekonsolidierung antizipieren kann, soll im Folgenden untersucht werden. Bereits an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass hier kein neues Prinzip entwickelt wird, das sich verselbstständigt und anderen konkreten Verfassungsinhalten entgegengehalten werden soll.27 Ganz grundsätzlich kann bereits die bloße Existenz des Grundgesetzes als rechtsverbindliche Verfassung als antizipatorisch verstanden werden, denn Verfassungen haben u.a. die Funktion, die Grundlagen des Gemeinwesens,
22 Willke, Demokratie im Umbruch, Der Staat 56 (2017), 357 (380) – Hervorhebung nicht im Original. 23 Badura, Vorkehrungen der Verfassung für Not- und Krisenlagen, ThürVBl. 1994, 169 (169). 24 Heinig et al., Why Constitution Matters – Verfassungsrechtswissenschaft in Zeiten der Corona-Krise, JZ 2020, 861 (861). 25 Heinig et al., Why Constitution Matters – Verfassungsrechtswissenschaft in Zeiten der Corona-Krise, JZ 2020, 861 (861). 26 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I, 7. Aufl. 1992, S. 147. 27 Hierzu am Beispiel der streithaften Demokratie Papier/Durner, Streitbare Demokratie, AöR 128 (2003), 340 (362 ff.).
C. Antizipation im Grundgesetz
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den Aufbau des Staates und seiner Verfahren verbindlich festzulegen.28 Sie entziehen dadurch die Grundfragen der Gemeinschaft dem permanenten Streit, der entstehen würde, wenn für jede Entscheidung erneut die Bedingungen ihres Zustandekommens ausverhandelt werden müssten. Geschaffen wird ein fester Bestand an grundlegenden Rechtsregeln, die nicht mehr infrage gestellt werden können.29 Im Hinblick auf die Staatsfinanzen kann auf die Regelungen zur sog. Schuldenbremse des Art. 109 III GG30 verwiesen werden. Danach sind die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen (Satz 1). „Bund und Länder können Regelungen zur im Aufund Abschwung symmetrischen Berücksichtigung der Auswirkungen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung sowie eine Ausnahmeregelung für Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, vorsehen. Für die Ausnahmeregelung ist eine entsprechende Tilgungsregelung vorzusehen“ (Art. 109 III 2 und 3 GG). Die Vorschrift enthält weitere Details zu der Frage, wann die Schuldenbremse gewahrt ist. Dabei handelt sich um ein grundsätzliches Verbot der Neuverschuldung.31 Hierdurch soll die Schuldenlast nicht weiter steigen und auch zukünftigen Parlamenten ein finanzieller Handlungsspielraum verbleiben.32 Der konjunkturelle Zyklus mit seinen Auswirkungen auf das Steueraufkommen wird vorausgesehen, und es werden Regelungen formuliert, die ein nachhaltiges Schuldenmanagement sicherstellen sollen, unabhängig von kurzfristigen konjunkturellen Einflüssen oder sonstigen außergewöhnlichen Ereignissen. Mit diesen rechnet aber die Vorschrift. Weiterhin sind Vertretungsregeln (z.B. Art. 57 und 69 I GG) ein klares Indiz für den vorausschauenden Charakter des Grundgesetzes, denn es geht davon aus, dass früher oder später z.B. der Bundespräsident oder der Bundes28 Depenheuer, Funktionen der Verfassung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 16 Rn. 12; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, Rn. 24–31; Lang, Funktionen der Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 266 Rn. 16. 29 Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform (Erster Teil), in: Friedrich (Hrsg.), Verfassung, 1978, S. 355 (366 f.); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, Rn. 25; Lang, Funktionen der Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 266 Rn. 17, 27, 45. Vgl. auch Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 95 f. Siehe zu den Nachteilen hiervon Manow, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, 2020, S. 54 f. 30 Hierzu Heintzen, Das neue deutsche Staatsschuldenrecht in der Bewährungsprobe, 2012, S. 12–33; Seiler, Konsolidierung der Staatsfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, JZ 2009, 721 ff. 31 E. Reimer, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 109 Rn. 48, 54 (Stand: 15.5.2023). 32 Vgl. Seiler, Konsolidierung der Staatsfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, JZ 2009, 721 (722).
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C. Antizipation im Grundgesetz
kanzler verhindert sein werden und deshalb eine Stellvertretungsregelung zur kontinuierlichen Aufgabenerfüllung geboten ist. Um Unklarheiten und Unsicherheiten im Verhinderungsfall zu vermeiden, wird deshalb von Beginn an eine Vertretungsregelung in der Verfassung getroffen. Damit liegt eine Vorbereitung auf eine Krise vor, aber nicht mit dem Ziel ihrer Verhinderung, sondern um besser mit ihr umgehen zu können. In der vorliegenden Arbeit ist die zu antizipierende Krise allerdings die demokratische Dekonsolidierung.
I. Prävention – Antizipation – Reaktion Diese Arbeit befasst sich mit „Antizipation“. Dabei sind in den vorangegangenen Abschnitten auch die Begriffe „Prävention“ und „Reaktion“ in Erscheinung getreten, weshalb es einer Begriffsklärung und einer Abgrenzung dieser drei Begriffe bedarf. Am ehrgeizigsten ist die Prävention.33 Ihr Ziel ist es, das Auftreten von Krisen zu verhindern, die Notlage soll also aufgrund vorbeugenden Handelns erst gar nicht entstehen. In der Medizin und im Medizinrecht wird Prävention auch als Verhütung von Krankheiten bezeichnet (vgl. § 3 IfSG). Der Antizipation geht es nicht um die Verhinderung der Krise (z.B. weil dies gar nicht möglich ist), sondern um die rechtzeitige Vorbereitung auf eine bestimmte Situation. Insbesondere für den Krisenfall werden spezifische Instrumente bereitgehalten, um die Ursachen oder Folgen des Kriseneintritts zu beseitigen oder abzumildern. Die bereits erwähnten Lebensmittelreserven sind hierfür ein Beispiel. Reaktion schließlich setzt den Eintritt des zu verhütenden Ereignisses (im Falle der Prävention) bzw. des Ereignisses, auf das man sich vorbereitet hat (Antizipation), voraus. Die nun eingetretene Krise muss durch Maßnahmen gelöst werden. Dabei ist die Abgrenzung der drei Begriffe nicht immer trennscharf.34 Es handelt sich somit in gewisser Weise um Idealtypen, während in der Realität Überschneidungen vorkommen. So mögen die Regelungen der wehrhaften Demokratie35 antizipativ sein, ihre Anwendung im konkreten Fall hingegen reaktiv. Dies zeigt auch ein Vergleich mit der Medizin: Die erhoffte Präventionswirkung z.B. einer Impfung kann ganz oder teilweise ausbleiben. 33 Eine ausführliche begriffliche Herleitung findet sich bei Danne, Prävention und Repression im Sicherheitsrecht, 2022, S. 46–57. Er beleuchtet jedoch die Dichotomie von Prävention und Repression auf der einfachgesetzlichen Ebene, womit er einen anderen Ansatz verfolgt. 34 Barczak, Der nervöse Staat, 2. Aufl. 2021, S. 2 bringt dies auf den Punkt, wenn er schreibt: „Die antizipierende Imagination von Katastrophen kann gewiss dabei helfen, diese im Vorfeld zu verhindern.“ 35 Hierzu unter C. IV. 1.
I. Prävention – Antizipation – Reaktion
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Tritt dann die zu verhütende Krankheit doch auf, muss der behandelnde Arzt reagieren und die Krankheit therapieren. Vorstellbar ist es auch, dass das Versagen eines Wirkstoffs von vornherein in Betracht gezogen und deshalb – antizipativ – ein Gegenmittel parat gehalten wird, welches im Fall der Fälle – reaktiv – rasch eingesetzt werden kann. Wie in der Medizin stehen auch im Verfassungsrecht die drei Begriffe nicht isoliert nebeneinander. Art. 26 GG verbietet den Angriffskrieg36 und versucht damit, einen Krieg zu verhindern (Prävention). Gleichwohl kann ein bewaffneter Angriff von außen erfolgen, weshalb nach Art. 87a I 1 GG zur Verteidigung Streitkräfte vorgehalten werden37 und die Art. 115a ff. GG weitere Spezialregelungen enthalten (Antizipation). Außerdem müssen Maßnahmen zur Beendigung der Krise – reaktiv – ergriffen werden. Insbesondere der Begriff „Prävention“ bzw. „präventiv“ wird im juristischen Sprachgebrauch nicht stets in dem hier vorgeschlagenen Sinne verwendet. So wird „präventiv“ auch als Gegenteil von „repressiv“ verwendet, z.B. bei der Rechtswegabgrenzung im Polizeirecht (§§ 23 ff. EGGVG38). Ist die Gefahr schon eingetreten und soll die Verursachung sanktioniert werden, liegt repressive Strafverfolgung mit der Rechtswegzuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit vor; geht es um die Verhinderung oder Beseitigung der Gefahrensituation, ist präventive Polizeiarbeit mit der Rechtswegzuständigkeit der Verwaltungsgerichte gegeben. Im Zusammenhang mit dem Schutz der Verfassung ist auch von präventivem Verfassungs- oder Demokratieschutz die Rede.39 Allerdings wird die Präventionswirkung lediglich in dem bloßen Vorhandensein der Instrumente oder ihrem Einsatz vor dem Kollaps der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erblickt. Dies kann man begrifflich als „Prävention“ oder „präventiv“ bezeichnen, wie auch im Strafrecht die Strafzwecktheorien40 mit präventiven Wirkungen von Strafvorschriften argumentieren. Jedoch muss zwischen Mittel und Zweck unterschieden werden. Der Zweck, rechtzeitiger Schutz der Demokratie, wird präventiv verfolgt, bevor die Demokratie Schaden nimmt. Aber der Einsatz der Mittel (Partei- oder 36 Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, D Rn. 118, 124; Herdegen, in: Dürig/Herzog/ Scholz, GG, Losebl. (Stand: September 2017), Art. 26 Rn. 21–37. 37 Hierzu Müller-Franken, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 87a Rn. 21–23. 38 Hierzu W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 12. Aufl. 2023, Rn. 472, siehe ferner Rn. 473–480; Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 94 Rn. 6–8. 39 BVerfGE 80, 244 (253); 144, 20 (199); 149, 160 (194, 199); BVerfG(K), NVwZ 2020, 224 (225); Brüning, Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit in der „streitbaren Demokratie“, Der Staat 41 (2002), 213 (224); Ordnung, Zur Praxis und Theorie des präventiven Demokratieschutzes, Bd. 1 und 2, 1985; Scherb, Präventiver Demokratieschutz als Problem der Verfassungsgebung nach 1945, 1987. 40 Vgl. BGH, wistra 2002, 260 (261); Lackner/Kühl/Heger, StGB, 30. Aufl. 2023, § 46 Rn. 1–5.
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C. Antizipation im Grundgesetz
Vereinsverbot, Grundrechtsverwirkung) ist nicht präventiv, sondern repressiv, so wie auch Strafvorschriften als nachträgliche Sanktion repressiv wirken, denn sie knüpfen an ein vorheriges Verhalten an und belegen es mit einer nachteiligen Rechtsfolge. Allerdings ist der Erfolg der „Prävention“ nicht sicher, was eher dem hier entfalteten Verständnis von Antizipation entspricht. Vorrangig ist der Begriff „Antizipation“ zu klären. Das Adjektiv „antizipativ“ bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch so viel wie „etwas (eine Entwicklung o.Ä.) vorwegnehmend“41. Ein zeitlich später kommendes Ereignis wird bereits zuvor in Betracht gezogen, indem Vorkehrungen getroffen werden, Dinge bereitgehalten, geändert oder angepasst werden. Das stellt ein sinnvolles, vorahnendes Mitdenken dar. Diese Antizipation kann spekulativ sein, also wenn nicht sicher ist, dass die Entwicklung eintreten wird. Ein Beispiel aus dem Bereich des Sports bietet der Sprung des Torwarts in eine der beiden Ecken, bevor sie genau weiß, wohin der Ball fliegt. Aber auch wenn ein bestimmtes Ereignis sicher eintreten wird, kann man von Antizipation sprechen, insbesondere wenn unklar ist, zu welchem Zeitpunkt ein bestimmtes Ereignis eintreten wird. In gewisser Weise ist nahezu alles Recht antizipativ, da es auch – für die Dauer seiner Geltung – zukünftige Fälle regeln will und als Steuerungsinstrument zur Beeinflussung menschlichen Verhaltens dient.42 Dieser Zukunftsbezug des Rechts ist nicht das, was hier mit Antizipation gemeint ist. Denn dann würden allein vergangenheitsbezogene43 Normen wie etwa Amnestiegesetze44 aus der Untersuchung ausgeschlossen.45 Der Untersuchungsgegenstand wäre zu weit. Hier geht es spezifisch um die Antizipation der demokratischen Dekonsolidierung. Deshalb werden für diese Untersuchung nicht alle Verfassungsbestimmungen gleich bedeutsam sein. Verfassungsbestimmungen, die keinen oder allenfalls einen mittelbaren Bezug hierzu haben, bleiben deshalb außer Betracht. Hierzu gehören etwa die Vorschriften zum Verteidigungs- und Spannungsfall.46 Man wird somit den Antizipationsgedanken möglicherweise auf andere Bereiche ausdehnen können. In dieser Arbeit soll er jedoch allein im Hinblick auf die Antizipation der demokratischen Dekonsolidierung untersucht werden. 41
„Antizipation“, in: Duden, Bd. 5 – Das Fremdwörterbuch, 12. Aufl. 2020. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 19; Weber-Grellet, Zwischen Humboldt und Bologna – Zukunft der Juristenausbildung, ZRP 2016, 170 (170). Siehe auch Sodan, Staat und Verfassungsgerichtsbarkeit, 2010, S. 83. 43 BVerfGE 10, 234 (241): „jeweils auf vergangene Sachverhalte bezogen“. 44 Süß, Studien zur Amnestiegesetzgebung, 2001. 45 Wobei man auch hier streiten kann, ob solche Gesetze wegen des Versöhnungsgedankens nicht doch auch einen Zukunftsbezug haben, siehe Süß, Studien zur Amnestiegesetzgebung, 2001, S. 210–237. Im Hinblick auf Südafrika Smith, Ein normatives Niemandsland? Zwischen Gerechtigkeit und Versöhnungspolitik in jungen Demokratien, in: Smith/Margalit (Hrsg.), Amnestie, 1997, S. 11 (11–20). 46 Siehe hierzu knapp C. IV. 2. a). 42
II. Antizipation in der deutschen Rechtsordnung und Rechtswissenschaft
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Hierbei ist es von besonderem Interesse, ob die Vorschriften des Grundgesetzes auch und gerade Elemente enthalten, die Schutz vor Kumulationen bieten, denn der demokratische Staat ist nicht nur durch singuläre Ereignisse (Staatsstreich) gefährdet, sondern auch und vielleicht sogar vor allem durch die Kumulation von Veränderungen, durch einen schleichenden Prozess der Aushöhlung.47 Neben einzelnen Vorschriften, denen sich – möglicherweise – ein antizipativer Charakter entnehmen lässt, existieren auch übergreifende Konzepte oder Prinzipien, die sich mit Krisenvorsorge befassen. Hier sei ebenfalls auf die Begriffe „wehrhafte Demokratie“48, „Notstandsverfassung“49 oder „Prinzip der Nachhaltigkeit“50 hingewiesen. Diese Konzepte werden mit den vorliegend erarbeiteten Befunden abgeglichen. Da diese Konzepte aus dem Grundgesetz entwickelbar sein müssen,51 kann auf sie erst im zweiten Schritt eingegangen werden, nach der vorrangigen Befassung mit den Einzelbestimmungen des Grundgesetzes. Im Folgenden werden deshalb nach einer juristischen Begriffsbestimmung (II.), die Vorschriften des Grundgesetzes untersucht, welche einen Beitrag zur Antizipation leisten können (III.), bevor im letzten Schritt das Konzept der antizipativen Verfassung mit verwandten Konzepten verglichen wird (IV.).
II. Der Begriff der Antizipation in der deutschen Rechtsordnung und Rechtswissenschaft Da bei der Wortlautauslegung das juristische dem allgemeinsprachlichen Begriffsverständnis vorzuziehen ist, sofern Unterschiede bestehen, wird im Folgenden dem juristischen Verständnis von „Antizipation“ nachgegangen.
1. Keine ausdrückliche Verwendung im Grundgesetz Besonders aussagekräftig wäre es, wenn das Grundgesetz eine Definition von „Antizipation“ enthielte oder die Verfassung den Begriff zumindest verwenden würde. Das ist aber nicht der Fall. Das Adjektiv „antizipativ“ tritt im Grundgesetz ebenso wenig wie das dazugehörige Substantiv „Antizipation“ 47 Vgl. Huq/Ginsburg, How to Lose a Constitutional Democracy, UCLA Law Review 65 (2018), 78 (84). 48 Siehe hierzu unten C. IV. 1.–C. IV. 1. d). 49 Siehe hierzu unten C. IV. 2.–C. IV. 2. d). 50 Siehe hierzu unten C. IV. 6.–C. IV. 6. d). 51 So speziell für die „streitbare Tendenz“ des Grundgesetzes Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten, 1968, S. 79. So auch Bulla, Die Lehre von der streitbaren Demokratie, AöR 98 (1973), 340 (352); Papier/Durner, Streitbare Demokratie, AöR 128 (2003), 340 (365–368).
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oder Verbformen von „antizipieren“ in Erscheinung. Dementsprechend fehlt es auch an einer grundgesetzlichen Definition oder Beschreibung der „antizipativen Verfassung“. Im Grundgesetz finden sich Synonyme zu „antizipativ“ wie „vorbeugend“, „vorsorgend“, „vorwegnehmend“, „vorhersehend“, „vorausschauend“ oder die dazugehörigen Verben und Substantive – wenn überhaupt – nur sehr vereinzelt, so z.B. in Art. 11 II a.E. GG („oder um strafbaren Handlungen vorzubeugen“) oder in Art. 13 II GG („durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet“). Hinter dem Wortlaut der Synonyme allein verbirgt sich jedoch kein übergreifendes Konzept. Die punktuelle Verwendung ähnlicher Begriffe ist ausschließlich dem Umstand geschuldet, dass die Verfassung Sprache und Begriffe verwenden muss.52
2. Sehr seltene Verwendung im deutschen Fachrecht Auch wenn das sog. einfache Recht, ebenfalls Fachrecht genannt, nicht den Inhalt des ranghöheren Verfassungsrechts prägen kann,53 ist es gleichwohl möglich, dass das einfache Recht verfassungsrechtliche Vorgaben expliziter zum Ausdruck bringt als die Verfassung selbst.54 Aus diesem Grund wird das Fachrecht daraufhin untersucht, ob sich in ihm ein allgemeiner verfassungsrechtlicher Gedanke von „Antizipation“ finden lässt. Im Fachrecht treten der Begriff „Antizipation“ bzw. verwandte Formen zwar auf, aber äußerst selten.55 Überdies wird der Begriff nicht stets als 52
Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 142. Vgl. hinsichtlich der Formulierung von Gesetzgebungskompetenzen und ihren materialen Gehalten Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, AöR 114 (1989), 422 (431–450); Erichsen, Besonderes Gewaltverhältnis und Sonderverordnung, in: FS Wolff, 1973, S. 219 (239 f.); Waechter, Forschungsfreiheit und Forschungsvertrauen, Der Staat 30 (1991), 19 (25–30). 53 Siehe zur Normenhierarchie bzw. dem Stufenbau der Rechtsordnung bereits oben, B. I. 2. b). 54 So ist nach der Rechtsprechung des BVerfG die Definition von „Partei“ in § 2 PartG eine verfassungsgemäße Kodifizierung des Parteibegriffs aus Art. 21 GG, BVerfGE 47, 198 (222) m. w. N. und der Begriff des Vereins in § 2 I VereinG steht im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben, BVerfG(K), NVwZ 2020, 224 (224). Ein vergleichbares Vorgehen lässt sich z. B. in Art. 2 I BayVersG, § 2 NdsVersG, § 1 III 1 SächsVersG beobachten, wo jeweils der verfassungsrechtliche Versammlungsbegriff einfachgesetzlich definiert wird. 55 In der Datenbank „Beck online“ wurden am 8.1.2020 (in Klammern die Zahlen vom 27.1.2023) bei dem Suchbegriff „Antizipation“ unter dem Filter „Normen“ 73 (95) Rechtsvorschriften, 30 (39) Verwaltungsvorschriften und 23 (14) Verträge/sonstige Rechtsquellen als geltendes Recht angezeigt, wobei zahlreiche der vermeintlichen Treffer anstelle des Begriffs „Antizipation“ das Wort „Vorwegnahme“ enthielten. In der Datenbank „juris“ wurden an denselben Tagen unter „Vorschriften“ 697 (1208) Treffer als geltendes Recht angezeigt. Hiervon waren 673 (1170) Treffer der Kategorie „Gesetze/Verordnungen“ zuzuord-
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Rechtsbegriff verwendet. Dies lässt sich z.B. für die – praktisch möglicherweise bedeutsame, rechtsdogmatisch aber wohl doch vernachlässigbare und als Referenzgebiet untaugliche – Anlage 5A zu § 8 Zweite DurchführungsVO zur LuftfahrtpersonalVO56 festhalten. Dort wird geregelt, dass der „Lehrplan für die Theoretische Ausbildung zum Erwerb der Lizenz für Segelflugzeugführer“ u.a. „Grundlagen der Psychologie“ umfasst einschließlich der „Antizipation (gedankliche Vorwegnahme von Handlungsabläufen)“ als Unterpunkt von kognitiver Wahrnehmung.57 Hieraus wird man keine Kodifizierung verfassungsrechtlicher Vorgaben ableiten können, denn es wird auf einen psychologischen und damit nicht juristischen Antizipationsbegriff verwiesen. Überdies handelt es sich um eine technische Spezialmaterie, die keine Rückschlüsse auf die Verfassungslage zulässt. Insgesamt geben diese Vorschriften für die hier verfolgte Forschungsfrage trotz der Verwendung des Worts „Antizipation“ oder eines Synonyms wenig her. Sie bestätigen aber immerhin das allgemeinsprachliche Begriffsverständnis. Neben den soeben erwähnten verkehrsrechtlichen Bestimmungen im weiteren Sinne findet sich der Begriff „Antizipation“ bzw. „Vorwegnahme“ im bundesrechtlichen Baurecht, nämlich in § 76 BauGB („Vorwegnahme der Entscheidung“ beim Umlegungsplan58) und § 144 IV Nr. 2 BauGB (kein Genehmigungserfordernis für Rechtsvorgänge in förmlich festgelegten Sanierungsgebieten zum Zwecke der „Vorwegnahme der gesetzlichen Erbfolge“59). Die Umlegung stellt ein in §§ 45 ff. BauGB geregeltes Bodenordnungsverfahren vergleichbar mit der Flurbereinigung dar. Bei der Vorwegnahme der Entscheidung beim baurechtlichen Umlegungsplan i.S.d. § 76 BauGB wird eine Entscheidung über bestimmte Detailfragen zu einem Zeitpunkt getroffen, in dem noch nicht absehbar ist, wie der Umlegungsplan am Ende in allen Einzelheiten aussehen wird.60 Dieses Verfahren dient der Vereinfachung und Beschleuni-
56 nen, von denen wiederum 669 (1156) Treffer dem Europarecht zugehörig waren. Allerdings befanden sich unter den Dokumenten trotz der Sucheinstellungen zahlreiche Stellungnahmen oder Berichte, die man nicht als einem Gesetz vergleichbaren Rechtstext ansehen kann. 56 Zweite Durchführungsverordnung zur Verordnung über Luftfahrtpersonal (2. DV LuftPersV) v. 24.1.2006 (BAnz. Nr. 60a), zuletzt geändert durch Art. 570 der zehnten Zuständigkeitsanpassungsverordnung v. 31.8.2015, BGBl. I, 1474. 57 Ähnliche Anforderungen finden sich in Ziff. 1.1.1.5 Anlage 1 zu § 2 I Fahrlehrer-Ausbildungsverordnung v. 2.1.2018, BGBl. I, 2, 15, zuletzt geändert durch Art. 4 der fünfzehnten Verordnung zur Änderung der Fahrerlaubnis-Verordnung und anderer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften v. 18.3.2022 (BGBl. I, 498): „Antizipation gefährlicher Entwicklungsmöglichkeiten von Verkehrssituationen (v.a. Gefahrenhinweise; mögliche gefährliche Situationsverläufe)“. 58 Siehe hierzu Jarass/Kment, BauGB, 3. Aufl. 2022, § 76. 59 Siehe hierzu Mitschang, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 15. Aufl. 2022, § 144 Rn. 22. 60 Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 15. Aufl. 2022, § 76 Rn. 1.
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gung, wenn ein gewisses Grundergebnis ohnehin feststeht.61 Dann kann die „Vorwegnahme“ erfolgen. Sie setzt aber nach dem Wortlaut des § 76 BauGB das Einverständnis der betroffenen Rechtsinhaber voraus. Zwar ist es in der baurechtlichen Literatur und der Rechtsprechung streitig, ob sich das Einverständnis auf den Inhalt der Vorwegnahme oder darauf bezieht, dass überhaupt eine Vorabregelung getroffen werden soll.62 Aber hierauf kommt es vorliegend nicht an. Ableiten darf man aus der Vorschrift v.a., dass keine vollendeten Tatsachen ohne ein Einverständnis der Betroffenen geschaffen werden dürfen und dass eine gewisse Mindestvorhersehbarkeit gegeben sein muss. Auch das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache im Verwaltungsprozessrecht geht, wenn auch nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt, davon aus, dass im nur vorläufigen Verfahren keine endgültigen Regelungen getroffen werden dürfen.63 Mit der Vorwegnahme der gesetzlichen Erbfolge, wie es in § 144 IV Nr. 2 BauGB heißt, wird auf ein zivilrechtlich nicht ausdrücklich geregeltes, aber vorausgesetztes Rechtsinstitut verwiesen.64 Zivilrechtlich gibt es keine Beschränkung auf die Vorwegnahme der „gesetzlichen“ Erbfolge, vielmehr kann allgemein die Erbfolge vorweggenommen werden. Hierunter „versteht man die Übertragung des Vermögens oder eines wesentlichen Teiles davon durch den künftigen Erblasser auf einen oder mehrere als Erben in Aussicht genommene Empfänger“, eine Gestaltung, die zumeist steuerrechtliche Hintergründe hat.65 Dabei handelt es sich um rechtsgeschäftliche Konstruktionen, die vom Willen des Betroffenen abhängig sind. Zwar steht das Verfassungsrecht nicht zur Disposition der Verfassungsorgane,66 aber das sinnvolle Vorgehen, komplexe Angelegenheiten zur rechten Zeit zu regeln, wird durch den Blick auf die Vorwegnahme der Erbfolge bestätigt. Den spärlichen und disparaten gesetzlichen Vorgaben wird man wohl allenfalls entnehmen können, dass ein zukünftig eintretendes Ereignis bereits früher berücksichtigt und einer Regelung zugeführt wird. Hier wird nicht der übliche Lauf der Zeit abgewartet, sondern frühzeitig gehandelt, um praktikable Ergebnisse zu erzielen. Eine endgültige Regelung ist allerdings nur mit der Zustimmung der verfügungsberechtigten Betroffenen möglich.
61 Otte, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, § 76 Rn. 1 (Stand: Februar 2008). 62 Siehe die Nachweise bei Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 15. Aufl. 2022, § 76 Rn. 11. 63 BVerwG, Beschl. v. 27.6.1984 – 1 ER 310.84, BeckRS 1984, 31322498. 64 S. Kappler/K. Kappler, Die vorweggenommene Erbfolge, MittBayNot 2019, 217 (217). 65 Koch, in: MüKo BGB, Bd. IV, 8. Aufl. 2019, § 516 Rn. 85. 66 Siehe BVerfGE 4, 115 (139); 55, 274 (300 f.); 105, 185 (194) zu einem Ausschnitt des Problems, der Aufteilung der Gesetzgebungskompetenz im Bundesstaat zwischen Bund und Ländern.
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3. Seltene Verwendung im Unionsrecht Auch wenn das Unionsrecht nicht unmittelbar Ausdruck von Prinzipien der deutschen Verfassung ist und auch nicht den Inhalt des Grundgesetzes determiniert, muss es für das Verständnis der Verfassung nicht gänzlich unerheblich sein („Anwendungsvorrang des Unionsrechts“67, „Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes“68). Deshalb wird ein zumindest kursorischer Blick auf die Verwendung des Begriffs „Antizipation“ im Unionsrecht geworfen. Eine wörtliche Verwendung von „Antizipation“ findet sich aber weder im EUV noch im AEUV. Dennoch verwendet Art. 191 I AEUV ähnliche Begriffe, wenn es heißt, dass die Umweltpolitik der Union zur Verfolgung der Ziele „Erhaltung und Schutz der Umwelt“ und „umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen“ beiträgt. Noch deutlicher ist Art. 191 II 2 AEUV: „Sie beruht auf den Grundsätzen der Vorsorge und Vorbeugung, auf dem Grundsatz, Umweltbeeinträchtigungen mit Vorrang an ihrem Ursprung zu bekämpfen, sowie auf dem Verursacherprinzip.“ – (Hervorhebung nicht im Original)
Das Primärrecht ist funktional mit der Verfassung des Nationalstaats vergleichbar. Die Verwendung von „Vorsorge“ und „Vorbeugung“ im AEUV als mit der Antizipation verwandte Begriffe belegt, dass diese auf „Verfassungsebene“ tauglich eingesetzt werden können. Überdies unterstreicht die Verwendung der Begriffe „Vorsorge“ und „Vorbeugung“ die Notwendigkeit rechtzeitigen Handelns. Im Sekundärrecht der Europäischen Union wird man bei der Suche nach Rechtsakten fündig, welche Begriffe wie „antizipativ“ explizit enthalten. Allerdings handelt es sich nur um wenige Fälle und in zumeist recht technisch anmutenden Zusammenhängen. In den Erwägungsgründen 10 und 13 der Konsultationsrichtlinie69 heißt es beispielsweise: „Die Gemeinschaft hat eine Beschäftigungsstrategie entwickelt, die sie nun umsetzt und in deren Mittelpunkt die Begriffe ‚Antizipation‘, ‚Prävention‘ und ‚Beschäftigungsfähigkeit‘ stehen, wobei diese zentralen Konzepte in sämtliche staatlichen Maßnahmen integriert werden sollen, mit denen positive Beschäftigungseffekte erzielt werden können, einschließlich der Maßnahmen einzelner Unternehmen; dies soll durch einen Ausbau des sozialen Dialogs geschehen, damit bei der Förderung des Wandels das übergeordnete Ziel der Beschäftigungssicherung im Auge behalten wird.
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Siehe hierzu oben B. I. 1. sowie unten C. III. 1. b) bb) und E. II. 2. b) cc) (2). Hierzu BVerfGE 123, 267 (LS 2, 346 f., 354, 401); 143, 246 (LS 2, 317); Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen, 2017, § 1 Rn. 76 f. 69 Richtlinie 2002/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.3.2002 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft, Abl. L 80, S. 29 – Hervorhebung nicht im Original. 68
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Der auf Gemeinschaftsebene und auf nationaler Ebene bestehende Rechtsrahmen für Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer ist häufig allzu sehr darauf ausgerichtet, Wandlungsprozesse im Nachhinein zu verarbeiten, vernachlässigt dabei die wirtschaftlichen Implikationen von Entscheidungen und stellt nicht wirklich auf eine ‚Antizipation‘ der Beschäftigungsentwicklung im Unternehmen oder auf eine ,Prävention‘ von Risiken ab.“
Aus dem Kontext wird deutlich, dass nicht reagiert, sondern vorausschauend im Sinne einer positiven, selbst gewählten Gestaltung gehandelt werden soll. Dies entspricht der Verwendung des Begriffs „Antizipation“ im allgemeinen Sprachgebrauch. In ähnlicher Weise lassen sich auch weitere unionsrechtliche Texte verstehen, die sich als Appelle an eine vorausschauende Handlungsweise begreifen lassen. Häufig findet sich die Erwähnung der „Antizipation“ in den Erwägungsgründen, nicht aber in den weiteren Teilen der Texte. Ebenso wie im nationalen Recht liegt auch dem Unionsrecht kein geschlossenes Antizipationskonzept zugrunde, das sich allein aus der Analyse des Wortlauts ableiten ließe. Vielmehr wird der allgemeine Sprachgebrauch zugrunde gelegt, aber auch die Sinnhaftigkeit eines vorausschauenden Vorgehens betont und rechtlich vorgeschrieben.
4. Gelegentliche Verwendung im juristischen Sprachgebrauch Die explizite Verwendung des Begriffs „Antizipation“ ist in der juristischen Fachsprache üblicher als in Rechtstexten. Sofern er genutzt wird, dient er der Beschreibung eines Konzepts und erscheint für die vorliegenden Zwecke geeigneter als die bloß vereinzelte und wenig systematische Verwendung in verstreuten Rechtstexten. Der Begriff „Antizipation“ findet sich in ganz unterschiedlichen Rechtsgebieten und -kontexten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei auf einige der geläufigeren Verwendungen in den drei Rechtsgebieten Straf- und Strafprozessrecht (a]), Zivilrecht (b]) sowie Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht (c]) exemplarisch eingegangen. a) Straf- und Strafprozessrecht Im Straf- und Strafprozessrecht wird der Begriff „Antizipation“ in zwei vergleichsweise bedeutsamen Kontexten verwendet. Im materiellen Strafrecht ist es die Figur der „Notwehrantizipation“ (dazu nachfolgend unter aa]), im Strafprozessrecht – wie auch in den anderen Prozessordnungen – das „Verbot der Beweisantizipation“ (bb]). Insbesondere die Erkenntnisse aus der Analyse des Notwehrrechts erscheinen zielführend, da es bei der Verhinderung der demokratischen Dekonsolidierung um den Schutz u.a. der freiheitlichen demokratischen Grundordnung geht. Auch bei der Notwehr steht die Bewährung
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der Rechtsordnung – wenn auch in kleinerem Maßstab – auf dem Spiel: Die Notwehrleistende verteidigt – nach der wenn auch nicht unumstrittenen Rechtsprechung – das angegriffene Individualrechtsgut und auch die gesamte Rechtsordnung.70 aa) Notwehrantizipation Im Strafrecht ist die „antizipierte“ Notwehr anerkannt. § 32 II StGB definiert Notwehr als „die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden“. Die Konstellation, dass eine Notwehrvorrichtung bereits geschaffen wird, bevor der Angriff „gegenwärtig“ ist, wird als antizipierte Notwehr bezeichnet.71 Ein martialisches, aber häufiges Beispiel sind Selbstschussanlagen.72 Außerdem lässt sich auf Fußangeln oder stromführende Drähte verweisen.73 Zu einem Zeitpunkt, zu dem noch kein rechtswidriger Angriff auf ein geschütztes Rechtsgut vorliegt oder droht, wird eine Abwehrmöglichkeit für den Fall geschaffen, dass in der Zukunft ein solcher notwehrfähiger Angriff erfolgen wird. Dieser Angriff wird „antizipiert“ und soll dadurch abgewehrt werden können. An der Gegenwärtigkeit fehlt es nicht bei automatisierter Gegenwehr,74 sofern die Verletzungshandlung erst zum Zeitpunkt des späteren Angriffs erfolgt. Die rechtliche Problematik liegt also weniger darin, ob eine Reaktion auf einen gegenwärtigen Angriff erfolgt (ob überhaupt eine Notwehrlage vorliegt), sondern ob die Notwehrhandlung erforderlich ist.75 Bei den antizipierenden Einrichtungen handelt es sich typischerweise um technische Vorkehrungen, die zum Zeitpunkt des Angriffs automatisch ablaufen und nicht mehr beherrscht und an die Gegebenheiten der nun konkret eintreten-
70 BGHSt 24, 356 (359); Perron/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 32 Rn. 1 f.; Roxin, Die „sozialethischen Einschränkungen“ des Notwehrrechts, ZStW 93 (1981), 68 (70 f.); kritisch Rönnau/Hohn, Leipziger Kommentar StGB, Bd. III, 13. Aufl. 2019, § 32 Rn. 66–69. 71 Hierzu Mitsch, Rechtfertigungsgründe, in: Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht Allgemeiner Teil, 13. Aufl. 2021, § 15 Rn. 23 f., 42; Perron/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 32 Rn. 18a; Rönnau/Hohn, LK-StGB, Bd. III, 13. Aufl. 2019, § 32 Rn. 142, 153, 197. 72 Kindhäuser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, Bd. 1, 6. Aufl. 2023, § 32 Rn. 137 f.; Lackner/Kühl/Heger, StGB, 30. Aufl. 2023, § 32 Rn. 8. 73 Freund/Rostalski, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2019, § 3 Rn. 113; Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 5. Aufl. 2020, § 15 Rn. 51. 74 Kindhäuser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, Bd. 1, 6. Aufl. 2023, § 32 Rn. 137; Mitsch, Rechtfertigungsgründe, in: Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht Allgemeiner Teil, 13. Aufl. 2021, § 15 Rn. 23 f.; Müssig, Antizipierte Notwehr, ZStW 115 (2203), 224 (240 f.); Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017, § 7 Rn. 43; Lackner/Kühl/Heger, StGB, 30. Aufl. 2023, § 32 Rn. 4, 8. 75 Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017, § 7 Rn. 43, 81, 111.
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den Situation angepasst werden können.76 Eine nicht erforderliche Verteidigungshandlung führt dazu, dass die Grenzen der Notwehr überschritten sind und keine Rechtfertigung nach § 32 StGB vorliegt.77 Das Beispiel der Notwehrantizipation eignet sich gut zur Illustration des Gedankens der antizipativen Verfassung. Die Gefahr der Rechtsgutsverletzung wird gesehen (zukünftige Notwehrlage) und ein Abwehrmechanismus wird geschaffen, bevor der Angriff beginnt, dessen Eintritt überdies keineswegs sicher ist. Im Falle eines abgelegenen Hauses, in welchem eine Selbstschussanlage installiert ist, wäre zum Zeitpunkt des Einbruchs keine andere Sicherung mehr möglich. Hieraus kann man für den Antizipationsbegriff schlussfolgern, dass die Krise durch Antizipation nicht verhindert werden muss, um von Antizipation sprechen zu können, denn auch der Angriff auf ein alleinstehendes Haus wird durch die antizipierte Notwehr nicht verhindert, sondern es werden die Voraussetzungen für seine Abwehr geschaffen. Somit genügt es für den Antizipationsbegriff (wie bei der Abgrenzung der Begriffe „Prävention“, „Antizipation“ und „Reaktion“ erläutert), wenn sich auf eine künftig eintretende Gegebenheit eingestellt wird. Allerdings zeigt das Beispiel auch die Risiken der Antizipation. Sollte die Abwehrhandlung nicht erforderlich sein, trägt der Einrichter der Abwehranlage die Verantwortung. Sein Verhalten ist nicht nach § 32 StGB gerechtfertigt. Dies mag als eine Mahnung für den Umgang mit der antizipativen Verfassung gelten. Unter dem Vorwand der Verhinderung der demokratischen Dekonsolidierung darf nicht weiter gegangen werden, als es die Verfassung zulässt. Die Effektivität des Schutzes der Verfassung darf nicht gegen die zu schützenden Werte gerichtet werden, z.B. der friedliche Machtwechsel als Ausdruck der demokratischen Herrschaft auf Zeit. Dies gilt ausnahmslos für alle Konstellationen, unabhängig von den jeweils gerade herrschenden politischen Mehrheitsverhältnissen. bb) Verbot der Beweisantizipation Antizipation kann nicht nur geboten oder zumindest sinnvoll sein, gelegentlich ist sie auch unzulässig und verboten. So ist es im Strafverfahrensrecht, wo gem. § 244 StPO das Verbot der Beweisantizipation78 gilt. Das Verbot wird – wenn auch in abgeschwächter Form79 – ebenfalls im Verwaltungsprozess durch analoge Anwendung des § 244 StPO praktiziert. Unter „Verbot der Be76
Kritik deshalb bei Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 5. Aufl. 2020, § 15 Rn. 52. 77 Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 5. Aufl. 2020, § 15 Rn. 51. 78 Hierzu Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017, Rn. 198–201; Trüg/Habetha, in: MüKo StPO, Bd. II, 2016, Rn. 241–247. 79 Dawin/Panzer, in: Schoch/Schneider, VwGO, Losebl. (Stand: Februar 2021), § 86 Rn. 68.
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weisantizipation“ versteht man, dass ein Beweisantrag grundsätzlich nicht mit der Begründung abgelehnt werden darf, dass das Gegenteil der behaupteten Tatsache bereits erwiesen oder die Beweisbehauptung durch die bisherige Beweisaufnahme widerlegt sei.80 Anderenfalls würde man einen noch nicht vorhandenen Beweis bewerten, auch im Verhältnis zu anderen Beweismitteln, obwohl es hierfür noch keine Grundlage gibt. Ein früher „Beweis“ würde sich dann möglicherweise durchsetzen, obwohl er in der Gesamtschau ggf. gar nicht trägt. Dieser Grundsatz darf zwar in einzelnen, in § 244 StPO geregelten Fällen durchbrochen werden, hierzu besteht aber keine Verpflichtung und dies ändert nichts an dem Grundsatz.81 Hieraus kann man den Schluss ziehen, dass Antizipation eine offene Situation nicht als verbindlich gesichert hinstellen darf. Antizipation soll das Handeln in der Zukunft erleichtern und effektiver machen, sie kann aber die Zukunft nicht selbst bewerten. Die zukünftige Reaktion soll nur eröffnet bleiben. b) Zivilrecht Auch in der zivilrechtlichen Dogmatik ist der Begriff der Antizipation in verschiedenen Konstellationen zu finden. So ist beispielsweise von „antizipierter Aufrechnung“82 im Vertragsrecht sowie von „antizipiertem Besitzkonstitut“83 und „antizipierter Sicherungsübereignung“84 im Sachenrecht die Rede. Dies beruht im Wesentlichen auf der Möglichkeit, Rechtsgeschäfte unter Bedingungen (§ 158 BGB) und Befristungen (§ 163 BGB) abzuschließen, was die Berücksichtigung gewisser und ungewisser zukünftiger Ereignisse gestattet. Im Privatrecht gilt jedoch der Grundsatz der Privatautonomie85 und die handelnden Subjekte können grundsätzlich frei über ihre Rechtsgüter verfügen. Dies wird bei der etwaigen Übertragung zivilrechtlicher Erkenntnisse zu berück80 BGH, StV 1993, 621; StV 2001, 95; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017, Rn. 198 m.w.N. 81 Vgl. Trüg/Habetha, in: MüKo StPO, Bd. II, 2016, § 244 Rn. 205 sowie Krehl, in: Karlsruher Kommentar StPO, 9. Aufl. 2023, § 244 Rn. 135–137. 82 Fries/Schulze, in: Schulze (Hrsg.), BGB, 11. Aufl. 2022, § 388 Rn. 4. 83 Oechsler, in: MüKo BGB, Bd. VIII, 9. Aufl. 2023, § 930 Rn. 24–27. Baur/Stürner, Sachenrecht, 18. Aufl. 2009, § 7 Rn. 38, 52 sprechen allerdings von antezipiertem Besitzkonstitut; bei Prütting, Sachenrecht, 37. Aufl. 2020, Rn. 387 ist von antizipiertem Besitzkonstitut die Rede, im Inhaltsverzeichnis auf S. 428 von antezipiertem Besitzkonstitut. 84 Berger, in: Jauernig, BGB, 18. Aufl. 2021, § 930 Rn. 47; Kainer, Sachenrecht, 2. Aufl. 2023, § 18 Rn. 22–24. Prütting, Sachenrecht, 37. Aufl. 2020, Rn. 417 spricht von antizipierter Sicherungsübereignung, im Inhaltsverzeichnis auf S. 432 von antezipierter Sicherungsübereignung. 85 Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, 4. Aufl. 1992, S. 1–5; Baldus, Das BGB – eine deutsche Zivilrechtskodifikation in Europa, in: Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts, 8. Aufl. 2022, A. Rn. 12, 59, 92; Schiemann, Das Rechtsgeschäft, in: Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts, 8. Aufl. 2022, D. Rn. 1; Wendland, Allgemeine Geschäftsbedingungen, in: Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts, 8. Aufl. 2022, E. Rn. 1–1b.
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sichtigen sein. Die Verfassungsordnung steht, selbst bei „Willensübereinstimmung“ der handelnden Akteure, gerade nicht zu ihrer Disposition.86 Deshalb kann auch in einem Zustimmungsgesetz zu einem völkerrechtlichen Vertrag grundsätzlich keine Zustimmung zu dessen Änderungen „antizipiert“ werden.87 Weiterhin geht es bei der „antizipierten Einigung“, „antizipierten Aufrechnung“ oder dem „antizipierten Besitzkonstitut“ nicht zwingend um die Bewältigung von Krisensituationen wie etwa bei der Notwehrlage oder der demokratischen Dekonsolidierung. Im Sachenrecht ist die Wirksamkeit des dinglichen Rechtsgeschäfts, der Verfügung, „getrennt“ und „abstrakt“ von der Wirksamkeit des schuldrechtlichen Kausalgeschäfts zu beurteilen (Trennungs- und Abstraktionsprinzip88). Eine vor Übergabe der zu übereignenden beweglichen89 Sache erzielte Einigung über den Eigentumsübergang (antizipierte Einigung) ist möglich und zulässig. Aber § 929 Satz 1 BGB verlangt, dass sich Erwerber und Veräußerer zum Zeitpunkt der Übergabe noch einig sein müssen.90 Die antizipierte Einigung allein stellt den rechtsgeschäftlichen Teil der Eigentumsübertragung nicht dauerhaft sicher. Hier kann also noch eine Willensänderung – u.U. als Verletzung einer kausalen Übereignungspflicht mit der Folge einer Schadensersatzpflicht – eintreten. Die Antizipation der Einigung bewirkt somit noch nicht mit Sicherheit den Rechtsübergang. Allerdings wird vermutet, dass dieser vertragskonforme Wille weiterhin andauert, sofern keine gegenteiligen Anzeichen vorliegen.91 Die antizipierte Einigung kann sich auch auf erst noch zu erwerbende Sachen beziehen.92 Praxisrelevant ist v.a. die Kombination von antizipierter Einigung und antizipiertem Besitzkonstitut (§ 930 BGB) für die Sicherungsübereignung.93 Hier übereignet der Schuldner eine Sache sicherheitshalber an den Gläubiger, aber die Sache wird nicht übergeben. Sie bleibt im Besitz des Schuldners. Vereinbart wird aber ein sog. Besitzkonstitut gem. § 930 BGB, wonach der Schuldner für den Gläubiger besitzt, sodass die Nutzung der Sache weiterhin möglich bleibt. Antizipiert ist das Vorgehen dann, wenn die Sicherungsübereignung vom Schuldner erst noch zu erwerbende Sa86 Siehe BVerfGE 4, 115 (139); 55, 274 (300 f.); 105, 185 (194) zu einem Ausschnitt des Problems, der Aufteilung der Gesetzgebungskompetenz im Bundesstaat zwischen Bund und Ländern. 87 Vöneky, Verfassungsrecht und völkerrechtliche Verträge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Bd. XI, HStR, 3. Aufl. 2013, § 236 Rn. 21. 88 Siehe hierzu Wilhelm, Sachenrecht, 7. Aufl. 2021, Rn. 24–32. 89 Bei einer unbeweglichen Sache gelten §§ 873, 925 BGB. Hier ist die Einigung, also die Auflassung, nach § 873 II BGB unter gewissen Voraussetzungen bindend. 90 BGH, NJW 1978, 696 (697); NJW 1979, 213 (214); Baur/Stürner, Sachenrecht, 18. Aufl. 2009, § 5 Rn. 36. 91 BGH, NJW 1995, 1085 (1086); Baur/Stürner, Sachenrecht, 18. Aufl. 2009, § 5 Rn. 37. 92 Wilhelm, Sachenrecht, 7. Aufl. 2021, Rn. 860. 93 Oechsler, in: MüKo BGB, Bd. VIII, 9. Aufl. 2023, § 930 Rn. 2, 24.
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chen betrifft, wie z.B. bei revolvierenden Warenlagern.94 Der praktische Vorteil liegt in der Sicherung des Gläubigers bei gleichzeitiger Sachnutzungsmöglichkeit durch den Schuldner, anders als beim Pfandrecht (vgl. § 1205 I 1 BGB).95 Die Sicherung, z.B. bei revolvierenden Warenlagern, besteht darin, dass zufließende Waren in das Eigentum des Sicherungsgebers fallen und zudem – wegen des sachenrechtlichen Prioritätsprinzips – spätere Sicherungsübereignungen ins Leere gehen. Darüber hinaus gestattet die Konstruktion die zeitliche Vorwegnahme der Übereignung einer noch nicht übergabefähigen Sache.96 Allerdings setzt die Eigentumsübertragung mittels eines antizipierten Besitzkonstituts zum einen die Bestimmtheit der zu übereignenden Sache zum Zeitpunkt der Übereignung voraus, zum anderen, dass auch zum Bedingungseintritt noch eine Willensübereinstimmung der Verfügungsberechtigten über den Eigentumsübergang besteht. Somit besteht eine – wenn auch ggf. vertragswidrige – Korrekturmöglichkeit und keine vollumfänglich zwingende Vorwegnahme. Dies entspricht den bisherigen Ergebnissen bei Heranziehung strafrechtlicher und strafprozessrechtlicher Vorgaben. c) Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht Auch im öffentlichen Recht lassen sich Konzepte der Antizipation nachweisen (dazu sogleich unter aa] und bb]). Ein besonders einsichtiges Beispiel hierfür ist, auch wenn nicht ausdrücklich mit dem Begriff „Antizipation“ verknüpft, die Möglichkeit von Nebenbestimmungen zu Verwaltungsakten, insbesondere die Befristung und die Bedingung gem. § 36 II Nr. 1 bzw. 2 VwVfG. Hiermit kann bereits zum Erlasszeitpunkt eine zukünftige Regelung für den Fall des Eintritts eines gewissen oder ungewissen Ereignisses getroffen werden. Plastisch veranschaulichen dies die nach früherem Recht erteilten Einberufungsbescheide,97 deren innere Wirksamkeit98 durch den Eintritt des Bereitschafts- oder Verteidigungsfalls bedingt war.99 Die äußere Wirksamkeit100 trat 94
Hierzu Kainer, Sachenrecht, 2. Aufl. 2023, § 18 Rn. 21–24. Lorenz, Die Sicherungsübereignung, JuS 2011, 493 (493). 96 Oechsler, in: MüKo BGB, Bd. VIII, 9. Aufl. 2023, § 930 Rn. 2, 24. 97 Siehe hierzu Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 20. Aufl. 2020, § 12 Rn. 7. 98 Innere Wirksamkeit verstanden als die verbindliche Geltung des im Verwaltungsakt geregelten Inhalts, vgl. BVerwGE 13, 1 (7); 55, 212 (215 f.); Siegel, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2022, Rn. 437–439, 455. 99 Hierzu BVerwGE 27, 263 (265–267); 35, 252 (253–255); 57, 69 (70); Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 20. Aufl. 2020, § 12 Rn. 7. Allerdings bestanden Bedenken an der Vereinbarkeit dieser Praxis mit dem Wehrpflichtgesetz, vgl. Maurer, Bedingte Einberufung zum Wehrdienst, JZ 1968, 591 ff. m.w.N. 100 Äußere Wirksamkeit verstanden als die rechtliche Existenz, vgl. Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 20. Aufl. 2022, Rn. 546–548; Siegel, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2022, Rn. 437–439, 455. 95
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jedoch bereits mit der Bekanntgabe des Bescheids gem. § 41 I 1 VwVfG ein, was den Lauf der Rechtsbehelfsfristen in Gang setzte. Die Schwierigkeit der Zustellung von Einberufungsbescheiden im Bereitschafts- oder Verteidigungsfall wurde gesehen. Die gewählte rechtliche Konstruktion gewährleistete die Effektivität staatlichen Handelns in der besonderen Ausnahmelage des Bereitschafts- oder Verteidigungsfalls. Die Aufhebungsmöglichkeiten der §§ 48 f. VwVfG gestatten, auf das Eintreten bestimmter Umstände oder das Nichtmehrvorliegen bestimmter Voraussetzungen zu reagieren. Sie bringen damit zum Ausdruck, dass sich das Gesetz der Veränderlichkeit der Sach- und Rechtslagen bewusst ist und Vorkehrungen für den Umgang hiermit trifft. aa) Antizipiertes Sachverständigengutachten Mit der Begründung, dass die Verwaltungsvorschriften der TA Luft „wegen ihres naturwissenschaftlich fundierten fachlichen Aussagegehaltes auch für das kontrollierende Gericht bedeutsam sind“,101 hat das BVerwG – nach Vorarbeiten im Schrifttum102 – eine Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften als „,antizipiertes‘ Sachverständigengutachten“ anerkannt.103 Hieran wurde im Schrifttum Kritik geäußert,104 und die Figur wird als überholt eingestuft.105 Das BVerwG hält an ihr hinsichtlich der TA Luft nicht weiter fest.106 Stattdessen wird die Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften in den Kategorien der ermessenslenkenden, norminterpretierenden, normkonkretisierenden und gesetzesvertretenden Verwaltungsvorschriften diskutiert.107 Unabhängig davon, ob der Begriff „antizipiertes Sachverständigengutachten“ noch eine Daseinsberechtigung hat108 oder nicht, kann ihm nichts wesentlich Neues für die vorliegende Untersuchung abgewonnen werden, denn er be101 BVerwGE 55, 250 (256) unter ausdrücklichem Verweis auf R. Breuer, Die rechtliche Bedeutung der Verwaltungsvorschriften nach § 48 BImSchG im Genehmigungsverfahren, DVBl. 1978, 28 (34 ff.). 102 R. Breuer, Direkte und indirekte Rezeption technischer Regeln durch die Rechtsordnung, AöR 101 (1976), 46 ff.; R. Breuer, Die rechtliche Bedeutung der Verwaltungsvorschriften nach § 48 BImSchG im Genehmigungsverfahren, DVBl. 1978, 28 ff.; K.-W. Schäfer, Das Recht der Regeln der Technik, 1965, S. 121. 103 BVerwGE 55, 250 (256). 104 Rittstieg, Das „antizipierte Sachverständigengutachten“ – eine falsa demonstratio?, NJW 1983, 1098 ff. Siehe auch BVerwGE 77, 285 (290). 105 Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, Losebl. (Stand: Februar 2019), § 114 Rn. 172. 106 BVerwGE 77, 285 (290). In BVerwGE 107, 338 (340–342) wird mit der normkonkretisierenden Wirkung der in Streit stehenden Verwaltungsvorschriften argumentiert. 107 Ehlers, Rechtsquellen und Rechtsnormen der Verwaltung, in: Ehlers/Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl. 2022, § 2 Rn. 56, 59–62; Siegel, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2022, Rn. 867. Siehe auch Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 64 Rn. 4–8. 108 Dafür VGH München, NuR 2014, 736 ff.; OVG Berlin, Urt. v. 25.11.1999 – 5 B 11.98, Rn. 27 f., BeckRS 1999, 17463. Siehe auch BVerwG, Beschl. v. 12.6.2012 – 3 B 88/11, Rn. 7 m.w.N., BeckRS 2012, 53154.
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zieht sich allein auf die zeitliche Komponente, dass das „Sachverständigengutachten“ bereits vor dem Gerichtsverfahren existierte. Dies ist bei den üblichen Sachverständigengutachten nicht der Fall, weshalb es des Attributs „antizipiert“ bedarf. bb) Antizipierte Verwaltungspraxis bei Art. 3 I GG In engem Zusammenhang mit Verwaltungsvorschriften steht auch der Begriff der „antizipierten Verwaltungspraxis“. Hierbei spielen die Außen- und Bindungswirkungen von Verwaltungsvorschriften ebenfalls eine Rolle. Da Verwaltungsvorschriften grundsätzlich keine Außenwirkung haben,109 können sie grundsätzlich auch keine unmittelbar begünstigende Wirkung entfalten. Bedeutung hat dies bei gesetzesfreier Verwaltung oder beim Vollzug von Gesetzen mit Ermessens- oder Beurteilungsspielräumen.110 Der Bürger, der z.B. eine Subvention begehrt, kann sich nicht unmittelbar auf die Verwaltungsvorschriften, wohl aber auf die tatsächliche Verwaltungspraxis berufen. Hierüber kann er in Verbindung mit Art. 3 I GG eine Gleichbehandlung und damit die Anwendung der Verwaltungsvorschriften (mittelbar) einfordern.111 Dies gilt – hier wird der Begriff „Antizipation“ relevant – auch, wenn sich noch keine Verwaltungspraxis bilden konnte. Dann wird „antizipiert“, dass die Behörde sich an ihre eigenen Verwaltungsvorschriften halten und sich eine tatsächliche Verwaltungspraxis entsprechend ihrer Richtlinien herausbilden wird.112 Die Verwaltung muss sich ab Erlass bzw. Geltung der Verwaltungsvorschriften darauf einstellen, dass diese zur Anwendung kommen. Hier wird dann tatsächlich etwas vorweggenommen und als zutreffend unterstellt, obwohl nicht sicher ist, dass die Verwaltung sich tatsächlich an ihre Verwaltungsvorschriften halten wird. Allerdings ist sie hierzu durch Art. 20 III GG und ggf. Art. 1 III GG verpflichtet, was die ausnahmsweise verbindliche Vorwegnahme rechtfertigt. Überdies werden zufällige Ereignisse vermieden, da für den Antragsteller unbekannt ist, ob bereits andere Antragstellungen zu einer Verwaltungspraxis geführt haben, auf die er sich berufen kann.
109
BVerwGE 107, 338 (340); Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 20. Aufl. 2022, Rn. 857–862; Ehlers, Rechtsquellen und Rechtsnormen der Verwaltung, in: Ehlers/Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl. 2022, § 2 Rn. 58; Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 20. Aufl. 2020, § 24 Rn. 3, 22, 26; Siegel, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2022, Rn. 858–862; Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 64 Rn. 4. 110 Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 20. Aufl. 2022, Rn. 546–548; Siegel, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2022, Rn. 870. 111 BVerwGE 31, 212 (213 f.); 57, 174 (182); 75, 86 (93); 145, 326 (326 f.); Siegel, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2022, Rn. 867; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 10. Aufl. 2023, § 40 Rn. 105. 112 Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 64 Rn. 6 f.
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C. Antizipation im Grundgesetz
5. Zwischenergebnis: „Antizipation“ im Sinne dieser Arbeit Antizipation ist eine im Recht geläufige Konstellation. Sowohl aus bundesdeutschen als auch unionsrechtlichen Rechtstexten und dogmatischen Konzepten lässt sich ein rechtliches Verständnis von „Antizipation“ entwickeln, das sich mit dem allgemeinen Sprachgebrauch deckt, ihn aber noch präzisiert. „Antizipation“ kann als die gedankliche Vorwegnahme eines als möglich erscheinenden, zukünftigen Ereignisses, Verhaltens, Risikos oder Szenarios verstanden werden, als ein gedankliches „Sich-darauf-Einstellen“. Der Antizipation liegt die Idee zugrunde, dass bestimmte Geschehensabläufe eintreten werden oder zumindest können, ihnen aber durch frühzeitige Dispositionen besser begegnet werden kann, z.B. durch den rechtzeitigen Erlass von Notfallregelungen. Dies geschieht aus Gründen der Effektivität, wenn die Vornahme der Handlung später weniger Erfolg versprechend wäre. Hierbei muss es nicht sicher sein, dass das spätere Ereignis tatsächlich eintritt. Es handelt sich um ein vorsorgliches Tätigwerden, welches sich später als unnötig herausstellen kann. Nicht gestattet und nicht mehr vom Antizipationsbegriff erfasst ist hingegen, bestimmte zukünftige Ereignisse bereits jetzt als gewiss darzustellen und hieran für die Gegenwart Rechtsfolgen zu knüpfen, sofern das Gesetz dies nicht verlangt oder rechtfertigt (Art. 20 III GG bei der antizipierten Verwaltungspraxis) oder verfügungsbefugte Parteien sich hierüber geeinigt haben, wie typischerweise im Zivilrecht. Grundsätzlich handelt es nicht um eine frühzeitig erfolgte und nicht mehr revidierbare Regelung zukünftigen Verhaltens, sondern um eine Offenhaltung der Zukunftschancen. So ließe sich auch die Abgrenzung zur „Prävention“ vornehmen. In Südafrika tritt der Begriff „Antizipation“ (bzw. die englischen Varianten) an drei Stellen im Verfassungstext in Erscheinung. Art. 157(2) FC113 besagt, dass die in Art. 157(1)(a) vorgesehene Wahl der Mitglieder eines Gemeinderates im Einklang mit der nationalen Gesetzgebung zu erfolgen hat, die bestimmten verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen muss. Art. 167(4)(b) FC114 regelt, dass allein das Verfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit eines Parlaments- oder Provinzgesetzes entscheiden darf, jedoch lediglich unter den in Art. 79 oder Art. 121 FC vorgesehenen Umständen. Schließlich verlangt Art. 215(3)(b) FC,115 dass die Haushalte in den einzelnen Regierungsbe113 Englischer Wortlaut: „The election of members to a Municipal Council as anticipated in subsection (1)(a) must be in accordance with national legislation […]“ – Hervorhebung nicht im Original. 114 Englischer Wortlaut: „Only the Constitutional Court may decide on the constitutionality of any parliamentary or provincial Bill, but may do so only in the circumstances anticipated in section 79 or 121“ – Hervorhebung nicht im Original. 115 Englischer Wortlaut: „Budgets in each sphere of government must contain proposals for financing any anticipated deficit for the period to which they apply“ – Hervorhebung nicht im Original.
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reichen Vorschläge zur Finanzierung eines voraussichtlichen Defizits für den Geltungszeitraum enthalten müssen. Ein kohärentes System wird man diesen Bestimmungen nicht entnehmen können, da in zwei der drei Fälle die Verwendung des Wortes „anticipated“ lediglich als Verweis auf andere Vorschriften dient. Der dritte, haushalterische Anwendungsfall bezieht sich auf die schwer verallgemeinerbare Konstellation der Defizitausgleichung. Aber ein besonderer Zukunftsbezug lässt sich u.a. der Präambel entnehmen, wo davon die Rede ist, dass die Spaltungen der Vergangenheit geheilt werden, die Grundlagen für eine demokratische und offene Gesellschaft gelegt, die Lebensbedingungen der Bürger verbessert und das Potenzial der Menschen befreit werden soll.116 Nach Art. 9(4) FC117 sind Gesetze zur Verhinderung von ungerechtfertigter Diskriminierung zu erlassen. Art. 24(b)(i) FC118 enthält ein an Art. 20a GG erinnerndes Grundrecht, wonach die Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen zu schützen und Umweltverschmutzungen zu vermeiden sind. Art. 205(3) FC119 überträgt der Polizei die Aufgabe der Verbrechensvorbeugung. Schließlich gestattet es Art. 230A(1)(b) FC120 dem Gemeinderat, sich selbst und auch einen zukünftigen Gemeinderat zu verpflichten, um Darlehen oder Investitionen für die Gemeinde zu sichern. Ein Konzept von „Antizipation“ wurde in Südafrika hinsichtlich des Verfassungsrechts weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur vorgeschlagen oder entwickelt. Die soeben ermittelten Ansätze zeigen jedoch, dass dies nicht ausgeschlossen ist, da Einzelbestimmungen die Verpflichtung auf die Zukunft oder die Beachtung von Folgen in der Zukunft ansprechen. Im Unionsrecht, im südafrikanischen Verfassungsrecht und im nationalen einfachen Recht lassen sich antizipative Elemente im hiesigen Sinne nachweisen. Zur Effektivität des Rechts werden frühzeitig Problemlösungsmechanismen bereitgestellt, die zwar nicht das Auftreten von Problemen verhindern oder bereits jetzt Lösungen für bestimmte zukünftige Probleme vorschreiben. Aber sie er116 Auszug aus dem englischen Wortlaut: „Heal the divisions of the past and establish a society based on democratic values, social justice and fundamental human rights; Lay the foundations for a democratic and open society in which government is based on the will of the people and every citizen is equally protected by law; Improve the quality of life of all citizens and free the potential of each person“. 117 Englischer Wortlaut: „National legislation must be enacted to prevent or prohibit unfair discrimination.“ 118 Englischer Wortlaut: „Everyone has the right to have the environment protected, for the benefit of present and future generations, through reasonable legislative and other measures that prevent pollution and ecological degradation.“ 119 Englischer Wortlaut: „The objects of the police service are to prevent, combat and investigate crime, to maintain public order, to protect and secure the inhabitants of the Republic and their property, and to uphold and enforce the law.“ 120 Englischer Wortlaut: „Municipal Council may, in accordance with national legislation bind itself and a future Council in the exercise of its legislative and executive authority to secure loans or investments for the municipality.“
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leichtern den späteren Umgang mit Krisen. Ob dies auch für das Grundgesetz gilt und was hieraus ggf. folgt, wird nachfolgend genauer untersucht werden. Mit dem antizipierten Ereignis sind im Folgenden die Gefährdungen der liberalen Demokratie von innen gemeint. Hierauf ist der Begriff im Folgenden beschränkt.
III. Antizipation in Bestimmungen des Grundgesetzes Auch wenn das Grundgesetz den Begriff „Antizipation“ oder dessen Synonyme nicht ausdrücklich verwendet, kann seinen Bestimmungen dennoch zu entnehmen sein, dass es Antizipation kennt und dieser Gedanke in Vorschriften der Verfassung zum Ausdruck kommt. Darauf sollen im Folgenden die relevanten Bestimmungen des Grundgesetzes untersucht werden. Im Kontext der demokratischen Dekonsolidierung meint Antizipation das bewusste Einstellen auf zukünftige Krisensituationen bzw. das Vorausdenken von diesen, um die Demokratie zu bewahren. Dabei ist es gleichgültig, ob die Krise sicher eintritt oder höchst unwahrscheinlich, aber nicht theoretisch ausschließbar ist.
1. Der Antizipationsgedanke als Bestandteil der sog. Ewigkeitsklausel (Art. 79 III GG) Im Grundgesetz erfordert Art. 79 II GG qualifizierte Mehrheiten, die über jene hinausgehen, die zu dem Erlass eines einfachen Gesetzes erforderlich sind. Eine Steigerung von diesem Gedanken ist Art. 79 III GG, der bestimmte Inhalte für nicht abänderbar erklärt, selbst im Falle der Einstimmigkeit.121 Die südafrikanische Verfassung kennt zwar keine Ewigkeitsklausel. Aber sie enthält in Art. 74(1)–(3) FC unterschiedlich strenge Mehrheitsanforderungen in Abhängigkeit von der Art der zu ändernden Verfassungsbestimmung.122 Art. 79 III GG besagt, dass eine „Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, […] unzulässig“ sei. Art. 79 III GG selbst ist ebenfalls nicht abänderbar, da sein Gehalt ansonsten mit Leichtigkeit umgangen werden könnte.123 Im Ergebnis bedeutet dies, dass der verfassungsän121
Hierzu H. Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, JZ 1994, 741
(742). 122
Siehe hierzu unten C. IV. 1. d). BVerfGE 84, 90 (120); Badura, Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsgewohnheitsrecht, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 270 Rn. 35; H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 79 Abs. 3 Rn. 59; Haratsch, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 79 Rn. 47; Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. 123
III. Antizipation in Bestimmungen des Grundgesetzes
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dernde Gesetzgeber („pouvoir constitué“) engeren Grenzen unterliegt als der Verfassungsgeber („pouvoir constituant“). Den von der Ewigkeitsgarantie erfassten Bestimmungen des Grundgesetzes kommt ein besonderer Rang im Gefüge der Verfassung zu,124 zumindest eine besondere Bedeutung und Aufgabe. Art. 79 III GG verkörpert einerseits eine bewahrende Bestimmung, da er bestimmte inhaltliche Änderungen zu verhindern sucht,125 ist andererseits aber auch antizipativ, da er die Möglichkeit von Verfassungsänderungen vorhersieht und diesen Grenzen setzt,126 eben um die bisherige Ordnung zu bewahren. Ob dies gelingt, ist nicht gewiss, aber immerhin stellt sich das Grundgesetz auf diese Situation ein. Die Vorschrift erlangt auf dreifache Weise Bedeutung: erstens unmittelbar für innerstaatliche Verfassungsänderungen, zweitens – mittelbar über Art. 23 I 3 GG – für Übertragungen von Hoheitsrechten auf die EU und drittens ungeschriebenerweise, aber von Art. 79 I 2 GG vorausgesetzt, für sonstige Übertragungen von Hoheitsrechten. a) Bedeutung für innerstaatliche Verfassungsänderungen Entscheidend ist der Begriff der „Änderung“ in Art. 79 III GG. Allerdings ist dieser Begriff dafür, dass er so zentral ist, vergleichsweise farblos geblieben. aa) Begriff der Verfassungsänderung Art. 79 I 1 GG legt fest, dass eine Verfassungsänderung grundsätzlich eine Textänderung des Grundgesetzes erfordert. Art. 79 I 2 GG und implizit 124 (Stand: Juli 2014), Art. 79 Rn. 77; Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 79 Rn. 80; Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 115 f. Siehe zur historischen Perspektive Polzin, Constitutional identity, unconstitutional amendments and the idea of constituent power, International Journal of Constitutional Law 14 (2016), 411 ff. 124 Kritisch aber Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 232. 125 Vgl. Roznai, Unconstitutional Constitutional Amendments, 2017, S. 26. Art. 79 III GG wird deshalb auch als Ausprägung der wehrhaften (streitbaren bzw. militanten) Demokratie angesehen, siehe hierzu unten C. IV. 1.–C. IV. 1. d). 126 Vgl. Roznai, Unconstitutional Constitutional Amendments, 2017, S. 31 f. Albert, Constitutional Amendments, 2019, S. 4 spricht von „unanticipated needs“ („nicht vorhergesehene Bedürfnisse“), was zunächst gegen den hier vertretenen Standpunkt zu sprechen scheint. Allerdings bezieht er sich auf das konkrete Bedürfnis oder den konkreten Anlass einer ganz bestimmten punktuellen Verfassungsänderung, während in dieser Schrift auf das grundsätzliche Erfordernis irgendeiner Änderung der Verfassung Bezug genommen wird. Dieses wird von der Verfassung gesehen und mit einer Vorschrift über Verfassungsänderungen (Art. 79 GG in der Bundesrepublik Deutschland, Art. 74 FC in Südafrika) gelöst. An verfassungsfesten Inhalten besteht ein gesteigertes wissenschaftliches Interesse in jüngerer Zeit, sowohl im Inland als auch im Ausland, siehe zusätzlich zu den beiden soeben in dieser Fußnote zitierten Werken Hong, Abwägungsfeste Rechte, 2019; Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte, 2019; Polzin, Constitutional identity, unconstitutional amendments and the idea of constituent power, International Journal of Constitutional Law 14 (2016), 411 (412); Polzin, Verfassungsidentität, 2018.
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Art. 23 I 3 GG stellen hiervon Ausnahmen dar. Eine „Verfassungsänderung“, die sich nicht auch im Text des Grundgesetzes niederschlägt, ist somit keine – abgesehen von den zuvor erwähnten Ausnahmen. Dies war unter der Geltung der Reichsverfassung von Weimar anders.127 Das Reichsgericht führte in einem Urteil vom 27.3.1927 zum „Gesetz über die Pflichten der Beamten zum Schutz der Republik“ aus: „Da er [scil: Art. III des Gesetzes] aber mit der in Art. 76 Rverf. für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen Mehrheit zustande gekommen ist, hat er, soweit sein Inhalt reicht, den Schutz des Art. 129 Abs. 1 Satz 3 Rverf. beseitigt. Für die Wirksamkeit einer Verfassungsänderung ist nicht erforderlich, daß sie vom Gesetzgeber ausdrücklich als solche bezeichnet oder gar in die Verfassung selbst aufgenommen wird.“128
Außerdem konnte jedes Gesetz beliebigen Inhalts und sogar die Abschaffung der Verfassung beschlossen werden. Diese Abgrenzung der Neuschaffung einer Verfassung von einer bloßen Verfassungsänderung i.S.d. Art. 79 GG ist unklar.129 Während nach überwiegendem Verständnis der Verfassungsgeber unbeschränkt ist, gelten für den (bloß) verfassungsändernden Gesetzgeber diejenigen Einschränkungen, welche der Verfassungsgeber in der Verfassung für den verfassungsändernden Gesetzgeber festgelegt hat.130 Die Frage, ob lediglich eine Verfassungsänderung vorliegt, die in den Grenzen des Art. 79 GG zulässig ist, oder eine Verfassungsneuschöpfung gem. Art. 146 GG, deren Zulässigkeit unklarer und deshalb heftig umstritten ist, hat also erhebliche Auswirkungen sowohl hinsichtlich des einzuhaltenden Verfahrens als auch der zu beachtenden Inhalte. Zwar ist es für die Praxis bedeutsam und für die Theorie erkenntnisstiftend zu ermitteln, wo die genaue Grenze zwischen Verfassungsänderung und Verfassungsneuschöpfung verläuft. Die Beantwortung dieser Frage kann jedoch für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung offenbleiben, denn es geht hier nicht um die Beurteilung eines konkreten Verfassungsänderungsvorhabens, sondern um allgemeine Ableitungen für die Antizipation. Hierfür genügt das Wissen, dass es Verfassungsänderungen einerseits und Verfassungsneuschöpfungen andererseits geben kann und sie möglicherweise unterschiedlichen 127
RG, JW 56 (1927), 2198 (2199); W. Jellinek, Das verfassungsändernde Reichsgesetz, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 182 (187– 189); Thoma, Grundbegriffe und Grundsätze, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 108 (155–157). Siehe auch E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VI, 1993, S. 421–427; Polzin, Verfassungsidentität, 2018, S. 16– 29; U.K. Preuß, The Implications of „Eternity Clauses“: The German Experience, Israel Law Review 44 (2011), 429 (437 f.). 128 RG, JW 56 (1927), 2198 (2199). 129 Diese Frage befasst zunehmend die Verfassungstheorie und die Praxis der Verfassungsgebung, vgl. Roznai, Unconstitutional Constitutional Amendments, 2017, S. 6. 130 Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Juli 2014), Art. 79 Rn. 7–11; Roznai, Unconstitutional Constitutional Amendments, 2017, S. 109 f.
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rechtlichen Vorgaben genügen müssen. Diese müssen aber ermittelt werden können, anderenfalls ist die verfassungsrechtliche Ausgestaltung hinfällig. Unter Verfassungsänderung ist jedenfalls die Abweichung des zukünftigen vom bisherigen Verfassungstext zu verstehen.131 Unstreitig nicht erfasst werden deshalb Vorhaben, die sich auf bloß materielles, aber nicht (auch) formelles Verfassungsrecht beziehen.132 Diesen Vorhaben müssen nicht erst die Grundsätze des Art. 79 III GG entgegengehalten werden, vielmehr können sie direkt an den Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 I GG oder der Menschenwürde des Art. 1 I GG gemessen werden. Allerdings wird erst recht eine Verletzung des „einfachen Verfassungsrechts“ vorliegen, wenn bereits erkennbar ist, dass sogar ein Verstoß gegen Art. 79 III GG gegeben wäre. bb) Inhaltliche Bedeutung des Art. 79 III GG Art. 79 III GG verbietet eine Grundgesetzänderung, „durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden“. Auch wenn der Verfassungstext alleine nicht verhindern kann, dass das Grundgesetz – und mit ihm die in den Art. 1 und 20 GG enthaltenen Prinzipien – etwa im Wege einer Revolution abgeschafft wird, so erhöht eine Regelung wie Art. 79 III GG (sog. Ewigkeitsklausel133) die Chance, dass das Grundgesetz seinen Charakter, der durch die in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze mitbestimmt wird, bewahrt. Diesen Charakterverlust antizipiert und verbietet das Grundgesetz.134 In den Worten des BVerfG: „Art. 79 Abs. 3 GG als Schranke für den verfassungsändernden Gesetzgeber hat den Sinn, zu verhindern, daß die geltende Verfassungsordnung in ihrer Substanz, in ihren Grundlagen auf dem formal-legalistischen Weg eines verfassungsändernden Gesetzes beseitigt und zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes mißbraucht werden kann. Die Vorschrift verbietet also eine prinzipielle Preisgabe der dort genannten Grundsätze.“135 131 Siehe zu den verschiedenen Möglichkeiten Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2021, Art. 79 Rn. 8–21. Daher ist die Argumentation von Albert, Constitutional Amendments, 2019, passim, der die Kategorie des „constitutional dismemberment“ einführen will, eine Argumentation de constitutione ferenda. 132 Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Juli 2014), Art. 79 Abs. 1 Rn. 13. 133 Kritik am Begriff wegen Art. 146 GG bei Kment, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 79 Rn. 8. Ähnlich auch Roznai, Unconstitutional Constitutional Amendments, 2017, S. 16 f. 134 Murswiek, Verfassungsschutz und Demokratie, 2020, S. 17 nennt dies „Verfassungsschutz im materiellen Sinne“ in Abgrenzung zum formellen Verfassungsschutz durch die Verfassungsschutzbehörden. 135 BVerfGE 30, 1 (24).
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Es wird aber hinzugefügt: „Grundsätze werden ‚als Grundsätze‘ von vornherein nicht ‚berührt‘, wenn ihnen im allgemeinen Rechnung getragen wird und sie nur für eine Sonderlage entsprechend deren Eigenart aus evident sachgerechten Gründen modifiziert werden.“136
Welche Auswirkungen eine Begrenzung der Änderungsmöglichkeit haben kann, zeigt der Vergleich mit der Weimarer Reichsverfassung auf anschauliche Weise. Unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung konnte jedes Gesetz, das in formell ordnungsgemäßer Weise, insbesondere mit den erforderlichen Mehrheiten verabschiedet wurde, die Verfassung abändern,137 wobei eine Änderung des Verfassungstextes keine Voraussetzung war.138 Die Verfassung stand somit zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers. Dies wird beim Erlass des sog. Ermächtigungsgesetzes von 1933 deutlich.139 Obwohl die Gewaltenteilung aufgehoben und der Vorrang der Verfassung beseitigt wurde,140 nahmen viele Zeitgenossen an, dass eine zulässige Verfassungsänderung vorläge.141 Zweifel hieran bestehen nicht nur wegen des Inhalts des
136 BVerfGE 30, 1 (24). Kritik hieran aber von BVerfGE 30 (abw. Meinung Geller, v. Schlabrendorff, Rupp), 1 (41 f.). 137 BVerfGE 30 (abw. Meinung Geller, v. Schlabrendorff, Rupp), 1 (38); RG, JW 56 (1927), 2198 (2199); Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Juli 2014), Art. 79 Abs. 1 Rn. 7; W. Jellinek, Das verfassungsändernde Reichsgesetz, in: Anschütz/ Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 182 (187–189); Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung im allgemeinen, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. I, 1929, S. 1 (38 – 47); Thoma, Grundbegriffe und Grundsätze, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 108 (155 –157); Zacharias, Die sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 57 (58) m. zahlreichen w. N. in Rn. 12. Hierzu auch Ellenberger/Hug, Schutz des Grundrechtsschutzes, VBlBW 2019, 177 (178). 138 RG, JW 56 (1927), 2198 (2199); W. Jellinek, Das verfassungsändernde Reichsgesetz, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 182 (187– 189); Thoma, Grundbegriffe und Grundsätze, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 108 (155–157). Siehe auch E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VI, 1993, S. 421–427; U.K. Preuß, The Implications of „Eternity Clauses“: The German Experience, Israel Law Review 44 (2011), 429 (437 f.). 139 Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich v. 24.3.1933, RGBl. I, 141. Siehe hierzu Morsey, Das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933, 1992; H. Schneider, Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, 2. Aufl. 1961. 140 Auf die Verfolgung von Reichstagsabgeordneten und die Geschäftsordnungsmanipulationen soll hier nicht weiter eingegangen werden, siehe hierzu unten D. V. 141 Siehe die Zusammenstellung von Kommentierungen des Ermächtigungsgesetzes durch Staatsrechtslehrer aus den Jahren 1933 und 1935 bei Morsey, Das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933, 1992, S. 91–98 sowie die Nachweise bei Stern, Staatsrecht, Bd. V, 2000, S. 779 mit Fn. 57. Siehe auch H. Schneider, Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, 2. Aufl. 1961, S. 37–48. Vgl. Bickenbach, Vor 75 Jahren: Die Entmächtigung der Weimarer Reichsverfassung durch das Ermächtigungsgesetz, JuS 2008, 199 (203). Zu anderen
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Gesetzes, sondern auch wegen der kurz zuvor stattgefundenen unfairen Wahlen, der Verhaftung von einzelnen Abgeordneten, der Manipulierung der Geschäftsordnung, des Drucks auf die Abgeordneten im Sitzungssaal und davor, der Täuschung der Zentrumsfraktion142 sowie der fehlerhaften Besetzung des Reichsrats143. Nach heutigen Maßstäben handelte es sich hingegen um ein fehlerhaftes Gesetzgebungsverfahren.144 Das Grundgesetz sollte demgegenüber schwerer abänderbar sein. Darüber hinaus stellt das Erfordernis in Art. 79 I GG sicher, dass Verfassungsänderungen als solche erkennbar und nachvollziehbar sein sollen.145 Damit kann, wenn die demokratische Dekonsolidierung auch die Verfassungsebene direkt betrifft, dieser Vorgang identifiziert werden. Schließlich kann die Einhaltung der Grenzen, welche Art. 79 III GG dem verfassungsändernden Gesetzgeber setzt, durch das BVerfG kontrolliert werden.146 Gegebenenfalls kann die Verfassungsänderung, die den Vorgaben des Art. 79 III GG nicht gerecht wird, für nichtig erklärt werden.147 Alles dies belegt den höheren Schutz gegenüber Verfassungsänderungen, den das Grundgesetz errichtet. Ziel ist es, das Abgleiten in ein totalitäres Regime zu verhindern, wie das Zitat des BVerfG unmissverständlich vor Augen führt. Art. 79 III GG ist somit im Kontext der demokratischen Dekonsolidierung relevant. Konkret wirkt sich diese Neuorientierung des Grundgesetzes im Vergleich zur Weimarer Reichsverfassung in inhaltlicher Hinsicht wie folgt aus: Erfasst sind die Prinzipien des Rechtsstaats, der Demokratie148, des Bundesstaats149, der Republik und des Sozialstaats, die Staatlichkeit der Bundesrepu142 Ermächtigungsgesetzen als Vorläufer siehe Haardt/Clark, Die Weimarer Reichsverfassung als Moment in der Geschichte, in: Dreier/Waldhoff (Hrsg.), Das Wagnis der Demokratie, 2. Aufl. 2018, S. 9 (34 f.). 142 Siehe hierzu Morsey, Das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933, 1992, S. 37–90. 143 Siehe zu diesen Punkten H. Schneider, Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, 2. Aufl. 1961, S. 27–48; Stern, Staatsrecht, Bd. V, 2000, S. 778. 144 Siehe auch die Bewertung durch die bundesrepublikanische Justiz, BVerfGE 6, 309 (331 f.); BGHZ 5, 76 (83 f.). Dort auch mit Nachweisen zu der – uneinheitlich beantworteten – Frage der Weitergeltung der Weimarer Reichsverfassung nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts; OLG Tübingen, Deutsche Rechtszeitschrift 1948, 141 (141 f.) mit Anm. Thoma. 145 Ausnahmen stellen Art. 23 I 3 GG, der Art. 79 I 1 GG gerade nicht in Bezug nimmt, und Art. 79 I 2 GG dar, siehe hierzu insgesamt H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 79 Abs. 1 Rn. 11–15. 146 BVerfGE 109, 279 ff. 147 Siehe hierzu BVerfGE 30 (abw. Meinung Geller, v. Schlabrendorff, Rupp), 1 (33); BVerfGE 109 (abw. Meinung Jaeger, Hohmann-Dennhardt), 279 (382); Bryde, in: v. Münch/ Kunig, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2021, Art. 79 Rn. 35; Hain, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 79 Rn. 40; Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 79 Rn. 83. 148 Siehe hierzu oben B. II. 1.–B. II. 1. e). 149 Sogar in mehrfacher Weise, da nicht nur das bundesstaatliche Prinzip des Art. 20 I GG erfasst wird, sondern Art. 79 III GG ausdrücklich „die Gliederung des Bundes in Länder“ sowie „die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung“ benennt.
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blik Deutschland selbst sowie Art. 1 GG.150 Trotz seiner Verankerung in Art. 20 GG nimmt das Widerstandsrecht des Art. 20 IV GG nach ganz überwiegender Anschauung nicht am Schutz der Ewigkeitsgarantie teil,151 da diese Bestimmung erst später152 in die Verfassung aufgenommen wurde. Während der von Art. 79 III GG in Gänze153 in Bezug genommene Art. 1 GG die Menschenwürdegarantie, das Bekenntnis zu den unveräußerlichen und unverletzlichen Menschenrechten sowie die Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt enthält, beinhaltet Art. 20 GG Staatsstrukturprinzipien und mit dem Sozialstaatsprinzip ein Staatsziel.154 Besonders bedeutsam sind hierbei das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip, die beide Hauptziele im Falle einer demokratischen Dekonsolidierung sind. Das Abgleiten in ein totalitäres Regime, was Art. 79 III GG nach Ansicht des BVerfG verhindern will, erfolgt über die besondere Absicherung des Rechtsstaats- und des Demokratieprinzips. Dem Republikprinzip hingegen wurde bislang in der Rechtsprechung kein relevanter Anwendungsbereich zugebilligt.155 Die Aussage, dass die Monarchie oder ein vergleichbares System nicht eingeführt werden dürfte,156 ist eine Absage an eine Herrschaft ohne zeitliche Begrenzung. Dies unterstreicht die Relevanz des Punktes auch im Kontext des Demokratieprinzips. Schließlich wird auch das dreifach abgesicherte Bundesstaatsprinzip als vertikale Gewaltenteilung verstanden und dient damit der Erschwerung von Machtmissbrauch. In der Natur der Staatsstrukturbestimmungen liegt, dass sie auch zukunftsgerichtet sind, denn sie wollen die Staatsstruktur nicht lediglich für einen kurzen Moment in der Gegenwart vorschreiben, sondern dauerhaft vorgeben. Hiervon soll auch der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht abweichen dürfen. Damit werden Angriffe auf die Verfassungsidentität zwar nicht verhindert oder mit Sicherheit ausgeschlossen, aber auf den schwierigeren Weg der Verfassungsneuschöpfung oder Revolution verwiesen.
150 Siehe die Zusammenstellung der geschützten Gehalte bei Hain, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 79 Rn. 43–145. 151 Brenner, Die wehrhafte Demokratie: Eine Lehre aus Weimar?, in: Eichenhofer (Hrsg.), 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung – Was ist geblieben?, 1999, S. 95 (107 f.); Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, 1969, S. 96 f.; Schmahl, Rechtsstaat und Widerstandsrecht, JöR n.F. 55 (2007), 99 (109) m.w.N.; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 355. 152 § 1 Nr. 7 Siebzehntes Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes v. 24.6.1968, BGBl. I, 709. 153 H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 79 Abs. 3 Rn. 27–34. 154 Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 5. 155 Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 20 Rn. 9 f. 156 BVerfG(K), NJW 2004, 2008 (2011); Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Januar 2022), Art. 20 III Rn. 2; Kotzur, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 20 Rn. 39.
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Menschenwürdegarantie und Grundrechtsverpflichtung wurden mit Art. 1 GG, der von Art. 79 III GG erfasst wird, bewusst an die Spitze der Verfassung gestellt.157 Das Grundgesetz begibt sich damit in die „nordatlantisch-westeuropäische Verfassungstradition“.158 Nach der nationalsozialistischen Diktatur, in der Mord, Folter, Menschenversuche, Zwangssterilisation, Verfolgung aus politischen, religiösen und rassistischen Gründen in ungeahntem Ausmaß erfolgten, wollte der Verfassungsgeber als Reaktion darauf einen Gegenentwurf zu der vorherigen Schreckensherrschaft etablieren.159 Dauerhaft sollte ein Rückfall verhindert werden, und so wird die Erhaltung einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung vom BVerfG auch als eine Daueraufgabe verstanden.160 Diese Sicherung sollte nicht nur über die Rechtsstellung des Individuums, sondern auch über staatsorganisationsrechtliche Vorkehrungen erfolgen. Die für möglich erachtete Wiederkehr der Diktatur soll durch stärkere verfassungsrechtliche Barrieren abgesichert werden. Werte (Art. 1 GG) und Strukturprinzipien, die einen Beitrag gegen die Diktatur leisten können (Art. 20 GG: z.B. Rechtsstaatsprinzip mit Gewaltenteilung und Vorrang der Verfassung, Demokratieprinzip mit fairen Wahlen und Herrschaft nur auf Zeit), werden nicht nur in der Verfassung verankert, sondern, noch weiter gehend, sogar in ihren Grundzügen für unabänderbar erklärt. Erst eine neue Verfassung, die „in freier Entscheidung“ „von dem deutschen Volke“ beschlossen wurde, kann diese Regelung ablösen (Art. 146 GG161). Zwar versteht
157 H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 1 Abs. 1 Rn. 23–27; Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 1; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 2. 158 H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Vorb. vor Art. 1 Rn. 18; Sodan, Kontinuität und Wandel im Verfassungsrecht, NVwZ 2009, 545 (546). 159 BVerfGE 124, 300 (328); 144, 20 (229). So auch Bickenbach, Kampf gegen eine Hydra – Rechtliche Mittel gegen den Rechtsextremismus, DVBl. 2017, 149 (157); Bulla, Die Lehre von der streitbaren Demokratie, AöR 98 (1973), 340 (346); Di Fabio, Bonn ist nicht Weimar, in: Heinig/Schorkopf (Hrsg.), 70 Jahre Grundgesetz, 2019, S. 13 (13). Teilweise wird auch davon gesprochen, dass bestimmte Bestimmungen des Grundgesetzes eine Reaktion auf die nationalsozialistische Herrschaft waren, so BVerfGE 39, 1 (36 f.); Krebs, Freiheitsschutz durch Grundrechte, Jura-Extra 1990, 60 (61) – im Hinblick auf die Menschenwürdegarantie. Siehe auch Di Fabio, Die Weimarer Verfassung, 2018, S. 16 f.; U.K. Preuß, The Implications of „Eternity Clauses“: The German Experience, Israel Law Review 44 (2011), 429 (439). Dazu, dass mit der Verfassung sich nicht automatisch die politische Realität ändert, vgl. Perels, Die Nachwirkungen der NS-Diktatur im demokratischen Rechtsstaat, in: Perels, Das juristische Erbe des „Dritten Reiches“, 1999, S. 11 ff. 160 BVerfGE 144, 20 (198). 161 Wie die neue Verfassung beschlossen werden darf oder muss und welche inhaltlichen Vorgaben zu beachten sind, ist in der Literatur zu Art. 146 GG sehr umstritten, siehe zu den verschiedenen Positionen Herbst, Legale Abschaffung des Grundgesetzes nach Art. 146 GG?, ZRP 2012, 33 ff.; P.M. Huber, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 146 Rn. 15–23; Unruh, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 146 Rn. 24–30. Geht man davon aus, dass der pouvoir constituant unbeschränkt ist, können die Versuche, formale oder
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das BVerfG Art. 79 III GG nicht in dem Sinne, dass Private nicht auf Änderungen der von Art. 79 III geschützten Grundsätze hinwirken dürfen.162 Für Private ist die freiheitliche demokratische Grundordnung die Grenze, sofern sie in spezifischer Weise berührt wird. Aber die staatliche Gewalt ist an Art. 79 III GG zwingend gebunden und darf keine Änderungen vornehmen, die gegen Art. 79 III GG verstoßen. Somit bestätigt eine zentrale Vorschrift des Grundgesetzes den antizipativen Charakter der Verfassung, welcher einer demokratischen Dekonsolidierung entgegenstehen soll. Schließlich ist die Vorschrift im Zusammenhang mit der demokratischen Dekonsolidierung deshalb besonders bedeutsam, weil sich Art. 79 III GG gerade an den (verfassungsändernden) Gesetzgeber richtet, welcher an der demokratischen Dekonsolidierung zentral beteiligt sein dürfte. cc) Erfassung von Kumulationen Eine kaum bearbeitete Frage ist, ob Art. 79 III GG auch vor Kumulationen schützt,163 welche als Hauptproblem der demokratischen Dekonsolidierung identifiziert wurden. Hiermit ist nicht die Frage gemeint, wann eine Berührung der über Art. 79 III GG geschützten Grundsätze vorliegt, ob also Modifikationen der Grundsätze durch Verfassungsänderungen zulässig sind164 oder nicht165. Aufgeworfen ist vielmehr die Frage, ob Art. 79 III GG einer schleichenden Aushöhlung durch die Kumulation von Verfassungsänderungen begegnen kann, wenn die einzelne Verfassungsänderung verfassungsgemäß wäre, die Kumulation der Verfassungsänderungen aber möglicherweise nicht. Zu erwägen wäre z.B., auch bei Verfassungsänderungen, so wie es bei einfachen Gesetzen für die demokratische Dekonsolidierung charakteristisch ist, schrittweise vorzugehen. Punktuelle, unbedeutend erscheinende Verfassungsänderungen, die für sich genommen nicht gegen Art. 79 III GG verstoßen, werden zeitlich gestaffelt erlassen. Hierdurch verändert sich – im Falle ihrer Zulässigkeit – der Kern der Verfassungsordnung ebenfalls etappenweise und schleichend. Am Ende der Entwicklung könnten Verfassungsänderungen vorgenommen werden, die zu Beginn des Prozesses einen Verstoß gegen Art. 79 III GG bedeutet hätten. Das Demokratieprinzip wäre z.B. im Grundgesetz an162 materiale Vorgaben für die Verfassungsneuschöpfung aus dem Grundgesetz abzuleiten, zwar argumentativ verwendet werden und auch psychologisch wirken. In der Praxis können diese Versuche aber vergebens sein. 162 So ausdrücklich BVerfGE 144, 20 (205 f.). Allerdings legitimiert Art. 146 GG auch kein Handeln, durch welches die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigt werden soll, BVerfGE 144, 20 (197 f.). 163 Eine Ausnahme u.a. bei Zacharias, Die sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 57 (63 f., 67). 164 So BVerfGE 30, 1 (24); 84, 90 (121); 109, 279 (310). 165 So BVerfGE 30 (abw. Meinung Geller, v. Schlabrendorff, Rupp), 1 (41 f.).
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ders ausgestaltet als derzeit, sodass auch die von Art. 79 III GG erfassten Grundsätze des Demokratieprinzips andere wären. Gewisse Verschiebungen werden wohl zulässig sein müssen, um „Versteinerungen“ zu verhindern. Der Wortlaut des Art. 79 III GG spricht von „eine[r]“ Änderung, verwendet also den Singular, was gegen die Erfassung von Kumulationen spricht. Auch geht das BVerfG davon aus, dass die Grundsätze des Art. 20 GG modifiziert werden dürfen.166 Gegen die Möglichkeit der etappenweisen Grundgesetzänderung spricht jedoch, dass der Verfassungsgeber mit Art. 79 III GG ein bestimmtes Ergebnis verhindern wollte, nämlich die Totalbeseitigung oder Totalvernichtung der Verfassung.167 Wenn aber das Ziel für den Verfassungsgeber entscheidend war, dann kann es nicht auf die Wege oder Mittel ankommen, mit denen dieses zu verhindernde Ziel erreicht werden kann. Eine Differenzierung anhand der Mittel würde die Umgehung ermöglichen. Hierfür spricht auch in entstehungsgeschichtlicher Hinsicht die Tatsache, dass zunächst nicht die inhaltliche Verfassungsänderung, sondern bereits der auf die Änderung abzielende Antrag verboten werden sollte.168 In ihrer abweichenden Meinung zum G-10-Urteil169 haben die Richter Gregor Geller, Fabian v. Schlabrendorff und Hans Georg Rupp ausdrücklich ausgeführt, dass das Verbot in Art. 79 III GG, die Grundsätze der Art. 1 und 20 GG zu berühren, auch eine schleichende Aushöhlung erfasst: Wörtlich heißt es: „Nach Wortlaut und Sinn erfordert die Vorschrift des Art. 79 Abs. 3 GG nicht, daß die oder einer der Grundsätze vollständig aufgehoben oder ‚prinzipiell preisgegeben‘ werden. Das Wort ‚berührt‘ besagt weniger. Es genügt schon, wenn in einem Teilbereich der Freiheitssphäre des Einzelnen die sich aus Art. 1 und 20 GG ergebenden Grundsätze ganz oder zum Teil außer Acht gelassen werden. Nur dies scheint uns der Bedeutung, die Art. 79 Abs. 3 GG im System des Grundgesetzes hat, zu entsprechen. Die konstituierenden Elemente sollen ‚unberührt‘ bleiben. Sie sollen auch vor dem allmählichen Zerfallsprozeß geschützt werden, der sich entwickeln könnte, wenn den Grundsätzen nur ‚im allgemeinen Rechnung getragen‘ werden müßte.“170
Auch wenn hier die Frage der Berührung mit der der Kumulation verbunden wird, ist klar erkennbar, dass das für die demokratische Dekonsolidierung typische Vorgehen ausgeschlossen sein soll. Deshalb wird man zwischen dem evolutiven Verfassungswandel einerseits und den gleichsam „künstlich“ her166 BVerfGE 30, 1 (24); 84, 90 (121); 109, 279 (310); siehe aber auch die Kritik in BVerfGE 30 (abw. Meinung Geller, v. Schlabrendorff, Rupp), 1 (41 f.). 167 Füßlein, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 585–587; Zacharias, Die sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 57 (67). 168 Füßlein, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 585 f. 169 BVerfGE 30, 1 ff. 170 BVerfGE 30 (abw. Meinung Geller, v. Schlabrendorff, Rupp), 1 (41 f.) – Hervorhebung nicht im Original.
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beigeführten Verfassungsänderungen andererseits unterscheiden müssen. Keineswegs kann eine Verschiebung durch Verfassungsänderungen in nur ein bis zwei Legislaturperioden erfolgen. Erforderlich sind deutlich längere Zeiträume. Wegen der qualifizierten Mehrheitserfordernisse in Bundesrat und Bundestag ist diese Gefahr deutlich geringer als der etappenweise Erlass einzelner Gesetze. Da die Verfassungsänderung viel seltener ist und sich auf einen viel kleineren Textbestand als die Summe der Gesetzgebungsakte im Übrigen bezieht, lässt sich die Verschiebung auf Verfassungsebene leichter nachvollziehen, bewerten und hiergegen nötigenfalls einschreiten. Im Ergebnis kann weder durch eine „große“ noch durch mehrere „kleine“ Verfassungsänderungen Art. 79 III GG umgangen werden. Dies würde Sinn und Zweck von Art. 79 III GG widersprechen und wäre auch weder mit der Mehrheitsmeinung noch mit dem Sondervotum in der Entscheidung im Abhör-Urteil vereinbar. Art. 79 III GG ist folglich Ausdruck dessen, dass das Grundgesetz die Gefahren der demokratischen Dekonsolidierung gesehen hat und ihnen begegnen will – auch den gefährlichen Kumulationen. b) Bedeutung im Rahmen der Europäischen Union Wurde Art. 79 III GG ursprünglich allein im nationalen Kontext Bedeutung zugemessen, hat die Bestimmung mittlerweile auch Relevanz im europäischen Einigungsprozess erlangt. Gegenwärtig dürfte dort sogar die größere Bedeutung der Vorschrift liegen.171 Die Frage des Verlustes der Eigenstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland wird im Zusammenhang mit einem etwaigen Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat (im Unterschied zur staatenbündischen EU) diskutiert. Demokratie, Bundesstaatlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit verlangen die Staatlichkeit der Bundesrepublik.172 171
Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen, 2017, § 2 Rn. 175 spricht von einer „Umkehrung“ hinsichtlich der Bedeutung. Siehe hierzu auch Masing, Verfassung im internationalen Mehrebenensystem, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 2 Rn. 76; Polzin, Verfassungsidentität, 2018, S. 143–198. 172 BVerfGE 123, 267 (343): „Das Grundgesetz setzt damit die souveräne Staatlichkeit Deutschlands nicht nur voraus, sondern garantiert sie auch.“ Ähnlich auch R. Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), NVwZ 1994, 417 (423); Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes: Positivierung vollzogenen Verfassungswandels oder Verfassungsneuschöpfung?, Der Staat 32 (1993), 191 (200 f.); Hain, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 79 Rn. 136; P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 21 Rn. 25; H. Möller, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes und die Schranke der Verfassungsrevision, 2004, S. 242–244; Murswiek, Maastricht und der Pouvoir Constituant, Der Staat 32 (1993), 161 (161, 162–165); Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz – eine verfassungsrechtliche Wende?, DVBl. 1993, 629 (631 f.); Rupp, Muß das Volk über den Vertrag von Maastricht entscheiden?, NJW 1993, 38 (39); Sodan, Staat und Verfassungsgerichtsbarkeit, 2010, S. 86. Nach a.A. schließt das Begriffsargument lediglich aus, „die Bundesrepublik in anarchische Verhältnisse zu über-
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Auch hier sieht das Grundgesetz die Möglichkeit eines Aufgehens der Bundesrepublik Deutschland in einem vereinten Europa und setzt diesen Entwicklungen Grenzen, welche nur durch eine Verfassungsneuschöpfung nach Art. 146 GG überwunden werden können.173 Art. 23 I 3 GG verweist nicht nur auf Art. 79 III GG und macht die Vorschrift zur Grenze für Übertragungen von Hoheitsrechten. Über Art. 38 I 1 i.V.m. Art. 20 II i.V.m. Art. 79 III GG lässt das BVerfG auch Verfassungsbeschwerden zu, die das BVerfG – unter Erfüllung gewisser Voraussetzungen – zur Überprüfung der Einhaltung der Kompetenzgrenzen und sogar zur Überprüfung von Unionsrecht ermächtigen.174 Damit ist ein Vehikel geschaffen, welches dem BVerfG wegen des weiten Kreises antragsberechtigter Personen bei der Verfassungsbeschwerde175 die Möglichkeit verleiht, in vielen Fällen die Einhaltung der grundgesetzlichen Vorgaben zu kontrollieren. Die Bedrohung, welche Art. 23 I 3 i.V.m. Art. 79 III GG antizipiert, ist der Verlust zu umfangreicher Zuständigkeiten, der Verlust an Eigenstaatlichkeit, Souveränität oder Identität. Dies belegt eine gewisse Flexibilität des Art. 79 III GG und das Einstellen auf neue Entwicklungen, denn zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Art. 79 III GG war diese Form der europäischen Integration nicht absehbar,176 selbst wenn es bereits in der Präambel der Ursprungsfassung 173 führen, nicht in einen anderen Staat, der seinerseits rechts- und sozialstaatliche Demokratie ist“; weiterhin müsse Art. 79 III GG in Zusammenhang mit der Präambel, Art. 23 und Art. 24 GG gelesen werden, was dafür spreche, dass die Eigenstaatlichkeit aufgegeben werden könne, siehe hierzu Bryde, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2021, Art. 79 Rn. 64; Steinberger, Die Europäische Union im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, in: FS Bernhardt, 1995, S. 1313 (1324); Oppermann/ Classen, Europäische Union: Erfüllung des Grundgesetzes, APuZ 1993, 11 (18 f.); Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des BVerfG, EuGRZ 1993, 489 (496); ähnlich Zacharias, Die sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 57 (82–84). Siehe hierzu C. Möllers, Staat als Argument, 2. Aufl. 2011, S. 376–417. 173 BVerfGE 123, 267 (331 f.). Kritisch u.a. Masing, Verfassung im internationalen Mehrebenensystem, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 2 Rn. 79–81. 174 Vgl. BVerfGE 89, 155 (171 f.); 97, 350 (368 f.); 123, 267 (330); 129, 124 (166–173); 134, 366 (396); 142, 123 (189); 146, 216 (249); 154, 17 (80). Siehe hierzu Lehner, Die „Integrationsverfassungsbeschwerde“ nach Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, Der Staat 52 (2013), 535 ff.; Sauer, Demokratische Legitimation zwischen Staatsorganisationsrecht und grundrechtlichem Teilhabeanspruch, Der Staat 58 (2019), 7 ff.; Simon, Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im europäischen Integrationsprozess, 2016, S. 224–232. Kritisch u.a. Masing, Verfassung im internationalen Mehrebenensystem, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 2 Rn. 86–88. 175 Hierzu H.-J. Cremer, Rügbarkeit demokratiewidriger Kompetenzverschiebungen im Wege der Verfassungsbeschwerde?, NJ 1995, 5 (5 f., 7); K. Schneider, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2. Aufl. 2022, Nach § 1 Rn. 13 f. Siehe demgegenüber zur Antragsbefugnis im Organstreitverfahren Simon, Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im europäischen Integrationsprozess, 2016, S. 232 f. 176 So auch BVerfGE 129, 78 (96 f.).
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des Grundgesetzes hieß, dass das deutsche Volk „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt“ dienen wolle und Art. 24 I, II GG die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen sowie die Einordnung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit zuließ.177 Ursprünglich war Art. 79 III GG lediglich als Instrument gegen zu weitreichende Verfassungsänderungen in der innerstaatlichen Sphäre gedacht. Solange die EU – wie es in Art. 23 I 1 GG heißt – „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“, wird man den Verlust der Eigenstaatlichkeit nicht als Abgleiten in die Diktatur ansehen können. Insofern hat Art. 79 III GG eine überschießende Tendenz im Vergleich zu rein nationalen Sachverhalten. aa) Übertragung von Hoheitsrechten Art. 23 I 3 GG178 verweist für „die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden“, auf Art. 79 II und III GG. Damit gelten sowohl hinsichtlich der erforderlichen Mehrheiten und Zuständigkeiten als auch bezüglich der inhaltlichen Anforderungen dieselben Regeln wie für die ausdrückliche Verfassungsänderung mit rein nationalem Bezug. Lediglich auf das Erfordernis der Textänderung wird verzichtet. Bei Art. 23 I 3 i.V.m. Art. 79 III GG handelt es sich um eine absolute Schranke der Übertragungsmöglichkeiten.179 Das Tatbestandsmerkmal „die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden“, wird weit verstanden und umfasst auch die evolutive Entwicklung des Primärrechts sowie „ratifikationsanaloge Sachverhalte“, die eine „faktische Vertragsänderung“ bedeuten würden.180 177 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland v. 23.5.1949, BGBl. I, 1. Siehe hierzu Simon, Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im europäischen Integrationsprozess, 2016, S. 41–46. 178 Hierzu Simon, Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im europäischen Integrationsprozess, 2016, S. 46–52. 179 Polzin, Verfassungsidentität, 2018, S. 42, 48; Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen, 2017, § 2 Rn. 181. 180 K. Schneider, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2. Aufl. 2022, Nach § 1 Rn. 26–30; Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen, 2017, § 2 Rn. 172 f. Siehe auch Lehner, Die „Integrationsverfassungsbeschwerde“ nach Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, Der Staat 52 (2013), 535 (541 f.).
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Da eine zu weitreichende Übertragung von Hoheitsrechten durch völkerrechtliche Verträge präventiv durch das BVerfG geprüft werden kann,181 ist der Schutz im Falle einer erst beabsichtigten Übertragung neuer, zusätzlicher Kompetenzen auf die EU vergleichsweise leichter gewährleistet. Voraussetzung ist lediglich, dass rechtzeitig vor der völkerrechtlichen Bindung ein Verfahren vor dem BVerfG angestrengt wird. Da Kompetenzübertragungen auf die EU durch auf Art. 38 I 1 i.V.m. Art. 20 II i.V.m. Art. 79 III GG gestützte Verfassungsbeschwerde i.S.d. Art. 93 I Nr. 4a GG gerügt werden können, kann „jedermann“ und damit jeder wahlberechtigte Staatsangehörige182 die Übertragung kontrollieren lassen.183 Die Verfassungsbeschwerde kann damit begründet werden, dass pauschal die Kompetenz-Kompetenz auf die Union übertragen werde,184 dass so viele bzw. so gewichtige Kompetenzen auf die EU übertragen werden, dass das Demokratieprinzip des Grundgesetzes entleert werde, da dem Parlament keine hinreichenden Kompetenzen mehr verbleiben,185 oder darauf, dass die integrationsfesten Inhalte des Grundgesetzes verletzt würden.186 Im Falle einer vom BVerfG angenommenen unzulässigen Übertragung von Hoheitsrechten durch Vertrag wird die völkerrechtliche Verpflichtung erst gar nicht eingegangen und die Bundesrepublik Deutschland deshalb rechtlich nicht gebunden. Wegen des grundsätzlichen Einstimmigkeitserfordernisses bei den Änderungen des Primärrechts verbleibt es damit beim status quo der europäischen Integration. Auch wenn die Kontrolle der Übertragung von Kompetenzen auf die EU nicht der ursprünglichen Intention des Art. 79 III GG vollumfänglich entspricht, zeigt die jüngere Rechtsprechung des BVerfG aber die Gefahr von Kumulationen auf und die Eignung des Art. 79 III GG, ihnen zu begegnen. Eine nicht zu unterschätzende Schwierigkeit bei der bundesverfassungsgerichtlichen Prüfung besteht jedoch 181
So geschehen durch das Urteil zum Lissabon-Vertrag, BVerfGE 123, 267 ff. Lehner, Die „Integrationsverfassungsbeschwerde“ nach Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, Der Staat 52 (2013), 535 (543–545 mit Fn. 61). 183 Vgl. BVerfGE 89, 155 (171 f.); 97, 350 (368 f.); 123, 267 (330); 129, 124 (166–173); 134, 366 (396); 142, 123 (189); 146, 216 (249); 154, 17 (80). Zur Konzeptionalisierung K. Schneider, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2. Aufl. 2022, Nach § 1 Rn. 13–30, 72–83; Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen, 2017, § 2 Rn. 215–219, die beide fünf verschiedene Rügemöglichkeiten ausmachen. Demgegenüber wird ansonsten in der Literatur von drei Rügen (Identitätsrüge, Ultra-vires-Rüge und Grundrechtsrüge) ausgegangen, vgl. Calliess, 70 Jahre Grundgesetz und europäische Integration: „Take back control“ oder „Mehr Demokratie wagen“?, NVwZ 2019, 684 (689–692); Ludwigs/Sikora, Der Vorrang des Unionsrechts unter Kontrollvorbehalt des BVerfG, EWS 2016, 121 (123–129). 184 BVerfGE 89, 155 (187 f.); 123, 267 (349); 135, 317 (399); 154, 17 (86) – „Blankettrüge“ nach Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen, 2017, § 2 Rn. 216. 185 BVerfGE 123, 267 (341); 142, 123 (190); 154, 17 (87) – „Kompetenzrüge“ nach Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen, 2017, § 2 Rn. 217. 186 BVerfGE 123, 267 (351–353); 135, 317 (399) – „Identitätsrüge“ nach Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen, 2017, § 2 Rn. 218. 182
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darin, dass das BVerfG auch prüft, wie die Herrschaftsausübung nach der Kompetenzübertragung auf die EU-Ebene durch diese ausgeübt wird.187 Rechtlich problematischer sind die schleichenden Veränderungen durch evolutive Entwicklungen und „ratifikationsanaloge Sachverhalte“, auf die Art. 23 I 3 GG ebenfalls verweist. Diese ergeben sich erst nach der Übertragung von Hoheitsrechten,188 also nach erfolgter Zustimmung zu den Verträgen, und sind wegen des Vorrangs des Unionsrechts deutlich schwieriger einzufangen. Die politische Dynamik völkerrechtlicher Verträge wird mit dem Bild des „Vertrages auf Rädern“ veranschaulicht.189 Das BVerfG spricht von der Tendenz zur „politischen Selbstverstärkung“.190 bb) Ausübung der übertragenen Hoheitsrechte Dieser „Vertrag auf Rädern“ kann Spannungen zur nationalen Verfassungsordnung bewirken, insbesondere zur demokratischen Legitimation politischer Herrschaft.191 Je weiter die Integration voranschreitet, desto drängender stellt sich die Frage, wie sich die nationale Verfassungsordnung und die EU-Ebene zueinander verhalten.192 Zwar stellt Art. 5 I 1, II EUV das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung193 auf, wonach „die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig [wird], die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirkli187 Hierzu Masing, Verfassung im internationalen Mehrebenensystem, in: Herdegen/ Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 2 Rn. 66 f. 188 Gärditz, Völkerrechtliche Integration und kompensatorische Rechtsschutzgarantie, EuGRZ 2018, 530 (538) m.w.N.; K. Schneider, Der Ultra-vires-Maßstab im Außenverfassungsrecht, AöR 139 (2014), 196 (197). 189 Ress, Verfassungsrechtliche Auswirkungen der Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge, in: FS Zeidler, Bd. II, 1987, S. 1775 (1779); Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen, 2017, § 2 Rn. 131. 190 BVerfGE 123, 267 (351). 191 So bereits Thieme, Das Grundgesetz und die öffentliche Gewalt internationaler Staatengemeinschaften, VVDStRL 18 (1960), 50 (61 f.). Giegerich, Zwischen Europafreundlichkeit und Europaskepsis – Kritischer Überblick über die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung zur europäischen Integration, ZEuS 2016, 3 (9–11, 12–46) identifiziert drei Konfliktlinien: einen Grundrechts-, einen Föderalismus- und einen Demokratiekonflikt. 192 BVerfGE 140, 317 (339–341) führt aus, dass die weitaus überwiegende Zahl der Verfassungs- und Obergerichte der anderen Mitgliedstaaten ebenfalls Grenzen des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts kennen. P.M. Huber, Rolle der Verfassungsgerichte in der europäischen Integration – Die Karlsruher Perspektive, in: FS E. Klein, 2013, S. 111 (111 f.) meint, dass die Grenze zwischen beiden Ebenen in keinem EU-Staat wirklich geklärt sei. Siehe zu dieser Frage Polzin, Verfassungsidentität, 2018, S. 42–61. Besonders konfrontativ dürfte das polnische Verfassungsgericht vorgegangen sein, siehe dazu oben A. I. 2. a), aber auch das BVerfG hat mit seiner PSPP-Entscheidung Staub aufgewirbelt, vgl. BVerfGE 154, 17 ff. 193 Hierzu BVerfGE 123, 267 (350–354, 381–384).
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chung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben“ und „[a]lle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten […] bei den Mitgliedstaaten“ verbleiben. Allerdings darf an der Wirksamkeit des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung gezweifelt werden. Aus seiner Existenz kann jedenfalls nicht geschlossen werden, dass auch im Falle der zulässigen Übertragung von Hoheitsrechten die Einhaltung der Grenzen der Übertragbarkeit dauerhaft sichergestellt bleibt. Deutlich formuliert Hans Hugo Klein: „Die zielorientierte, regelmäßig nicht gegenständlich umschriebene Bestimmung der (Rechtsetzungs-)Kompetenzen der EU, ihre vorwiegend teleologische, die (als solche meist nicht kenntlich gemachte) Rechtsfortbildung einschließende Auslegung und Anwendung, die vorzüglich darauf ausgerichtet ist, die (von deren Organen selbst definierte) Funktionsfähigkeit der Union zu sichern und die nahezu vollständige Wirkungslosigkeit der Kompetenzausübungsschranken entfalten im Verbund eine unwiderstehliche zentripetale Tendenz zugunsten der Union. Sie wird nachhaltig unterstützt durch die als lax empfundene Kompetenzkontrolle seitens des EuGH, die der Effektivierung und Funktionalität der EU einen nahezu bedingungslosen Vorrang einräumt vor der Souveränität der Mitgliedstaaten. Die auf den Fortgang der Integration zielende Dynamik der Kompetenzauslegung führt unausweichlich zu der schon in der Erklärung von Laeken angeprangerten ‚schleichenden Ausuferung der Zuständigkeiten der Union‘, das Fehlen wirksamer, schon gar ‚kategorischer‘ Bereichsausnahmen zum ‚Vordringen in die Bereiche der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten‘ […].“194
Insbesondere die EU-Kompetenz für den Binnenmarkt (Art. 114 AEUV) ist recht umfassend.195 Überdies eröffnet die Anwendung der Grundfreiheiten ein weites (EU-)Feld.196 „Jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern“197, wird nach der sog. Dassonville-Formel als Maßnahme gleicher Wirkung angesehen. Die Einschränkung durch die Entscheidungen Keck und Mithouard198 sowie Kommission/Italien199 hat keine grundlegende Veränderung bewirkt, aber der Kritik zumindest ein paar Spitzen nehmen können. Schließlich wird auch die Anwendbarkeit der EUGrCh weit verstanden, da hinsichtlich der „Durchführung des Rechts der Union“
194 H.H. Klein, Integration und Verfassung, AöR 139 (2014), 165 (185) – unter Weglassung der Nachweise. 195 Haag, Angleichung der Rechtsordnung, in: Bieber et al., Die Europäische Union, 15. Aufl. 2022, § 17 Rn. 13. 196 Vgl. Klenk, Die Grenzen der Grundfreiheiten, 2019, S. 26–32, 376. 197 EuGH, Urt. v. 11.7.1974 – 8/74, ECLI:EU:C:1974:82 Rn. 5 – Dassonville. 198 EuGH, Urt. v. 24.11.1993 – C-267/91 und C-268/91, ECLI:EU:C:1993:905 Rn. 6–17 – Keck und Mithouard. 199 EuGH, Urt. v. 10.2.2009 – C-110/05, ECLI:EU:C:2009:66 Rn. 49–69 – Kommission/ Italien.
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von einem weiten Verständnis des Begriffs „EU-Recht“ ausgegangen wird200 und einem zumindest nicht engen Verständnis von „Durchführung“201. Das BVerfG hat deshalb Mechanismen entwickelt, um auch nach erfolgter Übertragung von Hoheitsrechten zu kontrollieren, dass die verfassungsrechtlichen Grenzen eingehalten werden. Hierzu dient die bereits zuvor genannte „Identitätsrüge“,202 die nicht nur vor der Übertragung von Hoheitsrechten erfolgen kann, sondern auch danach. So hat beispielsweise das BVerfG zum Europäischen Haftbefehl ausgeführt, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts seine Grenze in den durch Art. 23 I 3 i.V.m. Art. 79 III GG für integrationsfest erklärten Grundsätzen der Verfassung, insbesondere der Menschenwürdegarantie mit dem strafrechtlichen Schuldprinzip finde.203 Deshalb hat es einer Verfassungsbeschwerde, welche die Auslieferung nach Italien auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls, der zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Beschwerdeführers ergangenen Strafurteils erlassen wurde, stattgegeben.204 Eine weitere Rüge ist die sog. Vollzugsrüge,205 mit der überprüft werden kann, ob sich ein nicht deutscher Hoheitsakt noch im Rahmen der übertragenen Kompetenzen bewegt oder ob er „ausbricht“ und damit „ultra vires“ ist.206 Diese Rügen wurden insbesondere im Zusammenhang mit der Bankenund Schuldenkrise erhoben. Und in der PSPP-Entscheidung aus dem Mai 2020 hat das BVerfG entschieden, dass die Beschlüsse der Europäischen Zentralbank (EZB) zum Ankauf von Anleihen des öffentlichen Sektors („PSPP“) mangels hinreichend dokumentierter Verhältnismäßigkeitsprüfung ultra vires seien.207 200 Terhechte, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Bd. I, 7. Aufl. 2015, Art. 51 EUGrCh Rn. 8. 201 EuGH, Urt. v. 6.3.2014 – C-206/13, EU:C:2014:126 Rn. 25 – Siragusa. Siehe auch Terhechte, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Bd. I, 7. Aufl. 2015, Art. 51 EUGrCh Rn. 11 f.; Thym, Vereinigt die Grundrechte!, JZ 2015, 53 (55). Wohl noch weitergehender EuGH, Urt. v. 26.2.2013 – C-617/10, ECLI:EU:C:2013:105 Rn. 19–31 – Åkerberg Fransson. 202 BVerfGE 123, 267 (351–353); 135, 317 (399); Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen, 2017, § 2 Rn. 218. 203 BVerfGE 140, 317 (334, 341). 204 BVerfGE 140, 317 (318). 205 Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen, 2017, § 2 Rn. 219. 206 BVerfGE 126, 286 (302–305); 134, 366 (382–384); 142, 123 (198–205); 154, 17 (90). Hierzu Lehner, Die „Integrationsverfassungsbeschwerde“ nach Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, Der Staat 52 (2013), 535 (542 f.); K. Schneider, Der Ultra-vires-Maßstab im Außenverfassungsrecht, AöR 139 (2014), 196 ff. 207 BVerfGE 154, 17 (83 f., 95). Siehe hierzu Calliess, Schriftliche Stellungnahme v. 23.5.2020, „Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 (2 BvR 859/15) in Sachen Staatsanleihekäufe der Europäischen Zentralbank“, Ausschussdrucks. 19(21)101 des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union des Deutschen Bundestages, https://www.bundestag.de/resource/blob/697584/69ec62de394a6348f992c1e092fa9f4b/cal
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Hinsichtlich der Überprüfbarkeit von Grundrechtsbeeinträchtigungen durch nicht deutsche Hoheitsakte ist das BVerfG mittlerweile großzügiger. Grundrechtsverstöße nicht deutscher Hoheitsakte können nur darauf gestützt werden, dass das erforderliche Schutzniveau der Grundrechte generell in der EU nicht (mehr) gewährleistet sei.208 Das BVerfG bringt dies mit folgenden Worten zum Ausdruck: „Ein deckungsgleicher Schutz in den einzelnen Grundrechtsbereichen des Grundgesetzes durch das europäische Gemeinschaftsrecht und die darauf fußende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist nicht gefordert. […] Sonach sind auch nach der Entscheidung des Senats in BVerfGE 89, 155 Verfassungsbeschwerden und Vorlagen von Gerichten von vornherein unzulässig, wenn ihre Begründung nicht darlegt, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nach Ergehen der Solange II-Entscheidung (BVerfGE 73, 339 [378–381]) unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken sei. Deshalb muss die Begründung der Vorlage eines nationalen Gerichts oder einer Verfassungsbeschwerde, die eine Verletzung in Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschaftsrecht geltend macht, im Einzelnen darlegen, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet ist. Dies erfordert eine Gegenüberstellung des Grundrechtsschutzes auf nationaler und auf Gemeinschaftsebene in der Art und Weise, wie das Bundesverfassungsgericht sie in BVerfGE 73, 339 (378–381) geleistet hat.“209
Dies erfordert vom Beschwerdeführer einen hohen Substanziierungsaufwand.210 Peter Michael Huber sieht die „generelle“ Gewährleistung wohl in der objektivrechtlichen Grundrechtsverbürgung.211 Eine Berührung von „Grundrechtsrüge“ und „Identitätsrüge“ kann sich in den Fällen ereignen, in denen der über Art. 79 III GG geschützte Art. 1 I GG betroffen ist. Dann setzt sich die „Identitätsrüge“ in dem Sinne durch, dass der Grundrechtsträger 208 lies-data.pdf (Stand: 10.8.2023); Gärditz, Glaubwürdigkeitsprobleme im Unionsverfassungsrecht, EuZW 2020, 505 ff.; Kainer, Aus der nationalen Brille: Das PSPP-Urteil des BVerfG, EuZW 2020, 533 ff.; Ludwigs, Scherbenhaufen oder Chance? Zwölf Thesen zum PSPP-Urteil des BVerfG vom 5.5.2020, EuZW 2020, 530 ff.; Masing, Verfassung im internationalen Mehrebenensystem, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 2 Rn. 113–117; T.M.J. Möllers, Das PSPP-Urteil des BVerfG und die Europäische Rechtsunion, EuZW 2020, 503 ff.; Siekmann, Gerichtliche Kontrolle der Käufe von Staatsanleihen durch das Eurosystem, EuZW 2020, 491 (497 f.); Simon/Rathke, „Schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ – Warum?, EuZW 2020, 500 ff. 208 BVerfGE 102, 147 (161–166). „Grundrechtsrüge“ nach Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen, 2017, § 2 Rn. 219. Siehe auch P.M. Huber, Rolle der Verfassungsgerichte in der europäischen Integration – Die Karlsruher Perspektive, in: FS E. Klein, 2013, S. 111 (117–120); Simon, Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im europäischen Integrationsprozess, 2016, S. 117–120. 209 BVerfGE 102, 147 (164). 210 Vgl. P.M. Huber, Rolle der Verfassungsgerichte in der europäischen Integration – Die Karlsruher Perspektive, in: FS E. Klein, 2013, S. 111 (120). 211 P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 183.
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nicht geltend machen muss, dass das Rechtsschutzniveau in der EU generell unter den Mindeststandard gefallen ist; ausreichend ist die Darlegung, dass die Grenzen der Verfassungsänderung überschritten würden.212 Die Positionierungen des BVerfG sind nicht ohne Kritik geblieben.213 Legt man die Rechtsprechung gleichwohl zugrunde, zeigt sich, dass das Grundgesetz nicht nur materiell-rechtliche Grenzen (Art. 79 III GG) aufstellen, sondern sie auch prozessual verarbeiten kann. Art. 79 III GG bildet – rechtlich – eine absolute Grenze, die auch im internationalen Kontext der europäischen Integration den Kern der Verfassungsordnung als eigenstaatliche Ordnung bewahren kann („Verfassungsidentität“). Tatsächlich kann die Grenze des Art. 79 III GG jedoch nicht sicherstellen, dass die europäischen Entwicklungen diese Grenze respektieren. Dies ist vorliegend von Interesse, da die europäische Integration auch außerhalb der (seltenen) vertraglichen Kompetenzerweiterungen durch eine „schleichende Ausuferung“ der EU-Kompetenzen gekennzeichnet ist.214 Mit Art. 23 I 3 i.V.m. Art. 79 III GG besteht somit eine absolute verfassungsrechtliche Grenze, die zudem Kumulationen erfassen kann, denn substanzielle Kompetenzen müssen auf der Ebene einer souveränen Bundesrepublik Deutschland verbleiben.215 Um dies beurteilen und sicherstellen zu können, muss – rein praktisch – eine Bestandsaufnahme erfolgen, welche Kompetenzen bereits auf EU-Ebene angesiedelt sind und welche auf der Ebene der Bundesrepublik verblieben sind. Hierbei ist denklogisch eine Erfassung der Kumulation vorzunehmen. Dass dies gelingen kann, hat das BVerfG im Lissabon-Urteil aufgezeigt. Zwar hat das Gericht dort ausgeführt, dass nicht „eine von vornherein bestimmbare Summe oder bestimmte Arten von Hoheitsrechten in der Hand des Staates bleiben müssten“.216 Aber es hat davon gesprochen, dass der Deutsche Bundestag eigene Aufgaben und Befugnisse von substanziellem politischem Gewicht behalten oder die ihm politisch verantwortliche Bundesregierung maßgeblichen Einfluss auf europäische Entscheidungsverfahren ausüben können müsse.217 „Als besonders sensibel“ hat es das „materielle und formelle Strafrecht (1), die Verfügung über das Gewaltmonopol polizeilich nach innen und militärisch nach außen (2), die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und – gerade auch sozialpolitisch motivierte – Aus212 Calliess, 70 Jahre Grundgesetz und europäische Integration: „Take back control“ oder „Mehr Demokratie wagen“?, NVwZ 2019, 684 (689 f.). Siehe zu diesem Verhältnis auch P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 185–191. 213 So von F.C. Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 19 EUV Rn. 85–91 (Stand: Februar 2019). 214 H.H. Klein, Integration und Verfassung, AöR 139 (2014), 165 (192). 215 BVerfGE 123, 267 (341, 356 f.). Hierzu Simon, Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im europäischen Integrationsprozess, 2016, S. 120–145. 216 BVerfGE 123, 267 (357). 217 BVerfGE 123, 267 (356).
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gaben der öffentlichen Hand (3), die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen (4) sowie kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen etwa im Familienrecht, Schul- und Bildungssystem oder über den Umgang mit religiösen Gemeinschaften (5)“ bezeichnet und von der Notwendigkeit einer sachlichen Begrenzung und Grenzziehung gesprochen.218 Auch wenn wegen der Vielgestaltigkeit der Übertragungsmöglichkeiten keine von vornherein bestimmbare Summe an Kompetenzen ermittelt werden kann, geht das Gericht dennoch davon aus, dass ein Punkt erreicht werden kann, ab welchem weitere Kompetenzübertragungen ausgeschlossen sind. Hierbei geht es um Quantität (Aufgaben und Befugnisse) und Qualität (substanzielles Gewicht).219 Dies belegt die Eignung des Art. 79 III GG, Maßnahmenkumulationen zu erfassen und diesen Grenzen zu setzen. Das ist genau das, was es auch im Falle der demokratischen Dekonsolidierung bedarf. c) Bedeutung für Art. 24 GG Art. 24 I GG gestattet zwar die Übertragung von Hoheitsrechten auf andere zwischenstaatliche Einrichtungen, ermächtigt aber nicht zu einer unbegrenzten Übertragung von Hoheitsrechten.220 Art. 79 III GG stellt hier ebenfalls eine äußerste Grenze dar,221 auch wenn dies im Wortlaut des Art. 24 GG anders als bei Art. 23 I 3 GG nicht deutlich zum Ausdruck kommt. Die Grundgedanken des Europa-Artikels (Art. 23 GG) sind aber auch auf Art. 24 GG übertragbar.222 Wegen der im Vergleich zur EU weniger intensiven Verflechtung mit der deutschen Rechtsordnung und der geringeren Einwirkung auf die deutsche Rechtsordnung haben sich hinsichtlich Art. 24 GG aber keine besonderen Rügemechanismen etabliert, die mit denjenigen im Zusammenhang mit Art. 23 GG vergleichbar sind. d) Südafrikanisches Verfassungsrecht Die Republik Südafrika wirkt nicht bei einer der europäischen Integration vergleichbar intensiven supranationalen Integration mit. Zwar ist Südafrika 218
BVerfGE 123, 267 (359). Hierauf wird bei der handhabbaren Bestimmung des Wesensgehalts zurückzukommen sein, siehe unten D. III. 2. a), E. II. 1. a) bb), E. II. 2. a) cc). 220 Wollenschläger, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 24 Rn. 40. Umfassend zu dieser Diskussion sowohl vor und nach Neufassung des Art. 23 GG: Calliess, in: Dürig/ Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Dezember 2016), Art. 24 Abs. 1 Rn. 76–218. 221 Vgl. BVerfGE 68, 1 (96). Explizit Calliess, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Dezember 2016), Art. 24 Abs. 1 Rn. 215; Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 24 Rn. 28; Wollenschläger, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 24 Rn. 40 f. 222 Calliess, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Dezember 2016), Art. 24 Abs. 1 Rn. 215; Wollenschläger, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 24 Rn. 41. 219
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Mitglied der „Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrikas“ (englisch: Southern African Development Community – SADC), welche das Ziel einer wirtschaftlichen und politischen Integration im südlichen Afrika verfolgt. Aber die Integration ist keineswegs so eng und fortgeschritten wie die Integration Deutschlands in der EU223 und die Frage der Übertragung von Hoheitsrechten auf überstaatliche Hoheitsträger hat dort keine vergleichbare Relevanz.224 Verfassungsänderungen in Südafrika werden deshalb allein im nationalstaatlichen Kontext relevant. Die südafrikanische Verfassung wurde seit ihrer Entstehung im Jahre 1996 insgesamt 17 Mal geändert. Zwar enthält sie Regelungen zu Verfassungsänderungen in Art. 74 FC, sie enthält aber keine Ewigkeitsklausel. Stattdessen werden bestimmte Vorschriften, die als besonders sensibel angesehen werden, durch das Erfordernis eines höheren Quorums besonders geschützt. So können beispielsweise die Vorschrift des Art. 74 FC selbst, der die Vorschriften zur Verfassungsänderung enthält, sowie Art. 1 FC225 nur geändert werden, wenn 75% der Mitglieder der National Assembly zustimmen und der National Council of Provinces mit mindestens sechs der neun Provinzen zustimmt (Art. 74(1) FC). Das zweite Kapitel der Verfassung (Bill of Rights, Grundrechtskatalog) kann geändert werden, wenn zwei Drittel der Mitglieder der National Assembly zustimmen und der National Council of Provinces mit mindestens sechs der neun Provinzen zustimmt (Art. 74(2) FC). Für sonstige Verfassungsänderungen ist zwar ebenfalls eine Zweidrittelmehrheit in der National Assembly erforderlich, nicht aber im National Council of Provinces, es sei denn, dass dieser selbst oder Angelegenheiten der Provinzen betroffen sind (Art. 74(3) FC).226 Allerdings kennt die südafrikanische Verfassung weitere Bestimmungen, welche Verfassungsänderungen erschweren oder verzögern können. Nach Art. 74(4) FC dürfen Vorlagen, die auf eine Verfassungsänderung gerichtet sind, lediglich Bestimmungen enthalten, die auf die Verfassungsänderung abzielen oder damit in Zusammenhang stehen. Mindestens 30 Tage, bevor eine verfassungsändernde Vorlage bei der National Assembly eingebracht wird, müssen gewisse Publikations- und Verfahrenserfordernisse nach Art. 74(5)(a) bis (c), 74(6), Art. 74(7) FC eingehalten werden, welche einen Schutz vor Übereilung sowie die hinreichende Information der Öffentlichkeit und der gesetzgebenden Körperschaften sicherstellen sollen.
223 Muntschick, Regionalismus und Externer Einfluss: Stört die Europäische Union die Regionale Marktintegration im Südlichen Afrika?, PVS 2013, 686 (692–706). 224 Vgl. Masing, Verfassung im internationalen Mehrebenensystem, in: Herdegen/ Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 2 Rn. 108. 225 Siehe hierzu unten C. III. 1. d). 226 Siehe hierzu Klug, The Constitution of South Africa, 2010, S. 170–172.
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Zwar handelt es sich auch hierbei um Vorschriften, die den Verfassungscharakter wahren sollen, indem sie bestimmte Änderungen deutlich erschweren. Aber es handelt sich anders als im Falle des Art. 79 III GG nicht um absolute, unüberwindbare Hürden. e) Zwischenergebnis Art. 79 III GG bezweckt mit seinem Veränderungsverbot den Schutz und die Beibehaltung grundlegender Staatsstrukturprinzipien, der Eigenstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland und der Menschenwürde. Hierbei dürfte es sich um den – rechtlich – stärkstmöglichen Schutz handeln, den die Verfassung zu errichten vermag. Auch wenn Art. 79 III GG rechtlich eine absolute Grenze für Verfassungsänderungen errichtet, ist dieser Schutz faktisch dennoch nicht absolut oder garantiert, denn die verfassungsgebende Gewalt lässt sich durch Art. 79 III GG nicht beschränken. Allerdings birgt die Ewigkeitsklausel auch Risiken. Erstens kann sie die Verfassungsneuschöpfung herausfordern, wenn der Weg einer Verfassungsänderung versperrt ist. Hierdurch können gravierendere Veränderungen als bei einer bloß punktuellen Verfassungsänderung entstehen.227 Zweitens können auftretende Konflikte, wenn die Verfassung mit der Ewigkeitsklausel bestimmte Werte für unantastbar und zur Verfassungsidentität erklärt, nicht durch Kompromiss gelöst werden228 und sich damit zu einem Grundsatzstreit verhärten. Die Untersuchung zum Konzept des antizipativen Staats ist noch nicht abgeschlossen, jedoch konnte im Zusammenhang mit dem besonders bedeutsamen Art. 79 III GG gezeigt werden, dass das Grundgesetz eine bestimmte Form der Verfassung (Bundesrepublik Deutschland als souveräner Staat mit den charakteristischen Merkmalen Bundesstaatlichkeit, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Demokratie sowie der Gewährleistung des Art. 1 GG) so weit wie möglich schützt und absolute Grenzen zieht. Nicht nur einzelne Verfassungsänderungen sind unzulässig, was das BVerfG verbindlich feststellen kann, auch Kumulationen von Verfassungsänderungen werden erfasst. Hierauf kommt es bei dem Umgang mit der demokratischen Dekonsolidierung an. Wegen des besonderen Rangs des Art. 79 GG ist dies ein beachtlicher Zwischenschritt bei der Begründung des antizipativen Charakters des Grundgesetzes.
227
Hierzu Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 79 Rn. 26. Hierzu U.K. Preuß, The Implications of „Eternity Clauses“: The German Experience, Israel Law Review 44 (2011), 429 (446 f.). 228
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2. Berufsbeamtentum, Art. 33 IV, V GG Auf den ersten Blick vermittelt Art. 33 IV, V GG den Eindruck bloßer Organisations- und Zuständigkeitsregelungen und scheint im Zusammenhang mit der demokratischen Dekonsolidierung unbeachtlich zu sein. Regelmäßig soll Beamtinnen und Beamten die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse als ständige Aufgabe übertragen werden (Art. 33 IV GG), wobei das Recht „unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln“ ist (Art. 33 V GG). Art. 33 V GG enthält aber nicht nur einen Regelungsauftrag an den Gesetzgeber, sondern auch die institutionelle Garantie229 des Berufsbeamtentums,230 die nur durch eine Verfassungsänderung aufgehoben werden könnte.231 Geschützt wird aber nicht das gesamte Beamtenrecht, sondern das Berufsbeamtentum mit denjenigen Regelungen, „die das Bild des Berufsbeamtentums in seiner überkommenen Gestalt maßgeblich prägen, sodass ihre Beseitigung das Berufsbeamtentum als solches antasten würde“.232 Ebenso ist vom „Kernbestand der Strukturprinzipien“233 bzw. dem „Kern der institutionellen Garantie aus Art. 33 Abs. 5 GG“234 die Rede. Bereits dieser Wortlaut deutet auf einen besonderen Schutz des Kerns des Berufsbeamtentums hin. Im Zusammenhang mit der demokratischen Dekonsolidierung ist die Aufgabe des Berufsbeamtentums relevant. Es soll „eine stabile Verwaltung sichern und damit einen ausgleichenden Faktor gegenüber den das Staatswesen gestaltenden Kräften bilden“.235 Dies gilt gerade in Krisenzeiten.236 Deshalb ist der einzelne Beamte oder die einzelne Beamtin nicht Diener einer Partei237 oder eines Herrschers238, sondern dem Allgemeinwohl verpflichtet. Dies wird im 229
Siehe hierzu unten C. III. 6. g). BVerfGE 117, 330 (344); 119, 247 (260); 148, 296 (345); 155, 1 (12 f.). 231 Kunig, Das Recht des öffentlichen Dienstes, in: Schoch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2013, 6. Kap. Rn. 33. 232 BVerfGE 148, 296 (345) – unter Weglassung der weiteren Nachweise. 233 BVerfGE 148, 296 (346). 234 BVerfGE 148, 296 (347). 235 BVerfGE 148, 296 (345). Ähnlich auch BVerfGE 7, 155 (162); 56, 146 (162); 119, 247 (260 f.); 148, 296 (367). 236 BVerfGE 39, 334 (347); 148, 296 (367). Um die Krisensicherheit zu gewährleisten, besteht auch das Streikverbot für Beamte, C. Schubert, Das Streikverbot für Beamte und das Streikrecht aus Art. 11 EMRK im Konflikt, AöR 137 (2012), 92 (115). Siehe auch A.B. Kaiser, Streikrecht für Beamte – Folge einer Fehlrezeption?, AöR 142 (2017), 417 ff. 237 So Art. 130 I WRV: „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei.“ Nunmehr § 60 I 1 BBG: „Beamtinnen und Beamte dienen dem ganzen Volk, nicht einer Partei.“ 238 So aber der Ursprung des modernen Beamtentums, vgl. BVerfGE 148, 296 (345); Kunig, Das Recht des öffentlichen Dienstes, in: Schoch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2013, 6. Kap. Rn. 16 f.; Rudolf, „Verfassungsfeinde“ im öffentlichen Dienst, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 209 (212–217). 230
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Rahmen der hergebrachten Grundsätze u.a. über die Treuepflicht verfassungsrechtlich abgesichert.239 Das BVerfG bringt sie mit folgenden Worten zum Ausdruck: „Der Beamte ist dem Allgemeinwohl und damit zur uneigennützigen Amtsführung verpflichtet und hat bei der Erfüllung der ihm anvertrauten Aufgaben seine eigenen Interessen zurückzustellen.“240
Der Treuepflicht kommt auch im modernen Verwaltungsstaat besondere Bedeutung zu, denn die „sachgerechte und effiziente Aufgabenwahrnehmung“ ist auf „eine intakte, loyale, pflichttreue, dem Staat und seiner verfassungsmäßigen Ordnung innerlich verbundene Beamtenschaft angewiesen“.241 Ausprägungen der Treuepflicht sind u.a. die allgemeine Pflicht zur Rücksichtnahme242, die Gehorsamspflicht243 sowie die Pflicht zur vollen Hingabe an das Amt244. Eine wichtige Ausprägung der Treuepflicht ist die Treue zur Verfassung. In der Weimarer Republik fehlte es nicht nur allgemein in der Bevölkerung, sondern auch in der Beamtenschaft an Unterstützung für die Demokratie.245 Deshalb wird unter der Geltung des Grundgesetzes die Verfassungstreue, die alle Länder und der Bund als Einstellungsvoraussetzung in den Beamtengesetzen formuliert haben (pars pro toto § 7 I Nr. 2 BBG246), verlangt.247 Fehlt es an ihr, mangelt es auch an der Eignung nach Art. 33 II GG.248 Stellt sich die fehlende Verfassungstreue erst nach der Verbeamtung heraus oder tritt sie erst nach der 239 Hierzu Hufen, Die politische Treuepflicht der Beamten (Art. 33 IV und V GG), JuS 2023, 521 ff.; Isensee, Beamtenstreik, 1971, S. 48–52. Zur einfachrechtlichen Absicherung siehe Rudolf, „Verfassungsfeinde“ im öffentlichen Dienst, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 209 (210 f.). 240 BVerfGE 148, 296 (347). 241 BVerfGE 148, 296 (347). Ähnlich bereits BVerfGE 39, 334 (347). Die folgenden Ausführungen gelten für Beamte. Richter und Soldaten werden zwar nicht als Beamte im Sinne des Art. 33 IV GG angesehen, aber die Grundsätze des Art. 33 V GG gelten auch für diese. Vgl. auch Rudolf, „Verfassungsfeinde“ im öffentlichen Dienst, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 209 (223). 242 BVerfGE 3, 58 (157). 243 BVerfGE 9, 268 (286). 244 BVerfGE 148, 296 (365, 367). 245 Jasper, Der Schutz der Republik, 1963, S. 212. Hierzu und zur Beamtenschaft in der Weimarer Republik allgemein vgl. Morsey, Beamtenschaft und Verwaltung zwischen Republik und „Neuem Staat“, in: Erdmann/Schulze (Hrsg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, 1980, S. 151 ff. 246 „In das Beamtenverhältnis darf berufen werden, […] wer die Gewähr dafür bietet, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes einzutreten […].“ 247 Hierzu BVerfGE 39, 334 (346–349); BVerwGE 160, 370 (373–379). Siehe auch W. Leisner, Legitimation des Berufsbeamtentums aus der Aufgabenerfüllung, 1988, S. 96– 107. 248 BVerfGE 92, 140 (151); 96, 171 (180 f.) – jeweils allgemein für den öffentlichen Dienst; BVerwGE 160, 370 (375) – in Bezug auf einen Landesbeamten.
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Verbeamtung ein, kann der Beamte im Wege des Disziplinarverfahrens aus dem Beamtenverhältnis entfernt werden.249 § 60 I 3 BBG verlangt, dass „Beamtinnen und Beamte […] sich durch ihr gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen und für deren Erhaltung eintreten“. Ein nach außen tretendes Verhalten, das hiermit nicht vereinbar ist, kann das nach § 2 DiszG erforderliche Dienstvergehen i.S.d. § 77 I BBG darstellen.250 In seiner Entscheidung zum RadikalenErlass hat das BVerfG ausgeführt: „Gemeint ist vielmehr die Pflicht zur Bereitschaft, sich mit der Idee des Staates, dem der Beamte dienen soll, mit der freiheitlichen demokratischen, rechts- und sozialstaatlichen Ordnung dieses Staates zu identifizieren. Dies schließt nicht aus, an Erscheinungen dieses Staates Kritik üben zu dürfen, für Änderungen der bestehenden Verhältnisse – innerhalb des Rahmens der Verfassung und mit den verfassungsrechtlich vorgesehenen Mitteln – eintreten zu können, solange in diesem Gewand nicht eben dieser Staat und seine verfassungsmäßige Grundlage in Frage gestellt werden. An einer ‚unkritischen‘ Beamtenschaft können Staat und Gesellschaft kein Interesse haben. Unverzichtbar ist aber, daß der Beamte den Staat – ungeachtet seiner Mängel – und die geltende verfassungsrechtliche Ordnung, so wie sie in Kraft steht, bejaht, sie als schützenswert anerkennt, in diesem Sinne sich zu ihnen bekennt und aktiv für sie eintritt. Der Beamte, der dies tut, genügt seiner Treuepflicht und kann von diesem Boden aus auch Kritik äußern und Bestrebungen nach Änderungen der bestehenden Verhältnisse – im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung und auf verfassungsmäßigen Wegen! – unterstützen. Das Entscheidende ist, daß die Treuepflicht gebietet, den Staat und seine geltende Verfassungsordnung, auch soweit sie im Wege einer Verfassungsänderung veränderbar ist, zu bejahen und dies nicht bloß verbal, sondern insbesondere in der beruflichen Tätigkeit dadurch, daß der Beamte die bestehenden verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorschriften beachtet und erfüllt und sein Amt aus dem Geist dieser Vorschriften heraus führt. Die politische Treuepflicht – Staats- und Verfassungstreue – fordert mehr als nur eine formal korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung; sie fordert vom Beamten insbesondere, daß er sich eindeutig von Gruppen und Bestrebungen distanziert, die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren. Vom Beamten wird erwartet, daß er diesen Staat und seine Verfassung als einen hohen positiven Wert erkennt und anerkennt, für den einzutreten sich lohnt. Politische Treuepflicht bewährt sich in Krisenzeiten und in ernsthaften Konfliktsituationen, in denen der Staat darauf angewiesen ist, daß der Beamte Partei für ihn ergreift. Der Staat – und das heißt hier konkreter, jede verfassungsmäßige Regierung und die 249 BVerwGE 160, 370 (375). Derzeit wird eine Verschärfung des Disziplinarrechts beraten. Hierfür hat die Bundesregierung einen „Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung von Disziplinarverfahren in der Bundesverwaltung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften“ eingebracht (BT-Drs. 20/6435), der aber noch nicht beschlossen ist (Stand: 10.8.2023). Siehe zum Referentenentwurf Herrmann, Herausforderung des Dienstund Disziplinarrechts durch Verfassungsfeinde, NVwZ 2023, 128 ff. 250 Siehe hierzu – aber unter Anwendung des BeamtStG auf einen Landesbeamten – BVerwGE 160, 370 ff.
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Bürger – muß sich darauf verlassen können, daß der Beamte in seiner Amtsführung Verantwortung für diesen Staat, für ‚seinen‘ Staat zu tragen bereit ist, daß er sich in dem Staat, dem er dienen soll, zu Hause fühlt – jetzt und jederzeit und nicht erst, wenn die von ihm erstrebten Veränderungen durch entsprechende Verfassungsänderungen verwirklicht worden sind.“251
Diese Rechtsprechung sieht sich der Kritik ausgesetzt, weil aus ihr nicht erkennbar hervorgeht, welches Verhalten der Beamte schuldet.252 Teils wird auf den „Staat und seine verfassungsmäßige Grundlage“ abgehoben, dann wieder auf „die geltende verfassungsrechtliche Ordnung“ oder „den Staat und seine geltende Verfassungsordnung, auch soweit sie im Wege einer Verfassungsänderung veränderbar ist“. Das Schutzgut wird noch weiter gefasst, wenn es heißt, dass „der Beamte die bestehenden verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorschriften“ und damit die gesamte Rechtsordnung beachten und erfüllen muss. Diese Rechtsprechung ist aber eine weitere Reaktion auf die anders gelagerten Verhältnisse in der Weimarer Republik. Damals entschied beispielsweise das Preußische OVG, dass die disziplinarische Bestrafung eines Beamten selbst dann nicht möglich sei, wenn er einer Partei angehörte, welche auf den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Staatsordnung abzielte; als erforderlich für eine Sanktion wurden eigene positive Handlungen des Beamten in diese Richtung angesehen.253 Die loyale Aufgabenerfüllung wird nicht nur durch die Verfassungstreue als Einstellungsvoraussetzung, sondern auch durch das Lebenszeitprinzip und das Alimentationsprinzip sichergestellt, wonach der Beamte auf Lebenszeit tätig ist und hierfür amtsangemessen alimentiert wird. Dies soll den Beamten in eine rechtlich und wirtschaftlich gesicherte Position versetzen, die ihm die Einhaltung der Treuepflicht ermöglicht.254 Erst die rechtliche und die wirtschaftliche Sicherheit „bieten die Gewähr dafür, dass das Berufsbeamtentum zur Erfüllung der ihm vom Grundgesetz zugewiesenen Aufgabe, im politischen Kräftespiel eine stabile, gesetzestreue Verwaltung zu sichern, beitragen kann“.255 Aus dem Zusammenspiel der hergebrachten Grundsätze bildet sich der besondere Charakter des Beamtenverhältnisses als Bündel von Rechten und Pflichten.256 Dies belegt die Bedeutung einer loyalen Beamtenschaft, um nicht der demokratischen Dekonsolidierung ausgeliefert zu sein. Die Relevanz der verfas251
BVerfGE 39, 334 (347–349) – Hervorhebungen nicht im Original. Rudolf, „Verfassungsfeinde“ im öffentlichen Dienst, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 209 (231–238, insbes. 231 f., 236 f.) m.w.N. Siehe auch A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 293–295. 253 PrOVGE 77, 493 (494 f.). 254 BVerfGE 148, 296 (347). 255 BVerfGE 148, 296 (347), so für das Alimentationsprinzip auf S. 348. So bereits BVerfGE 121, 205 (221) m.w.N. 256 Vgl. BVerfGE 155, 1 (13 f.). 252
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sungstreuen Verwaltung in personeller Hinsicht, gerade auch in Krisenzeiten, sieht das Grundgesetz und etabliert als Lösung das bestehende Berufsbeamtentum. Hierdurch wird zumindest rechtlich die Gewährleistung einer verfassungstreuen Beamtenschaft sichergestellt. Die Bestrebungen in Polen und Ungarn, politische Anhänger in die staatlichen Schlüsselpositionen zu bringen, zeigt die praktische Bedeutung der Staatsdiener für die Verfassungsordnung. Die anfänglich fehlende oder später verlorene Verfassungstreue bei einzelnen Beamten wird in der Bundesrepublik antizipiert, und rechtliche Lösungen zum Umgang hiermit enthält das Grundgesetz. Das ist Antizipation, wie sie hier verstanden wird. Auch im Zusammenhang mit der demokratischen Dekonsolidierung kann die Sicherstellung der Verfassungstreue in personeller Hinsicht Bedeutung erlangen.
3. Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, Art. 28 II GG Art. 28 II GG ist die zentrale Vorschrift zur Stellung der Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland.257 Sie wird durch die Aufgabenübertragungsverbote der Art. 84 I 7, Art. 85 I 2 GG, die Regelung zur Erhebung der Kommunalverfassungsbeschwerde in Art. 93 I Nr. 4b GG sowie durch finanzverfassungsrechtliche Vorgaben ergänzt. Art. 28 II 1 GG enthält die Garantie kommunaler Selbstverwaltung und entspricht staatsrechtlicher Tradition.258 Die Garantie verlangt dreierlei: die Existenz von Gemeinden als juristische Personen des öffentlichen Rechts (institutionelle Rechtssubjektsgarantie), die Gewährleistung der Erledigung von kommunalen Aufgaben unter kommunaler Eigenverantwortung (objektive Rechtsinstitutionsgarantie) und schließlich die Rechtsschutzmöglichkeiten der Gemeinde (subjektive Rechtsstellungsgarantie).259 Nach der Rechtsprechung bedarf die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung der gesetzlichen Ausgestaltung und Formung.260 Grenzen der gesetzgeberischen Befugnis setzt aber der „Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie“261, denn „hiernach darf der Wesensgehalt der gemeindlichen Selbstverwaltung nicht ausgehöhlt werden“.262 Diese terminologische Verbindung zwischen Wesensgehaltsgarantie 257 Lange, Kommunalrecht, 2. Aufl. 2019, Kap. 1 Rn. 2 spricht von dem „etwas verwitterte[n] […] Fundament des Gemeinderechts in der Bundesrepublik“, siehe auch Rn. 7–15. 258 Aust, Das Recht der globalen Stadt, 2017, S. 79 f. 259 Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 409. Lange, Kommunalrecht, 2. Aufl. 2019, Kap. 1 Rn. 3 nennt das Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln, auch „institutionelle Garantie gemeindlicher Selbstverwaltung im engeren Sinne“. 260 BVerfGE 79, 127 (143). 261 BVerfGE 79, 127 (143). 262 BVerfGE 79, 127 (143). Siehe hierzu Lange, Kommunalrecht, 2. Aufl. 2019, Kap. 1 Rn. 91–99.
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und kommunaler Selbstverwaltungsgarantie wird noch bemerkenswerter, wenn spätere Entscheidungen des BVerfG herangezogen werden, in denen von einem „unantastbaren Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie“ die Rede war.263 Das Wort „antasten“ (einschließlich seiner Beugungsformen bzw. darauf beruhender Adjektive) findet sich nur an zwei Stellen im Grundgesetz: Erstens erklärt Art. 1 I 1 GG die Menschenwürde für unantastbar, zweitens bestimmt Art. 19 II GG, dass in keinem Falle ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden dürfe. Allerdings unterscheidet das BVerfG – wenn auch nur obiter dictum – zwischen dem Kernbereich und dem Wesensgehalt der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie.264 Indes kommt es für die Zwecke dieser Arbeit nicht darauf an, wo die Grenze des Kernbereichs der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie verläuft und ob es innerhalb des Kernbereichs noch einen Wesensgehaltsbereich gibt.265 Entscheidend ist, dass das BVerfG von der Möglichkeit der Abgrenzung ausgeht. Wenn dies hier – und auch anderen Stellen – gelingt, überzeugt der Einwand,266 dass die Ermittlung des Wesensgehalts so schwierig sei, weniger. Überdies kommt der gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie eine bestimmte Funktion im Staatsaufbau zu, welche der Gesetzgeber zu berücksichtigen hat.267 Das BVerfG hat in seiner Rastede-Entscheidung die Gemeinde als „Keimzelle der Demokratie“ bezeichnet und sie als Antwort auf zentralistische Tendenzen der NS-Zeit angesehen.268 Der Gemeinde hätte der Verfassungsgeber eine Aufgabe der Demokratiebildung von unten nach oben zugedacht und diesem Ansatz am ehesten zugetraut, „diktaturresistent“ zu sein.269 Hiermit und als Kompensation für die „Zurückhaltung“ des Grundgesetzes bei der Gewährung unmittelbar demokratischer Elemente auf Bundesebene begründet das BVerfG270 die Allzuständigkeit271 der Gemeinden. Aus diesen 263
BVerfGE 103, 332 (365 f.) – Hervorhebung nicht im Original. BVerfGE 103, 332 (366). 265 Siehe hierzu mokant Storost, Die Kernbereichslehre in verfassungsgeschichtlicher und verfassungssystematischer Sicht – oder: Ein Beitrag zur Dogmatik der theoretischen Konkordanz, GS Nagelmann, 1984, S. 461 (464–467). 266 Z.B. der Einwand des BGH, VerwRspr 1956, 98 (104), wonach es eine unmögliche Aufgabe sei, bei jedem Grundrecht „in einer Art von Wesensschau jeweils zu ermitteln, wieweit ein Grundrecht jeweils eingeschränkt werden könne, ohne sein ,Wesen‘ zu verlieren“ oder die wenig lösungsorientierte Aussage, dass das Wesen des Wesens unbekannt sei, Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 59 f. Siehe hierzu ausführlich unter D. I. 2. und D. III.–D. III. 1. c). 267 BVerfGE 79, 127 (143). 268 BVerfGE 79, 127 (149). Siehe hierzu auch Maurer, Verfassungsrechtliche Grundlagen der kommunalen Selbstverwaltung, DVBl. 1995, 1037 (1037 f.). 269 BVerfGE 79, 127 (149). 270 BVerfGE 79, 127 (149 f.). 271 BVerfGE 56, 298 (312); 83, 37 (54); Mehde, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: November 2012), Art. 28 Abs. 2 Rn. 50. 264
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Gründen attestiert Hartmut Maurer dem vierstufigen Verwaltungsaufbau mit den Gemeinden als Basis eine gewaltenteilende Funktion.272 Klaus Lange hebt die demokratische und freiheitssichernde Funktion der gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie hervor.273 Die Gemeinden haben somit eine demokratische und rechtsstaatliche Funktion, die auch als Reaktion auf die nationalsozialistische Willkürherrschaft zwar nicht grundlegend neu konzipiert wurde, aber wieder274 eingeführt wurde. Dies bestätigt den bisherigen Befund, wonach das Grundgesetz ein Abgleiten in die Diktatur verhindern will und eine solche Gefahr sieht, dieser aber rechtliche Regeln entgegensetzt. Neben dem Berufsbeamtentum wird mit den Gemeinden ein weiterer Teil der Staatsorganisation als Schutz vor demokratischer Dekonsolidierung etabliert. Überdies ist im Zusammenhang mit den Gemeinden auch von einem absoluten Kernbereichsschutz die Rede. Außerdem spricht das Verfassungsrecht der Gemeinden für die Möglichkeit der Erfassung von Kumulationen, denn es ist die Gefahr der Erosion kommunaler Selbstverwaltung auszumachen.275 „Erosion“ bedeutet hierbei, dass Stück für Stück Befugnisse der Gemeinden auf andere Stellen im Verwaltungsaufbau übertragen, neue zusätzlich zu erfüllenden Aufgaben aufgebürdet oder ressourcenbindende Vorgaben gemacht und benötigte Finanzmittel gestrichen werden. Dies führt jeweils für sich und erst recht in der Addition zu einem Verlust an Selbstverwaltungsmöglichkeiten.276 Die Parallele zur Kumulation von Maßnahmen bei der demokratischen Dekonsolidierung drängt sich auf, auch wenn der „Erosion“ keine demokratiefeindliche Absicht zu unterstellen ist. Sie könnte aber zur demokratischen Dekonsolidierung eingesetzt werden und die demokratieförderliche Grundkonzeption der Selbstverwaltung der Gemeinden hierdurch gezielt geschwächt werden. In Südafrika definiert Art. 152(1) FC die Ziele der Kommunalverwaltung, wozu nach lit. a) die „Bereitstellung einer demokratischen und rechenschaftspflichtigen Regierung für lokale Gemeinschaften“ gehört. Allerdings stellt Art. 152(2) FC die Ziele unter einen Vorbehalt des (auch finanziell) Möglichen. Die Gemeinden in Südafrika können sich zumindest nominell nicht auf einen der deutschen Allzuständigkeit vergleichbaren Rechtstitel stützen. Aber 272 Maurer, Verfassungsrechtliche Grundlagen der kommunalen Selbstverwaltung, DVBl. 1995, 1037 (1037 f.). 273 Lange, Kommunalrecht, 2. Aufl. 2019, Kap. 1 Rn. 26, 28. 274 Bereits in der konstitutionellen Monarchie hatte die Selbstverwaltungsgarantie erste demokratische Ansätze, was zu einer gewissen Distanzierung von Staat und Gemeinden führte. Auch wenn diese – zugespitzte – Gegenüberstellung von „Staat“ und „Gemeinde“ in der Demokratie ihre Berechtigung verloren hat, sind die historischen Erkenntnisse im Zusammenhang mit der demokratischen Dekonsolidierung weitere wichtige Mosaikstücke, vgl. Aust, Das Recht der globalen Stadt, 2017, S. 82 f. 275 Engels, Die Verfassungsgarantie kommunaler Selbstverwaltung, 2014, S. 5–17. 276 Vgl. BVerfGE 155, 310 (332–334).
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auch die südafrikanische Verfassung gewährt ihnen originäre Rechte, sie sind nicht von legislativen Kompetenzzuweisungen abhängig. Dies stellt eine Abkehr von dem während der Apartheid geltenden Prinzip der Parlamentssouveränität dar.277 Aus der Abkehr von dem Rechtszustand während der Apartheid sowie dem ausdrücklich geregelten Ziel, eine demokratische Regierung auf lokaler Ebene zu verankern, kann geschlussfolgert werden, dass auch die Gemeinden in Südafrika ihrer Rechtsstellung nach demokratiefördernd sein sollen.
4. Richteranklage, Art. 98 II GG Richter sind zwar keine Beamten,278 aber auch sie müssen verfassungstreu sein. Fehlt die Verfassungstreue, erleichtert dies die demokratische Dekonsolidierung. Im Hinblick auf die Entfernung von Richtern aus dem Dienst gilt Art. 98 II GG. Diese Vorschrift regelt das sog. Richteranklageverfahren. Sie lautet: „1Wenn ein Bundesrichter im Amte oder außerhalb des Amtes gegen die Grundsätze des Grundgesetzes oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung eines Landes verstößt, so kann das Bundesverfassungsgericht mit Zweidrittelmehrheit auf Antrag des Bundestages anordnen, daß der Richter in ein anderes Amt oder in den Ruhestand zu versetzen ist. 2Im Falle eines vorsätzlichen Verstoßes kann auf Entlassung erkannt werden.“279
Art. 98 V 1 GG gestattet den Ländern, eine vergleichbare Regelung für die Landesrichter zu treffen. Die den Art. 98 II GG konkretisierenden Bestimmungen finden sich in § 13a Nr. 10, §§ 58 bis 62 BVerfGG. Bislang ist die Bestimmung praktisch nicht relevant geworden.280 Geschützt werden sollen „die Grundsätze des Grundgesetzes“ und „die verfassungsmäßige Ordnung eines Landes“. Der Begriff „Grundsätze des Grundgesetzes“ findet sich an keiner anderen Stelle im Grundgesetz, er wird aber synonym mit „freiheitlicher demokratischer Grundordnung“ verstan-
277
CC, 29.11.2004 – CCT/19/04 Rn. 53–60 (Moseneke) – City of Cape Town and Another v. Robertson and Other, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2004/21.html (Stand: 10.8.2023). Siehe hierzu auch de Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 295–297. 278 Wysk, Die Rechtsprechung, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. II, 2. Aufl. 2022, § 51 Rn. 48. 279 Siehe zur Entstehungsgeschichte, v. Doemming, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 723–733; C. Hillgruber, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: September 2022), Art. 98 Rn. 1–17, insbes. 10–17. 280 Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 98 Rn. 7; Detterbeck, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 98 Rn. 12; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. III, 3. Aufl. 2018, Art. 98 Rn. 40.
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den281 und als weiterer Ausdruck der noch zu erörternden wehrhaften Demokratie angesehen.282 Nicht hierunter fällt die Entlassung aus dem Richterdienst wegen jahrelanger Arbeitsverweigerung.283 Angesichts der Ablehnung, welcher der Weimarer Republik in der Beamtenschaft284 und der Justiz285 entgegengeschlagen war, sollte mit der Richteranklage die Möglichkeit geschaffen werden, „die dienstliche und außerdienstliche Verfassungstreue der Richter“286, ihre „demokratische Zuverlässigkeit“287 zu gewährleisten. Die Vorschrift unternimmt den Versuch, die konfligierenden Ziele der richterlichen Unabhängigkeit288 einerseits und der Sicherstellung einer verfassungstreuen Richterschaft andererseits miteinander in Einklang zu bringen. Damit wird die Gefahr von Angriffen auf die Demokratie von innen durch unabhängige Richter (Art. 97 I, II GG), die nur erschwert aus dem Dienst entfernt werden können, gesehen. Art. 98 II GG soll auf der einen Seite ein Korrektiv bereithalten, um etwaigen extremen Angriffen begegnen zu können. Auf der anderen Seite sind die verfahrensrechtlichen Vorkehrungen stark, um die Entfernung missliebiger Richter aus politischen oder anderen unzulässigen Gründen zu verhindern. Denn auch die richterliche Unabhängigkeit wird gegen eine demokratische Dekonsolidierung benötigt. Nach Ermittlungen wegen des Verdachts eines Umsturzversuchs u.a. gegen eine Richterin (und zugleich ehemalige Bundestagabgeordnete)289 sowie wegen rechtsextremer 281 BVerfGE 28, 36 (48); Haratsch, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 98 Rn. 7; C. Hillgruber, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: September 2022), Art. 98 Rn. 35; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. III, 3. Aufl. 2018, Art. 98 Rn. 36. 282 BVerfGE 28, 36 (48 f.); Haratsch, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 98 Rn. 1; C. Hillgruber, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: September 2022), Art. 98 Rn. 35. Siehe ausführlicher zur wehrhaften Demokratie unten C. IV. 1.–C. IV. 1. e). 283 Zu einem solchen Fall BGH (Dienstgericht des Bundes), Urt. v. 4.5.2023 – RiSt 1/21, BeckRS 2023, 13485. 284 Siehe hierzu oben C. III. 2. Vgl. auch Morsey, Beamtenschaft und Verwaltung zwischen Republik und „Neuem Staat“, in: Erdmann/Schulze (Hrsg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, 1980, S. 151 ff.; Rudolf, „Verfassungsfeinde“ im öffentlichen Dienst, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 209 (214 f.). 285 Vgl. Hattenhauer, Zur Lage der Justiz in der Weimarer Republik, in: Erdmann/ Schulze (Hrsg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, 1980, S. 169 (169–171). 286 C. Hillgruber, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: September 2022), Art. 98 Rn. 34. 287 Parlamentarischer Rat zitiert nach C. Hillgruber, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: September 2022), Art. 98 Rn. 34. 288 Siehe hierzu Sodan, Der Status des Richters, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 113 Rn. 19–35. 289 LTO-Redaktion, Inhaftierte Richterin und mutmaßliche Reichsbürgerin: MalsackWinkemann vorläufig des Dienstes enthoben, in: Legal Tribune Online, 16.3.2023, https:// www.lto.de/persistent/a_id/51329/ (Stand: 10.8.2023); Sehl/Ott, BGH-Haftbeschlüsse zu Reichsbürgern: Jura-Karteikarten und Zielfernrohr für den Staatsstreich, in: Legal Tribune Online, 31.7.2023, https://www.lto.de/persistent/a_id/52381/ (Stand: 10.8.2023).
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Schöffen und Richter290 wird die Frage der Entlassung aus der Justiz wieder intensiver diskutiert. Auch in Südafrika ist die Unabhängigkeit der Richter verfassungsrechtlich abgesichert. Dies regelt Art. 165(2) FC, der die Richter für unabhängig erklärt und nur der Verfassung und dem Recht unterwirft. Art. 165(3) FC verbietet jeder Person und jeder staatlichen Stelle, in die Arbeit der Gerichte einzugreifen. Diese Absicherung wird durch eine zentrale Vorschrift über die Entfernung aus dem Richteramt ergänzt. Art. 177 FC regelt, ob, wann und wie ein Richter (außerhalb der allgemein geltenden Gründe wie Erreichen des Pensionsalters) aus dem Amt entfernt werden darf. Die Vorschrift bezieht sich auf alle Richter und nicht bloß auf die Verfassungsrichter.291 Voraussetzung ist zunächst, dass die Kommission für den Justizdienst i.S.d. Art. 178 FC feststellt, dass der Richter unter einer Arbeitsunfähigkeit leidet, grob inkompetent ist oder sich eines groben Fehlverhaltens schuldig gemacht hat (Art. 177(1)(a) FC). Hieran anschließend muss die National Assembly die Absetzung dieses Richters durch eine Resolution mit einer Zweidrittelmehrheit seiner Mitglieder beschließen (Art. 177(1)(b) FC). Daraufhin ist der Staatspräsident verpflichtet, den Richter abzusetzen (Art. 177(2) FC). Auch wenn das Verfahren nicht von Beginn an dem Verfassungsgericht zugewiesen ist, enthält auch die südafrikanische Variante starke Sicherungen gegen eine zu leichte Absetzung missliebiger Richter und hält so die Balance zwischen Unabhängigkeit und Verfassungstreue der Richter. Soweit bekannt, hat bislang kein Verfahren mit einer Entfernung aus dem Richterdienst geendet, jedoch wurde von Verfassungsrichtern zumindest ein prominentes Verfahren gegen John Hlophe, den Präsidenten der Western Cape Division des High Court of South Africa, angestrengt.292 Es blieb aber erfolglos.
290 Uharek, Glaubwürdigkeit und Vertrauen verloren: Urteilsgründe im Fall Jens Maier, in: Legal Tribune Online, 9.1.2023, https://www.lto.de/persistent/a_id/50689/ (Stand: 10.8.2023); LTO-Redaktion, Thüringer OLG sieht Verstoß gegen das Mäßigungsgebot: In rechtsextremen Kreisen verkehrende Schöffin ihres Amtes enthoben, in: Legal Tribune Online, 16.3.2023, https://www.lto.de/persistent/a_id/51330/ (Stand: 10.8.2023). Der Landtag von Baden-Württemberg hat deshalb im Juli 2023 einen neuen § 13a in das Landesrichterund -staatsanwaltsgesetz aufgenommen, wonach ehrenamtliche Richterin oder Richter nur werden darf, wer „die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt“, vgl. GBl. BW 2023, 269. 291 De Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 241. 292 Siehe hierzu die Entscheidung des Supreme Court of South Africa, 31.3.2011 – 52/ 2011 – Freedom Under Law v. Acting Chairperson: Judicial Service Commission and Others, http://www.saflii.org/za/cases/ZASCA/2011/59.html (Stand: 10.8.2023). Siehe zu dieser Affäre Choudhry, ‘He had a Mandate’, Constitutional Court Review 2 (2009), 1 (1–3).
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5. Innerer Notstand, v.a. Art. 91, 87a IV GG Art. 91 GG betrifft den inneren Notstand.293 Wie sich aus dem Satzteil „zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes“ ergibt, ist er durch Gefährdungen aus dem Inneren, der eigenen staatlich-gesellschaftlichen Lebenssphäre, charakterisiert.294 Art. 87a IV GG baut auf Art. 91 GG auf und gestattet als ultima ratio noch weiter gehende Rechtsfolgen, nämlich den Einsatz von Streitkräften im Inneren.295 Das hier relevante Schutzgut ist die freiheitliche demokratische Grundordnung, weshalb die Vorschrift u.a. in den Kontext der wehrhaften Demokratie, aber auch der Notstandsverfassung eingeordnet wird.296 Damit scheint der Notstand die demokratische Dekonsolidierung zu adressieren. Das Grundgesetz enthält auch weitere Bestimmungen, die sich auf besondere Notstandssituationen beziehen, z.B. die §§ 115a bis 115l GG über den Verteidigungsfall297 oder Art. 87a III GG für den Verteidigungs- und den Spannungsfall. Diese betreffen jedoch den äußeren Notstand und liegen damit außerhalb des Forschungsgegenstands. Ähnliches gilt für Art. 35 II 2, III 1 GG. Art. 35 II 2, III 1 GG betreffen Naturkatastrophen und Unglücksfälle, aber keine Angriffe auf die freiheitliche demokratische Grundordnung. Dies ist bei den Naturkatastrophen offenkundig. Besonders schwere Unglücksfälle können zwar auch auf absichtliches menschliches Verhalten rückführbar sein (Terrorismus)298, und terroristische Bedrohungen können sich negativ auf die demokratische Grundordnung auswirken. Aber diese bloß mittelbare negative Auswirkung unterfällt nicht dem Begriff der demokratischen Dekonsolidierung, da die Rechtsordnung nicht direkt umgestaltet wird und nicht durch die gewählten Repräsentanten.299 Allenfalls die im Anschluss ergriffenen Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung können zu einer demokratischen Dekonsolidierung nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis führen. Das wäre allerdings ein zu loser und mittelbarer Bezug, weshalb Art. 35 II 2, III GG außer Betracht bleiben. Art. 91 GG betrifft schließlich eine im Vergleich zu Art. 35 II 1 GG „nochmals gesteigerte Gefährdungslage“300 und kann sich auf das gesamte Bundesgebiet beziehen, weshalb nur Art. 91 GG hier von Bedeu293
Siehe hierzu unten C. IV. 2. a) und b). Schmahl, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 91 Rn. 3. 295 Schmahl, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 91 Rn. 2. 296 Volkmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 91 Rn. 8. Siehe hierzu unten C. IV. 1.–C. IV. 1. e) bzw. C. IV. 2.–C. IV. 2. d). 297 Siehe hierzu die Kommentierungen von Schmidt-Radefeld, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG (Stand: 15.5.2023). 298 BVerfGE 132, 1 (18). 299 Siehe hierzu oben B. II. 2. 300 Volkmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 91 Rn. 8. 294
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tung ist. Uwe Volkmann formuliert im Hinblick auf Art. 91 GG und den Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung: „Sie [scil.: die wehrhafte Demokratie] soll dazu beitragen, dass es erst gar nicht zu einer Lage kommt, in der und aus der heraus Notstandsmaßnahmen getroffen werden müssen. Wehrhafte Demokratie und Notstandsverfassung bilden damit die zwei Seiten derselben Medaille – eines Staats- und Verfassungsschutzes, der nicht nur reagiert, sondern mögliche Krisenlagen antizipierend zu verhindern versucht.“301
Damit ist Art. 91 GG aber auch von der expliziten Wortwahl antizipativ im Sinne dieser Untersuchung und bestätigt die These vom antizipativen Charakter des Grundgesetzes. Zudem werden Abstufungen zwischen Reaktionsmöglichkeiten in der Krise und vorbeugendem Handeln zur Vermeidung des Krisenfalls vorgenommen, was sich mit der hiesigen Unterscheidung von Prävention, Antizipation und Reaktion deckt. Zum Schutz der liberalen Demokratie soll sogar der Einsatz der Bundeswehr zulässig sein. Jedoch zeigt gerade dieses Mittel, dass es sich um Maßnahmen gegen Bürger handeln kann, während die demokratische Dekonsolidierung aber von den Staatsorganen ausgeht. In Südafrika regelt Art. 37 FC umfassend die Notstandsbefugnisse. Wegen des Zusammenhangs mit der Ausnahmeverfassung werden die entsprechenden Erörterungen dort vorgenommen.302 Aber auch dort werden außergewöhnliche Situationen vorhergesehen und zu ihrer Bewältigung effektive, aber rechtsstaatlich gebundene Instrumentarien bereitgehalten.
6. Der Antizipationsgedanke und der Grundrechtsschutz Gerade im Grundrechtsteil des Grundgesetzes finden sich zahlreiche Bestimmungen, welche den Kern der Verfassungsordnung betreffen, die Dimension „Zeit“ berücksichtigen und als antizipativ bezeichnet werden können. Dies ist deshalb von Bedeutung, da die Grundrechte in hohem Maße durch die demokratische Dekonsolidierung gefährdet werden, wie die entsprechenden Passagen zu Polen und Ungarn zeigen.303 In der klassischen Abwehrfunktion der Grundrechte304, wonach es dem Staat verboten ist, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen, lassen sich die Grundrechte als negative Kompetenzen begreifen.305 Sie begrenzen die hoheitlichen 301 Volkmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 91 Rn. 8 – Hervorhebung nicht im Original. 302 Siehe hierzu C. IV. 2. c). 303 Siehe hierzu oben A. I. 1. b) und A. I. 2. b). 304 BVerfGE 1, 97 (104); nach BVerfGE 61, 82 (101) ist die „Sinnmitte“ der Grundrechte der „Schutz der privaten natürlichen Person gegen hoheitliche Übergriffe“. 305 So Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, S. 30; Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, VVDStRL 12 (1954), 8 (18); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 185 mit Fn. 141.
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Zuständigkeiten. Da Grundrechte Voraussetzungen einer demokratischen Ordnung sind,306 ist bereits das bloße Bestehen von Grundrechten ein wichtiges Element der Demokratie, vorausgesetzt, dass sie in der Verfassungspraxis auch gelebt werden und ihre machtbegrenzende Funktion erfüllen können. Allerdings ist diese allgemeine Funktion noch vergleichsweise unspezifisch. Im Folgenden werden diejenigen Aspekte der Grundrechte beleuchtet, die einen engeren und konkreteren Bezug zur demokratischen Dekonsolidierung aufweisen. a) Menschenwürde und Schutzpflichten Grundrechte sind von der demokratischen Dekonsolidierung besonders bedroht, aber Art. 1 II GG mit seinem besonderen Rang bekennt sich wegen der Menschenwürde zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten. Art. 1 I 1 GG erklärt die Menschenwürde für unantastbar, und Art. 1 I 2 GG verpflichtet jede staatliche Gewalt, sie zu achten und zu schützen. Die Menschenwürdegarantie wurde als bewusste Reaktion auf die nationalsozialistischen Verbrechen an die Spitze des Grundgesetzes gestellt.307 Bereits das Wort „achten“ lässt sich in dem Sinne deuten, dass zu keinem Zeitpunkt eine Antastung erfolgen darf,308 dies gilt dauerhaft. Die Schutzpflicht des Art. 1 I 2 GG verlangt demgegenüber, dass der Staat Antastungen durch Dritte begegnet.309 Eine Beeinträchtigung des Schutzguts soll somit in jedem Fall verhindert werden. Damit gibt die Schutzpflicht den staatlichen Organen auf, jeweils im Rahmen ihres Kompetenzbereichs Vorsorge gegen Menschenwürdeantastungen zu treffen. Diese Schutzverpflichtung gilt nicht nur gegenüber der Menschenwürdegarantie selbst, sondern gegenüber allen Grundrechten, auch wenn sich die Schutzverpflichtung diesen gegenüber nicht ausdrücklich aus dem Verfassungstext ergibt.310 Die Menschenwürdegarantie als über Art. 79 III GG besonders geschützte Verfassungsbestimmung wirkt mit ihrer Schutzverpflichtung auf die (übrigen) Grundrechte ein. So formuliert das BVerfG: „Ebenso richtig ist aber, daß das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will […], in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und daß gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der 306
Siehe oben B. II. 1. d). H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 1 Abs. 1 Rn. 23–27; Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 1; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 2. 308 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 39. 309 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 40–42a. 310 BVerfGE 39, 1 (41 f.) im Hinblick auf das Recht auf Leben aus Art. 2 II 1 GG. Hinsichtlich weiterer Grundrechte siehe Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, C Rn. 22. 307
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Grundrechte zum Ausdruck kommt […]. Dieses Wertesystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse.“311
Während die Abwehrdimension der Grundrechte verlangt, dass ein früherer grundrechtskonformer Zustand wiederhergestellt und beibehalten wird, also vergangenheitsbezogen ist (Wiederherstellung des status quo ante), verlangt die Schutzpflicht das Tätigwerden und die Umgestaltung der Rechtsordnung mit Wirkung für die Zukunft. Schutzpflichten lassen sich in diesem Sinne als stärker zukunftsbezogen und damit als antizipativ, nicht bloß reagierend begreifen. Allerdings ist der Zusammenhang mit der demokratischen Dekonsolidierung nicht sehr stark ausgeprägt. Er besteht primär darin, dass Art. 1 GG eine Reaktion auf die Verbrechen der Nazizeit etablieren wollte. Schutzpflichten kennt die südafrikanische Verfassung ebenfalls, sie sind sogar explizit in Art. 7(2) FC niedergelegt. Auf die Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG als Export nach Südafrika wurde bereits hingewiesen.312 Die südafrikanische Verfassungsrichterin Kate O’Regan bezeichnet die Menschenwürde als grundlegend für die neue Verfassung.313 Der Ausspruch bezog sich zwar auf die nicht mehr in Kraft befindliche Interimsverfassung, aber für die aktuelle Verfassung gilt nichts anderes.314 Ein zusätzlicher, über den aus der Menschenwürde und den Schutzpflichten des Grundgesetzes hergeleiteter Antizipationsgehalt kann den südafrikanischen sozioökonomischen Grundrechten entnommen werden.315 Zu nennen sind etwa Art. 26 FC (Recht auf angemessenen Wohnraum) oder Art. 27 FC (Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge, zu ausreichend Nahrung und Wasser sowie zur Sozialversicherung). Diesen sozioökonomischen Grundrechten kann man entnehmen, dass die Sicherung der Grundbedürfnisse menschlicher Existenz verfassungsrechtlich abgesichert sein soll und erst diese Absicherung den Genuss auch der übrigen Grundrechte (Eigentum, Unverletzlichkeit der Wohnung) und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht.316 In Deutschland erfolgt diese Um311
BVerfGE 7, 198 (205) m.w.N. Siehe hierzu oben B. I. 3. c) aa). Siehe zur südafrikanischen Konzeption der Menschenwürde Currie/de Waal, The Bill of Rights Handbook, 6. Aufl. 2013, S. 250–257. 313 CC, 6.6.1995 – CCT/3/94 Rn. 329 (O’Regan) – The State v. Makwanyane, http:// www.saflii.org/za/cases/ZACC/1995/3.html (Stand: 10.8.2023). 314 Chaskalson, The Third Bram Fischer Lecture – Human Dignity as a Foundational Value of Our Constitutional Order, South African Journal on Human Rights 16 (2000), 193 (196); Chaskalson, Dignity as a Constitutional Value: A South African Perspective, American University International Law Review 26 (2011), 1377 (1381 f.); Currie/de Waal, The Bill of Rights Handbook, 6. Aufl. 2013, S. 250. 315 Siehe hierzu oben B. I. 3. c) bb). 316 Currie/de Waal, The Bill of Rights Handbook, 6. Aufl. 2013, S. 564 f. 312
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setzung über Art. 1 I GG i.V.m. Art. 20 I GG,317 wodurch die Nichtaufnahme soziökonomischer Rechte in das Grundgesetzt relativiert wird. Im Ergebnis bestehen aber vergleichbare verfassungsrechtliche Pflichten, auch wenn deren Erfüllung in Südafrika auf größere wirtschaftliche Schwierigkeiten stößt. b) Grundrechte und Gesetzesvorbehalte Die obige Aussage, Grundrechte wirkten als negative Kompetenzen,318 bedarf der Präzisierung. Sie verbieten zwar staatliches Handeln nicht grundsätzlich, erfordern aber zunächst eine gesetzliche Grundlage. Dies ist conditio sine qua non. Dies gilt selbst dann, wenn ein Grundrecht keine ausdrücklichen Gesetzesvorbehalte formuliert, wie z.B. Art. 4 I, II, Art. 5 III 1, Art. 9 III 1 GG.319 Das Vorliegen einer gesetzlichen Grundlage ist alleine zwar nicht hinreichend, aber eine erste Beschränkung zumindest für die Verwaltung. Gesetzesvorbehalte sind dementsprechend ambivalent. Sie gestatten und ermöglichen Grundrechtsbeeinträchtigungen, aber nicht bedingungslos. Die freiheitsschützende Wirkung, die den Gesetzesvorbehalten im Konstitutionalismus zugeschrieben wurde,320 ist indes abgeschwächt. Denn der Gegensatz zwischen Parlament und Regierung, wie er z.B. im preußischen Verfassungskonflikt321 deutlich wurde, besteht im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesregierung kaum noch.322 Für den antizipativen Charakter des Grundgesetzes sind solche Gesetzesvorbehalte, die eine Verbindung zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung aufweisen, besonders relevant. Dies sind v.a. Art. 10 II 2, Art. 11 II GG. Sie nennen ausdrücklich das Schutzgut „freiheitliche demokratische Grundordnung“ und bringen dadurch zum Ausdruck, dass das Grundgesetz Gefährdungen für die freiheitliche demokratische Grundordnung für möglich hält. Zur Abwehr dieser Gefährdungen statuiert das Grundgesetz zugleich Gesetzesvorbehalte, welche es dem Gesetzgeber gestatten, Grundrechtseingriffe zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vorzunehmen. Da das Grundgesetz auch ähnliche, aber zumindest dem reinen Wortlaut nach nicht identische Begriffe verwendet, etwa „diese Ordnung“ in Art. 20 IV GG oder „verfassungsmäßige Ordnung“ in Art. 2 I, Art. 9 II GG, werden die verschiedenen Vorschriften sogleich in Gruppen in Abhängigkeit von dem ver317
Siehe hierzu BVerfGE 125, 175 ff. Siehe oben C. III. 6. 319 Vgl. BVerfGE 83, 130 (142); 108, 282 (311); 122, 98 (107). Siehe auch BVerfGE 148, 296 (366), wo es aber nur heißt, dass es regelmäßig einer gesetzlichen Grundlage bedürfe. 320 Vgl. Denninger, Freiheitsordnung – Wertordnung – Pflichtordnung, JZ 1975, 545 (548). 321 Siehe hierzu oben unter C. 322 Vgl. BVerfGE 49, 70 (85 f.); 142, 25 (56). 318
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wendeten Begriff behandelt. Dies scheint die Antizipation der demokratischen Dekonsolidierung zu betreffen. Gleichwohl darf nicht verkannt werden, dass es sich stets um Befugnisse des Staates handelt. Von diesem geht jedoch die demokratische Dekonsolidierung aus. Somit ist der antizipative Befund ambivalent, denn es wird zwar die verfassungsmäßige Ordnung geschützt, aber teilweise gegen die Bürger. In Südafrika besteht eine zentrale Vorschrift für die Beschränkung von Grundrechten, Art. 36 FC. Er stellt zwar keinen besonderen qualifizierten Gesetzesvorbehalt dar, aber – ähnlich wie z.B. Art. 11 II EMRK – er lässt nur solche Grundrechtsbeschränkungen zu, die in einer offenen und demokratischen Gesellschaft basierend auf Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit gerechtfertigt sind. Hiermit sind Großformeln angesprochen, die sich einer eindeutigen Subsumtion entziehen. Jedoch kann dem entnommen werden, dass die Gründe, weshalb ein Grundrecht beschränkt, und die Art und Weise, wie dies geschieht, in einer demokratischen Gesellschaft akzeptiert werden können müssen.323 Man kann von einem allgemeinen qualifizierten Gesetzesvorbehalt sprechen, da Gründe, wie z.B. die Benachteiligung anderer Parteien, nicht zulässig sind. Dieses Erfordernis ähnelt der Frage nach dem legitimen Zweck der deutschen Verhältnismäßigkeitsprüfung, ist jedoch im Ergebnis strenger, da der Gesetzgeber nicht jeden beliebigen Zweck verfolgen darf, solange er nicht explizit verboten ist. Vielmehr muss der Zweck in Südafrika gerade in einer offenen und demokratischen Verfassungsordnung legitim sein.324 Jedenfalls besteht mit Art. 36 FC eine Vorschrift zur dauerhaften Sicherung der demokratischen Verfassungsordnung, auch wenn eine zu großzügige Handhabung möglicherweise das Gegenteil bewirken könnte, da individuelle Freiheit stark eingeschränkt werden könnte. Die Formel von der „offenen und demokratischen Gesellschaft“ ist jedoch nur der Auftakt zu einer Verhältnismäßigkeitsprüfung, die auch in der südafrikanischen Verfassungsordnung zum zentralen Verfassungsmaßstab geworden ist.325 Eine Bekräftigung des bisherigen Befundes zum Schutz der Verfassungsordnung durch die Rechtfertigungsklausel des Art. 36(1) FC ergibt sich aus Art. 39(1)(a) FC. Diese Vorschrift verpflichtet die Gerichte dazu, bei der Auslegung der Bill of Rights die Werte zu fördern, die einer offenen und demokratischen Gesellschaft zugrunde liegen, die auf Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit beruht. Damit werden dieselben Worte verwendet, wie auch in Art. 36(1) FC. Schließlich sind auch bei der Auslegung oder Anwendung des einfachen Rechts durch ein
323
Currie/de Waal, The Bill of Rights Handbook, 6. Aufl. 2013, S. 162 f. CC, 9.10.2002 – CCT/31/01 Rn. 15 (Ngcobo) – The State v. Jordan and Others (Sex Workers Education and Advocacy Task Force and Others as Amici Curiae), http://www.saf lii.org/za/cases/ZACC/2002/22.html (Stand: 10.8.2023). 325 De Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 363 f. 324
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Gericht der Geist, der Anspruch und die Ziele der Bill of Rights zu fördern (Art. 39(2) FC). Auch dies soll den demokratischen Charakter der Rechtsordnung absichern. c) Verfassungsmäßige Ordnung Der Begriff „verfassungsmäßige Ordnung“ wird sowohl in Art. 2 I GG, Art. 20 III GG als auch in Art. 9 II GG verwendet, jedoch nicht synonym. Zwar spricht Art. 2 I GG von der „verfassungsmäßigen Ordnung“, und der Vergleich mit Art. 9 II GG könnte zu der Annahme führen, dass hiermit ein besonderer Ausschnitt aus der Verfassung, vergleichbar der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, gemeint sein könnte. Jedoch hat das BVerfG seit Beginn seiner Rechtsprechung den Begriff „verfassungsmäßige Ordnung“ i.S.d. Art. 2 I GG als die Summe der mit der Verfassung vereinbaren Rechtsvorschriften angesehen. Somit handelt es sich um eine Umschreibung der mit dem Grundgesetz vereinbaren Rechtsordnung. Aus diesem Grund ist Art. 2 I GG – anders als Art. 9 II GG – im vorliegenden Kontext nicht weiter aufschlussreich. Ähnliches gilt für Art. 20 III GG, wo der Ausdruck „verfassungsmäßige Ordnung“ zwar nicht die gesamte Rechtsordnung, aber immerhin das gesamte Verfassungsrecht bezeichnet.326 Deshalb ist auch Art. 20 III GG nicht weiter erkenntnisstiftend. Relevant bleibt somit nur Art. 9 II GG. Anders als der Wortlaut dies vermuten lässt, handelt es sich bei Art. 9 II GG um eine Schrankenregelung und nicht um eine Schutzbereichsbegrenzung.327 Die Vorschrift knüpft an die Weimarer Tradition an, denn auch die Weimarer Reichsverfassung kannte eine allgemeine Vereinigungsfreiheit (Art. 124 I, II WRV) und besondere Vereinigungsfreiheiten (Art. 130 II, 137 II, 159 WRV). Ebenfalls waren Vereinsverbote einfachgesetzlich, wie etwa in § 14 des Gesetzes zum Schutz der Republik,328 geregelt, aber nicht – wie im Grundgesetz – explizit verfassungsrechtlich adressiert. Jedoch wurde die Generalklausel des Art. 48 II WRV so interpretiert, dass der Reichspräsident auch Vereinsverbote aussprechen konnte, sodass man zumindest von einer teilweisen, wenn auch impliziten verfassungsrechtlichen Regelung des Vereinsverbots sprechen kann. Von den einfachrechtlichen Verbotsmöglichkeiten wurde in der Weima-
326 Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Januar 2022), Art. 20 VI Rn. 30; W.G. Leisner, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 37. 327 BVerfGE 149, 160 (LS 1, 193); BVerfG(K), NVwZ 2020, 224 (225); NVwZ 2020, 226 (226); Bauer, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 9 Rn. 54; Höfling, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 9 Rn. 40; Th. Schmidt, Die Freiheit verfassungswidriger Parteien und Vereinigungen, 1983, S. 76–79; Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 9 Rn. 12. 328 Gesetz v. 21.7.1922, RGBl. I, 585. Siehe eine Auflistung der auf der Grundlage des Republikschutzgesetzes ausgesprochenen Vereinsverbote bei Jasper, Der Schutz der Republik, 1963, S. 316–320.
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rer Republik auch Gebrauch gemacht.329 Die Weimarer Erfahrungen prägen auch das Verständnis des heutigen Art. 9 II GG.330 Geschützt werden sollen „die Kernelemente demokratischer Verfassungsstaatlichkeit gegen Angriffe von innen, die über die politische Debatte hinausgehen, indem sie deren Voraussetzungen selbst zu zerstören suchen“.331 Als eine der wenigen Bestimmungen, die der „wehrhaften Demokratie“ zugeordnet werden, hat Art. 9 II GG Praxisrelevanz erlangt.332 Art. 9 II GG geht davon aus, dass Vereinigungen im Sinne des Art. 9 I GG zum Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung verboten werden können.333 Dabei bedeutet „verfassungsmäßige Ordnung“ i.S.d. Art. 9 II GG etwas anderes als „verfassungsmäßige Rechtsordnung“ i.S.d. Art. 2 I GG.334 Umfasst werden vielmehr „die elementaren Grundsätze der Verfassung […], namentlich die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG, das Demokratieprinzip und der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit“.335 Nach dem BVerfG ist dieser Begriff mit demjenigen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Art. 18, 21 II 1 GG identisch.336 Allerdings besteht insofern ein Unterschied zwischen Art. 9 II GG einerseits und Art. 21 II GG andererseits, als Art. 9 II GG verlangt, dass der Verein sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung „richtet“. Demgegenüber verlangt Art. 21 II 1 GG, dass die Partei „darauf ausgeht“, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen.337 Für Art. 9 II GG wird somit lediglich vorausgesetzt, dass die Vereinigung eine kämpferisch-aggressive Haltung gegenüber den elementaren Grundsätzen der Verfassung einnimmt, wobei es – anders als beim Parteiverbot – weder auf die territoriale Reichweite noch die Potenzialität der Beseitigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung ankommt.338 Auch wenn die Schwelle zum Einschreiten 329
Vgl. BVerfGE 149, 160 (163 f.). BVerfGE 149, 160 (194). 331 BVerfGE 149, 160 (215). 332 Vgl. Baudewin, Das Vereinsverbot, NVwZ 2013, 1049 (1051–1054). So auch die Einschätzung von Bickenbach, Kampf gegen eine Hydra – Rechtliche Mittel gegen den Rechtsextremismus, DVBl. 2017, 149 (151). 333 Art. 9 II GG wird deshalb auch als Ausprägung der wehrhaften (streitbaren bzw. militanten) Demokratie angesehen, BVerfGE 80, 244 (253). 334 So bereits BVerfGE 6, 32 (38). 335 BVerfGE 149, 160 (197) – unter Weglassung eines Rechtsprechungsnachweises. A.A. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 9 Rn. 19. Zur Frage, wie sich Art. 9 II, 18, 20 IV sowie 21 II GG zueinander verhalten, siehe BVerfGE 144, 20 (205–210). „Rechtsstaatlichkeit“ ist dabei schon seit Langem nicht mehr bloß rein formal zu verstehen, Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 166; Art. Kaufmann, Gesetz und Recht, in: FS Wolf, 1962, S. 357 (360 f.); Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 20 Rn. 74; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 230–238. 336 BVerfGE 149, 160 (197). 337 BVerfGE 149, 160 (198 f.). 338 BVerfGE 149, 160 (198 f.) unter Verweis auf BVerfGE 144, 20 (224 f.). Ähnlich BVerfGE 149, 160 (LS 3b). 330
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bei Art. 9 II und Art. 21 II 1 GG unterschiedlich hoch ist, ist das Schutzgut jedoch dasselbe. Antizipativ ist Art. 9 II GG insofern, als für möglich gehalten wird, dass bestimmte Gefährdungssituationen erneut eintreten können. Die in der Vergangenheit bereits erfolgten und gerichtlich bestätigten Vereinsverbote unterstreichen die Richtigkeit dieser Annahme. Für den Fall, dass ein Verein eine kämpferisch-aggressive Haltung gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung einnimmt, wird das Instrument des Vereinsverbots antizipativ bereitgehalten. Das später erlassene „Vereinsverbot“ selbst ist hingegen reaktiv. Problematisch ist jedoch, dass die demokratische Dekonsolidierung von den Staatsorganen ausgeht, während Art. 9 II GG sich gegen Private richtet. Entscheidend ist also, dass Art. 9 II GG richtig und rechtzeitig angewendet wird, bevor antidemokratische Bewegungen Staatsämter besetzen konnten. Am ehesten vergleichbar mit dem Konzept der verfassungsmäßigen Ordnung ist, da es keine besonderen Gesetzesvorbehalte in der südafrikanischen Verfassung gibt, die Anforderung der Beschränkungsklausel des Art. 36(1) FC, wonach Grundrechtsbeschränkungen nur zulässig sind, soweit sie in einer offenen und demokratischen Gesellschaft, die auf Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit beruht, gerechtfertigt sind.339 d) Verfassungstreue, Art. 5 III 2 GG Art. 5 III 2 GG will die Verfassungstreue einer weiteren Personengruppe, nämlich der Hochschullehrer, sicherstellen. „Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“ So lautet Art. 5 III 2 GG. Die Vorschrift ist eine Reaktion auf Zustände in der Weimarer Republik, als „wissenschaftliche Lehre“ zu Angriffen auf die Verfassungsordnung genutzt wurde.340 Entstehungsgeschichtlich wird auf einzelne Äußerungen hingewiesen, wonach Art. 5 III 2 GG verhindern soll, „daß unter dem Vorwand wissenschaftlicher Kritik vom Katheder aus eine hinterhältige Politik betrieben werde, die die Demokratie und ihre Einrichtungen nicht kritisiere, sondern verächtlich mache. Dies sei eine Warnung an alle diejenigen, die es versuchen sollten, die Demokratie ‚wissenschaftlich zu unterlaufen‘.“341 Systematisch setzt die Anwendbarkeit des Art. 5 III 2 GG voraus, dass wissenschaftliche Lehre i.S.d. Art. 5 III 1 GG vorliegt.342 Wissenschaft ist hierbei als „die geistige Tätigkeit 339
Siehe hierzu oben C. III. 6. b) a.E. Matz, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 89–92, insbes. 89, 92. So auch Bethge, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 5 Rn. 225; Starck/Paulus, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 5 Rn. 549. 341 So der Abgeordnete Dr. Schmid (SPD), zitiert nach Matz, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 92. 342 BVerfGE 47, 327 (368). 340
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mit dem Ziele, in methodischer, systematischer und nachprüfbarer Weise neue Erkenntnisse zu gewinnen“, definiert.343 Diese Voraussetzung wird bei den Verhaltensweisen, die Art. 5 III 2 GG erfassen will, selten erfüllt sein.344 Das nimmt dem Streit, ob Art. 5 III 2 GG eine Schranke oder eine Schutzbereichsbegrenzung ist,345 einen Teil seiner Relevanz. Die Bedeutung des Streits wird auch dadurch weiter relativiert, dass Art. 5 III 2 GG lediglich solche Gesetze gestattet, die ein verfassungstreues Lehrverhalten bewirken sollen. Hier handelt sich um eine qualifizierte Schranke für seltene Fallgestaltungen, aber nicht um einen einfachen Gesetzesvorbehalt. Insgesamt hat die Vorschrift somit einen schmalen Anwendungsbereich. Inhaltlich schließt die Treuepflicht Kritik an der Verfassung nicht aus, ebenso wenig ist jede einzelne Verfassungsbestimmung Schutzgut des Art. 5 III 2 GG.346 Hierüber besteht Einigkeit. Unklar ist allerdings, wann die Treuepflicht verletzt ist. Einer Ansicht nach ist die Grenze erst dann erreicht, wenn die freiheitliche demokratische Grundordnung berührt wird, die nicht mit dem Gehalt von Art. 79 III GG gleichzusetzen ist.347 Anderer Ansicht nach soll die Verfassung als verbindliche Grundlage anerkannt werden.348 Wiederum andere meinen, dass „[b]öswillige, aggressive und verächtliche Angriffe auf die fundamentalen Wertvorstellungen und Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung […] ein Missbrauch der Lehrfreiheit“ seien.349 Das BVerfG hat sich – soweit ersichtlich – nicht explizit zu Art. 5 III 2 GG geäußert. In seiner Entscheidung zum Radikalen-Erlass hat das BVerfG zwar auch Art. 5 III 2 GG zitiert350 und sodann Ausführungen zur Treuepflicht ge343
BVerfGE 35, 79 (113). Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: August 2019), Art. 5 Abs. 3 Rn. 190; Starck/Paulus, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 5 Rn. 549. 345 Für eine Schranke: Bethge, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 5 Rn. 225; Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 5 Rn. 49; Starck/Paulus, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 5 Rn. 549, 550. Für eine Schutzbereichsbegrenzung: Britz, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 5 Abs. 3 (Wissenschaft) Rn. 50; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, Rn. 403. Vermittelnd: Kempen, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 5 Rn. 200 (Stand: 15.5.2023). 346 Starck/Paulus, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 5 Rn. 550. 347 Starck/Paulus, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 5 Rn. 550 unter Verweis auf BVerfGE 144, 20 (202–204). Ähnlich Bickenbach, Kampf gegen eine Hydra – Rechtliche Mittel gegen den Rechtsextremismus, DVBl. 2017, 149 (151); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 5 Rn. 150; Papier/Durner, Streitbare Demokratie, AöR 128 (2003), 340 (354); Schliesky, Die wehrhafte Demokratie des Grundgesetzes, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 277 Rn. 18. 348 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: August 2019), Art. 5 Abs. 3 Rn. 192. 349 Bethge, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 5 Rn. 227. Ähnlich Kempen, in: Epping/ Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 5 Rn. 200 (Stand: 15.5.2023); Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 5 Rn. 49. 350 BVerfGE 39, 334 (347). 344
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macht.351 Aber die Ausführungen beziehen sich gerade nicht speziell auf Art. 5 III 2 GG, sondern allgemeiner auf Art. 33 V GG. Diese allgemeine Rechtsprechung zur beamtenrechtlichen Verfassungstreue sieht sich jedoch insofern der Kritik ausgesetzt, als aus ihr nicht hervorgeht, welches Verhalten der Beamte denn nun schuldet.352 Die in der Literatur vorgetragene Kritik353 gilt auch, wenn man die Erwägungen der Entscheidung zum Radikalen-Erlass auf Art. 5 III 2 GG übertragen will. Überdies handelt es sich bei Art. 5 III 2 GG um eine Privilegierung gegenüber Art. 33 V GG, weshalb aus Art. 5 III 2 GG nicht dieselben Anforderungen abgeleitet werden können wie aus Art. 33 V GG.354 Allerdings spricht in systematischer Hinsicht die Parallele zur Richteranklage des Art. 98 II GG für ein engeres Verständnis bei Art. 5 III 2 GG, denn in beiden Fällen handelt es sich um Personengruppen, die im Staatsdienst stehen (bei den Hochschullehrern zumindest weit überwiegend) und aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 97 GG bzw. Art. 5 III 1 GG) eine gewisse Unabhängigkeit genießen, welche sie von (anderen) Beamten i.S.d. Art. 33 IV GG unterscheidet. Ebenfalls von freiheitlicher demokratischer Grundordnung ist in Art. 18 GG die Rede, wonach auch die Lehrfreiheit verwirkt werden kann. In historischer Perspektive spricht hingegen viel dafür, den Staat mit seiner Verfassung und den verfassungsmäßigen Organen als von Art. 5 III 2 GG geschützt anzusehen, nicht bloß die enger zu verstehende freiheitliche demokratische Grundordnung, denn der historische Verfassungsgeber reagierte auf Bestrebungen, die den Weimarer Verfassungsstaat in Gänze („als solchen“) und grundsätzlich bekämpften. Die negativen Wirkungen treten nicht nur dann auf, wenn die Verfassungsidentität i.S.d. Art. 79 III GG betroffen ist, sondern stärker und konkreter, wenn das ganze geltende Verfassungssystem, seine Institutionen und Repräsentanten betroffen sind. Insgesamt muss es als ungeklärt gelten, was genau Schutzgut des Art. 5 III 2 GG ist.355 Auch hier zeigt sich der antizipative Charakter der Vorschrift daran, dass sie rechtzeitig Verhaltensweisen formuliert und Eingriffsmöglichkeiten bei Verstößen zulässt. Allerdings erfordert die Anwendung Klarheit über den Inhalt der Vorschrift, woran es noch mangelt. Für den antizipativen Charakter ist die verfassungsrechtliche Verankerung lediglich der erste Schritt. Die Wirksam351 BVerfGE 39, 334 (347–349). Das Zitat ist oben unter C. III. 2. wörtlich wiedergegeben. 352 Umfassend hierzu Rudolf, „Verfassungsfeinde“ im öffentlichen Dienst, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 209 (231–238). 353 Siehe hierzu oben C. III. 2. 354 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: August 2019), Art. 5 Abs. 3 Rn. 189. 355 So auch BVerfGE 47, 327 (368). Auch seitdem erfolgte keine inhaltliche Auseinandersetzung des BVerfG mit Art. 5 III 2 GG, sodass die damalige Feststellung nach wie vor Gültigkeit beanspruchen kann.
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keit der Antizipation bedarf auch der Ermittlung der verfassungsrechtlichen Inhalte, und zwar bevor es ihrer im Krisenfall bedarf. In der südafrikanischen Verfassung existiert kein vergleichbares Pendant. e) Freiheitliche demokratische Grundordnung Der Begriff „freiheitliche demokratische Grundordnung“ lässt sich in Art. 21 II 1, III 1, Art. 10 II 2, Art. 11 II GG nachweisen. Das Parteiverbot gem. Art. 21 II 1 GG steht hierbei wegen seiner scharfen Sanktion und seines engen Bezugs zum Demokratieprinzip besonders im Fokus der rechtswissenschaftlichen Analyse und wird deshalb zuerst behandelt. aa) Freiheitliche demokratische Grundordnung und Parteiverbot, Art. 21 II 1 GG Demokratische Dekonsolidierung geht zwar von den Staatsorganen aus. Aber hinter diesen stehen fast stets Parteien, weshalb das Parteiverbot356 enge Bezüge zur demokratischen Dekonsolidierung aufweist. „Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig“, so heißt es in Art. 21 II 1 GG. Art. 21 GG steht nicht im Abschnitt „Die Grundrechte“ des Grundgesetzes und wird auch nicht in Art. 93 I Nr. 4a GG als grundrechtsgleiches Recht genannt. Die Qualifikation des Art. 21 GG ist deshalb nicht frei von unterschiedlichen Blickweisen geblieben.357 Hier wird die Rechtsprechung des BVerfG zugrunde gelegt, wonach es sich bei der Parteienfreiheit des Art. 21 I GG um eine spezielle Ausprägung der Vereinigungsfreiheit handelt.358 Denn Parteien sind besondere Personenvereinigungen, nämlich solche, die bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Aus diesem Grund nennt das BVerfG Art. 21 II 1 GG „lex specialis“ im Verhältnis zu Art. 9 II GG.359 Das Parteiverbot ist demnach ein Eingriff in die Parteienfreiheit aus Art. 21 I 2 GG, was die hiesige Behandlung des Parteiverbots im Kontext der Grundrechte rechtfertigt.
356
Hierzu monografisch Pokora, Die Revision des Parteiverbots, 2022. Siehe den Überblick bei Thiel, Das Verbot verfassungswidriger Parteien (Art. 21 Abs. 2 GG), in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 173 (181) m.w.N.: Grundrecht, grundrechtsgleiches Recht, einfach subjektives Recht. Vgl. auch Th. Schmidt, Die Freiheit verfassungswidriger Parteien und Vereinigungen, 1983, S. 81–118. 358 Vgl. BVerfGE 144, 20 (194). Siehe auch BVerfGE 149, 160 (192). 359 Explizit BVerfGE 12, 296 (307); 144, 20 (228). So auch Siegel/Hartwig, Die zweite Stufe des Parteiverbotsverfahrens, NVwZ 2017, 590 (592). Siehe auch BVerfGE 2, 1 (13 f.); 13, 174 (177); 17, 155 (166). 357
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Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das BVerfG360 (Art. 21 IV GG). Nicht mehr verfassungsrechtlich vorgegeben, aber einfachgesetzlich geregelt, sind die weiteren Folgen eines Parteiverbots. Ein Verbot hat zur Folge, dass die Partei aufgelöst ist und die Schaffung von Ersatzorganisationen ebenfalls verboten ist (§ 46 III 1 BVerfGG, § 33 I PartG). Mandatsträgerinnen und -träger verlieren ihre Mandate (§ 46 I 1 Nr. 5 BWahlG), das Parteivermögen kann eingezogen werden (§ 46 III 2 BVerfGG). Bis zu der Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Partei durch das BVerfG ist ein Einschreiten gegen den Bestand der Partei jedoch unzulässig.361 Das BVerfG hat bereits im KPD-Urteil von 1956362 im Hinblick auf das Parteiverbotsverfahren gem. Art. 21 II 1 GG von der „freiheitlichen demokratischen Staatsordnung“ sowie der „streitbaren Demokratie“ gesprochen. Dabei bezieht sich der Begriff „streitbare Demokratie“ nicht nur auf das demokratische Prinzip, sondern die besonders geschützten Verfassungsprinzipien insgesamt,363 weshalb auch der Begriff „wehrhafte Verfassung“ verwendet wird.364 Art. 21 II 1 GG ist eine weitere Vorschrift, die als Reaktion auf das Scheitern der Weimarer Republik zu begreifen ist.365 Eine Partei kann sich nur insoweit auf ihre Parteifreiheit berufen, als das Handeln der Partei „nicht gegen den unantastbaren Kernbestand einer freiheitlichen Demokratie gerichtet ist“.366 Im
360 In der Geschichte der BRD gab es lediglich zwei erfolgreiche Parteiverbotsverfahren: Verbot der SRP durch Urteil vom 23.10.1952 – BVerfGE 2, 1 ff. und Verbot der KPD durch Urteil vom 17.10.1956 – BVerfGE 5, 85 ff. Siehe zu diesen beiden Verfahren A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 285–292. Gegen die NPD endeten zwei Verfahren jeweils ohne ein Verbot: BVerfGE 107, 339 ff. und BVerfGE 144, 20 ff. In zwei weiteren Verfahren ging das BVerfG davon aus, dass die zu verbietenden Organisationen keine Parteien waren, vgl. BVerfGE 91, 262 ff. zur Nationalen Liste (NL) und BVerfGE 91, 276 ff. zur Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP), siehe insgesamt zu den verschiedenen Verbotsverfahren Grünthaler, Parteiverbote in der Weimarer Republik, 1995, S. 133–246; Th. Schmidt, Die Freiheit verfassungswidriger Parteien und Vereinigungen, 1983, S. 36–47; Thiel, Das Verbot verfassungswidriger Parteien (Art. 21 Abs. 2 GG), in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 173 (177–180); M. Will, Ephorale Verfassung, 2017, S. 1–5, 135–381, 441– 475. 361 BVerfGE 144, 20 (201). Siehe zu etwaigen administrativen Folgerungen aus einer – bundesverfassungsgerichtlich nicht festgestellten – Verfassungswidrigkeit einer Partei Siegel/ Hartwig, Die zweite Stufe des Parteiverbotsverfahrens, NVwZ 2017, 590 ff.; Th. Schmidt, Die Freiheit verfassungswidriger Parteien und Vereinigungen, 1983, S. 187–208, 227–255; Thiel, Das Verbot verfassungswidriger Parteien (Art. 21 Abs. 2 GG), in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 173 (204–206); speziell zur Nutzung von Stadthallen Hecker, Verweigerung der Stadthallennutzung gegenüber der NPD, NVwZ 2018, 787 ff. 362 BVerfGE 5, 85 (139). 363 Brenner, Die wehrhafte Demokratie: Eine Lehre aus Weimar?, in: Eichenhofer (Hrsg.), 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung – Was ist geblieben?, 1999, S. 95 (98). 364 Siehe hierzu unten C. IV. 1. a). 365 BVerfGE 107, 339 (361 f.); 144, 20 (195). 366 BVerfGE 144, 20 (198).
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zweiten Urteil zur Verfassungswidrigkeit der NPD aus dem Jahr 2017367 hat das BVerfG seine Rechtsprechung zum Parteiverbot insgesamt, aber auch zum Begriff „freiheitliche demokratische Grundordnung“ modifiziert. Danach genügt es zwar, dass die zu verbietende Partei „darauf ausgeht“, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden. Hierfür erforderlich ist ein aktives, planvolles Vorgehen,368 nicht dagegen eine gewaltsame Umsturzbewegung oder eine konkrete Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung.369 Allerdings müssen „konkrete Anhaltspunkte von Gewicht vorliegen, die es zumindest möglich erscheinen lassen, dass das gegen die Schutzgüter des Art. 21 II GG gerichtete Handeln einer Partei erfolgreich sein kann (Potentialität)“.370 Auch das Schutzgut des Art. 21 II 1 GG, die freiheitliche demokratische Grundordnung, hat eine Neuorientierung erfahren. Die freiheitliche demokratische Grundordnung ist enger zu verstehen als die Verfassungsidentität des Art. 79 III GG371 und erfasst nur solche Grundsätze, die für den freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaat schlechthin unverzichtbar sind.372 Das Republik- und das Bundesstaatsprinzip gehören nicht dazu.373 Positiv gewendet gehört zu den grundlegenden Werten, „die für ein friedliches und demokratisches Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger unverzichtbar sind“,374 bzw. zu dem „unantastbaren Kernbestand einer freiheitlichen Demokratie“375 zunächst die Menschenwürdegarantie als Ausgangspunkt und oberster Wert.376 Hiermit ist insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und
367 BVerfGE 144, 20 ff. Siehe hierzu Gusy, Verfassungswidrig, aber nicht verboten!, NJW 2017, 601 ff.; Kloepfer, Parteienfinanzierung und NPD-Urteil, NVwZ 2017, 913 ff. 368 BVerfGE 144, 20 (221). 369 BVerfGE 144, 20 (199 f.). 370 BVerfGE 144, 20 (224 f.). Anders noch BVerfGE 5, 85 (143): „Eine Partei kann nach dem Gesagten auch dann verfassungswidrig im Sinne des Art. 21 Abs. 2 GG sein, wenn nach menschlichem Ermessen keine Aussicht darauf besteht, daß sie ihre verfassungswidrige Absicht in absehbarer Zukunft werde verwirklichen können.“ Kritisch zum neuen Merkmal der Potenzialität Laubinger, Verfassungswidrigkeit politischer Parteien, ZRP 2017, 55 (56); Kloepfer, Parteienfinanzierung und NPD-Urteil, NVwZ 2017, 913 (913); Uhle, Das Parteiverbot gem. Art. 21 II GG, NVwZ 2017, 583 (588 f.). 371 BVerfGE 144, 20 (202 f., 205 f.). 372 BVerfGE 144, 20 (203, 205). Zustimmung insoweit von Uhle, Das Parteiverbot gem. Art. 21 II GG, NVwZ 2017, 583 (586 f.); Warg, Nur der Kern des demokratischen Rechtsstaats – die Neujustierung der fdGO im NPD-Urteil vom 17.1.2017, NVwZ-Beilage 2017, 42 (43–45). 373 BVerfGE 144, 20 (206). So bereits H. Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, JZ 1994, 741 (750). 374 BVerfGE 144, 20 (195). 375 BVerfGE 144, 20 (198). 376 BVerfGE 144, 20 (206).
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C. Antizipation im Grundgesetz
Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit gemeint.377 Hinsichtlich des Demokratieprinzips sieht das BVerfG die gleichberechtigte Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger am politischen Willensbildungsprozess (Offenheit des Prozesses politischer Willensbildung) und die Rückbindung der Staatsgewalt an das Volk (Volkssouveränität) als von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erfasst an.378 In rechtsstaatlicher Hinsicht sind die Rechtsbindung aller staatlichen Gewalt, die Kontrolle durch unabhängige Gerichte und das Gewaltmonopol des Staates einbezogen.379 Dieser Schutz spricht insgesamt dafür, dass die Vorschrift der demokratischen Dekonsolidierung begegnen kann. Denn das, was jene besonders schützt, ist im Falle der demokratischen Dekonsolidierung bedroht. Gegen das Instrument des Parteiverbotsverfahrens wird aber eingewandt, dass es undemokratisch sei. Denn es werde ein politischer Wettbewerber eliminiert, was nicht dem ideengeschichtlichen Fundament der Demokratie entspreche, wonach bei der geistigen Auseinandersetzung der Meinungen das bessere Argument die Oberhand gewinnen solle.380 Diese neutrale Sichtweise entsprach der überwiegenden Ansicht der Weimarer Staatsrechtslehre. Exemplarisch kann dies durch das folgende Zitat aus dem Jahre 1932 veranschaulicht werden: „Die Demokratie ist diejenige Staatsform, die sich am wenigsten ihrer Gegner wehrt. Es scheint ihr tragisches Schicksal zu sein, daß sie auch ihren ärgsten Feind an ihrer eigenen Brust nähren muss. Bleibt sie sich selbst treu, muß sie auch eine auf Vernichtung der Demokratie gerichtete Bewegung dulden, muß sie ihr wie jeder anderen politischen Überzeugung die gleiche Entwicklungsmöglichkeit gewähren.“381
Allerdings setzte bereits gegen Ende der Weimarer Republik eine Positionenverschiebung ein, wonach die Neutralität zunehmend kritisch betrachtet wurde.382 377
BVerfGE 144, 20 (207). BVerfGE 144, 20 (208–210). 379 BVerfGE 144, 20 (210). 380 Siehe zum Argument der geistigen Auseinandersetzung BVerfGE 5, 85 (134–136); 124, 300 (320 f.); 144, 20 (200); Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 163; Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 349–366 (der allerdings selbst von einem „mit Idealisierungen befrachtete[n] Verfahrenskonzept“ spricht, S. 349). Dies als Illusion ansehend Willke, Demokratie im Umbruch, Der Staat 56 (2017), 357 (364). Siehe zum Parteiverbot umfassend in internationaler und rechtsvergleichender Perspektive Brems, Freedom of Political Association and the Question of Party Closures, in: Sadurski (Hrsg.), Political Rights under Stress in 21st Century Europe, 2006, S. 120 ff. 381 Kelsen, Verteidigung der Demokratie, in: Kelsen, Demokratie und Sozialismus, 1967, S. 60 (68). Der Aufsatz erschien im April 1932 in „Blätter der Staatspartei“. Siehe hierzu auch unten C. IV. 1. 382 Siehe Loewenstein, Die Reform des Wahlrechtes: Diskussionsbeitrag, VVDStRL 7 (1932), 192 (192–194). Hacke, Existenzkrise der Demokratie, 2018, S. 246 mit Fn. 110, 255 f., 273 spricht davon, dass die Idee der militanten Demokratie allgegenwärtig war und weniger eine originäre Leistung Loewensteins. 378
III. Antizipation in Bestimmungen des Grundgesetzes
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Interessant sind in diesem Zusammenhang deshalb die Entstehungsgeschichte und die Rezeption der Vorschrift des Art. 21 II 1 GG. Im Parlamentarischen Rat wurde das Parteiverbot intensiv diskutiert. Seine Einführung wurde damit begründet, dass die Weimarer Reichsverfassung nicht über hinreichende Mechanismen zum Schutz der liberalen Demokratie verfügt habe. Mit dem Instrument des Parteiverbotsverfahrens bestehe die Möglichkeit, rechtzeitig eine antidemokratische Partei zu verbieten, bevor diese auf scheinbar legalem Wege die Macht erlange. Zu vermeidendes Vorbild war die Machterlangung der NSDAP. In der Bundesrepublik war zunächst die Ansicht verbreitet, die Weimarer Reichsverfassung sei an ihren fehlenden Sicherungsmechanismen gescheitert.383 Diese Sicht ist heute weniger verbreitet, und es wird zu Recht darauf hingewiesen, dass auch unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung Parteien verboten werden konnten und auch wurden.384 Die Einleitung des Parteiverbotsverfahrens nach Art. 21 II 1 GG steht im politischen Ermessen dreier Organe (Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung), vgl. Art. 21 V GG i.V.m. § 43 I 1 BVerfGG385, und ist auch darüber hinaus prozedural anspruchsvoll. Art. 21 II GG i.V.m. § 13 Nr. 2, § 15 IV 1 BVerfGG verlangen eine Zweidrittelmehrheit der Richter im zuständigen Senat des BVerfG. Eine vergleichbare Rechtsschutzmöglichkeit für die zu verbietende Partei bestand unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung nicht. Grundsätzliche Zweifel am Instrument des Parteiverbots wegen dieser gravierenden Sanktion386 vermögen wegen der restriktiven Handhabung durch das BVerfG im Ergebnis zumindest derzeit nicht zu überzeugen. Zwar handelt es sich um ein scharfes Schwert, aber ein solches, das fast nie schneidet oder sticht. Deshalb ist eher die Praxistauglichkeit fraglich. Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung ist dieser Punkt jedoch nebensächlich. Entscheidend ist, dass das Grundgesetz die Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erkennt und zu ihrem Schutz das Parteiverbot vorsieht. Dies ist Ausdruck der Antizipation. Durch die hohen Anforderungen wird aber auch der Missbrauch verhindert. Problematisch ist, dass es sich um ein Instru383 A.A. Friesenhahn, Zur Legitimation und zum Scheitern der Weimarer Reichsverfassung, in: Erdmann/Schulze (Hrsg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, 1980, S. 81 (81). 384 Siehe die Übersicht über ausgesprochene Verbote, unter die auch Parteiverbote fallen, bei Jasper, Der Schutz der Republik, 1963, S. 316–320. Vgl. auch Maurer, Das Verbot politischer Parteien, AöR 96 (1971), 203 (205 f.). Siehe ausführlicher unten C. IV. 1. b). 385 Eine Landesregierung kann den Antrag nur gegen eine Partei stellen, deren Organisation sich auf das Gebiet ihres Landes beschränkt (§ 43 II BVerfGG). Dieser Fall dürfte jedoch seltener und weniger dringlich sein; diese Möglichkeit wird jedoch seit Kurzem im Hinblick auf einige AfD-Landesverbände in Gespräch gebracht. 386 BVerfGE 107, 339 (369); 144, 20 (159) nennen das Parteiverbot die „schärfste und überdies zweischneidige Waffe des demokratischen Rechtsstaats gegen seine organisierten Feinde“; ähnlich auch BVerfGE 144, 20 (225). Zweifelnd Shirvani, Das „scharfe“ Schwert des parteienrechtlichen Transparenzgebots, NVwZ 2017, 1321 (1321).
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ment der Bundesorgane gegen Private handelt. Es sind dieselben Organe, von denen auch die demokratische Dekonsolidierung ausgehen kann. Dies ist Zeichen der schwierigen Balance zwischen zu wenig und zu viel Antizipation. Bei der Begriffsermittlung wurde darauf hingewiesen, dass Antizipation nur Möglichkeiten offen halten, aber keine verfrühten endgültigen Entscheidungen treffen will. bb) Freiheitliche demokratische Grundordnung und Ausschluss von der Parteienfinanzierung, Art. 21 III 1 GG Ursprünglich kannte das Grundgesetz als ausdrücklich geregelten Eingriff in die Parteienfreiheit allein das Parteiverbot des Art. 21 II GG.387 Nachdem die Entscheidung des BVerfG im zweiten NPD-Verbotsverfahren388 auf die Möglichkeit gesonderter Sanktionierungen durch den verfassungsändernden Gesetzgeber hingewiesen hatte,389 ist durch Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 21)390 die Struktur des Art. 21 GG geändert und insbesondere ein neuer Absatz 3 eingefügt worden (Ausschluss von der Parteienfinanzierung und Verlust des Steuerprivilegs). „Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen“ (Art. 21 III 1 GG). „Wird der Ausschluss festgestellt, so entfällt auch eine steuerliche Begünstigung dieser Parteien und von Zuwendungen an diese Parteien“, so Art. 21 III 2 GG weiter. Ergänzende Regelungen zur prozessualen Umsetzung des Ausschlusses von der Parteienfinanzierung finden sich in Art. 21 IV GG, § 13 Nr. 2a, §§ 43 bis 47 BVerfGG. Überdies enthalten § 18 VIII PartG, § 10b II 1, § 34g Satz 1 EStG sowie § 5 I Nr. 7 KStG konkretisierende Regelungen.391 Tatbestandsvoraussetzung gem. Art. 21 III 1 GG ist, dass eine Partei nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet ist, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden. Die Schutzgüter beider Vorschriften sind nach dem Wortlaut identisch. Anders als Art. 21 II 1 GG („darauf ausgehen“) verlangt aber Art. 21 III 1 GG lediglich, dass die Partei „darauf ausgerichtet“ ist, die Schutzgüter zu beeinträchtigen. 387
Zu dessen Entstehungsgeschichte siehe BVerfGE 144, 20 (194 f.). Hierzu Kliegel, Das zweite NPD-Verbotsverfahren, in: Modrzejewski/Naumann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 5, 2019, S. 375 ff. 389 BVerfGE 144, 20 (202, 241 f.). Bei der Urteilsverkündung wurde die Möglichkeit, verfassungswidrigen Parteien die staatliche Finanzierung zu entziehen, explizit angesprochen, vgl. Morlok, Kein Geld für verfassungsfeindliche Parteien?, ZRP 2017, 66 (66). 390 Gesetz v. 13.7.2017, BGBl. I, 2346. Siehe hierzu BT-Drs. 18/12101, S. 8–11. 391 Siehe hierzu insgesamt BT-Drs. 18/12101. 388
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Hiermit ist lediglich die Verfassungswidrigkeit gemeint, auf die sog. „Potentialität“392 kommt es hingegen nicht an.393 Die Rechtsfolge, der Ausschluss von staatlicher Finanzierung (Art. 21 III 1 GG), ist weniger streng als die Existenzbeendigung der Partei infolge des Parteiverbots, sodass auch geringere tatbestandliche Voraussetzungen für die Sanktion vorgesehen sein dürfen. Weitere Folge ist, dass „auch eine steuerliche Begünstigung dieser Parteien und von Zuwendungen an diese Parteien“ entfällt (Art. 21 III 2 GG).394 Auch wenn die Sanktion weniger gravierend als im Falle des Parteiverbots ist, schützt auch Art. 21 III 1 GG die freiheitliche demokratische Grundordnung vor verfassungswidrigen Parteien. Dementsprechend beanspruchen die Ausführungen zum antizipativen Charakter des Parteiverbots auch hier sinngemäß Geltung. cc) Freiheitliche demokratische Grundordnung, Art. 10 II 2 GG Art. 10 II 1 GG gestattet Beschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses. Art. 10 II 2 GG enthält hieran anknüpfend folgende Bestimmung: „Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, daß sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt.“ Diese Regelung wurde, wie auch Art. 20 IV GG, durch die Notstandsgesetze 1968 in das Grundgesetz aufgenommen.395 Sie gestattet bestimmte Eingriffe, ohne dass der Betroffene benachrichtigt werden müsste und ihm der Rechtsweg offenstünde (vgl. Art. 19 IV 3 GG).396 Die Regelung war von Beginn an umstritten, auch wenn eine Mehrheit am BVerfG von 5:3 Richtern sie für noch mit Art. 79 III GG vereinbar hielt.397 Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist im selben Sinne zu verstehen wie bei Art. 21 II 1 GG.398 Art. 10 II 2 GG rechtfertigt weiter gehende Eingriffe, als der allgemeine Gesetzesvorbehalt des Art. 10 II 1 392
BVerfGE 144, 20 (224 f.). W.G. Leisner, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 21 Rn. 45. 394 Siehe zu diesen Auswirkungen in steuerrechtlicher Hinsicht W.G. Leisner, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 21 Rn. 46. 395 § 1 Nr. 2 Siebzehntes Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes v. 24.6.1968, BGBl. I, 709. Siehe hierzu BT-Drs. V/1879, S. 2, 17 f.; BT-Drs. V/2873, S. 3 f., 8 f.; Diebel, Die Stunde der Exekutive, 2019, S. 157–193. Siehe hierzu auch unten C. IV. 2–C. IV. 2. d). 396 Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 10 Rn. 95. 397 BVerfGE 30, 1 ff. So auch BVerfGE 84, 90 (121); 109, 279 (310). Siehe aber auch BVerfGE 30 (abw. Meinung Geller, v. Schlabrendorff, Rupp), 1 (33 ff.). 398 Vgl. BVerfGE 30, 1 (19 f.); Durner, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: April 2020), Art. 10 Rn. 217; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 10 Rn. 97. 393
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GG gestatten würde. Hiermit wird eine besondere Bedeutung zum Ausdruck gebracht, die der verfassungsändernde Gesetzgeber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung beigemessen hat. Wegen des fehlenden Rechtsschutzes wird jedoch die Frage aufgeworfen, ob diese Eingriffsmöglichkeiten nicht übertrieben seien, und es wird auf die Missbrauchsanfälligkeit hingewiesen. Allerdings zeigt die Verfassungsänderung des Jahres 1968 auch, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber weiterhin und sogar in größerem Maße als bei der Verabschiedung des Grundgesetzes Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung gesehen hat. Eine Rolle hierfür spielte, dass die Bundesrepublik im Vergleich zu 1948/49 mehr Souveränität zurückgewonnen und deshalb innenpolitische Gefahren selbstständiger abzuwehren hatte. Die Ursachen können dahinstehen, denn jedenfalls geht der verfassungsändernde Gesetzgeber von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung aus. Er erhöht die Vorkehrungen zu ihrem Schutze weiter, indem er zusätzliche Instrumente schafft. Dies bestätigt einmal mehr den antizipativen Charakter des Grundgesetzes. Aber auch hier zeigt sich die Ambivalenz des Gesetzesvorbehalts, da er dem Staat Eingriffsmittel gewährt. dd) Freiheitliche demokratische Grundordnung, Art. 11 II GG Art. 11 II GG spricht u.a. von einer drohenden Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung. Dieses Element des Gesetzesvorbehalts wurde ebenfalls erst im Zuge der Notstandsgesetzgebung in das Grundgesetz eingefügt,399 allerdings wurde hiervon bislang kein Gebrauch gemacht.400 Dieser Begriff, das Schutzgut, ist identisch mit dem in Art. 21 II 1 GG401 und anderen Vorschriften. Aber Art. 21 II 1 GG verlangt für ein Parteiverbot, anders als Art. 11 II GG für ein Eingreifen, keine drohende Gefahr.402 Wegen des identischen Schutzguts und der Formulierung eines Eingriffsvorbehalts zu ihrem Schutz gelten aber die Ausführungen zum antizipativen Charakter des Art. 21 II 1 GG mutatis mutandis auch hier.
399
§ 1 Nr. 3 Siebzehntes Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes v. 24.6.1968, BGBl. I,
709. 400
Kunig/S. v. Kielmansegg, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 11 Rn. 55; Pagenkopf, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 11 Rn. 25. 401 BVerfGE 149, 160 (197); Kunig/S. v. Kielmansegg, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 11 Rn. 56; Ogorek, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 11 Rn. 33 (Stand: 15.5.2023); Pagenkopf, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 11 Rn. 25; Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 11 Rn. 11. 402 BVerfGE 144, 20 (219, 223 f.).
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ee) Freiheitliche demokratische Grundordnung und Grundrechtsverwirkung, Art. 18 GG Art. 18 GG regelt die Grundrechtsverwirkung, eine Neuschöpfung auf der deutschen Bundesebene.403 Aber das Verbot des Rechtsmissbrauchs ist auch Gegenstand ausländischer Rechtsordnungen und internationaler Verträge (z.B. Art. 17 EMRK). Dort werden die Vorschriften jedoch dahin gehend ausgelegt, dass der gebundenen staatlichen Gewalt keine Kompetenzen eingeräumt werden, welche die Beseitigung der Menschenrechte bewirken.404 Nach Art. 18 Satz 1 GG verwirkt die sogleich genannten Grundrechte, „wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht“. Betroffen sind v.a. die Kommunikationsrechte, die es gestatten, gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zu agitieren. Das ist nicht verwunderlich, da in der Weimarer Republik eine starke antidemokratische Pressemacht agitierend tätig war.405 Im Parlamentarischen Rat wurde das Missbrauchspotenzial dieser Vorschrift gesehen, weshalb die Zuständigkeit des BVerfG für die Verwirkungsentscheidung angeordnet wurde.406 „Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen“ (Art. 18 Satz 2 GG). Man kann auch von „Individualsuspension“ der betroffenen Grundrechte sprechen.407 Zwar ist es umstritten, wann ein Missbrauch zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorliegt,408 aber das Schutzgut ist bei Art. 18 Satz 1 GG ebenso zu verstehen wie bei Art. 21 II 1 GG.409 In seiner 403 Thiel, Die Verwirkung von Grundrechten gemäß Art. 18 GG, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 129 (131 f.), siehe dort auch zu Vorläufern in Landesverfassungen. 404 Hierzu Brenner, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 18 Rn. 6. 405 Vgl. Di Fabio, Die Weimarer Verfassung, 2018, S. 120, 146–150. 406 So der Abgeordnete Dehler (FDP), zitiert nach Matz, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 174. Siehe auch Brenner, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 18 Rn. 3. Auch die Ausführungen von D.-D. Hartmann, Verwirkung von Grundrechten, AöR 95 (1970), 567 ff. sind von der Sorge vor einem Missbrauch des Art. 18 GG durch die Regierung geprägt. 407 So A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 242–245, 292 f. 408 Vgl. umfassend Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten, 1968, S. 70–159. Siehe auch Krebs, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 18 Rn. 5. 409 BVerfGE 149, 160 (197); Thiel, Die Verwirkung von Grundrechten gemäß Art. 18 GG, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 129 (136), der allerdings von einem Gleichklang zwischen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und der Verfassungsidentität des Art. 79 III GG ausgeht, der so nicht mehr der neueren Rechtsprechung des BVerfG entspricht, vgl. BVerfGE 144, 20 (202 f., 205 f.).
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C. Antizipation im Grundgesetz
Entscheidung zu Vereinsverboten aus dem Jahr 2018 und damit nach der Entscheidung zum zweiten NPD-Verbotsverfahren hat das BVerfG ausdrücklich klargestellt, dass das Schutzgut „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in Art. 9 II, Art. 18 Satz 1 und Art. 21 II 1 GG identisch zu verstehen sei.410 Das Grundgesetz antizipiert damit die Möglichkeit eines Kampfes gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung – wie auch immer diese zu verstehen ist – und schafft Gegeninstrumente.411 Soweit ersichtlich, ist es nie zur Anwendung dieser Vorschrift gekommen. Vier Verwirkungsverfahren wurden in der Geschichte der Bundesrepublik angestrengt, sie endeten aber allesamt ohne Verwirkungsentscheidung.412 Das schmälert ihre Bedeutung in der Praxis,413 sodass davon die Rede ist, Art. 18 GG habe in erster Linie eine Appell-, Symbol- oder Warnfunktion.414 Nur selten wird die Vorschrift, da die von den Grundrechtsverwirkungsverfahren betroffenen Personen ihr verfassungsfeindliches Verhalten eingestellt hätten, um der Sanktion zu entgehen, positiver bewertet.415 Diese negative Einschätzung kontrastiert auffällig zu den Erwartungen, die einige frühe Grundgesetzkommentatoren auf diese Vorschrift gelegt haben. Friedrich Klein meinte im Jahre 1957, Art. 18 GG sei „für das bundesrepublikanische Verfassungsrecht von unschätzbarer Bedeutung“416. Diese Hochstimmung hielt indes nicht lange an. Gut zehn Jahre später verwendet Walter Schmitt Glaeser in seiner Habilitationsschrift das Wort „Fehl410
BVerfGE 149, 160 (197). Art. 18 GG wird deshalb auch als Ausprägung der wehrhaften (streitbaren bzw. militanten) Demokratie angesehen. Siehe hierzu unten C. IV. 1.–C. IV. 1 d). 412 Brenner, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 18 Rn. 12; Butzer/Clever, Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG – Doch eine Waffe gegen politische Extremisten?, DÖV 1994, 637 (637 f.); Krebs/Kotzur, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 18 Rn. 32; Papier/Durner, Streitbare Demokratie, AöR 128 (2003), 340 (349 f. mit Fn. 51); Thiel, Die Verwirkung von Grundrechten gemäß Art. 18 GG, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 129 (133 f.); C. Walter, Gibt es einen Ausschluss aus der Rechtsgemeinschaft?, in: Klein/Menke (Hrsg.), Der Mensch als Person und Rechtsperson, 2011, S. 203 (210). 413 Dies liegt möglicherweise an der scharfen und wenig flexiblen Sanktion einerseits und handhabbareren Alternativen im einfachen Recht andererseits, vgl. Brenner, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 18 Rn. 12–18; Thiel, Die Verwirkung von Grundrechten gemäß Art. 18 GG, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 129 (130 f.); C. Walter, Gibt es einen Ausschluss aus der Rechtsgemeinschaft?, in: Klein/Menke (Hrsg.), Der Mensch als Person und Rechtsperson, 2011, S. 203 (210, 211); siehe auch Butzer/Clever, Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG – Doch eine Waffe gegen politische Extremisten?, DÖV 1994, 637 (639), die die Warnfunktion betonen. 414 Papier/Durner, Streitbare Demokratie, AöR 128 (2003), 340 (350); C. Walter, Gibt es einen Ausschluss aus der Rechtsgemeinschaft?, in: Klein/Menke (Hrsg.), Der Mensch als Person und Rechtsperson, 2011, S. 203 (210). Thiel, Die Verwirkung von Grundrechten gemäß Art. 18 GG, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 129 (130) spricht von einem „appellative[n] Charakter der Vorschrift“. 415 So von A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 292 f. 416 F. Klein, in: v. Mangoldt/Klein, GG, Bd. I, 2. Aufl. 1957, Art. 18 Anm. II. 2. m.w.N. 411
III. Antizipation in Bestimmungen des Grundgesetzes
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schlag“ im Zusammenhang mit Art. 18 GG.417 Auch wenn keine Praxisbedeutung zu erkennen ist, belegen die Existenz der Vorschrift und ihre Entstehungsgeschichte, dass Art. 18 GG einen Beitrag zum Schutz der Demokratie durch die Verhinderung der missbräuchlichen Ausnutzung demokratischer Freiheitsrechte leisten soll.418 Ziel war es, den Anfängen der Revolution und der Unterwanderung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, ihrer „Zersetzung von unten“, frühzeitig zu begegnen.419 ff) Südafrikanisches Verfassungsrecht Das südafrikanische Recht kennt keine Verwirkungsklausel, wie insgesamt das deutsche Konzept der „wehrhaften Demokratie“ in der südafrikanischen Verfassung keinen Niederschlag gefunden hat.420 Da es auch keine besonderen Gesetzesvorbehalte in der südafrikanischen Verfassung gibt, ist der Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ am ehesten mit der Anforderung der Beschränkungsklausel des Art. 36(1) FC vergleichbar. Danach sind Grundrechtsbeschränkungen nur zulässig, soweit sie in einer offenen und demokratischen Gesellschaft, die auf Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit beruht, gerechtfertigt sind.421 f) „Diese Ordnung“ und Widerstandsrecht, Art. 20 IV GG Von Gefahren für die Verfassungsordnung geht auch Art. 20 IV GG aus, was für ihren antizipativen Charakter spricht. Diese Vorschrift, die im Zuge der Notstandsgesetzgebung 1968 in das Grundgesetz aufgenommen wurde,422 räumt allen Deutschen das Recht zum Widerstand gegen „jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen“, ein, „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Art. 20 IV GG bewirkt, dass Handlungen, die anderenfalls Unrecht darstellten, gerechtfertigt sind.423 Rechtsdogmatisch handelt es sich um ein 417 418
Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten, 1968, S. 13. Hierzu Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten, 1968, S. 21–
25. 419
Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten, 1968, S. 30. Siehe hierzu ausführlicher unten C. IV. 1. d) und C. IV. 2. c). 421 Siehe hierzu oben C. III. 6. b) a.E. 422 § 1 Nr. 7 Siebzehntes Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes v. 24.6.1968, BGBl. I, 709. Siehe hierzu BT-Drs. V/2873, S. 9; Chr. Böckenförde, Die Kodifizierung des Widerstandsrechts im Grundgesetz, JZ 1970, 168 ff.; Diebel, Die Stunde der Exekutive, 2019, S. 157–193; H.H. Klein, Der Gesetzgeber und das Widerstandsrecht, DÖV 1968, 865 ff.; Robbers, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Januar 2014), Art. 20 Rn. 3441–3452; Schmahl, Rechtsstaat und Widerstandsrecht, JöR n.F. 55 (2007), 99 (104–106); Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 1503–1507. 423 Ausführlich Schmahl, Rechtsstaat und Widerstandsrecht, JöR n.F. 55 (2007), 99 (117– 119). So auch Heinemann, Das Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 99 (118 f.); Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 20 Rn. 173 420
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grundrechtsgleiches Recht424 (vgl. Art. 93 I Nr. 4a GG), das u.U. unmittelbare Drittwirkung entfalten kann.425 Trotz seiner Verankerung in Art. 20 GG nimmt das Widerstandsrecht nach ganz überwiegender Anschauung nicht am Schutz der Ewigkeitsgarantie426 teil.427 Anders als die Vorschriften zur Grundrechtsverwirkung, zum Partei- oder zum Vereinsverbot (sog. „Bedrohung von unten“428) geht Art. 20 IV GG davon aus, dass die Bedrohung der verfassungsmäßigen Ordnung auch von Amtsträgern ausgehen kann („Bedrohung von oben“429). Wie auch Art. 79 III GG soll das Widerstandsrecht somit die Verfassungsordnung auch vor unzulässigen Einflüssen der hoheitlichen Gewalten selbst schützen. Sie gestattet aber auch Maßnahmen des Staates gegen Bürger und weist somit eine Doppelnatur auf. Das Widerstandsrecht kann ideengeschichtlich auf eine lange Tradition zurückblicken. Bereits seit der Antike wird über die Zulässigkeit von Widerstand gegen die Obrigkeit gestritten, wobei die Argumentationsstränge teilweise religiös geprägt sind.430 In der modernen Verfassungsgeschichte lassen sich positivrechtlich verbürgte Widerstandsrechte in Art. 3 Virginia Bill of Rights
424 m.w.N.; K.-A. Schwarz, Widerstandsfall, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 282 Rn. 27; Wittreck, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 Abs. 4 (Widerstandsrecht) Rn. 16. 424 Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 340; Wittreck, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 Abs. 4 (Widerstandsrecht) Rn. 14. Zweifelnd K.-A. Schwarz, Widerstandsfall, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 282 Rn. 13. 425 Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Januar 2022), Art. 20 IX Rn. 1; Nowrot, Jenseits eines abwehrrechtlichen Ausnahmecharakters, Rechtswissenschaftliche Beiträge der Hamburger Sozialökonomie 5 (2016), S. 14 m.w.N.; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 329. 426 Siehe oben C. III.–C. III. 1. e). 427 Brenner, Die wehrhafte Demokratie: Eine Lehre aus Weimar?, in: Eichenhofer (Hrsg.), 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung – Was ist geblieben?, 1999, S. 95 (107 f.); Heinemann, Das Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 99 (112 f.); Schmahl, Rechtsstaat und Widerstandsrecht, JöR n.F. 55 (2007), 99 (109) m.w.N.; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 355. 428 Zur Unterscheidung zwischen Bedrohungen „von oben“ und „von unten“ Bulla, Die Lehre von der streitbaren Demokratie, AöR 98 (1973), 340 (350 f.); Gusy, Die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 105 (1980), 279 (309). 429 BT-Drs. V/2873, S. 9; Heinemann, Das Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 99 (107, 108); Papier/Durner, Streitbare Demokratie, AöR 128 (2003), 340 (348). 430 Bertram, Das Widerstandsrecht des Grundgesetzes, 1970, S. 13–41; Heinemann, Das Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 99 (100–102); Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 1488–1503; Wittreck, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 Abs. 4 (Widerstandsrecht) Rn. 1–6; Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht, 1916, S. 6 ff.
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(1776)431 und in Art. 2 Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen (1789)432 finden. Im deutschen Konstitutionalismus spielte das Widerstandsrecht indes keine Rolle.433 Weder in der Paulskirchenverfassung noch in der Weimarer Reichsverfassung existierte eine dem Art. 20 IV GG vergleichbare Vorschrift. Vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes wurden in Art. 147 I der Verfassung des Landes Hessen von 1946434 und in Art. 19 der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen von 1947435 vergleichbare Regelungen getroffen,436 die jedoch beide auch eine Widerstandspflicht enthielten. In das Grundgesetz wurde ein solches Rechtsinstitut jedoch zunächst nicht aufgenommen. Überwiegend war man der Auffassung, dass ein Widerstandsrecht nicht praktikabel geregelt werden könne.437 Im Rahmen der Diskussionen um die Notstandsverfassung Ende der 1960er-Jahre gelangte das Widerstandsrecht wieder in den Fokus verfassungsrechtlicher und politischer Betrachtung und wurde in das Grundgesetz aufgenommen.438 Das BVerfG hatte bereits zuvor im KPD-Urteil die Frage eines etwaigen (ungeschriebenen) Widerstands431
„[…] whenever any government shall be found inadequate or contrary to these purposes, a majority of the community hath an indubitable, unalienable, and indefeasible right to reform, alter or abolish it, in such manner as shall be judged most conducive to the public weal“ („[…] wann immer eine Regierung als unzulänglich oder diesen Zielen zuwiderlaufend befunden wird, hat die Mehrheit der Gemeinschaft das unzweifelhafte, unveräußerliche und unentziehbare Recht, die Regierung zu reformieren, zu verändern oder abzuschaffen, und zwar in einer Weise, die als dem Gemeinwohl am förderlichsten erachtet wird“ [Übersetzung des Verfassers]. 432 Siehe oben das Eingangszitat bei A. In der Präambel der französischen Verfassung v. 4.10.1958 wird die Menschenrechtserklärung von 1789 in Bezug genommen, sodass ihre Grundrechte auch derzeit in Geltung sind, vgl. Gaillet/Hochmann/Marsch/Vilain/Wendel, Droits Constitutionnels Français et Allemand, 2019, Rn. 645, 655. 433 Hierzu Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 1491 f. 434 HessGVBl 1946, 229. 435 BremGBl. 1947, 251. 436 Hierauf beruft sich auch die Gesetzesbegründung, BT-Drs. V/2873, S. 9 und außerdem auf Art. 23 III VvB v. 1.9.1950 (VOBl. für Groß-Berlin I, 433), der allerdings erst nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes verabschiedet wurde (aber zuvor erarbeitet wurde, vgl. Sodan, Landesgrundrechte in Berlin, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. VIII, 2017, § 247 Rn. 3). Siehe zur derzeitigen Berliner Verfassungslage im Hinblick auf das Widerstandsrecht des Art. 36 III VvB Sodan, Landesgrundrechte in Berlin, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. VIII, 2017, § 247 Rn. 74. 437 Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948– 1949. Akten und Protokolle, Bd. 14/II, 2009, S. 1430–1433. Vgl. Diebel, Die Stunde der Exekutive, 2019, S. 17–28; Heinemann, Das Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 99 (99); Robbers, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Januar 2014), Art. 20 Rn. 3438 f.; Schmahl, Rechtsstaat und Widerstandsrecht, JöR n.F. 55 (2007), 99 (104 f.); Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 1497 f. 438 Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 1503–1507. Das neue Widerstandsrecht bot dann auch einigen Dissertationen Stoff, vgl. Bertram, Das Widerstandsrecht des Grundgesetzes, 1970; Ganseforth, Das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz im System des Verfassungsschutzes, 1971; Scheidle, Das Widerstandsrecht, 1969.
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rechts aufgeworfen.439 Der verfassungsändernde Gesetzgeber wollte indes ungeschriebenes Verfassungsrecht durch ausdrückliche Regelungen erübrigen.440 Geschützt werden sollte nach Ansicht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags die freiheitliche demokratische Grundordnung441, die nach seiner Auffassung in Art. 20 I bis III GG geregelt sei. Wörtlich heißt es im Bericht des Rechtsausschusses: „Der Rechtsausschuß hatte zunächst erwogen, die Bestimmung als Artikel 19 a in das Grundgesetz einzufügen. Er schlägt jedoch nunmehr dem Bundestag vor, das Widerstandsrecht als Absatz 4 in Artikel 20 des Grundgesetzes zu regeln. Dafür war die Erwägung maßgebend, daß in den Absätzen 1 bis 3 dieses Artikels das durch das Widerstandsrecht geschützte Rechtsgut, nämlich die freiheitliche demokratische Grundordnung, definiert ist. […] Als Rechtsgut geschützt werden insbesondere die Verfassungsgrundsätze der Demokratie, des Sozialstaates, einer bundesstaatlichen Gliederung, der Volkssouveränität und der Mitwirkung des Volkes an der politischen Willensbildung in Wahlen und Abstimmungen, der Gewaltenteilung und des Rechtsstaates. Ein – nach Artikel 79 Abs. 3 des Grundgesetzes unabänderlicher – Bestandteil dieser rechtsstaatlichen Ordnung ist auch die Bindung der Staatsgewalt an Grundrechte.“442
Damit ist klar, dass nicht die gesamte Verfassungsordnung, also das geltende Verfassungsrecht in Gänze, sondern lediglich ein Ausschnitt „dieser Ordnung“, nämlich besonders bedeutsame Elemente des Verfassungsrechts, erfasst sein sollten. Aber die Gleichsetzung mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erscheint nicht zutreffend. Hiergegen spricht der Wortlaut des Grundgesetzes, der unterschiedliche Begriffe („verfassungsmäßige Ordnung“ in Art. 9 II GG, „diese Ordnung“ in Art. 20 IV GG, „freiheitlich demokratische Grundordnung“ in Art. 10 II 2, Art. 11 II, Art. 21 II 1, III 1 GG) differenziert verwendet. Jedoch ist diesem Argument entgegenzuhalten, dass sich die Rechtsprechung des BVerfG über dieses Wortlautargument selbst hinwegsetzt, wie die Interpretationen der Art. 2 I, Art. 9 II, Art. 21 II 1 GG verdeutlicht. Teils wird derselbe Ausdruck unterschiedlich verstanden, teils werden unterschiedliche Begriffe synonym verstanden. Das BVerfG hat zudem ausdrücklich judiziert, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht die Prinzipien des Bundesstaats und der Republik erfasst.443 Bundesstaatlichkeit und Republikprinzip sind hingegen klar von Art. 20 GG erfasst. Das Widerstandsrecht des Art. 20 IV GG scheint deshalb in einer Ver439 BVerfGE 5, 85 (LS 10, 376 f.). Zur Frage des Verhältnisses von positivem und überpositivem Widerstandsrecht zueinander vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 1507–1511. 440 BT-Drs. V/2873, S. 9. 441 BT-Drs. V/2873, S. 9. So auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, Rn. 758; Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, 1969, S. 14 f.; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 347. 442 BT-Drs. V/2873, S. 9. 443 BVerfGE 144, 20 (206).
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bindung zu Art. 79 III GG444 und nicht zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu stehen. Somit sind „diese Ordnung“ i.S.d. Art. 20 IV GG und die freiheitliche demokratische Grundordnung“ i.S.d. Art. 21 II 1 GG nicht identisch, wenn auch in Teilen deckungsgleich.445 Jedoch wird man in Abhängigkeit davon differenzieren müssen, von wem die Gefahr ausgeht. Bei Akteuren, die an Art. 79 III GG gebunden sind, dürfte eine Gefahr für die Verfassungsidentität genügen. Sofern auch die Subsidiarität gewahrt ist, löst eine Gefahr für die Verfassungsidentität das Recht zum Widerstand aus. Da Private aber nicht an Art. 79 III GG gebunden sind, muss eine höhere Schwelle zur Aktivierung des Widerstandsrechts aus Art. 20 IV GG erreicht werden.446 Dies ist der Fall bei Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung. Es ist zwar verwunderlich, dass die Menschenwürde des Art. 1 GG nicht von Art. 20 IV GG explizit in Bezug genommen wird.447 Da Art. 20 IV GG jedoch nicht Widerstand im Falle einzelner Rechtsverstöße gestatten will, sondern Angriffe auf das von Art. 20 I bis III GG etablierte System,448 dürften die wichtigsten Gehalte des Art. 1 GG zumindest mittelbar geschützt sein449, denn die Menschenwürde erfasst insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit450, welche auch vom Rechtsstaatsprinzip geschützt wird. Die Vorschrift des Art. 20 IV GG stößt überwiegend auf Kritik.451 Im Grunde werden hierbei dieselben Argumente vorgetragen, die bereits 1948/49 gegen die erstmalige Aufnahme des Widerstandsrechts in die Verfassung vorgetragen wurden. Allerdings sollte der neue Art. 20 IV GG ein Gegengewicht
444 Murswiek, Das Grundrecht auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns, in: FS Fiedler, 2011, S. 251 (253, passim); Robbers, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Januar 2014), Art. 20 Rn. 3385; Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 1511–1514. 445 Schmahl, Rechtsstaat und Widerstandsrecht, JöR n.F. 55 (2007), 99 (110). 446 Zu dieser Unterscheidung auch H. Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, JZ 1994, 741 (750 f.). 447 Hierzu Heinemann, Das Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 99 (120 f.); Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 1513. 448 K.-A. Schwarz, Widerstandsfall, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 282 Rn. 18; Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 1513 f.; Wittreck, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 Abs. 4 (Widerstandsrecht) Rn. 18. 449 Murswiek, Das Grundrecht auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns, in: FS Fiedler, 2011, S. 251 (255 f.) m.w.N. sieht auch die Menschenwürdegarantie als miterfasst an. Uneindeutig Ganseforth, Das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz im System des Verfassungsschutzes, 1971, S. 62. 450 BVerfGE 144, 20 (207) – Hervorhebung nicht im Original. 451 Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, 1969, S. 97–105, insbes. 99 („der vermessene Versuch, auch das Chaos noch organisieren zu wollen“); Scheidle, Das Widerstandsrecht, 1969, S. 141–152; K.-A. Schwarz, Widerstandsfall, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 282 Rn. 1.
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zu den übrigen Verfassungsänderungen der „Notstandsverfassung“ des Jahres 1968 bilden,452 sodass schließlich doch ein Widerstandsrecht in das Grundgesetz aufgenommen wurde. Von den Kritikern wird als widersprüchlich angesehen, ein Recht einzuräumen, das im Normalfall nicht, sondern erst dann gelte, wenn die Verfassung, die dieses Recht einräumt, versage.453 Denn das BVerfG hat neben der materiellen Subsidiarität („wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“) auch eine formelle Subsidiarität postuliert: Solange die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde besteht, kann Art. 20 IV GG keine Beschwerdebefugnis begründen.454 Somit wird der Vorschrift überwiegend die Praxistauglichkeit abgesprochen. Auch sei der schmale Grat zwischen legitimem Widerstand einerseits und Revolution oder Bürgerkrieg andererseits nicht angemessen erfasst worden.455 Wenig überraschend ist, dass Art. 20 IV GG in der Praxis noch nicht relevant geworden ist. Teilweise haben sich Beschwerdeführer in Verfassungsbeschwerdeverfahren zwar auf die Vorschrift berufen.456 Gerade in jüngerer Zeit ist vermehrt zu beobachten, dass sich Beschwerdeführer auf das Widerstandsrecht berufen, um sich gegen staatliche Maßnahmen zu wenden, die von den zuständigen Organen in verfassungsmäßiger Weise in den erforderlichen Verfahren mit den notwendigen Mehrheiten beschlossen wurden.457 Inhaltlich hat das BVerfG sich nicht weiter mit dieser Vorschrift auseinandergesetzt. In einer Entscheidung aus dem Dezember 2018 hat das Gericht ausgeführt, dass die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 20 IV GG fernliegend sei, dies aber nicht weiter begründet.458 Bereits im KPD-Verbotsverfahren, als Art. 20 IV GG allerdings noch nicht galt, aber ein überverfassungsrechtliches Notstandsrecht diskutiert wurde, berief sich die später verbotene Partei auf ein vermeintliches Widerstands-
452 Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, 1969, S. 8 spricht von Art. 20 IV GG als dem „liberale[n] Zuckerbrot“ „zur autoritären Peitsche“ der sonstigen Grundgesetzänderungen. 453 Kotzur, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 20 Rn. 182, 185 f.; K.-A. Schwarz, Widerstandsfall, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 282 Rn. 1 f., 6, 28 f.; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 339. Siehe auch die weiteren Nachweise bei Schmahl, Rechtsstaat und Widerstandsrecht, JöR n.F. 55 (2007), 99 (100 mit Fn. 5–7) und die Verteidigung der Vorschrift von Murswiek, Das Grundrecht auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns, in: FS Fiedler, 2011, S. 251 (260–263). 454 BVerfGE 89, 155 (180); 123, 267 (333); 132, 195 (236); 135, 317 (389). Siehe auch BVerfGE 112, 363 (367 f.). 455 Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 1500. 456 BVerfGE 89, 155 (167 f., 169 f.); 123, 267 (312 f.); 135, 317 (351). 457 Hiergegen dezidiert Heinemann, Das Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 99 (117 f.); Schmahl, Rechtsstaat und Widerstandsrecht, JöR n.F. 55 (2007), 99 (121). 458 BVerfG, NVwZ 2019, 161 (162).
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recht.459 Das zeigt die Ambivalenz und Instrumentalisierbarkeit der Vorschrift.460 Wenn auch der erste Schwung der dogmatischen Befassung mit Art. 20 IV GG verebbt ist461 und die Berufung auf die Vorschrift in der Rechtspraxis aussichtslos ist, so vermag die Rechtswissenschaft der Vorschrift des Art. 20 IV GG auch in der Gegenwart noch neue Facetten zu entlocken. Dies ist im Zusammenhang mit der demokratischen Dekonsolidierung aufschlussreich. So leitet Dietrich Murswiek aus Art. 20 IV GG ab, dass alle Staatsorgane zur Verteidigung des die Verfassungsidentität bestimmenden Verfassungskerns i.S.d. Art. 79 III GG verpflichtet seien.462 Hiermit korrespondiere ein subjektives Recht des Staatsbürgers auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns.463 Dieses Recht sei im Wege der Verfassungsbeschwerde durchsetzbar.464 Dogmatischer Hintergrund ist, dass Dietrich Murswiek zwischen dem Widerstandsrecht als Rechtsdurchsetzungsmacht bei eingetretenem Widerstandsfall einerseits und dem Anspruch auf Einhaltung des durchzusetzenden Rechts andererseits unterscheidet.465 Dieser Gedanke ist mit dem hier untersuchten Antizipationsgedanken vereinbar, nach welchem das Grundgesetz Gefahren für die Verfassung antizipiert und Instrumente zum Schutz der Verfassung bereithält. Man wird davon ausgehen können, dass die grundgesetzliche Ordnung umso besser geschützt wird, je früher den Gefahren entgegengetreten werden kann und keine gerichtliche Durchsetzung erfolgen muss. Vergleichbar ist die Argumentation von Karsten Nowrot, der über die Schutzpflichtdimension des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 20 IV GG versucht, einen Anspruch herzuleiten, dass der Einzelne erst gar nicht in eine Situation 459 BVerfGE 5, 85 (106, 345, 346). Siehe hierzu die Würdigung des Gerichts BVerfGE 5, 85 (358–380). 460 Siehe K.-A. Schwarz, Widerstandsfall, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 282 Rn. 4. 461 Nowrot, Jenseits eines abwehrrechtlichen Ausnahmecharakters, Rechtswissenschaftliche Beiträge der Hamburger Sozialökonomie 5 (2016), S. 5 spricht von „keine aktuelle Thematik“, „angestaubt“ und „Dornröschenschlaf“. 462 Murswiek, Verfassungsrechtliche Handlungspflichten zum Schutz der Verfassung, in: FS Kloepfer, 2013, S. 121 (129 f.); Murswiek, Das Grundrecht auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns, in: FS Fiedler, 2011, S. 251 (253–263). 463 Murswiek, Verfassungsrechtliche Handlungspflichten zum Schutz der Verfassung, in: FS Kloepfer, 2013, S. 121 (134–137); Murswiek, Das Grundrecht auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns, in: FS Fiedler, 2011, S. 251 (264–267). 464 Murswiek, Verfassungsrechtliche Handlungspflichten zum Schutz der Verfassung, in: FS Kloepfer, 2013, S. 121 (137); Murswiek, Das Grundrecht auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns, in: FS Fiedler, 2011, S. 251 (257–263). 465 Murswiek, Das Grundrecht auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns, in: FS Fiedler, 2011, S. 251 (261). Daraus folgt auch, dass der einzelne Staatsbürger sich nicht auf das Widerstandsrecht des Art. 20 IV GG berufen und im Wege der Selbstvornahme gegen vermeintliche Verfassungsverstöße vorgehen kann, Murswiek, Das Grundrecht auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns, in: FS Fiedler, 2011, S. 251 (253).
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gebracht wird, in der ihm das Widerstandsrecht zustünde.466 Beide Ansätze lassen die Vorschrift früher als sonst üblich Rechtsfolgen bewirken und entnehmen ihr schutzpflichtenartige Gehalte, die auf ein gesetzgeberisches Tätigwerden gerichtet sein können. Auch wenn die Einzelheiten zu Art. 20 IV GG umstritten sind, wirkt sich dies im Zusammenhang mit dem Grundsatz der antizipativen Verfassung nicht weiter aus. Für den vorliegenden Zusammenhang bedeutsam ist Folgendes: Erstens gesteht Art. 20 IV GG die Verletzlichkeit der Verfassung ein und adressiert die Möglichkeit des Versagens der Verfassung.467 Die demokratische Dekonsolidierung wird als Krise antizipiert. Notfalls soll „diese Ordnung“ über das Widerstandsrecht geschützt werden. Die Verfassungsordnung soll also möglichst lange erhalten bleiben.468 Hier kommt der zeitbezogene Aspekt in Form der Zukunftsbezogenheit deutlich zum Ausdruck. Während des Verfahrens der Verfassungsänderung, das zur Aufnahme des Art. 20 IV GG in das Grundgesetz führte, wurde auch die Erwartung oder Hoffnung geäußert, dass Art. 20 IV GG eine erzieherische Funktion erfüllen könne, denn die Bürgerinnen und Bürger sollen für verfassungsbedrohliche Entwicklungen sensibilisiert werden und wachsam sein.469 Die Differenzierungen von Dietrich Murswiek und Karsten Nowrot, die dem eingetretenen Widerstandsfall mit dem dann bestehenden Widerstandsrecht eine Phase voranstellen, in der im Rahmen der bestehenden Rechtsordnung gegen vorliegende oder drohende Verfassungsverletzungen vorgegangen werden kann, zeigen, dass Verfassungsbestimmungen in stärkerem Maße zeitlich abgestufte Inhalte entnommen werden können, als dies bislang interpretatorisch praktiziert wird. Dem steht nicht entgegen, dass das Widerstandsrecht des Art. 20 IV GG nicht veränderungsfest i.S.d. Art. 79 III GG ist und selbst abgeschafft werden kann. Erstens müsste ein solcher Schritt zunächst einmal erfolgen, und zweitens wäre auch dies ein starkes Symbol. Sofern von lediglich symbolischer Bedeutung der Vorschrift die Rede ist, mag dies zutreffen. Aber auch eine – bloß – symbolische Bedeutung hat immerhin Bedeutung. Deshalb ist in Art. 20 IV GG keine „Anarchieklausel“ zu sehen, sondern eine präventiv wirkende, bewahrende Vorschrift,470 die einen möglicherweise nur bescheidenen, aber im Ausnahmefall möglicherweise psychologisch bedeutsamen Beitrag leisten kann. Bereits 466 Nowrot, Jenseits eines abwehrrechtlichen Ausnahmecharakters, Rechtswissenschaftliche Beiträge der Hamburger Sozialökonomie 5 (2016), S. 11–17, insbes. S. 16. Hiergegen Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 345a. 467 Vgl. Wittreck, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 Abs. 4 (Widerstandsrecht) Rn. 14. 468 So auch K.-A. Schwarz, Widerstandsfall, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 282 Rn. 21, der von „perpetuiert“ spricht. 469 Siehe hierzu Schmahl, Rechtsstaat und Widerstandsrecht, JöR n.F. 55 (2007), 99 (105). 470 Robbers, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Januar 2014), Art. 20 Rn. 3393.
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hier sei – im Vorgriff auf die Ausführungen zu Art. 19 II GG471 – angemerkt, dass auch für eine bloß psychologische oder symbolische Funktion der Inhalt der Vorschrift entfaltet sein muss. Nur wenn das Symbol einen inhaltlichen Gehalt hat, der auch allgemein erkennbar ist, kann es seine Wirkung entfalten. Zweitens ist der Aspekt der Normenkumulation eng verwandt mit der Selbstbehauptung der Verfassung. Art. 20 IV GG spricht von „diese[r] Ordnung“ des Grundgesetzes und nimmt damit eine „Makroperspektive“472 ein. Dies erklärt die Stellung der Norm im unmittelbaren Anschluss an die verfassungsfesten Prinzipien des Art. 20 I bis III GG. Auch mehrere Maßnahmen, die sich in unterschiedlicher Weise und gegen unterschiedliche Teilschutzgüter richten, können unter den Oberbegriff „Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung“ zusammengefasst werden. Hiergegen wird das Widerstandsrecht in Stellung gebracht. Ein geschriebenes Widerstandsrecht existiert im südafrikanischen Recht ebenso wenig wie Diskussionen um ein ungeschriebenes Widerstandsrecht. g) Einrichtungsgarantien Weniger ambivalent im Hinblick auf die demokratische Dekonsolidierung sind die Einrichtungsgarantien. Sie sind von Rechtsprechung und Literatur anerkannt und werden in den klassischen Lehrbüchern473 und Kommentaren474 sowie in spezialisierten Monografien475, Gesamtdarstellungen476 und Aufsätzen477 dargestellt, die Rechtsprechung des BVerfG greift auf sie regelmäßig zurück.478 Dass das Grundgesetz Einrichtungsgarantien kennt, gilt als „herr471
Siehe hierzu unten C. V. und D. V. Wittreck, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 Abs. 4 (Widerstandsrecht) Rn. 14, siehe auch Rn. 18. Ähnlich K.-A. Schwarz, Widerstandsfall, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 282 Rn. 5. 473 Epping, Grundrechte, 9. Aufl. 2021, Rn. 430 f.; Kingreen/Poscher, Grundrechte, 38. Aufl. 2022, Rn. 122–124; Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 22 Rn. 27. 474 Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Januar 2021), Art. 1 Abs. 3 Rn. 17–20; Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Vor Art. 1 Rn. 30; Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Vorb. Art. 1 Rn. 30. 475 Abel, Die Bedeutung der Lehre von den Einrichtungsgarantien für die Auslegung des Bonner Grundgesetzes, 1964; Mager, Einrichtungsgarantien, 2003; Mainzer, Die dogmatische Figur der Einrichtungsgarantie, 2003; Schmidt-Jortzig, Die Einrichtungsgarantien der Verfassung, 1979. 476 Kloepfer, Einrichtungsgarantien, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. II, 2006, § 43; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 751–887, siehe dort auch die dreieinhalb-seitige Schrifttumsübersicht, S. 751–754. 477 De Wall, Die Einrichtungsgarantien des Grundgesetzes als Grundlagen subjektiver Rechte, Der Staat 38 (1999), 377 ff.; Waechter, Einrichtungsgarantien als dogmatische Fossilien, Die Verwaltung 29 (1996), 47 ff. 478 Aus jüngerer Zeit BVerfGE 148, 296 (345 f.). Siehe zur Rechtsprechung Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 774–776. 472
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schende Meinung“479, und grundsätzliche Ablehnung ist selten480. Das ist nicht selbstverständlich, schließlich verwendet das geschriebene Verfassungsrecht weder den Ausdruck „Einrichtungsgarantien“ noch die Unterkategorien „institutionelle Garantie“ oder „Institutsgarantie“.481 Hier wird der Begriff „Einrichtungsgarantien“ verwendet, der sowohl den Schutz privatrechtlicher Institute (Institutsgarantien) als auch öffentlichrechtlicher Institutionen (institutionelle Garantien) umfasst.482 Trotz der weitgehenden Einigkeit, dass es Einrichtungsgarantien gibt, besteht über Begriff, Inhalt, Ausmaß und Bedeutung dieser Figur Streit.483 Klaus Stern geht davon aus, dass eine Einrichtungsgarantie dann gegeben ist, „wenn die in ihr enthaltenen Objektivationen (Einrichtungen, Organisationsgebilde und rechtliche Grundfiguren) durch Normenkomplexe und tatsächliches Wirken formiert und abgrenzbar vorgefunden werden und im gewährleistenden Verfassungsrechtssatz so ausgestaltet sind, daß sie gewährleistet sein sollen, d.h. aufgrund ihrer historischen Verwurzelung und ihres Eigenwerts auch für die Zukunft des Gemeinschaftslebens besondere Stabilität und Kontinuität erhalten sollen“484. Er spricht in seiner Definition der Einrichtungsgarantien explizit die 479 Kloepfer, Einrichtungsgarantien, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. II, 2006, § 43 Rn. 18. 480 So z.B. von Mainzer, Die dogmatische Figur der Einrichtungsgarantie, 2003, S. 182– 215; Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 6 Rn. 21 „überholt und überflüssig“; Obermeyer, Die Institutsgarantie – Eine „gelungene Kunstschöpfung der Wissenschaft“?, KritV 2003, 142 (155–162); Waechter, Einrichtungsgarantien als dogmatische Fossilien, Die Verwaltung 29 (1996), 47 ff. Zweifelnd auch H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Vorb. vor Art. 1 Rn. 107 f. 481 Kloepfer, Einrichtungsgarantien, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. II, 2006, § 43 Rn. 1, 15. 482 So bereits F. Klein, Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, 1934, S. 2, 96 mit Fn. 16. So auch nach Inkrafttreten des Grundgesetzes Abel, Die Bedeutung der Lehre von den Einrichtungsgarantien für die Auslegung des Bonner Grundgesetzes, 1964, S. 13; F. Klein, in: v. Mangoldt/Klein, GG, Bd. I, 2. Aufl. 1957, Vorbem. A. VI. 3.; Kloepfer, Einrichtungsgarantien, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. II, 2006, § 43 Rn. 1; Mager, Einrichtungsgarantien, 2003, S. 1, passim; Mainzer, Die dogmatische Figur der Einrichtungsgarantie, 2003, S. 17, passim; Schmidt-Jortzig, Die Einrichtungsgarantien der Verfassung, 1979, S. 9. Zur ursprünglichen Differenzierung siehe C. Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung (1931), in: C. Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954, 4. Aufl. 2003, S. 140 (143 f.); C. Schmitt, Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 572 (595–597). Teilweise ist auch von institutionellen Gewährleistungen die Rede, so z.B. bei Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 1997, S. 51. 483 So Mager, Einrichtungsgarantien, 2003, S. 91, 95. So auch Kloepfer, Einrichtungsgarantien, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. II, 2006, § 43 Rn. 1 f.; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 769; Waechter, Einrichtungsgarantien als dogmatische Fossilien, Die Verwaltung 29 (1996), 47 (47). 484 Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 791. Siehe auch die abweichende Konzeption von Mager, Einrichtungsgarantien, 2003, S. 405–411.
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Zukunft des Gemeinschaftslebens an und greift so den hier betonten Zeitbezug der Verfassungsinterpretation heraus. Sichergestellt werden soll, dass die geschützten Eigenschaften dauerhaft gravierenden Eingriffen des Gesetzgebers entzogen sind. Die Rechtsprechung hat keine übergreifende Dogmatik entwickelt, sondern eher kasuistisch auf die Argumentation mit der Einrichtungsgarantie zurückgegriffen, v.a. im Zusammenhang mit Art. 6 I, Art. 14 I, Art. 28 II 1, Art. 33 V GG. Dabei fällt auf, dass gerade bei normgeprägten Vorschriften auf Einrichtungsgarantien rekurriert wird. Dies geschieht vermutlich, um die fehlende inhaltliche Bindung unter Berufung auf die Tradition zu kompensieren. Horst Dreier ist der Ansicht, dass die Bedeutung der Einrichtungsgarantien für die Rechtsprechung gesunken sei.485 Gerade im Hinblick auf das Berufsbeamtentum und die kommunale Selbstverwaltungsgarantie wird aber auch in jüngerer Zeit auf institutionelle Garantien zurückgegriffen. In seiner Entscheidung zum (verneinten) Streikrecht für Beamte hat das BVerfG ebenfalls ausgeführt, dass Art. 33 V GG „eine institutionelle Garantie des Berufsbeamtentums“ enthalte.486 Aus dem Wesen einer institutionellen Garantie ergebe sich, dass nur die Substanz der Einrichtung geschützt sei.487 Erfasst von der Garantie würden damit „nur diejenigen Regelungen, die das Bild des Berufsbeamtentums in seiner überkommenen Gestalt maßgeblich prägen, sodass ihre Beseitigung das Berufsbeamtentum als solches antasten würde“.488 Der Sinn der Garantie liege gerade darin, „den Kernbestand der Strukturprinzipien, mithin die Grundsätze, die nicht hinweggedacht werden können, ohne dass damit zugleich die Einrichtung selbst in ihrem Charakter grundlegend verändert würde, dem gestaltenden Gesetzgeber verbindlich als Rahmen vorzugeben“.489 Auch hier wird mit einem „Kernbestand“ argumentiert, der von einem Rest zu trennen ist und nach Ansicht des BVerfG auch getrennt werden kann, da anderenfalls die verbale Abgrenzung entbehrlich wäre. Obwohl die Grundidee der Einrichtungsgarantien der Schutz vor zu starken Eingriffen des Gesetzgebers ist, zeigt die Entscheidung des BVerfG zum Streikrecht für Beamte,490 dass die Beibehaltung des status quo durch die Einrichtungsgarantien auch die Aufnahme weiterer Schutzpositionen (Streikrecht) verhindern kann. Die Idee der Einrichtungsgarantien wurde in der Weimarer Republik entwickelt. Man kann den Grundgedanken mit „wenn schon, denn schon“ erfassen:
485 486
H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Vorb. vor Art. 1 Rn. 108. BVerfGE 148, 296 (345). Allgemein zum Streikverbot bereits Isensee, Beamtenstreik,
1971. 487 488 489 490
BVerfGE 148, 296 (345). BVerfGE 148, 296 (345). BVerfGE 148, 296 (346). BVerfGE 148, 296 ff.
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Wenn es in der Verfassung verankerte Grundrechte491 gibt, dann müssen sie auch eine Bedeutung und einen sinnvollen Anwendungsbereich haben. Dies war aber zunächst in der Dogmatik der Weimarer Staatsrechtslehre nicht der Fall. In einer ersten Phase wurden die Grundrechte sogar teilweise nicht als rechtsverbindlich angesehen.492 Dieses Verständnis wurde zwar überwunden, aber weiterhin sah man den einfachen Gesetzgeber als nur in sehr geringem Maße an die Grundrechte gebunden an.493 Da der Gesetzgeber nicht an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit494 gebunden war, wurde das Leerlaufen der Grundrechte als Problem gegen Ende der Weimarer Republik anerkannt.495 Ein einheitliches Verständnis der Einrichtungsgarantien entwickelte sich jedoch nicht.496 Insbesondere haben das Reichsgericht und der Staatsgerichtshof die Einrichtungsgarantien nicht näher entfaltet.497 Mit der Machtüberlassung an die Nationalsozialisten spielten Grundrechte und Einrichtungsgarantien keine Rolle mehr, sie waren in der Praxis irrelevant.498 Dementsprechend wurden die Einrichtungsgarantien 1937 von einem Autor „in das Museum für verfassungsrechtliche Begriffe des Liberalismus“ verwiesen.499
491 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass der Grundrechtsteil der Weimarer Reichsverfassung vielgestaltiger war, als es der des Grundgesetzes ist. An der heutigen Dogmatik gemessen, finden sich im Grundrechtsteil der Weimarer Reichsverfassung nicht nur Verfassungssätze, die als Grundrechte zu qualifizieren sind, vgl. bereits H. Preuß, Deutschlands republikanische Reichsverfassung, 2. Aufl. 1923, S. 91–96 sowie Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 272; Obermeyer, Die Institutsgarantie – Eine „gelungene Kunstschöpfung der Wissenschaft“?, KritV 2003, 142 (158). Diese Unterschiede müssten sorgfältig in Betracht gezogen werden, bevor eine Übertragung auf das Grundgesetz erfolgt. 492 H. Preuß, Deutschlands republikanische Reichsverfassung, 2. Aufl. 1923, S. 95. Siehe auch Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 280–282; W. Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 80–84; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 122–127, 1187–1190. 493 Hinzuweisen ist auf die Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt, die nur durch verfassungsänderndes Gesetz eingeschränkt werden konnten, vgl. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 282. 494 Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Reaktion auf das Weimarer Leerlaufen der Grundrechte siehe Poscher, Das Grundgesetz als Verfassung des verhältnismäßigen Ausgleichs, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 3 Rn. 23–29. 495 Giere, Das Problem des Wertsystems der Weimarer Grundrechte, 1932, S. 117 f.; Hensel, Die Rangordnung der Rechtsquellen insbesondere das Verhältnis von Reichs- und Landesgesetzgebung, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 313 (316 mit Fn. 2); C. Schmitt, Verfassungslehre, 11. Aufl. 2017, S. 166, 170– 174, 175–182. Kritisch auch Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 155 f. Auch das BVerfG hat es später thematisiert: BVerfGE 6, 32 (40 f.); 7, 377 (403 f.). 496 Menzel, Das Ende der institutionellen Garantien, AöR 67 (1937), 32 (32 f.). 497 So Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 757 mit Fn. 19, 762. 498 Siehe zur nationalsozialistischen Rechtsanschauung Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 8. Aufl. 2017, S. 101–111 sowie zum Abbau der Rechtsstaatlichkeit Fraenkel, Der Doppelstaat, 3. Aufl. 2012, S. 62–112. 499 Menzel, Das Ende der institutionellen Garantien, AöR 67 (1937), 32 (76).
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Dabei war es Carl Schmitt, der vorübergehende „Kronjurist“500 der Nationalsozialisten, welcher zuvor die Idee der Einrichtungsgarantien entscheidend entwickelt hatte. Zwar gab es bereits vor Carl Schmitts Ausarbeitungen Ansätze zu Einrichtungsgarantien,501 aber erst er hat die Einrichtungsgarantien zu einem verfassungsrechtlichen Begriff des Liberalismus gemacht.502 Er sah die Bedeutung der Einrichtungsgarantien darin, dass die geschützten Einrichtungen nicht im Wege der einfachen Gesetzgebung beseitigt werden durften.503 Hiermit fand er überwiegend Anklang in der Rechtswissenschaft.504 Ebenfalls diskutiert wurde die „Diktaturfestigkeit“ der Einrichtungsgarantien und damit, ob und inwieweit die Einrichtungsgarantien durch das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten nach Art. 48 II WRV eingeschränkt werden durften.505 Es wird darauf hingewiesen, dass die Zielrichtung der Einrichtungsgarantien nicht allein in der Stärkung der Grundrechte lag, denn die Einrichtungsgarantien wurden nur einigen Grundrechten entnommen und nicht nur Grundrechten, sondern nach heutigem Verständnis auch anderen dogmatischen Figuren, wie etwa der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie oder dem Berufsbeamtentum. Umstritten ist zwar, welchen Verfassungssätzen Einrichtungsgarantien entnommen werden konnten, einig war man sich jedoch, dass dies nicht bei allen Grundrechten der Fall war. Klassischerweise waren es nur diejenigen Verfassungsbestimmungen, die sich dem bürgerlich-liberalen Rechtsstaat zuordnen ließen und teilweise der rechtlichen Ausgestaltung bedurften (Selbstverwaltung der Gemeinden, Berufsbeamtentum, Lehrfreiheit und Selbstverwaltung der deutschen Hochschulen, Recht auf den gesetzlichen Richter und Verbot von Ausnahmegerichten, Schutz des Sonntags und der 500 Siehe zum Begriff Söllner, „Kronjurist des Dritten Reiches“, Jahrbuch für Antisemitismusforschung 1 (1992), 191 (191). Siehe auch Rüthers, Carl Schmitt im Dritten Reich, 2. Aufl. 1990, S. 71–80; Rüthers, Reinhard Höhn, Carl Schmitt und andere – Geschichten und Legenden aus der NS-Zeit, NJW 2000, 2866 (2868); Rüthers, Verfälschte Geschichtsbilder deutscher Juristen?, NJW 2016, 1068 (1068). 501 Siehe hierzu Mager, Einrichtungsgarantien, 2003, S. 12–20, die von Friedrich Giese und Martin Wolff als „Vorläufern“ spricht und die eigentliche Formulierung der Lehre von den Einrichtungsgarantien Carl Schmitt zuschreibt, S. 21 m.w.N. So auch Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 756. 502 So insbesondere C. Schmitt, Verfassungslehre, 11. Aufl. 2017, S. 170–174; C. Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung (1931), in: C. Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954, 4. Aufl. 2003, S. 140 ff.; C. Schmitt, Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in: Anschütz/ Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 572 (595–597). 503 C. Schmitt, Verfassungslehre, 11. Aufl. 2017, S. 170. 504 Siehe die Auseinandersetzung mit dem Schrifttum und entsprechenden Nachweisen bei F. Klein, Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, 1934, S. 50–92. Siehe zur weiteren Entwicklung bis 1945 Mager, Einrichtungsgarantien, 2003, S. 34–68; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 759–762. 505 F. Klein, Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, 1934, S. 242–255.
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staatlichen Feiertage, Religionsunterricht, Garantie der theologischen Fakultäten, Eigentum, Erbrecht, Ehe506). Dieses Verständnis lässt sich auch antiparlamentarisch, antiegalitär und sogar als gegen das Weimarer System insgesamt gerichtet deuten.507 Setzt man Demokratie mit Volkssouveränität und Mehrheitsprinzip gleich, kann die Etablierung von Grundrechten als negative Kompetenzen des Gesetzgebers als undemokratisch verstanden werden. Jedoch ist ein solches Verständnis nicht das des Grundgesetzes.508 Die Etablierung von Einrichtungsgarantien, institutionellen Garantien oder Institutsgarantien war während der Beratungen des späteren Grundgesetzes nicht präsent.509 Selbst wenn die Begriffe „institutionelle Garantie“ oder „Institutsgarantie“ in den Beratungen fielen, soll dies eher schlagwortartig und unreflektiert geschehen sein.510 Im Jahrbuch des öffentlichen Rechts zur Entstehung des Grundgesetzes511 fanden sich im Stichwortverzeichnis die Begriffe „Einrichtungsgarantien“, „institutionelle Garantien“, „Institutsgarantien“ nicht. Auf S. 933 wird im Inhaltsverzeichnis unter dem Stichwort „Garantie“ auf die Unterstichwörter „des Berufsbeamtentums“ und „der Selbstverwaltung“ verwiesen. Gleichwohl begannen Literatur und Rechtsprechung unmittelbar nach Inkrafttreten des Grundgesetzes mit der Übertragung der Figur der Einrichtungsgarantien auf das Grundgesetz.512 Allerdings dürfte hier in weiten Teilen eine unnötige Pfadabhängigkeit vorliegen, denn die von der Weimarer Staatsrechtslehre identifizierten Defizite der Grundrechtsdogmatik wurden u.a. durch Art. 1 III, Art. 19 II GG sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit adressiert, was die Übernahme der Einrichtungsgarantien in weiten Teilen überflüssig macht.513 Michael Kloepfer bezeichnet die Übertragung
506 C. Schmitt, Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 572 (595 f.). Siehe hierzu auch kritisch F. Klein, Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, 1934, S. 25–35. Vgl. auch Mager, Einrichtungsgarantien, 2003, S. 175–231. 507 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2002, S. 111. Ähnlich K. Groh, Zu den Grundrechten der Weimarer Reichsverfassung, DÖV 2019, 598 (603–605). 508 Siehe hierzu oben B. II. 1.–B. II. 1. e). 509 Kloepfer, Einrichtungsgarantien, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. II, 2006, § 43 Rn. 16. Zu der Zeit zwischen 1945 und 1949 in den Ländern siehe Stern, Staatsrecht, Bd. III/ 1, 1988, S. 763 f. 510 Mainzer, Die dogmatische Figur der Einrichtungsgarantie, 2003, S. 107. Ähnlich Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 764, 876–879. 511 JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010. 512 Siehe hierzu Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 764–774. 513 Vgl. Mainzer, Die dogmatische Figur der Einrichtungsgarantie, 2003, S. 182–215; Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 6 Rn. 21 „überholt und überflüssig“; Obermeyer, Die Institutsgarantie – Eine „gelungene Kunstschöpfung der Wissenschaft“?, KritV 2003, 142 (155–162); Waechter, Einrichtungsgarantien als dogmatische Fossilien, Die Verwaltung 29 (1996), 47 ff. Zweifelnd auch H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Vorb. vor Art. 1 Rn. 107 f.
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des Weimarer Gedankens der Einrichtungsgarantien als eigene dogmatische Figur auf das Grundgesetz dementsprechend als „recht unkritisch“.514 Nach hier vertretener Ansicht bedarf es der Einrichtungsgarantien nicht, weil ihre Funktionen im Bereich der Grundrechte von Art. 1 III, 19 II GG erfüllt werden. Dabei übernimmt Art. 19 II GG den Schutz der objektiven Dimension der Grundrechte (im Unterschied zum Schutz der individuellen Rechtsposition515) und damit des Kerngehalts, was früher über die Einrichtungsgarantien erreicht werden sollte. In den literarischen Stellungnahmen zum Inhalt der Einrichtungsgarantien behilft man sich mit Umschreibungen, die auch für die Wesensgehaltsgarantie herangezogen werden: „völlige Abschaffung“, „Minimum“, „Kernbereich“, „Kernbestand“, „Bestand“, „keine Aushöhlung“, „vernichtet“, „denaturiert“, „Identität“, „Durchbrechung“, „Durchlöcherung“, „Entleerung“ oder „Abwehr von ‚substanziellen‘ Eingriffen“516. Teilweise ist auch ausdrücklich vom „Wesen“ bzw. „Wesensgehalt“ die Rede.517 Die Ablösung der Einrichtungsgarantien durch Art. 1 III, 19 II GG entspricht indes nicht der überwiegenden Auffassung der Literatur und auch nicht der Rechtsprechung. Auch wenn die Einzelheiten der Einrichtungsgarantien streitig sind, kann doch das grundsätzliche Festhalten an ihnen als Ausdruck eines Bedürfnisses nach grundrechtlichen Sicherungen über das Verhältnismäßigkeitsprinzip hinaus gewertet werden. Das kann aber nur bedeuten, dass die bislang etablierten Grundrechtssicherungen als nicht ausreichend angesehen werden. Grund hierfür könnte zunächst das Fehlen von Sicherungen im Verfassungstext sein. Dies ist aber nicht der Fall, wie Art. 19 I 1 und 2, Art. 19 II GG sowie der aus dem Wesen der Grundrechte folgende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zeigen. Vielmehr wird weiter der eingeschlagene Pfad der Einrichtungsgarantien gegangen, weil die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG nicht hinreichend durchdrungen wurde. Dabei wäre diese methodisch vorrangig zu entfalten, denn sie ist explizit im Text des Grundgesetzes in Art. 19 II GG verankert und darf nicht durch die Übernahme eines verfassungstextlich nicht erwähnten Instituts aus einer untergegangenen Rechtsordnung überspielt werden.518 Insbesondere zeigen die Umschreibungsversuche auch, dass man strukturellen Verschiebungen, etwa bei der Eigentumsfreiheit, begegnen möchte. Damit ist aber 514 Kloepfer, Einrichtungsgarantien, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. II, 2006, § 43 Rn. 19. 515 Siehe hierzu unten D. IV. 1. W. Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 152 spricht von der positivrechtlichen Vollendung von theoretischen Ansätzen der Weimarer Entwicklung. 516 Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 759, 768, 773, 789, 790, 855, 856. 517 Pars pro toto die Nachweise bei Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 759, 761, 768, 854, 856, 862, 869. 518 Entgegengesetzt aber die Argumentation von Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG), 1990, S. 25 f.
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der Problempunkt die Maßnahmenkumulationen in den Blick genommen, der auch und gerade bei der demokratischen Dekonsolidierung bedeutsam ist. Auf den ersten Blick scheint das Konzept der Einrichtungsgarantien dem südafrikanischen Verfassungsrecht unbekannt zu sein, explizit verankert sind dort lediglich die in Art. 7(2) FC genannten Grundrechtsdimensionen. Jedoch ist auch im deutschen Verfassungsrecht der Sprung von Grundrechtsdimensionen zu Einrichtungsgarantien ein größerer. Auf den zweiten Blick lassen sich allerdings nähere Bezüge im südafrikanischen Recht zu den Einrichtungsgarantien herleiten. So könnte aus Art. 16(1)(a) FC (Pressefreiheit) das Institut der freien Presse oder aus dem bereits mehrfach erwähnten Art. 1(d) FC die Institution der politischen Partei (verstärkt durch Art. 19 FC) entnommen werden. Soweit ersichtlich, wurde hieraus aber noch kein grundrechtsdogmatisches Konzept geformt. Lediglich in einer Entscheidung519 hat der High Court of South Africa (North Gauteng Division, Pretoria) aus den Vorschriften über die „Chapter 9 Institutions“520 eine Art von verfassungsrechtlicher Garantie abgeleitet, wonach die Institutionen unabhängig und unparteiisch sein müssen. Wörtlich heißt es: „Sections 181(2) and (3) of the Constitution provide that the chapter nine institutions must exercise their powers and perform their functions without fear, favour or prejudice and oblige all organs of state to assist these institutions ‚to ensure the independence, impartiality, dignity and effectiveness of these institutions‘. The effect of these provisions is to provide a constitutional guarantee that these institutions will exercise their powers independently, impartially and effectively.“521 In Art. 181(2) und (3) der Verfassung ist festgelegt, dass die Institutionen des neunten Kapitels ihre Befugnisse und Funktionen ohne Furcht, Bevorzugung oder Vorurteile ausüben müssen und dass alle Staatsorgane verpflichtet sind, diese Institutionen zu unterstützen, ‚um die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Würde und Wirksamkeit dieser Institutionen zu gewährleisten‘. Diese Bestimmungen sollen eine verfassungsmäßige Garantie dafür bieten, dass diese Institutionen ihre Befugnisse unabhängig, unparteiisch und wirksam ausüben. [Übersetzung des Verfassers – Hervorhebung nicht im Original]
Da es sich bei den genannten Institutionen um öffentliche Einrichtungen handelt, wären sie – zumindest nach klassischer deutscher Dogmatik – institutio519 High Court (North Gauteng, Pretoria), 20.5.2019 – No. 11311/2018 und 13394/2018 – Democratic Alliance v. Public Protector; Council for the Advancement of the South African Constitution v. Public Protector, http://www.saflii.org/za/cases/ZAGPPHC/2019/ 132.html (Stand: 10.8.2023). 520 Siehe hierzu oben A. I. 3. e). 521 High Court (North Gauteng, Pretoria), 20.5.2019 – No. 11311/2018 und 13394/2018 Rn. 22 – Democratic Alliance v. Public Protector; Council for the Advancement of the South African Constitution v. Public Protector, http://www.saflii.org/za/cases/ZAGPPHC/2019/ 132.html (Stand: 10.8.2023) – Hervorhebung nicht im Original.
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nelle Garantien. Aber aus den Verfassungsvorschriften wird vom High Court nicht mehr herausgelesen, als ohnehin in der Verfassung steht. Somit sind dessen Ausführungen zu der „Verfassungsgarantie“ wohl eher dahin gehend zu verstehen, dass die Verfassung als höchstrangiges Gesetz die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Würde und Wirksamkeit dieser Institutionen festlegt und diesen deshalb besondere, eben verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt. Im Ergebnis lässt sich im südafrikanischen Verfassungsrecht keine den deutschen Einrichtungsgarantien vergleichbare Figur nachweisen. h) Wesensgehaltsgarantie Abschließend sei auf die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG hingewiesen, die einem Leerlaufen der Grundrechte vorbeugen will.522 Art. 19 II GG ist die einzige deutlich als solche formulierte Vorschrift zur Verhinderung des Leerlaufens von Grundrechten.523 Die Wesensgehaltsgarantie antizipiert gravierende und/oder zahlreiche Grundrechtsbeeinträchtigungen.524 Deshalb gehört die Befassung mit der Wesensgehaltsgarantie in eine Betrachtung der Antizipation. Da an dieser Stelle jedoch das Konzept der antizipativen Verfassung erst noch entwickelt werden soll, ist es methodisch nicht angezeigt, das Konzept der antizipativen Verfassung mittels der Wesensgehaltsgarantie zu begründen und sodann aus dieser Verallgemeinerung Rückschlüsse für die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG ziehen zu wollen. Eine solche methodische Rückkopplung wäre zirkulär und würde dogmatische Verzerrungen provozieren. Deshalb wird das Konzept der antizipativen Verfassung zunächst ohne Rekurs auf die Wesensgehaltsgarantie ermittelt.525 i) Zwischenergebnis Im Grundrechtsbereich lassen sich mehrere Vorschriften finden, die explizit auf den Schutz der liberalen Demokratie eingehen. Sie haben gemeinsam, dass 522 Allgemeine Meinung, siehe allein H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 Abs. 2 Rn. 1 f.; P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 110–112; Leisner-Egensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 1–3; Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Mai 2008), Art. 19 Abs. 2 Rn. 1, 18; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 851, 864 f. 523 Vgl. P. Reimer, Verhältnismäßigkeit im Verfassungsrecht, ein heterogenes Konzept, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 60 (71). 524 Schaks, Das Verbot der Belastungskumulation als Bestandteil der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, DÖV 2015, 817 (821); Schaks, Schutz des Wesensgehalts der Grundrechte, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. III, 2. Aufl. 2022, § 88 Rn. 24 f. 525 Die Erörterung des Verhältnisses beider Figuren zueinander bleibt dem Teil D., dort insbes. V. überlassen.
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sie Angriffe auf die verfassungsmäßige Ordnung für möglich halten und Abhilfemöglichkeiten bereitzuhalten versuchen, z.B. die Grundrechtsverwirkung des Art. 18 GG, die qualifizierten Gesetzesvorbehalte der Art. 9 II, Art. 10 II, Art. 11 II GG oder die Verpflichtung zur Verfassungstreue des Art. 5 III 2 GG im Falle der Wissenschaftsfreiheit. Allerdings sind sie oftmals ambivalent, weil sie den Staat zu Eingriffen ermächtigen, sich aber nicht gegen diesen in besonderer Weise richten, obwohl von ihm die Gefahr der demokratischen Dekonsolidierung ausgeht.
7. Zwischenergebnis Einzelnen Vorschriften des Grundgesetzes lässt sich entnehmen, dass sie nicht nur zukunftsgerichtet sind, sondern zusätzlich auch für den Fall Antworten bereithalten, dass Angriffe auf den Kern der Verfassungsordnung von innen erfolgen. Dies lässt sich u. a. für Art. 5 III 2, Art. 9 II, Art. 10 II 2, Art. 11 II, Art. 18, Art. 21 II 1, Art. 21 III 1, Art. 28 II 1, Art. 33 IV, V, Art. 79 III, Art. 91 und Art. 98 II, V GG nachweisen. Hierbei lassen sich zwei Schutzgüter ausmachen, die – mögen sie sich auch überschneiden – nicht identisch sind: erstens die Verfassungsidentität nach Art. 79 III GG und zweitens die freiheitliche demokratische Grundordnung u.a. in Art. 21 II GG. Das weiter gefasste Schutzgut der Verfassungsidentität ist relevant im Zusammenhang mit Bestrebungen von Hoheitsträgern, während die freiheitliche demokratische Grundordnung gegenüber Privaten in Stellung gebracht werden kann. Demgegenüber hat Art. 20 IV GG eine Doppelstellung. In Abhängigkeit davon, von wem die Bedrohung ausgeht, genügt entweder bereits eine Gefahr für die Verfassungsidentität oder es muss eine Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu besorgen sein. Dieser Befund lässt sich insgesamt unter den Begriff „Antizipation“ subsumieren. Antizipation wird hierbei als das Einstellen auf Gefährdungen der Verfassungsordnung des Grundgesetzes verstanden.526 Der grundsätzliche Gedanke lautet, dass die Verfassungsordnung den Faktor Zeit berücksichtigt und sich auf Gefährdungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung frühzeitig einstellt, indem sie Reaktionsmöglichkeiten vorhält. Dieses Vorgehen ist somit nicht nur sinnvoll, sondern auch im geltenden Verfassungsrecht nachzuweisen. Das Konzept der Antizipation gestattet es, auf zukünftige Situationen, hier die demokratische Dekonsolidierung, innerhalb eines bereits etablierten Rechtsrahmens zu reagieren. Rechtsprechung sowie Literatur bauen auf Erfahrungen und Vorarbeiten auf und passen die Aussagen bei Bedarf zur 526
Sie hierzu ausführlich oben C.–C. II. 5.
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Lösung neuer Probleme an. Dies belegt exemplarisch die Fortentwicklung des Art. 79 III GG im Zuge der europäischen Integration.527 „Antizipation“ ist kein eigener Grundsatz, aus dem selbst unmittelbar konkrete Rechtsfolgen abzuleiten wären oder der um seiner selbst willen möglichst weit zu verwirklichen wäre. Vielmehr handelt es sich um ein Konzept, das als Element verschiedener Vorschriften interpretatorisch in unterschiedlichem Maße entfaltet werden kann. Hierfür bieten sich die systematische, historische und teleologische528 Interpretation an. Wenn die Verfassung besondere Mechanismen für besondere Krisensituationen (hier die Krise der demokratischen Dekonsolidierung) vorhält, dann muss auch erkennbar sein, wann der Krisenfall eingetreten ist und was der Krisenmechanismus leisten kann. Das setzt aber die Kenntnis des Inhalts der Vorschrift voraus. Die Verfassungskerne wie die Verfassungsidentität des Art. 79 III GG oder die freiheitliche demokratische Grundordnung stellen absolute Grenzen auf und sind auch geeignet, Kumulationen zu erfassen. Damit die Grenzen jedoch eingehalten werden können, ist ebenfalls erforderlich, dass der Inhalt der Vorschriften hinreichend ermittelt ist. Insbesondere muss klar sein, wann die jeweilige Grenze überschritten wird und welche Kumulationen noch ertragen werden und welche nicht mehr. Die bisherige Analyse hat ergeben, dass es in dieser Hinsicht zu oft an Klarheit und Konsens fehlt. Das südafrikanische Verfassungsrecht verwendet zwar den Begriff „Antizipation“, aber nicht im hier verstandenen Sinne. Jedoch lässt sich auch einzelnen Vorschriften der südafrikanischen Verfassung eine Vorausschau und insbesondere eine Tendenz zum Schutz der Verfassungsordnung erkennen. Diese unterscheidet sich allerdings von dem antizipativen Charakter des Grundgesetzes, da sie nicht repressiv, sondern auf Schutz und Verwirklichung sowie Erziehung und Aufklärung gerichtet ist. Auch ließen sich keine absoluten Grenzen jenseits der Menschenwürdegarantie ausmachen und selbst das Pendant zu Art. 79 III GG, Art. 74 FC, ist nicht in ähnlicher Weise auf „Ewigkeit“ ausgerichtet, denn selbst die am stärksten geschützte Verfassungsbestimmung (Art. 1 FC) kann, wenn auch nur mit einer Dreiviertelmehrheit in der National Assembly, geändert werden (Art. 74(I) FC). Insgesamt lässt sich festhalten,
527
Siehe hierzu oben C. III. 1. b)–C. III. 1. b) bb). Auch wenn diese streng genommen keine eigene Interpretationsmethode ist, sondern nur selbst aus der Zusammenfassung von grammatischer, systematischer und historischer Auslegung ermittelt werden kann (F. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, 11. Aufl. 2013, Rn. 364; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, Rn. 68; Sodan, Kollegiale Funktionsträger als Verfassungsproblem, 1987, S. 514 f.; Sodan, Unabhängigkeit und Methodik von Verfassungsrechtsprechung, in: Sodan [Hrsg.], Wechsel und Kontinuität im Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, 2001, S. 21 [24]), wird der Einfachheit halber und aus Gründen der Üblichkeit der Ausdruck teleologische Auslegung verwendet. 528
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C. Antizipation im Grundgesetz
dass das Grundgesetz stärker auf die Vergangenheit bezogen ist und genau die Entwicklungen, die zum Untergang der Weimarer Republik und zur nationalsozialistischen Diktatur geführt haben, rechtlich einhegen will.
IV. Antizipation und verwandte Konzepte Bislang hat sich die Untersuchung auf einzelne Bestimmungen des Grundgesetzes konzentriert und anhand dieser den antizipativen Charakter des Grundgesetzes ermittelt. Dabei klang jedoch bereits an, dass es auch übergreifende Konzepte auf Verfassungsebene gibt, die eine gewisse Nähe zur Antizipation aufweisen. Die „wehrhafte Demokratie“ dürfte wohl die offensichtlichste Figur sein. Deshalb soll im Folgenden diesen und verwandten Konzepten auf ihren antizipativen Gehalt nachgespürt werden. Die Prämisse hierbei ist die folgende: Wenn nicht nur einzelnen Vorschriften des Grundgesetzes ein antizipativer Charakter entnommen werden kann, sondern wenn aus ihnen zum Schutz vor der demokratischen Dekonsolidierung sogar besondere vorschriftenübergreifende Konzepte entwickelt wurden, dann ist der antizipative Charakter noch stärker ausgeprägt.
1. Der Grundsatz der wehrhaften Demokratie Unter „wehrhafter Demokratie“ versteht man den Normbestand des Grundgesetzes, welcher „Vorkehrungen zur Verteidigung seiner freiheitlichen demokratischen Grundlagen gegen Angriffe von innen und außen“ enthält.529 Mit den grundgesetzlichen Vorkehrungen sind insbesondere die Ewigkeitsklausel des Art. 79 III GG530, das Instrument der Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG)531, die Möglichkeit von Partei-532 und Vereinsverboten533 (Art. 21 II 1 GG bzw. Art. 9 II GG) sowie das Widerstandsrecht534 (Art. 20 IV GG) gemeint. Teilweise werden auch andere Vorschriften wie etwa Art. 5 III 2 GG535 oder Art. 139 GG536 hierunter gefasst. Überwiegend werden jedoch Angriffe von 529 Papier/Durner, Streitbare Demokratie, AöR 128 (2003), 340 (341). Werner-Kappler, Das Recht der Extremismusbekämpfung, AöR 148 (2023), 204 (206, passim) macht zu Recht darauf aufmerksam, dass sich Regelungen zur Wehrhaftigkeit auch im Verwaltungsrecht finden lassen. 530 Siehe oben C. III. 1.–C. III. 1. e). 531 Siehe oben C. III. 6. e) ee). 532 Siehe oben C. III. 6. e) aa). 533 Siehe oben C. III. 6. c). 534 Siehe oben C. III. 6. f). 535 Siehe oben C. III. 6. d). 536 Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 139 Rn. 5.
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außen ausgeklammert, sodass sich je nach Verständnis mehr oder weniger ausgeprägte Überschneidungen mit dem (inneren und äußeren) Notstand ergeben.537 „Die Gegner der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sollen nicht mit allen, sogar den von der Verfassung selbst zur Verfügung gestellten Mitteln auf eine Beseitigung dieser Ordnung hinwirken dürfen, sondern sehen sich bei Überschreiten bestimmter Grenzen staatlichen Schutzmechanismen und Abwehrmaßnahmen ausgesetzt.“538 Die Freiheit reicht somit nur so weit, wie sie sich nicht in spezifischer Weise gegen die Freiheit selbst richtet. Die Literatur spricht in diesem Zusammenhang auch von dem „unbedingten Willen zur Selbsterhaltung und Selbstverteidigung“539 oder „Selbsterhaltungsmechanismen“540. Für Anna-Bettina Kaiser sind die Vorschriften der wehrhaften Demokratie „das eigentliche Ausnahmeverfassungsrecht der frühen Bundesrepublik“541. Wie die Bezugnahmen auf bereits analysierte Vorschriften zeigen, weist die wehrhafte Demokratie enge, aber auch ambivalente Bezüge zur Antizipation der demokratischen Dekonsolidierung auf. a) Begriff In Rechtsprechung und Literatur werden verschiedene Begriffe zur Bezeichnung der soeben beschriebenen „wehrhaften Demokratie“ verwendet. So ist zumeist von wehrhafter542 oder streitbarer543 Demokratie die Rede, gelegentlich, aber insgesamt seltener auch von abwehrbereiter544, militanter545 bzw. intoleranter546 Demokratie.547 537
Siehe hierzu unten C. IV. 2. a). Thiel, Zur Einführung: Die „wehrhafte Demokratie“ als verfassungsrechtliche Grundentscheidung, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 1 (1). 539 Bulla, Die Lehre von der streitbaren Demokratie, AöR 98 (1973), 340 (341 f.). 540 Thrun, Worum kämpft die wehrhafte Verfassung?, DÖV 2019, 65 (65). 541 A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 154, 285. 542 Schliesky, Die wehrhafte Demokratie des Grundgesetzes, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 277 Rn. 1–3, passim. 543 BVerfGE 5, 85 (139); 25, 44 (58); 25, 88 (100); 28, 36 (48), 28, 51 (55); Sattler, Die rechtliche Bedeutung der Entscheidung für die streitbare Demokratie, 1982. 544 Schuster, Über die Grenzen der „abwehrbereiten Demokratie“, JZ 1968, 152 ff. Teilweise auch Fromme, Die Streitbare Demokratie im Bonner Grundgesetz, in: Bundesministerium des Inneren (Hrsg.), Verfassungsschutz und Rechtsstaat, 1981, S. 185 (185). 545 Loewenstein, Militant Democracy and Fundamental Rights I, The American Political Science Review 31 (1937), 417 ff. sowie Loewenstein, Militant Democracy and Fundamental Rights II, The American Political Science Review 31 (1937), 638 ff. 546 Fox/Nolte, Intolerant Democracies, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1 ff. verwenden den Begriff „intolerant democracies“ im Titel ihres Aufsatzes, aber eher in einem beschreibenden als in einem normativen Sinne, da im Text zumeist von „militant democracy“ die Rede ist, vgl. S. 24, 32–36. 547 Zur Terminologie Bulla, Die Lehre von der streitbaren Demokratie, AöR 98 (1973), 340 (341–346); Thiel, Zur Einführung: Die „wehrhafte Demokratie“ als verfassungsrechtliche Grundentscheidung, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 1 (5 f.). 538
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Oft werden verschiedene Bezeichnungen von Autoren auch synonym gebraucht.548 Teilweise wird von „wehrhafter Verfassung“ gesprochen.549 Hier soll der Begriff „wehrhafte Demokratie“ verwendet werden. Das Attribut „wehrhaft“ bringt besonders deutlich den verteidigenden Charakter des Konzepts zum Ausdruck. Die Abwehr ist – bereits sprachlich – die Reaktion auf einen vorherigen Angriff. Die bisherige Lage soll beibehalten werden, und der Angriff ist Anlass und Rechtfertigung, sich gegen diesen zu wehren. Bei dem häufig verwendeten Synonym „streitbar“ ist dieser Zusammenhang nicht so deutlich. Überdies wird in einer Demokratie stets gestritten. Die Frage ist, wie gestritten und mit welchen Mitteln Streit entschieden wird.550 Demgegenüber kommt der antizipative Charakter bei dem – weniger gebräuchlichen – Synonym „militant“ nicht vergleichbar zum Ausdruck. Aus diesen Gründen dürfte der Begriff „wehrhafte“ der treffendste sein. Hier wird der Begriff „wehrhafte Demokratie“ verwendet, obwohl „wehrhafte Verfassung“ möglicherweise präziser wäre. Die oft als solche bezeichnete „wehrhafte Demokratie“ will nämlich nicht nur das Demokratieprinzip schützen, sondern die freiheitliche demokratische Grundordnung.551 Dieses Schutzgut bezieht sich nicht nur auf das Demokratieprinzip oder Ausschnitte hiervon. Bereits dem Wortlaut nach steckt in dem Begriff „freiheitliche demokratische Grundordnung“ mehr als nur das Demokratieprinzip, nämlich auch individuelle Freiheit. Seit dem zweiten NPD-Urteil versteht das BVerfG den Begriff „freiheitliche demokratische Grundordnung“ auch vornehmlich durch die Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG angeleitet und stellt ihr demokratische und rechtsstaatliche Elemente an die Seite.552 Jedoch hat sich der Begriff „wehrhafte Demokratie“ so eingebürgert, dass er verständlicher und aussagekräftiger ist. Außerdem ist die liberale Demokratie des Grundgesetzes ohnehin durch die Verbindung demokratischer, rechtsstaatlicher und freiheitlicher Elemente gekennzeichnet. Ulrich Scheuner differenziert zwischen repressivem, präventivem und konstruktivem Verfassungsschutz.553 Zwar bezog sich sein Beitrag nicht explizit auf die wehrhafte Demokratie. Da der Festgabenbeitrag aber kurz nach In548 So z.B. von Masing, Meinungsfreiheit und Schutz der verfassungsrechtlichen Ordnung, JZ 2012, 585 (591), der sowohl von wehrhafter als auch von streitbarer Demokratie spricht. 549 Hierfür mit guten Gründen Thrun, Worum kämpft die wehrhafte Verfassung?, DÖV 2019, 65 (67 f.). 550 Fuhrmann, Antiextremismus und wehrhafte Demokratie. Kritik am politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland, 2019, S. 92 weist darauf hin, dass die wehrhafte Demokratie bestimmte Grundsätze gerade dem Streit entziehen will, weshalb er den Begriff „streitbare Demokratie“ verwirft. 551 So auch Thrun, Worum kämpft die wehrhafte Verfassung?, DÖV 2019, 65 (67 f., passim); M. Will, Ephorale Verfassung, 2017, S. 13 f. 552 BVerfGE 144, 20 (202 f., 205–210). 553 Scheuner, Der Verfassungsschutz im Bonner Grundgesetz, in: FG Kaufmann, 1950, S. 313 (325 f., 327–330).
IV. Antizipation und verwandte Konzepte
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krafttreten des Grundgesetzes erschien und die heute gebräuchliche Terminologie damals noch nicht üblich war, beanspruchen die dortigen Ausführungen auch für die wehrhafte Demokratie Geltung bzw. lassen sich auf diese übertragen. Der Sache nach geht es in seinem Aufsatz um die „wehrhafte Demokratie“, wie auch die dort untersuchten Vorschriften belegen. Die Differenzierung nach „präventiv“ und „repressiv“ knüpft an den Eintritt einer Rechtsgutsverletzung an, nicht an den Charakter der eingesetzten staatlichen Mittel.554 Als repressiv versteht Ulrich Scheuner „Normen über Hoch- und Landesverrat“, also v.a. Strafvorschriften, sowie die Bundespräsidentenanklage gem. Art. 61 GG.555 Präventiv sind demgegenüber die Vorschriften, die nicht den Eintritt eines Verletzungserfolgs erfordern, sondern bereits im Vorfeld Rechtswirkungen entfalten. Genannt werden Art. 79, Art. 1 III, Art. 31, Art. 100 I, II GG, die Vorschriften über die Verfassungsgerichtsbarkeit und auch Art. 18 und Art. 21 II GG.556 Schließlich meint er mit konstruktivem Verfassungsschutz solche Vorschriften der Verfassung, die z.B. „die Jugend zum demokratischen Staatsgedanken“ erziehen sollen. Solche sieht Ulrich Scheuner im Grundgesetz aber nicht verankert (im Unterschied zu einigen Landesverfassungen).557 Auch Gotthard Jasper unterscheidet in seiner Dissertation über die Weimarer Republik zwischen repressiven558 und positiven Maßnahmen zum Schutz der Republik, die er wiederum in soziologischen559 und konstruktiven Republikschutz560 unterteilt. Zwar ist in Rechtsprechung und Literatur im Zusammenhang mit der wehrhaften Demokratie teilweise auch heute noch von „präventive[m] Verfassungsschutz“561 oder „präventivem Demokratieschutz“562 die Rede, was zu 554
Siehe hierzu oben C. I. Scheuner, Der Verfassungsschutz im Bonner Grundgesetz, in: FG Kaufmann, 1950, S. 313 (327). 556 Scheuner, Der Verfassungsschutz im Bonner Grundgesetz, in: FG Kaufmann, 1950, S. 313 (328–330). 557 Scheuner, Der Verfassungsschutz im Bonner Grundgesetz, in: FG Kaufmann, 1950, S. 313 (330). 558 Jasper, Der Schutz der Republik, 1963, S. 106–210. 559 Jasper, Der Schutz der Republik, 1963, S. 211–227. 560 Jasper, Der Schutz der Republik, 1963, S. 227–276. 561 BVerfGE 80, 244 (253); 144, 20 (199); 149, 160 (194, 199); BVerfG(K), NVwZ 2020, 224 (225). In BVerfGE 149, 160 (213) ist von dem präventiven Charakter des Art. 9 II GG als Teil der wehrhaften Demokratie des Grundgesetzes die Rede, in BVerfGE 144, 20 (158) von dem „Präventionszweck des Parteiverbotsverfahrens“; BVerfGE 5, 85 (142) spricht von „Präventivmaßnahme“ und BVerfGE 5, 85 (143) von dem „präventiven Charakter“ des Art. 21 II 1 GG. 562 Ordnung, Zur Praxis und Theorie des präventiven Demokratieschutzes, Bd. 1 und 2, 1985; Scherb, Präventiver Demokratieschutz als Problem der Verfassungsgebung nach 1945, 1987. So auch Sajó/Uitz, The Constitution of Freedom, 2017, S. 433: „The fact that militant democracy measures are preventive […].“ – Hervorhebung im Original. „Die Tatsache, dass die Mittel der wehrhaften Demokratie präventiv sind […].“ [Übersetzung des Verfassers] 555
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C. Antizipation im Grundgesetz
der Annahme verleiten könnte, dass die wehrhafte Demokratie den Eintritt der Krisensituation verhindern sollte.563 Nach dem Sprachgebrauch bedeutet Prävention jedoch mehr als Antizipation, nämlich die Vorbeugung vor oder Verhütung von einer bestimmten Situation. Antizipation heißt hingegen, dass sich auf die Situation, welche die Prävention verhindern will, lediglich eingestellt wird. Prävention dürfte deshalb nur dann der richtige Begriff sein, wenn er sich nicht auf das eingesetzte Mittel bezieht, denn die zuvor zitierten Arbeiten beschäftigen sich mit den klassischen Elementen der wehrhaften Demokratie und analysieren Partei- und Vereinsverbote, Grundrechtsverwirkung etc. als abwehrende Instrumente.564 Teilweise wird dies auch in den Untertiteln der Arbeit kenntlich gemacht.565 Präventiv ist nach diesem Verständnis jedoch nur der Zeitpunkt (bezogen auf die Rechtsgutsverletzung oder das Handeln), nicht das Mittel. Die Abwehrmechanismen sind zwar zu einem Zeitpunkt verfassungsrechtlich verankert und auch einsatzbereit, zu dem noch nicht konkrete Angriffe auf die Demokratie erfolgen oder gar Schäden eingetreten sind. Trotzdem handelt es sich um Mechanismen, die bei einer eingetretenen Krise oder ihrem unmittelbaren Bevorstehen für Abhilfe sorgen sollen. Diese Mechanismen verhindern aber nicht zwingend oder zumindest nur dann den Eintritt der Krise, wenn man die erreichte Abschaffung der Demokratie als Bezugspunkt wählt. Schließlich verlangt das BVerfG für die Begründetheit des Parteiverbots als „Präventionsmechanismus“ nur ein aktives, planvolles Vorgehen,566 nicht aber eine gewaltsame Umsturzbewegung oder eine konkrete Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung.567 Tatsächlich präventiv wäre es, bildlich gesprochen, nicht nur das Gegenmittel parat zu haben, sondern aktiv dafür einzutreten, dass der Fall, in dem das Gegenmittel gebraucht wird, nicht eintritt. Auch in anderen Hinsichten sind die Begriffsverständnisse nicht immer einheitlich und klar. So kennen einerseits die repressiven Strafvorschriften auch die Strafbarkeit des Versuchs, sodass es für die repressive Sanktion nicht des Verletzungserfolgs bedarf. Andererseits gehen die Strafzwecktheorien von der präventiven Wirkung des an sich repressiven Strafrechts aus.568 Die Begriffe 563
Siehe hierzu bereits oben unter C. I. Teilweise, z.B. im Zusammenhang mit der beamtenrechtlichen Treuepflicht, wird auf den Effekt der Demokratiesicherung eingegangen, so etwa von Scherb, Präventiver Demokratieschutz als Problem der Verfassungsgebung nach 1945, 1987, S. 32 f., 56–60. 565 So bei Ordnung, Zur Praxis und Theorie des präventiven Demokratieschutzes, Bd. 1 und 2, 1985, wo der Untertitel lautet: „Darlegungen zum Problem der ,streitbaren Demokratie‘ und seinem verfassungsrechtlichen, politischen und historischen Umfeld am Beispiel des Parteiverbots“. 566 BVerfGE 144, 20 (221). 567 BVerfGE 144, 20 (199 f.). 568 Vgl. BGH, wistra 2002, 260 (261); Lackner/Kühl/Heger, StGB, 30. Aufl. 2023, § 46 Rn. 1–5. 564
IV. Antizipation und verwandte Konzepte
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„repressiv“ und „präventiv“ sind deshalb nicht frei von potenziellen Missverständnissen. Das erfolgte Parteiverbot selbst wird man jedoch als eine reaktive und repressive Maßnahme ansehen müssen, die den Bestand der Organisation „Partei“ beendet. Die bereits zuvor etablierte grundsätzliche Möglichkeit eines Parteiverbots ist hingegen antizipativ. b) Ursprünge der wehrhaften Demokratie Die Ursprünge der Figur „wehrhafte Demokratie“ in der deutschen569 Rechtsordnung lassen sich gut zurückverfolgen. Sie wurzeln in der Weimarer Reichsverfassung und der damaligen Staatsrechtslehre. Nach der überwiegenden Auffassung in jener Zeit ließ sich die Verfassung nicht gegen antidemokratische Tendenzen in Stellung bringen. Die demokratische Verfassung war neutral in dem Sinne, dass sie sich der Umwandlung in eine undemokratische Ordnung nicht entgegenstellte, sofern Zuständigkeit, Verfahren und Form gewahrt waren.570 Berühmt ist in dieser Hinsicht eine Formulierung von Hans Kelsen: „Die Demokratie ist diejenige Staatsform, die sich am wenigsten ihrer Gegner wehrt. Es scheint ihr tragisches Schicksal zu sein, daß sie auch ihren ärgsten Feind an ihrer eigenen Brust nähren muss. Bleibt sie sich selbst treu, muß sie auch eine auf Vernichtung der Demokratie gerichtete Bewegung dulden, muß sie ihr wie jeder anderen politischen Überzeugung die gleiche Entwicklungsmöglichkeit gewähren.“571
Diese Ansicht wurde weitgehend geteilt, wie sich auch anhand der Stellungnahmen zu den (fehlenden) materiellen Grenzen der Verfassungsänderungen zeigt.572 Auch später hat Hans Kelsen ähnlich formuliert. So heißt es in der Zweitauflage seines Werks „Was ist Gerechtigkeit?“ aus dem Jahre 1975 wie folgt: „Aber kann Demokratie tolerant bleiben, wenn sie sich gegen anti-demokratische Umtriebe verteidigen muß? Sie kann es! In dem Maße, als sie friedliche Äußerungen antidemokratischer Anschauungen nicht unterdrückt. Gerade durch solche Toleranz un569 Scherb, Präventiver Demokratieschutz als Problem der Verfassungsgebung nach 1945, 1987, S. 250 f. weist darauf hin, dass in den USA das Konzept der wehrhaften Demokratie eine ideengeschichtliche Tradition aufweist, die bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zurückreicht. 570 Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung im allgemeinen, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. I, 1929, S. 1 (38–47); Thoma, Grundbegriffe und Grundsätze, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 108 (155– 157). Hierzu aus der Literatur ab 1949: Bulla, Die Lehre von der streitbaren Demokratie, AöR 98 (1973), 340 (341–344); Lameyer, Streitbare Demokratie, 1978, S. 18–21. 571 Kelsen, Verteidigung der Demokratie, in: Kelsen, Demokratie und Sozialismus, 1967, S. 60 (68). Der Aufsatz erschien ursprünglich 1932 in „Blätter der Staatspartei“. 572 Siehe hierzu oben C. III. 1. a) bb).
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terschiedet sich Demokratie von Autokratie. Wir sind berechtigt, Autokratie abzulehnen und auf unsere demokratische Staatsform stolz zu sein, nur so lange wir diesen Unterschied aufrecht erhalten. Demokratie kann sich nicht dadurch verteidigen, daß sie sich selbst aufgibt. Aber es ist das Recht jeder, auch einer demokratischen Regierung, Versuche, sie mit Gewalt zu beseitigen, mit Gewalt zu unterdrücken und durch geeignete Mittel zu verhindern. Die Ausübung dieses Rechts ist weder mit dem Prinzip der Demokratie noch mit dem der Toleranz in Widerspruch.“573
Hierbei bleibt allerdings unklar, ab wann „Gewalt“ vorliegt. Gewaltsame Staatsstreichversuche, die in der Weimarer Republik durchaus vorkamen, wurden jedenfalls erfasst, z.B. durch § 1, § 6, § 7, § 8, § 9 Republikschutzgesetz.574 Das BVerfG hat in seinem zweiten NPD-Urteil zu dieser Frage ausgeführt, dass nicht erst strafrechtlich relevantes Handeln erforderlich sei, damit das Tatbestandsmerkmal „darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen“ erfüllt sei.575 Die Folge des Weimarer Relativismus war, dass die demokratische Ordnung sich selbst abschaffen durfte.576 Nur der gewaltsame Staatsstreich bzw. der Versuch hierzu schienen sanktionierbar. Aus diesem Grund behauptete die NSDAP nach dem gescheiterten Putsch von 1923 zumindest nach außen, künftig ein rein legales Vorgehen praktizieren zu wollen.577 Zur Bestätigung der These, dass die Weimarer Verfassung wehrlos war und diese Schwäche von ihren Gegnern entscheidend ausgenutzt wurde, wird oft der (spätere) nationalsozialistische Propagandaminister Joseph Goebbels zitiert: „Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahmzulegen. Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache.“578 „Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir.“579 „Das wird immer einer der besten Witze der Demokratie bleiben, daß sie ihren Todfeinden die Mittel selbst stellte, durch die sie vernichtet wurde.“580 573
Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, 2. Aufl. 1975, S. 42. Gesetz zum Schutze der Republik v. 21.7.1922, RGBl. I, 585. 575 BVerfGE 144, 20 (221 f.). 576 Brenner, Die wehrhafte Demokratie: Eine Lehre aus Weimar?, in: Eichenhofer (Hrsg.), 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung – Was ist geblieben?, 1999, S. 95 (99) spricht von „Verbot des Selbstschutzes der Weimarer Republik“. 577 Vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 20. Aufl. 2022, Rn. 597–601. 578 Goebbels, Der Angriff. Aufsätze aus der Kampfzeit, 9. Aufl. 1941, S. 71. Der Artikel erschien ursprünglich am 30.4.1928 unter der Überschrift „Was wollen wir im Reichstag?“ in „Der Angriff“. Insgesamt befinden sich in der Aufsatzsammlung 15 Artikel unter der Überschrift „Die Dummheit der Demokratie“ mit Titeln wie „Alte Esel“ (S. 64–66). 579 Goebbels, Der Angriff. Aufsätze aus der Kampfzeit, 9. Aufl. 1941, S. 73. 580 Goebbels, Der Angriff. Aufsätze aus der Kampfzeit, 9. Aufl. 1941, S. 61. 574
IV. Antizipation und verwandte Konzepte
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Obwohl gegen diese Sichtweise der strengen Neutralität bereits am Ende der Weimarer Republik Widerspruch laut wurde,581 konnte sich eine gegenteilige Ansicht in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis der Weimarer Republik nicht mehr durchsetzen. Karl Loewenstein hat sich 1937 in einem zweiteiligen Aufsatz mit dem Faschismus auseinandergesetzt und ist zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die Demokratie eine Technik entwickeln müsse, die dem Zweck der Machterhaltung der Demokratie diene; die Demokratie sollte „militant“ werden.582 Die strenge Neutralität bzw. Relativität demokratischer Verfassungen, die den Aufstieg antidemokratischer Parteien gestattet, bewertet er als übertriebenen Formalismus und als Trojanisches Pferd.583 Die Weimarer Republik ist hierbei sein Hauptbeispiel.584 Als Möglichkeiten antifaschistischer Gesetzgebung nennt Karl Loewenstein das Verbot subversiver Bewegungen und im Ausnahmefall auch das Parteiverbot.585 Karl Mannheim hat den Begriff der militanten Demokratie („militant democracy“) in seiner Schrift „Diagnosis of Our Time“ von 1943 aufgegriffen und verteidigt.586 Die 1951 – also nach Ulrich Scheuners Festgabenbeitrag – erschienene deutsche Fassung des Textes verwendet den Begriff „streitbare Demokratie“587, der wenige Jahre später vom BVerfG im KPD-Urteil aufgegriffen wurde588 und heute eine der gebräuchlichsten Bezeichnungen für die „wehrhafte Demokratie“ darstellt589. Bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes war man bestrebt,590 eine vermeintlich legale Machterlangung von Antidemokraten zu vermeiden. Da man
581
Siehe Bilfinger, Verfassungsumgehung. Betrachtungen zur Auslegung der Weimarer Verfassung, AöR 49 (1926), 163 (181 f., 188 f.); Loewenstein, Die Reform des Wahlrechtes: Diskussionsbeitrag, VVDStRL 7 (1932), 192 (192–194, insbes. 193); C. Schmitt, Verfassungslehre, 11. Aufl. 2017, S. 19 f., 25–27, 102–112. Hacke, Existenzkrise der Demokratie, 2018, S. 246 mit Fn. 110, 255 f., 273 spricht davon, dass die Idee der militanten Demokratie allgegenwärtig war und weniger eine originäre Leistung Loewensteins. 582 Loewenstein, Militant Democracy and Fundamental Rights I, The American Political Science Review 31 (1937), 417 (423). 583 Loewenstein, Militant Democracy and Fundamental Rights I, The American Political Science Review 31 (1937), 417 (424). 584 Loewenstein, Militant Democracy and Fundamental Rights I, The American Political Science Review 31 (1937), 417 (426–428). 585 Loewenstein, Militant Democracy and Fundamental Rights II, The American Political Science Review 31 (1937), 638 (645 f.). 586 Mannheim, Diagnosis of Our Time, 1986, S. 4, 7. 587 Mannheim, Diagnose unserer Zeit, 1951, S. 13, 17, passim. 588 BVerfGE 5, 85 (139). Siehe auch BVerfGE 25, 44 (58); 25, 88 (100); 28, 36 (48), 28, 51 (55); Sattler, Die rechtliche Bedeutung der Entscheidung für die streitbare Demokratie, 1982. 589 Siehe zur Ideengeschichte auch Papier/Durner, Streitbare Demokratie, AöR 128 (2003), 340 (345–347). 590 Hierzu M. Will, Ephorale Verfassung, 2017, S. 477. Zu Alternativen vgl. Scherb, Präventiver Demokratieschutz als Problem der Verfassungsgebung nach 1945, 1987, S. 252–254.
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C. Antizipation im Grundgesetz
die Weimarer Reichsverfassung in dieser Hinsicht als defizitär591 ansah,592 wurden Regelungen wie Art. 9 II, Art. 18, Art. 21 II 1, Art. 79 III GG in das Grundgesetz aufgenommen593 und später durch Art. 10 II 2, Art. 20 IV, Art. 21 III 1 GG ergänzt. Darüber, dass das Grundgesetz wehrhafter als die Weimarer Reichsverfassung sein müsse, bestand Einigkeit. Bereits der Entwurf des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee nahm sich der Frage der nötigen Wehrhaftigkeit des Grundgesetzes an und schlug in Art. 108 HerrenChE eine Regelung vor, die den Missbrauch der Demokratie verhindern sollte.594 Auch wenn dieser Artikel in dieser Form nicht in das Grundgesetz übernommen wurde, so wies die neue Verfassung gleichwohl zahlreiche „wehrhafte“ Elemente auf. Die bundesrepublikanische Literatur hat diese Entscheidungen des Verfassungsgebers teils sehr kritisch bewertet.595 Hier sollte kurz innegehalten werden. Die Weimarer Republik wird zwar als Beispiel für das Fehlen von Elementen einer wehrhaften Demokratie genannt und ihr Scheitern – zumindest auch – mit dem Fehlen einer wehrhaften Demokratie erklärt.596 Äußerst fraglich ist allerdings, ob erstens die strenge Gegenüberstellung von fehlender wehrhafter Verfassung unter der Weimarer Reichsverfassung und bestehender wehrhafter Verfassung des Grundgesetzes in jeder Hinsicht akkurat und zweitens die gezogene Schlussfolgerung zutreffend ist. Vielmehr dürfte diese These überholt sein, und zwar gründlicher, als 591 Hierzu S. Ullrich, Der Weimar-Komplex, 2009, S. 204 ff. Die Bewertung der Weimarer Verfassung schwankt und schwankte, vgl. Waldhoff, Folgen – Lehren – Rezeptionen: Zum Nachleben des Verfassungswerks von Weimar, in: Dreier/Waldhoff (Hrsg.), Das Wagnis der Demokratie, 2. Aufl. 2018, S. 289 (289, 308–315). Jedoch gab es stets Vertreter der Auffassung, dass die Verfassung nicht „schuld“ am Untergang der Weimarer Republik war, so z.B. Abendroth, Das Grundgesetz, 1966, S. 36 („Illusion der Juristen“); Bulla, Die Lehre von der streitbaren Demokratie, AöR 98 (1973), 340 (344); Ridder, Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften im Sozialstaat nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1960, S. 16. 592 Vgl. Arndt, Vortrag zu Verfassungsfragen, abgedruckt in: Berding, Helmut (Hrsg.), Die Entstehung der Hessischen Verfassung von 1946, 1996, Dokument 22, S. 243 (249 f.). 593 Gusy, Die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 105 (1980), 279 (281). Zu den Positionen der einzelnen Parteien in den Ländern und bei den Beratungen des Grundgesetzes vgl. Scherb, Präventiver Demokratieschutz als Problem der Verfassungsgebung nach 1945, 1987, S. 254–261. Kritisch hierzu W. Weber, Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz, 1949, S. 5 f. 594 Art. 108 HerrenChE, abgedruckt in Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 2, 1981, S. 604, siehe auch die Bewertung auf S. 558. Hierzu Gusy, Die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 105 (1980), 279 (280). 595 U.K. Preuß, Legalität und Pluralismus, 1973, S. 23–30. Vgl. auch Ridder, Zur Ideologie der „streitbaren Demokratie“, 1979, S. 1–3, der jedoch mitunter mehr polemisiert als argumentiert („Absonderung des Sekrets der ‚streitbaren Demokratie‘ […]“). 596 A.A. aber Berkemann, „Das Deutsche Reich ist eine Republik“, DÖV 2019, 584 (585– 587); Gusy, Weimar – die wehrlose Republik?, 1991, S. 92–94; Hacke, Existenzkrise der Demokratie, 2018, S. 210 f., 278; Korioth, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2023, Rn. 795–799.
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dies oft angedeutet wird.597 Zwar wird oft behauptet, dass sich monokausale Erklärungen für das Scheitern der Weimarer Republik verbieten und diese nicht allein an ihrer Verfassung gescheitert sei.598 Gleichwohl schimmert aus den Ausführungen ein Verständnis durch, dass die Weimarer Verfassung unzureichend war, nicht wehrhaft genug und sie ein Teil des Scheiterns oder zumindest nicht stark genug gegen ein Scheitern gerüstet war.599 Das ist nicht ganz ungefährlich, denn während die Wehrhaftigkeit der Weimarer Rechtsordnung damit unterschätzt wird, wird die des Grundgesetzes im Gegenzug möglicherweise überschätzt. Dass die Nationalsozialisten als Kronzeugen für die These der Neutralität der Weimarer Reichsverfassung als Grund für das Scheitern herangezogen werden,600 heißt nicht, dass diese These zutrifft. Hier kann es sich ebenso gut um eine Fehleinschätzung oder einen Versuch der weiteren Diskreditierung der demokratischen Verfassung handeln. Die Weimarer Republik erfreute sich während ihrer Geltungsdauer keiner besonderen Wertschätzung. Die Dreiviertelmehrheit in der Nationalversammlung, welche die demokratischen Parteien noch Anfang des Jahres 1919 bei den Wahlen erringen konnten, hielt lediglich kurz. Schon im folgenden Jahr verloren die demokratischen Parteien anlässlich der regulären Reichstagswahlen ihre Mehrheit und erlangten sie nie wieder. Während ein großer Teil der Bevölkerung den Übergang von der Monarchie zur Republik ablehnte, ging einem anderen Teil der Wandel nicht weit genug. Die Spaltung in der Gesellschaft, die propagandistisch von den Rändern des politischen Spektrums befeuert wurde,601 konnte in den Krisenjahren ab 1929 zunehmend ihre zerstörende Kraft entfalten. Dies dürfte entscheidender gewesen sein als die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Schutzes der Demokratie. Erstens spricht gegen die Schwäche der Republik die sog. Diktaturgewalt des Reichspräsidenten nach Art. 48 II WRV,602 denn in anderen Zusammenhängen heißt es oft, dass sie dem Reichspräsidenten gerade zu viel Macht gegeben hätte und dass der Bundespräsident nach dem Grundgesetz als schwaches 597 Siehe zu „richtigen“ und „falschen“ Schlüssen aus „Weimar“, Waldhoff, Folgen – Lehren – Rezeptionen: Zum Nachleben des Verfassungswerks von Weimar, in: Dreier/Waldhoff (Hrsg.), Das Wagnis der Demokratie, 2. Aufl. 2018, S. 289 (300–306). 598 So u.a. von Borchardt, Wirtschaftliche Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik, in: Erdmann/Schulze (Hrsg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, 1980, S. 211 (213). 599 Vgl. Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, 1974, S. 2. K. Groh, Zwischen Skylla und Charybdis, in: Gusy (Hrsg.), Weimars langer Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, 2003, S. 425 (432 f.) weist darauf hin, dass auch die Weimarer Republik wehrhaft war. 600 Goebbels, Der Angriff. Aufsätze aus der Kampfzeit, 9. Aufl. 1941, S. 61, 71. Siehe hierzu auch Volp, Parteiverbot und wehrhafte Demokratie, NJW 2016, 459 (461 f.). 601 Di Fabio, Die Weimarer Verfassung, 2018, S. 146–150; Pauly, Die Stellung der Weimarer Reichsverfassung in der deutschen Verfassungsgeschichte, in: Eichenhofer (Hrsg.), 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung – Was ist geblieben?, 1999, S. 1 (1). 602 So auch K. Groh, Zwischen Skylla und Charybdis, in: Gusy (Hrsg.), Weimars langer Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, 2003, S. 425 (433).
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Gegenmodell zum starken Reichspräsidenten („Ersatzkaiser“) gedacht ist.603 Die Befugnisse nach Art. 48 II WRV waren ein Verfassungsinstrument, das in Krisenzeiten auch gegen antidemokratische Bestrebungen gerichtet werden konnte. Voraussetzung war eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, worunter sich auch Vorschriften der demokratischen Verfassung subsumieren ließen. Dementsprechend sind auf der Grundlage des Art. 48 II WRV auch Vereine und Parteien, welche die Weimarer Republik bekämpften, verboten worden, z.B. die NSDAP.604 Somit handelte es sich um eine verfassungsrechtliche Möglichkeit des Parteiverbots, auch wenn der Begriff „Parteiverbot“ nicht explizit in Art. 48 II WRV genannt wird. Dies zeichnet jedoch Generalklauseln wie Art. 48 II WRV gerade aus. Die Handhabung der „Diktaturgewalt“ in den Anfangsjahren der Weimarer Republik unter dem Reichspräsidenten Friedrich Ebert wird von der Literatur auch als demokratiestabilisierend kategorisiert.605 So wurde auf der Grundlage des Art. 48 II WRV auch nach dem gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch606 1923 zeitweilig die NSDAP reichsweit verboten.607 Die weitverbreitete Aussage, dass die Weimarer Reichsverfassung keine verfassungsrechtlichen Mittel gegen Parteien hatte, ist somit in ihrer Pauschalität unzutreffend. Vielmehr wird sogar die interessante, aber hypothetische Frage aufgeworfen, ob den Herausforderungen der Anfangszeit der Weimarer Republik mit den Mitteln des Grundgesetzes ebenso effektiv hätte begegnet werden können.608 Zweitens bestanden einfachgesetzliche Republikschutzgesetze609 und Möglichkeiten, Parteien auf ihrer Grundlage zu verbieten.610 Prominentestes Bei603
Hierzu Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 3. Aufl. 1999, S. 38–164; Waldhoff, Folgen – Lehren – Rezeptionen: Zum Nachleben des Verfassungswerks von Weimar, in: Dreier/Waldhoff (Hrsg.), Das Wagnis der Demokratie, 2. Aufl. 2018, S. 289 (300 f.); W. Weber, Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz, 1949, S. 5 f., 24–26. Zu Kontinuitäten nach dem Wechsel von der Monarchie zur Weimarer Republik, siehe C. Möllers, Der vermisste Leviathan, 2008, S. 23–26. 604 Di Fabio, Die Weimarer Verfassung, 2018, S. 137; E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VI, 1993, S. 153–155. Insgesamt zu Parteiverboten in der Weimarer Republik u.a. M. Will, Ephorale Verfassung, 2017, S. 33–67. 605 Vgl. Di Fabio, Die Weimarer Verfassung, 2018, S. 136 f., 229 f., 250 f.; A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 140. 606 U. Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, 2017, S. 209 f. 607 Di Fabio, Die Weimarer Verfassung, 2018, S. 137; E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VI, 1993, S. 153–155. 608 Di Fabio, Die Weimarer Verfassung, 2018, S. 250. 609 Gesetz zum Schutze der Republik v. 21.7.1922, RGBl. I, 585 und Gesetz zum Schutze der Republik v. 25.3.1930, RGBl. I, 91. Diese Gesetze wurden jedoch halbherzig und einseitig angewendet. Gegen Ende der Weimarer Republik wurde ein erneutes Verbot der NSDAP diskutiert, aber nicht erlassen, vgl. hierzu Di Fabio, Die Weimarer Verfassung, 2018, S. 136 f., 229 f. Bereits hieraus lässt sich ablesen, dass die Regelung eines möglichen Parteiverbots keine Sicherheitsgarantie für die freiheitliche demokratische Grundordnung darstellt. 610 Korioth, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2023, Rn. 755–759.
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spiel dürften die Verbote der NSDAP zwischen 1922 und 1925 in verschiedenen Ländern des Deutschen Reichs gewesen sein.611 In den rund 14 Jahren der Weimarer Republik wurden insgesamt mehr Parteien verboten als in 70 Jahren unter der Geltung des Grundgesetzes. Später, unter dem Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, wurde die NSDAP nicht erneut verboten, obwohl sie Ende der 1920er-Jahre noch gefährlicher war. Hier zeigt sich zum einen die Schwierigkeit, den richtigen Zeitpunkt für ein etwaiges Parteiverbot zu wählen.612 Dass stattdessen jedoch das bereits zuvor verhängte SA-Verbot im Jahre 1932 aufgehoben wurde, hat ein Signal in die entgegengesetzte Richtung gesetzt.613 Zum anderen darf das rechtliche Bestehen eines Instruments nicht losgelöst von den Akteuren betrachtet werden, die zur Anwendung berufen sind.614 Christoph Gusy verwirft zwar im Fazit seiner Untersuchung zur Wehrhaftigkeit der Weimarer Republik die These von der „Republik ohne Republikaner“ als zu pauschal, weil die Stärke der Gegner der Weimarer Republik ausgeblendet würde.615 Aber zumindest der Vergleich der Amtsführungen der Reichspräsidenten Friedrich Ebert einerseits und Paul von Hindenburg andererseits belegt, dass das rechtliche Instrumentarium von den zuständigen Amtsträgern in mehr oder weniger verfassungsförderlicher Weise gehandhabt werden und dies Auswirkungen auf die Stärke der Verfassung haben kann. Müßig ist, darüber zu spekulieren, ob Friedrich Ebert als Reichspräsident Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt hätte. Möglicherweise zeigt bereits dieses hypothetische Gedankenspiel, dass das Zusammenspiel der Person des Amtsinhabers mit den Amtskompetenzen Einfluss auf die juristische Entscheidung haben kann. Auch in anderen, weniger dramatischen Kontexten zeigt sich, dass Amtsinhaber unterschiedliche Amtsverständnisse pflegen und sich dies auf die Ausübung der mit dem Amt verbundenen Kompetenzen auswirken kann.616 611
Vgl. die Nachweise bei Jasper, Der Schutz der Republik, 1963, S. 316–320. Siehe hierzu oben C. III. 6. e) aa). 612 Fox/Nolte, Intolerant Democracies, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1 (12): „Third, if precautionary measures are to be taken, they must be instituted before a radical party has become so strong and well-organized that its prohibition would result in civil war.“ „Drittens, wenn Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden sollen, dann müssen sie eingeleitet werden, bevor eine radikale Partei so stark und gut organisiert ist, dass ihr Verbot zu einem Bürgerkrieg führen würde.“ [Übersetzung des Verfassers] Siehe auch Gusy, Die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 105 (1980), 279 (280 f.); Sajó, From Militant Democracy to the Preventive State, Cardozo Law Review 27 (2006), 2255 (2262). 613 Hierzu Grimm, Weimars Ende und Untergang, in: Dreier/Waldhoff (Hrsg.), Das Wagnis der Demokratie, 2. Aufl. 2018, S. 263 (268 f.). 614 Siehe Di Fabio, Die Weimarer Verfassung, 2018, S. 136 f., 229 f., 250 f. 615 Gusy, Weimar – die wehrlose Republik?, 1991, S. 369 f. 616 Vgl. im Hinblick auf das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten nach Art. 82 I 1 GG Bauer, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 82 Rn. 12 mit Fn. 76.
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Drittens dürfte zumindest eine gewisse anekdotische Evidenz dafür sprechen, dass Parteiverbote in ihrer Problemlösungsfähigkeit überschätzt werden.617 Im Kaiserreich war die SPD von 1878 bis 1890 verboten.618 Allerdings durften SPD-Kandidaten sich an den Wahlen zum Reichstag beteiligen und wurden auch gewählt. In dieser Hinsicht unterschieden sich die sog. Sozialistengesetze619 deutlich von den Parteiverboten unter der Geltung des Grundgesetzes, da nach heutigem Recht errungene Mandate verfallen (§ 46 I Nr. 5, IV BWahlG) und das Verbot die Auflösung der Partei bewirkt (§ 46 III 1 BVerfGG). Die Partei ist damit nach dem Verbot rechtlich inexistent620 und kann keine Listenvorschläge für künftige Wahlen einreichen (vgl. § 18 I BWahlG). Ersatzorganisationen sind ebenfalls verboten (§ 46 III 1 BVerfGG). Da vergleichbare Regelungen im Kaiserreich nicht galten, konnte die SPD während der Zeit ihres Verbots kontinuierlich mehr Sitze im Reichstag gewinnen.621 Auch in anderer Hinsicht bestehen Unterschiede. Während die Sozialistengesetze mit einer einfachen Mehrheit im Reichstag und im Bundesrat beschlossen werden konnten (vgl. Art. 5 I Reichsverfassung 1871), ist ein Parteiverbotsverfahren unter der Geltung des Grundgesetzes aufwendiger und seine Voraussetzungen sind deutlich höher. Für die Antragstellung auf Erlass eines Parteiverbots bedarf es einer Mehrheit in Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung (vgl. § 43 I BVerfGG). Zusätzlich muss das BVerfG mit Zweidrittelmehrheit entscheiden (§ 15 IV 1 Var. 2 BVerfGG). Eine Parallele besteht aber darin, dass die Sozialistengesetze nicht zur Lösung der Probleme führten, die mit dem Erstarken der Sozialdemokratie in Verbindung gebracht wurden. Die Industrialisierung mit ihren ökonomischen und sozialen Folgen wurde durch die Sozialistengesetze in keiner Weise in den Griff bekommen. Das Gesetz behandelte Symptome, nicht aber Ursachen. Eine Überschätzung der Wirkungen des derzeitigen Parteiverbots liegt möglicherweise auch in der Verkennung der – nicht zu Unrecht – hohen Hürden. In inhaltlicher Hinsicht hat das BVerfG in der Entscheidung zum zweiten NPD-Verbotsverfahren das Tatbestandsmerkmal „darauf ausgehen“ so ver617 Kritisch zum Konzept Accetti/Zuckerman, What’s Wrong with Militant Democracy?, Political Studies 2017, 182 ff. 618 Erstmalig durch das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie v. 21.10.1878, RGBl. I, 351, das zunächst gem. seinem § 30 bis zum 31.3.1881 galt, aber immer wieder verlängert wurde, vgl. Maaß, Entstehung, Hintergrund und Wirkung des Sozialistengesetzes, JuS 1990, 702 (702); Pokora, Die Revision des Parteiverbots, 2022, S. 27 f. 619 Vgl. Maaß, Entstehung, Hintergrund und Wirkung des Sozialistengesetzes, JuS 1990, 702 (704 f.); H.A. Winkler, Werte und Mächte, 2019, S. 147–152. 620 Ipsen/Koch, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 21 Rn. 193. 621 Hohorst/Kocka/Ritter, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, 2. Aufl. 1978, S. 173–176. Siehe auch „Sozialistengesetz“, Groh, in: Weber (Hrsg.), Rechtswörterbuch (online), 30. Edition 2023; Maaß, Entstehung, Hintergrund und Wirkung des Sozialistengesetzes, JuS 1990, 702 (704 f.).
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standen, dass es erst dann vorliegt, „wenn konkrete Anhaltspunkte von Gewicht vorliegen, die es zumindest möglich erscheinen lassen, dass das gegen die Schutzgüter des Art. 21 Abs. 2 GG gerichtete Handeln einer Partei erfolgreich sein kann (Potentialität)“.622 Hiermit hat das Gericht die Anforderungen an ein Parteiverbot im Vergleich zu seiner vorherigen Rechtsprechung erhöht. Aus der Literatur wurde Kritik geäußert, dass dies erfordere, mit dem Verbot so lange zu warten, bis die zu verbietende Partei zu mächtig sei.623 Dementsprechend sind Zweifel angebracht, ob die heutigen Regelungen den hohen Erwartungen gerecht werden können. Zwar gestatten die Instrumente der wehrhaften Demokratie Maßnahmen, die vergleichsweise schnell wirken. So ist auch von der „schärfsten Waffe“ des Parteiverbots die Rede.624 Hier muss nicht abgewartet werden, bis sozial- oder wirtschaftspolitische Maßnahmen Früchte tragen oder sich eine demokratische Gesinnung in der Bevölkerung etabliert hat. Aber die Instrumente sind im Übrigen schwach, denn die rechtlichen Regelungen der wehrhaften Demokratie sind rein negativ abwehrend und nicht positiv demokratiefördernd. Sie bekämpfen Symptome625 (Parteien, Vereine, Personen mit verfassungsfeindlichen Positionen), nicht Ursachen (etwa gesellschaftliche Spaltung, wirtschaftliche626 und soziale Unzufriedenheit/Ungleichheit, außenpolitische Belastungen627).628 Abgesehen von Art. 20 IV GG regeln diese Vorschriften lediglich den Kampf des Staates gegen Private. Alles dies dürfte für eine Bewahrung der Demokratie aus sich heraus auf Dauer nicht ausreichen. Im Falle entsprechender Mehrheiten in den gesetzgebenden und ausführenden Organen kann dieses Instrumentarium die demokratische Dekonsolidierung nicht aufhalten, da diese vom Staat selbst ausgeht.
622
BVerfGE 144, 20 (224 f.). Uhle, Das Parteiverbot gem. Art. 21 II GG, NVwZ 2017, 583 (587–589). 624 BVerfGE 107, 339 (369); 144, 20 (159, 225). 625 Manow, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, 2020, S. 22 f. 626 Vgl. Borchardt, Wirtschaftliche Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik, in: Erdmann/Schulze (Hrsg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, 1980, S. 211 ff.; Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, 1974, S. 1 f. 627 Hierzu A. Hillgruber, Unter dem Schatten von Versailles – Die außenpolitische Belastung der Weimarer Republik: Realität und Perzeption bei den Deutschen, in: Erdmann/ Schulze (Hrsg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, 1980, S. 51 ff. 628 Hacke, Existenzkrise der Demokratie, 2018, S. 213 f. spricht in diesem Zusammenhang von „praxisbezogene[m] Kontext“ und weist auf das Erfordernis hin, sich nicht bloß negativ auf die Abwehr von Gefahren zu konzentrieren, sondern auch positiv Argumente zu formulieren. Siehe auch Fox/Nolte, Intolerant Democracies, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1 (13); C. Möllers, Die Staatsrechtswissenschaft bei Anbruch der Dämmerung, Der Staat 56 (2017), 485 (487), der einen positiven, nicht bloß abwehrenden Beitrag der Staatsrechtswissenschaft fordert, ähnlich Scheuner, Der Verfassungsschutz im Bonner Grundgesetz, in: FG Kaufmann, 1950, S. 313 (330); Schliesky, Die wehrhafte Demokratie des Grundgesetzes, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 277 Rn. 3, 41 f. 623
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Dann besteht vielmehr die Gefahr, dass dieses Instrumentarium gegen Demokraten eingesetzt wird.629 Die aktuelle Debatte um die demokratische Dekonsolidierung ereignet sich zu einer Zeit, in der sich die konstitutionelle Demokratie selbst im „Westen“630, ihrem ideengeschichtlichen Ursprungsort, in einer Schwächephase befindet. Die Strahlkraft der liberalen Demokratie hat abgenommen.631 Mit repressiven Mitteln allein wird der Schwäche nicht beizukommen sein. c) Sammelbegriff oder Substanzbegriff Umstritten ist, ob die „wehrhafte Demokratie“ als Sammelbegriff oder als Substanzbegriff632 zu begreifen ist.633 Ein genauerer Blick auf die Vorschriften, aus denen die „wehrhafte Demokratie“ hergeleitet wird, zeigt, dass die wehrhafte Demokratie mindestens zwei Schutzgüter aufweist: erstens die freiheitliche demokratische Grundordnung u.a. aus Art. 21 II 1 GG und zweitens die Verfassungsidentität nach Art. 79 III GG. In aller Schärfe wurde diese Unterscheidung vom BVerfG erst im zweiten NPD-Urteil ausgesprochen. Überdies sind die „Gefahrenstufen“, die für das jeweilige Schutzgut vorliegen müssen, in den einzelnen Artikeln des Grundgesetzes unterschiedlich formuliert. Dies ließe sich sowohl im Sinne eines fein abgestuften Konzepts als auch im Sinne einer gewissen Beliebigkeit und damit gegen ein besonderes Prinzip deuten. Das BVerfG hat sich zunächst für die erste Deutung entschieden. Nach seiner Rechtsprechung634 handelt es sich bei der wehrhaften Demokratie um eine „verfassungsrechtliche Entscheidung“635, einen „Grundzug“636 oder „Wesens629 Hierzu Thiel, Zur Einführung: Die „wehrhafte Demokratie“ als verfassungsrechtliche Grundentscheidung, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 1 (14–16). 630 Zum Begriff H.A. Winkler, Werte und Mächte, 2019, S. 15 f. 631 Siehe oben A. I.–A. I. 3. f). 632 Begriffe bei U.K. Preuß, Legalität und Pluralismus, 1973, S. 23 f. 633 Siehe hierzu Bulla, Die Lehre von der streitbaren Demokratie, AöR 98 (1973), 340 (351–353); Lameyer, Streitbare Demokratie, 1978, S. 133–138; Ordnung, Zur Praxis und Theorie des präventiven Demokratieschutzes, Bd. 2, 1985, S. 728; Papier/Durner, Streitbare Demokratie, AöR 128 (2003), 340 (362–368); U.K. Preuß, Legalität und Pluralismus, 1973, S. 23–30; Sattler, Die rechtliche Bedeutung der Entscheidung für die streitbare Demokratie, 1982, S. 31–91. 634 Siehe die Nachzeichnungen der frühen Rechtsprechung des BVerfG bei Gusy, Die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 105 (1980), 279 (283–301); Lameyer, Streitbare Demokratie, 1978, S. 28– 67. Insbesondere nach dem zweiten NPD-Urteil (BVerfGE 144, 20 [224 f.]) müsste die Kritik an einer zu starken Ausdehnung des Konzepts der wehrhaften Demokratie durch die Rechtsprechung des BVerfG jedoch deutlich schwächer ausfallen, denn die Tatbestandsvoraussetzungen werden (noch) strenger interpretiert, Kritik hieran u.a. von Uhle, Das Parteiverbot gem. Art. 21 II GG, NVwZ 2017, 583 (587–589). 635 BVerfGE 5, 85 (139). 636 BVerfGE 25, 44 (58).
IV. Antizipation und verwandte Konzepte
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zug“637 der Verfassung, ein „Prinzip“638. Dies rechtfertige den Einfall des Prinzips – losgelöst von den zuvor genannten Vorschriften – in anderen Kontexten.639 Zwar wurde der Grundsatz der wehrhaften Demokratie durch das BVerfG zunächst ausgreifend und repressiv gehandhabt, aber es hat in späteren Entscheidungen diese ursprüngliche Haltung revidiert und greift nicht mehr auf einen ungeschriebenen Grundsatz der streitbaren Demokratie zurück.640 Vielmehr hat das BVerfG festgehalten, dass das Grundgesetz es zulässt, dass eine Vereinigung „sich kritisch oder ablehnend gegen diese Grundsätze [scil.: die freiheitliche demokratische Grundordnung] wendet oder für eine andere Ordnung eintritt“.641 Eine Erwartung, dass der Bürger diese Verfassungswerte teilt oder sie sich zu eigen macht, wird vom Grundgesetz grundsätzlich nicht gehegt. Die wehrhafte Demokratie als Optimierungsgebot zu praktizieren, fiele überdies äußerst schwer, zumindest in ihrer traditionellen, rein repressiven Gestalt. Bedeutet „Optimierung“, dass möglichst frühzeitig eine Partei oder ein Verein verboten werden soll? Diese vertrüge sich nicht mit den anderen Inhalten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, und es bestünde die Gefahr einer erheblichen Freiheitsverkürzung. Zwar hat sich das Grundgesetz, anders als die Weimarer Verfassung, dafür entschieden, Mittel gegen eine scheinbar legale Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bereitzuhalten. Aber diese Mittel sind jeweils an strenge Voraussetzungen geknüpft und als ultima ratio gedacht. Diese dürfte das Gegenteil eines Optimierungsgebots darstellen. Im Ergebnis wird die wehrhafte Demokratie teilweise als „kaum mehr als rhetorischer Topos“ eingestuft.642 d) Südafrikanisches Verfassungsrecht und wehrhafte Demokratie In Südafrika wird kein Konzept, welches dem der deutschen wehrhaften Demokratie vergleichbar ist, der Verfassung entnommen. Anders als in der deutschen Verfassung werden in der südafrikanischen Verfassung bei den entsprechenden Grundrechten (Art. 18 FC: Vereinigungsfreiheit, Art. 19 FC: Politi637
BVerfGE 25, 88 (100). BVerfGE 28, 36 (48), 28, 51 (55). 639 Z.B. im Soldaten- und Beamtenrecht, vgl. BVerfGE 25, 88 (100); 28, 36 (48), 28, 51 (55). Ablehnend Bulla, Die Lehre von der streitbaren Demokratie, AöR 98 (1973), 340 (355– 360); Gusy, Die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 105 (1980), 279 (301–305); Häberle, Die Abhörentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15.12.1970, JZ 1971, 145 (147 f.); Lameyer, Streitbare Demokratie, 1978, S. 50–58, 133–138; Papier/Durner, Streitbare Demokratie, AöR 128 (2003), 340 (365–368). 640 So die Bewertung von Papier/Durner, Streitbare Demokratie, AöR 128 (2003), 340 (366, 368). 641 BVerfGE 149, 160 (197 f.). 642 Fahrner, Vulnerabilität und Resilienz der freiheitlichen Demokratie, 2022, S. 29. 638
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C. Antizipation im Grundgesetz
sche Freiheiten, einschließlich Parteienfreiheit) nicht die Verbotsmöglichkeiten wie etwa das Partei- oder Vereinsverbot genannt. Das ist insofern nicht ganz überraschend, als die südafrikanische Verfassung insgesamt keine speziellen Gesetzesvorbehalte kennt, sondern in Art. 36 FC allgemein die Beschränkungsmöglichkeiten für alle Grundrechte geregelt hat. Aber auch in der Generalklausel des Art. 36 FC findet sich kein besonderer Hinweis auf Partei- oder Vereinsverbote. Das Vertrauen der Verfassungsgeber wird primär in die Verankerung von Gleichheit und Würde und die Wahlrechtsgrundsätze gesetzt. Die Vorschrift, die am schwersten abänderbar ist (Dreiviertelmehrheit in der National Assembly und Zweidrittelmehrheit im National Council of Provinces) und damit der deutschen Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III GG am nächsten kommt, ist Art. 1 FC:643 „The Republic of South Africa is one, sovereign, democratic state founded on the following values: a. Human dignity, the achievement of equality and the advancement of human rights and freedoms. b. Non-racialism and non-sexism. c. Supremacy of the constitution and the rule of law. d. Universal adult suffrage, a national common voters roll, regular elections and a multi-party system of democratic government, to ensure accountability, responsiveness and openness.“644
Hier zeigen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Unrechtserfahrungen, die in beiden Ländern jeweils verursacht und durchlebt wurden. Zwar nennen beide Verfassungen in ihrem nicht bzw. nur erschwert abänderbaren ersten Verfassungsartikel die Menschenwürde. Auch die in Art. 1 FC erwähnten Menschenrechte, das allgemeine Wahlrecht und das demokratische Mehrparteiensystem waren Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, wie das BVerfG sie im SRP-Urteil verstanden hat.645 Im Übrigen bestehen aber auch Unterschiede. Das Regime der „Apartheid“ war eine Unterdrückung der Mehrheit durch die Minderheit. Die Schlussfolgerung nach Ende der Apartheid lautete deshalb, dass ein allgemeines Wahlrecht und die 643 In gleicher Weise wird auch Art. 74 FC selbst geschützt. Hierbei handelt es sich aber um die Vorschrift über die Verfassungsänderungen, sodass lediglich ihre Umgehung verhindert wird, aber keine eigenständigen Verfassungsinhalte geschützt werden. 644 „Die Republik Südafrika ist ein souveräner, demokratischer Staat, der sich auf die folgenden Werte gründet: a. Die Würde des Menschen, die Verwirklichung der Gleichheit und die Förderung der Menschenrechte und -freiheiten. b. Nichtrassismus und Nichtsexismus. c. Vorrang der Verfassung und der Rechtsstaatlichkeit. d. Allgemeines Wahlrecht für Erwachsene, ein nationales gemeinsames Wählerverzeichnis, regelmäßige Wahlen und ein demokratischen Mehrparteien-Regierungssystem, um Rechenschaftspflicht, Responsivität und Offenheit zu gewährleisten.“ [Übersetzung des Verfassers] 645 BVerfGE 2, 1 (12 f.).
IV. Antizipation und verwandte Konzepte
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Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger gewährleistet sein müssen (vgl. Art. 1(d), 3, 9 FC). Gruppen von Bürgern sollen zukünftig nicht mehr ausgeschlossen sein, sondern sich am demokratischen Prozess beteiligen können. Politische Mitwirkungsrechte werden positiver und umfassender formuliert. Art. 19 FC, der die Überschrift „Politische Rechte“ trägt, gewährleistet explizit jedem Staatsbürger das Recht, eine politische Partei zu gründen, an den Aktivitäten einer Partei teilzunehmen, Mitglieder zu gewinnen, politische Werbung für eine Partei oder Sache vorzunehmen, an freien, fairen, geheimen und regelmäßigen Wahlen teilzunehmen sowie sich für politische Ämter zu bewerben und für den Fall der Wahl diese auszuüben. Weiterhin wird das demokratische Prinzip über den Grundsatz der Responsivität mit Beteiligungsmöglichkeiten in den Rechtssetzungsprozessen abgesichert.646 Die Grundlagen der Demokratie sollen weiterhin über sozioökonomische Rechte abgesichert werden. Art. 23(1) FC gewährt jeder Person das Recht auf faire Arbeitsbedingungen, Art. 24(a) und (b) FC garantieren das Recht auf eine gesunde Umwelt und auf Umweltschutz, und Art. 25 FC regelt sehr detailliert das Recht auf Eigentum. Absatz 5 dieser Vorschrift verpflichtet den Staat dazu, angemessene gesetzliche und andere Maßnahmen zu ergreifen, um es den Staatsbürgern zu ermöglichen, Land zu erwerben. Dies steht jedoch explizit unter dem Vorbehalt des Möglichen. Weitere Gewährleistungen der Bill of Rights betreffen das Recht auf angemessenen Wohnraum, auf Zugang zur Gesundheitsversorgung, auf genügend Essen und Wasser, auf Sozialversicherung und auf Bildung, Art. 26, Art. 27 und Art. 29 FC. Art. 28 FC gewährt in vergleichsweise hohem Detaillierungsgrad besondere Rechte von Kindern, also von Personen unter 18 Jahren. Insgesamt besteht jedoch ein gewisses Enttäuschungspotenzial, wenn die verfassungsrechtlich geschürten Erwartungen und Versprechungen nicht eingelöst werden (können). Im Ergebnis kann dies kontraproduktiv wirken.647 Wegen der miserablen sozialen und wirtschaftlichen Lage eines Großteils der Bevölkerung liegt ein Schwerpunkt der Befassung in Rechtswissenschaft und -praxis in Südafrika auf diesen sozioökonomischen Rechten und ihrer Umsetzung in der Lebenswirklichkeit. In Deutschland wird der Untergang der Weimarer Republik als scheinlegales und rechtsmissbräuchliches Vorgehen einer Mehrheit648 gesehen, dem dann politische und religiöse Verfolgung bis hin zu Folter und Massenmord folgten. 646
Siehe hierzu oben B. II. 1. c). Hierzu im Hinblick auf die Weimarer Reichsverfassung, H. Preuß, Deutschlands republikanische Reichsverfassung, 2. Aufl. 1923, S. 95. 648 Selbst bei der Reichstagswahl vom 5.3.1933, die wegen der Reichstagsbrand- und der Schubladenverordnung sowie der darauf aufbauenden Verfolgung politischer Gegner nicht als freie und faire Wahl angesehen werden kann, erzielte die NSDAP mit 43,9% der abgegebenen Stimmen „nur“ eine relative Mehrheit, vgl. Grimm, Weimars Ende und Untergang, in: Dreier/Waldhoff (Hrsg.), Das Wagnis der Demokratie, 2. Aufl. 2018, S. 263 (274); Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 6. Aufl. 2006, S. 385. 647
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C. Antizipation im Grundgesetz
Die verfassungsrechtliche Reaktion hierauf bestand vornehmlich im Ausbau des Rechtsstaats und seiner gerichtlichen Sicherungen und der Zurückdrängung direktdemokratischer Elemente, da die Gefahr der „Tyrannei der Mehrheit“649 vor Augen stand. Dies lässt sich auch hinsichtlich des Verfahrens der Verfassungsänderung sehen. Der ursprünglich in Art. 106 I 1 HerrenChE vorgesehene Verfahrensschritt eines obligatorischen Referendums wurde nicht im Grundgesetz umgesetzt.650 Insgesamt lässt sich die „wehrhafte Demokratie“ als eine deutsche Besonderheit auffassen.651 In Südafrika fehlt es zwar an einer „wehrhaften Demokratie“, dafür bestehen jedoch die „Institutionen zur Stärkung der Demokratie“ nach Kapitel 9 der Verfassung.652 Diese können insofern im Sinne der Rechtsvergleichung als funktionales Äquivalent angesehen werden, als sie der Sicherung und Stützung der Demokratie dienen. Allerdings handelt es sich um einen eher zukunftsgerichteten, positiv-konstruktiven Ansatz, der sich vom traditionellen653 Modell der deutschen wehrhaften Demokratie unterscheidet. Demgegenüber will die südafrikanische Verfassung mit der Erziehungsund Aufklärungsarbeit der Südafrikanischen Menschenrechtskommission und der Kommission für die Förderung und den Schutz der Rechte der kulturellen, religiösen und sprachlichen Gemeinschaften vorbeugend und fördernd tätig werden, aber nicht repressiv (Art. 184 und Art. 185 FC).654 Allerdings kann ein repressives Instrumentarium im Notstand gem. Art. 37 FC gelten.655 In der Gesamtschau sind die Reaktionen auf die jeweiligen Schatten der Vergangenheit recht unterschiedlich, was im weiteren Verfassungsvergleich zu beachten sein wird.
649 Siehe hierzu Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I, 7. Aufl. 1992, S. 147–149. 650 Hierzu H. Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, JZ 1994, 741 (745) m.w.N. Art. 106 HerrenChE lautete: „Ein Gesetz, das das Grundgesetz ändert, bedarf im Bundestag und Bundesrat (Senat) der Zustimmung von zwei Dritteln der gesetzlichen Stimmenzahl und außerdem der Annahme durch Volksentscheid. Das Gesetz ist nur dann angenommen, wenn am Volksentscheid mindestens die Hälfte der Stimmberechtigten teilgenommen hat und wenn die Mehrheit der Abstimmenden sowohl insgesamt wie auch in der Mehrzahl der Länder für die Annahme gestimmt hat.“ 651 Murswiek, Verfassungsschutz und Demokratie, 2020, S. 17. 652 Siehe hierzu oben A. I. 3. e). 653 Möglicherweise modifizieren Ansätze wie das Demokratiefördergesetz das traditionelle Modell, siehe hierzu Schaks, Schaks, Vers la démocratie constructive? Une future loi sur la promotion de la démocratie en Allemagne – La Demokratieförderungsgesetz (23.11.2022), https://blog.juspoliticum.com/2022/11/23/vers-la-democratie-constructive-une-future-loisur-la-promotion-de-la-democratie-en-allemagne-la-demokratieforderungesetz-par-nilsschaks/ (Stand: 10.8.2023). 654 Siehe hierzu oben A. I. 3. e). 655 Siehe hierzu unten C. IV. 2. c).
IV. Antizipation und verwandte Konzepte
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e) Antizipativer Gehalt Sowohl der Grundsatz der wehrhaften Demokratie als auch das Konzept der antizipativen Verfassung gehen davon aus, dass die freiheitliche Demokratie Bedrohungen ausgesetzt ist und für diesen Fall Vorsorge getroffen wird. Beide Konzepte teilen somit einen gemeinsamen Grundgedanken, den der Antizipation. Anders als manche Äußerungen in Rechtsprechung und Literatur vermuten lassen, ist die wehrhafte Demokratie nicht in dem Sinne präventiv, dass Krisensituationen vermieden oder verhütet werden. „Präventiv“ bezeichnet hier nur den Zeitpunkt im Hinblick auf den Gefahreneintritt. Die ergriffenen Maßnahmen selbst sind reaktiv und repressiv. Ob die Krise tatsächlich verhindert werden kann, steht nicht fest, weshalb „Antizipation“ der präzisere Begriff ist.
2. Notstandsverfassung Ein weiteres Konzept, welches die demokratische Dekonsolidierung antizipieren könnte, ist die Notstandsverfassung. a) Begriff Der Begriff „Notstandsverfassung“ wird nicht einheitlich verstanden.656 Sofern hiermit die Summe der Vorschriften gemeint sein soll, die 1968 in das Grundgesetz eingefügt wurden,657 wird diesem Begriffsverständnis nicht gefolgt. Zwar haben die Grundgesetzänderungen aus dem Jahre 1968 die Architektur des Grundgesetzes erheblich verändert und den größten Anteil an der derzeit bestehenden „Notstandsverfassung“, wie sie sogleich definiert wird. Aber das Abstellen allein auf den Erlasszeitpunkt hätte etwas Willkürliches, da bereits zuvor Bestimmungen im Grundgesetz für besondere Situationen bestanden (Art. 81, Art. 91 a.F., Art. 9 II, Art. 18, Art. 21 II 1 GG658) und auch später wie z.B. Art. 21 III 1 GG in das Grundgesetz aufgenommen wurden. Kurzum, man würde nur einen Teilausschnitt aus einem größeren Ganzen abdecken. In einem weiteren Sinne sind unter „Notstandsverfassung“ alle diejenigen geltenden Vorschriften des Grundgesetzes zu verstehen, die in besonde656 Vgl. Hertwig, Staatsnotstandsrecht in Deutschland, in: Zwitter (Hrsg.), Notstand und Recht, 2012, S. 111 (112), die die wehrhafte Demokratie als Prävention gegen den Staatsnotstand bezeichnet (S. 137). 657 So zu „Notstandsverfassung“, K. Weber, in: Weber (Hrsg.), Rechtswörterbuch (online), 30. Edition 2023. Dieses Verständnis klingt auch an bei Windthorst, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 91 Rn. 1. 658 Meinel, Diktatur der Besiegten?, Der Staat 52 (2013), 455 (458); Scheuner, Der Verfassungsschutz im Bonner Grundgesetz, in: FG Kaufmann, 1950, S. 313 (319) zählt auch noch Art. 37 GG hierzu.
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C. Antizipation im Grundgesetz
ren Gefahrenlagen für die innere und äußere Sicherheit relevant werden können.659 Der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages hat in seinem „Schriftlichen Bericht“ im Laufe des Gesetzgebungsprozesses zwischen dem äußeren und dem inneren Notstand unterschieden.660 Das Attribut „innerer“ oder „äußerer“ bezieht sich hierbei auf den Ursprung der Gefahr. Dementsprechend umfasst der äußere Notstand den Verteidigungs- und den Spannungsfall.661 Während der Spannungsfall in Art. 80a, Art. 87a III GG geregelt ist, finden sich Bestimmungen zum Verteidigungsfall in Art. 12a III bis VI, Art. 53a II, Art. 80a, Art. 87a III, Art. 96 II, Art. 115a bis 115l GG. Hingegen wird der innere Notstand herkömmlich unterteilt in den Notfall (Art. 35 II 2, III 1 GG662), den Notstandsfall (Art. 91 GG663) und den Widerstandsfall (Art. 20 IV GG664).665 Der Notfall betrifft u.a. Naturkatastrophen und besonders schwere Unglücksfälle, bei denen ein Land Streitkräfte anfordern (Art. 35 II 2 GG) oder die Bundesregierung Streitkräfte einsetzen (Art. 35 III 1 GG) kann. Der Notstandsfall des Art. 91 GG gestattet zur „Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes“ den Einsatz von Polizeikräften in den Ländern. Art. 87a IV 1 GG lässt als ultima ratio auch den Einsatz der Bundeswehr zu. Im Wesentlichen wurden diese Vorschriften in das Grundgesetz eingefügt bzw. umgestaltet durch das Siebzehnte Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes.666 Der Begriff „Notstandsverfassung“ in einem weiten Sinne fasst also verschiedene Phänomene zusammen (Naturkatastrophen, Krieg, Sezession und Bürgerkrieg, Terrorismus, Staatsstreich und politische Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung667). Im Zusammenhang mit der demokratischen Dekonsolidierung ist primär der innere Notstand als Vergleichsgegenstand von Interesse, aber der weite Begriff 659 Vgl. Epping, in Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Januar 2012), Art. 115a Rn. 12. 660 BT-Drs. V/2873, S. 2. Hierzu Windthorst, Der Notstand, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 365 (371–374, 382–414). 661 BT-Drs. V/2873, S. 2. 662 Siehe hierzu oben unter C. III. 5. 663 Siehe hierzu oben unter C. III. 5. 664 Siehe hierzu oben C. III. 6. f). Einige Autoren lassen ihn nicht explizit dem inneren Notstand unterfallen, so Windthorst, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 91 Rn. 1. 665 Kersten, Ausnahmezustand?, JuS 2016, 193 (197 f.). Siehe auch die Systematisierungen bei Finke, Krisen, 2020, S. 68; Hertwig, Staatsnotstandsrecht in Deutschland, in: Zwitter (Hrsg.), Notstand und Recht, 2012, S. 111 (113–119). 666 Gesetz v. 24.6.1968, BGBl. I, 709. Siehe aber bereits den Band „Notstandsgesetz – aber wie?“ aus dem Jahre 1962 mit Beiträgen von Arndt und Freund. Aus jüngerer Zeit Diebel, Die Stunde der Exekutive, 2019. 667 W. Leisner, Wirtschaftliche Notstandsverfassung für Krisenzeiten?, DVBl. 2009, 1409 ff. reflektiert zudem über die Einführung einer wirtschaftlichen Notstandsverfassung de lege ferenda.
IV. Antizipation und verwandte Konzepte
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„Notstandsverfassung“ zeigt, dass das Grundgesetz eine Vielzahl außergewöhnlicher Situationen zu adressieren in der Lage ist und die Gefahr ihres Eintretens gesehen wird. b) Ursprung Aufgrund der Vielgestaltigkeit der erfassten Phänomene sind auch die Ursprünge des Notstands variantenreich.668 Schon in der Antike waren Ausnahmezustände bekannt,669 wobei die „Diktatur“ der römischen Republik das wohl einflussreichste Ausnahmerecht war. In besonderen Notsituationen konnte für eine im Vorhinein begrenzte Zeit von grundsätzlich maximal sechs Monaten ein Diktator ernannt werden. Er hatte mehr Befugnisse als die verschiedenen Amtsinhaber im gewaltengeteilten Normalzustand. Nach Abwehr der außergewöhnlichen Gefahrenlage ging man zum Normalzustand über. Hierbei handelte es sich um eine vorübergehende Außerkraftsetzung von Teilen der „normalen“ Rechtsordnung. Die Diktatoren waren keine Personen, die zuvor Ämter bekleideten und selbst über den Ausnahmezustand (mit-)entschieden. Dies ist eine konstruktive Stärke, denn Ausnahmemacht geht sehr häufig mit dem Missbrauch dieser Macht einher. Für Regierungen kann deshalb ein Anreiz bestehen, den Notstand zu erklären, behaupten oder selbst herbeizuführen, um dann die größere Machtfülle für ihre Zwecke zu nutzen. Im angelsächsischen Rechtskreis entwickelte sich als funktionales Äquivalent das „martial law“, das in Großbritannien und den USA,670 aber auch auf den Philippinen671 relevant war und ist. Im kontinentaleuropäischen Rechtskreis war der „état de siège“672 des französischen Rechts prägend. Erst in Preußen und anderen deutschen Staaten, später im Deutschen Reich von 1871, wurde die französische Rechtslage kopiert.673 Diese wandelte sich jedoch während der Dritten Französischen Republik (1870 bis 1940) zu einer stärker parlamentskontrollierten Ausnahmerechtslage, während die Weimarer Reichs668
Zur wehrhaften Demokratie siehe oben C. IV. 1. Svensson-McCarthy, The International Law of Human Rights and States of Exception, 1998, S. 9–19. 670 Svensson-McCarthy, The International Law of Human Rights and States of Exception, 1998, S. 19–31. Siehe auch Barczak, Der nervöse Staat, 2. Aufl. 2021, S. 224–233 zur englischen Rechtslage. 671 Svensson-McCarthy, The International Law of Human Rights and States of Exception, 1998, S. 32–35. 672 Hierzu Barczak, Der nervöse Staat, 2. Aufl. 2021, S. 233–241. 673 Hierzu A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 129–144, 210–221. Ausführlich auch Barczak, Der nervöse Staat, 2. Aufl. 2021, S. 241–290. Zur Entwicklung des Notstandsrechts in Deutschland siehe T. Stein, Grundrechte im Ausnahmezustand, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. I, 2004, § 16 Rn. 4–31. 669
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C. Antizipation im Grundgesetz
verfassung mit Art. 48 WRV dem Reichspräsidenten weitreichende Vollmachten zubilligte.674 Nach dem Missbrauch der Befugnisse des Art. 48 WRV gegen Ende der Weimarer Republik verzichtete das Grundgesetz zunächst ganz bewusst auf vergleichbare Elemente.675 Deshalb wurde es aber auch als defizitär angesehen.676 Die Diskussion flammte im Rahmen der Notstandsgesetzgebung677 erneut auf. Diese war sehr umstritten und führte weitestgehend zur heutigen Regelungsstruktur, die sich im internationalen Vergleich durch einen ausgesprochen hohen Detaillierungsgrad auszeichnet. Zur Abmilderung der als einschränkend empfundenen Regelungen (das liberale „Zuckerbrot“ zur autoritären „Peitsche“678) wurde erstens Art. 20 IV GG, das Widerstandsrecht, in das Grundgesetz aufgenommen.679 Zweitens wurde in Art. 9 III GG der Satz 3 angefügt, der nunmehr ausdrücklich klarstellt, dass „Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 […] sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten [dürfen], die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden“.680 c) Südafrikanisches Verfassungsrecht und Notstandsverfassung Südafrika kann auf eine leidvolle Geschichte exzessiver Anwendungen des Ausnahmezustands zu Zeiten der Apartheid zurückblicken.681 Er diente als Unterdrückungsinstrument der (weißen) Minderheit gegenüber der (nicht weißen Mehrheit) und setzte rechtsstaatliche Garantien, insbesondere für festgenommene Personen außer Kraft. Die neue südafrikanische Verfassung erkennt zwar an, dass es Gründe für einen Ausnahmezustand geben kann, versucht aber, diesen so eng wie möglich einzugrenzen. Als Reaktion auf den 674
Interessanterweise ist es nach derzeitigem Recht in beiden Staaten genau umgekehrt: Während Art. 16 und 36 der Französischen Verfassung von 1958 dem Präsidenten weitreichende Befugnisse einräumen, hat man hiervon in der Bundesrepublik bewusst Abstand genommen, siehe hierzu Gaillet/Hochmann/Marsch/Vilain/Wendel, Droits Constitutionnels Français et Allemand, 2019, Rn. 415–421. 675 Hierzu W. Weber, Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz, 1949, S. 22 f. 676 W. Weber, Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz, 1949, S. 22 f. 677 Siehe insgesamt zur Entstehung der Notstandsverfassung Diebel, Die Stunde der Exekutive, 2019, S. 157–193; Meinel, Diktatur der Besiegten?, Der Staat 52 (2013), 455 (457– 469). 678 Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, 1969, S. 8. 679 Siehe hierzu oben C. III. 6. f). 680 § 1 Nr. 1 Siebzehntes Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes v. 24.6.1968, BGBl. I, 709. Siehe hierzu BT-Drs. V/2873, S. 3. 681 Devenish, The demise of salus republicae suprema lex in South Africa: emergency rule in terms of the 1996 constitution, Comparative and International Law Journal of Southern Africa 31 (1998), 142 (142); Klug, The Constitution of South Africa, 2010, S. 13, 147, 227.
IV. Antizipation und verwandte Konzepte
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Missbrauch des Notstandsrechts unter der Apartheidregierung ist nunmehr z.B. in Art. 35 FC mit seinen fünf Absätzen in detaillierter Weise geregelt, welche Rechte festgenommene Personen haben. Art. 35 ist nach Art. 37(5) FC zumindest in Teilen auch im Notstand nicht derogierbar, also notstandsfest. Art. 37(6) und (7) FC enthalten weitere Schutzmaßnahmen für festgenommene Personen im Notstandsfall. Neben der Festlegung von auch im Ausnahmezustand nicht derogierbaren Rechten (Art. 37(5) FC) wird der Notstand auch auf weitere Art und Weise rechtlich begrenzt.682 Erstens geschieht dies durch inhaltliche Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Verhängung des Ausnahmezustands. Gem. Art. 37(1) FC kann der Notstand nur durch ein Parlamentsgesetz und ausschließlich dann erklärt werden, wenn das Leben der Nation durch Krieg, Invasion, allgemeinen Aufstand, Aufruhr, Naturkatastrophen oder andere öffentliche Notsituationen gefährdet und die Erklärung des Notstands zwingend erforderlich ist, um Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen. Zweitens bestehen prozedurale und organisatorische Anforderungen wie Zustimmungserfordernisse mit qualifizierten Mehrheiten. So darf der Notstand zunächst lediglich für 21 Tage erklärt werden. Eine Verlängerung ist zwar möglich, aber nur für jeweils drei Monate. Für die erste Verlängerung des Notstands bedarf es einer einfachen Mehrheit der Mitglieder des Parlaments. Jede weitere Verlängerung des Ausnahmezustands bedarf hingegen einer qualifizierten Mehrheit der Mitglieder des Parlaments von mindestens 60% (Art. 37(2) FC).683 Art. 37(3) FC gestattet jedem zuständigen Gericht, über die Wirksamkeit der Erklärung des Notstands, jeder Verlängerung und jedes auf seiner Grundlage erlassenen Gesetzes zu entscheiden. Wenig überraschend ist, dass der Ausnahmezustand in Südafrika wegen des Missbrauchs in der Zeit der Apartheid einen äußerst schlechten Ruf hat. Nach wie vor ist das Misstrauen in das Instrument „Ausnahmezustand“ deshalb groß. Wahrscheinlich aus diesem Grund versuchen Regierungen in Südafrika die Berufung auf den Ausnahmezustand zu vermeiden. Während der Covid19-Pandemie hat die Regierung unter Staatspräsident Cyril Ramaphosa auch davon Abstand genommen, den Ausnahmezustand gem. Art. 37 FC auszurufen. Stattdessen wurde ein „Katastrophenzustand“ auf der Grundlage der Gesundheitsgesetze ausgerufen („national state of disaster“). Zwar müssen das zugrunde liegende Gesundheitsgesetz und seine Handhabung wegen des Vorrangs der Verfassung (Art. 1(c) FC) verfassungskonform sein, allerdings gelten die speziellen Anforderungen des Art. 37 FC nicht, der durch strenge Regelungen einen Missbrauch des Notstandsrechts verhindern will. Dies zeigt, dass
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Klug, The Constitution of South Africa, 2010, S. 147 f. Hierzu Ackerman, The Emergency Constitution, The Yale Law Journal 113 (2004), 1029 (1055). 683
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zwar die rechtliche Einhegung des Notstands(rechts) gefordert wird,684 dieser rechtlich eingehegte Notstand aber umgangen werden kann. Das fiktive Szenario685 und die realen Beispiele in Polen und Ungarn686 zeigen, dass auch ohne offizielle Ausrufung des Notstands allein mit den gewöhnlichen Gesetzen faktisch wie im Notstand regiert werden kann. Dies unterstreicht einmal mehr die Notwendigkeit, die Kumulation von Maßnahmen verfassungsrechtlich in den Griff zu bekommen. d) Antizipativer Gehalt Die Gemeinsamkeit zwischen dem Recht des Notstands und dem Konzept der antizipativen Verfassung besteht darin, dass beizeiten Regelungen für eine etwaige zukünftige besondere Situation geschaffen werden. So wäre es z.B. untunlich, erst im Falle einer großen Naturkatastrophe eine Vorschrift wie Art. 35 III 1 GG zu erlassen, um die Bundeswehr einsetzen zu dürfen. Im Krisenfalle entstünde Streit über die Zulässigkeit der Verfassungsänderung, das Verfahren ist zeitintensiv und selbst nach erfolgter Verfassungsänderung fehlt es an Konkretisierungen im einfachen Recht wie auch an Einsatzplänen. Zwar betreffen nicht alle, aber zumindest einige („innerer Notstand“) Teile der Notstandsverfassung Angriffe auf die freiheitliche demokratische Grundordnung. Insoweit besteht eine Parallele, auch wenn die Notstandsverfassung – je nach Verständnis – begrifflich weiter reichen kann.
3. Verfassungsschutz Ein weiterer Begriff im Zusammenhang mit dem Schutz der liberalen Demokratie ist der des Verfassungsschutzes, welcher möglicherweise ebenfalls der Antizipation der demokratischen Dekonsolidierung dient. a) Begriff Der Begriff des Verfassungsschutzes ist mehrdeutig.687 Naheliegend ist der Gedanke an das auf der Grundlage des Art. 73 I Nr. 10 b) GG errichtete Bundesamt für Verfassungsschutz.688 Nach § 3 I BVerfSchG hat es vorrangig die 684 Für die deutsche Rechtslage E. Klein, Innerer Staatsnotstand, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 280 Rn. 4. 685 Siehe oben A. II. 1.–A. II. 1. b). 686 Siehe oben A. I. 1.–A. I. 2. d). 687 Hierzu K. Groh, Zwischen Skylla und Charybdis, in: Gusy (Hrsg.), Weimars langer Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, 2003, S. 425 (428 f.). 688 Ursprünglich Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes v. 27.9.1950, BGBl. I, 682. Siehe auch Papier/Durner,
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„Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sachund personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen“ in näher spezifizierten Bereichen zur Aufgabe. Verfassungsschutz, wie er hier verwendet wird, ist indes nicht identisch mit der Institution des Bundesamts für Verfassungsschutz. Vielmehr geht es um die Vorkehrungen in der Verfassung zu ihrem eigenen Schutz. Allerdings kann Art. 73 I Nr. 10 b) GG eine Legaldefinition entnommen werden, denn dem dortigen Zusatz „(Verfassungsschutz)“ ist der Textteil „Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes“ vorangestellt. Hieraus ließe sich schließen, dass Verfassungsschutz ein Oberbegriff ist, der sowohl die wehrhafte Demokratie als auch den Staatsschutz689 umfasst. Allerdings ist es umstritten, ob „Verfassungsschutz“ oder „Staatsschutz“ der weitere Begriff ist.690 Klaus Stern subsumiert unter den Gliederungspunkt „Schutz der Verfassung“691 u.a. den Verfassungsschutz. Hierzu heißt es: „Der Verfassungsschutz im engeren Sinne dient dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestands und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes“, und es wird auf die Legaldefinition des Art. 73 Nr. 10 b) GG verwiesen.692 Wenn es einen Verfassungsschutz im engeren Sinne gibt, dann gibt es auch weiter gehende Verständnisse, auf die bei ihm ebenfalls hingewiesen wird.693 Bereits dies deutet darauf hin, dass „Verfassungsschutz“ (und auch „Staatsschutz“) unterschiedlich weit verstanden werden. Teilweise sollen mit „Verfassungsschutz“ „die in den freiheitlichen Staatsordnungen enthaltenen Einrichtungen“ gemeint sein, „die dem Zwecke der Sicherung der Verfassung gegen Angriffe von außen und innen, gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen von oben oder unten und gegen innere Funktionsunfähigkeit dienen, und über die allgemeine Pflicht zur Wahrung der Verfassung hinaus besondere Pflichten und Zuständigkeiten begründen, insbesondere Rechtsnachteile für Verletzungen der Verfassung verhängen oder
689 Streitbare Demokratie, AöR 128 (2003), 340 (358–362); Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, K. Monografisch Banzhaf, Die Ämter für Verfassungsschutz als Präventionsbehörden, 2021. 689 Hierzu sogleich unter C. IV. 4.–C. IV. 4. c). 690 Vgl. W. Cremer, Organisationen zum Schutz von Staat und Verfassung, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 278 Rn. 1; Maunz, Deutsches Staatsrecht, 18. Aufl. 1971, S. 323–329. Siehe zum Verhältnis auch Banzhaf, Die Ämter für Verfassungsschutz als Präventionsbehörden, 2021, S. 60–62. 691 Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 176–230 (§ 6). 692 Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 192. 693 Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 192 f. Siehe auch die Systematisierungen von Denninger, „Streitbare Demokratie“ und Schutz der Verfassung, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, Bd. 2, 2. Aufl. 1994, § 16 Rn. 14–30.
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C. Antizipation im Grundgesetz
organisatorische Vorsorge für ihren Schutz treffen“.694 Ein engeres Verständnis schließt aus dem Begriff des Verfassungsschutzes die Vorsorge gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen von oben aus und definiert Verfassungsschutz als „alle diejenigen staatlichen Einrichtungen und Maßnahmen, die sich gegen verfassungsfeindliche, umstürzlerische Bestrebungen von unten“695 richten. Manche verwenden die Begriffe „Verfassungsschutz“ und „wehrhafte Demokratie“ synonym.696 Hieran ist richtig, dass Gefahren für die verfassungsmäßige Ordnung nicht nur von „unten“, sondern auch von Amtsträgern ausgehen können, wie sich beim Phänomen der demokratischen Dekonsolidierung zeigt. Für andere geht die wehrhafte Demokratie über den Verfassungsschutz hinaus, und sie lehnen die Gleichsetzung ab.697 Eckart Bulla hält diese Differenzierungen für unergiebig, da alle Vorschriften des Grundgesetzes Ausdruck des Selbstschutzes der Verfassung seien.698 Dies ist zwar insofern zutreffend, als alle Verfassungsbestimmungen gewahrt werden müssen. Dies entspricht der Einhaltung und Beachtung der Verfassung insgesamt, wie das BVerfG sie gerichtlich überprüfen kann. Das hilft aber nicht weiter, denn es ist gerade die Frage, was geschieht, wenn Verfassungsbestimmungen nicht eingehalten werden oder sich diese Entwicklung abzeichnet. Bezeichnenderweise räumt Eckart Bulla auch ein, dass es ein „System des Schutzes“ der Verfassung gebe, und ordnet diesem nur bestimmte – nicht alle – Vorschriften des Grundgesetzes zu, u.a. Art. 9 II, Art. 18, Art. 20 IV, Art. 79 III, Art. 87a IV, Art. 91, Art. 98 II GG.699 Hierbei handelt es sich aber im Wesentlichen um die Bestimmungen, aus denen auch die „wehrhafte Demokratie“ abgeleitet wird. Dies deutet darauf hin, dass eine weitgehende Übereinstimmung mit der wehrhaften Demokratie gegeben ist.
694
Scheuner, Der Verfassungsschutz im Bonner Grundgesetz, in: FG Kaufmann, 1950, S. 313 (321). Seine Ausführungen dürften allerdings in Teilen dem heutigen Konzept der wehrhaften Demokratie entsprechen. 695 So Maunz, Deutsches Staatsrecht, 18. Aufl. 1971, S. 325. 696 Krebs, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 18 Rn. 2 f. So wohl auch Gusy, Die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 105 (1980), 279 (289, 290), der im Zusammenhang mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und dem Parteiverbot des Art. 21 II 1 GG von „Verfassungsschutz“ spricht; ähnlich Lameyer, Streitbare Demokratie, 1978, S. 17. Siehe zum Verhältnis auch Banzhaf, Die Ämter für Verfassungsschutz als Präventionsbehörden, 2021, S. 62–65. 697 Thiel, Zur Einführung: Die „wehrhafte Demokratie“ als verfassungsrechtliche Grundentscheidung, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 1 (2). 698 Bulla, Die Lehre von der streitbaren Demokratie, AöR 98 (1973), 340 (348). Ein ähnliches Verständnis findet sich bei Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 2. Aufl. 1977, S. 354 f. 699 Bulla, Die Lehre von der streitbaren Demokratie, AöR 98 (1973), 340 (349).
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b) Ursprung Verfassungsschutz kam erst auf, als es auch Verfassungen im modernen Sinne gab.700 Dies kann man auf das Ende des 18. Jahrhunderts in Nordamerika und Frankreich datieren. In Deutschland lassen sich Bestrebungen der jungen Verfassungen im Frühkonstitutionalismus mit der erschwerten Abänderbarkeit der Verfassung, dem Verfassungseid des Herrschers, der Ministeranklage und einer Staatsgerichtsbarkeit nachweisen.701 c) Südafrikanisches Verfassungsrecht Zwar kennt das südafrikanische Verfassungsrecht keine „wehrhafte Demokratie“, aber es verfügt über den Grundsatz des Vorrangs der Verfassung und über ein dem deutschen Vorbild nachempfundenes Verfassungsgericht. Selbst im Notstand sind bestimmte Rechte derogationsfest (Art. 37(5) FC).702 Der größte Schutz der südafrikanischen Verfassung dürfte nach ihrem Selbstverständnis in dem Wahlrecht, der Gewährleistung der Grundrechte und dem Verfassungsgericht liegen. Diese im Vergleich zu Deutschland unterschiedliche Sichtweise ist den Unterschieden in den Unrechtserfahrungen geschuldet. Da während der Apartheid eine Minderheit von weniger als 20% der Bevölkerung die Mehrheit vom politischen Prozess ausgeschlossen hatte, fehlte es an einer zumindest vermeintlich demokratischen Mehrheitsentscheidung für die Ungerechtigkeiten der Apartheid. Aus diesem Grund konnte das Mehrheitsprinzip vom Verfassungsgeber nicht wie in Deutschland als „bemakelt“ angesehen werden. Schließlich wurde es nicht missbraucht, sondern missachtet. Deshalb sind Sicherungen gegen einen Missbrauch der Mehrheitsmacht auch deutlich schwächer als im Grundgesetz ausgeprägt. d) Antizipativer Gehalt Wie der Begriff „Verfassungsschutz“ exakt zu definieren ist und wie die verschiedenen Konzepte voneinander abzugrenzen sind, kann offenbleiben, da sie alle eine Gemeinsamkeit haben. Diese Gemeinsamkeit ist für den vorliegenden Zusammenhang relevant, denn den genannten Konzepten ist – unabhängig von ihrer inhaltlichen Reichweite und ihrer Terminologie – gemeinsam, dass sie einen Bestand der Verfassung schützen wollen. Sie gehen davon aus, dass dies erforderlich ist, da es zu verfassungsfeindlichen Bestrebungen 700 Scheuner, Der Verfassungsschutz im Bonner Grundgesetz, in: FG Kaufmann, 1950, S. 313 (313). M. Will, Ephorale Verfassung, 2017, S. 15–18 sieht allerdings schon Vorläufer in der Antike und schlägt deshalb den Begriff „ephorale Verfassung“ vor. 701 Scheuner, Der Verfassungsschutz im Bonner Grundgesetz, in: FG Kaufmann, 1950, S. 313 (314); Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 183. 702 Siehe hierzu oben C. IV. 2. c).
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kommen kann. Um diesen zukünftig effektiv begegnen zu können, bedarf es der frühzeitigen Etablierung eines Rechtsrahmens mit abwehrenden Instrumenten. Die Abwehrmechanismen werden bereitgehalten, bevor der Angriff erfolgt. Damit besteht die zeitliche Komponente der rechtzeitigen Gefahrenvorsorge. Eckart Bulla spricht ebenfalls von einem „präventiven Charakter“ und „der Präventivfunktion des Verfassungsschutzes“.703 Dies entspricht dem Antizipationsgedanken.
4. Staatsschutz Unter Staatsschutz versteht man die Verteidigung des tatsächlichen und rechtlichen Bestands sowie die Grenzen eines Staates gegen Angriffe von innen und außen.704 Hier bestehen Überschneidungen sowohl mit dem Recht der Notstandsverfassung als auch mit dem Verfassungsschutz. Auch der Begriff „Staatsschutz“ ist facettenreich und kontextabhängig. In Art. 10 II 2 GG wird der „Bestand“ des Bundes ebenso erwähnt wie in Art. 11 II, Art. 21 II 1, III 1, Art. 73 I Nr. 10 b), Art. 87a IV 1, Art. 91 GG, wobei in Art. 21 GG statt von „Bund“ von der „Bundesrepublik Deutschland“ die Rede ist. Im Polizeirecht ist der Bestand des Staates und seiner Einrichtungen eines der klassischen Schutzgüter der polizeilichen Generalklausel („öffentliche Sicherheit“).705 Das Strafrecht kennt Staatsschutzdelikte (solche, „die sich gegen den Bestand des Staates, seine verfassungsmäßigen Einrichtungen, das Funktionieren des Staatsapparates und andere lebenswichtige Interessen und Rechtsgüter des Staatswesens richten“706). Teilweise wird „der Staatsschutz“ auch in einem institutionellen Sinne gebraucht707 und soll dann die Ämter für Verfassungsschutz von Bund und Ländern, den Bundesnachrichtendienst und den Militärischen Abschirmdienst bezeichnen.
703 Bulla, Die Lehre von der streitbaren Demokratie, AöR 98 (1973), 340 (348 bzw. 354). Siehe auch BVerfGE 5, 85 (142 f.); 80, 244 (253); 144, 20 (199); 149, 160 (194, 199); BVerfG(K), NVwZ 2020, 224 (225); Ordnung, Zur Praxis und Theorie des präventiven Demokratieschutzes, Bd. 1 und 2, 1985; Scherb, Präventiver Demokratieschutz als Problem der Verfassungsgebung nach 1945, 1987; Sajó/Uitz, The Constitution of Freedom, 2017, S. 433. 704 Vgl. W. Cremer, Organisationen zum Schutz von Staat und Verfassung, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 278 Rn. 1. 705 BVerfGE 54, 143 (144 f.); W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 12. Aufl. 2023, Rn. 56; Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Schoch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 2018, Kap. 1 Rn. 244; Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 68 Rn. 6. 706 „Staatsschutzdelikte“, R. Werner, in: Weber (Hrsg.), Rechtswörterbuch (online), 30. Edition 2023. 707 Hierzu W. Cremer, Organisationen zum Schutz von Staat und Verfassung, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 278.
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a) Begriff Im Hinblick auf einfachrechtliche Vorschriften hat das BVerwG formuliert, dass unter „Staatsschutz“ die Strafvorschriften fallen, die „den Bestand des Staates, seine innere und äußere Sicherheit, seine verfassungsmäßige Ordnung, den Schutz fremder Staaten, die Interessen der Bundesrepublik Deutschland an ungestörten internationalen Beziehungen, die Tätigkeit von Verfassungsorganen, den ungestörten Ablauf von Wahlen und Abstimmungen sowie den Schutz der Landesverteidigung zum Gegenstand haben“.708 Überträgt man diesen Gedanken unter Außerachtlassung der einfachrechtlichen Ausgestaltung auf die Verfassungsebene, ist „Staatsschutz“ der weiterreichende Begriff im Vergleich zum „Verfassungsschutz“,709 denn dann unterfällt dem Staatsschutz sowohl der Schutz des Staates (Bestand) als auch der Verfassungsordnung. Allerdings werden auch gegenteilige Verständnisse vertreten.710 So schreibt Eckart Bull unter der Überschrift „Schutz des Staates und seiner Einrichtungen“: „Selbstschutz des Staates ist als Verfassungsschutz zu verstehen, d.h. als Schutz der freiheitlichen, rechts- und sozialstaatlichen Verfassungswirklichkeit und Abwehr von Bestrebungen zur Änderung der nach dem Grundgesetz nicht änderbaren Verfassungsrechtssätze.“711 Ein Staat setzt sich nach der sog. Drei-Elemente-Lehre Georg Jellineks aus Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt zusammen.712 Soll der Bestand des Staates geschützt werden, muss es um den Schutz dieser drei Elemente gehen. Der Bestand des Staates muss aber von seiner Staatsform unterschieden werden. Der Staat „Bundesrepublik Deutschland“ ist die moderne „Form“ des Norddeutschen Bundes von 1866/67.713 Weder die Reichsgründung 1871 noch der Erste oder Zweite Weltkrieg, die Kapitulation oder die Teilung Deutschlands haben diese Kontinuität abreißen lassen. Für die umstrittene Frage des Untergangs des Deutschen Reichs 1945 hat das BVerfG explizit den Fortbestand bejaht.714 Zwar wurden die nationalsozialistischen Beamtenverhältnisse 708 BVerwG, NVwZ 2006, 214 (215). So auch Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, K, § 1 BVerfSchG Rn. 9. 709 Vgl. Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, K, § 1 BVerfSchG Rn. 9. 710 Vgl. W. Cremer, Organisationen zum Schutz von Staat und Verfassung, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 278 Rn. 1. 711 Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 2. Aufl. 1977, S. 354. 712 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1966, S. 394–434. 713 Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 22 Rn. 1a; Heintzen, Bundeskompetenzen in Krisensituationen, ZRP 2016, 66 (68 mit Fn. 20); Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Mai 2015), Präambel Rn. 45; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 22. Vgl. v. Münch, Deutschland: gestern – heute – morgen – Verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Probleme der deutschen Teilung und Vereinigung, NJW 1991, 865 ff. 714 BVerfGE 3, 288 (319 f.); 5, 85 (126); 6, 309 (363, 363 f.), 36, 1 (15–17) m.w.N.
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sowie die Soldaten- und Wehrmachtsbeamtenverhältnisse mit der deutschen Kapitulation am 8.5.1945 als erloschen angesehen,715 aber dies wurde gerade nicht mit dem Untergang des Staates, sondern mit der Pervertierung der Beamtenverhältnisse im Nationalsozialismus716 bzw. der militärischen Kapitulation und der Auflösung der Wehrmacht717 begründet. Die Verfassung des deutschen Staates veränderte sich seit 1867 hingegen mehrfach und in grundlegender Weise. Staatsschutz und Verfassungsschutz sind in diesem Sinne nicht identisch. Wenn der Bestand des Staates mit seinen drei konstitutiven Elementen gefährdet wird, dann sind dies eher externe Faktoren oder sezessionistische Bestrebungen. Zumindest wird aus Art. 79 III GG abgeleitet, dass die Bundesrepublik Deutschland als Staat bestehen muss,718 und auch Art. 10 II 2, Art. 11 II, Art. 21 II 1, III 1, Art. 73 I Nr. 10 b), Art. 87a IV 1, Art. 91 GG sprechen den Bestand des Bundes bzw. der Bundesrepublik und damit des deutschen Staates explizit an. b) Südafrikanisches Verfassungsrecht und Staatsschutz Ein besonderer verfassungsrechtlicher Staatsschutz, wie er soeben für die deutsche Verfassungslage diskutiert wurde, existiert in Südafrika nicht. Da die Integration Südafrikas in die „Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrikas“ (SADC) nicht so eng ist wie es die Integration Deutschlands in der EU ist,719 stellt sich in Südafrika die Frage der Bewahrung der Eigenstaatlichkeit nicht so wie in der Bundesrepublik. Kapitel 11 der südafrikanischen Verfassung befasst sich mit den Sicherheitskräften, u.a. dem Militär. Dieses wird als „defence force“ und damit als Verteidigungskraft bezeichnet (Art. 200 FC). Seine vorrangige Aufgabe ist es, die Republik Südafrika, ihre territoriale Integrität und ihr Volk zu verteidigen und zu beschützen (Art. 200(2) FC). Hier geht es folglich um den Schutz des Bestands des Staates, wobei die beiden Staatselemente „Staatsvolk“ und „Staatsgebiet“ angesprochen werden. In den folgenden Vorschriften werden auch weitere Sicherheitskräfte (Polizei, Art. 205 bis 207 FC und Geheimdienste, Art. 208 f. FC) adressiert. c) Antizipativer Gehalt Die Ermittlung des antizipativen Gehalts hängt in erheblichem Maße von dem Begriff „Staatsschutz“ ab. Der Begriff ist diffus und wird teilweise mit „Ver715 716 717 718 719
BVerfGE 3, 58 (LS 2) bzw. BVerfGE 3, 288 (LS 2). BVerfGE 3, 58 (85–124, 133). BVerfGE 3, 288 (314–323). BVerfGE 123, 267 (343). Siehe hierzu oben C. III. 1 b) aa) m.w.N. Siehe hierzu oben C. III. 1. d).
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fassungsschutz“ oder „wehrhafter Verfassung“ gleichgesetzt. Da diese Begriffe bereits untersucht wurden, wird hier einem engen Begriffsverständnis gefolgt. Das vermeidet Dopplungen, schärft den Begriff und damit die Abgrenzung. Überdies unterscheidet das Grundgesetz selbst in Art. 10 II 2, Art. 11 II, Art. 21 II 1, III 1, Art. 73 I Nr. 10 b), Art. 87a IV 1, Art. 91 GG zwischen dem Bestand des Staates einerseits und seiner freiheitlichen demokratischen Grundordnung andererseits. Das Grundgesetz will somit nicht nur seine Staatsform, sondern auch den Staat, der diese Staatsform aufweist, erhalten. Dass der Staat gefährdet sein kann, erkennt die Verfassung und trifft Regelungen, wie den Gefahren begegnet werden kann, etwa durch Aufstellung von Streitkräften und der Zulässigkeit der Einordnung in ein System der kollektiven Sicherheit nach Art. 24 II GG.
5. Ausnahmezustand Eng mit der Notstandsverfassung verwandt ist der „Ausnahmezustand“. Dieser Begriff ist jedoch unklar und facettenreich.720 Berühmt oder berüchtigt ist Carl Schmitt, der „Theoretiker der Ausnahme“721, für seine Formulierung: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“.722 Allerdings wird seine Positionierung überwiegend abgelehnt und entsprach auch bereits unter der Geltung der Reichsverfassung von Weimar nicht dem damals geltenden Verfassungsrecht.723 a) Begriff Das Grundgesetz kennt den Begriff „Ausnahmezustand“ nicht. Zwar verwendet es u.a. in Art. 42 II 2 GG das Wort „Ausnahme“, in Art. 84 I 5 GG „Ausnahmefälle“ bzw. in Art. 109 II 2, 3 GG den Begriff „Ausnahmeregel“, hierbei handelt es sich aber um die üblichen Gestattungen der Abweichungen von einer Grundregel, die in Rechtsordnungen typischerweise vorkommen. Mit „Ausnahmezustand“ wird jedoch etwas anderes verbunden. Die Literatur definiert den Ausnahmezustand als eine Lage,
720
A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 49; Kersten, Ausnahmezustand?, JuS 2016, 193 (194). Zur Abgrenzung von Notstand und Ausnahmezustand Windthorst, Der Notstand, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 365 (368). 721 So Jestaedt, Carl Schmitt (1888–1985), in: Häberle/Kilian/Wolff (Hrsg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, 2. Aufl. 2018, S. 391 (399). 722 So C. Schmitt, Politische Theologie, 1922, S. 9. 723 A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 56 m.w.N.
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„in der so schwere Gefahren für den Bestand eines Staates, seine Sicherheit und (Rechts-) Ordnung bestehen, daß deren Bewältigung mit den im Normalfall zu Gebote stehenden Mitteln nicht mehr möglich erscheint“.724
Wie es der Wortlaut nahelegt, handelt es sich um eine besondere Situation, die vom „Normalfall“ abweicht. Unter den „Ausnahmefall“ als Oberbegriff wird jedenfalls der innere Notstand gefasst.725 Andere lassen hierunter auch Gefährdungen durch feindliche Angriffe von außen fallen: „Ausnahmezustand bezeichnet diejenige Lage eines Staates, in welcher er einer Gefährdung von außen durch einen feindlichen Angriff, von innen durch verfassungsfeindliche Kräfte oder durch Naturkatastrophen mit den normalen verfassungsmäßigen Mitteln nicht Herr werden kann.“726
Bliebe man bei diesem Verständnis stehen, bewegte man sich in den bereits zuvor erörterten Bahnen der Notstandsverfassung.727 Allerdings verlangt die Definition des Ausnahmezustands, dass die im Normalfall zu Gebote stehenden Mittel nicht zur Bewältigung der Notlage ausreichen. Gilt dies aber auch für die verschiedenen Regelungen der Notstandsverfassung selbst, welche ja gerade Vorsorge für den Krisenfall treffen will?728 Was geschieht, wenn auch diese nicht mehr ausreichen? Methodisch überzeugend ließe sich argumentieren, dass die niedergelegten Regelungen eine Sperrwirkung gegenüber weiter gehenden Handlungsmöglichkeiten entfalten. Dies ruft jedoch bei einigen Autoren Unbehagen hervor, da die geschriebene Rechtsordnung unvollständig sein könnte und dementsprechend die erforderlichen Maßnahmen für ein bestimmtes Szenario nicht bereithielte. Deshalb wird von Teilen des Schrifttums ein ungeschriebenes Staatsnotstandsrecht, das Ausnahmerecht oder Ausnahmeverfassungsrecht, angenommen oder vorausgesetzt.729 Dies wird u.a. deshalb bejaht, weil die mögli724 E. Klein, Innerer Staatsnotstand, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 280 Rn. 1 m.w.N. 725 E. Klein, Innerer Staatsnotstand, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 280 Rn. 1. So auch Kersten, Ausnahmezustand?, JuS 2016, 193 (197–200). 726 Forsthoff, Ausnahmezustand, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. I, 1971, Sp. 669. Siehe ausführlich zum Begriff und seiner historischen Entwicklung auch in rechtsvergleichender Perspektive A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 49–72, 85–112, 126–200. 727 Siehe hierzu oben C. IV. 2–C. IV. 2. d). 728 Hierzu Kersten, Ausnahmezustand?, JuS 2016, 193 (194). 729 Siehe hierzu Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 1328–1339, er spricht von „ungeschriebenem Staatsnotrecht“ und unternimmt den Versuch, dieses rechtlich stärker einzuhegen, S. 1337 f. Siehe auch E.-W. Böckenförde, Der verdrängte Ausnahmezustand, NJW 1978, 1881 (1882), der einen Ausnahmezustand für erforderlich hält und de lege ferenda für eine Verankerung des Ausnahmerechts plädiert. Kritik hieran bei Kersten, Ausnahmezustand?, JuS 2016, 193 (201); Lübbe-Wolff, Rechtsstaat und Ausnahmerecht, ZParl 1980, 110 ff. Insgesamt prägend C. Schmitt, Politische Theologie, 1922, S. 9–15. Siehe zum Streitstand E. Klein, Innerer Staatsnotstand, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 280 Rn. 85–90.
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chen Notlagen und ihre Ursachen zu vielgestaltig seien, als dass man sie im Vorhinein alle sicher erfassen und einer Regelung zuführen könnte.730 Deshalb sei es besser, im nicht geregelten Notfall auf die Beachtung der Verfassung zu verzichten, wenn nur so die den Verfassungsstaat tragenden Fundamente gerettet werden und der Normalzustand auf diese Weise wiederhergestellt werden können.731 Insgesamt erweist sich der Begriff als „schillernd“732. b) Bewertung Besondere Lagen erfordern besondere Maßnahmen. Deshalb sehen 90% aller Verfassungen weltweit und auch fast alle internationalen Menschenrechtsverträge besondere Notstandsregeln vor.733 Ausnahmerecht ist aber missbrauchsanfällig. Aus diesem Grund versuchen die Verfassungen und Menschenrechtsverträge, die Missbrauchsgefahr zu reduzieren. Dies geschieht durch besonders formulierte Tatbestandsvoraussetzungen für den Notfall, formale Hürden wie spezifische Veröffentlichungspflichten oder Zustimmungserfordernisse parlamentarischer Körperschaften etc. (vgl. Art. 37(1) und (2) FC, Art. 15 EMRK). Oft sind die Notstandslagen zeitlich begrenzt und enden im Falle fehlender ausdrücklicher Verlängerung durch das Parlament automatisch („sunset-clauses“). Außerdem werden bestimmte Rechte als notstandsfest festgelegt wie in Art. 9 III 3 GG oder Art. 37(5) FC. Gleichwohl fehlen auch in diesen Fällen eine hinreichende begriffliche Schärfe und eine klare Bindung an das geschriebene Recht,734 weshalb Ausnahmezustände oft mit Amts- und Rechtsmissbrauch einhergehen. Auch ist die Annahme, dass die Außerkraftsetzung der Rechtsordnung für einen befristeten Zeitraum zur schnelleren Wiederherstellung des suspendierten Normalzustands führen würde,735 zu optimistisch. In Ägypten beispielsweise verhängte der neue Staatspräsident Hosni Mubarak nach der Ermordung des vorherigen Staatspräsidenten Anwar as-Sadat den Ausnahmezustand, welcher von 1981 bis nach Hosni Mubaraks Sturz 2011 andauerte. Ein ungeschriebenes Notstandsrecht ist deshalb nach hiesigem Verständnis für das Grundgesetz ebenso ausgeschlossen736 wie weitreichende Berufungen 730
Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 1334–1336. Gegen dieses Argumentationsmuster Lübbe-Wolff, Rechtsstaat und Ausnahmerecht, ZParl 1980, 110 (117–125). Dem folgend Barczak, Der nervöse Staat, 2. Aufl. 2021, S. 196–201; Kersten, Ausnahmezustand?, JuS 2016, 193 (201). 731 Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 1338. 732 A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 49. 733 Siehe hierzu bereits oben C. und C. IV. 2. b). 734 Kersten, Ausnahmezustand?, JuS 2016, 193 (194). 735 Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 1336 f., 1338. 736 A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 337–343, 359; Michl, Der demokratische Rechtsstaat in Krisenzeiten, JuS 2020, 507 (507). So wohl auch Arndt, Demokratie – Wertsystem des Rechts, in: Arndt/Freund, Notstandsgesetz – aber wie?, 1962, S. 7 (13).
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C. Antizipation im Grundgesetz
auf § 34 StGB für Hoheitsträger,737 denn auch damit werden die Entscheidungen der Verfassung unterlaufen.738 Das BVerfG hat sich in der ersten Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz ablehnend zu den Versuchen geäußert, die Grenzen der Verfassung selbst in Extremlagen zu überschreiten.739 Diesen Ausführungen wird zumindest eine teilweise Absage an ein ungeschriebenes Notstandsrecht entnommen.740 Zwar wurden zahlreiche Aussagen durch den Beschluss des Plenums des BVerfG aus dem Juli 2012741 revidiert, aber es hat an dem Gebot strikter Texttreue für Inlandseinsätze der Bundeswehr festgehalten742 und zieht diesen weiterhin feste Grenzen. Auch besondere Ausnahmesituationen ändern danach nichts an der Verbindlichkeit der Zuständigkeitsregelungen und der Begrenzung der Einsatzmittel.743 Jedenfalls wird man der Rechtsprechung des BVerfG nicht entnehmen können, dass sich dieses für ein ungeschriebenes Ausnahmeverfassungsrecht ausspricht, das von der geschriebenen Verfassungsordnung abweichen dürfte. Dies gilt trotz seiner Aussage, dass die geschriebene Notstandsverfassung Lücken enthalte.744 Sofern der Notstand geregelt wird, wird es definitionsgemäß immer Fälle geben, die nicht den geregelten Tatbestandsvoraussetzungen unterfallen, es sei denn, es bestünde eine dem Art. 48 WRV bzw. dem jetzigen Art. 16 der Französischen Verfassung von 1958 vergleichbare Regelung. Diese Vorschriften gestatteten bzw. gestatten, dass alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen werden dürfen. Ein neuer „Art. 48“ wurde aber bewusst nicht in das Grundgesetz aufgenommen. Schließlich ist der Begriff „Ausnahmezustand“, der nach der Definition von Ernst Forsthoff Krieg, verfassungsfeindliche Bestrebungen und Naturkatastrophen erfasst,745 weit. Die erfassten Phänomene unterscheiden sich stark und benötigen zu ihrer Abwehr ganz unterschiedliche Vorgehensweisen. Das pauschale Außerkraftsetzen von rechtsstaatlichen Bindungen ist deshalb auch nicht differenziert genug.
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Lübbe-Wolff, Rechtsstaat und Ausnahmerecht, ZParl 1980, 110 (111–117). Kersten, Ausnahmezustand?, JuS 2016, 193 (200). 739 BVerfGE 115, 118 (140–166). 740 A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S. 70. Ähnlich Kersten, Ausnahmezustand?, JuS 2016, 193 (198). 741 BVerfGE 132, 1 ff. 742 BVerfGE 132, 1 (9). 743 BVerfGE 132, 1 (9–20). Dem folgend BVerfGE 133, 241 (259–272). 744 BVerfGE 133, 241 (260 f., 267). 745 Forsthoff, Ausnahmezustand, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. I, 1971, Sp. 669. Siehe ausführlich zum Begriff und seiner historischen Entwicklung auch in rechtsvergleichender Perspektive A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 49–72, 85–112, 126–200. 738
IV. Antizipation und verwandte Konzepte
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c) Südafrikanisches Verfassungsrecht Hinsichtlich des Ausnahmerechts nach der südafrikanischen Verfassung kann auf die obigen Ausführungen zu Art. 37 FC bei der Notstandsverfassung verwiesen werden.746 d) Antizipativer Gehalt Die Annahme eines ungeschriebenen Rechts des Ausnahmezustands zeigt, dass von einigen Autoren Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung befürchtet werden, denen sich nicht mit den positivrechtlich geregelten Mitteln begegnen lässt. Anliegen dieser Schrift ist jedoch, das geltende Verfassungsrecht zur Entfaltung zu bringen, und nicht, ein ungeschriebenes Recht des Ausnahmezustands zu postulieren.
6. Grundsatz der Nachhaltigkeit Anders als die bislang diskutierten Konzepte (wehrhafte Demokratie, Notstandsverfassung, Ausnahmezustand, Staats- und Verfassungsschutz) behandelt der Grundsatz der Nachhaltigkeit nicht spezifisch die liberale Demokratie. Einigen Konzepten zufolge hat jedoch auch der Grundsatz der Nachhaltigkeit einen Demokratiebezug bzw. wird dieser hergestellt.747 Durch seinen Fokus auf die Zukunft berücksichtigt der Grundsatz der Nachhaltigkeit (genau wie der Gedanke der Antizipation) überdies den Faktor Zeit. Im Grunde geht es um die dauerhafte Funktionsfähigkeit eines Systems – im vorliegenden Zusammenhang der liberalen Demokratie. a) Begriff Der Grundsatz der Nachhaltigkeit748 (oder synonym749 Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung) ist vermutlich das umstrittenste Konzept unter den bislang in diesem Teil behandelten Prinzipien. Zweifelhaft ist, ob es sich überhaupt um ein Prinzip des Grundgesetzes handelt,750 wobei überwiegend von 746
Siehe oben C. IV. 2. c). So bereits im Titel Popp, Nachhaltigkeit und direkte Demokratie, 2021. 748 Es wird ein enger von einem weiten Nachhaltigkeitsbegriff unterschieden, hierzu Popp, Nachhaltigkeit und direkte Demokratie, 2021, S. 18 ff. 749 So Kahl, Nachhaltigkeitsverfassung, 2018, S. 1. 750 Hierzu Kahl, Einleitung: Nachhaltigkeit durch Organisation und Verfahren, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit durch Organisation und Verfahren, 2016, S. 1 (5 f.). Zweifelnd auch Heintzen, „Nachhaltigkeit“ – ein Begriffsvergleich zwischen Umwelt- und Steuerrecht, in: Hendler/Marburger/Reinhardt/Schröder (Hrsg.), Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 2004, Bd. 78, S. 75 (84 f.). 747
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C. Antizipation im Grundgesetz
einer Verankerung in Art. 20a GG ausgegangen wird.751 Im Unionsrecht tritt Nachhaltigkeit u.a. in Art. 3 III 2 EUV bei den Zielen der EU in Erscheinung.752 Einfachgesetzlich ist Nachhaltigkeit weit verbreitet, u.a. im Umweltrecht, aber auch im Steuerrecht wird der Begriff verwendet.753 Weiterhin soll Nachhaltigkeit im Recht der Rentenversicherung eine Rolle spielen. Nach § 68 I 3 Nr. 3 SGB VI ist der Nachhaltigkeitsfaktor, ermittelt gem. § 68 IV SGB VI, von Bedeutung für die Berechnung des Rentenwerts.754 Im Grundgesetz wird der Grundsatz der Nachhaltigkeit jedenfalls nicht ausdrücklich erwähnt, auch wenn sich Vorschläge zu seiner verfassungsrechtlichen Positivierung finden und fanden.755 Diese wurden bislang jedoch nicht umgesetzt und werden derzeit politisch auch nicht weiterverfolgt. Die Rechtsprechung des BVerfG hat die Vorarbeiten im Schrifttum noch nicht in entscheidungserheblicher Weise aufgegriffen.756 Die Diskussion spielt sich deshalb derzeit lediglich in der Rechtswissenschaft, aber nicht in der Rechtspraxis ab. Die nachfolgenden Untersuchungen müssen sich deshalb auf die Rechtswissenschaft konzentrieren. b) Konzept Der Grundgedanke des Konzepts ist simpel. Ausgehend von den forstwirtschaftlichen Wurzeln des Prinzips757 lässt es sich so formulieren, dass nur so viel Holz geschlagen werden soll, wie auch in einer bestimmten Zeit wieder nachwächst. Für eine bildhaftere Ausdrucksweise ließe sich das Sprichwort heranziehen, wonach man nicht an dem Ast sägen sollte, auf dem man sitzt. Dieser Grundgedanke gilt aber nicht mehr nur in der Forstwirtschaft, sondern überall dort, wo begrenzte Ressourcen verbraucht werden. Dass dieser schlichte wie sinnvolle Grundgedanke als „Überlebensfrage“758 bezeichnet wird, liegt daran, dass er in vielen Bereichen zu lange missachtet wurde. Es ist 751
Rux, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 20a Rn. 17.1 (Stand: 15.5.2023). Hierzu Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 3 EUV Rn. 23. 753 Zu beidem Heintzen, „Nachhaltigkeit“ – ein Begriffsvergleich zwischen Umwelt- und Steuerrecht, in: Hendler/Marburger/Reinhardt/Schröder (Hrsg.), Jahrbuch des Umweltund Technikrechts 2004, Bd. 78, S. 75 ff. 754 Siehe hierzu Sodan, Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, VVDStRL 64 (2005), 144 (159). 755 BT-Drs. 16/3399; Kahl, Nachhaltigkeitsverfassung, 2018, S. 21–51; Wieland, Verfassungsrang für Nachhaltigkeit, ZUR 2016, 473 (480–482). 756 So spielt Nachhaltigkeit im Klimabeschluss keine Rolle, BVerfGE 157, 30 ff. 757 Hierzu Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie, 2006, S. 42–44; Hebeler, Nachhaltigkeit der Sozialsysteme unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, NZS 2018, 848 (848); Kahl, Einleitung: Nachhaltigkeit durch Organisation und Verfahren, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit durch Organisation und Verfahren, 2016, S. 1 (2–4). 758 So die Überschrift der Gliederungsebene „I.“ bei Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie, 2006, S. 1. 752
IV. Antizipation und verwandte Konzepte
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auch fraglich, inwieweit noch von Nachhaltigkeit gesprochen werden kann, wenn die Natur bereits gravierend verändert wurde (Klimawandel, Ewigkeitschemikalien, Artensterben, Atommüll).759 Eine präzise rechtliche Definition erweist sich als schwierig, der Grundsatz der Nachhaltigkeit wird deshalb auch als „vielgestaltig, schillernd und schwer greifbar“760 angesehen. Der Inhalt des Begriffs variiert kontextabhängig.761 Von den forstwirtschaftlichen Grundlagen hat sich der Begriff dahin gehend entwickelt, dass er nicht mehr nur ressourcenökonomisch verstanden wird.762 Nach wohl überwiegendem Verständnis763 liegt dem Nachhaltigkeitsbegriff ein Drei-Säulen-Konzept mit den Säulen Ökologie, Ökonomie und Soziales zugrunde. In diesen Säulen soll Dauerhaftigkeit bzw. Langlebigkeit herrschen.764 Nachhaltigkeit wird damit als das „Gebot verstanden, eine Entwicklung anzustreben, die sowohl die ökologischen als auch die ökonomischen und sozialen Folgen des Handels einbezieht.“765 In diesem Sinne lassen sich Teilelemente im Grundgesetz finden. So sind das Sozialstaatsprinzip766, Umweltschutz und wirtschaftsbezogene Freiheitsrechte (Art. 12 I, 14 I GG) bei der Ausgestaltung der Rechtsordnung zu berücksichtigen. Im Grundgesetz wurden besonders prägnante Ausprägungen des Gedankens der nachhaltigen Entwicklung z.B. in Art. 20a GG positiviert, wenn der Staat „auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung“ schützen muss.767 Auch wenn das Prinzip zunächst im Umweltrecht Karriere machte, ist es längst nicht mehr hierauf begrenzt. Beispielsweise strebt die Schuldenbremse die finanzielle Nachhaltigkeit an.768 759
Hierzu Kersten, Das ökologische Grundgesetz, 2022, S. 49. So Kube, Nachhaltigkeit und parlamentarische Demokratie, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit durch Organisation und Verfahren, 2016, S. 137 (138). 761 Hebeler, Nachhaltigkeit der Sozialsysteme unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, NZS 2018, 848 (848). 762 Heintzen, „Nachhaltigkeit“ – ein Begriffsvergleich zwischen Umwelt- und Steuerrecht, in: Hendler/Marburger/Reinhardt/Schröder (Hrsg.), Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 2004, Bd. 78, S. 75 (77). 763 Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie, 2006, S. 44–48, 56–64; Hebeler, Nachhaltigkeit der Sozialsysteme unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, NZS 2018, 848 ff.; Kersten, Das Anthropozän-Konzept, 2014, S. 45 f. 764 Hebeler, Nachhaltigkeit der Sozialsysteme unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, NZS 2018, 848 (848). 765 H. A. Wolff, Die Nachhaltigkeit der politischen Ordnung unter dem Grundgesetz, BayVBl. 2015, 397 (397). 766 Zur Nachhaltigkeit der Sozialsysteme selbst siehe Hebeler, Nachhaltigkeit der Sozialsysteme unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, NZS 2018, 848 (849–851). 767 Hierzu Wieland, Verfassungsrang für Nachhaltigkeit, ZUR 2016, 473 (475–477). 768 Siehe hierzu oben C. 760
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C. Antizipation im Grundgesetz
Der Grundsatz der Nachhaltigkeit wird auch im Zusammenhang mit der politischen Ordnung verwendet, die selbst nachhaltig sein und darüber hinaus eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen soll. Unter Nachhaltigkeit der Ordnung selbst wird die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit bzw. die dauerhafte freie Selbstbestimmung des Volkes verstanden,769 auch auf kommunaler Ebene.770 Unter Nachhaltigkeit der Ergebnisse dieser Ordnung werden die Kriterien Umwelt, Klima, Finanzen, Wirtschaft, sozialer Ausgleich und Freiheitssicherung angelegt.771 Im Hinblick auf die Nachhaltigkeit der politischen Ordnung, womit das politische System des Grundgesetzes gemeint ist, wird darauf verwiesen, dass in formaler Hinsicht die Stabilität der politischen Ordnung in vielfältiger Weise gesichert ist. Heinrich Amadeus Wolff nennt u.a. den Kodifikationscharakter der Verfassung als einziges Höchstdokument mit erschwerter Abänderbarkeit und die Verfassungsbindung aller Gewalten, gesichert durch eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit.772 Dies sind Aspekte, die auch in antizipativer Hinsicht als bedeutsam ermittelt wurden und eine gemeinsame Schnittmenge der Prinzipien der Nachhaltigkeit und der Antizipation darstellen.773 Darüber hinaus wird aber auch ganz grundsätzlich die (fehlende) Nachhaltigkeit des Demokratieprinzips774 diskutiert. Der Fokus der Analysen liegt hierbei auf der Nachhaltigkeit der Bundesebene und dem Bundestag.775 Dabei werden die Schlussfolgerungen gezogen, Elemente direkter Demokratie in das Grundgesetz einzufügen,776 das Wahlrecht neu zu konzipieren (insbesondere eine Abschaffung des Mindestalters)777 und mehr Unver769 Kube, Nachhaltigkeit und parlamentarische Demokratie, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit durch Organisation und Verfahren, 2016, S. 137 (148); H. A. Wolff, Die Nachhaltigkeit der politischen Ordnung unter dem Grundgesetz, BayVBl. 2015, 397 (398). 770 Hierzu Kahl, Kommunales Bürgerbegehren und Bürgerentscheid als Instrumente der Nachhaltigkeit?, VBlBW 2019, 353 ff. 771 H. A. Wolff, Die Nachhaltigkeit der politischen Ordnung unter dem Grundgesetz, BayVBl. 2015, 397 (399). Dieser – wenn auch wichtige Aspekt – soll nicht vertieft werden, da es in dieser Untersuchung unmittelbar um den Bestand der liberalen Demokratie geht. 772 H. A. Wolff, Die Nachhaltigkeit der politischen Ordnung unter dem Grundgesetz, BayVBl. 2015, 397 (398). 773 Siehe hierzu oben C. III. 1.–C. III. 1. a) cc). 774 H. A. Wolff, Die Nachhaltigkeit der politischen Ordnung unter dem Grundgesetz, BayVBl. 2015, 397 (400–402). 775 Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie, 2006, S. 265–304. 776 Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie, 2006, S. 365–385. Zu Recht kritisch Müller-Franken, Besprechung von: Andreas Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie, BayVBl. 2007, 511 (512). Siehe hierzu auch Kahl, Einleitung: Nachhaltigkeit durch Organisation und Verfahren, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit durch Organisation und Verfahren, 2016, S. 1 (20–24); Kube, Nachhaltigkeit und parlamentarische Demokratie, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit durch Organisation und Verfahren, 2016, S. 137 ff.; Wittreck, Nachhaltigkeit und direkte Demokratie, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit durch Organisation und Verfahren, 2016, S. 159 ff. 777 Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie, 2006, S. 386–393.
IV. Antizipation und verwandte Konzepte
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einbarkeitsregeln bei öffentlichen Funktionen zu etablieren.778 Auch die Grundrechte werden angesprochen,779 was zu dem hier untersuchten Thema der demokratischen Dekonsolidierung passt. Das zeigt die Schwierigkeit auf, den Begriff der Nachhaltigkeit methodisch sauber einzusetzen, denn mit „Rechtsstaat“, „Ökonomie“, „Ökologie“ und „sozialen Angelegenheiten“ sind Großformeln angesprochen, die bereits in sich vielgestaltig sind und zudem oft miteinander konfligieren. Bei dem Verhältnis von Ökonomie und Ökologie ist dies wohl besonders evident. Deshalb verwundert es nicht, dass das Konzept nicht kritiklos geblieben ist.780 c) Südafrikanisches Verfassungsrecht Der Begriff der Nachhaltigkeit findet sich explizit in der südafrikanischen Verfassung. Dabei bezieht er sich auf das Recht auf Umweltschutz, die Zentralbank und die Daseinsvorsorge der lokalen Verwaltungsebene. Art. 24(b)(iii) FC spricht die nachhaltige Entwicklung im Rahmen der Bill of Rights als Teil des Rechts auf eine gesunde Umwelt an. Dort heißt es, dass jeder das Recht auf den Schutz der Umwelt zum Wohle gegenwärtiger und künftiger Generationen durch angemessene gesetzgeberische und andere Maßnahmen hat, die eine ökologisch nachhaltige Entwicklung und die Nutzung der natürlichen Ressourcen sichern und gleichzeitig eine gerechtfertigte wirtschaftliche und soziale Entwicklung fördern. Dies entspricht – abgesehen von der subjektivrechtlichen Ausgestaltung – dem Verständnis des Art. 20a GG. In Bezug auf die Gemeinden als unterster Verwaltungsebene legt Art. 152(1)(b) FC eine nachhaltige Daseinsvorsorge als Ziel der Gemeinden fest und Art. 155(4) FC verpflichtet die nationale Ebene, bei der die Gemeinden betreffenden Gesetzgebung, dieses Ziel zu berücksichtigen. Schließlich bestimmt Art. 224(1) FC als Hauptziel der Nationalbank die Währungsstabilität im Interesse eines ausgewogenen und nachhaltigen Wirtschaftswachstums in der Republik. Dieser kurze Überblick zeigt, dass die drei Säulen, die auch dem deutschen Nachhaltigkeitsmodell zugrunde liegen, angesprochen werden: Umwelt, Soziales und Wirtschaft. Weniger explizit, aber dafür im Kontext der demokratischen Konsolidierung umso interessanter sind die bereits erwähnten Vor778
Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie, 2006, S. 395 f. Kube, Nachhaltigkeit und parlamentarische Demokratie, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit durch Organisation und Verfahren, 2016, S. 137 (143 f.); Windoffer, Verfahren der Folgenabschätzung als Instrument zur rechtlichen Sicherung von Nachhaltigkeit, 2011, S. 109 f. 780 Siehe zu Nachweisen für Kritik Kahl, Einleitung: Nachhaltigkeit durch Organisation und Verfahren, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit durch Organisation und Verfahren, 2016, S. 1 mit Fn. 1; Kahl, Nachhaltigkeitsverfassung, 2018, S. 1 m.w.N. in Fn. 3 und 4. Inhaltlich zur Kritik Kahl, Nachhaltigkeitsverfassung, 2018, S. 32–43; Popp, Nachhaltigkeit und direkte Demokratie, 2021, S. 52 ff. 779
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C. Antizipation im Grundgesetz
schriften der Art. 184 und Art. 185 FC,781 in denen den beiden Kommissionen die Aufgabe der Erziehung und Aufklärung zugeschrieben werden, um die Funktionsbedingungen der liberalen Demokratie zu stärken und zu schützen. Allerdings setzen diese Mechanismen bereits in der Gegenwart an und „warten“ nicht auf den Krisenfall, um aktiviert zu werden. d) Antizipativer Gehalt Nachhaltigkeit und Antizipation haben – von Details abgesehen – gemeinsam, dass die Erhaltung eines bestimmten ausgeglichenen oder als positiv angesehenen Zustands auch für die Zukunft angestrebt wird. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Nachhaltigkeit und Antizipation lässt sich darin erblicken, dass Nachhaltigkeit das Ergreifen oder Unterlassen von Maßnahmen in der Gegenwart verlangt, damit die gegenwärtige Situation zukunftsfähig ist. Der status quo soll durch Verhaltensänderungen in der Gegenwart beibehalten werden können. Somit handelt es sich um Prävention.782 Demgegenüber kann Antizipation in dieser Hinsicht in gewisser Weise als das Gegenteil verstanden werden (oder zumindest als weniger): das Offenhalten von Zukunftschancen genügt im Falle der Antizipation, denn es werden Regeln erlassen, die in der Zukunft im Falle einer Krise greifen. Überdies ist der Bezug der Nachhaltigkeit zur Demokratie loser, weshalb der Nachhaltigkeitsgrundsatz nicht weiter im Rahmen dieser Arbeit verfolgt werden wird.
7. Zwischenergebnis Das Grundgesetz enthält nicht nur in Einzelbestimmungen einen antizipativen Charakter in dem Sinne, dass es sich auf zukünftige Sonderlagen einstellt, die nicht dem Normalzustand entsprechen. Vielmehr lassen sich hieraus Charakterisierungen und Konzepte des Grundgesetzes ableiten, die sich durch ihre rechtzeitige Krisenvorsorge auszeichnen. Der grundgesetzlichen Ordnung ist es also wichtig, auf Krisen vorbereitet zu sein. Dabei überschneiden sich die Konzepte teilweise, so insbesondere bei Staatsschutz, Verfassungsschutz, Notstandsverfassung und wehrhafter Verfassung. Oftmals sind es nur Unterschiede im Blickwinkel, teilweise handelt es sich lediglich um sprachliche Variationen. Dies dürfte allerdings nur den antizipativen Charakter des Grundgesetzes unterstreichen, ihn aber nicht schmälern, denn es belegt die verschiedenen Anknüpfungspunkte, welche die Konzepte für unterschiedliche Situationen bieten. Im Vergleich zu den soeben genannten Konzepten steht der Grundsatz der Nachhaltigkeit eigenständiger da. Er hat (noch) keinen hinreichenden Bezug zur demokratischen Dekonsolidierung. 781 782
Siehe hierzu oben B. II. 1. c). Siehe hierzu oben C. I.
V. Zwischenergebnis: Das Grundgesetz als antizipative Verfassung
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Alle verbliebenen Konzepte sind nicht neutral, sondern dem Kern der Verfassung verpflichtet, deren Gefährdung sie vorhersehen und die sie durch das Bereithalten von Krisenmechanismen schützen sollen. Aber auch wenn die Begriffsvielfalt die Bedeutung der Antizipation unterstreicht, so belegt die Uneinheitlichkeit in der Sprache auch, dass es an klaren Konturen und Inhalten mangelt. Ebenfalls problematisch erscheint, dass die Verfassungsidentität und die freiheitliche demokratische Grundordnung unterschiedliche Schutzgüter darstellen, was nicht stets hinreichend beachtet wird.
V. Zwischenergebnis: Das Grundgesetz als antizipative Verfassung Dem Grundgesetz wohnt ein Antizipationsgedanke inne. Das bedeutet, dass die Verfassung Notsituationen der Demokratie vorhersieht und hierfür Abwehrmechanismen bereithält. Dies wurde insbesondere für Gefahren von innen für die Verfassungsordnung nachgewiesen. Nicht nur einzelne Vorschriften des Grundgesetzes (Art. 5 III 2, Art. 9 II, Art. 10 II 2, Art. 11 II, Art. 18, Art. 21 II 1, III 1, Art. 79 III, Art. 87a IV, Art. 91, Art. 98 II GG), sondern auch die allgemeineren Konzepte der wehrhaften Demokratie, des Staats- und Verfassungsschutzes sowie der Notstandsverfassung legen hiervon Zeugnis ab. Insbesondere die übergreifenden Konzepte können auch Kumulationen erfassen und absolute Gehalte aufzeigen. Sowohl die Einzelvorschriften als auch die übergreifenden Konzepte setzen jedoch voraus, dass ihre Tatbestandsvoraussetzungen ebenso geklärt sind wie ihre Einsatzfelder. Nur wenn Gewissheit darüber besteht, wann die Vorschriften oder Konzepte eingreifen und wofür oder wogegen sie gerichtet sind, können sie ihre Funktion erfüllen. Beispielsweise muss im Falle eines Parteiverbots gem. Art. 21 II 1 GG Klarheit darüber herrschen, was „freiheitliche demokratische Grundordnung“ bedeutet. Dies ist aber in vielen Fällen nicht der Fall, wie u.a. die divergierenden Deutungen des Art. 5 III 2 GG belegen. Ohne exakte Kenntnis des Verfassungsinhalts kann aber auch eine antizipative Vorschrift ihre Wirkung nur eingeschränkt entfalten. Zwar ist der Verfassungstext offen und es kann nicht lediglich eine einzige Interpretation als methodisch vertretbar angeführt werden. Aber die Rechtsprechung mit ihrer Orientierungswirkung könnte ein einheitlicheres Verständnis fördern. Kommt die Sprache auf absolute Verfassungsgrenzen und Kumulationen, ist Art. 19 II GG die vermutlich nächstliegende Vorschrift der Verfassung. Ihre Untersuchung wurde bislang zurückgestellt, um Zirkelschlüsse zu vermeiden. Im nächsten Kapitel sollen nunmehr die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG und ihr Potenzial gegen eine demokratische Dekonsolidierung analysiert werden.
D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG Im vorherigen Abschnitt wurde ermittelt, dass dem Grundgesetz der Gedanke der Antizipation inhärent ist. Im Folgenden wird untersucht, wie sich die bislang weitgehend ausgesparte Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG zu diesem Gedanken verhält.1 Da sich die Wesensgehaltsgarantie auf Grundrechte bezieht und diese nach der politikwissenschaftlichen Bewertung von der demokratischen Dekonsolidierung besonders bedroht werden, ist die Befassung mit Art. 19 II GG und seinem Beitrag zum Grundrechtsschutz besonders angezeigt. Dies gilt umso mehr, als die Wesensgehaltsgarantie eine Schutzvorschrift vor dem Abgleiten in die Diktatur darstellt und zudem Maßnahmenkumulationen zu erfassen vermag. Zuvor wurde nicht auf die Wesensgehaltsgarantie eingegangen, um nicht in die Gefahr zirkulärer Argumentation zu geraten. Wenn durch die Auslegung der Wesensgehaltsgarantie erst der Antizipationsgedanke ermittelt wird, dieser aber ohne die Wesensgehaltsgarantie nicht zu begründen wäre, wären auch alle weiteren Ableitungen hinfällig. Zuvor konnte jedoch gezeigt werden, dass der antizipative Charakter des Grundgesetzes sich auch ohne Berufung auf die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG begründen lässt. Da es das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, den Beitrag der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG gegen die demokratische Dekonsolidierung zu ergründen, wird zunächst ihr Gehalt entfaltet. Dabei wird insbesondere den Fragen nachgegangen, ob die Wesensgehaltsgarantie Kumulationen erfassen und eine absolute Grenze für staatliches Handeln setzen kann – die beiden entscheidenden Punkte bei der Verhinderung der demokratischen Dekonsolidierung. Art. 19 II GG besagt, dass in „keinem Falle […] ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden“ dürfe. Mit dieser Formulierung bezweckt die Wesensgehaltsgarantie, das jeweilige Grundrecht vor einem „Leerlaufen“
1 Dieser Abschnitt stellt eine grundlegende Vertiefung von Aspekten dar, die teilweise bereits angerissen wurden bei Schaks, Das Verbot der Belastungskumulation als Bestandteil der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, DÖV 2015, 817 ff.; Schaks, Die Wesensgehaltsgarantie, Art. 19 II GG, JuS 2015, 407 ff. sowie Schaks, Schutz des Wesensgehalts der Grundrechte, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. III, 2. Aufl. 2022, § 88.
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
zu schützen,2 denn das sog. Leerlaufen der Grundrechte wurde unter der Geltung der Reichsverfassung von Weimar als Problem erkannt.3 Dort wurde aus den Gesetzesvorbehalten geschlossen, dass eine Beschränkung der Grundrechte durch einfaches Recht möglich sei. Entscheidend war allein die Einhaltung der formellen Vorschriften zum Gesetzeserlass. Materiell-rechtliche Grenzen – wie etwa den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unter der Geltung des Grundgesetzes – gab es hingegen nicht. Versuche, über Instituts- oder institutionelle Garantien (Einrichtungsgarantien) den Grundrechtsbeschränkungen Grenzen zu setzen, wurden erst unter der Geltung des Grundgesetzes wirkmächtig.4 Art. 19 II GG ist die dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte und dem Telos nach eindeutigste Vorschrift zur Verhinderung des Leerlaufens von Grundrechten.5 Ann-Katrin Kaufhold weist zudem zutreffend darauf hin, dass die Schutzintention der Vorschrift klar sei.6 Diese Wesensgehaltsgarantie fristet aber nur noch ein verfassungsrechtliches „Schattendasein“7; sie läuft womöglich selbst leer.8 Sie wurde als „konturloseste Norm des Grundgesetzes“9 und sogar „missglückt“10 bezeichnet. Nahezu alle Aspekte der Vorschrift sind umstritten.11 Erfreulich ist sicherlich, 2 Allg. Ansicht, siehe nur Leisner-Egensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 1–3; H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 Abs. 2 Rn. 1 f.; P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 110–112; Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Mai 2008), Art. 19 Abs. 2 Rn. 1, 18; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 851, 864 f. erwähnt den Begriff „Leerlaufen“ zwar nicht, stattdessen ist die Rede davon, dass „der Bestand“ oder „die Substanz“ eines Grundrechts nicht angegriffen oder angetastet werden dürfe. 3 Giere, Das Problem des Wertsystems der Weimarer Grundrechte, 1932, S. 117 f.; Hensel, Die Rangordnung der Rechtsquellen insbesondere das Verhältnis von Reichs- und Landesgesetzgebung, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 313 (316 mit Fn. 2); C. Schmitt, Verfassungslehre, 11. Aufl. 2017, S. 166, 170– 174, 175–182. 4 Siehe hierzu C. III. 6. g). 5 Stern, Die Grundrechte und ihre Schranken, in: FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 1 (29): „Als die wichtigste materielle Schranken-Schranke […] eingeführt worden.“ 6 Kaufhold, in: Dreier, GG, Bd. I, 4. Aufl. 2023, Art. 19 Abs. 2 Rn. 8. 7 So C. Hillgruber, Grundrechtsschranken, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 201 Rn. 99. Siehe auch H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 Abs. 2 Rn. 8; Enders, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 19 Rn. 33 (Stand: 15.5.2023); P.M. Huber, in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 107–109; Lerche, Grundrechtsschranken, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 122 Rn. 32; Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 40; Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 11; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 839 f. 8 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 341; G. Herbert, Der Wesensgehalt der Grundrechte, EuGRZ 1985, 321 (324); Leisner-Egensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 19. 9 Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117 (133). 10 Art. Kaufmann, Über den „Wesensgehalt“ der Grund- und Menschenrechte, ARSP 70 (1984), 384 (385). Er meint, dass hierüber weitgehend Einigkeit bestehe. 11 Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, S. 103.
D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
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dass Art. 19 II GG als Vorschrift der Grundrechtssicherung keine große Entscheidungserheblichkeit erlangen musste.12 Rechtsdogmatisch ist dieser Befund indes unbefriedigend. In der Rechtsprechung wird Art. 19 II GG nur gelegentlich, v.a. in der frühen Rechtsprechung, genannt.13 Über eine bloße Erwähnung der Vorschrift geht die Befassung mit Art. 19 II GG selten hinaus. Das BVerfG hat zum Inhalt von Art. 19 II GG keine eindeutige Position bezogen. Unterschiedliche Entscheidungen des Gerichts werden daher für entgegengesetzte Schlussfolgerungen in Anspruch genommen.14 Versuche, die Wesensgehaltsgarantie zu beschreiben, lauten dergestalt, dass die Grundrechte nicht ihren praktischen Wert verlieren oder nicht in ihrer praktischen Auswirkung bedeutungslos gemacht werden dürften, dass das Grundrecht der Sache nach erhalten bleiben müsse, dass die Grundrechte nicht im tatsächlichen Ergebnis entfallen dürften oder dass den Grundrechtsberechtigten eine realisierbare Chance verbleiben müsse.15 Synonym zur Antastung des Wesensgehalts werden die Aushöhlung oder Abschnürung der Grundrechte, ihre Degradierung zur leeren Form oder zum ius nudum verstanden.16 Andere geben als Synonyme des Wesensgehalts „core” (Kern), „spirit” (Geist), „very substance” (Substanz) oder „fundamental character” (grundlegender Charakter) an.17 Das BVerfG hat im Hinblick auf gesetzliche Vorschriften zur Regulierung von Preisen formuliert, dass diese nicht „die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen derart beeinträchtigen könnte[n], daß der dem einzelnen Staatsbürger verfassungskräftig vorbehaltene letzte Bereich menschlicher Freiheit, der der Einwirkung der gesamten öffentlichen Gewalt entzogen ist, oder daß die Eigenständigkeit, die Selbstverantwortlichkeit oder die Würde der Person angetastet wäre […].“18
12 BVerfGE 22, 180 (219 f.); 39, 1 (43); 80, 367 (373 f.) sind die – soweit ersichtlich – einzigen Entscheidungen, in denen eine Antastung des Wesensgehalts bejaht wurde. In keinem dieser drei Fälle aber war die Wesensgehaltsantastung der alleinige Grund für die Annahme eines Verfassungsverstoßes. Nach heutiger Grundrechtsdogmatik wäre wohl eher ein unverhältnismäßiger Eingriff anzunehmen. Die Ausführungen im Beschluss BVerfGE 27, 344 (351–355) sind hingegen noch uneindeutiger und wohl als Verstoß gegen das Übermaßverbot zu deuten; siehe auch Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 850 f. 13 Etwa BVerfGE 22, 180 (219 f.); 61, 82 (113); 109, 133 (156); BGHSt 4, 375 (392); BVerwGE 1, 269 (274 f.); 4, 167 (171–173). 14 Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, 2005, S. 122. Siehe auch Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 850 f. 15 Hierzu m.w.N. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 45 f. Siehe auch Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, S. 109–112. 16 Siehe hierzu Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 46 m.w.N. 17 Thielbörger, The “Essence” of International Human Rights, German Law Journal 20 (2019), 924 (925 mit Fn. 10). 18 BVerfGE 8, 274 (328 f.). Hierbei handelt es sich allerdings nur um eine Umschreibung unter mehreren.
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
Was das Wesen, der Kern, Geist, Charakter, die Substanz etc. genau ist, ist aber weiterhin ungeklärt. Niklas Luhmann meint, dass das Wesen des Wesens unbekannt sei,19 und der BGH hält es für eine unmögliche Aufgabe, eine Art von „Wesensschau“ des jeweiligen Grundrechts vorzunehmen.20 Seit Bestehen des Grundgesetzes wurden ganz unterschiedliche Hoffnungen und Erwartungen in diese Vorschrift gesetzt, ohne dass sich ein Konsens für bestimmte Ansichten etabliert hätte. Rechtswissenschaft und -praxis wird in dieser Hinsicht attestiert, auch nach Jahrzehnten der Befassung mit dieser Vorschrift Art. 19 II GG keinen klaren Inhalt beigemessen zu haben.21 Es heißt, dass es wahrscheinlich kein anderes Verfassungskonzept gebe, welches von so vielen Meinungsverschiedenheiten begleitet werde wie die Wesensgehaltsgarantie.22 Möglicherweise wegen der fehlenden Einigung im Grundsätzlichen fehlt es auch an Ausarbeitungen im Detail.23 Die geringe praktische Bedeutung der Wesensgehaltsgarantie steht in auffälligem Gegensatz nicht nur zu ihrem prominenten Standort, sondern auch zu der Aufmerksamkeit, welche die Vorschrift kurz nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes erfahren hat,24 sowie zu den Hoffnungen und Erwartungen anlässlich der Verfassungsgebung.25 Mit Art. 19 II GG sollte ein wirkungsvoller Grundrechtsschutz sichergestellt werden, indem die Grundrechte vor zu schwerwiegenden Eingriffen geschützt werden.26 Die Wesensgehaltsgarantie war als wichtigste materielle Schranken-Schranke gedacht.27 19
Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 59 f. BGH, VerwRspr 1956, 98 (104). 21 CC, 6.6.1995 – CCT/3/94 Rn. 132 (Chaskalson) – The State v. Makwanyane, http:// www.saflii.org/za/cases/ZACC/1995/3.html (Stand: 10.8.2023); I. M. Rautenbach, General provisions of the South African bill of rights, 1995, S. 104. 22 I. M. Rautenbach, General provisions of the South African bill of rights, 1995, S. 104. 23 Exemplarisch ist die Vorgehensweise von Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, 2005, die auf S. 59–76, 151–293, die Frage nach dem Inhalt der Wesensgehaltsgarantie aufwirft und sodann die absoluten und relativen Theorien diskutiert, aber ihre Position nicht auf ein Grundrecht anwendet. Siehe jedoch auch v. Bogdandy et al., Ein Rettungsschirm für europäische Grundrechte, ZaöRV 72 (2012), 45 (68 f. mit Fn. 122); Tridimas/Gentile, The Essence of Rights: An Unreliable Boundary? German Law Journal 20 (2019), 794 (804). 24 So von Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117 ff.; Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 1962; v. Hippel, Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte, 1965; He. Krüger, Der Wesensgehalt der Grundrechte i.S. des Art. 19 GG, DÖV 1955, 597 ff.; Jäckel, Grundrechtsgeltung und Grundrechtssicherung, 1967; Zivier, Der Wesensgehalt der Grundrechte, 1960. Aus jüngerer Zeit: Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, 2005; M. Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, 2005. 25 Siehe zur Entstehungsgeschichte Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 841–843. 26 So soll die Wesensgehaltsgarantie für den Abgeordneten im Parlamentarischen Rat von Mangoldt die „Krönung“ gewesen sein, zitiert nach Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 842. 27 Stern, Die Grundrechte und ihre Schranken, in: FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 1 (29). 20
D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
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Einigkeit besteht in Rechtsprechung und Literatur lediglich hinsichtlich weniger Aspekte: So ist es anerkannt, dass es sich um eine sog. SchrankenSchranke handelt.28 Die Rechtsfolge eines Verstoßes ist die Verfassungswidrigkeit des Eingriffsakts, was bei Gesetzen, Rechtsverordnungen und Satzungen regelmäßig zu deren Nichtigkeit führt.29 Wenn ein Verwaltungsakt die Wesensgehaltsgarantie antastet, dann dürfte dieser Verstoß so gravierend sein, dass er die Nichtigkeit gem. § 44 I VwVfG begründet.30 Adressat des Art. 19 II GG ist jede Stelle staatlicher Gewalt;31 ausgenommen ist lediglich der verfassungsändernde Gesetzgeber.32 Als der „eigentliche und primäre Adressat“ wird der einfache Gesetzgeber angesehen,33 wobei auch der vorkonstitutionelle Gesetzgeber erfasst wird.34 Weiterhin besteht Konsens, dass das Wesen für jedes Grundrecht gesondert zu bestimmen ist.35 Dass allseits Einigkeit besteht, dass der Wesensgehalt für jedes Grundrecht separat zu bestimmen ist, aber stets um das richtige Verständnis der Wesensgehaltsgarantie abstrakt gestritten wird, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Das südafrikanische Verfassungsrecht hat eine besondere Beziehung zur Wesensgehaltsgarantie. Art. 33(1)(b) IC von 1993 entsprach Art. 19 II GG
28 De Wall, in: Berliner Kommentar GG, Losebl. (Stand: VII/12), Art. 19 I, II Rn. 81; Enders, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 19 Rn. 21 (Stand: 15.5.2023); Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 9; Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 24 Rn. 47. 29 P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 119; Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 47. 30 So P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 119. 31 P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 113– 118; Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Mai 2008), Art. 19 Abs. 2 Rn. 26–35. 32 So ausdrücklich BVerfGE 109, 279 (310 f.); Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, 2005, S. 33; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 19 Rn. 10; Lerche, Grundrechtsschranken, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 122 Rn. 30; Marauhn/Mengeler, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, 3. Aufl. 2022, Kap. 7 Rn. 55 mit Fn. 327. Zutreffend differenzierend zwischen mittelbarer und unmittelbarer Bindung Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Mai 2008), Art. 19 Abs. 2 Rn. 30 f. Weniger eindeutig hingegen BVerfGE 4, 157 (169 f.). A.A. Grosskreutz, Normwidersprüche im Verfassungsrecht, 1966, S. 86 f. 33 P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 114. So auch Kokott, Grundrechtliche Schranken und Schrankenschranken, in: Merten/Papier, HGR, Bd. I, 2004, § 22 Rn. 75; ausführlich Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, 2005, S. 23–43, insbes. 32; Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Mai 2008), Art. 19 Abs. 2 Rn. 26. 34 Kaufhold, in: Dreier, GG, Bd. I, 4. Aufl. 2023, Art. 19 Abs. 2 Rn. 13 m.w.N. 35 Etwa BVerfGE 22, 180 (219); 109, 133 (156); 117, 71 (96); G. Herbert, Der Wesensgehalt der Grundrechte, EuGRZ 1985, 321 (331); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 19 Rn. 11; Kerkemeyer, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 50; Kingreen/Poscher, Grundrechte, 38. Aufl. 2022, Rn. 440.
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
und wurde nach einhelliger Ansicht dem deutschen Vorbild nachempfunden.36 Diese Vorschrift lautete: „The rights entrenched in this Chapter may be limited by law of general application, provided that such limitation […] shall not negate the essential content of the right in question […].“ Die in diesem Kapitel verankerten Rechte dürfen durch ein allgemein geltendes Gesetz beschränkt werden, vorausgesetzt, dass eine solche Beschränkung nicht den Wesensgehalt des fraglichen Rechts aufhebt. [Übersetzung des Verfassers]
Während der kurzen Zeit der Geltung der Übergangsverfassung von 1994 bis 1997 setzte sich das südafrikanische Verfassungsgericht nur ein einziges Mal in einer Entscheidung mit der Wesensgehaltsgarantie des Art. 33(1)(b) IC auseinander.37 Diese Entscheidung hatte jedoch eine ganz besondere Bedeutung, denn sie betraf den ersten Fall, der von dem Gericht gehört wurde, und hatte auch unabhängig von dieser symbolischen Bedeutung hohe Relevanz. Verhandelt wurde die Frage, ob die Todesstrafe mit der jungen Verfassung vereinbar war. Um die Einigkeit des neuen Gerichts zu betonen, erließ jeder der elf Richter ein eigenes Votum, wobei alle Voten – mit teilweise unterschiedlicher Betonung – zum selben Ergebnis der Verfassungswidrigkeit der Todesstrafe kamen. Dabei wurde auch der Frage nachgegangen, ob die Todesstrafe den Wesensgehalt des Grundrechts auf Leben (Art. 9 IC38) antastet. In dieser Entscheidung wurde von mehreren Richtern die deutsche Debatte zur Wesensgehaltsgarantie in den Blick genommen.39 Vermutlich neigten die Richter der rein objektiven Deutung der Wesensgehaltsgarantie zu,40 aber sie bezogen nicht abschließend Position. Man wollte sich den Spielraum durch eine nicht entscheidungserhebliche Festlegung nicht unnötig verengen.41 Der Vergleich 36 CC, 6.6.1995 – CCT/3/94 Rn. 132 (Chaskalson), Rn. 167 (Ackermann), Rn. 194 (Kentridge) – The State v. Makwanyane, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/1995/3.html (Stand: 10.8.2023); High Court, Witwatersrand Local Division (Myburgh), 25.7.1994, 33562, Khala v. Minister of Safety and Security, The South African Law Reports 1994, 218 (227); Botha, Learning to Live with Plurality and Dissent: The Grundgesetz in South Africa, in: Häberle (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, 2011, S. 409 (424); de Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 349 f.; Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, 2000, S. 150 m.w.N. 37 CC, 6.6.1995 – CCT/3/94 – The State v. Makwanyane, http://www.saflii.org/za/cases/ ZACC/1995/3.html (Stand: 10.8.2023). 38 Die Bestimmung lautete: „Every person shall have the right to life.“ „Jede Person hat das Recht auf Leben.“ [Übersetzung des Verfassers] 39 CC, 6.6.1995 – CCT/3/94 Rn. 132 (Chaskalson), Rn. 167 (Ackermann), Rn. 175 (Didcott), Rn. 194 f. (Kentridge) – The State v. Makwanyane, http://www.saflii.org/za/cases/ ZACC/1995/3.html (Stand: 10.8.2023). 40 CC, 6.6.1995 – CCT/3/94 Rn. 194 f. (Kentridge) – The State v. Makwanyane, http:// www.saflii.org/za/cases/ZACC/1995/3.html (Stand: 10.8.2023). 41 CC, 6.6.1995 – CCT/3/94 Rn. 175 (Didcott), Rn. 298 (Mahomed) – The State v. Makwanyane, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/1995/3.html (Stand: 10.8.2023).
D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
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mit der deutschen Rechtslage zeigte nach Ansicht der südafrikanischen Richter, dass es selbst 40 Jahre nach Erlass des Grundgesetzes keine Einigkeit in dieser Frage gab und Verfassungsstreitigkeiten zudem ohne Rekurs auf Art. 19 II GG gelöst werden konnten. Auch wenn eine einzige Entscheidung zu einer besonderen Konstellation schwerlich verallgemeinerungsfähig ist, muss die südafrikanische Bilanz aus Sicht der Wesensgehaltsgarantie als enttäuschend angesehen werden. Selbst für so eine grundsätzliche Frage wie die Vereinbarkeit der Todesstrafe mit der Verfassung42 bietet die „philosophische“ Vorschrift der Wesensgehaltsgarantie kaum eine brauchbare Orientierung. Aber möglicherweise ist die philosophische Überfrachtung nicht die Lösung, sondern das Problem. Der Western Cape High Court hat sich ebenfalls in einem strafrechtlichen Verfahren mit der Wesensgehaltsgarantie des Art. 33(1)(b) IC befasst. Das südafrikanische Recht vermutete bei Besitz einer bestimmten Menge von „dagga“ (Rauschmittel), dass der Besitzer damit Handel treibe. Das Gericht entschied, dass diese Vorschrift den Wesensgehalt der strafrechtlichen Unschuldsvermutung antaste.43 Die Begründung hierfür ist allerdings nur sehr kurz und beruht im Wesentlichen darauf, dass die Beweislast umgekehrt werde, obwohl Art. 25(3)(c) IC gerade die Unschuldsvermutung vorsah. Darauf, dass die Vermutung nur für ein Delikt außer Kraft gesetzt wurde und im Übrigen in der Rechtsordnung die Unschuldsvermutung gewahrt wird, geht die Entscheidung nicht ein. Das ließe sich im Sinne eines subjektivrechtlichen Verständnisses der Wesensgehaltsgarantie deuten. Allerdings sind die Ausführungen zu knapp, um aus ihnen grundsätzliche Erwägungen ableiten zu können. Auch die weiteren instanzgerichtlichen Entscheidungen, die auf die Wesensgehaltsgarantie eingehen, äußern sich allenfalls knapp und apodiktisch.44 Hervorgehoben sei noch eine Entscheidung des High Court (Witwatersrand Local Division, Richter Myburgh), die nicht untypisch für den südafrikanischen Blick auf die Wesensgehaltsgarantie sein dürfte. Hier beruft sich das Gericht zum Verständnis des Art. 33(1)(b) IC auf eine einzige und gegenüber der Wesensgehaltsgarantie äußerst kritische Literaturstimme,45 welche die deutsche Diskussion zudem nicht ganz zutreffend zusammenfasst. Das Gericht kommt zu dem Schluss, dass die südafrikanische Wesensgehaltsgarantie 42 In Deutschland wird wegen Art. 102 GG hingegen der polizeiliche Rettungsschuss diskutiert, siehe hierzu Schaks, Die Wesensgehaltsgarantie, Art. 19 II GG, JuS 2015, 407 (409) m.w.N. 43 High Court (Western Cape, Cape Town), 19.10.1994 – C/1159/94 (Marais) – The State v. Bhulwana, http://www.saflii.org/za/cases/ZAWCHC/1994/1.html (Stand: 10.8.2023). 44 Siehe die Hinweise bei White, Constitutional Litigation, Interpretation and Fundamental Rights, Annual Survey of South African Law 1994, 24 (35–39). 45 Woolman, Riding the push-me pull-you: Constructing a test that reconciles the conflicting interests which animate the limitation clause, South African Journal on Human Rights 10 (1994), 60 (71–74).
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
(Art. 33(1)(b) IC) angetastet sei, wenn das betroffene Grundrecht unter keinen Umständen mehr ausgeübt werden könne, was es aber im zu entscheidenden Fall verneint.46 Stuart Woolman, der Verfasser des vom High Court zitierten Aufsatzes, kritisiert an der Wesensgehaltsgarantie ihre Verpflanzung nach Südafrika, da sie eine spezifische Reaktion auf das Scheitern der Weimarer Republik war und sich in der südafrikanischen Interimsverfassung keine weiteren Vorschriften der wehrhaften Demokratie finden ließen.47 Er gelangt deshalb zu der Schlussfolgerung, dass die Wesensgehaltsgarantie in Südafrika wegen der Common-law-Tradition nicht erforderlich sei.48 Die Makwanyane-Entscheidung des südafrikanischen Verfassungsgerichts diente als Inspiration für einige wichtige Abweichungen der endgültigen Verfassung von der Übergangsverfassung. So wurde die Vorschrift zur Rechtfertigung von Grundrechtsbeschränkungen („limitation clause“, ursprünglich Art. 33 IC, nunmehr Art. 36 FC) so geändert, dass sie den tatsächlichen Prüfungsschritten der Makwanyane-Entscheidung entsprach. Weil das Verfassungsgericht der südafrikanischen Wesensgehaltsgarantie des Art. 33(1)(b) IC keinen Inhalt beimessen konnte, wurde – so die allgemeine Einschätzung – die Wesensgehaltsgarantie nicht in die endgültige Verfassung übernommen. Eindeutige Stellungnahmen während des Verfassungsgesetzgebungsprozesses hierzu lassen sich indes nicht finden. Aber die Kritik von Stuart Woolman und die Ratlosigkeit der südafrikanischen Rechtspraxis, die auch nur die deutsche Ratlosigkeit widerspiegelt, dürften zu einem gewissen Grad berechtigt sein, denn die Konzeption der südafrikanischen Verfassung beruht auf Partizipation, während das Grundgesetz der demokratischen Mehrheit und ihrer Gestaltungsmacht eher misstrauisch gegenübersteht. Beides dürften Gründe für die Abschaffung der Wesensgehaltsgarantie in Südafrika sein. Dann ist aber zumindest ein Teil der Kritik an der Wesensgehaltsgarantie spezifisch südafrikanisch und lässt keine Rückschlüsse zur Entbehrlichkeit der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II im deutschen Recht zu. Teilweise wird angeführt, dass die Abschaffung der Wesensgehaltsgarantie im südafrikanischen Recht geringere Auswirkungen habe, als man allein nach dem textlichen Befund meinen könnte, denn das Verfassungsgericht unterscheidet bei den Grundrechten zwischen dem Kern- und dem Randbereich. Eingriffe in den Kernbereich sind schwieriger zu rechtfertigen als Eingriffe in 46 High Court, Witwatersrand Local Division (Myburgh), 25.7.1994, 33562, Khala v. Minister of Safety and Security, The South African Law Reports 1994, 218 (228). 47 Woolman, Riding the push-me pull-you: Constructing a test that reconciles the conflicting interests which animate the limitation clause, South African Journal on Human Rights 10 (1994), 60 (71). 48 Woolman, Riding the push-me pull-you: Constructing a test that reconciles the conflicting interests which animate the limitation clause, South African Journal on Human Rights 10 (1994), 60 (72 f.).
I. Vermeintliche Bedeutungslosigkeit der Wesensgehaltsgarantie
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den Randbereich.49 Auch wenn dieser Analyse im Ansatz zuzustimmen ist, dass hier eine Unterscheidung nach Rand- und Kernbereich von Grundrechten stattfindet, liegt kein vollwertiges Äquivalent für die Wesensgehaltsgarantie – wie sie hier im Folgenden verstanden werden wird – vor. Denn auch bei der südafrikanischen Unterscheidung nach Rand- und Kernbereich wird eine Abwägung vorgenommen, die lediglich in dem einen Fall nur unter erschwerten Bedingungen zur Rechtfertigung des Eingriffs führt. Dies ist aber nichts wesentlich anderes, als auch die Abwägung nach deutschem Verfassungsrecht an Ergebnissen produzieren dürfte. Jedenfalls wird hier keine absolute Schranke errichtet.50 Lediglich die Handhabbarkeit von Kernbereichsargumentationen kann hierdurch bestätigt werden.51 Schließlich ist noch bemerkenswert, dass das südafrikanische Verfassungsgericht in mindestens einer Entscheidung auch nach ihrer Abschaffung mit der Formulierung aus der Wesensgehaltsgarantie des Art. 33(1)(b) argumentiert hat. Um im Rahmen der Abwägung zum Ausdruck zu bringen, dass es sich nicht um eine starke Einschränkung handelt, hat das Gericht formuliert, dass das Recht nicht als solches abgeschafft werde.52 Bevor ihr Potenzial näher entfaltet wird, sollen vorab vermeintliche Schwächen der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG widerlegt werden.
I. Vermeintliche Bedeutungslosigkeit der Wesensgehaltsgarantie Die Wesensgehaltsgarantie hat auch in der deutschen Rechtspraxis keine Bedeutung erlangt. Nur in – soweit ersichtlich – drei Entscheidungen wurde eine Antastung des Wesensgehalts festgestellt, allerdings war die Wesensgehaltsgarantie allein nicht entscheidungserheblich.53 Das Schrifttum hat sich des Öfteren monografisch mit der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG auseinandergesetzt,54 aber die Erörterungen bleiben 49 Hierzu Botha, Learning to Live with Plurality and Dissent: The Grundgesetz in South Africa, in: Häberle (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, 2011, S. 409 (426). 50 Siehe zum hier vertretenen absoluten Verständnis der Wesensgehaltsgarantie unten D. IV. 2.–D. IV. 2. c). 51 Siehe hierzu ausführlich unten D. III.–D. III. 1. e). 52 CC, 13.6.2012 – CCT/112/11 Rn. 69 (Mogoeng; Yacoob, Cameron, Froneman, Khampepe, Maya, Nkabinde, Skweyiya, van der Westhuizen concurring) – South African Transport and Allied Workers Union and Another v. Garvas and Others, http://www.saflii.org/ za/cases/ZACC/2012/13.html (Stand: 10.8.2023). 53 BVerfGE 22, 180 (219 f.); 39, 1 (43); 80, 367 (373 f.). 54 Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, 2005; Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983; Jäckel, Grundrechtsgeltung und Grundrechtssicherung, 1967; M. Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, 2005; L. Schneider, Der Schutz des Wesensgehalts von Grundrechten nach Art. 19 Abs. 2 GG, 1983; v. Hippel, Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte, 1965; Zivier, Der Wesens-
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
meist abstrakt und nennen nur wenige Beispiele.55 Streitstände werden lediglich im Hinblick auf die allgemeinen Lehren diskutiert und werden nicht auf einzelne Grundrechte angewendet. Vorstellbar wäre, dass bei den Kommentierungen der Grundrechte eine Einordnung erfolgt, was zum Wesensgehalt gehört.56 Dies geschieht jedoch nicht.57 Aufgrund der isolierten Untersuchung des Art. 19 II GG ohne Bezug auf die einzelnen Grundrechte erfüllt Art. 19 II GG die ihm zugedachte Funktion nicht. Möglicherweise hat dies strukturelle Gründe, welche die Wesensgehaltsgarantie a priori ungeeignet erscheinen lassen, um eine bedeutendere verfassungsrechtliche Rolle zu spielen. Wenn die Wesensgehaltsgarantie per se untauglich ist, dann dürften die Bemühungen, ihr einen Inhalt beizumessen, vergebens sein. Anderenfalls gibt es hingegen keinen Grund, diese Vorschrift weiter zu vernachlässigen.
1. Wesensgehaltsgarantie ist nicht änderungsfest Die Wesensgehaltsgarantie kann durch eine Verfassungsänderung nach Art. 79 GG abgeschafft werden.58 Sie ist nicht in besonderer Weise inhaltlich 55 gehalt der Grundrechte, 1960. Für das Schweizer Recht: Schefer, Die Kerngehalte von Grundrechten, 2001. Für das österreichische Recht: Stelzer, Das Wesensgehaltsargument und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1991. 55 So die allgemeine Einschätzung von I. M. Rautenbach, General provisions of the South African bill of rights, 1995, S. 104: „The debates are often extremely theoretical and the continuous point of criticism reciprocally made by writers is that it would be difficult to apply particular constructions to concrete situations.“ „Die Debatten sind oft extrem theoretisch und die andauernde Kritik, die sich die Literatur gegenseitig macht, ist, dass es schwierig sei, bestimmte Konzepte auf konkrete Situationen anzuwenden.“ [Übersetzung des Verfassers] 56 So wie z.B. Kommentierungen, welche die wegen Art. 79 III GG veränderungsfesten Inhalte explizit ausweisen, so bei Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 81–87, 214–225; Hain, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 79 Rn. 8. 57 Eine Ausnahme stellt die Zusammenstellung über die Rechtsprechung bei P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 172–178 dar. Siehe auch die Auflistungen bei Schaks, Schutz des Wesensgehalts der Grundrechte, in: Stern/Sodan/ Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. III, 2. Aufl. 2022, § 88 Rn. 39–43; Schaks, Versammlungsfreiheit, in: Stern/ Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. IV, 2. Aufl. 2022, § 115 Rn. 80–82; Schaks, Allgemeine Vereinigungsfreiheit, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. IV, 2. Aufl. 2022, § 116 Rn. 61. 58 So ausdrücklich BVerfGE 109, 279 (310 f.); Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, 2005, S. 33; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 19 Rn. 10; Lerche, Grundrechtsschranken, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 122 Rn. 30; Marauhn/Mengeler, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, 3. Aufl. 2022, Kap. 7 Rn. 55 mit Fn. 327. Zutreffend differenzierend zwischen mittelbarer und unmittelbarer Bindung Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Mai 2008), Art. 19 Abs. 2
I. Vermeintliche Bedeutungslosigkeit der Wesensgehaltsgarantie
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geschützt wie etwa die in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze.59 Dies ergibt sich nicht nur aus dem klaren Wortlaut des Art. 79 III GG, sondern auch aus der eindeutigen Entstehungsgeschichte des Art. 79 III GG. Denn der Antrag im Laufe der Verfassungsgebung, auch Art. 19 II GG in den Schutz des Art. 79 III GG einzubeziehen, wurde zwei Mal abgelehnt.60 Die Schutzfunktion des Art. 19 II GG steht mithin zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers. Das macht aber die Wesensgehaltsgarantie nicht irrelevant. Solange Art. 19 II GG existiert, kann diese Vorschrift ihre Funktion erfüllen. Erst wenn ein verfassungsändernder Gesetzgeber mit den entsprechenden Mehrheiten diese Vorschrift ersatzlos streicht, entfällt ihre rechtliche Wirksamkeit. Nach überwiegender Auffassung können auch einzelne Grundrechtsverbürgungen unter Einhaltung der formellen Voraussetzungen der Verfassungsänderungen gestrichen werden.61 Gleichwohl existiert eine umfangreiche Rechtsprechung zu den Grundrechten, und auch die Literatur sieht sich durch die Möglichkeit der Abschaffung nicht an einer detailreichen Befassung mit den Grundrechten gehindert. Stellte man allein auf die Möglichkeit einer Verfassungsänderung ab, wäre jede Befassung mit einer Verfassungsvorschrift prekär. Dies gilt in höherem Maße auch für das einfache Recht, welches erleichtert abänderbar ist, was Julius Hermann von Kirchmann zu seinem berühmten Ausspruch in einem 1847 in der Juristischen Gesellschaft zu Berlin gehaltenen Vortrag veranlasst hat.62
2. Vermeintliche Impraktikabilität Art. 19 II GG erscheint für die Grundrechtsanwendung nicht sehr praktikabel. Bereits „zugänglichere“ Verfassungsverbürgungen sind oft allgemein und abstrakt formuliert. Dies gilt aber erst recht für Art. 19 II GG, der mit den Wörtern „Wesen“ und „Antastung“ zwei dunkle, philosophisch anmutende Begriffe verwendet und diese dann jeweils auf ein ganzes Grundrecht anwenden will. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG ist deshalb ein geeigneRn.5930 f. Weniger eindeutig hingegen BVerfGE 4, 157 (169 f.). A.A. Grosskreutz, Normwidersprüche im Verfassungsrecht, 1966, S. 86 f. 59 Siehe hierzu bereits oben C. III. 1.–C. III. 1. e). 60 Füßlein, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 587. 61 BVerfGE 94, 49 (103); 109, 279 (310); H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 79 Abs. 3 Rn. 32. Die Grenze ist zwar der Menschenwürdegehalt, aber hierfür ist Art. 1 I GG der Maßstab, nicht Art. 19 II GG. 62 V. Kirchmann, Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, in: Klenner (Hrsg.), Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1990, S. 1 (23): „[…] drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur.“ Hierzu Larenz, Über die Unentbehrlichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1966.
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
tes Beispiel, um die „fragmentarische, offene und oft nur prinzipienhafte Regelungsstruktur der Verfassung“ zu illustrieren.63 Auch die schwerwiegende Sanktion der Nichtigkeit verbunden mit dem „Vorwurf“, den Wesensgehalt eines Grundrechts angetastet zu haben, dürfte Gerichte davon abhalten, auf Art. 19 II GG zu rekurrieren. Diese Hemmung dürfte noch höher sein, wenn die Wesensgehaltsgarantie absolut verstanden wird,64 denn dann steht dem Gericht in geringerem Maße die Möglichkeit zur Verfügung, auf die Besonderheiten des Einzelfalls abzustellen und eine Abwägung der konkreten Umstände dieses Einzelfalls vorzunehmen. Stattdessen muss der absolute Kerngehalt ermittelt werden, der dann auch für weitere Entscheidungen verbindlich ist. Dies gilt unabhängig davon, ob er als angetastet erachtet wird oder nicht. Damit büßt die Rechtsprechung Flexibilität ein.65 Indes lässt diese Betrachtungsweise außer Acht, dass der Wesensgehalt eines Grundrechts nicht von jedem Gericht allein und aus dem Nichts heraus ermittelt werden muss. Gerichte können auf der rechtswissenschaftlichen Literatur und anderen Entscheidungen aufbauen. Dies gilt sowohl hinsichtlich der methodischen Herangehensweise, wie der Gehalt zu ermitteln ist, als auch in inhaltlicher Hinsicht, welche Gehalte im Ergebnis am Schutz des Art. 19 II GG teilhaben. Hilfreich können nicht nur die verschiedenen nationalstaatlichen Gerichte, sondern auch Ausführungen des EuGH66 oder EGMR67 sein. Je früher die Erarbeitung des Wesensgehalts der verschiedenen Grundrechte begonnen wird, desto schneller können Gerichte auf Vorarbeiten aufbauen. Demgegenüber dürfte es rechtsdogmatisch weniger überzeugend und rein praktisch schwerer sein, kurzfristig in einem spektakulären Einzelfall umfassende Aussagen zur Wesensgehaltsgarantie zu treffen, welche die unterliegende Partei argumentativ überzeugen. Beispielsweise wäre die Argumentation mit Art. 19 II GG für die Beteiligten in der Coronakrise schlüssiger, wenn es sich um einen etablierteren Artikel des Grundgesetzes mit einem klaren und fest umrissenen Inhalt handeln würde. Wenn allerdings die Wesensgehaltsgarantie im Zusammenhang mit der demokratischen Dekonsolidierung Bedeutung erlangen soll, muss der Inhalt dieser Vorschrift rechtzeitig und damit vor dem Einsetzen der demokratischen Dekonsolidierung etabliert sein. Zumindest Grundfragen, z.B. hinsichtlich des absoluten oder relativen Verständnisses, sollten geklärt sein. Wenn ein möglichst weitgehender Konsens über den Wesensgehalt eines Grundrechts besteht, ist eine Argumentation mit dem Wesensgehalt eines 63
Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, 2013, S. 138 f. 64 Siehe hierzu unten D. IV. 2.–D. IV. 2. c). 65 Die zuvor geschilderte Skepsis des südafrikanischen Verfassungsgerichts scheint dies belegen zu können. 66 Siehe hierzu unten D. III. 2. a). 67 Siehe hierzu unten D. III. 2. b).
I. Vermeintliche Bedeutungslosigkeit der Wesensgehaltsgarantie
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Grundrechts am überzeugendsten. Dies lässt sich an der Rechtsprechung des EuGH illustrieren, der zunächst entschieden hat, dass in einer datenschutzrechtlich relevanten Konstellation keine Missachtung der Wesensgehaltsgarantie des Art. 52 I 1 EUGrCh vorläge, da keine Kenntniserlangung des Inhalts der Daten (sondern nur der Metadaten) möglich war.68 In der Entscheidung Schrems wurde diese Argumentation aufgegriffen und wegen der Möglichkeit der Kenntnisnahme des Dateninhalts aber eine Wesensgehaltsantastung gerade bejaht.69 In einem anderen Fall hat der EuGH für eine bestimmte Interpretation des Sekundärrechts entschieden, weil die alternative Interpretation einen Verstoß gegen die Wesensgehaltsgarantie des Art. 52 I 1 EUGrCh bedeutet hätte.70 Schließlich beruht die kritische Einstellung zur Praktikabilität der Wesensgehaltsgarantie darauf, dass allein die Gerichte als Anwender des Art. 19 II GG in den Blick genommen werden. Richtig ist zwar, dass nur die Gerichte verbindlich einen Verstoß gegen die Wesensgehaltsgarantie feststellen können. Allerdings bedeutet dies nicht, dass die Wirkung der Wesensgehaltsgarantie primär oder gar allein in ihrer Sanktionswirkung (Nichtigerklärung) liegt. Auch wenn der Jurist dazu neigen mag, die Streitentscheidungsfunktion von Rechtsvorschriften zu verabsolutieren,71 führt eine solche Sichtweise bei Art. 19 II GG in die Irre. Die Wesensgehaltsgarantie kann bereits im Vorfeld, z.B. bei der Diskussion eines Gesetzgebungsvorhabens, eine Leit- und Orientierungswirkung entfalten. Wenn dies möglicherweise die primäre Funktion des Art. 19 II GG ist, dann ist die Erwartung, dass die Rechtsprechung den Inhalt der Wesensgehaltsgarantie durch eine sanktionierende Rechtsprechung prägt („Verfassungswidrigkeit des beanstandeten Gesetzes“), unrealistisch. Die Wesensgehaltsgarantie stellt keine „kleine Münze“ dar, die alltäglich zum Einsatz kommt. Sie ist vielmehr eine Vorschrift für Ausnahmesituationen.72 Sollte die Antastung des Wesensgehalts eines Grundrechts festgestellt worden sein und damit die Sanktionswirkung aktiviert werden, zeigt dies, dass bereits eine bedenkliche Gefahr für grundrechtliche Freiheiten eingetreten ist. Effektiver dürfte es sein, vor Eintritt dieses Falls die Wesensgehaltsgarantie in ihrer Warn- und Signalfunktion zu bemühen. Dies entspricht dem antizipativen Charakter des Grundgesetzes. Da die Wesensgehaltsgarantie das Übermaßverbot nicht ersetzt, sondern zusätzlich zu diesem eine Schranken-Schranke darstellt, ist es den Gerichten unbe68 EuGH, Urt. v. 8.4.2014 – C-293/12 und C-594/12, ECLI:EU:C:2014:238 Rn. 40 – Digital Rights Ireland. 69 EuGH, Urt. v. 6.10.2015 – C-362/14, ECLI:EU:C:2015:650 Rn. 94 f. – Schrems. 70 EuGH, Urt. v. 18.7.2013 – C-426/11, ECLI: EU: C:2013:521 Rn. 35 f. – Alemo-Herron. 71 So Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 325. 72 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 237: „Krisenerscheinung“.
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
nommen, auf das Übermaßverbot zu rekurrieren, wenn mit diesem ein Streitfall besser gelöst werden kann. Grundlegende Bedenken, dass die Wesensgehaltsgarantie a priori nicht praktikabel zu handhaben ist, sind nicht stichhaltig und müssen auch durch die Entscheidungen des EuGH73 und des EGMR74 als widerlegt gelten.
3. Zeitgebundenheit Der Wesensgehalt ist für jedes Grundrecht separat zu bestimmen.75 Sowohl der Grundrechtsinhalt als auch dessen Wesensgehalt verändern sich im Laufe der Zeit.76 Deshalb ist es nicht ausreichend, einmal den Wesensgehalt für ein bestimmtes Grundrecht zu ermitteln. Vielmehr ist dieser Wesensgehalt zu beobachten und für die Zukunft fortzuschreiben. Dies stellt eine andauernde Aufgabe von Rechtswissenschaft und -praxis dar. Auch wenn die Zeitgebundenheit zu Herausforderungen führt, kann und muss der Wesensgehalt eines Grundrechts zu einem bestimmten Zeitpunkt ermittelt werden. Dieser kann sich zwar künftig ändern, was bei späteren Übernahmen zu berücksichtigen ist. Jedoch besteht kein grundsätzlich anderes Problem als bei der Grundrechtsinterpretation sonst auch, wo rechtliche oder tatsächliche Änderungen zu einem gewandelten Grundrechtsverständnis führen können.77 Dem könnte beispielsweise durch eine abgeschwächte Bedeutung der historischen Auslegungsmethode mit zunehmender Zeit Rechnung getragen werden. Die Schwierigkeit bei der Wesensgehaltsgarantie dürfte sogar insgesamt geringer sein, da sich der Wesensgehalt langsamer als das Grundrecht als Ganzes wandelt.
73
EuGH, Urt. v. 6.10.2015 – C-362/14, ECLI:EU:C:2015:650 Rn. 94 f. – Schrems. Siehe hierzu ausführlicher unten D. III. 2. a). 74 EGMR, Urt. v. 18.6.2002 – 25656/94, Rn. 410, Orhan v. Türkei, https://hudoc.echr.coe. int/eng?i=001–60509 (Stand: Stand: 10.8.2023); Urt. v. 11.7.2002 – 28957/95, Rn. 110, Goodwin v. UK, https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–60596 (Stand: 10.8.2023). Siehe hierzu ausführlicher unten D. III. 2. b). 75 BVerfGE 117, 71 (96); so auch schon BVerfGE 22, 180 (219). 76 So v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 205 f.; v. Arnauld, Die normtheoretische Begründung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, JZ 2000, 276 (277 mit Fn. 19); Leisner-Egensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 76; Woolman, Riding the push-me pull-you: Constructing a test that reconciles the conflicting interests which animate the limitation clause, South African Journal on Human Rights 10 (1994), 60 (71 mit Fn. 40). Siehe hierzu auch Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, 2005, S. 65 m.w.N. Selbst die Menschenwürdegarantie unterliegt einem zeitlichen Wandel, vgl. BVerfGE 45, 187 (229); 96, 375 (399 f.). 77 Siehe das Beispiel des Ehebegriffs bei Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Bd. I, 4. Aufl. 2023, Art. 6 Rn. 103–114.
II. Wesensgehaltsgarantie als geltendes Recht mit Anwendungsbereichen
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4. Zwischenergebnis Die strukturellen Einwände gegen die Wesensgehaltsgarantie und die Ermittlung des Wesensgehalts der einzelnen Grundrechte sind nicht so gewichtig, dass sie a priori gegen eine Entfaltung des Art. 19 II GG sprächen. Vielmehr ist es so, dass die Wesensgehaltsgarantie trotz der jahrzehntelangen Befassung mit ihr noch wichtige Impulse setzen kann. Interessanterweise stieg während der Coronapandemie die Befassung mit der Wesensgehaltsgarantie, was darauf hindeutet, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als der große „Gleich- und Weichmacher der Verfassungsmaßstäbe“78 an Grenzen der Problemlösefähigkeit stößt.79 Will man Art. 19 II GG zur Problemlösung heranziehen, muss jedoch erst noch ein genaueres Verständnis des Wesensgehalts der Grundrechte erarbeitet werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn man sich weniger auf die Sanktionswirkung, sondern mehr auf die Warnfunktion des Art. 19 II GG konzentrierte.
II. Wesensgehaltsgarantie als geltendes Recht mit konkreten Anwendungsbereichen Da Art. 19 II GG eine Vorschrift des positiven Rechts ist, muss ihr ein Inhalt beigemessen werden.80 Nach dem Grundsatz der Einheit der Verfassung ist eine Vorschrift so auszulegen, dass ihr ein sinnvoller, eigenständiger Anwendungsbereich verbleibt.81 Das BVerfG spricht auch von dem „Gebot, Verfas78
Ossenbühl, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen: Diskussionsbeitrag, VVDStRL 39 (1981), 189 (189). 79 Hierzu Schaks, Schutz des Wesensgehalts der Grundrechte, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. III, 2. Aufl. 2022, § 88 Rn. 2 m.w.N. Zur Kritik am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch Poscher, Das Grundgesetz als Verfassung des verhältnismäßigen Ausgleichs, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 3 Rn. 37 m. N. in Fn. 88. 80 Middendorf, Zur Wesensgehaltsgarantie des Grundgesetzes, Jura 2003, 232 (236); Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 840, 863, 871. 81 BVerfGE 1, 14 (32); 19, 206 (220); 30, 1 (19); 60, 253 (267); siehe auch Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), 53 (72 f., 77–86): „Es geht vielmehr um die Notwendigkeit, die Verfassung jeweils als einen in sich sinnvollen, zwar vielseitigen und keineswegs spannungslosen, aber doch immer auf die Einheit des politischen Gemeinwesens gerichteten Ordnungszusammenhang zu interpretieren.“ (S. 77); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, Rn. 20, 71. Vgl. weiterhin Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, 1975, S. 49–53; Schladebach, Praktische Konkordanz als verfassungsrechtliches Kollisionsprinzip, Der Staat 53 (2014), 263 (278–283); Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, 864 ff.; Sodan, Unabhängigkeit und Methodik von Verfassungsrechtsprechung, in: Sodan (Hrsg.), Wechsel und Kontinuität im Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, 2001, S. 21 (24 f.); kritisch Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 12. Aufl. 2022, Rn. 774–776.
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
sungsnormen so zu interpretieren, dass sie ihre Wirkkraft möglichst entfalten“.82 Wenn der Inhalt der Wesensgehaltsgarantie mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gleichgesetzt wird,83 missachtet dies den zuvor genannten Auslegungsgrundsatz. Gegen eine Gleichsetzung von Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Wesensgehaltsgarantie spricht bereits der unterschiedliche Wortlaut von „Verhältnismäßigkeit“ einerseits und „Wesensgehalt“ andererseits. Überdies widerspricht ein solches Verständnis wohl der Rechtsprechung des BVerfG,84 von der sich nicht sagen lässt, dass sie die Wesensgehaltsgarantie und das Übermaßverbot gleichsetzt. Auch Art. 52 I EUGrCh unterscheidet zwischen Wesensgehaltsgarantie (Satz 1) auf der einen und Übermaßverbot (Satz 2) auf der anderen Seite.85 Auf dieser Linie liegt auch die – zumindest vorübergehende – südafrikanische Rezeption der Wesensgehaltsgarantie. Diese wurde in der Interimsverfassung ausdrücklich in Art. 33(1)(b) IC neben dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des Art. 33(1)(a) IC verankert. Auch Rechtsprechung und Literatur, die sich damit befasst haben, gehen von einer eigenständigen Schranken-Schranke neben dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus.86 Mit der Aussage, dass Art. 19 II GG geltendes Recht sei und der inhaltlichen Entfaltung bedürfe, ist nicht gesagt, dass die primäre oder gar ausschließliche Funktion der Wesensgehaltsgarantie die Nichtigerklärung verfassungswidriger Gesetze sei (Sanktionsfunktion oder -wirkung). Ähnliches gilt für das Zitiergebot des Art. 19 I 2 GG, welches den Gesetzgeber zwingen soll, sich der grundrechtsbeschränkenden Relevanz seines Handelns zu vergegenwärtigen.87 Der eigentliche Gedanke ist weniger die Sanktion als vielmehr die Erwartung und Hoffnung der Befolgung, sodass die Grundrechte geschont werden und es keiner Sanktion bedarf. Die Vorschrift will warnen und ggf. unnötige Grundrechtsbeschränkungen verhindern. Die Sanktionsbewehrung ist allenfalls sekundär. Bei Art. 19 II GG besteht – was bei dieser Vorschrift selten ist – Einigkeit darüber, dass die Wesensgehaltsgarantie eine Warnfunktion oder Signalbedeutung hat.88 Schmitt Glaeser spricht von „der nicht zu unter82 BVerfGE 155, 310 (344) unter Verweis auf BVerfGE 6, 55 (72); 32, 54 (71); 39, 1 (38); 43, 154 (167); 51, 97 (110); 103, 142 (153); H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 1 Abs. 3 Rn. 86; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu, GG, 15. Aufl. 2022, Einleitung Rn. 215. 83 BGH, DÖV 1953, 343 (344). 84 Zur Bedeutsamkeit der Rechtsprechung für diese Untersuchung siehe oben B. I. 1. 85 Hierzu unter D. III. 2. a). 86 Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, 2000, S. 138, 142–156. 87 BVerfGE 64, 72 (79 f.): „Warn- und Besinnungsfunktion“. Siehe auch BVerfGE 154, 152 (236 f.). 88 Lerche, Grundrechtsschranken, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 122 Rn. 32; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 840. Für F. Klein, in: v. Mangoldt/ Klein, GG, Bd. I, 2. Aufl. 1957, Art. 19 Anm. V. 7. B) ist Art. 19 II GG das „mahnende ‚Ausrufezeichen“, ähnlich bereits zuvor unter Vorbemerkungen B. XV. 3. C) (S. 133): „Ausrufezeichen“.
II. Wesensgehaltsgarantie als geltendes Recht mit Anwendungsbereichen
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schätzenden, rein psychologischen Wirkung“.89 Insbesondere der Gesetzgeber soll vor dem Erlass übermäßig beschränkender Gesetze gewarnt werden. Dies setzt aber zwingend voraus, dass Kenntnis davon besteht, wann die Warnung wem gegenüber und wie zu erfolgen hat. Hieran fehlt es jedoch. Die Vorschrift selbst kann nicht die Warnung allein sein, denn Art. 19 II GG existiert und gilt fortdauernd, also bei jedem einzelnen Gesetzeserlass, unabhängig davon, wie intensiv in ein Grundrecht eingegriffen wird. Damit eine konkrete Warnung erfolgen kann, muss erkennbar sein, dass sich der Gesetzgeber dem Wesensgehalt nähert. Dies ist nur möglich, wenn der Wesensgehalt eines Grundrechts vor dem Gesetzeserlass inhaltlich entwickelt ist. Die Vorschrift entfaltet ihre Bedeutung nicht durch die Nichtigerklärung, sondern durch die vorausschauende Ermittlung und Wahrung des Grundrechtskerns durch die gebundenen Gewalten. Eine bereits bestehende Entscheidungspraxis erlaubt eher eine prognostizierbare Normkonkretisierung90 und damit die Einhegung von Abweichungstendenzen durch die Gesetzgebung. Neben dem „allgemeinen“ Anwendungsbereich des Art. 19 II GG gelangt diese Vorschrift auch in besonderen Konstellationen zur Anwendung. Dies gilt erstens im Zusammenhang mit der Übertragung von Hoheitsrechten. Hier wird Art. 19 II GG vom BVerfG herangezogen. Zweitens erlangte Art. 19 II GG im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung zumindest vorübergehend einen weiteren besonderen Anwendungsbereich.
1. Wahrung des Art. 19 II GG bei und nach der Übertragung von Hoheitsrechten Art. 23 I 2 und 24 I GG gestatten die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU bzw. andere zwischenstaatliche Einrichtungen.91 Hierbei bestehen nicht nur formale, sondern auch inhaltliche Grenzen der Übertragbarkeit. Im Folgenden wird untersucht, ob aus diesen Grenzen der Übertragbarkeit Erkenntnisse zur Anwendung der Wesensgehaltsgarantie gewonnen werden können. a) Deutsche Mitwirkung in der EU, Art. 23 I GG „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im 89 Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten, 1968, S. 215 in Fn. 184, der aber auch für eine darüber hinausgehende Wirkung eintritt. 90 Herdegen, Verfassungsinterpretation als methodische Disziplin, JZ 2004, 873 (874). 91 Siehe hierzu im Verhältnis zu Art. 79 III GG bereits oben C. III. 1. b)–C. III. 1. b) bb).
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“, Art. 23 I 1 GG. In einem im Juli 2018 zu Art. 24 I GG92 ergangenen Beschluss hat das BVerfG ausgeführt: „Integrationsgesetze, mit denen nach Art. 24 I GG Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen werden, müssen sicherstellen, dass auch die zwischenstaatliche Einrichtung einen Grundrechtsschutz gewährleistet, der den vom Grundgesetz geforderten Mindeststandard umfasst, insbesondere den Wesensgehalt der Grundrechte garantiert […] Integrationsgesetze sind als Akte deutscher Staatsgewalt an die im Grundgesetz verbürgten Grundrechte gebunden, deren Wesensgehalt (Art. 19 II GG) sie auch in Ansehung der supranationalen Hoheitsgewalt generell sicherzustellen haben. An dieser – mit den Solange I- und II-Beschlüssen begründeten Rechtsprechungslinie […] – hat das BVerfG auch nach Einfügung des Art. 23 GG in das Grundgesetz (BT-Drs. 12/6000, S. 21) festgehalten und die generelle Gewährleistung des Wesensgehalts der Grundrechte als den vom Grundgesetz geforderten Mindeststandard an Grundrechtsschutz bei Verabschiedung und Vollzug eines Integrationsprogramms beschrieben.“93
Das BVerfG scheint damit zum Ausdruck zu bringen, dass auch bei Gesetzen nach Art. 23 I GG der Wesensgehalt (Art. 19 II GG) der Grundrechte zu wahren sei. Explizit werden die Verfassungsnorm des Art. 19 II GG genannt und der in dieser Vorschrift enthaltene Rechtsbegriff „Wesensgehalt“ verwendet. Zwar ergingen die vom BVerfG in dem obigen Zitat genannten Beschlüsse Solange I und II, bevor der heutige Art. 23 GG in einer besonderen Vorschrift die Übertragung von Hoheitsrechten auf die (jetzige) EU regelte. Allerdings betont das Gericht selbst, dass dies an seinen Ausführungen nichts ändere. Somit ist zunächst unerheblich, dass der soeben im Wortlaut zitierte Beschluss zu Art. 24 I GG und nicht zu Art. 23 I GG erging. Nach Ansicht des BVerfG ist nicht nur bei der erstmaligen Übertragung von Hoheitsrechten Art. 19 II GG zu wahren, vielmehr ist die nachfolgende Integration ebenfalls erfasst. Auch dann muss die Wahrung des Art. 19 II GG sichergestellt sein. Gleichwohl bestehen Zweifel, ob das BVerfG den Grundrechtsschutz im übertragenen Hoheitsbereich exakt an Art. 19 II GG messen will, denn die weiteren Ausführungen lassen erkennen, dass die Wahrung des Wesensgehalts 92
Hierzu sogleich unter D. II. 1. b). BVerfGE 149, 346 (360–362) – Hervorhebungen nicht im Original. Siehe zu dieser Entscheidung: Gärditz, Völkerrechtliche Integration und kompensatorische Rechtsschutzgarantie, EuGRZ 2018, 530 ff. Siehe bereits zuvor BVerfGE 58, 1 (40), wo es heißt: „Art. 24 Abs. 1 GG muß wie jede Verfassungsbestimmung ähnlich grundsätzlicher Art im Zusammenhang der Gesamtverfassung verstanden und ausgelegt werden. Er eröffnet nicht den Weg, das Grundgefüge der Verfassung anzutasten. Ein unaufgebbarer Bestandteil des Verfassungsgefüges sind die fundamentalen Rechtsgrundsätze, die in den Grundrechten des Grundgesetzes anerkannt und verbürgt sind. Deshalb gestattet Art. 24 Abs. 1 GG nicht, den Grundrechtsteil des Grundgesetzes vorbehaltlos zu relativieren […].“ Siehe ferner BVerfGE 73, 339 (387); 89, 155 (174 f.); 102, 147 (164); 118, 79 (95 f.). 93
II. Wesensgehaltsgarantie als geltendes Recht mit Anwendungsbereichen
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im Unionskontext trotz Zitierung des Art. 19 II GG teilweise abweichend verstanden wird als bei rein nationalen Sachverhalten. So verlangt z.B. der Solange-II-Beschluss gerade nicht, dass die Wahrung des Wesensgehalts eines jeden Grundrechts gewährleistet wird. Vielmehr soll es trotz möglicher Lücken im Einzelnen ausreichend sein, wenn das unionsrechtliche Schutzsystem insgesamt einen vergleichbaren Grundrechtsschutz losgelöst von den einzelnen Grundrechten bietet.94 Auch das den Solange-Beschlüssen nachfolgende Maastricht-Urteil zeigt, dass die Aussage „Eine ins Gewicht fallende Minderung der Grundrechtsstandards ist damit nicht verbunden. Das Bundesverfassungsgericht gewährleistet durch seine Zuständigkeit […], daß ein wirksamer Schutz der Grundrechte für die Einwohner Deutschlands auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell sichergestellt und dieser dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt. Das Bundesverfassungsgericht sichert so diesen Wesensgehalt auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft […].“95
nicht das Verständnis der Wesensgehaltsgarantie bei rein nationalen Sachverhalten teilt.96 Insgesamt wird man die Ausführungen des BVerfG – trotz der ausdrücklichen Bezugnahme auf Art. 19 II GG97 – wohl nur verbal, nicht aber in der gelebten Praxis als Beleg für die Bedeutung der Wesensgehaltsgarantie im unionalen Kontext ansehen können. In diesem Sinne wurde die Rechtsprechung in Art. 23 I 1 GG auch kodifiziert, wo es ausdrücklich heißt, dass die Bundesrepublik an einer Europäischen Union mitwirkt, die „einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“. Dieser Rechtsprechungslinie zu entnehmen ist jedoch die Notwendigkeit der andauernden Übereinstimmung und Überprüfung der weiterhin bestehenden Vereinbarkeit der Übertragung. Das erfordert eine ständige Beobachtung auch nach der Übertragung von Hoheitsbefugnissen und setzt das Beste94 BVerfGE 73, 339 (383–387). So auch die Deutung von Classen, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 23 Rn. 42–44 m.w.N. 95 BVerfGE 89, 155 (174 f.) – unter Weglassung der Nachweise, Hervorhebung nicht im Original. Ähnlich v. Bogdandy et al., Ein Rettungsschirm für europäische Grundrechte, ZaöRV 72 (2012), 45 (69), wo die Summe der derogationsfesten Rechte aus Art. 15 II EMRK zum Wesensgehalt gezählt wird. 96 Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, 2005, S. 37–43, insbes. 40–42. Siehe hierzu auch H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 19 Abs. 2 Rn. 5; Horn, „Grundrechtsschutz in Deutschland“ – Die Hoheitsgewalt der Europäischen Gemeinschaften und die Grundrechte des Grundgesetzes nach dem Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, DVBl. 1995, 89 (91); Krebs, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 19 Rn. 21. Siehe auch H.-J. Cremer, Rügbarkeit demokratiewidriger Kompetenzverschiebungen im Wege der Verfassungsbeschwerde?, NJ 1995, 5 (6). 97 So auch P.M. Huber, Rolle der Verfassungsgerichte in der europäischen Integration – Die Karlsruher Perspektive, in: FS E. Klein, 2013, S. 111 (119).
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
hen eines Kontrollmaßstabs98 voraus, da Kontrolle der Prozess des Vergleichens, der Verhältnisbestimmung zweier Phänomene zueinander ist.99 Damit muss auch der „generelle“ Wesensgehalt eines Grundrechts fortlaufend bekannt sein, anderenfalls kann weder bei der erstmaligen Übertragung noch beim Vollzug des Integrationsprogramms die Einhaltung der Grenze der Übertragbarkeit kontrolliert werden, denn die größten Risiken für die demokratische und rechtsstaatliche Beherrschbarkeit supranationaler Integrationsprozesse dürften in der Rechtsanwendung der geschaffenen Institutionen wegen ihrer Autonomisierungstendenzen liegen.100 Überdies verlangt auch die „Systemkontrolle“ des „generellen“ Wesensgehalts die Erfassung von Kumulationen. b) Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen, Art. 24 I GG Art. 24 I GG gestattet, dass der „Bund […] durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen“ überträgt;101 nach Art. 24 II GG darf der Bund „sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern“.102 Das BVerfG hat in dem zuvor zitierten Beschluss zur Europa-Schule aus dem Juli 2018103 zwar ausgeführt, dass die Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale Einrichtungen i.S.d. Art. 24 I GG inhaltlich begrenzt sei. Dieser einzuhaltende Mindeststandard betrifft nicht nur die erstmalige Übertragung, sondern gilt auch beim Vollzug des Integrationsprogramms.104 Gleichwohl ergibt sich aus den weiteren Urteilsgründen, dass auch hier lediglich das Gesamtsystem, nicht jedoch die vollständige Übereinstimmung bei jedem einzelnen Grundrecht gemeint ist.105 Die obigen Ausführungen zu Art. 23 I GG gelten hier entsprechend. 98
Hierzu Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, 1984, S. 14. Hierzu Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, 1984, S. 14. 100 Gärditz, Völkerrechtliche Integration und kompensatorische Rechtsschutzgarantie, EuGRZ 2018, 530 (538) m.w.N. Siehe hierzu im Zusammenhang mit Art. 79 III GG bereits oben C. III. 1. b) aa) und bb). 101 Vgl. Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen, 2017, § 2 Rn. 139–149. Konstruktiv anders Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 24 Rn. 14–19. 102 Siehe zu Art. 24 II GG: BVerfGE 90, 286 (246–349); Streinz, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 24 Rn. 54; Wollenschläger, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 24 Rn. 76. 103 BVerfGE 149, 346 ff. 104 BVerfGE 149, 346 (362) m.w.N. 105 Vgl. Gärditz, Völkerrechtliche Integration und kompensatorische Rechtsschutzgarantie, EuGRZ 2018, 530 (538), der von „Systemkontrolle“ spricht. 99
II. Wesensgehaltsgarantie als geltendes Recht mit Anwendungsbereichen
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c) Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass zwar die verbale Betonung des Art. 19 II GG im europäischen Kontext zuweilen stark ist. In der Entscheidungspraxis folgen den Worten aber keine entsprechenden Taten. Hilfe bei der Entfaltung des Wesensgehalts leisten die Entscheidungen des BVerfG zur Übertragung von Hoheitsrechten kaum. Immerhin können die Ausführungen des BVerfG zur Stützung der These herangezogen werden, dass Art. 19 II GG vor Kumulationen schützt und es eines kontinuierlichen Abgleichs bedarf, ob das Ausmaß an Regelungen noch mit Art. 19 II GG vereinbar ist. Will das BVerfG den „generellen“ Wesensgehalt bzw. die „Systemkontrolle“ vornehmen, bedarf es jedoch hierfür ebenfalls eines Maßstabs, und dieser scheint absolut verstanden zu werden.
2. Relevanz im Prozess der Wiedervereinigung, Art. 143 GG In Art. 143 I 2 GG nimmt die Verfassung selbst ausdrücklich Bezug auf Art. 19 II GG. In Art. 143 I 2 GG heißt es im Hinblick auf vom Grundgesetz abweichendes Recht in den „neuen“ Ländern: „Abweichungen dürfen nicht gegen Artikel 19 Abs. 2 verstoßen und müssen mit den in Artikel 79 Abs. 3 genannten Grundsätzen vereinbar sein.“
Art. 143 GG wurde durch Art. 4 Nr. 5 EV106 mit Wirkung zum 29.9.1990107 in das Grundgesetz aufgenommen. Er bringt zum Ausdruck, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber auch 1990 von der Relevanz und Handhabbarkeit der Wesensgehaltsgarantie ausging, denn Art. 143 GG bezieht sich explizit auf die Wesensgehaltsgarantie und setzt den Abweichungen vom Grundgesetz bis zum 31.12.1992 Grenzen.108 Der Zeitraum, für den Art. 143 I 2 GG in begrenztem Maße Ausnahmen vom Grundgesetz zuließ, ist längst abgelaufen. Deshalb können für die gegenwärtige Rechtslage keine Rückschlüsse auf die Bedeutung der Wesensgehaltsgarantie gezogen werden. Immerhin wird deutlich, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber 1990 von der Bedeutung und Rechtserheblichkeit der Wesensgehaltsgarantie überzeugt war. Zwar 106 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) v. 31.8.1990, BGBl. II, 885, 889. 107 Gem. Art. 45 EV und Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag – und der Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Durchführung und Auslegung des Einigungsvertrags v. 16.10.1990, BGBl. II, 1360. 108 Wieland, in: Dreier, GG, Bd. III, 3. Aufl. 2018, Art. 143 Rn. 7.
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
hätte im Umkehrschluss nicht gefolgert werden können, dass eine Nichterwähnung die Bedeutungslosigkeit der Vorschrift begründet hätte. Solange Art. 19 II GG nicht aufgehoben wird, entfaltet er Rechtswirkungen. Jedoch zeigt das Vorgehen, dass in der verfassungsrechtlich wie politisch außergewöhnlichen Phase der Wiedervereinigung – und nicht nur beim Erlass des Grundgesetzes – Art. 19 II GG erneut Aufmerksamkeit erlangte und dass damit das „Schattendasein“ der „Normalzeit“ zumindest vorübergehend beendet war. Dies bestätigt die Bedeutung der Wesensgehaltsgarantie gerade für Ausnahmesituationen, welche – wie die Wiedervereinigung – gelegentlich auch erfreulich sein können.
3. Zwischenergebnis Im Ergebnis traute nicht nur der ursprüngliche Grundgesetzgeber, sondern auch der grundgesetzändernde Gesetzgeber des Jahres 1990 der Vorschrift des Art. 19 II GG eine Problemlösungskapazität zu. Gemeinsam mit der nach wie vor aktuellen Bedeutung im Zusammenhang mit der Übertragung von Hoheitsrechten109 wird man zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass die Wesensgehaltsgarantie nach wie vor nicht obsolet ist. Die Vorschrift hat weiterhin eine Funktion in der Rechtsordnung.
III. Handhabbarkeit der Wesensgehaltsgarantie Im Folgenden wird die Möglichkeit der Entfaltung der Wesensgehaltsgarantie untersucht. Hierbei wird auf vergleichbare Institute eingegangen, bei denen ebenfalls mit Kerngehalten oder absoluten Gehalten argumentiert wird. Sofern dies in anderen, aber ähnlichen Kontexten möglich ist, ist dies – so die hiesige Argumentationslinie – auch bei Art. 19 II GG handhabbar. Dann besteht kein Grund, die Befassung mit Art. 19 II GG wegen vermeintlicher Schwierigkeiten weiter aufzuschieben.
1. Anwendung bei Kernbereichen Art. 23 I, Art. 24 I GG und Art. 143 I 2 GG beziehen sich in unterschiedlichem Maße auf Art. 19 II GG und bestätigen damit die andauernde Bedeutung der Wesensgehaltsgarantie. Dies hat zur Konsequenz, dass der Wesensgehalt eines Grundrechts abgegrenzt werden muss von dem Teil des Grundrechts, der nicht vom Schutz der Wesensgehaltsgarantie erfasst wird. Dass 109
BVerfGE 149, 346 ff.
III. Handhabbarkeit der Wesensgehaltsgarantie
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diese Abgrenzung möglich und in anderen Zusammenhängen grundsätzlich üblich ist bzw. war, soll anhand von Grundgesetzbestimmungen demonstriert werden, bei denen sich vergleichbare Fragen stellen. Auch an anderen Stellen verwendet das Grundgesetz eine Art „Wesensgehalt“, um hieran besondere Rechtsfolgen zu knüpfen. So ist z.B. im Hinblick auf Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 I 1 WRV von dem „unantastbaren Kern des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts“ die Rede.110 Im Folgenden sollen weitere, bislang noch nicht analysierte Vorschriften111 herangezogen werden, um die Handhabbarkeit einer Abgrenzung des Wesens- oder Kerngehalts zu belegen. a) Menschenwürdegehalte der Grundrechte Ein weiteres Argument für die Operabilität der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG ist die Lehre vom Menschenwürdekern112 der Grundrechte. Hiernach haben alle113 Grundrechte einen Menschenwürdekern, der über Art. 1 I i.V.m. Art. 79 III GG auch dann geschützt bliebe, wenn das jeweilige Grundrecht abgeschafft würde. Jedenfalls wäre ein Eingriff in diesen – soweit vorhandenen – Menschenwürdekern verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Dann muss aber eine Abgrenzung zwischen dem Menschenwürdekern und der diesen Kern umgebenden „Grundrechtsperipherie“ möglich sein. Da die Menschenwürdegarantie absolut verstanden wird,114 gelingt hier eine Abgrenzung eines absolut geschützten Kerns von einem bloß relativ geschützten Randbereich. Die Frage, ob der Wesensgehalt eines Grundrechts mit dessen Menschenwürdekern identisch ist, wird nicht einheitlich beurteilt.115 Auf den ersten Blick liegt Identität wegen des ähnlichen Wortlauts nahe, weil sowohl Art. 1 I 1 GG als auch Art. 19 II GG von „unantastbar“ bzw. „angetastet“ sprechen. Diese Auffassung ist jedoch im Ergebnis abzulehnen. Art. 19 II GG verbliebe kein eigenständiger Bedeutungsgehalt, was nach dem systematischen Argu110
BVerfGE 53, 366 (400). Zusätzlich ließe sich auch auf das Berufsbeamtentum (C. III. 2.), die Garantie der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie (C. III. 3.) sowie die Einrichtungsgarantien (C. III. 6. g]) hinweisen. Da hierzu bereits ausgeführt wurde, werden diese Regelungskomplexe nicht erneut dargestellt, aber bei der Auswertung im Zwischenergebnis (D. III. 3.) berücksichtigt. 112 Siehe hierzu Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte, 2019. 113 Streitig, hierzu Brenner, Möglichkeiten und Grenzen grundrechtsbezogener Verfassungsänderungen, dargestellt anhand der Neuregelungen des Asylrechts, Der Staat 32 (1993), 493 (506 f.). 114 BVerfGE 75, 369 (380); 93, 266 (293); 107, 275 (283 f.); 109, 279 (314); 130, 1 (22) m.w.N. Siehe hierzu Wapler, in: Dreier, GG, Bd. I, 4. Aufl. 2023, Art. 1 Abs. 1 Rn. 94–97. 115 Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117 (121, 136) geht davon aus, dass der Menschenwürdekern Teil der Wesensgehaltsgarantie ist. 111
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
ment der Einheit der Verfassung116 zu vermeiden ist. Außerdem wäre es widersprüchlich, beiden Bestimmungen denselben Inhalt zuzumessen, wenn Art. 1 I 1 GG über Art. 79 III GG den verfassungsändernden Gesetzgeber bindet, Art. 19 II GG aber nicht. Schließlich ist mit dem „Wesen“ das Typische des Grundrechts bezeichnet;117 die Menschenwürde knüpft allein an das Menschsein an,118 unabhängig davon, was für das jeweilige Grundrecht prägend ist. Oftmals können – und werden – sich beide Kreise überschneiden, Identität besteht deswegen aber nicht.119 Somit muss ein eigener Wesensgehalt der Grundrechte ermittelt werden. b) Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG Aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG hat das BVerfG das allgemeine Persönlichkeitsrecht120 hergeleitet. Dieses unterscheidet sich von der allgemeinen Handlungsfreiheit, die sich ausschließlich aus Art. 2 I GG ergibt,121 dadurch, dass es bei dieser um die aktive Entfaltung geht, während jenes auf Respektierung der Privatsphäre, auf den Wert- und Achtungsanspruch des Einzelnen abzielt.122 Das allgemeine Persönlichkeitsrecht hat nach Auffassung des BVerfG die Aufgabe, „die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen zu gewährleisten, die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgaran116 BVerfGE 1, 14 (32); 19, 206 (220); 30, 1 (19); 60, 253 (267); 155, 310 (344) unter Verweis auf BVerfGE 6, 55 (72); 32, 54 (71); 39, 1 (38); 43, 154 (167); 51, 97 (110); 103, 142 (153); siehe auch Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), 53 (72 f., 77– 86): „Es geht vielmehr um die Notwendigkeit, die Verfassung jeweils als einen in sich sinnvollen, zwar vielseitigen und keineswegs spannungslosen, aber doch immer auf die Einheit des politischen Gemeinwesens gerichteten Ordnungszusammenhang zu interpretieren.“ (S. 77); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, Rn. 20, 71. Vgl. weiterhin H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 1 Abs. 3 Rn. 86; Hopfauf, in: SchmidtBleibtreu, GG, 15. Aufl. 2022, Einleitung Rn. 215; Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, 1975, S. 49–53; Schladebach, Praktische Konkordanz als verfassungsrechtliches Kollisionsprinzip, Der Staat 53 (2014), 263 (278–283); Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, 864 ff.; Sodan, Unabhängigkeit und Methodik von Verfassungsrechtsprechung, in: Sodan (Hrsg.), Wechsel und Kontinuität im Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, 2001, S. 21 (24 f.); kritisch Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 12. Aufl. 2022, Rn. 774–776. 117 Lerche, Grundrechtsschranken, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 122 Rn. 29; Zivier, Der Wesensgehalt der Grundrechte, 1960, S. 60. 118 Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 26 Rn. 3 m.w.N. 119 BVerfGE 109, 279 (311); v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 209 f.; Chlosta, Der Wesensgehalt der Eigentumsgewährleistung, 1975, S. 47; de Wall, in: Berliner Kommentar GG, Losebl. (Stand: VII/12), Art. 19 I, II Rn. 82; Kaufhold, in: Dreier, GG, Bd. I, 4. Aufl. 2023, Art. 19 Abs. 2 Rn. 30 f.; Nierhaus, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Februar 2008), Art. 19 Abs. 2 Rn. 51–56. 120 BVerfGE 27, 1 (6 f.); 35, 202 (220); 54, 148 (153). 121 Grundlegend BVerfGE 6, 32 (36 f.). 122 Rixen, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 2 Rn. 60.
III. Handhabbarkeit der Wesensgehaltsgarantie
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tien nicht abschließend erfassen lassen“.123 Da die persönliche Lebenssphäre weit gefasst ist, können sich Beeinträchtigungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als unterschiedlich intensiv darstellen. Um diesen unterschiedlichen Eingriffen angemessen Rechnung zu tragen, hat das BVerfG die sog. Sphärentheorie entwickelt. Abhängig davon, ob der Eingriff in die Sozial-, Privat- oder Intimsphäre fällt, gelten unterschiedliche Anforderungen an die Rechtfertigung.124 Die innerste Sphäre, auch Intimsphäre genannt, soll der Einwirkung der gesamten öffentlichen Gewalt vollständig entzogen sein.125 Eingriffe sind nicht zu rechtfertigen. Die mittlere Sphäre, die sog. Privat- oder Geheimsphäre, ist Eingriffen zwar nicht schlechthin entzogen, solche sind aber nur „unter besonders strenger Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“ zulässig.126 Schließlich sind Eingriffe in die äußerste Sphäre (Sozialsphäre) nach denselben Maßstäben zu rechtfertigen wie Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) sonst auch.127 Diese Einteilung bzw. ihre Handhabung sind nicht ohne Kritik geblieben. Insbesondere die Annahme des Gerichts, dass ein Tagebucheintrag nicht zur Intimsphäre gehöre,128 stößt auf Widerspruch.129 Denn im Falle der Einsichtnahme in ein Tagebuch kann von einem letzten, dem Zugang der Hoheitsgewalt entzogenen Bereich keine Rede sein.130 Insgesamt lässt sich zwar festhalten, dass der absolut geschützte Kern vom BVerfG eher verbal behauptet wurde, in praxi aber bedeutungslos ist.131 Außerdem stellt sich die Frage, wofür man den Kernbereich benötigt, da es doch 123
BVerfGE 54, 148 (153). Auch bei anderen Grundrechten, wie Art. 10 GG oder Art. 13 GG, argumentiert das BVerfG mit einem Kernbereich privater Lebensgestaltung, was die vorliegende Argumentation zusätzlich verstärkt, vgl. F. Schneider, Kernbereich privater Lebensgestaltung, JuS 2021, 29 ff.; Schulenberg, Der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung bei heimlichen staatlichen Überwachungsmaßnahmen, in: Scheffczyk/Wolter (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 4, 2017, S. 123 ff.; Son, Grenzen der sog. „Kernbereichs-Dogmatik“ des Bundesverfassungsgerichts, in: FS Schenke, 2013, S. 525 ff. 125 BVerfGE 35, 35 (39). 126 BVerfGE 27, 344 (350–352). 127 Siehe hierzu Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 27 Rn. 17–20 m.w.N. 128 BVerfGE 80, 367 (376–380), allerdings ist diese Entscheidung nur mit 4:4 Stimmen ergangen, sodass nach dem damaligen § 15 III 3 BVerfGG (entspricht dem jetzigen § 15 IV 3 BVerfGG) kein Verfassungsverstoß festgestellt werden konnte. Vier Richter gingen hingegen davon aus, dass die Tagebuch-Aufzeichnungen „dem absolut geschützten Bereich privater Lebensgestaltung“ unterfielen, BVerfGE 80, 367 (380 f.). In BGHSt 50, 206 (210–216); 57, 71 (74–78) wurden heimlich abgehörte, nicht öffentliche Selbstgespräche strafprozessual nicht verwertet. 129 H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 2 Abs. 1 Rn. 92 f.; Hochhuth, Das abwägungsfeste Übermaßverbot als gesellschaftsvertragliche Gegenleistung, ARSP 92 (2006), 382 (386 f.). 130 H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 2 Abs. 1 Rn. 92 f. 131 Skepsis und Kritik bei Barczak, in: Dreier, GG, Bd. I, 4. Aufl. 2023, Art. 2 Abs. 1 Rn. 106 f. 124
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
die Wesensgehaltsgarantie gibt. Aber auch wenn die Sphären nicht sauber begründet werden, so zeigen sie doch, dass ein solches Modell entwickelbar ist. Die Wesensgehaltsgarantie kann im Unterschied zur Sphärentheorie auf konkretere textliche und entstehungsgeschichtliche Vorgaben verweisen. Überdies bedarf es bei ihr nur einer Grenzziehung (zwischen Kern- und Randbereich) und nicht zweier Grenzziehungen zwischen den drei Sphären. Schließlich hat der BGH die Kernbereichslehre aufgegriffen und in entscheidungserheblicher Weise angewandt. Bei Verstößen hat der BGH die entsprechenden Beweise nicht verwertet. Auch wenn das BVerfG noch keine Antastung des innersten Persönlichkeitsbereichs angenommen hat, so ist diese Figur jedoch zumindest richterlich handhabbar. Dass dies bei Art. 19 II GG nicht gelten sollte, erscheint nicht plausibel. c) Kollektive Koalitionsfreiheit, Art. 9 III GG Art. 9 III GG gewährleistet für jedermann und für alle Berufe das „Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen132 Vereinigungen zu bilden“. Die Koalitionsfreiheit des Art. 9 III GG schützt nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht nur die individuelle Koalitionsfreiheit, sondern auch die sog. kollektive Koalitionsfreiheit, also die Betätigung der Koalition selbst.133 Wegen Art. 19 III GG ist diese Rechtsprechungslinie umstritten,134 sie soll gleichwohl als Grundlage der weiteren Überlegungen dienen, denn das BVerfG führte im Hinblick auf die kollektive Koalitionsfreiheit zumindest früher aus, dass diese nur einen „Kernbereich“ koalitionsgemäßer Betätigung schütze.135 Aus diesem Grund wurde zum damaligen Zeitpunkt auch die Parallele zu Art. 19 II GG gezogen.136 An der zuvor skizzierten Rechtsprechung hält das BVerfG allerdings nicht mehr fest137 und es erteilt einem Kernbereich als eingriffsfester „Tabuzone“ im Sinne einer absolut verstandenen Wesensgehaltsdoktrin eine Absage.138 Bereits die frühere Kernbereichsrecht132 Zum Begriff „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ siehe Sodan, Verfassungsrechtliche Grenzen der Tarifautonomie, JZ 1998, 421 (422–426). 133 BVerfGE 50, 290 (367); 84, 212 (224); 88, 103 (114); Cornils, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 9 Rn. 44 (Stand: 15.8.2022); Schaks, Koalitionsfreiheit, in: Stern/Sodan/ Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. IV, 2. Aufl. 2022, § 127 Rn. 54 f. 134 Kritik zur BVerfG-Rechtsprechung Kemper, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 9 Rn. 138–140. 135 BVerfGE 38, 386 (393); 58, 233 (247). Kritik hieran von Kemper, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 9 Rn. 109. 136 Butzer, Verfassungsrechtliche Grundlagen zum Verhältnis zwischen Gesetzgebungshoheit und Tarifautonomie, RdA 1994, 375 (380). 137 BVerfGE 93, 352 (358–360). 138 So deutet Cornils, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 9 Rn. 58 (Stand: 15.8.2022) die Entscheidungen BVerfGE 103, 293 ff. und BVerfG(K), NZA 2005, 153 (154).
III. Handhabbarkeit der Wesensgehaltsgarantie
279
sprechungslinie war missverständlich.139 Jedenfalls nunmehr kann Art. 9 III GG nicht als Beispiel eines auch außerhalb von Art. 19 II GG praktizierten absoluten Kernbereichsschutzes herangezogen werden. Aber man kann der Rechtsprechung entnehmen, dass sie bestimmte Grundrechtsgehalte identifiziert hat, die besonders geschützt werden. Dies ist genau das, was auch Art. 19 II GG verlangt. d) Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung Hinsichtlich der Abgrenzung der Kompetenzen von Exekutive und Legislative, die oft bei parlamentarischen Untersuchungsausschüssen gem. Art. 44 I 1 GG und parlamentarischen Fragerechten (Art. 38 I 2 und Art. 20 II 2 GG140) virulent wird, spricht das BVerfG vom „Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung“.141 Die Verwendung des Begriffs „Kernbereich“ lässt diese Rechtsfigur für die vorliegende Untersuchung zunächst relevant erscheinen. In der Literatur wird gelegentlich vertreten, dass der Kernbereich absolut zu verstehen sei.142 Ein solches Verständnis dürfte allerdings nicht der Rechtsprechung des BVerfG entsprechen. Dieses hat von „dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung, der einen grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich der Regierung einschließt“,143 gesprochen. Die Verwendung des Wortes „grundsätzlich“ zeigt, dass Ausnahmen möglich sind. Dann aber ist der Kernbereich nicht absolut geschützt. Dies ergibt sich auch aus weiteren Ausführungen des BVerfG, das von einer Abwägung der widerstreitenden Interessen ausgeht und eine „Je-desto-Formel“ verwendet: „Informationen aus dem Bereich der Vorbereitung von Regierungsentscheidungen, die Aufschluss über den Prozess der Willensbildung geben, sind umso schutzwürdiger, je näher sie der gubernativen Entscheidung stehen. So kommt den Erörterungen im Kabinett besonders hohe Schutzwürdigkeit zu. Je weiter ein parlamentarisches Informationsbegehren in den innersten Bereich der Willensbildung der Regierung eindringt, desto gewichtiger muss das parlamentarische Informationsbegehren sein, um sich gegen ein von der Regierung geltend gemachtes Interesse an Vertraulichkeit durchsetzen zu können.“144 Diese Ausführungen bezogen sich allein auf abgeschlossene Vorgänge. Aber selbst noch nicht abgeschlossene Vorgänge, die noch strenger geschützt sind, können 139
D. Winkler, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 9 Rn. 145. Hierzu BVerfGE 124, 161 (188); 147, 50 (126). 141 Grundlegend BVerfGE 67, 100 (139). 142 So auch NdsStGH, NdsVBl. 1996, 189 (190). Siehe hierzu Unger, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 44 Rn. 44–49. 143 BVerfGE 146, 1 (40) – Hervorhebung nicht im Original. Ähnlich auch BVerfGE 67, 100 (139); 110, 199 (214); 124, 78 (120); 137, 185 (234); 143, 101 (137); 146, 1 (40, 42). 144 BVerfGE 110, 199 (222). Siehe auch BVerfGE 124, 78 (122). 140
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
Gegenstand einer parlamentarischen Frage oder eines Untersuchungsausschusses sein, wie die erneute explizite Verwendung des Wortes „grundsätzlich“ in einer Entscheidung des BVerfG aus dem Jahre 2017 zeigt: „Die Kontrollkompetenz des Bundestages erstreckt sich grundsätzlich nur auf bereits abgeschlossene Vorgänge; sie enthält nicht die Befugnis, in laufende Verhandlungen und Entscheidungsvorbereitungen einzugreifen.“145 Ob der Kernbereichsschutz durchgreift oder nicht, ist vielmehr im Einzelfall durch Abwägung zu ermitteln.146 Damit ist er aber nicht absolut und nicht strukturell mit der Wesensgehaltsgarantie in eins zu setzen. e) Zwischenergebnis: Handhabbarkeit von Kernbereichen Sphären- oder Kernbereichstheorien waren und sind Argumentationsfiguren des BVerfG in unterschiedlichen Kontexten. Sie gelang(t)en im Grundrechtsbereich (z.B. bei Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG, Art. 9 III GG sowie bei den Einrichtungsgarantien147) ebenso zur Anwendung wie im Staatsorganisationsrecht (z.B. Art. 33 IV, V GG,148 Art. 28 I GG,149 Abgrenzung der Kompetenzen von Legislative und Exekutive). Allerdings deuten sie in geringerem Maße in Richtung Art. 19 II GG, als es dem reinen Wortlaut nach den ersten Anschein haben mag. So ist beispielsweise die Kernbereichstheorie bei der kollektiven Koalitionsfreiheit gem. Art. 9 III GG aufgegeben worden, und der „Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung“ als staatsorganisationsrechtliche Argumentationsfigur im Zusammenhang mit Untersuchungsausschüssen und parlamentarischen Fragerechten ist relativ, nicht absolut zu verstehen.150 Das BVerfG bevorzugt den Abwägungsspielraum, aber auch bei diesen Vorschriften wurden zumindest teilweise unterschiedlich stark geschützte Inhalte ermittelt. Eher im Sinne einer absoluten Schranke können die Ausführungen zur Sphärentheorie und zur kommunalen Selbstverwaltungsgarantie gem. Art. 28 II 1 GG151 verstanden werden, denn immerhin in der Strafgerichtsbarkeit wird die Sphärentheorie mit absoluten Grenzen der Verwertbarkeit gehandhabt.152 Zwar lässt sich an diesen beiden Rechtsprechungslinien zu 145 BVerfGE 146, 1 (42) – unter Weglassung der weiteren Rechtsprechungszitate, Hervorhebung nicht im Original. 146 BVerfGE 110, 199 (219); 124, 78 (122). 147 Siehe hierzu bereits oben C. III. 6. g). 148 Siehe hierzu bereits oben C. III. 2. 149 Siehe hierzu bereits oben C. III. 3. 150 Demgegenüber wird für Art. 19 II GG von einem absoluten Verständnis ausgegangen, siehe unten D. IV. 2.–D. IV. 2. c). 151 Siehe hierzu oben C. III. 3. 152 BGHSt 50, 206 (210–216); 57, 71 (74–78) zur strafprozessualen Verwertbarkeit heimlich abgehörter, nicht öffentlicher Selbstgespräche.
III. Handhabbarkeit der Wesensgehaltsgarantie
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Art. 2 I i.V.m. 1 I GG einerseits und zu Art. 28 I GG andererseits kritisieren, dass sie sehr streng gehandhabt werden, wie z.B. die Tagebuch-Entscheidung153 zeigt. Auch bei der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie wurde bislang keine Kernbereichsantastung festgestellt. Jedoch spielte auch die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG bislang keine entscheidende Rolle in der Rechtsprechung des BVerfG, handelt es sich doch bei Art. 19 II GG um eine Vorschrift für Ausnahmesituationen. Sieht man diese Bemühungen der Ermittlung fester Grenzen als Unterfangen für Ausnahmesituationen an, dann spricht dies nicht gegen, sondern sogar für die Übertragung dieses Gedankens auf die demokratische Dekonsolidierung, denn immerhin hat das BVerfG die Intention, absolute Gehalte oder ein abgestuftes Schutzniveau mit einem besonders festen Kern zu ermitteln. Dabei scheint es davon auszugehen, dass die Bestimmung von Kerngehalten grundsätzlich möglich ist und nötig sein kann. Da Art. 19 II GG nach seinem Wortlaut und Telos diese Abgrenzung erzwingt, kann hiervon nicht wegen vermeintlicher oder tatsächlicher Schwierigkeiten Abstand genommen werden.154 Deshalb kann die Schwierigkeit der Abgrenzung nicht als Vorwand dienen, sich nicht mit der Vorschrift des Art. 19 II GG auseinanderzusetzen.
2. Anwendung im Europarecht Gelingt die Handhabung der Wesensgehaltsgarantie andernorts, überzeugt die Behauptung ihrer vermeintlich fehlenden Handhabbarkeit nicht. Sowohl das Unionsrecht als auch die EMRK kennen jeweils eine Wesensgehaltsgarantie der Grundrechte. Zunächst hat der EGMR mit dem Wesensgehaltsgedanken argumentiert,155 obwohl die EMRK selbst keine ausdrückliche Wesensgehaltsgarantie enthält.156 Beide Wesensgehaltsgarantien des europäischen Rechts werden im Folgenden auf ihre Handhabbarkeit untersucht. Die unionsrechtliche Verankerung der Wesensgehaltsgarantie des Art. 52 I 1 EUGrCh baut auf der Rechtsprechung des EuGH auf, der bereits vor dem Inkrafttreten der EUGrCh und ohne textliche Verankerung mit dem Wesensge153
BVerfGE 80, 367 ff. Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 840, 863, 871 f. Brüning, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 19 Rn. 42. 155 EGMR, Urt. v. 23.7.1968 – 1474/62, 1677/62, 1691/62, 1769/63, 1994/63, 2126/64, Rn. 5 bzw. B. Rn. 5 – Relating to certain aspects of the laws on the use of languages in education in Belgium v. Belgien, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–57525 (Stand: 10.8.2023). Siehe sogleich ausführlicher unter D. III. 2. b). 156 Marauhn/Mengeler, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, 3. Aufl. 2022, Kap. 7 Rn. 56. Vgl. auch Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 7. Aufl. 2021, § 18 Rn. 15. 154
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
halt argumentiert hat.157 Hierfür hat er sich auf die Rechtsprechung des EGMR und die gemeinsamen Überlieferungen der Mitgliedstaaten gestützt. Da die Wesensgehaltsgarantie als „eine originäre Neuschöpfung Nachkriegsdeutschlands“158 angesehen wird,159 lassen sich die Traditionen von Mitgliedstaaten ebenfalls auf das Vorbild des Art. 19 II GG zurückführen.160 Der Ursprung der Wesensgehaltsgarantie in den beiden europäischen Rechtsordnungen lässt sich somit zumindest vornehmlich in der deutschen Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG erblicken. Dies spricht umso mehr dafür, auf das europäische Recht zurückzugreifen. a) Wesensgehaltsgarantie des Art. 52 I 1 EUGrCh In Art. 52 I 1 EUGrCh wird der Wesensgehalt der europäischen Grundrechte161 gewährleistet. In der deutschen Fassung lautet die Vorschrift: „Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten.“ In der englischen und französischen Fassung ist von „respect the essence of those rights and freedoms“ bzw. „respecter le contenu essentiel desdits droits et libertés“ die Rede.162 Wird der Wesensgehalt 157 EuGH, Urt. v. 14.5.1974 – 4/73, ECLI:EU:C:1974:51 Rn. 14 – Nold KG/Kommission; Urt. v. 13.12.1979 – 44/79, ECLI:EU:C:1979:290 Rn. 23, 30 – Lieselotte Hauer; Urt. v. 13.7.1989 – 5/88, ECLI:EU:C:1989:321 Rn. 18 – Wachauf. 158 H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 Abs. 2 Rn. 1 m.w.N. So auch Marauhn/Mengeler in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, 3. Aufl. 2022, Kap. 7 Rn. 55; ähnlich Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 1: „neuartiges Institut“, S. 257–285 zu den internationalen Auswirkungen des Art. 19 II GG. Siehe aber auch Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 838, der auf eine – dem Parlamentarischen Rat wohl unbekannte – Parallele zu Art. 28 der Verfassung Argentiniens v. 1.5.1853 verweist. 159 Allerdings war die Bestimmung des Grundgesetzes nicht die erste deutsche Wesensgehaltsgarantie. Art. 19 II GG kann auf Vorläufer auf der Landesebene blicken, u.a. Art. 63 I HessVerf v. 1.12.1946, HessGVBl. I, 229 und Art. 123 I 1 BadVerf v. 18.5.1947, BadGVBl. 129. Hierzu und zu weiteren landesrechtlichen Vorläufern Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 838. 160 Siehe hierzu van Drooghenbroeck/Rizcallah, The ECHR and the Essence of Fundamental Rights: Searching for Sugar in Hot Milk?, German Law Journal 20 (2019), 904 (907); Marauhn/Mengeler, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, 3. Aufl. 2022, Kap. 7 Rn. 55. 161 Zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU siehe oben, C. III. 1. b) aa). Zur Entwicklung der Grundrechte in der EU Lenaerts, In Vielfalt geeint/Grundrechte als Basis des europäischen Integrationsprozesses, EuGRZ 2015, 353 ff. Auch im Hinblick auf die Unionsbürgerschaft gem. Art. 20 EUV hat der EuGH mit einem Kernbereich argumentiert, allerdings ist dieser „Kern“ der Abwägung zugänglich und damit gerade nicht absolut, vgl. Neier, Der Kernbestandsschutz der Unionsbürgerschaft, 2019, S. 70–87, 183–194; K. Hailbronner/Thym, Ruiz Zambrano – Die Entdeckung des Kernbereichs der Unionsbürgerschaft, NJW 2011, 2008 ff. 162 Siehe zu weiteren Sprachfassungen Brkan, The Concept of Essence of Fundamental Rights in the EU Legal Order, European Constitutional Law Review 14 (2018), 332 (333).
III. Handhabbarkeit der Wesensgehaltsgarantie
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nicht geachtet, ist eine Grundrechtsbeeinträchtigung nicht gerechtfertigt und die entsprechende Beeinträchtigung nichtig oder im Falle von nationalem Recht unanwendbar.163 Bereits vor der Ausarbeitung und Inkraftsetzung der EUGrCh164 sprach der EuGH davon, dass die europäischen Grundrechte nicht in ihrem Wesensgehalt angetastet werden dürften.165 Eine nähere Ausarbeitung dieser Position erfolgte jedoch nicht. Auch derzeit, selbst nach Ausarbeitung und Inkrafttreten der EUGrCh, muss es als ungeklärt gelten, was konkret den Wesensgehalt der Unionsgrundrechte ausmacht.166 Eine Definition fehlt,167 obwohl der EuGH mittlerweile in einigen Entscheidungen auf die Wesensgehaltsgarantie des Art. 52 I 1 EUGrCh eingegangen ist. Wie bei Art. 19 II GG ist auch bei Art. 52 I 1 EUGrCh umstritten, ob die Wesensgehaltsgarantie absolut oder relativ (Gleichsetzung mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip168) zu verstehen ist. Der EuGH prüft die Wahrung des Wesensgehalts mittlerweile zumeist als eigenständigen Punkt, was in der Literatur als eine Hinwendung zu einem absoluten Verständnis verstanden wird.169 Hierfür spricht systematisch auch die getrennte Formulierung des Gebots der Achtung des Wesensgehalts in Art. 52 I 1 EUGrCh einerseits und der Verhältnismäßigkeit in Art. 52 I 2 EUGrCh andererseits.170 Zwar ist die 163 EuGH, Urt. v. 6.10.2015 – C-362/14, ECLI:EU:C:2015:650 – Schrems; Lenaerts, Limits on Limitations: The Essence of Fundamental Rights in the EU, German Law Journal 20 (2019), 779 (779). 164 Hierzu Lenaerts, Exploring the Limits of the EU Charter of Fundamental Rights, European Constitutional Law Review 8 (2012), 375 ff. Qualität und Quantität wurden auch bei Art und Ausmaß der Kompetenzübertragungen auf die EU als maßgebliche Parameter identifiziert, siehe oben C. III. 1. b) bb). 165 So z.B. in EuGH, Urt. v. 14.5.1974 – 4/73, ECLI:EU:C:1974:51 Rn. 14 – Nold KG/ Kommission. Siehe zu den Anfängen dieser Judikatur Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 266–270; vgl. auch Krämer, in: Stern/Sachs, EUGrCh, 2016, Art. 52 Rn. 1–6, insbes. 6; v. Danwitz, in: Tettinger/Stern, EuGrCh, 2006, Art. 52 Rn. 2, 44. 166 C.G.H. Riedel, Die Grundrechtsprüfung durch den EuGH, 2020, S. 340, 341. 167 Gutmann, The Essence of the Fundamental Right to an Effective Remedy and to a Fair Trial in the Case-Law of the Court of Justice of the European Union: The Best Is Yet to Come?, German Law Journal 20 (2019), 884 (886). 168 Hiergegen Brkan, The Essence of the Fundamental Rights to Privacy and Data Protection: Finding the Way Through the Maze of the CJEU’s Constitutional Reasoning, German Law Journal 20 (2019), 864 (867–869). 169 Bock/Engeler, Die verfassungsrechtliche Wesensgehaltsgarantie als absolute Schranke, DVBl. 2016, 593 (594); Jarass, EUGrCh, 4. Aufl. 2021, Art. 52 Rn. 28; Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 52 EUGrCh Rn. 64; Pache, in: Pechstein/Nowak/ Häde, EUV/GRC/AEUV, Bd. I, 2017, Art. 52 EUGrCh Rn. 31; Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 52 EUGrCh Rn. 14. Zweifelnd Krämer, in: Stern/Sachs, EUGrCh, 2016, Art. 52 Rn. 58. A.A. P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 198 m.w.N. 170 Dies betonen auch C.G.H. Riedel, Die Grundrechtsprüfung durch den EuGH, 2020, S. 171; A. Schwerdtfeger, in: Meyer/Hölscheidt, EUGrCh, 5. Aufl. 2019, Art. 52 Rn. 34.
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
Linie des EuGH nicht ganz einheitlich, aber eine Analyse der Rechtsprechung des EuGH zur Wesensgehaltsgarantie soll ergeben haben, dass eine ganz überwiegende Mehrheit der einschlägigen Entscheidungen von einem absoluten Verständnis ausgeht.171 Der EuGH umschreibt den Wesensgehalt etwa mit der Formulierung „Grundrecht als solches nicht in Frage stellen“.172 Der derzeitige Präsident des EuGH, Koen Lenaerts, fordert, dass die Grundrechte „nicht ihrer Substanz beraubt werden dürften“.173 Diesen Formulierungen entsprechen Beschreibungen aus Rechtsprechung und Literatur zu Art. 19 II GG, was einerseits die Schwierigkeit einer prägnanten Inhaltserfassung der Wesensgehaltsgarantie, aber andererseits auch die Übertragbarkeit der europäischen Erkenntnisse auf die deutsche Rechtslage und vice versa widerspiegelt. Auch wenn es nunmehr einige Entscheidungen zu dem Verständnis von Art. 52 I 1 EUGrCh gibt, gehen diese zumeist nicht in die Tiefe. So wurde ohne ausführlichere Begründung und ohne Feststellung der Antastung des Wesensgehalts in den konkreten Fällen formuliert, dass z.B. der Wesensgehalt von Art. 7 EUGrCh deshalb nicht verletzt sei, weil die angegriffene Vorschrift nicht die Kenntnisnahme des Inhalts der elektronischen Kommunikation gestatte,174 dass die Abwesenheit jeglicher Vorschriften zum Datenschutz und zur Datensicherheit in einer datenschutzrechtlich sensiblen Regelung den Wesensgehalt von Art. 8 I EUGrCh175 und die Infragestellung des aktiven Wahlrechts den von Art. 39 II EUGrCh176 antasten würde. In der Eilentscheidung zu der richterlichen Unabhängigkeit in Polen hat der EuGH fest171
C.G.H. Riedel, Die Grundrechtsprüfung durch den EuGH, 2020, S. 329–340, insbes. 333 ff. Ein solches befürwortend Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 52 EUGrCh Rn. 64; Lenaerts, Limits on Limitations: The Essence of Fundamental Rights in the EU, German Law Journal 20 (2019), 779 (781, 786–788); A. Schwerdtfeger, in: Meyer/Hölscheidt, EUGrCh, 5. Aufl. 2019, Art. 52 Rn. 34; Tridimas/Gentile, The Essence of Rights: An Unreliable Boundary? German Law Journal 20 (2019), 794 (803, 805). 172 EuGH, Urt. v. 27.9.2017 – C-73/16, ECLI:EU:C:2017:725 Rn. 64 – Puškár. 173 Lenaerts, Die EU-Grundrechtecharta: Anwendbarkeit und Auslegung, EuR 2012, 3 (9). Siehe zu den verschiedenen – synonym zu gebrauchenden – Formulierungen des EuGH Gutmann, The Essence of the Fundamental Right to an Effective Remedy and to a Fair Trial in the Case-Law of the Court of Justice of the European Union: The Best Is Yet to Come?, German Law Journal 20 (2019), 884 (886 f.). 174 EuGH, Urt. v. 8.4.2014 – C-293/12 und C-594/12, ECLI:EU:C:2014:238 Rn. 39 – Digital Rights Ireland. Hierzu Reinhardt, Konturen des Europäischen Datenschutzgrundrechts, AöR 142 (2017), 528 (541 f.). 175 EuGH, Urt. v. 8.4.2014 – C-293/12 und C-594/12, ECLI:EU:C:2014:238 Rn. 40 – Digital Rights Ireland. Dazu Marsch, Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S. 184– 190. Zu weiteren Beispielen siehe Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 52 EUGrCh Rn. 15. 176 EuGH, Urt. v. 6.10.2015 – C-650/13, ECLI:EU:C:2015:648 Rn. 48 – Delvigne. Zu weiteren Beispielen siehe Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 52 EUGrCh Rn. 15.
III. Handhabbarkeit der Wesensgehaltsgarantie
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gestellt, dass die richterliche Unabhängigkeit zum Wesensgehalt des Rechts auf ein faires Verfahren gem. Art. 47 II EUGrCh gehöre.177 Allerdings finden sich – gleichsam negativ – Feststellungen, wann der Wesensgehalt jedenfalls nicht angetastet sei, so z.B. im Falle des bloßen Vorhandenseins einer Rahmenregelung für Massenentlassungen oder im Falle von Etikettierungs- und Werberegeln für Lebensmittel.178 Diese beiden Verneinungen einer Wesensgehaltsantastung erscheinen naheliegend und insgesamt wenig aussagekräftig. Gleichwohl stellen sie einen kleinen Baustein für ein umfassenderes Verständnis der Wesensgehaltsgarantie dar. Relevanter und interessanter dürfte die Entscheidung zu dem Datenschutzabkommen zwischen der EU und den USA (sog. Safe-harbor-Abkommen) sein, denn in dieser Entscheidung hat der EuGH – soweit ersichtlich zum ersten und einzigen Mal – judiziert, dass der Wesensgehalt von Grundrechten (Art. 7 sowie 47 EUGrCh) angetastet sei.179 „Insbesondere verletzt eine Regelung, die es den Behörden gestattet, generell auf den Inhalt elektronischer Kommunikation zuzugreifen, den Wesensgehalt des durch Art. 7 der Charta garantierten Grundrechts auf Achtung des Privatlebens […]. Desgleichen verletzt eine Regelung, die keine Möglichkeit für den Bürger vorsieht, mittels eines Rechtsbehelfs Zugang zu den ihn betreffenden personenbezogenen Daten zu erlangen oder ihre Berichtigung oder Löschung zu erwirken, den Wesensgehalt des in Art. 47 der Charta verankerten Grundrechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz. Nach Art. 47 I der Charta hat nämlich jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Insoweit ist schon das Vorhandensein einer wirksamen, zur Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts dienenden gerichtlichen Kontrolle dem Wesen eines Rechtsstaats inhärent […].“180
Der EuGH stützt sich somit inhaltlich auf die mögliche Kenntnisnahme des Inhalts der Daten. Er stuft die Kenntnisnahme des Kommunikationsinhalts als 177 EuGH, Urt. v. 25.7.2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 47 – Minister for Justice and Equality/LM. Säcker, Richterliche Unabhängigkeit – Der Kern der Gewaltenteilung, NJW 2018, 2375 (2375) spricht vom „Wesensmerkmal des modernen Rechtsstaats“. 178 EuGH, Urt. v. 21.12.2016 – C-201/15, ECLI:EU:C:2016:972 Rn. 84 – AGET Iraklis bzw. EuGH, Urt. v. 17.12.2015 – C-157/14, ECLI:EU:C:2015:823 Rn. 71 – Neptune Distribution. Zu diesen und weiteren Beispielen siehe Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 52 EUGrCh Rn. 15. 179 EuGH, Urt. v. 6.10.2015 – C-362/14, ECLI:EU:C:2015:650 Rn. 94 f. – Schrems. In einem anderen Fall stellte der EuGH immerhin fest, dass eine andere als die von ihm vorgenommene Auslegung des Sekundärrechts zu einer Antastung des Wesensgehalts führen würde, vgl. EuGH, Urt. v. 18.7.2013 – C-426/11, ECLI:EU:C:2013:521 Rn. 35 f. – AlemoHerron. 180 EuGH, Urt. v. 6.10.2015 – C-362/14, ECLI:EU:C:2015:650 Rn. 94 f. – Schrems. Siehe hierzu Brkan, The Concept of Essence of Fundamental Rights in the EU Legal Order, European Constitutional Law Review 14 (2018), 332 (352–355).
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
gravierender ein als die bloße Kenntnis der Gesprächsumstände (z.B. Dauer des Telefonats). Weiterhin ist für den EuGH das Ausmaß der Kenntnisnahme relevant, da er die „generelle“ Zugriffsmöglichkeit bemängelt. Somit kann man auf das Ausmaß der Beeinträchtigung (Quantität), die Intensität der Beeinträchtigung und die Bedeutung des vom Eingriff betroffenen Aspekts für das Grundrecht (Qualität) abstellen.181 Außerdem soll die Effektivität des Grundrechtsschutzes dadurch abgesichert werden, dass ein hinreichender Rechtsschutzmechanismus besteht. Die Einhaltung des Rechts soll in einem rechtsstaatlichen Verfahren gesichert werden können. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass das Unionsrecht vor denselben Schwierigkeiten steht wie das nationale Recht, wenn es darum geht, den Wesensgehalt der Grundrechte zu ermitteln.182 Aufgrund der großen Nähe von Art. 19 II GG und Art. 52 I 1 EUGrCh kann zwar grundsätzlich auf das Unionsrecht zurückgegriffen werden, um den Inhalt der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG zu ermitteln. In der Sache ist dies – zumindest derzeit – noch nicht fruchtbringend, da auch der EuGH über keine klare Methodik183 verfügt und Art. 52 I 1 EUGrCh noch nicht mit Leben gefüllt hat. Allerdings ist die Erwartung, dass ein Gericht, das über einen Einzelfall entscheidet, in einer oder einigen wenigen Entscheidungen ein konsistentes, dogmatisch überzeugendes und allumfassendes Verständnis der Wesensgehaltsgarantie präsentiert, unrealistisch. So erscheint das schrittweise, teils apodiktisch wirkende Vorgehen des EuGH trotz aller Kritik hilfreicher als ein völliges Schweigen eines Höchstgerichts. Eine Entfaltung der Wesensgehaltsgarantie kann auch etappenweise und tastend erfolgen. So hat der EuGH zunächst negativ formuliert, die fehlende Möglichkeit der Kenntnisnahme des Kommunikationsinhalts führe dazu, dass keine Antastung des Wesensgehalts des Art. 7 EUGrCh vorliege.184 Etwas später hat er dann positiv formuliert und erstmals eine Wesensgehaltsantastung angenommen, weil die Möglichkeit der Kenntniserlangung des Inhalts der Kommunikation vorlag.185
181 Hierzu Lenaerts, Limits on Limitations: The Essence of Fundamental Rights in the EU, German Law Journal 20 (2019), 779 (785). 182 So wird auch hinsichtlich des Unionsrechts die Frage aufgeworfen, ob die Wesensgehaltsgarantie subjektiv oder objektiv zu verstehen sei, vgl. Tridimas/Gentile, The Essence of Rights: An Unreliable Boundary? German Law Journal 20 (2019), 794 (804). 183 C.G.H. Riedel, Die Grundrechtsprüfung durch den EuGH, 2020, S. 340. Aber Lenaerts, Limits on Limitations: The Essence of Fundamental Rights in the EU, German Law Journal 20 (2019), 779 (785) nennt immerhin die Intensität der Beeinträchtigung und ihr Ausmaß („[…] one must not only examine the intensity, but also the extent, of the limitation at issue […]“). 184 EuGH, Urt. v. 8.4.2014 – C-293/12 und C-594/12, ECLI:EU:C:2014:238 Rn. 39 – Digital Rights Ireland. 185 EuGH, Urt. v. 6.10.2015 – C-362/14, ECLI:EU:C:2015:650 Rn. 94 f. – Schrems.
III. Handhabbarkeit der Wesensgehaltsgarantie
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Immerhin bestätigt die Tendenz des Unionsrechts, die Wesensgehaltsgarantie des Art. 52 I 1 EUGrCh absolut zu verstehen, ein entsprechendes Verständnis auch im nationalen Recht und lässt die Kritik, dass dies nicht möglich sein soll, weniger überzeugend erscheinen. b) Wesensgehaltsrechtsprechung des EGMR In der EMRK ist eine Wesensgehaltsgarantie nicht explizit verankert.186 Gleichwohl hat die Argumentation mit dem Wesensgehalt der Menschenrechte einen festen Platz auch in der Rechtsprechung des EGMR. Allerdings werden unterschiedliche Wörter für die Beschreibung des Wesensgehalts verwendet: So ist im Englischen von „essence“ (Wesen)187, „substance“ (Substanz)188 oder auch „core“ (Kern)189, im Französischen von „contenu essentiel“ (Wesensgehalt), „substance“ (Substanz) oder „l’essence“ (Wesen)190 die Rede. Diese Wörter sind jedoch synonym zu verstehen.191 Die verwendeten Begriffe bzw. Umschreibungen decken sich mit denen, die auch in Rechtsprechung und Literatur zur inhaltlichen Annäherung an Art. 19 II GG und Art. 52 I 1 186 E. Klein, Wesensgehalt von Menschenrechten. Eine Studie zur Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: FS Delbrück, 2005, S. 385 (386). Vereinzelt wird auf Art. 17, Art. 18 EMRK rekurriert, vgl. EGMR (abw. Meinung Serghides), Urt. v. 19.9.2017 – 35289/11, S. 63 f. Rn. 50 f. – Regner v. Tschechien, http://hudoc.echr.coe.int/ eng?i=001–177299 (Stand: 10.8.2023). Vgl. auch Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 271, 272. Umfassend zur EMRK van Drooghenbroeck, La proportionnalité dans le droit de la convention européenne des droits de l’homme, 2001, Rn. 476–668. 187 EGMR, Urt. v. 28.5.1985 – 8225/78, Rn. 57, 59 – Ashingdane v. UK, http://hudoc. echr.coe.int/eng?i=001–57425 (Stand: 10.8.2023); Urt. v. 15.3.2018 – 51357/07, Rn. 114 – Naït-Liman v. Schweiz, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–181789 (Stand: 10.8.2023). 188 EGMR, Urt. v. 23.7.1968 – 1474/62, 1677/62, 1691/62, 1769/63, 1994/63, 2126/64, Rn. 5 – Relating to certain aspects of the laws on the use of languages in education in Belgium v. Belgien, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–57525; EGMR (abw. Meinung Wojtyczek), Urt. v. 15.3.2018 – 51357/07, Rn. 8 – Naït-Liman v. Schweiz, http://hudoc.echr.coe.int/ eng?i=001–181789 (Stand: 10.8.2023). 189 EGMR (abw. Meinung Serghides), Urt. v. 19.9.2017 – 35289/11, S. 64 Rn. 53 – Regner v. Tschechien, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–177299 (Stand: 10.8.2023). 190 Vgl. van Drooghenbroeck, La proportionnalité dans le droit de la convention européenne des droits de l’homme, 2001, Rn. 476 f., passim. 191 So verwendet der Richter Wojtyczek die Wörter „essence“ und „substance“ in derselben Randnummer seiner abweichenden Meinung nebeneinander und offensichtlich als Synonyme, vgl. EGMR (abw. Meinung Wojtyczek), Urt. v. 15.3.2018 – 51357/07, Rn. 8 – NaïtLiman v. Schweiz, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–181789; ähnlich EGMR (abw. Meinung Serghides), Urt. v. 19.9.2017 – 35289/11, S. 63 f. Rn. 49, 53 (hier werden „essence“ und „core“ gleichgesetzt) – Regner v. Tschechien, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–177299 (Stand jeweils: 10.8.2023); Smet, Resolving Conflicts between Human Rights, 2017, S. 158 f. Siehe hierzu insgesamt van Drooghenbroeck/Rizcallah, The ECHR and the Essence of Fundamental Rights: Searching for Sugar in Hot Milk?, German Law Journal 20 (2019), 904 (904, 906).
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
EUGrCh herangezogen werden. Die erste Argumentation mit dem Wesensgehalt in der Rechtsprechung des EGMR lässt sich – soweit ersichtlich – im Jahre 1968 finden. Dort hieß es in einem Urteil: „Es versteht sich von selbst, dass eine solche Regelung niemals die Substanz des Rechts auf Bildung verletzen darf noch mit anderen in der Konvention verankerten Rechten konfligieren darf.“192
Seitdem wurde dieses Argumentationsmuster immer wieder aufgegriffen, allerdings nicht nur im Sinne einer Schranken-Schranke, sondern auch als Mittel zur Bestimmung des Anwendungsbereichs und der Reichweite von Menschenrechten193 sowie zur Bestimmung des Gewichts bei Abwägungsentscheidungen194. Diese beiden Aspekte sollen indes nicht vertieft werden, da sich die vorliegende Untersuchung dem Verständnis der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG als Grenze der Beschränkungsmöglichkeiten (Schranken-Schranke) von Grundrechten widmet. Auch die Rechtsprechung des EGMR zeichnet sich insgesamt durch eine pragmatische, einzelfallbezogene Argumentation, nicht durch eine systematisch-kohärente Dogmatik aus.195 Dies wirkt sich insbesondere auch auf die aus dem deutschen und dem Unionsrecht bekannte Frage aus, ob der Wesensgehalt absolut196 oder relativ zu bestimmen ist.197 Eine eindeutige Position lässt sich der Rechtsprechung des 192 EGMR, Urt. v. 23.7.1968 – 1474/62, 1677/62, 1691/62, 1769/63, 1994/63, 2126/64, Rn. 5, relating to certain aspects of the laws on the use of languages in education in Belgium v. Belgien, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–57525 (Stand: 10.8.2023) – Hervorhebung nicht im Original. Das englische Original lautet. „It goes without saying that such regulation must never injure the substance of the right to education nor conflict with other rights enshrined in the Convention.“ Siehe zu dieser Entscheidung auch Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 273 f. 193 Hierzu van Drooghenbroeck/Rizcallah, The ECHR and the Essence of Fundamental Rights: Searching for Sugar in Hot Milk?, German Law Journal 20 (2019), 904 (913–917). 194 Vgl. van Drooghenbroeck/Rizcallah, The ECHR and the Essence of Fundamental Rights: Searching for Sugar in Hot Milk?, German Law Journal 20 (2019), 904 (917–922). 195 So das Fazit bei Brkan, The Concept of Essence of Fundamental Rights in the EU Legal Order, European Constitutional Law Review 14 (2018), 332 (349); van Drooghenbroeck/ Rizcallah, The ECHR and the Essence of Fundamental Rights: Searching for Sugar in Hot Milk?, German Law Journal 20 (2019), 904 (905, 910). Siehe zu den Anfängen dieser Judikatur Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 271–278; E. Klein, Wesensgehalt von Menschenrechten. Eine Studie zur Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: FS Delbrück, 2005, S. 385 (386–391). 196 Dies favorisierend EGMR (abw. Meinung Costa), Urt. v. 12.7.2001 – 42527/98 – Prince Hans-Adam II von Liechtenstein v. Deutschland, http://hudoc.echr.coe.int/ eng?i=001–59591 (Stand: 10.8.2023). Siehe zum Verhältnis von Wesensgehaltsgarantie und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz E. Klein, Wesensgehalt von Menschenrechten. Eine Studie zur Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: FS Delbrück, 2005, S. 385 (395–398). 197 Hierzu aus deutscher Sicht unten D. IV. 2.
III. Handhabbarkeit der Wesensgehaltsgarantie
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EGMR in dieser Hinsicht indes nicht entnehmen.198 Allerdings wird die Auffassung vertreten, dass der EGMR, wenn es um Kerngehalte oder den Wesensgehalt der Grundrechte gehe, einen stärker kategorialen Stil im Unterschied zum ansonsten üblichen abwägungsorientierten Argumentationsstil pflege.199 Dieser kategoriale Stil verzichte auf Abwägungen und zeichne dadurch „rote Linien“.200 Ebenfalls offen ist, ob der Wesensgehalt sich auf die individuelle Rechtsposition oder das Menschenrecht insgesamt beziehen muss.201 Insgesamt zeigen sich dieselben Probleme bei der Entfaltung der Wesensgehaltsgarantie wie im deutschen und im Unionsrecht. Das ist angesichts der gedanklichen und geschichtlichen Nähe der Figuren auch zu erwarten. Aber immerhin gibt es einzelne Elemente, die als Bausteine zur Entwicklung einer Methode des Verständnisses der Wesensgehaltsgarantie herangezogen werden können. So kann bei einer Wortlautanalyse eine Annäherung über die bereits erwähnten Synonyme wie „Kern“ oder „Substanz“ erfolgen. Darüber hinaus kann die Heranziehung von positiven („das, was den Charakter ausmacht“) und negativen Elementen („keine Aushöhlung“ etc.) hilfreich sein. Dieser zweite Aspekt erscheint insbesondere dann vielversprechend, wenn eine umfangreiche Judikatur zu verschiedenen Facetten eines Grundrechts besteht, also nebensächlichere Gehalte den essenziellen gegenübergestellt werden können. So hat der EGMR zwar entschieden, dass Straßenblockaden und andere physische Behinderungen des Straßenverkehrs von der Versammlungsfreiheit geschützt würden, aber nicht den Kern („core“) der von Art. 11 EMRK geschützten Versammlungsfreiheit ausmachten.202 In Entscheidungen, in denen der EGMR eine Antastung der Wesensgehaltsgarantie annahm, ging er ähnlich kasuistisch und apodiktisch vor (wie später auch der EuGH). So formulierte das Straßburger Gericht: 198
So EGMR (abw. Meinung Wojtyczek), Urt. v. 15.3.2018 – 51357/07, Rn. 8 – Naït-Liman v. Schweiz, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–181789 (Stand: 10.8.2023); Brkan, The Concept of Essence of Fundamental Rights in the EU Legal Order, European Constitutional Law Review 14 (2018), 332 (349); van Drooghenbroeck/Rizcallah, The ECHR and the Essence of Fundamental Rights: Searching for Sugar in Hot Milk?, German Law Journal 20 (2019), 904 (905, 910, passim); E. Klein, Wesensgehalt von Menschenrechten. Eine Studie zur Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: FS Delbrück, 2005, S. 385 (394). 199 V. Bogdandy/Hering, Im Namen des Europäischen Clubs rechtsstaatlicher Demokratien, JZ 2020, 53 (59). 200 V. Bogdandy/Hering, Im Namen des Europäischen Clubs rechtsstaatlicher Demokratien, JZ 2020, 53 (59). 201 Hierzu EGMR (abw. Meinung Wojtyczek), Urt. v. 15.3.2018 – 51357/07, Rn. 8 – NaïtLiman v. Schweiz, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–181789 (Stand: 10.8.2023). Hierzu aus deutscher Sicht oben D. IV. 1. 202 EGMR, Urt. v. 15.10.2015 – 37553/05, Rn. 97–99 – Kudrevičius u.a. v. Litauen, https:// hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–158200 (Stand: 10.8.2023).
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
„Darüber hinaus stellt das Gericht fest, dass die Behörden versucht haben, die Gültigkeit der vorliegenden Klage und damit die Glaubwürdigkeit des Klägers in Zweifel zu ziehen. Diese Handlungen können nur als Versuch gewertet werden, die erfolgreiche Verfolgung der Ansprüche des Klägers zu verhindern, was auch eine Verneinung des Wesens des Rechts auf eine individuelle Petition darstellt.“203 [Übersetzung des Verfassers] „Der Gerichtshof hat daher geprüft, ob die Zuordnung des Geschlechts im nationalen Recht zu dem bei der Geburt eingetragenen Geschlecht eine Beschränkung darstellt, die das Wesen des Rechts auf Eheschließung im vorliegenden Fall beeinträchtigt. Insoweit stellt er fest, dass die Behauptung, postoperativen Transsexuellen sei das Recht auf Eheschließung nicht vorenthalten worden, künstlich ist, da sie nach dem Gesetz weiterhin eine Person ihres früheren anderen Geschlechts heiraten können. Die Klägerin in diesem Fall lebt als Frau, ist in einer Beziehung mit einem Mann und möchte nur einen Mann heiraten. Sie hat keine Möglichkeit, dies zu tun. Nach Ansicht des Gerichtshofes kann sie daher geltend machen, dass ihr Recht auf Eheschließung in seinem Wesensgehalt verletzt worden ist.“204 [Übersetzung des Verfassers]
Diese beiden Zitate sprechen jedenfalls dafür, dass die Wesensgehaltsgarantie (auch) auf die individuelle Rechtsposition bezogen sein kann.205 Darüber hinausgehende allgemeine Ableitungen wird man jedoch schwerlich treffen können, sodass auch die Wesensgehaltsgarantie der EMRK weiterer Analysen bedarf.206 Wie der polnische Richter Krzysztof Wojtyczek zutreffend ausführt, kann der Adressat der Wesensgehaltsgarantie ohne klare Kenntnis des Wesensgehalts seiner Verpflichtung nicht nachkommen und Rechtssicherheit nicht erreicht werden.207 Dies gilt zwar nicht nur für die Wesensgehaltsgaran203
EGMR, Urt. v. 18.6.2002 – 25656/94, Rn. 410, Orhan v. Türkei, https://hudoc.echr. coe.int/eng?i=001–60509 (Stand: 10.8.2023) – Hervorhebung nicht im Original. Im englischen Wortlaut: „In addition, the Court finds that an attempt was made by the authorities to cast doubt on the validity of the present application and thereby on the credibility of the applicant. These actions cannot but be interpreted as a bid to try to frustrate the applicant’s successful pursuance of his claims, which also constitutes a negation of the very essence of the right of individual petition.“ 204 EGMR, Urt. v. 11.7.2002 – 28957/95, Rn. 110, Goodwin v. UK, https://hudoc.echr. coe.int/eng?i=001–60596 (Stand: 10.8.2023) – Hervorhebung nicht im Original. Im englischen Wortlaut: „The Court has therefore considered whether the allocation of sex in national law to that registered at birth is a limitation impairing the very essence of the right to marry in this case. In that regard, it finds that it is artificial to assert that post-operative transsexuals have not been deprived of the right to marry as, according to law, they remain able to marry a person of their former opposite sex. The applicant in this case lives as a woman, is in a relationship with a man and would only wish to marry a man. She has no possibility of doing so. In the Court’s view, she may therefore claim that the very essence of her right to marry has been infringed.“ 205 Hierzu im deutschen Recht unter D. IV. 2. 206 Van Drooghenbroeck/Rizcallah, The ECHR and the Essence of Fundamental Rights: Searching for Sugar in Hot Milk?, German Law Journal 20 (2019), 904 (905). 207 EGMR (abw. Meinung Wojtyczek), Urt. v. 15.3.2018 – 51357/07, Rn. 8 – Naït-Liman v. Schweiz, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–181789 (Stand: 10.8.2023).
III. Handhabbarkeit der Wesensgehaltsgarantie
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tie,208 sondern für das Recht allgemein. Im Falle von rechtlichen Bindungen muss stets erkennbar sein, worin die Bindung besteht und wieweit sie reicht, anderenfalls entstehen Rechtsunsicherheit und Rechtsunklarheit. Da das Erfordernis von Rechtsklarheit auch für die Wesensgehaltsgarantie gilt, ist die Ermittlung des Wesensgehalts der Grundrechte weiterhin relevant – angesichts der Gefahr der demokratischen Dekonsolidierung möglicherweise relevanter denn je.
3. Zwischenergebnis: Handhabbarkeit von Wesensgehaltsgarantien Art. 19 II GG ist eine Vorschrift des geltenden Rechts. Als solche hat sie einen Inhalt. Auch wenn die hohen Erwartungen des Verfassungsgebers an diese Vorschrift nicht erfüllt wurden oder gar erfüllbar sein mögen, so entbindet dies dennoch nicht von der Inhaltsbestimmung. Praktische Schwierigkeiten der Auslegung sind – erst recht bei einer so zentralen Vorschrift – kein ausreichender Grund für eine unterlassene Inhaltspräzisierung. Schwierige Abgrenzungen verlangt die Verfassungsordnung auch andernorts, wo sie zumindest einigermaßen bewältigt werden. Dass dies bei der Wesensgehaltsgarantie ausgeschlossen sein sollte, kann nicht angenommen werden. So zeigen die Beispiele der Einrichtungsgarantien,209 des Kernbereichs der Garantie kommunaler Selbstverwaltung,210 die Sphärentheorie des allgemeinen Persönlichkeitsrechts211 sowie die zu beachtenden Grundsätze des Art. 33 IV, V GG,212 dass auch in anderen Kontexten eine Abgrenzung von Kern- und Randbereich gelingen kann. Hierfür sprechen auch die Rechtsprechungslinien des EuGH und des EGMR zu den Wesensgehaltsgarantien der EUGrCh und der EMRK. Trotz der bislang geringen Praxisbedeutung und der nur symbolischen Funktion wird auch in der gegenwärtigen Literatur Art. 19 II GG weiterhin als bedeutsam angesehen, selbst von Autoren,213 die Art. 19 II GG keinen besonderen Inhalt beimessen.214 Eine Abschaffung der Vorschrift, wie dies in Südafrika mit der Schwestervorschrift des Art. 33(I)(b) IC geschah, wird für 208
Heintzen, Die „Herrschaft“ über die Europäischen Gemeinschaftsverträge, AöR 119 (1994), 564 (569) weist darauf hin, dass das BVerfG zwar absolute Grenzen für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU setzt, dass diese Grenzen aber von den anderen Gewalten nicht sicher erkennbar seien, was eine „mißliche Konsequenz“ habe. 209 Siehe hierzu oben C. III. 6. g). 210 Siehe hierzu oben C. III. 3. 211 Siehe hierzu oben D. III. 1. b). 212 Siehe hierzu oben C. III. 2. 213 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 234–236. 214 Zu diesem Widerspruch aus südafrikanischer Sicht I. M. Rautenbach, General provisions of the South African bill of rights, 1995, S. 105.
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
die Bundesrepublik Deutschland nicht erörtert. Aus der südafrikanischen Perspektive deutet Ignatius Michael Rautenbach diesen Befund dahin gehend, dass durch die strenge Formulierung des Art. 19 II GG allen drei staatlichen Gewalten unmissverständlich vor Augen geführt werden solle, dass die Möglichkeit der Grundrechtsbeschränkung nicht missbraucht werden dürfe.215 Stellt sich die demokratische Dekonsolidierung als Missbrauch demokratischer Gestaltungsmacht dar, werden Instrumente gegen einen etwaigen Missbrauch benötigt. Ein solches Instrument könnte dann die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG sein,216 was sich zwanglos mit der traditionellen Interpretation des Art. 19 II GG vereinbaren lässt. Unmissverständlich, wie es bei Ignatius Michael Rautenbach heißt, kann den Staatsgewalten das Missbrauchsverbot des Art. 19 II GG jedoch nur dann vor Augen geführt werden, wenn der Inhalt des Verbots klar ist. Hieran fehlt es jedoch im deutschen Recht.
IV. Verständnis der Wesensgehaltsgarantie Da die Wesensgehaltsgarantie – zumindest ihre theoretischen Aspekte betreffend – erschöpfend literarisch aufbereitet ist, sollen diese literarischen Diskussionen217 hier nicht erneut aufgerollt werden. An dieser Stelle erfolgt eine – begründete – Offenlegung des zugrunde liegenden Verständnisses des Art. 19 II GG, denn die Entfaltung des Wesensgehalts der Grundrechte krankt nicht daran, dass über Art. 19 II GG zu wenige Theorien bestünden, sondern an der fehlenden praktischen Anwendung.218 Die Monografien zur Wesensgehaltsgarantie befassen sich mit dieser Bestimmung zumeist abstrakt, ohne die Erkenntnisse auf ein Grundrecht konkret anzuwenden.219 Allenfalls werden die Extrembeispiele der lebenslangen Freiheitsentziehung220 und des polizeilichen 215
I. M. Rautenbach, General provisions of the South African bill of rights, 1995, S. 105. Ein anderes Instrument ist Art. 79 III GG: „Art. 79 Abs. 3 GG als Schranke für den verfassungsändernden Gesetzgeber hat den Sinn, zu verhindern, daß die geltende Verfassungsordnung in ihrer Substanz, in ihren Grundlagen auf dem formal-legalistischen Weg eines verfassungsändernden Gesetzes beseitigt und zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes mißbraucht werden kann.“, BVerfGE 30, 1 (24) – Hervorhebung nicht im Original. 217 Die Rechtsprechung hat bislang nicht in entscheidungserheblicher Weise die Wesensgehaltsgarantie herangezogen. 218 Leisner-Egensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 71. 219 Pars pro toto Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, 2005. Anders aber die Auswertung der einschlägigen Rechtsprechung am Ende der Kommentierung zu Art. 19 II GG bei P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 172–178. 220 Erichsen, Zur Verfassungswidrigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe, NJW 1976, 1721 ff. Siehe hierzu sogleich unter D. IV. 2. c). 216
IV. Verständnis der Wesensgehaltsgarantie
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Rettungsschusses221 genannt, um aus diesen Sonderkonstellationen allgemeine Folgerungen für alle Grundrechte abzuleiten. Teilweise werden auch schwer verständliche Mischformen propagiert. So plädiert Peter Häberle z.B. für ein „Sowohl-als-auch“ von absoluten und relativen Gehalten.222 Demgegenüber gehen die Kommentierungen der Einzelgrundrechte zumeist nicht systematisch auf den Wesensgehalt der jeweiligen Vorschrift ein. Seltene Ausnahmen bei der literarischen Befassung mit der Wesensgehaltsgarantie stellen etwa die Prüfung des Anmeldeerfordernisses des § 14 VersG am Maßstab des Art. 8 I GG i.V.m. Art. 19 II GG,223 die Nennung von Schreib- und Publikationsverboten im Falle der Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 III GG224 und des Verbots der passiven Bewaffnung auf Versammlungen225 dar.
1. Die Wesensgehaltsgarantie bezieht sich auf das objektive Grundrecht und die individuelle Rechtsposition Umstritten ist zunächst, ob sich der Schutz der Wesensgehaltsgarantie nur auf das Grundrecht als Rechtsnorm des objektiven Rechts oder auch (subjektiv) auf die individuelle Rechtsposition des einzelnen Grundrechtsträgers226 bezieht.227 Dies war auch eine Frage, die das südafrikanische Verfassungsgericht unter Geltung der Interimsverfassung mit Art. 33(I)(b) IC beschäftigte,228 letztlich aber offenließ. Mit der Ersetzung der Interimsverfassung durch die aktuelle Verfassung, die keine dem Art. 19 II GG vergleichbare Vorschrift mehr enthält, hatte sich die Frage für das südafrikanische Verfassungsrecht erledigt. 221
Siehe hierzu sogleich unter D. IV. 2. a). Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 327. Was daraus genau folgen soll, wird jedoch nicht deutlich. Dies gilt umso mehr, als auf S. 61 das Sozialstaatsprinzip, die Grundrechte Dritter und das Strafrecht in die Wesensgehaltsgarantie hineingelesen werden. 223 W.-R. Schenke, Anmerkung zum Urteil des BVerfG v. 14.5.1985, 1 BvR 233/81 (Brokdorf-Entscheidung), JZ 1986, 35 ff. Enders, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 19 Rn. 31.3 (Stand: 15.5.2023), nennt die Auflösung einer Versammlung allein wegen fehlender Anmeldung. 224 Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 876. 225 Wolski, Die Wende im Demonstrationsrecht, KJ 1983, 272 (282). 226 Das BVerfG hat dies teilweise ausdrücklich offengelassen, vgl. BVerfGE 2, 266 (285). Befürwortend W. Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 153. Siehe auch Schaks, Die Wesensgehaltsgarantie, Art. 19 II GG, JuS 2015, 407 (408); Schaks, Schutz des Wesensgehalts der Grundrechte, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. III, 2. Aufl. 2022, § 88 Rn. 17–19. 227 Dass jedenfalls die objektive Grundrechtsbestimmung erfasst ist, dürfte unstreitig sein, siehe nur de Wall, in: Berliner Kommentar GG, Losebl. (Stand: VII/12), Art. 19 I, II Rn. 110; Scherzberg, Grundrechtsschutz und „Eingriffsintensität“, 1989, S. 210 f.; L. Schneider, Der Schutz des Wesensgehalts von Grundrechten nach Art. 19 Abs. 2 GG, 1983, S. 87. 228 Siehe hierzu CC, 6.6.1995 – CCT/3/94 – The State v. Makwanyane, http://www.saf lii.org/za/cases/ZACC/1995/3.html (Stand: 10.8.2023). 222
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
Für eine rein objektive Deutung wird angeführt, dass es Sonderkonstellationen gibt, in denen dem Einzelnen nichts vom subjektiven Grundrechtsgehalt übrig bleibt, z.B. beim tödlichen polizeilichen Rettungsschuss.229 In der mündlichen Verhandlung zur Makwanyane-Entscheidung des südafrikanischen Verfassungsgerichts, der ersten mündlichen Verhandlung des Gerichts überhaupt, ging es um die Vereinbarkeit der Todesstrafe mit der Verfassung. Die Richter lehnten die subjektive Ansicht wohl ab,230 ohne dass es hierauf entscheidungserheblich ankam. Möglicherweise hat hierfür eine Rolle gespielt, dass das Recht auf Leben für Abstufungen nicht zugänglich ist (ausgenommen allenfalls die Lebensgefährdung, die sich nicht realisiert), wie es bei anderen Grundrechten unproblematischer der Fall ist. Dies lässt ein subjektives Verständnis zumindest im Grundsatz weniger plausibel erscheinen. Die Grundrechte sind jedoch primär subjektive Rechte des Einzelnen, mit deren Hilfe er sich gegen staatliches Handeln zur Wehr setzen kann.231 Das ist für die Grundrechte unter dem Grundgesetz – anders als unter der Geltung der Reichsverfassung von Weimar – konstitutiv (vgl. Art. 1 III GG). Dies muss dann auch für den Wesensgehalt des Grundrechts maßgeblich sein.232 Somit kann bereits dann der Wesensgehalt angetastet sein, wenn bei personalisierter Betrachtung für einen Einzelnen nichts mehr von seiner Grundrechtsverbürgung übrig bleibt. Hierfür spricht auch die Rechtsprechung des EGMR.233 Allerdings ist diese Streitfrage für den vorliegenden Zusammenhang weniger relevant, denn die untersuchte demokratische Dekonsolidierung 229 Herzog, Grundrechte aus der Hand des Gesetzgebers, in: FS Zeidler, Bd. II, 1987, S. 1415 (1424 f.). 230 CC, 6.6.1995 – CCT/3/94 Rn. 194 f. (Kentridge) – The State v. Makwanyane, http:// www.saflii.org/za/cases/ZACC/1995/3.html (Stand: 10.8.2023). 231 BVerfGE 7, 198 (204 f.); 68, 193 (205); Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, C Rn. 2; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 261; Zivier, Der Wesensgehalt der Grundrechte, 1960, S. 43–46. 232 Brüning, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 19 Rn. 43; Chlosta, Der Wesensgehalt der Eigentumsgewährleistung, 1975, S. 41 (er schließt noch weiterreichend auf den Schutz der individuellen Rechtsposition); G. Herbert, Der Wesensgehalt der Grundrechte, EuGRZ 1985, 321 (324); P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 168; Kaufhold, in: Dreier, GG, Bd. I, 4. Aufl. 2023, Art. 19 Abs. 2 Rn. 26 f.; Kerkemeyer, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 50; Kokott, Grundrechtliche Schranken und Schrankenschranken, in: Merten/Papier, HGR, Bd. I, 2004, § 22 Rn. 86; Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Mai 2008), Art. 19 Abs. 2 Rn. 20; Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 45; Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 12; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 870; Zivier, Der Wesensgehalt der Grundrechte, 1960, S. 46. Demgegenüber kann es nicht überzeugen, wenn Art. 19 II GG als Schutzvorschrift für den verfassungsändernden Gesetzgeber angesehen wird, vgl. Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, 2006, 69–71; so auch Epping, Grundrechte, 9. Aufl. 2021, Rn. 73. 233 EGMR, Urt. v. 18.6.2002 – 25656/94, Rn. 410, Orhan v. Türkei, https://hudoc.echr. coe.int/eng?i=001–60509; Urt. v. 11.7.2002 – 28957/95, Rn. 110, Goodwin v. UK, https:// hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–60596 (Stand jeweils: 10.8.2023).
IV. Verständnis der Wesensgehaltsgarantie
295
betrifft die Allgemeinheit und damit v.a. die Grundrechtsbestimmungen als objektives Recht. Hierauf wird sich die Darstellung im weiteren Verlauf fokussieren.
2. Wesensgehaltsgarantie ist absolut zu verstehen Ein weiterer – sogar zentraler – Streitpunkt ist, ob die Wesensgehaltsgarantie einen Grundrechtskern absolut schützt, der auch im Wege der Abwägung nicht überwunden werden kann oder nicht.234 Die Position des BVerfG ist schwankend. Einige Entscheidungen lassen sich als Bekenntnis zu einem relativen Verständnis lesen,235 andere lassen sich eher im absoluten Sinne236 deuten, und in manchen Entscheidungen bleibt die Antwort offen.237 Da aber für jedes Grundrecht separat zu ermitteln ist, worin der Wesensgehalt besteht,238 lassen sich die wenigen expliziten Äußerungen des BVerfG nicht in ein allgemeines Verständnis der Wesensgehaltsgarantie übertragen.239 Die Frage des absoluten oder relativen Verständnisses ist im Zusammenhang mit dem Gedanken der antizipativen Verfassung deshalb bedeutsam, als zuvor ausgemacht wurde, dass ein absolutes Verständnis von Verfassungsgehalten eher der demokratischen Dekonsolidierung entgegenstehen kann als ein bloß relatives Verständnis. Hier wird einem absoluten Verständnis der Wesensgehaltsgarantie gefolgt.240 Allerdings gibt es einige Autoren, die den Wesensgehalt ei234 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 326 nennt diesen Punkt die „Hauptkontroverse“. Siehe hierzu Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, 2005, S. 62–75; Schaks, Schutz des Wesensgehalts der Grundrechte, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. III, 2. Aufl. 2022, § 88 Rn. 20–23. Diese Frage wird auch hinsichtlich der EMRK und Art. 52 I 1 EUGrCh gestellt, siehe hierzu D. III. 2. a) und b). 235 So z.B. BVerfGE 22, 180 (219 f.); 109, 133 (156); 115, 118 (165); 117, 71 (96). 236 BVerfGE 6, 32 (41); 7, 377 (411); 8, 274 (328 f.); 34, 238 (245 f.); 80, 367 (373 f., 375); BVerfG(K), NJW 2002, 2164 (2165). Denninger, Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe, in: FS Wassermann, 1985, S. 279 (280, 283 f.) deutet die frühe Rechtsprechung unter Berufung auf BVerfGE 6, 32 (41) im absoluten Sinne und stellt ihr die „jetzige“ Rechtsprechung (konkret: BVerfGE 65, 1 [41 ff.]) entgegen. Demgegenüber stellt Stern, Die Grundrechte und ihre Schranken, in: FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 1 (30) fest, dass sicher sei, dass das BVerfG in der Wesensgehaltsgarantie eine „absolute Grenze“ erblicke. 237 BVerfGE 7, 377 (408 f., 411). 238 BVerfGE 22, 180 (219 f.); 117, 71 (96). 239 Statt aller Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 850 f. 240 So bereits Schaks, Das Verbot der Belastungskumulation als Bestandteil der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, DÖV 2015, 817 ff.; Schaks, Die Wesensgehaltsgarantie, Art. 19 II GG, JuS 2015, 407 ff. Die nachfolgende Argumentation beruht in weiten Teilen auf den dortigen Ausführungen. Ebenso Brüning, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 19 Rn. 41 f.; Grosskreutz, Normwidersprüche im Verfassungsrecht, 1966, S. 86; E.R. Huber, Der Streit um das Wirtschaftsverfassungsrecht (II), DÖV 1956, 135
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
nes Grundrechts mit dessen Menschenwürdegehalt gleichsetzen.241 Da die Menschenwürdegarantie absolut zu verstehen ist, gelangen diese Autoren ebenfalls zu einem absoluten Verständnis. Dieses Verständnis wird hier nicht geteilt. Menschenwürdegehalt und Wesensgehalt haben Gemeinsamkeiten und können sich überschneiden,242 sie sind aber nicht identisch.243 Mit dem Streit zwischen dem absoluten und relativen Verständnis der Wesensgehaltsgarantie soll es hier um die Positionen gehen, die der Wesensgehaltsgarantie einen eigenen Anwendungsbereich zubilligen. Wenn der Wesensgehaltsgarantie – und hierüber besteht Einigkeit – eine Signal-, Warn- oder Alarmfunktion zukommt, dann kann das Bestehen der Norm alleine diese Funktion nicht übernehmen. Anders als das Zitiergebot Art. 19 I 2 GG, das den Gesetzgeber warnen soll, wenn und dass er in Grundrechte eingreift, ist Art. 19 II GG komplexer, denn die Wesensgehaltsgarantie untersagt bestimmte Eingriffe aus inhaltlichen Gründen. Art. 19 I 2 GG verlangt also lediglich die Überlegung, ob eine vom Gesetzgeber beabsichtigte Vorschrift eines der geschützten Grundrechte beeinträchtigt. Ist dies der Fall, muss in das Gesetz eine Vorschrift aufgenommen werden, die das beeinträchtigte Grundrecht ausdrücklich nennt. Demgegenüber muss der Gesetzgeber im Falle der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG die inhaltlichen Auswirkungen seines Gesetzes abschätzen und einen Abgleich vornehmen, ob das Gesetz den Wesensgehalt antastet oder nicht. Sollte dies der Fall sein, muss der Gesetzgebungsakt unterbleiben. Das Dilemma ist nicht durch die „salvatorische Klausel“ eines Zitats des eingeschränkten Grundrechts (Art. 19 I 2 GG) aufhebbar. Wenn dem aber so ist, muss der Gesetzgeber zumindest wissen können, wann eine Antastung des Wesensgehalts gegeben ist. Anderenfalls kann er seiner Pflicht zur Befolgung des Art. 19 II GG nicht nachkom241 (142 f.); J. H. Kaiser, Verfassungsrechtliche Eigentumsgewähr, Enteignung und Eigentumsbindung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Mosler (Hrsg.), Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, Bd. 34, 1960, S. 5 (24, 40, 43) – allerdings nicht auf die individuelle Rechtsposition bezogen; F. Müller, Normbereiche von Einzelgrundrechten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1968, S. 30–32; W. Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 154 f.; Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten, 1968, S. 213–216; Stein/Frank, Staatsrecht, 21. Aufl. 2010, S. 248; Stern, Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 185 Rn. 95. A.A. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 58 f., auf S. 327 befürwortet er ein „klare[s] Sowohl-alsAuch“; M. Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, 2005, S. 177. 241 Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117 (136); P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 158. 242 BVerfGE 109, 279 (310 f.); Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten, 1968, S. 213–216, der den Menschenwürdegehalt zwar als den primären Inhalt ansieht, aber ausdrücklich auch weitere Gehalte anerkennt, insbes. S. 214 mit Fn. 183. 243 BVerfGE 109, 279 (310 f.); Herzog, Grundrechte aus der Hand des Gesetzgebers, in: FS Zeidler, Bd. II, 1987, S. 1415 (1425); Son, Grenzen der sog. „Kernbereichs-Dogmatik“ des Bundesverfassungsgerichts, in: FS Schenke, 2013, S. 525 (526).
IV. Verständnis der Wesensgehaltsgarantie
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men.244 Für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, den in der Praxis bedeutsamsten inhaltlichen Kontrollmaßstab,245 bestehen Unterkategorien mit Definitionen, welche die Prüfung vorstrukturieren und für den Gesetzgeber beherrschbar machen. Vergleichbares fehlt jedoch für die Wesensgehaltsgarantie. Im Folgenden soll auf drei wiederkehrend vorgebrachte Argumente gegen ein absolutes Verständnis der Wesensgehaltsgarantie eingegangen werden. a) Einwand: Finaler Rettungsschuss Im Falle der staatlichen Tötung eines Bürgers verbleibt von dem Grundrecht auf Leben – absolut und subjektiv betrachtet – nichts. Dies ist ein wesentlicher Einwand der Vertreter der objektiven und relativen Auffassung der Wesensgehaltsgarantie gegen ein absolutes und auch subjektives Verständnis („Argument der Verfassungswirklichkeit“).246 Wenn das Leben unter Umständen beseitigt werden dürfe, dann bedeutet dies, dass der Wesensgehalt nur dann angetastet werde, wenn es für diesen Eingriff keine überwiegenden Gründe gebe.247 Das bedeutet aber: Je gewichtiger die rechtfertigenden Gründe sind, desto intensiver könnte in das Grundrecht eingegriffen werden, ohne dass der Wesensgehalt angetastet werde. Damit wäre der Wesensgehalt aber relativ zu bestimmen. Jedoch ist bereits der Ansatz fragwürdig. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG besitzt Verfassungsrang und steht in der Normenhierarchie248 höher als beispielsweise die einfachgesetzlichen Regelungen zum Schusswaffengebrauch in den Landespolizeigesetzen (u.a. § 67 PolG BW249, §§ 7 bis 16 UzwG Bln250). Nicht die Wesensgehaltsgarantie muss sich vor dem sog. Ret244 So auch EGMR (abw. Meinung Wojtyczek), Urt. v. 15.3.2018 – 51357/07, Rn. 8 – Naït-Liman v. Schweiz, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–181789 (Stand: 10.8.2023) im Hinblick auf die EMRK. 245 St. Rspr., vgl. nur BVerfGE 90, 145 (172 f.) m.w.N.; Heinig et al., Why Constitution Matters – Verfassungsrechtswissenschaft in Zeiten der Corona-Krise, JZ 2020, 861 (865). A.A. M. Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, 2005, S. 173 f., 179: Verhältnismäßigkeit ist kein verfassungsgerichtlicher Kontrollmaßstab. 246 Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, 2005, S. 185. 247 Teilweise wird auch zwischen verschiedenen Grundrechten differenziert, vgl. L. Schneider, Der Schutz des Wesensgehalts von Grundrechten nach Art. 19 Abs. 2 GG, 1983, S. 210–217. 248 Siehe hierzu oben B. I. 2. b). 249 Polizeigesetz (PolG) des Landes Baden-Württemberg v. 6.10.2020, GBl. 735. 250 Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges bei der Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Landes Berlin (UZwG Bln) v. 22.6.1970, GVBl. 921, zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes zur Änderung des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes und anderer Gesetze v. 22.3.2021 (GVBl. 318). § 7 UZwG zitiert als eingeschränkte Grundrechte allerdings nicht das Grundrecht auf Leben, sondern nur das auf körperliche Unversehrtheit, und die Tötung ist nicht ausdrücklich geregelt, weshalb die Unzulässigkeit des finalen Rettungsschusses in Berlin angenommen wird, vgl. W.-R. Schenke,
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
tungsschuss rechtfertigen, sondern der Rettungsschuss muss angesichts der Wesensgehaltsgarantie bestehen können. Käme man zu dem Ergebnis, dass der polizeiliche Rettungsschuss unvereinbar mit einer absolut und/oder subjektiv verstandenen Wesensgehaltsgarantie wäre, dann bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass der Wesensgehalt objektiv und/oder relativ zu verstehen ist. Ebenfalls möglich wäre es, dass der Rettungsschuss verfassungswidrig ist; auch so ließe sich die Kollision lösen.251 Schmitt Glaeser führt zu einer solchen Argumentation aus: „Hier wird die Argumentation vom Ergebnis her besonders deutlich. Die Unhaltbarkeit dieser Begründung liegt auf der Hand. Einfachgesetzliche Tatsächlichkeiten können keinen Beweis dafür erbringen, daß das Grundrecht in seiner subjektiven Funktion eines unantastbaren Wesenskerns entbehrt. Das einfache Gesetz ist kein Auslegungsmaßstab für die Verfassung.“252
Für den finalen Rettungsschuss ist der ausdrückliche Gesetzesvorbehalt des Art. 2 II 3 GG entscheidend, der sich auch auf das Grundrecht auf Leben bezieht.253 Er macht deutlich, dass es sich – obwohl das Grundrecht auf Leben einen Höchstwert darstellt und eine Tötung das Grundrecht für den Einzelnen vollständig beseitigt – um eine zulässige Maßnahme handeln kann.254 Wenn ohnehin nie in das Recht auf Leben eingegriffen werden dürfte, müsste kein Gesetzesvorbehalt für Eingriffe in dieses Grundrecht geregelt werden, da von ihm nie Gebrauch gemacht werden dürfte. Eine solche Auslegung widerspräche jedoch in systematischer Hinsicht dem Grundsatz der Einheit der Verfassung. Denn diese stellt ein Sinngefüge dar, bei dem die einzelnen Bestimmun251 Polizeiund Ordnungsrecht, 12. Aufl. 2023, Rn. 620; Schumann, Grundriß des Polizei- und Ordnungsrechts, 1978, S. 181 f. m.w.N.; Siegel/Waldhoff, Öffentliches Recht in Berlin, 4. Aufl. 2023, § 3 Rn. 315; Jo. Wolff, Der finale Rettungsschuss setzt sich durch, NVwZ 2021, 695 (698). Vgl. auch Kingreen/Poscher, Polizei- und Ordnungsrecht, 12. Aufl. 2022, § 24 Rn. 20. 251 Vgl. Middendorf, Zur Wesensgehaltsgarantie des Grundgesetzes, Jura 2003, 232 (233); L. Schneider, Der Schutz des Wesensgehalts von Grundrechten nach Art. 19 Abs. 2 GG, 1983, S. 88–91. 252 Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten, 1968, S. 218 f. – unter Weglassung der Fußnotennachweise. 253 BVerfGE 115, 118 (139); Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Februar 2004), Art. 2 Abs. 2 S. 1 Rn. 37 mit Fn. 2; Kunig/Kämmerer, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 2 Rn. 144. 254 So BVerfGE 115, 118 (139); Enders, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 19 Rn. 27 (Stand: 15.5.2023), der aber von einer bloß institutionellen Deutung der Wesensgehaltsgarantie bei Art. 2 II 1 GG ausgeht; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 883. LeisnerEgensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 13–17, kommt zu demselben Ergebnis, begründet dies aber mit der Normstruktur des Art. 2 II 1 GG, der nur ein Entweder-oder kennt. Middendorf, Zur Wesensgehaltsgarantie des Grundgesetzes, Jura 2003, 232 (235), geht von einer Kollision der Wesensgehalte von Art. 2 II 1 GG aus, was eine Abwägung (im Ergebnis zulasten des Geiselnehmers) erfordert.
IV. Verständnis der Wesensgehaltsgarantie
299
gen so auszulegen sind, dass ihnen jeweils ein sinnvoller eigenständiger Anwendungsbereich verbleibt.255 Ein Gesetzesvorbehalt, von dem kein Gebrauch gemacht werden dürfte, hätte aber keinen sinnvollen eigenständigen Anwendungsbereich, was ganz grundlegend gegen die Postulate der systematischen Auslegung verstößt.256 Das BVerfG hat explizit ausgeführt, dass in das Grundrecht auf Leben auf der Grundlage eines förmlichen Parlamentsgesetzes eingegriffen werden dürfe, sofern u.a. der Wesensgehalt nach Art. 19 II GG des Grundrechts unangetastet bleibe.257 Nach dem BVerfG stellt somit nicht jeder Eingriff in das Grundrecht auf Leben per se eine Wesensgehaltsantastung dar. Wird die Verfassung somit als Einheit interpretiert, bei der jede Bestimmung einen sinnvollen Anwendungsbereich haben muss, dann ist in Art. 2 II 3 GG eine verfassungsimmanente Beschränkung des Art. 19 II GG zu sehen und ist der polizeiliche Rettungsschuss auch mit einer subjektiv-absoluten Deutung des Art. 19 II GG vereinbar.258 Art. 19 II GG ist die allgemeinere Vorschrift im Vergleich zu Art. 2 II 3 GG, da jene sich auf alle Grundrechte bezieht, während Art. 2 II 3 GG lediglich auf die drei zuvor in Art. 2 II 1 und 2 GG explizit genannten Grundrechte (Recht auf Leben, Recht auf körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person) Bezug nimmt. Bereits systematisch kann man den vermeintlichen Widerspruch mit Spezialitätserwägungen auflösen. Selbst wenn dem nicht so wäre, müsste wegen einer Inkompatibilität des absoluten Verständnisses allein mit dem Grundrecht auf Leben nicht sogleich die Idee eines absoluten Verständnisses in Gänze verworfen werden.259 Hierfür spricht auch die Aussage des 255
BVerfGE 1, 14 (32); 19, 206 (220); 30, 1 (19); 60, 253 (267); 155, 310 (344) unter Verweis auf BVerfGE 6, 55 (72); 32, 54 (71); 39, 1 (38); 43, 154 (167); 51, 97 (110); 103, 142 (153); siehe auch Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), 53 (72 f., 77– 86): „Es geht vielmehr um die Notwendigkeit, die Verfassung jeweils als einen in sich sinnvollen, zwar vielseitigen und keineswegs spannungslosen, aber doch immer auf die Einheit des politischen Gemeinwesens gerichteten Ordnungszusammenhang zu interpretieren.“ (S. 77); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, Rn. 20, 71. Vgl. weiterhin Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, 1975, S. 49–53; Schladebach, Praktische Konkordanz als verfassungsrechtliches Kollisionsprinzip, Der Staat 53 (2014), 263 (278– 283); Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, 864 ff.; Sodan, Unabhängigkeit und Methodik von Verfassungsrechtsprechung, in: Sodan (Hrsg.), Wechsel und Kontinuität im Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, 2001, S. 21 (24 f.); H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 1 Abs. 3 Rn. 86; Hopfauf, in: SchmidtBleibtreu, GG, 15. Aufl. 2022, Einleitung Rn. 215; kritisch Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 12. Aufl. 2022, Rn. 774–776. 256 Hierzu Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 4. Aufl. 2019, S. 141, 141–157. 257 BVerfGE 115, 118 (139). 258 Vergleichbar hat das BVerfG im Zusammenhang mit dem Gesetzesvorbehalt des Art. 11 II GG argumentiert, BVerfGE 2, 266 (285). 259 Leisner-Egensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 46–50; vgl. auch Krebs, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 19 Rn. 23, der ein „Sowohl – Als auch“ annimmt.
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
BVerfG, wonach „der unantastbare Wesensgehalt eines Grundrechts“ „für jedes Grundrecht aus seiner besonderen Bedeutung im Gesamtsystem der Grundrechte ermittelt werden“ müsse.260 Dies kann eine Abweichung bei einem unteilbaren Schutzgut des Grundrechts erforderlich machen, ohne das absolute Verständnis als Regel zu verabschieden. Zum Kernbestand der Unionsbürgerschaft (Art. 20 EUV), der allerdings nicht absolut zu verstehen ist,261 hat der EuGH im Hinblick auf den Verlust der Staatsangehörigkeit auf die Vermeidbarkeit des Verlustes aufgrund eigenen (Fehl-)Verhaltens hingewiesen. Inwieweit dieser Gedanke bei dem finalen Rettungsschuss tragen könnte, ist nicht geklärt. Jedoch handelt es sich um einen Merkposten im Rahmen der Methodenentwicklung. Schließlich liefe ein relatives Verständnis des Art. 19 II GG darauf hinaus, die Wesensgehaltsgarantie mit dem Übermaßverbot gleichzusetzen.262 Ein eigener Anwendungsbereich verbliebe Art. 19 II GG nicht. Eine solche Auslegung steht jedoch in systematischer Hinsicht ebenfalls im Widerspruch zu dem Grundsatz der Einheit der Verfassung. So können auch Passagen von Entscheidungen des BVerfG verstanden werden: „Worin der unantastbare Wesensgehalt eines Grundrechts besteht, muss für jedes Grundrecht aus seiner besonderen Bedeutung im Gesamtsystem der Grundrechte ermittelt werden.“263 Hiermit kann aber nicht der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gemeint sein, denn dieser statuiert keinen a priori „unantastbaren“ Gehalt. Somit kann daraus nur die Schlussfolgerung gezogen werden, dass das BVerfG den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Wesensgehaltsgarantie nicht gleichsetzt. Nach Auffassung einiger Literaturstimmen widerspräche ein solches Verständnis auch der Intention des Verfassungsgebers.264 b) Einwand: Enteignungen Anders liegen die Dinge bei der Eigentumsfreiheit des Art. 14 I GG und der Frage, inwieweit Enteignungen gem. Art. 14 III GG mit der Wesensgehaltsga260 BVerfGE 117, 71 (96) – Hervorhebung nicht im Original; so auch schon BVerfGE 22, 180 (219). 261 Neier, Der Kernbestandsschutz der Unionsbürgerschaft, 2019, S. 70–87, 183–194; K. Hailbronner/Thym, Ruiz Zambrano – Die Entdeckung des Kernbereichs der Unionsbürgerschaft, NJW 2011, 2008 ff. 262 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, Rn. 332–334; v. Hippel, Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte, 1965, S. 47, 50, 56; ähnlich auch Hufen, Staatsrecht II, 10. Aufl. 2023, § 9 Rn. 29; dagegen u.a. Enders, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 19 Rn. 31 (Stand: 15.5.2023); L. Schneider, Der Schutz des Wesensgehalts von Grundrechten nach Art. 19 Abs. 2 GG, 1983, S. 158–182. 263 BVerfGE 117, 71 (96) – Hervorhebung nicht im Original; so auch schon BVerfGE 22, 180 (219), allerdings noch mit alter Rechtschreibung. 264 So auch Ipsen, Staatsrecht II, 24. Aufl. 2021, Rn. 212; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 867 f.
IV. Verständnis der Wesensgehaltsgarantie
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rantie vereinbar sind. Auch diesbezüglich wird vertreten, dass die Enteignung bei einem absoluten Verständnis der Wesensgehaltsgarantie nicht mit Art. 19 II GG vereinbar sei.265 Anders als bei Art. 2 II 2 Var. 1 GG ist das Schutzgut bei Art. 14 I GG jedoch leicht quantifizierbar; der Einzelne kann Eigentümer mehrerer Eigentumspositionen sein. Bezugsgegenstand ist nicht die einzelne Eigentumsposition, sondern die Eigentumsfreiheit des Grundrechtsträgers.266 Anderenfalls müsste bereits die Enteignung einer geringwertigen Sache als wesensgehaltsantastende Enteignung angesehen werden. Dies würde weder der Bedeutung der Sache (im doppelten Wortsinne) noch des Art. 19 II GG gerecht. Problematisch ist jedoch die Beurteilung von Fällen, in denen die enteignete Sache das gesamte Vermögen oder dessen größten Teil ausmacht. Dann wird eine Einzelfallbetrachtung auch die Höhe der zu leistenden Entschädigung (Art. 14 III 2, 3 GG)267 sowie die verfahrens- und prozessrechtlichen Garantien zu berücksichtigen haben. Eine Enteignung kann also möglicherweise in bestimmten Fällen den Wesensgehalt der Eigentumsfreiheit antasten, dies ist aber nicht per se bei jeder Enteignung der Fall, sondern eher im Gegenteil die seltene Ausnahme. Schließlich gilt auch hier das systematische Argument, dass die Verfassung selbst die Enteignung zulässt und sich Art. 14 III GG als lex specialis zu Art. 19 II GG darstellt.268 c) Einwand: Lebenslange Freiheitsstrafe Besonders problematisch erscheinen der subjektive und/oder absolute Wesensgehalt des Grundrechts der Freiheit der Person nach Art. 2 II 2 GG im Hinblick auf die lebenslange Freiheitsstrafe.269 Diese Problematik betrifft auch die Sicherungsverwahrung, da in beiden Fällen die Fortbewegungsfreiheit dauerhaft eingeschränkt ist.270 Je länger die Freiheitsentziehung andauert, desto weniger verbleibt dem Einzelnen von der Freiheitsverbürgung. Dies spricht prima facie gegen die subjektive Deutung der Wesensgehaltsgarantie. 265
Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, 2005, S. 208 f. Bleckmann, Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997, § 12 Rn. 147; Krausnick, Grundfälle zu Art. 19 I und II GG (Teil 2), JuS 2007, 1088 (1092). Siehe auch L. Schneider, Der Schutz des Wesensgehalts von Grundrechten nach Art. 19 Abs. 2 GG, 1983, S. 67 f. Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 882 f. nimmt an, dass Art. 14 III GG spezieller sei und begründet damit die fehlende Antastung des Wesensgehalts durch Enteignungen. 267 L. Schneider, Der Schutz des Wesensgehalts von Grundrechten nach Art. 19 Abs. 2 GG, 1983, S. 67 f. 268 So L. Schneider, Der Schutz des Wesensgehalts von Grundrechten nach Art. 19 Abs. 2 GG, 1983, S. 67 f.; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 882 f. 269 Zur kontroversen Diskussion BVerfGE 45, 187 ff.; LG Verden, NJW 1976, 980 ff.; Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, 2005, S. 187–207. 270 Es ist zu beachten, dass damit auch andere Grundrechte eingeschränkt werden (u.a. Art. 8, 10, 11, 12 GG), worauf zu Recht hinweisen BVerfGE 45, 187 (223); v. Münch, Die Grundrechte des Strafgefangenen, JZ 1958, 73 (74–76). 266
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
Da die Dauer der Freiheitsentziehung mit der Schwere der Schuld bzw. der Gefährlichkeit des Täters korreliert, scheint die lebenslange Freiheitsstrafe auch für ein relatives Verständnis der Wesensgehaltsgarantie zu sprechen: Wenn die Gründe nur gewichtig genug sind, rechtfertigen sie auch eine Freiheitsentziehung für die restliche Lebensdauer. Das Kriterium der Vermeidbarkeit (freiwilliger Verzicht auf rechtmäßiges Alternativverhalten), das der EuGH in einem anderen Kontext (Art. 20 EUV) gebraucht hat,271 dürfte – sofern es überhaupt im vorliegenden Zusammenhang trägt – nicht alle Problemlagen erfassen, insbesondere dann, wenn es um Freiheitsentziehungen durch Sicherungsverwahrung geht. Um die subjektive und absolute Sichtweise der Wesensgehaltsgarantie mit der lebenslangen Freiheitsstrafe doch zu vereinbaren, wird in der Literatur oftmals auf Art. 2 II 3, Art. 104 GG rekurriert. Die Tatsache, dass Freiheitsstrafen unter dem Grundgesetz verhängt werden dürfen, solle eo ipso auch die lebenslange Freiheitsstrafe rechtfertigen. Diese beiden Vorschriften können jedoch nur insoweit zur Rechtfertigung herangezogen werden, als es um die Zulässigkeit von Freiheitsentziehungen dem Grunde nach geht. Über die zulässige Höchstdauer treffen diese Vorschriften keine Aussagen. Dabei kann auch nicht argumentiert werden, dass der Verfassungsgeber die lebenslange Freiheitsstrafe vorgefunden hat und deshalb unverändert übernehmen wollte, weil er lediglich die Todesstrafe in Art. 102 GG abgeschafft hat, nicht aber ausdrücklich die lebenslange Freiheitsstrafe.272 Aus Art. 123 I GG folgt vielmehr, dass auch überkommenes Recht mit dem Grundgesetz vereinbar sein muss. Jedoch lässt sich argumentieren, dass Freiheitsentziehungen einschließlich der mit ihnen verbundenen Folgen auch für die übrigen Grundrechte ausdrücklich vom Grundgesetz zugelassen sind. Die „lebenslange“ Dauer betreffend, verlangt das BVerfG – im Hinblick auf Art. 1 I GG – die grundsätzliche Chance, die Freiheit wiederzuerlangen.273 Relevant ist im Hinblick auf Art. 19 II GG jedoch, nach wie vielen Jahren der Haft diese Chance besteht und wie hoch die Wahrscheinlichkeit der Wiedererlangung der Freiheit ist. Weiterhin kann von Bedeutung sein, wie restriktiv oder permissiv die Haftbedingungen ausgestaltet sind. Ob die gegenwärtige Lage den verfassungsrechtlichen Anforderungen in jedem Einzelfalle genügt, erscheint nicht zweifelsfrei. Die bloße Chance eines Gnadenerlasses, auf den per definitionem kein Rechtsanspruch besteht, dürfte jedenfalls nicht hinreichend sein.274 Der Gesetzgeber ist gehalten, die Auswirkungen der Freiheitsentziehungen auf die Persönlichkeit des Gefangenen zu beobachten 271
Siehe hierzu oben D. III. 2. a). Dazu BVerfGE 45, 187 (224–227). 273 BVerfGE 45, 187 (239); siehe auch BVerfGE 109, 133 (151–157). 274 V. Münch, Die Grundrechte des Strafgefangenen, JZ 1958, 73 (76). Zu diesem Aspekt Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Mai 2009), Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Rn. 67. 272
IV. Verständnis der Wesensgehaltsgarantie
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und ggf. erforderliche Neuregelungen zu treffen. Da Freiheitsentziehungen besonders einschneidend sind, müssen die verfahrensrechtlichen Sicherungen im Strafprozess besonders hoch sein. Weiterhin muss es effektive Rechtsschutzmöglichkeiten geben, damit eine Antastung des Wesensgehalts unterbleibt. Bei einem rein objektiven Verständnis275 stellen sich diese Fragen mit verminderter Schärfe, da es dann nicht um die individuelle Rechtsposition, sondern eine auf das Grundrecht als Rechtsnorm gerichtete Sichtweise geht. Selbst wenn der stärkere absolute Schutz des Art. 19 II GG bei einem Grundrecht wie im Falle der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht begründbar sein sollte, lässt dies keinen zwingenden Rückschluss auf einen absoluten Schutz aller anderen Grundrechte zu. Der Wesensgehalt ist für jedes Grundrecht individuell zu bestimmen. Pauschal allen Grundrechten einen absoluten Gehalt abzusprechen, allein weil in einer spezifischen Konstellation ein absoluter Gehalt nicht herzuleiten ist, wird weder der Rechtsprechung des BVerfG noch dem Zweck der Wesensgehaltsgarantie gerecht, einen möglichst weitreichenden Grundrechtsschutz sicherzustellen.
3. Wesensgehaltsgarantie erfasst auch Kumulationen Die Wesensgehaltsgarantie erfasst nicht nur Einzelakte, sondern auch Eingriffskumulationen,276 denn das „Leerlaufen“ der Grundrechte, wovor die Wesensgehaltsgarantie schützen soll, kann nicht nur durch gravierende Einzeleingriffe, sondern auch durch weniger intensive, aber dafür zahlreiche Eingriffe erfolgen.277 Ob das Grundrecht durch einen äußerst intensiven Einzeleingriff 275
Hierzu oben D. IV. 1. Es wird zwar nicht in der Rechtspraxis, aber in der Rechtswissenschaft diskutiert, ob und wieweit man die Wesensgehaltsgarantie auch zur Lösung des Problems der kumulierenden Grundrechtseingriffe heranziehen kann, vgl. Schaks, Das Verbot der Belastungskumulation als Bestandteil der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, DÖV 2015, 817 ff. Dieser Gegenstand der rechtswissenschaftlichen Forschung bezieht sich auf die subjektive Rechtsposition des Bürgers, nicht auf die Grundrechtsbestimmung als objektives Recht. Der Aspekt der individuellen Belastungskumulation wird hier nicht weiter vertieft, siehe Sodan, Wirtschaftslenkung im Recht der Arzneimittelversorgung, in: Peter/Rhein (Hrsg.), Wirtschaft und Recht, 1989, S. 69 (94–96). 277 Ipsen, Staatsrecht II, 24. Aufl. 2021, Rn. 218 f. (vgl. bereits die 1. Aufl. 1997, Rn. 205 f.); Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 59–87, insbes. 61, 66–68, 73 f.; Klement, Die Kumulation von Grundrechtseingriffen im Umweltrecht, AöR 134 (2009), 35 (74–77, insbes. 75); Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 106; Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 244 f.; Schaks, Die Wesensgehaltsgarantie, Art. 19 II GG, JuS 2015, 407 (409); D. Winkler, Der „additive Grundrechtseingriff“: Eine adäquate Beschreibung kumulierender Belastungen?, JA 2014, 881 (883, 886). Wenn Leisner-Egensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/ Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 76 von den „Sintfluten der staatlichen Regelungen“ spricht, klingt auch hier ein Verständnis des Art. 19 Abs. 2 GG an, das offen ist für die Berücksichtigung der Eingriffskumulation; siehe dort auch Rn. 73 („Salamitaktik“). 276
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
oder durch die Kumulation verschiedener Eingriffe erfolgt, ist vom Ergebnis her gleichgültig und kann durch die Gesetzgebungstechnik beliebig beeinflusst werden. Peter Lerche formuliert im Hinblick auf Art. 19 II GG, dass „der Gesetzgeber kaum je einen direkten Stoß in das Herz eines Grundrechts führen“278 wird. Seine Erwartung, dass die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips eine fortschreitende „Einkreisung des Grundrechts“ verhindern kann,279 dürfte zu optimistisch sein. Das Phänomen der demokratischen Dekonsolidierung belegt dies. Die schleichende Kumulation von Maßnahmen ist weniger sichtbar und spektakulär als ein äußerst intensiver Einzeleingriff. Die Kumulation wird auch in der öffentlichen Debatte, z.B. bei Neuregelungen, nicht thematisiert, im Vordergrund steht stets der Einzeleingriff. Insbesondere wenn jeder einzelne Eingriff für sich genommen verhältnismäßig und damit – scheinbar – verfassungsgemäß ist, erschwert dies die Kontrolle280 und damit die Wahrung eines möglichst hohen Niveaus an grundrechtlicher Freiheit. Die historische Betrachtung hat gezeigt, dass in der Weimarer Republik sukzessive die Grundrechte leerliefen, da es keine materiellen Schranken gab, welche den Gesetzgeber banden. Aus diesem Grunde wurden die Einrichtungsgarantien entwickelt, deren Existenz auch unter der Geltung des Grundgesetzes überwiegend noch angenommen wird.281
4. Von Art. 19 II GG erfasste Rechte Nicht einheitlich wird die Frage beantwortet, worauf die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG überhaupt Anwendung findet.282 So wird zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten, Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten sowie Grundrechten mit ausdrücklich formuliertem Einschränkungsvorbehalt und sonstigen Grundrechten differenziert. Auch die von Art. 19 II GG erfassten Dimensionen283 der Grundrechte stehen in Streit.284 Erschwert wird 278 Lerche, Grundrechtsschranken, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 122 Rn. 28. Nahezu wortgleich Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 244. 279 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 244 f.; so aber auch G. Herbert, Der Wesensgehalt der Grundrechte, EuGRZ 1985, 321 (334). 280 Hufen, Berufsfreiheit – Erinnerung an ein Grundrecht, NJW 1994, 2913 (2916). 281 Siehe hierzu oben C. III. 6. g). 282 Siehe die Systematisierung bei Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, 2005, S. 299 f. 283 Hierzu allgemein Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Vorb. Art. 1 Rn. 9–31; speziell hinsichtlich Art. 8 GG Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. IV, 2011, § 106 Rn. 27–38. 284 Ausführlich Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Mai 2008), Art. 19 Abs. 2 Rn. 21–25. Nach Kaufhold, in: Dreier, GG, Bd. I, 4. Aufl. 2023, Art. 19 Abs. 2 Rn. 10 m.w.N. soll es „mittlerweile herrschender Auffassung“ entsprechen, der zudem das BVerfG zuneige, dass alle Freiheitsgrundrechte und grundrechtsgleichen Freiheitsrechte, die der Einschränkung etc. zugänglich seien, erfasst würden.
IV. Verständnis der Wesensgehaltsgarantie
305
die Bestimmung des Anwendungsbereichs dadurch, dass Art. 19 II GG keine explizite verfassungstextliche Tradition besitzt und die Entstehungsgeschichte keine eindeutigen Antworten liefert.285 Der Wortlaut spricht lediglich von Grundrechten, nicht aber von grundrechtsgleichen Rechten (vgl. auch Art. 93 I Nr. 4a GG). Und auch die systematische Stellung des Art. 19 II GG im Abschnitt „I. Die Grundrechte“ scheint dafür zu streiten, dass nur die in diesem Abschnitt enthaltenen Grundrechte, nicht jedoch grundrechtsähnliche Rechte außerhalb der Art. 1 bis 19 GG von der Wesensgehaltsgarantie erfasst sein sollen.286 Dies hätte dann u.a. Auswirkungen auf Art. 38 I GG, der als grundrechtsgleiches Recht mit der Verfassungsbeschwerde rügefähig ist (vgl. Art. 93 I Nr. 4a GG). Wenn jedoch Art. 19 II GG verhindern will, dass menschliche Freiheit zu stark eingeschränkt wird, dann sollte der Begriff „Grundrecht“ i.S.v. Art. 19 II GG im weiten Sinne und somit unter Einschluss der grundrechtsgleichen Rechte verstanden werden. Ein Bedeutungsunterschied, der ihr Leerlaufen als hinnehmbar rechtfertigen könnte, besteht zwischen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten nicht. Die grundrechtsgleichen Rechte sind keine Rechte minderer Qualität.287 Somit werden auch sie von Art. 19 II GG erfasst.288 Dem kann als systematisches Argument nicht entgegengehalten werden, dass Art. 19 II GG an Art. 19 I 1 GG anknüpfe und diese Vorschrift nur Geltung für Freiheitsgrundrechte mit einem Beschränkungsvorbehalt beanspruche.289 Bereits die Ausgangsthese, dass Art. 19 I 1 GG nur im Hinblick auf Grundrechte mit einem solchen Gesetzesvorbehalt gilt, der ausdrücklich von Beschränkungen spricht, ist nicht zwingend und dementsprechend umstrit-
285 Vgl. Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Mai 2008), Art. 19 Abs. 2 Rn. 2–10. Siehe auch Matz, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 176–180. Siehe auch unten E. II. 3. a). 286 So u.a. de Wall, in: Berliner Kommentar GG, Losebl. (Stand: VII/12), Art. 19 I, II Rn. 90; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 19 Rn. 10; Leisner-Egensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 4. 287 H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Vorb. vor Art. 1 Rn. 64 f.; so auch Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 21 Rn. 6. 288 H.-J. Cremer, Rügbarkeit demokratiewidriger Kompetenzverschiebungen im Wege der Verfassungsbeschwerde?, NJ 1995, 5 (6); Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, 2005, S. 48–53; Ipsen, Staatsrechte II, 24. Aufl. 2021, Rn. 211; Kaufhold, in: Dreier, GG, Bd. I, 4. Aufl. 2023, Art. 19 Abs. 2 Rn. 10 m.w.N.; Kerkemeyer, in: v. Münch/ Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 47; Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 33. 289 BVerfGE 24, 367 (396); 25, 371 (399); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, Rn. 329; Leisner-Egensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 7–9; a.A. Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Mai 2008), Art. 19 Abs. 2 Rn. 21 f.; siehe hierzu insgesamt Krausnick, Grundfälle zu Art. 19 I und II GG (Teil 1), JuS 2007, 991 (992–994).
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
ten.290 Des Weiteren ist die Entstehungsgeschichte des Art. 19 II GG zu offen, um aus der systematischen Stellung von Art. 19 I und II GG Rückschlüsse auf die Reichweite der Wesensgehaltsgarantie zuzulassen.291 Schließlich ist anerkannt, dass Art. 19 II GG auch die Exekutive bindet. Art. 19 I 1 und 2 GG stellen jedoch Anforderungen ausschließlich an Gesetze. Wenn Art. 19 II GG tatsächlich an Art. 19 I GG in der vom BVerfG unterstellten Weise anknüpfen würde, wäre die Geltung des Art. 19 II GG auch für die Judikative und die Exekutive nicht erklärbar. Die stärkeren Gründe sprechen somit gegen einen Gleichklang der Anwendungsbereiche von Art. 19 I und Art. 19 II GG. Der Anwendungsbereich der Wesensgehaltsgarantie ist somit auch nicht auf Grundrechte mit einem ausdrücklich formulierten Beschränkungsvorbehalt begrenzt.292 Dies hat im vorliegenden Zusammenhang Bedeutung für das grundrechtsgleiche Recht des Art. 38 I 1 GG, denn das Wahlrecht wurde als eines der am stärksten von der demokratischen Dekonsolidierung betroffenen Rechtsgebiete identifiziert.293 Gegen eine demokratische Dekonsolidierung kann somit auch der unantastbare Kern des Wahlrechts aus Art. 38 I 1 GG ermittelt werden. Zwar bestehen auch Bezüge zu Art. 20 II GG, der über Art. 79 III GG besonders geschützt ist. Art. 38 I 1 GG ist jedoch eine speziellere Ausprägung des Demokratieprinzips, und in Verbindung mit Art. 19 II GG lassen sich konkrete Aussagen zum Mindestgehalt eines demokratischen Wahlrechts ableiten und zudem in methodisch belastbarer Weise. Dies kann im Zusammenhang mit Wahlkreiseinteilungen („gerrymandering“) z.B. bedeutsam werden. Ähnliches gilt für die grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 20 IV, Art. 33 II, V GG. Auch wenn man dies anders sehen und von einem auf Grundrechte im engen Sinne verstandenen Anwendungsbereich des Art. 19 II GG ausgehen wollte, hätte dies für die Zwecke der vorliegenden Arbeit keine Auswirkungen, denn der Wesensgehalt soll in einem letzten Schritt für die Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG exemplifiziert werden. Diese Vorschrift ist ein Grundrecht im engen, formellen Sinne,294 sodass Art. 19 II auf diese Grund290 H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 Abs. 1 Rn. 11; Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 16–18; Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 4; L. Schneider, Der Schutz des Wesensgehalts von Grundrechten nach Art. 19 Abs. 2 GG, 1983, S. 58–61. 291 Vgl. Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Mai 2008), Art. 19 Abs. 2 Rn. 21 f. 292 De Wall, in: Berliner Kommentar GG, Losebl. (Stand: VII/12), Art. 19 I, II Rn. 87 f.; Krausnick, Grundfälle zu Art. 19 I und II GG (Teil 2), JuS 2007, 1088 (1091); Kerkemeyer, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 47; Remmert, in: Dürig/Herzog/ Scholz, GG, Losebl. (Stand: Mai 2008), Art. 19 Abs. 2 Rn. 21–23. 293 Siehe oben A. I., A. I. 1. c), A. I. 2. c). 294 B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 144.
IV. Verständnis der Wesensgehaltsgarantie
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rechtsverbürgung unstreitig anwendbar ist. Diese Beispielswirkung für andere Grundrechte wie etwa Art. 5 I 1 GG kann selbst dann erfolgen, wenn der Anwendungsbereich von Art. 19 II GG schmaler ist als hier vertreten und keine grundrechtsgleichen Rechte erfassen sollte, denn dass die Wesensgehaltsgarantie auf Grundrechte anwendbar ist, ist unbestritten.
5. Von Art. 19 II GG erfasste Grundrechtsberührungen Zwar hat das BVerfG ausgeführt, dass z.B. Grundrechtsausgestaltungen i.S.d. Art. 6 I GG295 nicht von Art. 19 II GG erfasst würden. Allerdings sind diese Entscheidungen vereinzelt geblieben und stehen im Widerspruch zu – auch späteren – Entscheidungen, in denen diese Einschränkungen der Wesensgehaltsgarantie nicht vorgenommen wurden.296 Deshalb ist davon auszugehen, dass die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG alle staatlichen Regelungen erfassen kann, welche ein Grundrecht berühren, unabhängig davon, ob es sich um einen Eingriff, eine Regelung oder eine Ausgestaltung handelt.297
6. Zwischenergebnis: Wesensgehaltsgarantie gilt absolut und erfasst Gesetzeskumulationen Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG ist eine relevante und handhabbare Vorschrift. Sie schützt vor einem Grundrechtsleerlauf, auch und gerade im Zusammenhang mit Maßnahmenkumulationen. Dies spricht für die Eignung der Wesensgehaltsgarantie, der demokratischen Dekonsolidierung zu begegnen. Sie wird ausdrücklich als Garantiewirkung zugunsten eines Mindeststandards realer Freiheit angesehen.298
295
BVerfGE 31, 58 (69). BVerfGE 61, 82 (113), wo ausdrücklich auf Art. 12 I und Art. 14 I GG Bezug genommen wird. 297 So auch Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, 2005, S. 47 f.; P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 112; Kaufhold, in: Dreier, GG, Bd. I, 4. Aufl. 2023, Art. 19 Abs. 2 Rn. 12 m. w. N.; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 878–880. 298 Scherzberg, Grundrechtsschutz und „Eingriffsintensität“, 1989, S. 210 f. 296
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D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
V. Zusammenführung: Wesensgehaltsgarantie, Antizipation und demokratische Dekonsolidierung Demokratische Dekonsolidierung ist ein Prozess, der sich dadurch auszeichnet, dass regelmäßig Legislative und Exekutive „in einer Hand“ sind und zu einer umfassenden und grundlegenden Umgestaltung der Rechtsordnung (De-facto-Verfassungsänderung) genutzt werden. Die vielfältigen Gesetze und sonstigen Rechtsakte, die im Laufe der demokratischen Dekonsolidierung erlassen werden, verstärken sich wechselseitig in ihren demokratiefeindlichen Auswirkungen, insbesondere weil parallel eine unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit geschwächt wird. Will man die schleichende Abschaffung der Demokratie verhindern, ist entscheidend, sich auf die demokratische Dekonsolidierung rechtzeitig einzustellen und diese Gefahr für die Demokratie zu antizipieren, also einen Mechanismus für die Krise zu etablieren. Die Wesensgehaltsgarantie erfasst Kumulationen und richtet sich primär an den Gesetzgeber. Sie errichtet zudem einen absoluten Kern, der jedem weiteren Eingriff oder jeder weiteren Ausgestaltung bzw. Regelung entgegensteht. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG scheint somit die charakteristischen Merkmale der demokratischen Dekonsolidierung zu erfassen und ihr etwas entgegensetzen zu können. In diesem Zusammenhang ist ein historischer Rückblick angezeigt, denn er kann mehrere Argumentationsstränge zusammenführen: In der Weimarer Republik liefen die Grundrechte leer, dies sollte sich unter dem Grundgesetz nicht wiederholen. Nun könnte man argumentieren, dass bereits die umfassende Grundrechtsbindung, das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die umfassende gerichtliche Kontrolle das Leerlaufen verhindern würden. Allerdings lässt diese Sichtweise, die lediglich den dogmatischen Streit um die Beschränkbarkeit der Grundrechte in der Weimarer Republik in den Blick nimmt, den Untergang der Weimarer Republik außer Betracht. Das Grundgesetz stellt aber eine doppelte Reaktion dar, indem es sowohl auf die Schwierigkeiten während der Weimarer Republik als auch auf das nachfolgende Terrorregime der Nationalsozialisten reagiert.299 Nach der Machtüberlassung an die Nationalsozialisten durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg wurde zunächst ein scheinlegales Vorgehen praktiziert, welches selbst rechtswidrigen Maßnahmen den Anstrich der Legalität geben sollte. Ein Beispiel hierfür ist das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“300 („Ermächtigungsgesetz“), mit dem die Weimarer Reichsverfassung so geändert wurde, dass die Reichsregierung zum Gesetzeserlass und sogar zur Verfas299 H. Dreier, Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland, in: v. Bogdandy/Huber (Hrsg.), Ius Publicum Europaeum, Bd. I, 2007, § 1 Rn. 7 m.w.N.; Nierhaus, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Februar 2008), Art. 19 Abs. 2 Rn. 1. 300 Gesetz v. 24.3.1933, RGBl. I, 141. Siehe hierzu Morsey, Das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933, 1992; H. Schneider, Das Ermächtigungsgesetz, 2. Aufl. 1961.
V. Wesensgehaltsgarantie, Antizipation und demokratische Dekonsolidierung
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sungsänderung ermächtigt wurde (Art. 1 f. Ermächtigungsgesetz). Für eine solche Verfassungsänderung war nach Art. 76 I 2 WRV erforderlich, dass im Reichstag „zwei Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl anwesend sind und wenigstens zwei Drittel der Anwesenden zustimmen“.301 Um das Quorum hinsichtlich der Anwesenden ungefährdet erreichen zu können, wurde die Geschäftsordnung des Reichstags vor der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz so geändert, dass nicht wegen Krankheit oder Urlaub fehlende Abgeordnete als anwesend gewertet würden (§ 98 III i.V.m. § 2a GO-RT302). Damit konnten Reichstagsabgeordnete von KPD303 und SPD verfolgt werden, ohne dass sich dies nachteilig für die Nationalsozialisten bei der Verfassungsänderung auswirken würde.304 Zudem waren im Parlamentssaal (wegen des Reichstagsbrands in der Kroll-Oper und nicht im Reichstag) bewaffnete und uniformierte SA- und SS-Angehörige anwesend, welche unzulässigen Druck auf die Abgeordneten ausübten.305 Bedenkt man, dass bereits die Reichstagswahlen vom 5.3.1933 nicht frei und gleich waren, da wichtige Grundrechte durch Rechtsverordnungen gem. Art. 48 II WRV beschränkt oder außer Kraft gesetzt waren,306 ist selbst die Bezeichnung „scheinlegal“ euphemistisch.307 Am Abend des 23.3.1933 trat der Reichsrat zusammen und beschloss ohne Diskussion, keinen Einspruch gegen das Ermächtigungsgesetz zu erheben.308 Allerdings waren im Reichsrat nicht alle Länder ordnungsgemäß vertreten, da zuvor teilweise Reichsstatthalter eingesetzt waren. Im Fall des Landes Preußen 301 Hierbei handelt es sich um ein geringes Quorum, da rechnerisch weniger als 50% der Reichstagsabgeordneten ausreichten, um eine Verfassungsänderung zu bewerkstelligen, vgl. hierzu U. K. Preuß, The Implications of „Eternity Clauses“: The German Experience, Israel Law Review 44 (2011), 429 (436). 302 I. d. F. v. 23.3.1933, RGBl. II, 150. Siehe hierzu H. Schneider, Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, 2. Aufl. 1961, S. 14–16, 23 f. 303 81 Abgeordnete der KPD waren nach dem Reichstagsbrand verhaftet und konnten nicht an der Sitzung teilnehmen, vgl. H. Schneider, Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, 2. Aufl. 1961, S. 13. 304 Hierzu Korioth, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2023, Rn. 782 f. Wegen der Verfassungswidrigkeit der Geschäftsordnungsänderung erblickt H. Schneider, Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, 2. Aufl. 1961, S. 24 mit Fn. 35 das Ende der Weimarer Republik in dieser Geschäftsordnungsänderung. 305 Vgl. BVerfGE 144, 20 (222); Gusy, 100 Jahre Weimarer Verfassung, JZ 2019, 741 (749 f.); H. Schneider, Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, 2. Aufl. 1961, S. 42. Siehe auch Bickenbach, Vor 75 Jahren: Die Entmächtigung der Weimarer Reichsverfassung durch das Ermächtigungsgesetz, JuS 2008, 199 (201–203). 306 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes v. 4.2.1933, RGBl. I, 35 („Schubladenverordnung“); Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat v. 28.2.1933, RGBl. I, 83 („Reichstagsbrandverordnung“). 307 Loewenstein, Autocracy versus Democracy in Contemporary Europe I, American Political Science Review 29 (1935), 571 (579 f.); U. K. Preuß, The Implications of „Eternity Clauses“: The German Experience, Israel Law Review 44 (2011), 429 (440) nennt die verbreitete Ansicht, dass die Nationalsozialisten legal an die Macht kamen, einen Mythos. 308 H. Schneider, Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, 2. Aufl. 1961, S. 27 f.
310
D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
ist dies besonders offenkundig, da nach dem sog. Preußenschlag309 der Staatsgerichtshof explizit entschieden hatte, dass die Vertreter der abgesetzten preußischen Regierung das Recht der Stimmabgabe im Reichsrat hätten.310 Deshalb wird teilweise davon ausgegangen, dass das Ermächtigungsgesetz wegen der fehlerhaften Besetzung des Reichsrats bei der Abstimmung über das „Ermächtigungsgesetz“ nicht verfassungskonform zustande gekommen sei.311 Am 24.3.1933 erfolgte nach vorheriger Gegenzeichnung die Ausfertigung durch den Reichspräsidenten und die Verkündung im Reichsgesetzblatt.312 Nach dem Erlass des Ermächtigungsgesetzes folgten weitere Maßnahmen, welche gewaltenteilende, rechtsstaatliche und grundrechtliche Errungenschaften auslöschten.313 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien aus den Jahren 1933 bis 1935 die Gesetze zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich314, Gesetze gegen Parteien315, zum Berufsbeamtentum316 und die Rassengesetze317 genannt. Dem folgten weitere Angriffe auf die Rechtsstellung und das Leben von Juden, Oppositionellen, Sinti, Roma, Homosexuellen, was letztlich im industriell betriebenen Massenmord endete. Wenn man Art. 19 II GG als Reaktion auf beide Entwicklungen begreift, also sowohl auf den dogmatischen Streit der Weimarer Republik über die Einschränkbarkeit von Grundrechten als auch auf das scheinlegale Vorgehen nach der Machtüberlassung mit der Folge der Verfassungsbeseitigung, lassen sich auch scheinbar widersprüchliche Aussagen in der Literatur zur Wesensgehaltsgarantie miteinander versöhnen („Krönung“318 des Grundrechtsschutzes oder reine Selbstverständlichkeit319 bzw. überflüssige Siche309
Siehe hierzu H. Mommsen, Die verspielte Freiheit, 2018, S. 597–612. Knapper Clark, Preußen, 14. Aufl. 2019, S. 733–736; Korioth, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2023, Rn. 743–754; Shirvani, Die Bundes- und Reichsexekution in der neueren deutschen Verfassungsgeschichte, Der Staat 50 (2011), 102 (116–118). 310 StGH, RGZ 138, Anhang 1 (30, 39–42). 311 Korioth, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2023, Rn. 785; H. Schneider, Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, 2. Aufl. 1961, S. 43–45. 312 H. Schneider, Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, 2. Aufl. 1961, S. 29 f. 313 Siehe hierzu Fraenkel, Der Doppelstaat, 3. Aufl. 2012, S. 62–112. Ausführlicher Bracher/Schulz/Sauer, Die nationalsozialistische Machtergreifung, Bd. I – III, 1974. 314 Vorläufiges Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich v. 31.3.1933, RGBl. I, 153; Zweites Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich v. 7.4.1933, RGBl. I, 173. Siehe auch Gesetz über den Neuaufbau des Reichs v. 30.1.1934, RGBl. I, 75. 315 Gesetz über die Einziehung kommunistischen Vermögens v. 26.5.1933, RGBl. I, 293; Gesetz gegen die Neubildung von Parteien v. 14.7.1933, RGBl. I, 479; Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat v. 1.12.1933, RGBl. I, 1016. 316 Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums v. 7.4.1933, RGBl. I, 175. 317 Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre v. 15.9.1935, RGBl. I, 1146 und Reichsbürgergesetz v. 15.9.1935, RGBl. I, 1146. 318 V. Mangoldt, zitiert nach Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 842. 319 F. Klein, in: v. Mangoldt/Klein, GG, Bd. I, 2. Aufl. 1957, Art. 19 Anm. V. 7. a), ähnlich auch Vorbemerkungen B. XV. 3. c) (S. 133).
V. Wesensgehaltsgarantie, Antizipation und demokratische Dekonsolidierung
311
rung320?). Art. 19 II GG ist dann „letzte Reservebastion“321, „Schutzbastion“322 oder „Notbremse“323 und zeichnet die Fundamentalfrage des Grundverhältnisses von Individuum und Staat nach.324 Dann wird auch die Nähe zu – und nicht die Identität mit – der Menschenwürdegarantie des Art. 1 I GG offensichtlich. Art. 19 II GG ist – zumindest im „Normalzustand“ – überflüssige Selbstverständlichkeit. Im Normalfall wird kein „Stich in das Herz der Grundrechte“ geführt, werden diese nicht ausgehöhlt oder substanzlos, verlieren sie nicht ihren Kern oder Gehalt. Der Schutz, wie ihn das Grundgesetz gegen das Leerlaufen der Grundrechte errichtet, ist „mehrfach genäht“. Neben den formellen Voraussetzungen des Gesetzeserlasses (Art. 70 ff. GG) sowie dem Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes mit dem Wesentlichkeitsgrundsatz als Grenzen für die Exekutive, bestehen weitere Sicherungen: das Übermaßverbot, der Bestimmtheitsgrundsatz, das Verbot des Einzelfallgesetzes nach Art. 19 I 1 GG, das Zitiergebot des Art. 19 I 2 GG, die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, eine umfangreich ausgebaute gerichtliche und verfassungsgerichtliche Kontrolle325 sowie schließlich die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III GG. In der Literatur zur Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG wurde auch deshalb das Bild dreier konzentrischer Kreise gewählt, welche die unterschiedlichen Schutzstufen (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Wesensgehaltsgarantie, Menschenwürdekern) für die Grundrechte symbolisieren sollen.326 In der Literatur zu den Einrichtungsgarantien nach 1945 wird ebenfalls auf diese beiden Aspekte, Schutz vor dem erneuten Abgleiten in die Diktatur und Schutz vor dem Gesetzgeber in „Normalzeiten“, hingewiesen.327 Diese doppelte Sichtweise, Geltung für den Normalfall als auch Verhinderung des Rückfalls in die Diktatur, brachte auch die abweichende Meinung der Richter Geller, v. Schlabrendorff und Rupp zum G-10-Urteil328 – allerdings im Hinblick auf Art. 79 III GG – zum Ausdruck:329
320 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 234. 321 Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 856. 322 Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 866. 323 Herzog, zitiert nach Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 856. 324 He. Krüger, Der Wesensgehalt der Grundrechte i.S. des Art. 19 GG, DÖV 1955, 597 (597). 325 Siehe allein die umfangreichen Kommentierungen des Art. 19 IV GG bei W.R. Schenke, in: Bonner Kommentar, GG (Stand: September 2020); Schmidt-Aßmann, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: August 2020). 326 Leisner-Egensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 69 f. 327 Mager, Einrichtungsgarantien, 2003, S. 70. 328 BVerfGE 30, 1 ff. 329 BVerfGE 30 (abw. Meinung Geller, v. Schlabrendorff, Rupp), 1 (38 f.).
312
D. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG
„Art. 79 Abs. 3 GG erklärt bestimmte Grundsätze der Verfassung für unantastbar. Das Grundgesetz kennt also – anders als die Weimarer Reichsverfassung und die Verfassung des Kaiserreichs – Schranken der Verfassungsänderung. Eine solche gewichtige und in ihren Konsequenzen weittragende Ausnahmevorschrift darf sicherlich nicht extensiv ausgelegt werden. Aber es heißt ihre Bedeutung völlig verkennen, wenn man ihren Sinn vornehmlich darin sehen wollte, zu verhindern, daß der formal-legalistische Weg eines verfassungsändernden Gesetzes zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes mißbraucht wird. Es bedarf keiner besonderen Betonung, daß ein ‚Ermächtigungsgesetz‘ wie das von 1933 unzulässig wäre. Art. 79 Abs. 3 GG bedeutet mehr: Gewisse Grundentscheidungen des Grundgesetzgebers werden für die Dauer der Geltung des Grundgesetzes – ohne Vorwegnahme einer künftigen gesamtdeutschen Verfassung – für unverbrüchlich erklärt.“
Hier wird auf die doppelte Funktion des Art. 79 III GG sowohl für den Normal- als auch für den Krisenzustand abgestellt. Da auch Art. 19 II GG sowohl eine Reaktion auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft als auch das Leerlaufen der Grundrechte in der Weimarer Republik war, kann der im Sondervotum zum Ausdruck gebrachte Gedanke zu Art. 79 III GG auf Art. 19 II GG übertragen werden. Weil die demokratische Dekonsolidierung zunächst schwer zu erkennen ist, erscheint eine Vorschrift, die sowohl im Normalfall als auch in der Krisensituation wirkt, besonders effektiv. Denn es bedarf keiner besonderen Feststellung einer Ausnahmesituation. Art. 19 II GG ermöglicht auch die Erfassung von kumulativen Maßnahmen,330 welche gerade im Ausnahmefall angezeigt ist (Aushöhlung, Entleerung, …). Spätestens die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG verbietet jeden weiteren Eingriff und sie gestattet dem anwendenden Richter eine starke, symbolträchtige Reaktion. Maßnahmenkumulationen fallen indes nicht vom Himmel, sie werden angekündigt, versprochen und vorbereitet, bereits bevor Anhänger demokratiefeindlicher Parteien Staatsämter bekleiden und möglicherweise die Mehrheit in Parlament und Regierung stellen. Dies zeigt die politikwissenschaftliche Literatur zur demokratischen Dekonsolidierung.331 Hier kommt der Zeitgedanke ins Spiel, der bei der Entfaltung der Signalfunktion hilfreich ist. Die Funktion einer Vorschrift als Warnung, Signal, Mahnung oder Ausrufezeichen setzt stets mehr als die bloße Existenz einer Vorschrift voraus. Entscheidend ist, wer wann wovor gewarnt wird. Dies muss sich aus dem Inhalt derjenigen Vorschrift ergeben, der eine Warnfunktion zugemessen wird. Im „Normalfall“ mit funktionierender Opposition und allseits gewahrtem demokratischem Ethos, freier Presse und freiem Rundfunk, mit Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie der möglichen gerichtlichen Kontrolle wird es keiner weiteren Sicherungen bedürfen. Im Falle der 330 Zur „alltäglichen“ Addition der Eingriffe Schaks, Das Verbot der Belastungskumulation als Bestandteil der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, DÖV 2015, 817 ff. 331 Vgl. Albertazzi/Mueller, Government and Opposition 48 (2013), 343 (346, 349 f.).
V. Wesensgehaltsgarantie, Antizipation und demokratische Dekonsolidierung
313
demokratischen Dekonsolidierung, die auch durch ein Freund-Feind-Denken und die Aufkündigung des demokratischen Ethos gekennzeichnet ist, können diese Mechanismen allerdings versagen. Dazu bedarf es zusätzlicher Sicherungen. Dies sind Art. 79 III GG und Art. 19 II GG. Die Verknüpfung von Demokratie und Grundrechten zeigt sich dadurch, dass der Wesensgehalt der Grundrechte den Mindeststandard bezeichnet, der vorhanden sein muss, um noch von einem demokratischen Gemeinwesen sprechen zu können. Diesen Gehalt zu entfalten, wenn die demokratische Dekonsolidierung bemerkt wurde, ist zu spät, denn dann ist die Warnfunktion geschwächt. Die Signal-, Mahn- oder Warnfunktion richtet sich deshalb auch an die Gerichte und die Rechtswissenschaft. Die Entfaltung des Art. 19 II GG kann – von den Medien etc. aufgegriffen – dazu dienen, das Außergewöhnliche erkennbar zu machen, also den Übergang von der normalen Lage hin zur demokratischen Dekonsolidierung, um diese letztlich zu verhindern. „Relativismen müssen dort ausgeschlossen sein, wo der Verfassungsgeber augenscheinlich keine ‚Diskussion‘ wollte; hierfür ist Art. 19 Abs. 2 GG ein Schulbeispiel (,in keinem Falle‘!).“332
Hierfür bedarf es der Kenntnis des Inhalts und idealiter auch von kompetenten Akteuren, auf die man sich berufen kann. Entscheidungen, sei es nur ein obiter dictum, von Höchstgerichten können dies leisten.333
332 Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten, 1968, S. 214 – unter Weglassung der Nachweisfußnote. 333 Siehe zu den Umsetzungsmechanismen unten E. III.–E. III. 2.
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit Nachdem das Konzept der Antizipation und das Verständnis der Wesensgehaltsgarantie herausgearbeitet wurden, soll nun exemplarisch für das Grundrecht der Versammlungsfreiheit als Referenzgrundrecht der Wesensgehalt ermittelt werden. Wie bereits gesehen, ist Art. 19 II GG erstens Ausdruck des Antizipationsgedankens und kann den Gefahren der demokratischen Dekonsolidierung begegnen, denn Grundrechte, die von Art. 19 II GG geschützt werden, sind von der demokratischen Dekonsolidierung besonders betroffen, wie die Beispiele Polens und Ungarns zeigen.1 Zweitens erfasst die Wesensgehaltsgarantie die für die demokratische Dekonsolidierung charakteristischen Kumulationen.2 Drittens bewirkt Art. 19 II GG eine absolute Sperre.3 Hierbei ist die Ausarbeitung auf den objektivrechtlichen Teil des Grundrechts beschränkt. Zwar ist umstritten, ob Art. 19 II GG nicht auch das subjektive Recht des Einzelnen erfasst,4 im Zusammenhang mit der demokratischen Dekonsolidierung steht jedoch die objektivrechtliche Seite im Fokus, denn durch die demokratische Dekonsolidierung wird die gesamte Rechtsordnung für alle Rechtsunterworfenen umgestaltet.5 Dem würde die Befassung mit individuellen Rechtspositionen nicht gerecht, zudem nicht klar wäre, auf welche einzelnen Grundrechtsträger es hierbei ankäme. Die subjektivrechtliche Seite der Grundrechte kann deshalb für die vorliegenden Zwecke außer Betracht bleiben. Bei der Wesensgehaltsermittlung wird – sofern vorhanden – die Rechtsprechung des BVerfG zugrunde gelegt.6 Eine Schwierigkeit besteht allerdings darin, dass es zuweilen an eindeutigen Aussagen der Rechtsprechung zur Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG mangelt. In diesen Fällen wird das zuvor 1
Siehe hierzu oben A. I. 1.–A. I. 1. d) und A. I. 2.–A. I. 2. d). Siehe hierzu D. IV. 3. 3 Siehe hierzu D. IV. 2.–D. IV. 2. c). 4 Siehe hierzu oben D. IV. 1. Hier wird diese Frage bejaht, so auch Schaks, Das Verbot der Belastungskumulation als Bestandteil der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, DÖV 2015, 817 (823); Schaks, Die Wesensgehaltsgarantie, Art. 19 II GG, JuS 2015, 407 (409 f.); Schaks, Schutz des Wesensgehalts der Grundrechte, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. III, 2. Aufl. 2022, § 88 Rn. 17–19. 5 Siehe hierzu die Beispiele Ungarns und Polens oben A. I. 1.–A. I. 1. d) bzw. A. I. 2.–A. I. 2. d). 6 Siehe zur Begründung oben B. I.–B. I. 2. c). 2
316
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
skizzierte Verständnis der Wesensgehaltsgarantie herangezogen.7 Problematisch ist ferner, dass es „die“ Rechtsprechung nicht gibt. Zu verschiedenen Fragen haben unterschiedliche Gerichte unterschiedliche Antworten gegeben, manche Fragen wurden gerichtlich noch nicht geklärt oder Gerichte haben in ihrem Maßstabsteil im Urteil zwar bestimmte Annahmen postuliert, sich aber an diese bei der Subsumtion nicht gehalten. In der Literatur wurde zuweilen auf die hohe Aufhebungsquote versammlungsrechtlicher Entscheidungen durch das BVerfG hingewiesen.8 Dies wird als Indiz gewertet, dass selbst bei Zitierung der Maßstäbe des BVerfG in einer gerichtlichen Entscheidung die Rechtsprechung des BVerfG nicht sauber umgesetzt wird. Eine empirische Untersuchung, die exakte Erkenntnisse über Art und Häufigkeit der Nichteinhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben liefert, existiert nicht. Mangels Alternativen wird die Rechtsprechung, so wie sie ist, zugrunde gelegt.
I. Die Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG Das Grundrecht, anhand dessen im Folgenden9 der Wesensgehalt ermittelt werden soll, ist die Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG,10 denn dieses Grundrecht hat besonders enge Bezüge zum demokratischen Prozess und zur demokratischen Willensbildung. Das BVerfG hat in seinem grundlegenden Brokdorf-Beschluss11 ausgeführt: „Als Abwehrrecht, das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugute kommt, gewährleistet Art. 8 GG den Grundrechtsträgern das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung und untersagt zugleich staatlichen Zwang, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fernzubleiben. Schon in diesem Sinne gebührt dem Grundrecht in einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang; das Recht, sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln, galt seit jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewußten Bürgers. In ihrer Geltung für politische Veranstaltungen 7
Siehe hierzu oben D. IV.–D. IV. 6. Hoffmann-Riem, Demonstrationsfreiheit auch für Rechtsextremisten?, NJW 2004, 2777 (2779 f.). 9 Dieser Abschnitt stellt eine grundlegende Vertiefung von Aspekten dar, die teilweise bereits angerissen wurden bei Schaks, Versammlungsfreiheit, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. IV, 2. Aufl. 2022, § 115. 10 Siehe zu den Landesverfassungen vor Inkrafttreten des Grundgesetzes knapp Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. IV, 2011, § 106 Rn. 9. 11 BVerfGE 69, 315 ff. Kritisch zu einem dort zum Vorschein kommenden „judicial activism“, Heintzen, Das alte Versammlungsgesetz in der neuen Hauptstadt, in: FS Isensee, 2002, S. 103 (103). 8
I. Die Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG
317
verkörpert die Freiheitsgarantie aber zugleich eine Grundentscheidung, die in ihrer Bedeutung über den Schutz gegen staatliche Eingriffe in die ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung hinausreicht.“12
Und weiter: „In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, die sich bislang mit der Versammlungsfreiheit noch nicht befaßt hat, wird die Meinungsfreiheit seit langem zu den unentbehrlichen und grundlegenden Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens gezählt. Sie gilt als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit und als eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt, welches für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend ist; denn sie erst ermöglicht die ständige geistige Auseinandersetzung und den Kampf der Meinungen als Lebenselement dieser Staatsform (vgl. BVerfGE 7, 198 [208]; 12, 113 [125]; 20, 56 [97]; 42, 163 [169]). Wird die Versammlungsfreiheit als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe verstanden, kann für sie nichts grundsätzlich anderes gelten.“13
In ähnlicher Weise hat der EGMR die Versammlungsfreiheit als grundlegendes Recht in einer demokratischen Gesellschaft und als eine der Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft bezeichnet.14 Das BVerfG ist der Auffassung, dass Versammlungen „zutreffend als wesentliches Element demokratischer Offenheit bezeichnet“ werden, und zitiert Konrad Hesse mit den Worten „Sie [scil.: Versammlungen] bieten … die Möglichkeit zur öffentlichen Einflußnahme auf den politischen Prozeß, zur Entwicklung pluralistischer Initiativen und Alternativen oder auch zu Kritik und Protest …; sie enthalten ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren.“15 Vieles an diesem Satz ist falsch:16 Versammlungen sind oft akribisch geplant und vorbereitet. Das Gesetz selbst geht von der geordneten Versammlung mit Anmeldern, Leitern und Ordnern aus (vgl. nur § 2, §§ 7 bis 11 VersG).17 Eine hierarchische Ordnung ist aber das Gegenteil von „ursprünglich-ungebändigt“. Darüber hinaus handelt es sich nicht um „unmittelbare Demokratie“ im Rechtssinne, denn das Grundgesetz kennt gerade keine un12
BVerfGE 69, 315 (343). BVerfGE 69, 315 (344 f.). So auch Benda, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Mai 1995), Art. 8 Rn. 2 f. 14 EGMR, Urt. v. 20.2.2003 – 20652/92, Rn. 56 – Djavit An v. Türkei, https://hudoc.echr. coe.int/?i=001–60953 (Stand: 10.8.2023). 15 BVerfGE 69, 315 (346 f.) – Auslassungen im Original. Konrad Hesse war einer der am Brokdorf-Beschluss beteiligten Richter. 16 So die harsche Kritik von Salát, The Right to Freedom of Assembly, 2015, S. 48 f. Ebenfalls kritisch bis ablehnend B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 149; Müller-Franken, in: Schmidt-Bleibtreu, GG, 15. Aufl. 2022, Art. 8 Rn. 4. 17 Umfassend Ebeling, Die organisierte Versammlung, 2017, S. 15–24. Kritisch bereits Geulen, Versammlungsfreiheit und Großdemonstrationen, KJ 1983, 189 (193–195). 13
318
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
mittelbare Demokratie auf Bundesebene.18 Vielmehr geht es von der repräsentativen Demokratie aus. Unabhängig davon kann grundsätzlich nur das Volk als Summe der deutschen Staatsangehörigen demokratische Legitimation spenden.19 Versammlungsteilnehmer sind hiervon nur ein kleiner Ausschnitt und kommen nach der Rechtsprechung des BVerfG als Legitimationsspender nicht in Betracht.20 Dabei handelt sich bei Versammlungen auch nicht um „Selbstverwaltung“, sodass die von der Rechtsprechung in diesem Bereich ausnahmsweise vorgenommenen Lockerungen der Voraussetzungen für demokratische Legitimation21 zu keiner anderen Betrachtung führen. Gleichwohl ist im Ergebnis der Betonung der Bedeutung von Versammlungen für den demokratischen Prozess zuzustimmen. Horst Dreier spricht deshalb auch von den „demokratiefunktionalen Mitwirkungs- und Kommunikationsgrundrechten“, zu denen er auch Art. 8 GG zählt.22 Versammlungen und damit die Versammlungsfreiheit haben somit einen sehr engen und klaren Demokratiebezug, sie können sogar hochgradig politisch sein.23 Die Montagsdemonstrationen in der DDR im Jahre 1989 haben dies eindrucksvoll belegt. Betrachtet man die Geschichte der Bundesrepublik seit 1949, so lassen sich grob die folgenden Etappen24 ausmachen: 68er-Studentenproteste, Anti-Atomkraftbewegung und Friedensbewegung in den 1970erund 1980er-Jahren, Neonazi-Aufmärsche seit den 1990er-Jahren, ebenfalls ab den 1990er-Jahren Tanz- und Vergnügungsveranstaltungen, Protestcamps seit den 2010er-Jahren, Spaziergänger in der Coronazeit25, „Fridays for Future“ und „Klimakleber“ in der jüngsten Vergangenheit. Auch international haben Versammlungen eine wichtige Rolle gespielt. In den letzten Jahren haben Versammlungen z.B. in der Ukraine oder in Ägypten politische Machtwechsel ausgelöst. In manchen Staaten wie etwa im Iran, in 18
Siehe hierzu oben B. II. 1. b). Siehe hierzu oben B. II. 1. b). 20 Vgl. BVerfGE 83, 37 (50); 83, 60 (71 f.). 21 Hierzu BVerfGE 107, 59 (LS 1, 91, 94); 135, 155 (222); 136, 194 (262). 22 H. Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, JZ 1994, 741 (741). Siehe zur Bedeutung für die Demokratie auch Quilisch, Die demokratische Versammlung, 1970, S. 147–154; Schwäble, Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, 1975, S. 58–70. 23 Siehe zu den ideengeschichtlichen Strängen der Versammlungsfreiheit Sinder, Versammlungskörper. Zum Schutz von hybriden und online-Versammlungen unter dem Grundgesetz, in: Greve/Gwiasda et al. (Hrsg.), 60. ATÖR – Der digitalisierte Staat, 2020, S. 223 (230–239). 24 Siehe auch die Einordnungen bei Blanke/Sterzel, KJ 1981, 347 (348 ff.); Brüning, Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit in der „streitbaren Demokratie“, Der Staat 41 (2002), 213 (213); Höfling/Augsberg, Versammlungsfreiheit, Versammlungsrechtsprechung und Versammlungsgesetzgebung, ZG 2006, 151 (159–166); A.-B. Kaiser, in: Dreier, GG, Bd. I, 4. Aufl. 2023, Art. 8 Rn. 7–11; Kraujuttis, Versammlungsfreiheit zwischen liberaler Tradition und Funktionalisierung, 2005, S. 61–71. 25 Hierzu Gregor, Versammlungsrechtlicher Umgang mit „Spaziergängen“, DÖV 2022, 759 ff. 19
I. Die Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG
319
Venezuela oder Weißrussland ist dies trotz anhaltender Proteste (noch) nicht gelungen. In Frankreich erinnert der Nationalfeiertag am 14. Juli an den Sturm auf die Pariser Bastille im Jahre 1789 und damit an eine – wenn auch nicht friedliche und damit nach heutigem Verständnis nicht geschützte – Versammlung. Diese wenigen Beispiele dürften ausreichen, um die politische Bedeutung von Versammlungen zu illustrieren. Diese Bedeutung ist vielschichtig26 und nicht lediglich auf den gewaltsamen Umsturz angelegt, wie die Beispiele suggerieren könnten. Versammlungsfreiheit und Versammlungen sind einerseits Voraussetzungen einer freien Demokratie,27 können aber andererseits auch antidemokratisch genutzt werden. Versammlungen können das jeweils herrschende politische System umstürzen, sie können aber auch als druckablassendes Ventil stabilisierend wirken.28 In der Bundesrepublik Deutschland ist die Versammlungsfreiheit in Art. 8 GG enthalten, der seit Inkrafttreten des Grundgesetzes textlich unverändert geblieben ist. Er lautet: „(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. (2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“
Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit ähnelt in seinem Wortlaut Art. 123 WRV.29 Diese Bestimmung lautete: „(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder besondere Erlaubnis friedlich und unbewaffnet zu versammeln. (2) Versammlungen unter freiem Himmel können durch Reichsgesetz anmeldepflichtig gemacht und bei unmittelbarer Gefahr für die öffentliche Sicherheit verboten werden.“
Weiterhin konnte Art. 123 WRV durch Art. 48 II 2 WRV durch den Reichspräsidenten ganz oder zum Teil außer Kraft gesetzt werden. Von dieser Möglichkeit wurde z. B. durch § 1 der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ (sog. Reichstagsbrandverordnung) vom 28.2.193330 Gebrauch gemacht, nachdem zuvor schon das Versammlungsrecht
26
Benda, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Mai 1995), Art. 8 Rn. 3, 6. BVerfGE 69, 315 (343–345). 28 Siehe zu den Funktionen der Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG BVerfGE 69, 315 (345–347); A.-B. Kaiser, in: Dreier, GG, Bd. I, 4. Aufl. 2023, Art. 8 Rn. 23 f. sowie unten E. II. 4. b)–E. II. 4. b) bb) (5). 29 Verfassung des Deutschen Reichs v. 11.8.1919, RGBl. I, 1383. Hierzu Waldecker, Vereins- und Versammlungsfreiheit, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 637–651. 30 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat v. 28.2.1933, RGBl. I, 83 („Reichstagsbrandverordnung“). 27
320
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
durch die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes“ (sog. Schubladenverordnung) vom 4.2.193331 erheblich verschärft worden war. Art. 123 WRV bezieht sich seinerseits auf § 161 der Paulskirchenverfassung von 1849, welcher lautete: „(1) Die Deutschen haben das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln; einer besonderen Erlaubniß dazu bedarf es nicht. (2) Volksversammlungen unter freiem Himmel können bei dringender Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit verboten werden.“32
In der Gegenüberstellung der drei Verbürgungen der Versammlungsfreiheit aus den Jahren 1849, 1919 und 194933 treten die Leitmotive „Friedlichkeit“ und „öffentliche Sicherheit“ als begrenzende Faktoren bzw. Voraussetzungen auf der einen und „Anmelde- und Erlaubnisfreiheit“ als inhaltliche Gewährleistungen auf der anderen Seite auf, auch wenn den Begriffen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Bedeutungsgehalte beigemessen wurden.34 Als Kontrast zu diesen Grundrechtsverbürgungen sei auf den Beschluss des Deutschen Bundes vom 5.7.183235 (rund einen Monat nach dem Hambacher Fest36) hingewiesen, der ein fast unbedingtes Verbot aller Volksversammlungen bewirkte. Art. 3 dieses Bundesbeschlusses lautete: „Art. 3. Außerordentliche Volksversammlungen und Volksfeste, nämlich solche, welche bisher hinsichtlich der Zeit und des Ortes weder üblich noch gestattet waren, dürfen, unter welchem Namen und zu welchem Zwecke es auch immer sey, in keinem Bundesstaate, ohne vorausgegangene Genehmigung der competenten Behörde, statt finden. Diejenigen, welche zu solchen Versammlungen oder Festen durch Verabredungen oder Ausschreiben Anlaß geben, sind einer angemessenen Strafe zu unterwerfen. Auch bei erlaubten Volksversammlungen und Volksfesten ist es nicht zu dulden, daß öffentliche Reden politischen Inhalts gehalten werden; diejenigen, welche sich dieß zu Schulden kommen lassen, sind nachdrücklich zu bestrafen, und wer irgend eine Volksversammlung dazu mißbraucht, Adressen oder Beschlüsse in Vorschlag zu bringen und
31 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes v. 4.2.1933, RGBl. I, 35 („Schubladenverordnung“). 32 Verfassung des Deutschen Reiches vom 28.3.1849, RGBl. 101. 33 Art. 8 GG steht in der Tradition dieser beiden Vorläufer, B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 104, 106. 34 Hierzu B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 105; Nußberger, Kommunikationsfreiheiten, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 20 Rn. 6. 35 Zweiter Bundesbeschluß „über Maßregeln zur Aufrechthaltung der gesetzlichen Ruhe und Ordnung im Deutschen Bunde“ v. 5.7.1832 („Die Zehn Artikel“), Protokolle der deutschen Bundesversammlung 1832, 24. Sitzung, § 231, abgedruckt in E.R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I, 3. Aufl. 1978, S. 134 f. 36 Hierzu B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 108.
I. Die Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG
321
durch Unterschrift oder mündliche Beistimmung genehmigen zu lassen, ist mit geschärfter Ahndung zu belegen.“37
Art. 29 I Preußische Verfassung 1850 gewährleistete zwar die Versammlungsfreiheit, aber nur für Versammlungen in geschlossenen Räumen. Art. 29 II Preußische Verfassung 1850 sah einen Genehmigungsvorbehalt für öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel vor.38 Wörtlich: „Diese Bestimmung bezieht sich nicht auf Versammlungen unter freiem Himmel, welche auch in Bezug auf vorgängige obrigkeitliche Erlaubniß der Verfügung des Gesetzes unterworfen sind.“
Zudem war das ausführende Versammlungsgesetz äußerst repressiv, und diese Zielsetzung kommt unmissverständlich in seinem Titel zum Ausdruck: „Verordnung über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Mißbrauchs des Versammlungs- und Vereinigungsrechtes“.39 Verbot, Kontrolle und Strafe bilden den restaurativen Fokus der nicht demokratischen Verfassungen. Von staatlichen Schutzpflichten und dem Gedanken der Ermöglichung40 von Versammlungen ist dieses Verständnis weit entfernt. Am Beispiel des Versammlungsrechts lässt sich auch exemplarisch die wechselseitige Beeinflussung von Verfassungsrecht, einfachem Recht und der tatsächlichen Geschehnisse beobachten. Die „Erlaubniß“-Freiheit, von der § 161 I Paulskirchenverfassung sprach, ist eine Reaktion auf politische Repressionen in der Restaurationszeit nach dem Wiener Kongress (Stichwörter: Demagogenverfolgung, Karlsbader Beschlüsse, Hambacher Fest).41 Dieses – kurzfristig erfolglose – Anliegen des Verfassungsgebers von 1849 wurde von der Weimarer Reichsverfassung und später vom Grundgesetz aufgegriffen und im einfachen Recht weiter ausgestaltet. Auf Versammlungen, die täglich in der Bundesrepublik stattfinden, wird der gesetzliche Rahmen angewendet, getestet, gelegentlich überschritten und werden die staatlichen Gewalten zu Reaktionen veranlasst.42 Auch wenn der Verfassungstext in Art. 8 GG selbst seit 1949 unverändert geblieben ist, zeigen sich wechselnde Gegebenheiten und Rechtsverständ-
37 Abgedruckt in E.R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I, 3. Aufl. 1978, S. 134. 38 Vgl. B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 113 f. 39 V. 11.3.1850, Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, 277 ff. 40 So zu Art. 11 EMRK EGMR, Urt. v. 3.5.2007 – 1543/06, Rn. 64 – Bączkowski u.a. v. Polen, https://hudoc.echr.coe.int/?i=001–80464 (Stand: 10.8.2023). 41 Siehe zum sog. Vormärz Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 20. Aufl. 2022, Rn. 263–278. 42 Siehe hierzu bereits oben B. I. 2. b).
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
nisse auch bei gleichbleibendem Verfassungstext.43 Dies gilt in besonders offenkundiger Weise bezüglich der Strafbarkeit von Sitzblockaden (§ 240 StGB). Der Erste Senat des BVerfG entschied 1986 mit 4:4 Stimmen, dass Sitzdemonstrationen, bei denen die Teilnehmer Zufahrten zu militärischen Einrichtungen ohne gewalttätiges Verhalten durch bloßes Verweilen auf der Fahrbahn versperrten, als Nötigung bestraft werden durften.44 Demgegenüber judizierte 1995 der Erste Senat45 mit nunmehr 5:3 Stimmen, dass eine solche rein passive Sitzdemonstration keine strafbare Nötigung i.S.d. § 240 StGB darstellt.46 Der BGH hat die Folgen dieser Rechtsprechungsänderung spitzfindig minimiert. Er konzediert zwar, dass die (bloß) psychische Zwangswirkung, die von dem sitzenden Demonstranten ausgeht, keine Gewalt i.S.d. § 240 I StGB darstellt. Sobald sich jedoch weitere Fahrzeuge hinter dem ersten haltenden Fahrzeug aufstauten, würde das erste Fahrzeug nicht nur psychischen Zwang ausüben, sondern für die sich aufstauenden Fahrzeuge eine physische Barriere bilden, was „Gewalt“ i.S.d. § 240 I StGB begründen könne.47 Diese sog. Zweite-Reihe-Rechtsprechung blieb in einem Kammerbeschluss des BVerfG unbeanstandet.48 Seit einiger Zeit sind es die Aktivisten der Gruppierung „Letzte Generation“49, die sich u.a. auf Autobahnen für ihre Sitzblockaden mit Sekundenkleber festkleben („Klimakleber“) und die Frage der Strafbarkeit wegen Nötigung erneut in das Zentrum der recht(swissenschaft)lichen Befassung rücken.50 Lediglich mittelbare Auswirkungen auf Art. 8 GG hatte die Föderalismusreform der 2000er-Jahre, welche die Gesetzgebungskompetenz für das Recht
43 44
Hierzu A.-B. Kaiser, in: Dreier, GG, Bd. I, 4. Aufl. 2023, Art. 8 Rn. 7–11. BVerfGE 73, 206 ff.; so auch BVerfGE 76, 211 (215–217) ebenfalls bei Stimmengleich-
heit. 45
Lediglich zwei Richter (Henschel und Seidl) waren an beiden Verfahren beteiligt. BVerfGE 92, 1 ff. 47 BGHSt 41, 182 (183–187); BGH, NJW 1995, 2862. 48 BVerfG(K), NJW 2011, 3020 (3020–3022). Allerdings muss nach der Rechtsprechung bei Sitzblockaden die Verwerflichkeit i.S.d. § 240 II StGB unter Berücksichtigung der näheren Umstände der Demonstration besonders sorgfältig betrachtet werden; „[W]ichtige Abwägungselemente sind unter anderem die Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand“, so BVerfGE 104, 92 (112). 49 Gemeint ist die letzte Generation vor dem Erreichen der „Kipppunkte“, siehe zu diesen BVerfGE 157, 30 (54 f., 118 f.). Siehe zur Gruppierung https://www.rnd.de/politik/ letzte-generation-name-finanzierung-kritik-die-wichtigsten-infos-zur-klima-protestgruppeVJ2VBSWU7JAL7NZI3ABKMLQQV4.html (Stand: 10.8.2023). 50 Aus der Literatur T. Preuß, Die strafrechtliche Bewertung der Sitzblockaden von Klimaaktivisten, NZV 2023, 60 ff.; F.-L. Schmidt, Zur Strafbarkeit von Straßenblockaden der „Letzten Generation“ wegen Nötigung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, KlimR 2023, 210 ff. jeweils auch m. N. zur Rechtsprechung. 46
I. Die Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG
323
des Versammlungswesens vom Bund51 auf die Länder übertrug.52 Die Auswirkungen dieses Zuständigkeitswechsels sind jedoch wenig folgenschwer. Einige Länder wie z.B. Baden-Württemberg haben von ihrer „neuen“ Kompetenz bislang keinen Gebrauch gemacht, sodass das Versammlungsgesetz des Bundes in diesen Ländern weiterhin gilt (vgl. Art. 125a I GG). Andere Länder haben erst kürzlich von ihrer Kompetenz Gebrauch gemacht.53 Die übrigen Länder, also jene mit einem eigenen Landesversammlungsgesetz, haben sich vergleichsweise eng am Bundesversammlungsgesetz orientiert. Das Bayerische Versammlungsgesetz, das erste Landesversammlungsgesetz nach der Föderalismusreform, hat zwar den Versuch unternommen, eigene Akzente zu setzen. Dieses wurde jedoch vom BVerfG in wichtigen Bereichen für verfassungswidrig erachtet, wobei es sich sogar um einen der seltenen Fälle handelte, in denen bereits das Inkrafttreten eines Gesetzes verhindert wurde.54 Das BVerfG hat sich zwar erst spät zur Versammlungsfreiheit in grundlegender Weise geäußert, nämlich im Jahre 1984 in seinem BrokdorfBeschluss.55 Aber es hat mittlerweile die Versammlungsfreiheit bis in Details ausgestaltet. So hat die Erste Kammer des Ersten Senats des BVerfG in einem Eilbeschluss beispielsweise die Anzahl der Fahnen, welche mitgeführt werden dürfen, festgelegt (zehn schwarze Trauerfahnen).56 Diese bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle wird allgemein als engmaschig eingestuft.57 Für seine Entscheidungspraxis, die das BVerfG entgegen seinen eigenen Beteue-
51 V. Coelln, in: Ullrich/v. Coelln/Heusch (Hrsg.), Handbuch Versammlungsrecht, 2021, Rn. 35 weist darauf hin, dass auch in der Weimarer Reichsverfassung (Art. 7 Nr. 6) die Reichsebene die konkurrierende Zuständigkeit für das Versammlungswesen besaß. Art. 4 Nr. 16 Var. 2 der Reichsverfassung von 1871 räumte dem „Bund“ die Gesetzgebungskompetenz für das „Vereinswesen“ ein, worunter auch das Versammlungswesen fiel, vgl. Schaks, Versammlungsfreiheit, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. IV, 2. Aufl. 2022, § 115. Rn. 10. 52 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 22, 23, 33, 52, 72, 73, 74, 74a, 75, 84, 85, 87c, 91a, 91b, 93, 98, 104a, 104b, 105, 107, 109, 125a, 125b, 125c, 143c) v. 28.8.2006, BGBl. I, 2034. Siehe hierzu speziell für das Versammlungsrecht P.M. Huber/Uhle, Die Sachbereiche der Landesgesetzgebung nach der Föderalismusreform, in: Heintzen/Uhle (Hrsg.), Neuere Entwicklungen im Kompetenzrecht, 2014, S. 83 (96–100); Oeter, Neustrukturierungen der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz, Veränderung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes, in: Starck (Hrsg.), Föderalismusreform, 2007, S. 9 (34 f.). Siehe umfassender zu den Grundgesetzreformen nach der Wiedervereinigung Sodan, Kontinuität und Wandel im Verfassungsrecht, NVwZ 2009, 545 (549 f.). 53 Vgl. Hessisches Versammlungsfreiheitsgesetz v. 22.3.2023, HessGVBl, 150. 54 BVerfGE 122, 342 ff. 55 BVerfGE 69, 315 ff. 56 BVerfG(K), NVwZ 2002, 983 (984). 57 So Oeter, Neustrukturierungen der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz, Veränderung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes, in: Starck (Hrsg.), Föderalismusreform, 2007, S. 9 (35). Siehe auch B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 410.
324
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
rungen als Superrevisionsgericht58 erscheinen lässt,59 kann es verschiedene Ursachen geben. Möglicherweise ist dieses Vorgehen der engen Verbindung von Versammlungsfreiheit und Versammlungsgesetz und im Verfahren gem. § 32 I BVerfGG der Eilbedürftigkeit von Versammlungen geschuldet, was sich in einer größeren Kontrolldichte niederschlägt.60 Vielleicht lässt sich dieser Befund aber auch kritischer deuten, denn die detaillierten Vorgaben können Ausdruck der vergleichsweise häufigen Missachtung der bundesverfassungsgerichtlichen Vorgaben sein, welche sich in relativ hohen Aufhebungsquoten zeigen und die das Gericht zu eher kleinteilig operierenden Entscheidungen veranlassen.61 Ein weiterer Grund hierfür könnte sein, dass die Versammlungsbehörden zur Exekutive gehören und jede Entscheidung über die Versammlungstätigkeit des politischen Gegners in gewisser Weise auch eine Entscheidung in eigener Sache darstellen könnte. Zumindest liegt ein Selbstbezug vor. Die Ursachen mögen jedoch dahinstehen, jedenfalls ist der Übergang der Gesetzgebungskompetenz auf die Länder lediglich ein partieller, zumal die Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG bereits vor der Föderalismusreform durch das BVerfG in weiten Teilen präzisiert worden ist und diese Ausführungen auch weiterhin gelten.62 Eine Bundeskompetenz für das Recht des Versammlungswesens besteht jedenfalls nach wie vor: Das BVerfG hat die negative Kompetenz, mit Art. 8 GG unvereinbare Landesgesetze und Gerichtsentscheidungen allgemein aufzuheben (z.B. Art. 93 I Nr. 2 und Nr. 4a GG). Dies gestattet wegen der engen Verzahnung von Versammlungsverfassungsrecht und einfachem Versammlungsrecht eine besonders weitgehende Beeinflussung des Versammlungsrechts durch die Bundesebene selbst dann, wenn die Gesetzgebungskompetenz nunmehr bei den Ländern liegt. Bevor der Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit ermittelt werden kann, muss ein methodisches Vorgehen konzeptualisiert werden, denn bislang fehlt es an Untersuchungen zum konkreten Wesensgehalt63 eines Grundrechts und dementsprechend an einer hierfür geeigneten Methode. Das Vorgehen des 58 BVerfGE 122 (Abw. Meinung Gerhardt), 248 (303); BVerfG(K), Beschl. v. 24.10.1999 – 2 BvR 1821/99, Rn. 5, BeckRS 1999, 23087. 59 B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 410. 60 Hierzu Hong, Gerichtlicher Rechtsschutz, in: Peters/Janz (Hrsg.), Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, H Rn. 100–106, insbes. 102–103. 61 Siehe oben unter E. 62 Siehe pars pro toto die Kritik an den lehrbuchartigen, nicht entscheidungserheblichen Ausführungen des Brokdorf-Beschlusses bei W.-R. Schenke, Anmerkung zum Urteil des BVerfG v. 14.5.1985, 1 BvR 233/81 (Brokdorf-Entscheidung), JZ 1986, 35 (35). 63 Eine teilweise Ausnahme stellt dar Chlosta, Der Wesensgehalt der Eigentumsgewährleistung, 1975, aber auch er behandelt nur einen Teilbereich von Art. 14 I GG. Dies gilt auch für die internationale Ebene. So enthält die rechtsvergleichende Untersuchung von Salát, The Right to Freedom of Assembly, 2015, ebenfalls keine Ausführungen zum Wesensgehalt und der Aufsatz von Hamilton, The meaning and scope of ‚Assembly‘ in International Human Rights Law, International and Comparative Law Quarterly 69 (2020), 521 ff. keine Aus-
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 325
deutschen und der europäischen Höchstgerichte ist bislang wenig systematisch, sondern eher situativ-apodiktisch, teilweise auch inkonsistent, meistens ausweichend.64
II. Methodik: Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung Die vorliegende Arbeit ist eine rechtsdogmatische und rechtsvergleichende.65 Dementsprechend wird auch hier dogmatisch und vergleichend vorgegangen. Die Rechtsdogmatik ist die gebräuchlichste juristische Methode und wird in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis angewendet. Diese Methode ist deshalb allgemein nachvollzieh- und überprüfbar. Zusätzlich werden die Auslegungsergebnisse durch rechtsvergleichende Erwägungen abgestützt, wobei das südafrikanische Verfassungsrecht als die zu vergleichende Rechtsordnung herangezogen wird. Ausgangspunkt sind zunächst die klassischen, auf Friedrich Carl von Savigny zurückgehenden Auslegungsmethoden.66 Diese sind die Auslegung nach dem Wortlaut, die systematische, historische und teleologische Auslegung.67 Sie gelten auch für die Verfassungsauslegung.68 Konrad Hesse nennt sie die „herkömmliche Interpretationslehre“.69 Da es um das Zusammenwirken zweier Vorschriften geht, können und müssen die Methoden auf beide Vorschriften angewendet werden. So ist beispielswiese der Wortlaut der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG ebenso zu ermitteln wie derjenige der Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG. Gleiches gilt für Systematik, 64 führungen zu einem etwaigen Wesensgehalt des Art. 21 IpbpR; Brkan, The Concept of Essence of Fundamental Rights in the EU Legal Order, European Constitutional Law Review 14 (2018), 332 ff. äußert sich nur abstrakt zur Wesensgehaltsgarantie der EUGrCh. 64 Siehe hierzu oben D. 65 Siehe hierzu oben B. I. 1. sowie B. I. 3.–B. I. 3. c) ee). 66 V. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. I, 1840, S. 213–215, der zwischen grammatischer, logischer, historischer und systematischer Auslegung unterschied. Diese vier Begriffe sind jedoch nicht inhaltsgleich mit deren heutigen Äquivalenten, vgl. Rückert, Methode und Zivilrecht beim Klassiker Savigny (1779–1861), in: Rückert/Seinecke (Hrsg.), Methodik des Zivilrechts, 3. Aufl. 2017, S. 53 (73 ff.). 67 Hieran wird zwar nicht unbegründete Kritik geübt, vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, Rn. 56–78. Gleichwohl soll dem Konzept der Arbeit entsprechend der Rechtsprechung gefolgt werden. Ähnlich ist auch das Vorgehen von Chlosta, Der Wesensgehalt der Eigentumsgewährleistung, 1975, S. 79–147. 68 BVerfGE 11, 126 (130); 35, 263 (278 f.); Determann/Heintzen, Die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle in Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika im Vergleich, ZG 2019, 52 (60); Herdegen, Verfassungsinterpretation als methodische Disziplin, JZ 2004, 873 (875); Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 2 Rn. 4. Explizit hinsichtlich Art. 8 GG Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. IV, 2011, § 106 Rn. 22. 69 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, Rn. 53, siehe aber auch seine Kritik hieran Rn. 56–78.
326
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
Historie sowie Sinn und Zweck der beiden Vorschriften. Nur dann kann die vollständige Ermittlung des Wesensgehalts gelingen. Der Begriff „Wesen“ scheint nahezulegen, sich auf die Besonderheiten des jeweiligen Grundrechts zu konzentrieren (besondere Grundrechtslehren), hier also die Versammlungsfreiheit. Dafür spricht auch die Aussage des BVerfG, wonach der Wesensgehalt für jedes Grundrecht separat zu bestimmen sei.70 Dies schließt es jedoch nicht aus, dass das Wesen eines Grundrechts auch durch Aspekte definiert wird, welche die Grundrechte insgesamt verbinden (allgemeine Grundrechtslehren), denn auch diese sind Teil eines jeden Grundrechts. So ist beispielsweise für die Grundrechte des Grundgesetzes allgemein anerkannt, dass sie rechtsverbindlich sind (Art. 1 III GG), Einschränkungen nur auf einer gesetzlichen Grundlage erfolgen dürfen (Gesetzesvorbehalt, explizit Art. 8 II GG) und verhältnismäßig sein müssen (Übermaßverbot, auch Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genannt). Dies ist zwar nicht für die Versammlungsfreiheit allein charakteristisch, gilt aber auch für diese. Deshalb ist denkbar, diese Aspekte ebenfalls dem Wesensgehalt des Art. 8 GG zuzuordnen.71 Aus diesem Grund wird in der folgenden Untersuchung nicht nur darauf eingegangen, was die verschiedenen Grundrechtsverbürgungen unterscheidet, sondern auch darauf, was sie eint. Aussagen aus Literatur und Rechtsprechung zu einzelnen Aspekten, z.B. dem Anmeldeerfordernis gem. § 14 VersG, werden systematisch in die Darstellung integriert. Zwar unterliegt die Verfassung dem Wandel, und auch der Wesensgehalt eines Grundrechts ist nicht statisch.72 Dies steht aber der Ermittlung der Wesensgehaltsgarantie nicht entgegen, auch wenn es sich bei jeder Ermittlung lediglich um eine Momentaufnahme handeln mag. Bereits hieraus wird auch deutlich, dass sich die Untersuchung nicht allein auf den Schutzbereich73 der Versammlungsfreiheit konzentrieren kann, sondern auch die Ebene der Beeinträchtigung und der Rechtfertigung berücksichtigen muss. Schließlich muss gerade nach Grundrechtsbeschränkungen der Wesensgehalt unangetastet bleiben.74 70 BVerfGE 22, 180 (219); 109, 133 (156); 117, 71 (96); G. Herbert, Der Wesensgehalt der Grundrechte, EuGRZ 1985, 321 (331); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 19 Rn. 11; Kerkemeyer, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 45; Kingreen/ Poscher, Grundrechte, 38. Aufl. 2022, Rn. 440. 71 Hierauf wird insbesondere bei der systematischen Auslegung eingegangen, vgl. E. II. 2. a) bb). 72 Siehe hierzu oben B. I. 2. c) sowie D. I. 3. und Leisner-Egensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 76. 73 Kritik am Begriff bei Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. IV, 2011, § 106 Rn. 19–21. 74 Siehe zu den vielgestaltigen Beschränkungsmöglichkeiten der Versammlungsfreiheit durch klassische und moderne Eingriffe, B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 307–319.
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 327
1. Auslegung nach dem Wortlaut Die Auslegung nach dem Wortlaut, auch grammatische Auslegung genannt, führt zu einer Interpretation anhand der Bedeutung eines Ausdrucks oder einer Wortverbindung im juristischen Sprachgebrauch oder – in Ermangelung eines solchen – im allgemeinen Sprachgebrauch.75 Jedoch sind exakte juristische Definitionen selten, insbesondere im Grundgesetz, und der allgemeine Sprachgebrauch ist oft nicht eindeutig. Wäre es anders, bedürfte es keiner umfassenden Auslegung.76 Gleichwohl hat die Interpretation beim Wortlaut zu beginnen.77 a) Wortlaut des Art. 19 II GG Die beiden zentralen Begriffe des Art. 19 II GG sind „Wesen“ und „Gehalt“ in dem Wort „Wesensgehalt“. aa) Wesen Mit „Wesen“ ist dem allgemeinen Sprachgebrauch nach das Besondere, Kennzeichnende, Charakteristische oder Typische einer Sache gemeint, also das, was die Sache zu dem macht, was sie ist.78 Damit ist klar, dass der Wesensgehalt nicht über das Grundrecht hinausreichen kann, sondern nur einen Teil desselben darstellen kann. Hieraus folgen zwei Erkenntnisse: Erstens kann ein Aspekt, der schon nicht zum Grundrecht gehört, also außerhalb des Grundrechts liegt, erst recht nicht zu dessen Wesen gehören.79 Das Wesen muss aus dem Grundrecht von innen heraus ermittelt werden und kann nicht von außen an das Grundrecht herangetragen werden.80 Art. 19 II GG verschafft somit dem 75 So Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 320; Sodan, Das Verbot kollektiven Verzichts auf die vertragsärztliche Zulassung als Verfassungsproblem, 2010, S. 22. 76 Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 5. Aufl. 2023, S. 129. Ähnlich Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 320 f.; Zippelius, Das Wesen des Rechts, 6. Aufl. 2012, S. 79. 77 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 320, 343; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 12. Aufl. 2022, Rn. 731; Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 2 Rn. 6. 78 „Wesen“ in: Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 6. Aufl. 2007. So auch LeisnerEgensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 76 f.; Lerche, Grundrechtsschranken, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 122 Rn. 29 im Hinblick auf Art. 19 II GG. 79 Leisner-Egensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 69 f. 80 E.R. Huber, Der Streit um das Wirtschaftsverfassungsrecht (II), DÖV 1956, 135 (142); J. H. Kaiser, Verfassungsrechtliche Eigentumsgewähr, Enteignung und Eigentumsbindung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Mosler (Hrsg.), Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, Bd. 34, 1960, S. 5 (43); L. Schneider, Der Schutz des Wesensgehalts von Grundrechten nach Art. 19 Abs. 2 GG, 1983, S. 160.
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
jeweiligen Grundrecht keine zusätzliche Substanz und nichts, was das Grundrecht ohne die Wesensgehaltsgarantie nicht hätte.81 Zweitens kann neben der positiven Bestimmung auch negativ vorgegangen werden. Wenn unklar oder umstritten ist, ob etwas von der Versammlungsfreiheit geschützt wird, wird man diesen Aspekt nicht als prägend und charakteristisch für das Grundrecht bezeichnen können. Dann nimmt dieser Teil aller Regel nach nicht am Wesensgehalt teil.82 Das kann sich theoretisch insofern als problematisch erweisen, als die bloße Anzweiflung in der Literatur oder Rechtsprechung darüber entscheiden könnte, ob eine Verhaltensweise zum Wesensgehalt gehört oder nicht. Ein solches Ergebnis kann ebenso wenig richtig sein, wie eine künstlich entfachte Diskussion in der Öffentlichkeit zur „Wesentlichkeit“ im Sinne der Wesentlichkeitsrechtsprechung führt.83 Vielmehr wird man vereinzelt gebliebene, schwer begründbare oder erkennbar interessengeleitete Stellungnahmen wohl als unbeachtlich ansehen müssen. Bei Gerichten können aufgehobene Entscheidungen z.B. ausgeklammert werden. Dieser Aspekt wird der Vertiefung bedürfen. Für die Zwecke dieser Arbeit ist er jedoch weniger dringlich, da sich Rechtswissenschaft und -praxis ohnehin nicht im Detail mit der Wesensgehaltsgarantie beschäftigen und der hier verfolgte Ansatz84 – soweit ersichtlich – nicht propagiert wurde. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass es bislang keine strategischen Erwägungen gab, welche die Diskussion methodisch verfälscht haben können. Im Zweifelsfall soll ohnehin die Position der Rechtsprechung als maßgeblich angesehen werden. Somit lassen sich ein durch die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG absolut geschützter Kernbereich des Grundrechts und ein Randbereich ausmachen, der zwar auch verfassungsrechtlichen Schutz durch das Grundrecht genießt, aber beschränkt werden darf. Vom Wesen ist im Recht häufig die Rede. Nicht nur die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, sondern auch Art. 19 III GG verwendet den Begriff „Wesen“. Dort wird für die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen danach gefragt, ob das Grundrecht seinem „Wesen nach“ auf die juristische Person anwendbar sei. Wegen des identischen Begriffs und der engen systematischen Verbindung in demselben Artikel scheint es nahezuliegen, diese Parallele näher zu untersuchen. Nach dem BVerfG scheidet die Erstreckung eines Grundrechts auf juristische Personen als bloße „Zweckgebilde der Rechtsordnung“ dort aus, „wo der Grundrechtsschutz an Eigenschaften, Äußerungsfor81
BVerfGE 22, 180 (219). So auch Krebs, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 19 Rn. 23. 82 Schaks, Democracy and (the essential content of) fundamental rights: marching in line or precarious balancing act?, Law, Democracy & Development 23 (2019), 299 (321 f.). 83 BVerfGE 98, 218 (251); 139, 19 (45 f.) m.w.N. 84 Siehe auch Leisner-Egensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 71–78.
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 329
men oder Beziehungen anknüpft, die nur natürlichen Personen wesenseigen sind“85. Eine Definition von „Wesen“ erfolgt hier nicht. Entscheidend ist aber nach dieser Rechtsprechung, anders als der Wortlaut es zunächst nahezulegen scheint,86 nicht das Wesen der Grundrechte, sondern das Wesen von natürlichen Personen einerseits und juristischen Personen andererseits. Setzt ein Grundrecht für seine Anwendbarkeit insgesamt87 menschliche Eigenschaften voraus, dann ist dieses Grundrecht nicht auf juristische Personen anwendbar, wie etwa die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG).88 Unabhängig davon, ob man an „Eigenschaften, Äußerungsformen oder Beziehungen anknüpft, die nur natürlichen Personen wesenseigen sind“,89 oder mit dem Wortlaut des Art. 19 III GG doch auf das „Wesen“ des Grundrechts abstellt, wird nicht auf das Innerste, Charakteristische oder den Kern des Grundrechts rekurriert. Vielmehr werden die einzelnen Ausprägungen des Grundrechts (Recht am eigenen Bild) oder das Grundrecht insgesamt betrachtet, und es wird gefragt, ob Interessen geschützt werden, die lediglich bei Menschen vorkommen bzw. menschliche Eigenschaften voraussetzen90 oder nicht. Ob es sich dabei um einen randständigeren oder zentralen Teil des Grundrechts handelt, ist hierbei unerheblich. Entscheidend ist allein, ob der Schutzgehalt von einer juristischen Person „in Anspruch genommen“ werden kann. Deshalb ist Art. 19 III GG für die Begriffsbestimmung des Wortes „Wesen“ nicht weiter bedeutsam. Eine weitere, wenn auch weniger enge Parallele drängt sich zum sog. Wesentlichkeitsgedanken91 auf. Dieser ist nicht explizit in der Verfassung niedergelegt, wird aber aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip abgeleitet. Nach der Rechtsprechung des BVerfG bedarf es nicht nur für Eingriffe in grundrechtliche Freiheit einer gesetzlichen Grundlage, sondern immer dann, wenn „wesentliche“ Fragen der Grundrechtsausübung betroffen sind. Allerdings ist offengeblieben, wann etwas „wesentlich“ in diesem Sinne ist. Bereits aus diesem Grund ist eine Übertragung auf die Wesensgehaltsgarantie nicht einfach. Vor allem aber lässt sich der Wesentlichkeitsgedanke deshalb nicht für 85
BVerfGE 106, 28 (42). Art. 8(4) FC ist in dieser Hinsicht präziser, da er sowohl auf die Natur des Grundrechts als auch auf die Natur der juristischen Person abstellt. 87 Siehe Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 67; speziell zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht und dessen differenzierter Anwendbarkeit auf juristische Personen Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 2 Rn. 9. 88 BVerwGE 54, 211 (220); Müller-Terpitz, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 147 Rn. 7; Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 68. 89 So BVerfGE 106, 28 (42). 90 Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 68. 91 Siehe hierzu BVerfGE 139, 19 (45 f.) m.w.N.; VGH Mannheim, Beschl. v. 9.4.2020 – 1 S 925/20, Rn. 31–33, BeckRS 2020, 6351; Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 24 Rn. 27–30. 86
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG fruchtbar machen, weil auch der Bezugspunkt beider Figuren unterschiedlich ist. Der Wesentlichkeitsgedanke bezieht sich auf das ganze Grundrecht und nicht – wie die Wesensgehaltsgarantie – bloß auf die charakteristischen Merkmale. Er greift auch dann, wenn nicht der Wesenskern des Grundrechts, sondern der Randbereich betroffen ist. Somit besteht keine Identität oder zumindest keine enge Verbindung zwischen Wesentlichkeitsrechtsprechung und Wesensgehaltsgarantie. Abgesehen von diesen beiden naheliegenden Assoziationen zur Wesensgehaltsgarantie wurde und wird der Begriff Wesen in ganz unterschiedlichen Rechtskontexten bemüht. 1928 war beispielsweise das Thema „Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit“ erster Beratungsgegenstand der 5. Staatsrechtslehrertagung in Wien.92 Anders als zu vermuten, wird der wichtige, da titelgebende Begriff „Wesen“ in beiden Referaten nicht näher definiert. Heinrich Triepel setzt ihn aber in seinem Referat mit „grundsätzlichen Bemerkungen“ bzw. „Grundsätzlichem“ gleich.93 Ebenfalls ist die Rede von dem „Wesentlichen“94, also dem Relevanten. Demgegenüber findet sich in Hans Kelsens Referat eine andere Umschreibung des „Wesens“. Nach seinen Ausführungen erhält man das Wesen, wenn man den „festen, stets unberührt gebliebenen Kern herausschält“, der sich von bloßen Modifikationen des Äußeren unterscheidet.95 Ähnlich geht Hans Kelsen auch in einer anderen Schrift vor. In der detaillierten Inhaltsübersicht seines Buchs „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ werden „Der angebliche Wesensgegensatz zwischen Partei und Staat“96 und „Das Wesen des Parlamentarismus“97 angesprochen. Die Kapitelüberschriften beinhalten das Wort „Wesen“ nicht und ein Kapitel mit dem Versuch einer Begriffsbestimmung des „Wesens“ ist gleichfalls nicht vorhanden. Den Passagen, die dem angeblichen Wesensgegensatz zwischen Partei und Staat gewidmet sind, lässt sich lediglich entnehmen, dass hiermit eine grundsätzliche oder fundamentale Unvereinbarkeit gemeint sein soll.98 Später wird aber explizit die Frage aufgeworfen, was das Wesen des Parlamentarismus sei.99 Hier wird zunächst klargestellt, dass das „objektive Wesen“ von der „subjektiven Deutung“ zu unterscheiden sei, und dann wird von den das System bestimmenden Ideen gesprochen.100 Während die Gegenüberstellung einer „objektiven“ Wahrheit und „subjektiven“ Deutungen wissenschaftlich überholt sein dürfte, wird dennoch der zugrunde liegende Gedanke verständ92
VVDStRL 5 (1929). Triepel, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), 2 (3). 94 Triepel, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), 2 (4). 95 Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), 30 (36). 96 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. III. 97 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. IV. 98 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. 20 f. 99 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. 28. 100 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. 28. 93
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 331
lich. Gemeint ist auch hier jeweils das Typische, das Prägende oder die „Natur“ der beschriebenen oder untersuchten Sache im Unterschied zu randständigen Details bzw. das Prinzip im Unterschied zu gewissen Abwandlungen. Auch die „Kern“-Metapher wird hier verwendet. Das BVerfG greift ebenfalls auf den Begriff „Wesen“ in seiner Rechtsprechung zurück, etwa dann, wenn es den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit „aus dem Wesen der Grundrechte selbst“ herleitet.101 Aber auch hier fehlt es an Definitionen oder erläuternden Ausführungen. Im allgemeinen Verwaltungsrecht und im Verwaltungsprozessrecht wird mit dem „Wesensgehalt“ eines Verwaltungsakts argumentiert, wenn es um die Frage der Zulässigkeit des Nachschiebens von Gründen i.S.d. § 114 Satz 2 VwGO geht. Danach soll diese Vorschrift lediglich die prozessualen Voraussetzungen dafür schaffen, „daß defizitäre Ermessenserwägungen ergänzt werden, nicht hingegen, daß das Ermessen erstmals ausgeübt oder die Gründe einer Ermessensausübung (komplett oder doch in ihrem Wesensgehalt) ausgewechselt werden“102. Eine Definition erfolgt hier ebenfalls nicht, aber das Tatbestandsmerkmal „ergänzen“ in § 114 Satz 2 VwGO legt nahe, dass nur kleinere Korrekturen, aber kein Totalaustausch der Ermessenserwägungen zulässig sind. Dabei geht es um die Menge oder das Gewicht an ergänzten oder ausgetauschten Begründungen. Wie diese Abgrenzung zu erfolgen hat, bleibt jedoch offen. Somit ist diese Rechtsprechungslinie ebenfalls nicht weiterführend für den vorliegenden Zusammenhang. In Südafrika wurde die Wesensgehaltsgarantie nach nur kurzer verfassungsrechtlicher Verankerung wieder abgeschafft.103 Die skeptischen Bemühungen, dem Art. 33(1)(b) IC einen Inhalt beizumessen, brachen folglich ab. Anleihen beim früheren Export sind nicht möglich. Im Ergebnis folgt aus der Verwendung des Wortes „Wesen“ in Art. 19 III GG sowie in Rechtsprechung und Literatur aber keine feste Definition des Begriffs, die sich als juristischer Sprachgebrauch bezeichnen ließe. Insgesamt sind die einzelnen Ansätze und Verwendungen zu unterschiedlich, um eine allgemeingültige Ableitung des „Wesens“ vorzunehmen. Vor allem sind sie nicht besonders spezifisch, sondern entsprechen dem allgemeinen Sprachgebrauch. Aus diesem Grund wird der allgemeinsprachliche Begriffsinhalt auch im Folgenden verwendet. Beim Wesen des Wesensgehalts geht es um die charakteristischen Leitgedanken, das Charakteristische, Typische, Prägende, Eigentliche oder das Prinzip.
101 BVerfGE 19, 342 (348 f.); 61, 126 (134); 65, 1 (44); 76, 1 (50 f.); BVerfG(K), NJW 2018, 531 (532). 102 BVerwG, NJW 1999, 2912 (2912) m.w.N. – Hervorhebung nicht im Original. 103 Siehe oben D.
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
bb) Gehalt Auch wenn der Begriff „Wesen“ zentral für das Verständnis der Wesensgehaltsgarantie ist, ist auch der Wortbestandteil „Gehalt“ bedeutsam. Dabei ist dieses Wort mehrdeutig. Sofern hiermit der „gedankliche Inhalt, der geistige ideelle Wert“ einer Sache gemeint ist,104 deckt sich dies weitgehend mit dem Begriff „Wesen“. In diesem Fall handelte es sich um eine Begriffsdoppelung, welche nicht weiterführt. Die Betonung kann bei dem Wort „Gehalt“ auch auf dem Anteil an etwas liegen, also die in einer Sache enthaltene Menge („Quantität“), auch diese Nuance wird von dem Begriff erfasst.105 Juristische Be- und Umschreibungsversuche des Wesensgehalts lauten dergestalt, dass die Grundrechte nicht ihren praktischen Wert verlieren oder nicht in ihrer praktischen Auswirkung bedeutungslos gemacht werden dürfen, das Grundrecht der Sache nach erhalten bleibt, die Grundrechte nicht im tatsächlichen Ergebnis entfallen dürfen oder den Grundrechtsberechtigten eine realisierbare Chance verbleiben muss.106 Synonym zur Antastung des Wesensgehalts werden die Aushöhlung oder Abschnürung der Grundrechte verstanden, ihre Degradierung zur leeren Form oder zum ius nudum.107 Aus allen diesen Beschreibungen wird deutlich, dass etwas positive Substanz des jeweiligen Grundrechts verbleiben muss, nämlich ein gewisser Mindestgehalt (Quantität) von dem, was für das Grundrecht prägend und typisch ist (Qualität). Qualität und Quantität wurden bereits zuvor als relevante Parameter für die Wesensgehaltsbestimmung identifiziert.108 cc) Zwischenergebnis Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass das Wesen sich als eine Verbindung von Qualität und Quantität dergestalt darstellt, dass von den Charakteristika des Grundrechts genug Substanz verbleiben muss.109 Nur dann lässt sich noch von einem „Gehalt an Wesen“ sprechen. Neben der positiven Bestimmung kann auch negativ vorgegangen werden. Nicht geschützt ist das, was nicht dem Schutzbereich des Grundrechts unterfällt. Auch Aspekte, deren Zugehörigkeit zu einem Grundrecht unklar oder zweifelhaft ist, nehmen in aller Regel nicht am Wesensgehalt eines Grundrechts teil. 104
„Gehalt“ in: Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 6. Aufl. 2007. „Gehalt“ in: Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 6. Aufl. 2007. 106 Hierzu Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 45 f. m.w.N. 107 Siehe hierzu Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 46 m.w.N. 108 Siehe oben C. III. 1. b) bb) sowie D. III. 2. a). 109 Vgl. zum Zusammenhang von Qualität und Quantität Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 48; E.R. Huber, Der Streit um das Wirtschaftsverfassungsrecht (II), DÖV 1956, 135 (142 f.). A.A. P.M. Huber, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 148 f. 105
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 333
b) Wortlaut des Art. 8 GG Die entscheidenden Merkmale sind (aa]) „alle Deutschen“, (bb]) „Recht“, (cc]) „sich versammeln“, (dd]) „ohne Anmeldung oder Erlaubnis“, (ee]) „friedlich und ohne Waffen“ sowie (ff]) „durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt“. In Südafrika formuliert Art. 17 FC: „Everyone has the right, peacefully and unarmed, to assemble, to demonstrate, to picket and to present petitions.“ Während die Petitionsfreiheit ein eigenes Grundrecht vergleichbar mit Art. 17 GG darstellt, ist „Versammlungsfreiheit“ der Oberbegriff sowohl für das „right to assemble“ als auch das „right to demonstrate“, wobei in Deutschland „Demonstrationsfreiheit“ kein grundgesetzlicher Begriff ist. Das „right to picket“ ist schwerer zu übersetzen und begrifflich zu fassen. Es geht um Streikposten und spielt in arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen eine Rolle, hat also Bezüge zu Art. 23 FC, welcher die Arbeitsbeziehungen betrifft. Nach deutscher Dogmatik wäre das „right to picket“ eher der Koalitionsfreiheit des Art. 9 III GG zuzuordnen.110 Hier wird allein das „right to assemble“ behandelt. Dieses wird in der südafrikanischen Rechtswissenschaft und -praxis als Oberbegriff auf für das Demonstrationsrecht und als eigener Begriff im Vergleich zum „right to picket“ oder „right to petition“ angesehen.111 Teilweise wird auch der Oberbegriff „right to protest“ gewählt.112 aa) Alle Deutschen Mit dem Begriff „Deutsche“ sind alle Deutschen i.S.d. Art. 116 GG gemeint, also Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit oder solche Personen, die – ohne die deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen – als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling die Voraussetzungen von Art. 116 I GG erfüllen.113 Hierbei ist es unerheblich, ob z.B. der „Abkömmling“ i.S.d. Art. 116 II 1 GG ehelicher oder nicht ehelicher Abstammung ist.114 Abgesehen von der erforderlichen deutschen Staatsangehörigkeit gibt es keine besonderen Einschränkungen im 110 So aber auch Woolman, Freedom of Assembly, in: Woolman/Bishop (Hrsg.), Constitutional Law of South Africa, Bd. 3, 2. Aufl. (Stand: Februar 2005), Kap. 43, 43-24 f. für das südafrikanische Recht. Für eine Gerichtsentscheidung siehe High Court, Witwatersrand Local Division (Claassen), 30.10.1998, 98/23990, Fourways Mall (Pty) Ltd. and Another v. South African Commercial catering and Allied Workers Union and Another, The South African Law Reports 1999, 752 ff. 111 So bei Woolman, Freedom of Assembly, in: Woolman/Bishop (Hrsg.), Constitutional Law of South Africa, Bd. 3, 2. Aufl. (Stand: Februar 2005), Kap. 43, 43-24 f. 112 Omar, A legal analysis in context: The Regulation of Gatherings Act – a hindrance to the right to protest?, South African Crime Quarterly 62 (2017), 21 (23). 113 Heintzen, Ausländer als Grundrechtsträger, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. II, 2006, § 50 Rn. 2. 114 BVerfG(K), NJW 2021, 223 ff.
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
Hinblick auf die Person des Grundrechtsträgers. Weder die politische Anschauung (wie ihre Zugehörigkeit zu Mehrheits- oder Minderheitenpositionen), noch religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen, die Rationalität oder Irrationalität des verfolgten Anliegens sowie das Geschlecht bedingen in irgendeiner Form die spezifische Grundrechtsträgereigenschaft.115 Dies spricht prima facie für eine gewisse Freiheit der Grundrechtsträger und gegen inhaltliche Vereinnahmungen durch den Staat. Da Nichtdeutsche nicht vom Schutzbereich erfasst sind, können sie erst recht nicht dem Wesensgehalt des Grundrechts der Versammlungsfreiheit unterfallen. Dies gilt jedenfalls eindeutig für Nicht-EU-Ausländer. Deutlich bringt dies Albert Bleckmann zum Ausdruck: „Zum anderen schützt Art. 19 II immer nur den Kernbereich der einzelnen Grundrechte; sind etwa die Art. 8, 9, 11 und 12 auf Ausländer nicht anwendbar, kann es für diese auch keinen Kernbereich dieser Grundrechte geben.“116
Für Angehörige von EU-Staaten, sog. EU-Ausländer, wird es jedoch einer gründlicheren Analyse bedürfen, denn seit Langem ist das Verhältnis der Deutschen-Grundrechte des Grundgesetzes zum Unionsrecht streitig.117 Die Rechtsprechung des BVerfG tendiert in die Richtung, sowohl das Wort „Deutsche“ i.S.v. Art. 8 GG als auch das Wort „inländisch“ i.S.v. Art. 19 III GG entgegen dem Wortlaut so zu handhaben, dass zumindest im Ergebnis zwischen „deutsch“ bzw. „inländisch“ und „in der EU“ kein nennenswerter Unterschied besteht. Hierbei handelt es sich aber wegen des Einflusses des EU-Rechts um eine Frage der systematischen Auslegung. Der Wortlaut ist jedoch eindeutig.118 Das Wort „Deutsche“ in Art. 8 GG bezeichnet alle deutschen Staatsangehörigen, und das Wort „inländisch“ in Art. 19 III GG meint alle juristischen Personen,119 die ihren effektiven Sitz in der Bundesrepublik Deutschland haben.120 Zu juristischen Personen verhält sich Art. 8 GG nicht. 115
Zur allgemeinen Frage der „Grundrechtsmündigkeit“, B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 246 f. 116 Bleckmann, Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997, § 9 Rn. 111. 117 Vgl. BVerfGE 129, 78 (91 f., 94–100). Siehe hierzu auch Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 180–183 und aus jüngerer Zeit Becker/S. Meyer, Die Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen im Lichte von Europarecht und Völkerrecht, AöR 147 (2022), 311 ff.; Müller-Terpitz, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung, JZ 2020, 1080 (1081 ff.). 118 So auch BVerfGE 129, 78 (96). 119 Art. 19 III GG wird weiter ausgelegt als das übliche juristische Verständnis, wonach juristische Personen vollrechtsfähig sein müssen, vgl. Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Mai 2009), Art. 19 Abs. 3 Rn. 37; Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 62–64. 120 Heintzen, Ausländer als Grundrechtsträger, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. II, 2006, § 50 Rn. 10; P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 296 i.V.m. 303.
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 335
Im Gegensatz hierzu ist in Südafrika die Versammlungsfreiheit nach Art. 17 FC ein Jedermanngrundrecht.121 Dies ist ein markanter Unterschied und zumindest nach deutschem Verständnis für das Zusammenspiel von Versammlungsfreiheit und Demokratieprinzip von Bedeutung.122 bb) Recht Mit dem Wort „Recht“ wird deutlich, dass die Versammlungsfreiheit kein bloßes politisches Desiderat oder einen unverbindlichen Programmsatz darstellt. Recht ist etwas anderes als Politik, Moral, Ethik, Sitte, Religion oder dergleichen. Vielmehr ist die Versammlungsfreiheit verbindlich und verpflichtet gem. Art. 1 III GG alle staatliche Gewalt. Hierüber besteht – anders als unter der Geltung der Reichsverfassung von Weimar – Einigkeit.123 Aus dem Rechtscharakter der Versammlungsfreiheit folgt, dass diese Grundrechtsverbürgung dem Staat entgegengehalten werden kann und dieser verpflichtet ist, sie zu beachten. Das ist für die Grundrechte des Grundgesetzes insgesamt gültig und kann als typisch und wesensprägend auch für die Versammlungsfreiheit angesehen werden, insbesondere da das Wort „Recht“ explizit in Art. 8 I und II GG verwendet wird. Im Brokdorf-Beschluss hat das BVerfG den Charakter der Versammlungsfreiheit als Abwehrrecht und ihren Schutz gegen staatliche Eingriffe124 betont: „Als Abwehrrecht, das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugute kommt“ und „Schutz gegen staatliche Eingriffe“.125 Indes verfügt das „Recht“ der Grundrechte nicht lediglich über eine abwehrrechtliche Dimension, sondern auch über weitere Dimensionen wie die Schutzdimension oder die Ausstrahlungswirkung.126 Auch diese Wirkungen sind von dem Begriff „Recht“ umfasst. Auch wenn der Abwehrgehalt die „Sinnmitte“127 der Grundrechte ist, sind die weiteren Dimensionen der Grundrechte nunmehr seit Jahrzehnten anerkannt. Funktional betrachtet, macht es überdies keinen Unter121 Hierzu CC, 19.11.2018 – CCT/32/18 Rn. 43 (Petse; Basson, Cameron, Dlodlo, Froneman, Goliath, Khampepe, Mhlanthla and Theron concurring) – Mlungwana and Others v. The State and Another, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2018/45.html (Stand: 10.8.2023). Siehe aber auch Art. 8 HerrenChE, der die Versammlungsfreiheit als Jedermanngrundrecht ausgestaltete, hierzu unten E. II. 3. b) sowie E. II. 3. b) bb). 122 B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 245 weist jedoch auf gewisse Inkonsistenzen u.a. im Hinblick auf Art. 17 GG und Art. 28 I 3 GG hin. 123 Statt aller BVerfGE 128, 226 (244–250). 124 BVerfGE 69, 315 (343). 125 BVerfGE 69, 315 (343). 126 Siehe hierzu Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Vorb. Art. 1 Rn. 9–31. 127 BVerfGE 61, 82 (101), wo aber auch auf die Bedeutung der Grundrechte als Voraussetzungen und Möglichkeiten für eine freie Mitwirkung und Mitgestaltung im Gemeinwesen hingewiesen wird.
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
schied, ob eine Versammlung wegen eines staatlichen Verbots oder wegen fehlenden staatlichen Schutzes vor Übergriffen privater Dritter nicht stattfindet. Der Begriff „Recht“ ist folglich dem Wortlaut nach weit zu verstehen. Jedenfalls der Abwehrgehalt im Sinne des klassisch-liberalen Grundrechtsverständnisses dürfte zum Wesensgehalt des Art. 8 GG gehören. Eng mit dem Wort „Recht“ ist auch der Begriff „Rechtsschutz“ verbunden. Damit ist die gerichtliche Durchsetzung des Rechts im Falle fehlender freiwilliger Befolgung gemeint. Während der Rechtsschutz „Recht“, das geschützt werden kann, voraussetzt, ist hingegen nicht alles Recht einklagbar und vollstreckbar. Aber typischerweise kann die gerichtliche Durchsetzung von Recht verlangt werden. Der Wortlaut des Art. 8 GG legt es zumindest nahe, dass zur Versammlungsfreiheit grundsätzlich auch die Möglichkeit gehört, Rechtsschutz zu erlangen, liefert allein aber noch nicht die für Art. 19 II GG erforderliche Gewissheit, denn der Begriff „Rechtsschutz“ wird in Art. 8 GG nicht verwendet. Jedoch hat das BVerfG ausgeführt, dass der Wesensgehalt eines Grundrechts betroffen sein kann, „wenn jeglicher Störungsabwehranspruch, den die Rechtsordnung zum Schutze eines Grundrechts einräumt, materiellrechtlich beseitigt oder wenn verfahrensrechtlich verwehrt wird, ihn wirkungsvoll geltend zu machen, mag er oder das Grundrecht, zu dessen Schutz er gewährt ist, auch – unbewehrt in bezug auf ein bestimmtes Vorhaben – materiellrechtlich bestehen bleiben.“128 Daraus folgt, dass nicht nur etwas vom Grundrecht übrig bleiben muss, sondern auch effektiv durchgesetzt werden können muss. Dass der Rechtscharakter vom Schutz des Grundrechts erfasst wird, deckt sich mit der südafrikanischen Verfassung, die als die jüngere Verfassung den internationalen Standard der 1990er-Jahre kodifizieren wollte. Auch hier ist der Rechtscharakter eindeutig dem Wortlaut zu entnehmen. cc) Sich zu versammeln Art. 8 I GG gestattet es allen Deutschen, „sich zu versammeln“. Eine weiter gehende Definition dieses Begriffs enthält das Grundgesetz nicht. (1) Räumliche Zusammenkunft und Ort. Dem allgemeinen Sprachgebrauch nach besagt das Verb „sich versammeln“, dass sich mehrere Personen zusammenfinden.129 Die Zusammenkunft130 muss dabei an einem bestimmten Ort dergestalt erfolgen, dass die sich versammelnden Personen hier gleichzeitig anwesend sind. Erforderlich ist somit die gleichzeitige physische Präsenz an ei128 BVerfGE 61, 82 (113). Das ist zentral für P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 154. 129 „versammeln“ in: Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 6. Aufl. 2007. 130 Hierzu Schwäble, Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, 1975, S. 45–47.
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 337
ner bestimmten Stelle. Dieser Ort wird durch das Grundgesetz nicht weiter spezifiziert, sodass grundsätzlich alle Orte für eine Versammlung in Betracht kommen. Geschützt werden Versammlungen unter freiem Himmel ebenso wie solche in geschlossenen Räumen. Für Versammlungen unter freiem Himmel ergibt sich dies unmittelbar aus dem Gesetzesvorbehalt des Art. 8 II GG,131 für solche in geschlossenen Räumen folgt dies aus einem entsprechenden Umkehrschluss. Zwar wird man aus dem Gesetzesvorbehalt des Art. 8 II GG schließen können, dass Versammlungen unter freiem Himmel leichter eingeschränkt werden können als andere. Für den Wortlaut ist dies indes noch unerheblich; entscheidend ist vielmehr, dass kein Ort als Versammlungsort a priori ausgeschlossen ist und das Grundrecht Versammlungen unter freiem Himmel und in geschlossenen Räumen schützt. Eine Unterscheidung nach öffentlichen und nicht öffentlichen Versammlungen unternimmt das Grundrecht nicht.132 Nach Bernd J. Hartmann würde es den Wesensgehalt von Art. 8 GG antasten, wenn nur noch Versammlungen in geschlossenen Räumen zulässig wären.133 Auch wenn diese Aussage nicht näher begründet wird, kann man ihr zustimmen. Nicht ausreichen kann es jedoch, allein darauf abzustellen, dass ein geschütztes Tatbestandsmerkmal eliminiert wird, denn dies ist bei der Anmeldepflicht ebenso der Fall. Vielmehr kann es nur darum gehen, dass nicht bloß eine formelle Kontrolle eingeführt würde, die die Ausübung des Rechts aber weiterhin möglich lässt (so bei der Anmeldepflicht), sondern dass das Recht nicht mehr – jedenfalls nicht mehr unter freiem Himmel – ausgeübt werden könnte. Dies umfasst räumlich ein großes Gebiet. Und diese Versammlungen sind diejenige, die aufgrund ihres unmittelbarsten Kontakts zur Umwelt am stärksten auf die öffentliche Meinungsbildung einwirken können. Schließlich können nur Versammlungen außerhalb geschlossener Räume eine beeindruckende Größe erreichen. Dieser Punkt betont, wie wichtig die Einwirkungsmöglichkeit auf die Umwelt und die freie Ortswahl sind. Dadurch, dass grundsätzlich alle Orte erfasst sind,134 unterscheidet das Grundgesetz – jedenfalls nicht dem Wortlaut nach – zwischen öffentlichen und privaten Orten. Auch wenn klar ist, dass nicht an jedem Ort demonstriert werden kann und darf (z.B. Operationssaal im Spital135),136 gilt dies für staatli131
Anders noch § 29 I Preußische Verfassung 1850. So aber die Systematik des VersG. 133 B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 378. 134 § 13 I 3 NWVersG bestimmt, dass auf Autobahnen keine Versammlungen stattfinden, was als ausnahmsloses Verbot von Versammlungen auf den Autobahnen Nordrhein-Westfalens verstanden wird, Scherff, Das Versammlungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen (Teil 2), GSZ 2023, 30 (31). 135 Vgl. BVerfGE 128, 226 (251); VG Berlin, Beschl. v. 29.8.2014 – VG 1 L 245.14, BeckRS 2014, 55677. 136 Masing, Grundrechtsschutz trotz Privatisierung, in: FS Bryde, 2013, S. 409 (420); Prothmann, Die Wahl des Versammlungsortes, 2013, S. 72. 132
338
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
che Krankenhäuser ebenso wie für private. Dem Wortlaut nach ist es somit nicht ausgeschlossen, dass der Anspruch auf eine Versammlung auf fremdem Grund besteht. Wegen der Offenheit des Wortlauts soll dieser Punkt bei der systematischen Auslegung vertieft behandelt werden.137 Wenn kein Ort für eine Versammlung verfügbar ist, läuft das Grundrecht leer, denn ohne den benötigten Platz für die physische Zusammenkunft kann es keine Versammlung geben.138 Solange Art. 8 GG besteht, müssen also Versammlungen möglich sein und hierfür geeignete Orte zur Verfügung stehen. Im Zuge der Covid-19-Pandemie wurde u.a. diese Frage relevant.139 Alle Bundesländer hatten Maßnahmen gegen die Weiterverbreitung des Virus „SARSCoV-2“ erlassen. Ein wichtiges Element hierbei spielte das Verbot der Zusammenkunft von Personen aus verschiedenen Hausständen. Damit waren das Ob der Versammlung und auch die Ortswahl betroffen, denn außer in Bremen durften grundsätzlich keine Versammlungen stattfinden.140 Käme es zu einer Situation, in der weite Teile des Bundesgebiets als Versammlungsorte ausgeschlossen wären (unabhängig von der Personenanzahl), stellte sich ebenfalls die Frage der Antastung des Wesensgehalts der Versammlungsfreiheit, denn ohne Versammlungsort kann auch keine Versammlung stattfinden. Aus diesem Grund wird auch die Frage der Wesensgehaltsantastung im Zusammenhang mit den Covid-19-Regelungen aufgeworfen.141 Das Zusammenkommen ist jedoch das Charakteristische, es unterfällt dem Wesensgehalt. Dementsprechend werden auch in der Literatur in diesem Zusammenhang die Wesensgehaltsgarantie142 oder eine institutionelle Garantie143 erörtert. Dies spricht dafür, das Ob und damit die Möglichkeit der räumlichen Zusammenkunft als vom Wesensgehalt des Art. 8 GG i.V.m. Art. 19 II GG erfasst anzusehen.
137
Siehe hierzu unten bei der Frage der Bindung an Art. 8 I GG E. II. 2. b) bb). Ernst, Der öffentliche Raum und seine Bedeutung für das demokratische Gemeinwesen, in: FS Schmidt-Jortzig, 2011, S. 79 (89). 139 Siehe hierzu oben A. II. 1. b). 140 Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 3. Aufl. 2022, S. 353. Hierzu auch S. Martini/Plöse, Politische „Bewegung an der frischen Luft“ – Teil I: Versammlungsermöglichung im gesperrten öffentlichen Raum (31.3.2020), https://www.ju wiss.de/42–2020/ (Stand: 10.8.2023); Völzmann, Versammlungsfreiheit in Zeiten von Pandemien, DÖV 2020, 893 (893 f.). Siehe auch oben A. II. 1. b). 141 M. Martini/Thiessen/Ganter, Zwischen Vermummungsverbot und Maskengebot: Die Versammlungsfreiheit in Zeiten der Corona-Pandemie, NJOZ 2020, 929 (934), allerdings wird die Frage von den Autoren bei zeitlicher Befristung des Verbots und Ausnahmevorbehalten verneint. 142 M. Martini/Thiessen/Ganter, Zwischen Vermummungsverbot und Maskengebot: Die Versammlungsfreiheit in Zeiten der Corona-Pandemie, NJOZ 2020, 929 (934), allerdings verstehen sie die Wesensgehaltsgarantie relativ. 143 B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 379. 138
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 339
Negativ lässt sich aus dem Wortlaut ableiten, dass „Onlineversammlungen“ keine Versammlungen im Sinne des Art. 8 I GG sind, da es an dem Element der räumlichen Zusammenkunft fehlt.144 Dementsprechend sind „Onlineversammlungen“ ein Widerspruch in sich und werden nicht von Art. 8 I GG geschützt.145 Neuerdings vertritt zwar u.a. Bernd J. Hartmann in der Drittbearbeitung zu Art. 8 GG im Bonner Kommentar eine andere Ansicht,146 dies führt aber lediglich dazu, dass die Frage umstrittener geworden ist. Hier kann jedenfalls nicht die Rede davon sein, dass „Onlineversammlungen“147 den Charakter des Art. 8 GG prägen.148 Da diese virtuellen Zusammenkünfte bereits nicht dem Schutzbereich des Art. 8 I GG unterfallen oder zumindest umstritten sind, werden sie erst recht nicht von der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG geschützt. Die Frage, ob virtuelle Veranstaltungen Versammlungen im Sinne des Art. 17 FC sein können, beschäftigt die südafrikanische Rechtswissenschaft und -praxis nicht. Hierzu gibt es keine befürwortenden oder ablehnenden Stellungnahmen. Da aber stets auf die Zusammenkunft der Bürger abgestellt wird, spricht dies dafür, virtuelle Veranstaltungen nicht als geschützt anzusehen. (2) Zeit. Zu einer Höchst- oder Mindestdauer der Versammlung äußert sich das Grundgesetz nicht, weshalb von keinen Beschränkungen ausgegangen 144 Nach Sinder, Versammlungsfreiheit unter Pandemiebedingungen, NVwZ 2021, 103 (103) ist der Online-Protest „in seiner Wirkmächtigkeit, Anziehungskraft und Visibilität mit einer körperlichen Demonstration nicht zu vergleichen“. 145 Depenheuer, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Oktober 2020), Art. 8 Rn. 46; Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. IV, 2011, § 106 Rn. 13; A.-B. Kaiser, in: Dreier, GG, Bd. I, 4. Aufl. 2023, Art. 8 Rn. 33; Peters/ Janz, Digitales Versammlungsrecht?, GSZ 2021, 161 ff.; Scheu, Freiheitsperspektiven Drittbetroffener im Versammlungsrecht, 2014, S. 83; Sinder, Versammlungsfreiheit unter Pandemiebedingungen, NVwZ 2021, 103 (103 f.). 146 B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 198–200. So auch Kersten, Schwarmdemokratie, 2017, S. 225 f.; Krisor-Wietfeld, Rahmenbedingungen der Grundrechtsausübung, 2016, S. 185–194 m. w. N.; Welzel, Virtuelle Versammlungsfreiheit in Zeiten der Pandemie, MMR 2021, 220 ff. 147 Oftmals bleibt unklar, was alles unter den Begriff der „Onlineversammlung“ fallen soll, vgl. Schaks, Versammlungsfreiheit, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. IV, 2. Aufl. 2022, § 115. Rn. 30. Siehe zu einer Systematisierung, wenn auch „Onlineversammlungen“ zu Recht ablehnend, Sinder, Versammlungskörper. Zum Schutz von hybriden und online-Versammlungen unter dem Grundgesetz, in: Greve/Gwiasda et al. (Hrsg.), 60. ATÖR – Der digitalisierte Staat, 2020, S. 223 (223–227, 239–241). 148 Nach Sinder, Versammlungskörper. Zum Schutz von hybriden und online-Versammlungen unter dem Grundgesetz, in: Greve/Gwiasda et al. (Hrsg.), 60. ATÖR – Der digitalisierte Staat, 2020, S. 223 (227) m.w.N. entspricht das Erfordernis der körperlichen Anwesenheit (noch) ganz herrschender Meinung.
340
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
wird.149 Bei sehr lange andauernden Veranstaltungen, die sich über mehrere Tage oder Wochen erstrecken (z.B. im Falle von Protestcamps), kann sich die Frage stellen, inwieweit ortsfeste Einrichtungen wie Schlafstätten etc. geschützt werden und ob es für ihre Errichtung einer Genehmigung bedarf. Dies ist jedoch keine Frage des zeitlichen Schutzes durch die Versammlungsfreiheit, sondern der erfassten Handlungsmodalitäten. In Südafrika wird keine Diskussion über die Mindest- oder Höchstdauer einer Versammlung geführt. (3) Zweck der Zusammenkunft. Das Reflexivverb „sich versammeln“ ist intentional zu verstehen, wie aus dem Begriffsteil „sich“ deutlich wird. Das bedeutet, dass der Versammlung eine gemeinsame Absicht zugrunde liegen muss.150 Diejenigen Personen, die zusammenkommen, tun dies nicht zufällig, sondern bewusst. Zumindest das Verweilen auf einer Versammlung ist ein bewusster Akt. Die bloß gleichzeitige, aber zufällige Präsenz an einem Ort wird hingegen mit dem Wort „Ansammlung“151 erfasst. Darüber hinaus lässt sich dem Wortlaut jedoch keine besondere Beschränkung auf bestimmte verfolgte Anliegen oder Zwecke entnehmen, denn zu den Fragen, warum und zu welchem Zweck Menschen sich versammeln, äußert sich Art. 8 GG nicht. Auch der Wortlaut der südafrikanischen Verfassung schweigt im Hinblick auf etwaige Anforderungen hinsichtlich des Versammlungszwecks. (4) Personenzahl. Einzugehen ist auf die Anzahl an Personen, die erforderlich ist, um davon sprechen zu können, dass Menschen „sich versammeln“. Einigkeit besteht darüber, dass mehr als eine Person, nämlich „mehrere“, vonnöten sind.152 Hierfür spricht der Wortlaut, der von „allen Deutschen“ im Plural spricht. Die Verwendung des Singulars („Jeder Deutsche hat das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“) wäre ungewöhnlich und sprachlich unkorrekt, da ein solcher Wortlaut zum Ausdruck brächte, dass sich eine einzelne Person (selbst?) „trifft“. „Sich versammeln“ aber verlangt, dass sich 149 BVerwG, NVwZ 2022, 1197 (1199) m.w.N.; v. Coelln, in: Ullrich/v. Coelln/Heusch (Hrsg.), Handbuch Versammlungsrecht, 2021, Rn. 75; B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 184. 150 B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 158. 151 „Ansammlung“ in: Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 6. Aufl. 2007. 152 Benda, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Mai 1995), Art. 8 Rn. 22; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 8 Rn. 15; B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 154 f.; Huba, Die Versammlungsfreiheit – weites Feld für politische Entscheidungen?, JZ 1988, 394 (394); Ernst, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 8 Rn. 52. Offenlassend jedoch BVerfG(K), NJW 1987, 3245 (3245). A.A. Eickenjäger/Fischer-Lescano, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, VersR, 2. Aufl. 2020, S. 270 f.
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 341
mehrere treffen oder zusammenkommen.153 Wenn die „Eine-Person-Versammlung“ schon nicht Art. 8 GG unterfällt, dann erst recht nicht dessen Wesensgehalt. Zu beachten ist freilich, dass der Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann gilt, wenn eine Versammlung geplant und vorbereitet wurde, aber es am Tag der Versammlung nicht (einmal) zur Zusammenkunft von zwei Personen kommt. Solange die Zusammenkunft für zwei oder mehr Personen geplant wurde, genießt zumindest die Organisation dieser Veranstaltung den Schutz des Art. 8 I GG, selbst falls sich später herausstellen sollte, dass keine Versammlung zustande gekommen ist.154 Oft heißt es in der Literatur, dass umstritten sei, wie viele Personen für eine Versammlung erforderlich seien.155 Hieran schließt sich zumeist eine Darstellung der verschiedenen Positionen an, wobei teilweise drei156 oder sieben Personen157 erforderlich sein oder zwei Personen ausreichen158 sollen. Wenn eine Frage umstritten ist, zeigt dies in aller Regel, dass etwas nicht zum Schutzbereich eines Grundrechts gehört.159 Danach bestünde erst ab einer Anzahl von sieben Personen Einigkeit in Rechtsprechung und Literatur, sodass auch die Zusammenkunft von zwei bis sechs Personen nicht zum Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit gehören würde. Aber der Streit über die erforderliche Mindestpersonenanzahl, wie er oft referiert wird, dürfte überholt sein. Das Erfordernis von mehr als sechs oder sieben Personen wird im jüngeren Schrifttum nicht mehr vertreten, es werden als Beleg für diese Ansicht lediglich ältere Stellungnahmen zitiert.160 Als umstritten kann deshalb lediglich die Frage gelten, ob bereits zwei oder erst drei Personen eine Versammlung bilden können, wobei auch hier die Mehrzahl der jüngeren Stellungnahmen zwei Personen ausreichen lässt. Weder das Grundgesetz noch das Bundesversamm153
„versammeln“ in: Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 6. Aufl. 2007. Vgl. W.-R. Schenke, Der Schutzbereich des Art. 8 GG, in: FS Riedel, 2013, S. 473 (477), der mit dieser Erwägung auch die Entscheidung BVerfG(K), NJW 1987, 3245 erklärt. 155 So, wenn auch jeweils kritisch zur Bedeutung des Streits, Depenheuer, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Oktober 2020), Art. 8 Rn. 45; Ernst, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 8 Rn. 52. So aber schon nicht mehr bei Kingreen/Poscher, Grundrechte, 38. Aufl. 2022, Rn. 949. 156 OLG Düsseldorf, JR 1982, 299 (300). 157 Frowein, Versammlungsfreiheit und Versammlungsrecht, NJW 1969, 1081 (1081) mit Fn. 10: größerer Kreis erforderlich, nur in Ausnahmefällen reichen 3 bis 5 Personen; v. Münch, in: v. Münch, GG, Bd. I, 3. Aufl. 1985, Art. 8 Rn. 9: „genügen sicherlich sieben, wahrscheinlich aber schon drei Personen“. 158 VGH Mannheim, VBlBW 2008, 60 (60); Bleckmann, Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997, § 29 Rn. 12; B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 156 m. zahlreichen w. N.; Kingreen/Poscher, Grundrechte, 38. Aufl. 2022, Rn. 949; Koll, Liberales Versammlungsrecht, 2015, S. 64 f.; Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, 2006, S. 1197 f. 159 Siehe oben E. II. 1. a) aa). 160 Frowein, Versammlungsfreiheit und Versammlungsrecht, NJW 1969, 1081 (1081); v. Münch, in: v. Münch, GG, Bd. I, 3. Aufl. 1985, Art. 8 Rn. 9. 154
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
lungsgesetz enthalten hierzu eine explizite Aussage. Die Landesversammlungsgesetze gehen von unterschiedlichen Prämissen aus. Die Landesversammlungsgesetze z.B. in Bayern und Niedersachsen und auch § 2 I 1 ME VersG161 lassen ausdrücklich zwei Personen als Mindestanzahl genügen (Art. 2 I BayVersG, § 2 NdsVersG), das Versammlungsfreiheitsgesetz in Schleswig-Holstein verlangt hingegen drei Personen (§ 2 I 1 VersFG SH). Zwar kann das einfache Recht, erst recht nicht das Landesrecht, den Inhalt von Art. 8 GG determinieren. Immerhin lässt sich dem einfachen Recht aber das Verständnis in der Staatspraxis entnehmen. Soweit ersichtlich, geht auch die jüngere Rechtsprechung von der Mindestanzahl von lediglich zwei Personen aus.162 Das BVerfG hat sich bislang nicht festgelegt. Ein wichtiges Element im Rahmen der Covid-19-Regelungen war das Verbot der Zusammenkunft von Personen aus verschiedenen Hausständen. Wenn mindestens zwei Personen zusammenkommen müssen, um eine Versammlung bilden zu können, aber das Zusammentreffen den meisten Menschen untersagt wird, dann wirkt sich dies wie ein Versammlungsverbot aus, auch wenn auch andere Verhaltensweisen neben dem „sich versammeln“ i.S.d. Art. 8 GG gleichermaßen erfasst werden.163 Die Ausgestaltung in den einzelnen Ländern war zwar unterschiedlich. Während manche Länder Versammlungen explizit verboten hatten, blieb der Zusammenhang zwischen Kontaktverboten und Versammlungsfreiheit in anderen Ländern unklarer. Aber in allen Ländern außer der Freien Hansestadt Bremen waren Versammlungen von den Verboten nicht explizit ausgenommen. Da dies fast im gesamten Bundesgebiet galt,164 wäre für einen gewissen Zeitraum die Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG nahezu flächendeckend außer Kraft gesetzt gewesen, zumindest wenn man die Regelungen beim Wort genommen hätte. Es sprechen nach alledem gewisse Anzeichen dafür, dass bereits zwei Personen eine Versammlung bilden können und das dies auch von der Wesensgehaltsgarantie gedeckt ist. Obwohl auch das südafrikanische Verfassungsrecht keine ausdrückliche Aussage zu einer Mindestpersonenanzahl enthält, fehlt es dort an einer Debatte über die erforderliche Personenzahl für eine Versammlung. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass nicht nur das Recht, sich zu versammeln, sondern explizit auch das Recht, zu demonstrieren, von Art. 17 FC geschützt wird. Da auch ein Einzelner demonstrieren kann, ist die Abgrenzung, die der 161 Nicht ganz konsistent ist es hingegen, wenn § 1 I ME VersG davon spricht, dass jede Person sich mit anderen (im Plural) versammeln darf. Ohne die Klarstellung in § 2 I 1 ME VersG würde dies für das Erfordernis von mindestens drei Personen sprechen. 162 VGH Mannheim, VBlBW 2008, 60 (60). 163 Siehe hierzu Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 3. Aufl. 2022, S. 354 ff. 164 Die Fläche der Freien Hansestadt Bremen macht etwa 0,1% der Fläche der Bundesrepublik Deutschland aus.
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 343
deutsche Wortlaut erzwingt, in Südafrika unnötig. Zudem enthält § 1 RGA Legaldefinitionen, welche auch Eine-Person-Veranstaltungen als „demonstration“ ansehen.165 (5) Erfasste Handlungen. Dem reinen Wortlaut des Art. 8 I GG nach ist lediglich das Recht, „sich zu versammeln“, geschützt. Andere Verhaltensweisen wie „diskutieren“, „Parolen skandieren“, „Protestcamps errichten“ etc. erfasst der Wortlaut nicht. Hielte man eine solche Erwähnung für ihre Zulässigkeit erforderlich, wäre allein ein Schweigemarsch bzw. eine „Schweigezusammenkunft“ geschützt. Diese Auffassung kann nicht richtig sein, denn das Zusammenkommen erfolgt zielgerichtet, sodass eine gewisse Form der Kommunikation geschützt sein muss. Außerdem entstehen Versammlungen zumeist nicht spontan, sondern werden vorbereitet, und Menschen müssen sich zum Versammlungsort begeben. Dementsprechend ist es in der Rechtsprechung anerkannt, dass auch die Planung und Vorbereitung sowie An- und Abreise geschützt sein müssen,166 da anderenfalls die Versammlungsfreiheit durch Störungen im Vorfeld untergraben werden könnte. Aber der Wortlaut bietet zur weiteren Inhaltsentfaltung lediglich den Hinweis, dass der Weg zur Versammlung und die Versammlung selbst geschützt sind, denn es ist von „sich versammeln“ die Rede. Hierbei handelt sich um eine Aktivität. Diese wird geschützt und nicht lediglich das Ergebnis dieser Aktivität, die vollständig zusammengekommene Versammlung. Eindeutig vom Wortlaut nicht mehr erfasst sind alle Handlungen, die als unfriedlich einzustufen sind, wie das explizit genannte Waffentragen. Dem Wortlaut nicht zu entnehmen sind Aussagen zum Mitbringen von Gegenständen oder der Errichtung von Unterkünften (wie etwa Protestcamps). Bei allen diesen Aspekten ist der Wortlaut allein noch nicht hinreichend aussagekräftig. Ausdrücklich erfasst Art. 17 FC neben dem Recht, sich zu versammeln, auch die Rechte, Petitionen einzureichen, Streikposten zu errichten und zu demonstrieren. Auch wenn es sich hierbei teilweise um eigene Grundrechte handelt (Streikposten, Petitionen), kann aus der Verwendung des Wortes „demonstrieren“ herausgelesen werden, dass die klassischen Protestformen geschützt sein sollen.
165 So auch High Court (Western Cape Division, Cape Town), 24.1.2018 – A/431/15 Rn. 24 (Ndita) – Mlungwana and Others v. The State and Another, http://www.saflii.org/za/ cases/ZAWCHC/2018/3.html (Stand: 10.8.2023). Siehe hierzu unten E. II. 2. b) cc) (4). 166 BVerfGE 84, 203 (209); Geis, in: Berliner Kommentar GG, Losebl. (Stand: IX/04), Art. 8 Rn. 36 f.
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
dd) Ohne Anmeldung oder Erlaubnis Dem reinen Wortlaut des Art. 8 I GG nach bedarf es für das Abhalten von Versammlungen weder einer Anmeldung noch einer Genehmigung. Art. 8 GG garantiert diese Schutzrichtungen – anders als Art. 17 FC167 – ausdrücklich. (1) Anmeldeerfordernis. Die einfachgesetzliche Realität hält dem verfassungsrechtlichen Anspruch jedoch nicht stand. Nach § 14 VersG bedarf zumindest jede öffentliche Versammlung unter freiem Himmel168 der Anmeldung. Dies wird in der Literatur für verfassungswidrig169 und sogar als Antastung des Wesensgehalts angesehen.170 An § 14 VersG anknüpfend darf dem Wortlaut des § 15 III Var. 1 VersG nach die zuständige Behörde „eine Versammlung oder einen Aufzug auflösen, wenn sie nicht angemeldet sind“, ohne dass es der Erfüllung weiterer Tatbestandsmerkmale bedürfte.171 Überdies wird nach § 26 Nr. 2 VersG derjenige mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, der „als Veranstalter oder Leiter […] eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder einen Aufzug ohne Anmeldung (§ 14) durchführt“. Das Anmeldeerfordernis wurde vom BVerfG zwar grundsätzlich für verfassungskonform gehalten,172 aber es hat auch interpretatorische Einschränkungen des Anmeldeerfordernisses vorgenommen. Wenn wegen der Kurzfristigkeit der Ereignisse eine Versammlung bei Einhaltung des Anmeldeerfordernisses nicht stattfinden könnte, wird § 14 VersG verfassungskonform so ausgelegt, dass es nicht der Einhaltung der Anmeldefrist bedarf.173 Bei sog. Eilversammlungen ist die gesetzliche Anmeldefrist des § 14 I VersG von 48 Stunden verkürzt, sie ist schnellstmöglich vorzunehmen; bei sog. Spontanversammlungen entfällt sie ganz.174 Überdies darf § 15 III Var. 1 VersG nicht so angewendet werden, dass allein die fehlende Anmeldung zur Auflösung der Versammlung führt, vielmehr müssen die Voraussetzungen des § 15 I VersG erfüllt sein.175 Das BVerfG will seine methodische Vorgehensweise als verfas167
Art. 17 FC geht in seinem Wortlaut auf besondere Schutzgehalte nicht ein. Nicht erfasst sind somit nicht öffentliche Versammlungen und solche in geschlossenen Räumen, siehe hierzu Hettich, Versammlungsrecht in der Praxis, 3. Aufl. 2022, Rn. 111, 266. 169 Höfling, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 8 Rn. 63 f. 170 Frowein, Versammlungsfreiheit und Versammlungsrecht, NJW 1969, 1081 (1085 f.). 171 Enders, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 19 Rn. 31.3 (Stand: 15.5.2023), nennt die Auflösung einer Versammlung allein wegen fehlender Anmeldung als Antastung des Wesensgehalts der Versammlungsfreiheit. 172 BVerfGE 69, 315 (349–352, 357–359); 85, 69 (74–76). So auch Geis, Die „Eilversammlung“ als Bewährungsprobe verfassungskonformer Auslegung, NVwZ 1992, 1025 (1027 f.). 173 BVerfGE 69, 315 (349–351). 174 BVerfGE 69, 315 (350 f.). Siehe hierzu Hettich, Versammlungsrecht in der Praxis, 3. Aufl. 2022, Rn. 111; Peters, Versammlungsrechtliche Pflichten und Verbote, in: Peters/ Janz (Hrsg.), Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, F Rn. 30 f. 175 BVerfGE 69, 315 (350 f.); BVerfG(K), NVwZ 2005, 80 (80); Hettich, Versammlungsrecht in der Praxis, 3. Aufl. 2022, Rn. 117. 168
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 345
sungskonforme Auslegung verstanden wissen,176 es wird aber auch die Teilnichtigkeit vertreten.177 Die Strafvorschrift des § 26 Nr. 2 VersG wird jedoch weitestgehend aufrechterhalten.178 Bei einer von langer Hand geplanten Versammlung dürfte das Anzeigeerfordernis keine allzu große Erschwernis, sondern eher eine lästige Formalität darstellen. Je kurzfristiger die Versammlung jedoch stattfinden soll, desto näher rückt das Anmeldeerfordernis – wegen der abschreckenden Sanktion des § 26 Nr. 2 VersG – in Richtung eines Verbots, denn dann geht es nicht lediglich um die Frage, wann die Anmeldung zu erfolgen hat, sondern darum, ob man als Veranstalter oder Leiter die Versammlung durchführen kann, ohne sich strafbar zu machen. Dies gilt umso mehr, als dem Wortlaut des § 14 VersG die einschränkende Interpretation des BVerfG nicht zu entnehmen ist. Deshalb haben z.B. Art. 21 I Nr. 7 BayVersG und § 10 III, IV ME VersG für Klarstellungen gesorgt, dass die Sanktionen nur insoweit greifen können, wie das Anmeldegebot galt.179 Dies entspricht der Erkenntnis, dass formale Einschränkungen eher nicht den Wesensgehalt antasten, während inhaltliche Einschränkungen deutlich problematischer sind. In Südafrika wurde die Strafbarkeit im Falle der Abhaltung einer nicht angemeldeten, aber auch nicht verbotenen Versammlung im Jahre 2018 für verfassungswidrig erklärt. Der relevante § 12 RGA bedrohte zwar nur die Veranstalter mit Strafe, nicht auch die Versammlungsteilnehmer,180 gleichwohl sah das Gericht hierin eine unverhältnismäßige Beschränkung der Versammlungsfreiheit, denn der Begriff des Veranstalters sei weit und auch der Begriff der nicht angemeldeten Versammlung, demgegenüber sei die strafrechtliche Haftung eine zu gravierende Sanktion.181
176 BVerfGE 85, 69 (74–76); Geis, Die „Eilversammlung“ als Bewährungsprobe verfassungskonformer Auslegung, NVwZ 1992, 1025 (1029 f.). 177 W.-R. Schenke, Anmerkung zum Urteil des BVerfG v. 14.5.1985, 1 BvR 233/81 (Brokdorf-Entscheidung), JZ 1986, 35 (35). 178 Zuletzt BVerfG(K), NVwZ 2019, 1509 (1509 f.); zuvor bereits BVerfGE 85, 69 (74– 77). A.A. BVerfGE 85 (abw. Meinung Seibert, Henschel), 69 (79). 179 Hierzu Enders et al., Musterentwurf eines Versammlungsgesetzes, 2011, S. 33–35. 180 CC, 19.11.2018 – CCT/32/18 Rn. 17 (Petse; Basson, Cameron, Dlodlo, Froneman, Goliath, Khampepe, Mhlanthla and Theron concurring) – Mlungwana and Others v. The State and Another, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2018/45.html (Stand: 10.8.2023); so auch die Vorinstanz High Court (Western Cape Division, Cape Town), 24.1.2018 – A/ 431/15 Rn. 36, 83 (Ndita) – Mlungwana and Others v. The State and Another, http:// www.saflii.org/za/cases/ZAWCHC/2018/3.html (Stand: 10.8.2023). 181 CC, 19.11.2018 – CCT/32/18 Rn. 82–101 (Petse; Basson, Cameron, Dlodlo, Froneman, Goliath, Khampepe, Mhlanthla and Theron concurring) – Mlungwana and Others v. The State and Another, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2018/45.html (Stand: 10.8.2023). So bereits High Court (Western Cape Division, Cape Town), 24.1.2018 – A/431/ 15 Rn. 93 (Ndita) – Mlungwana and Others v. The State and Another, http://www.saflii.org/ za/cases/ZAWCHC/2018/3.html (Stand: 10.8.2023).
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
(2) Genehmigungserfordernis. Ein Genehmigungserfordernis ist – im Unterschied zum Anmeldeerfordernis – gesetzlich nicht vorgesehen. Trotz der grundsätzlichen Billigung des Anmeldeerfordernisses hat das BVerfG die Genehmigungsfreiheit betont. Im Brokdorf-Beschluss heißt es, dass „das Recht, sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln,“ „seit jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewußten Bürgers“ galt.182 Dies war im Jahre 2020 wegen der Covid-19Pandemie vorübergehend anders.183 Das BVerfG hat hierbei nicht zum Wesensgehalt judiziert, aber einem Totalverbot von Versammlungen durch Verweigerung von Genehmigungen implizit wohl eine Absage erteilt.184 Nicht der Staat soll die Entscheidung über das Ob der Versammlung treffen, sondern grundsätzlich die Bürger. Jedoch bedarf es nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung dann straßenverkehrsrechtlicher oder straßenrechtlicher Sondernutzungserlaubnisse, wenn eine besonders intensive Nutzung vorliegt, die nicht für den Versammlungszweck erforderlich ist.185 „Erforderlichkeit“ in diesem Sinne war nach der bisherigen strengeren Rechtsprechung dann gegeben, wenn keine konzeptionelle und inhaltliche Verknüpfung mit der Versammlung bestand.186 Das Genehmigungserfordernis bei fehlender Verknüpfung galt für stationäre Gegenstände wie etwa Rednerbühnen, Tische für Broschüren oder sonstige Werbematerialien oder gar ganze Protestcamps mit Übernachtungsmöglichkeiten.187 Das BVerwG hat im Jahre 2022 eine etwas großzügigere Handhabung bevorzugt und entschieden, dass der verfassungsrechtliche Schutz bereits dann eingreift, wenn die Einrichtungen „für das konkrete Camp logistisch erforderlich und ihm räumlich zuzurechnen ist.“188 Da über die Erforderlichkeit die Versammlungsbehörden und im Streitfall die Gerichte entscheiden, berührt dies das Selbstbestimmungsrecht der Versammlungsteilnehmer. Hier ist es aber zunächst fraglich, inwieweit diese Verhaltensweisen noch zum „sich versammeln“ gehören. Dem reinen Wortlaut nach scheint „sich versammeln“ die räumliche Zusammenkunft zu bezeichnen, nicht hingegen das Aufstellen von Tischen. Allerdings sind beispielsweise Rednertribü182
BVerfGE 69, 315 (343). Siehe hierzu Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 3. Aufl. 2022, S. 350 ff. und bereits oben E. II. 1. b) cc) (1) und (4). 184 BVerfG(K), NJW 2020, 1426 (1427). 185 BVerwG, NVwZ 2007, 1434 (1434 f.). Hierzu Hettich, Versammlungsrecht in der Praxis, 3. Aufl. 2022, Rn. 51–53. 186 Hettich, Versammlungsrecht in der Praxis, 3. Aufl. 2022, Rn. 52. 187 So z.B. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 16.8.2012 – OVG 1 S 108/12, BeckRS 2012, 55693. Siehe aber auch BVerfG(K), Beschl. v. 21.9.2020 – 1 BvR 2146/20, Rn. 13–16, BeckRS 2020, 23470. Insgesamt besteht keine Einheitlichkeit, vgl. Hettich, Versammlungsrecht in der Praxis, 3. Aufl. 2022, Rn. 52. 188 BVerwG, NVwZ 2022, 1197 (1200). Siehe hierzu unten E. II. 2. b) jj). 183
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 347
nen ein häufiger Anblick bei Versammlungen und deshalb möglicherweise ebenfalls erfasst. Der Wortlaut ist jedoch nicht eindeutig. (3) Zwischenergebnis. Die Rechtsprechung lässt sich so zusammenfassen, dass das Anmeldeerfordernis zwar verfassungsgemäß sein soll, da es dem Schutz der Versammlung selbst zugutekommt und den Ausgleich der verschiedenen Interessen der Versammlungsteilnehmer einerseits und der Allgemeinheit (z.B. Straßenverkehr) sowie von Gegendemonstranten andererseits ermöglicht. Um dieser Aufgabe nachkommen zu können, ist die Kenntnis von der Versammlung erforderlich. Das Anmeldeerfordernis gilt dementsprechend auch nur für öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel. Demgegenüber kommt ein Genehmigungsvorbehalt nur in Randbereichen in Betracht, insbesondere dann, wenn eine besonders intensive Nutzung in gegenständlicher oder zeitlicher Art, aber nicht im Hinblick auf den Inhalt erfolgt. Dies ist zwar vor dem Hintergrund der Maßgeblichkeit des Selbstverständnisses der Versammlungsveranstalter189 nicht unproblematisch, soll aber zunächst hingenommen werden. Dem Wortlaut nach lässt sich die Differenzierung in diesem Ausmaße nicht entnehmen. In Südafrika spricht der Wortlaut der Versammlungsfreiheit die Anmeldeund Genehmigungsfreiheit nicht ausdrücklich an. Einfachgesetzlich bestehen keine Genehmigungspflichten,190 aber eine Anmeldepflicht für Versammlungen („gatherings“) ab 15 Personen ist gegeben, vgl. § 3 I RGA. ee) Friedlich und ohne Waffen Das Deutschengrundrecht der Versammlungsfreiheit setzt eine friedliche Versammlung ohne Waffen voraus, vgl. Art. 8 I GG. Mit Waffen sind wenigstens alle „Waffen im technischen Sinne“ gemeint, was § 1 WaffG in verfassungskonformer Weise konkretisiert.191 Friedlichkeit ist der übergeordnete, allgemeinere Begriff192 und kann nicht mit der Erlaubtheit des Verhaltens gleichgesetzt werden, denn dann könnte der Gesetzgeber durch eine entsprechende Ausgestaltung des einfachen Rechts die Versammlungsfreiheit leerlaufen lassen.193
189
Siehe hierzu E. II. 2. b) gg). Woolman, Freedom of Assembly, in: Woolman/Bishop (Hrsg.), Constitutional Law of South Africa, Bd. 3, 2. Aufl. (Stand: Februar 2005), Kap. 43, 43-7. 191 Depenheuer, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Oktober 2020), Art. 8 Rn. 96; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 8 Rn. 45; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 8 Rn. 27; J.-P. Schneider, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 8 Rn. 16 (Stand: 15.5.2023). 192 Hierzu Ernst, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 8 Rn. 62. 193 Vgl. BVerfGE 73, 206 (248). 190
348
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
„Unfriedlich ist eine Versammlung daher erst, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen.“194
Regelungen, die diese Friedlichkeit und Waffenlosigkeit sicherstellen, z.B. § 2 III 1 VersG195, sind keine Beschränkungen des Art. 8 GG. Sie können deshalb nicht als Antastung des Wesensgehalts der Versammlungsfreiheit angesehen werden, denn sie verkürzen den Schutzbereich nicht,196 sondern zeichnen ihn lediglich nach. Diese Aspekte lassen sich dem allgemeinen Schädigungsverbot bei der Grundrechtsausübung zuordnen, wie es bereits in Art. 4 und Art. 5 der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 zum Ausdruck gebracht wurde. Dort hieß es, dass die Freiheit darin besteht, alles zu tun, was anderen nicht schadet, und dass das allgemeine Gesetz nur ein solches Verhalten verbieten darf, welches anderen schadet.197 Allerdings darf nicht verkannt werden, dass die Abgrenzung schwierig bleibt, da es fast immer eines der Ziele der Versammlungsteilnehmer ist, in irgendeiner Art und Weise Eindruck auf die Öffentlichkeit zu machen, sei es durch Anzahl und Masse, Lautstärke oder dergleichen mehr. Dies kann von der Öffentlichkeit als Belästigung, Einschränkung oder Aggression verstanden werden, z.B. wenn der flüssige Straßenverkehr massiv in Mitleidenschaft gezogen wird.198 Nach der Rechtsprechung des BVerfG schützt Art. 8 GG aber nicht „die zwangsweise oder sonst wie selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen“199. Dies entspricht auch der südafrikanischen Rechtslage.200 Da die 194
BVerfGE 104, 92 (106) unter Verweis auf BVerfGE 73, 206 (248); 87, 399 (406). Siehe auch BVerfGE 69, 315 (360); BVerfGKE 10, 6 (6 f.). 195 „Niemand darf bei öffentlichen Versammlungen oder Aufzügen Waffen oder sonstige Gegenstände, die ihrer Art nach zur Verletzung von Personen oder zur Beschädigung von Sachen geeignet und bestimmt sind, mit sich führen, ohne dazu behördlich ermächtigt zu sein.“ 196 BVerfGE 69, 315 (360). 197 Art. 4 im französischen Original: „La liberté consiste à pouvoir faire tout ce qui ne nuit pas à autrui: ainsi l’exercice des droits naturels de chaque homme n’a de bornes que celles qui assurent aux autres membres de la société la jouissance de ces mêmes droits. Ces bornes ne peuvent être déterminées que par la loi.“ Und Art. 5: „La loi n’a le droit de défendre que les actions nuisibles à la société. Tout ce qui n’est pas défendu par la loi ne peut être empêché, et nul ne peut être contraint à faire ce qu’elle n’ordonne pas.“ Siehe hierzu Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 20 mit Fn. 33, Rn. 34. 198 Hierzu Benda, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Mai 1995), Art. 8 Rn. 9 f. Siehe ausführlich zu den verschiedenen Kollisionskonstellationen Scheu, Freiheitsperspektiven Drittbetroffener im Versammlungsrecht, 2014, S. 25–42. 199 BVerfGE 104, 92 (105). 200 Supreme Court, Natal Provincial Division, 15.12.1995, Acting Superintendent-General of Education of KwaZulu-Natal v. Ngubo and Others, Butterworths Constitutional Law Reports 1996, 369 (376) – noch zur Interimsverfassung; High Court, Witwatersrand Local
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 349
selbsthilfeähnliche Durchsetzung nicht vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit gedeckt ist, nimmt sie auch nicht am Schutz der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG teil. Hiervon abgegrenzt werden müssen „disruptive“ Versammlungen und dergleichen. Gemeint sind damit Techniken, die sich den traditionellen Rubriken des Ringens um das bessere Argument entziehen, sondern stören, aufrütteln und unbequem sein wollen. Einen numerus clausus der zulässigen Protestformen gibt es ebenso wenig,201 wie die Kunstfreiheit auf die bislang anerkannten Werktypen beschränkt ist.202 Protestcamps, die über längere Zeiträume allgemein zugängliche Bereiche für sich in Anspruch nehmen, sind einerseits disruptiv, andererseits tendieren sie in Richtung der eigenmächtigen Durchsetzung von Forderungen. Denn sie nehmen öffentlichen Grund exklusiv unter Verdrängung der Allgemeinheit in Beschlag. Insgesamt ist entscheidend, die Grenze der Friedlichkeit und Waffenlosigkeit richtig zu ziehen. Mit „richtig“ ist gemeint, dass das Verständnis des Art. 8 I GG getroffen wird und nicht zu rasch eine unfriedliche Versammlung angenommen wird, denn dann wird zu Unrecht der Grundrechtsschutz versagt und dann kann eine Wesensgehaltsantastung gegeben sein. Hierauf wird im Rahmen der systematischen Auslegung zurückzukommen sein.203 In Südafrika wird „die zwangsweise oder sonst wie selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen“ ebenfalls nicht vom dortigen Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 17 FC geschützt.204 Friedlichkeit und Waffenlosigkeit setzt auch der Wortlaut der Grundrechtsverbürgung voraus. Dies war auch einhellige Meinung bei der Vorbereitung eines neuen Versammlungsgesetzes.205 Genauer wird auf das südafrikanische Recht bei der systematischen Auslegung eingegangen. Zwar unterscheiden sich die deutsche und die 201 Division (Claassen), 30.10.1998, 98/23990, Fourways Mall (Pty) Ltd. and Another v. South African Commercial catering and Allied Workers Union and Another, The South African Law Reports 1999, 752 (759). 201 B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 179; Kingreen/Poscher, Grundrechte, 38. Aufl. 2022, Rn. 953; Schaefer, Grundlegung einer ordoliberalen Verfassungstheorie, 2007, S. 45. So auch Schwäble, Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, 1975, S. 71. 202 Hierzu Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 5 Rn. 37 m.w.N. 203 Siehe hierzu unten E. II. 2. b) hh). 204 CC, 12.4.2017 – CCT 280/16 Rn. 32 (Nkabinde, Cameron, Froneman, Jafta, Khampepe, Madlanga, Mbha, Mhlantla, Zondo) – Hotz and Others v. University of Cape Town, https://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2017/10.html (Stand: 10.8.2023); Supreme Court, Natal Provincial Division, 15.12.1995, Acting Superintendent-General of Education of KwaZulu-Natal v. Ngubo and Others, Butterworths Constitutional Law Reports 1996, 369 (376) – noch zur Interimsverfassung; Woolman, Freedom of Assembly, in: Woolman/Bishop (Hrsg.), Constitutional Law of South Africa, Bd. 3, 2. Aufl. (Stand: Februar 2005), Kap. 43, 43-37. 205 Goldstone Commission, Towards peaceful protest in South Africa, 1992, S. 2 f. Siehe hierzu Omar, A legal analysis in context: The Regulation of Gatherings Act – a hindrance to the right to protest?, South African Crime Quarterly 62 (2017), 21 (24 f.).
350
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
südafrikanische Rechtsordnung dem Wortlaut nach nicht, in beiden Staaten müssen Versammlungen friedlich und unbewaffnet sein. Die einfachgesetzliche Ausgestaltung und die Lebenswirklichkeit sind jedoch in den beiden Rechtsordnungen teilweise unterschiedlich. ff) Gesetzesvorbehalt Art. 8 II GG enthält einen expliziten Gesetzesvorbehalt für Versammlungen unter freiem Himmel. Einschränkungen sieht das Grundrecht somit zumindest für Teile des Schutzbereichs ausdrücklich vor. Dementsprechend ist eine Einschränkung nicht per se eine Wesensgehaltsantastung. Anderenfalls wäre der Gesetzesvorbehalt des Art. 8 II GG nicht zu erklären. Sind Einschränkungen der Versammlungsfreiheit also grundsätzlich zulässig, so dürfen sie gleichwohl nur auf gesetzlicher Grundlage erfolgen. Zwar heißt es, dass Art. 8 I GG „durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden“ dürfe. Dies ließe sich so deuten, dass Einschränkungen auch durch Rechtsverordnungen erfolgen dürften. Allerdings setzen diese bereits nach Art. 80 GG eine gesetzliche Grundlage voraus, und auch aus den Grundrechten selbst wird gefolgert, dass sich jede Einschränkung auf ein Gesetz im formellen Sinne, ein Parlamentsgesetz, zurückführen lassen muss.206 Hierbei geht es auch um die Rückführbarkeit der Ausübung von Hoheitsgewalt auf das Volk und die damit verbundene Herstellung demokratischer Legitimation.207 Da mit „Gesetz“ das formelle und damit das Parlamentsgesetz i. S. d. Art. 76 ff. GG gemeint ist, nicht aber die Rechtsverordnung nach Art. 80 GG, wären gesetzliche Ermächtigungen, welche die Exekutive von der Beachtung der Gesetze suspendieren, ebenso unzulässig wie die bloße Missachtung des Gesetzesvorbehalts. In Südafrika ist die Rechtslage wegen der verschiedenen Rechtsarten („common law“ mit Präzedenzfällen, ungeschriebenes lokales Recht etc.208) komplexer. Während in Deutschland allenfalls die Frage von Gewohnheitsrecht oder die Reichweite der richterlichen Interpretationsbefugnisse diskutiert wird, wobei es sich im Hinblick auf die Versammlungsfreiheit um eher abstrakte methodische Fragen handelt, stellt sich für das südafrikanische Recht die Frage der Rechtsquellen schärfer. Da Art. 17 FC selbst keinen Gesetzesvorbehalt enthält, sondern lediglich Art. 36(1) FC, wird dieser Frage im Rahmen der systematischen Auslegung nachgegangen.
206 Allgemein hierzu Kingreen/Poscher, Grundrechte, 38. Aufl. 2022, Rn. 364–401; speziell zu Art. 8 GG B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 323; Ernst, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 8 Rn. 121. 207 Siehe hierzu oben B. II. 1. b). 208 Siehe hierzu bereits oben B. I. 3. c) aa) sowie D.
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 351
c) Zwischenergebnis Aus dem Wortlaut allein gibt sich vergleichsweise eindeutig lediglich (aber vorbehaltlich der Ergebnisse der übrigen Auslegungsmethoden), dass zum Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit der Rechtscharakter gehört und das Recht darin besteht, gemeinsam an einem Ort zusammenkommen zu dürfen. Für Jochen Abr. Frowein ist gerade die Zusammenkunft das Wesen der Versammlungsfreiheit.209 Hierfür müssen genügend Orte zur Verfügung stehen. Dies deckt sich mit den Aussagen der südafrikanischen Verfassung. Weitere Gehalte hängen von den Ergebnissen der übrigen Auslegungsmethoden ab. Ausgeschlossen sind nach dem Wortlaut jedenfalls virtuelle Versammlungen, Eine-Person-Versammlungen, Nichtdeutsche als Grundrechtsträger, die Unfriedlichkeit, die Bewaffnung und die eigenmächtige Durchsetzung von Anliegen.
2. Systematische Auslegung Ebenfalls von Bedeutung für die Ermittlung des Inhalts der Norm ist der Bedeutungszusammenhang, in dem die auszulegende Vorschrift steht.210 Deshalb bezieht sich die systematische Auslegung auf den „Zusammenhang der sachlichen Strukturen der normativ relevanten Ausschnitte der Regelungsbereiche“.211 Die auszulegende Norm wird nicht isoliert, sondern in ihrem Zusammenspiel mit anderen Normen betrachtet,212 wobei vier Postulate Geltung beanspruchen: Widerspruchsfreiheit, Nichtredundanz, Vollständigkeit und systematische Ordnung.213 Dabei ist man für die Interpretation der übrigen Normen wiederum auf Auslegungsmethoden angewiesen.214 a) Systematik des Art. 19 II GG Im Zusammenhang mit dem Wortlaut wurde bereits auf die Begriffe „Wesen“ in Art. 19 III GG und „Wesentlichkeit“ eingegangen, weshalb hier eine weiter gehende Auseinandersetzung damit unterbleiben kann, zumal die Ergebnisse nicht übertragbar waren. Da das BVerfG bislang nicht den Wesensgehalt eines Grundrechts ermittelt hat, kann im Folgenden – abgesehen von einigen 209
Frowein, Versammlungsfreiheit und Versammlungsrecht, NJW 1969, 1081 (1081). Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 324. 211 F. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, 11. Aufl. 2013, Rn. 365. Ähnlich Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 2 Rn. 11. 212 Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 5. Aufl. 2023, S. 141; Rüthers/Fischer/ Birk, Rechtstheorie, 12. Aufl. 2022, Rn. 744. 213 Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 5. Aufl. 2023, S. 141, 141–157. 214 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 324 f. 210
352
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
Bruchstücken – keine systematisch-kohärente Übertragung von Erkenntnissen auf Art. 8 GG erfolgen. Ebenfalls als wenig relevant wird sich der Bezug zu den Einrichtungsgarantien des Grundgesetzes (aa]) erweisen. Der Grundrechtsbezug (bb]) sowie die europäischen Bemühungen, Wesensgehalte der EMRK und der EUGrCh zu ermitteln (cc]), können schon eher hilfreich sein, auch wenn die Schlussfolgerungen noch diffus bleiben. aa) Einrichtungsgarantien Nach hier vertretener Ansicht hat die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG die Funktion der Einrichtungsgarantien für die Grundrechte übernommen.215 Dies entspricht zwar weder der sog. herrschenden Meinung noch der Rechtsprechung des BVerfG, ist aber trotz des gewählten Methodenansatzes216 unschädlich, denn Art. 8 GG ist kein Grundrecht mit Einrichtungsgarantie,217 zumindest hat das BVerfG sich nicht in dieser Weise geäußert. Abweichende Ansätze sind zumeist älteren Datums.218 Selbst wenn man dies anders sähe und insbesondere die älteren Ansätze aufgriffe, so wären sie nicht sehr ergiebig, denn teilweise geht es um die Anerkennung der Versammlung als Garantie des „gesellschaftlichen Sachverhalts“219, ohne dass jedoch klar würde, welchen Inhalt diese Garantie konkret hätte. Teilweise wird verlangt, dass zur Not hinreichend Orte für Versammlungen geschaffen werden müssen,220 was sich wohl auch ohne Rekurs auf die Figur der „eingeschränkten Institutsgarantie“ begründen lässt. Jedenfalls lassen sich keine hierüber hinausgehenden Gehalte ermitteln.221 bb) Grundrechtsbezug Art. 1 III GG ordnet unmissverständlich die rechtliche Bindung aller Staatsgewalten an die nachfolgenden Grundrechte an. Die Wesensgehaltsgarantie 215
Ähnlich, zumindest die Einrichtungsgarantie als überflüssig ansehend, auch Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 6 Rn. 21. 216 Siehe hierzu oben B. I. 1. 217 Benda, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Mai 1995), Art. 8 Rn. 57; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 8 Rn. 51; Kniesel, in: Dietel/ Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetze, 18. Aufl. 2019, Teil I Rn. 61; Ossenbühl, Versammlungsfreiheit und Spontandemonstration, Der Staat 10 (1971), 53 (64). A.A. B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 379, der von einer eingeschränkten Institutsgarantie spricht. 218 W. Leisner, Versammlungsfreiheit, in Kunst/Grundmann/Herzog (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 1966, Sp. 2372; F. Klein, in: v. Mangoldt/Klein, GG, Bd. I, 2. Aufl. 1957, Art. 8 Anm. II. 3. Nunmehr aber auch B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 379. 219 F. Klein, in: v. Mangoldt/Klein, GG, Bd. I, 2. Aufl. 1957, Art. 8 Anm. II. 3. 220 B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 379. 221 Siehe hierzu ausführlicher unter E. II. 3 a).
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 353
des Art. 19 II GG hat ihren verfassungsrechtlichen Standort am Ende des Abschnitts zu den Grundrechten, in welchem auch Art. 1 III GG steht, und verwendet den Begriff „Grundrechte“. Dies bestätigt den ohnehin offenkundigen Befund der grammatischen Auslegung, wonach die Grundrechte (einschließlich der Versammlungsfreiheit) und damit auch ihr Wesensgehalt Rechtscharakter haben. Art. 19 II GG bezieht sich zumindest auf alle Grundrechte.222 Dann kann aber das, was die Grundrechte allgemein auszeichnet, insgesamt als von Art. 19 II GG für jedes einzelne Grundrecht in Bezug genommen gelten. Hiermit sind die allgemeinen Grundrechtslehren gemeint. Wenn der Gesetzesvorbehalt, die rechtliche Bindung aller Staatsgewalten und die Grenze des Übermaßverbots für alle Grundrechte gelten, dann gelten sie auch jeweils für jedes einzelne Grundrecht und damit auch für Art. 8 GG. Das ist dann zwar nicht charakteristisch im Verhältnis zu den anderen Grundrechten, vielmehr besteht eine Gemeinsamkeit. Aber es ist charakteristisch für das Verständnis z.B. des Art. 8 GG im Unterschied zu Bestimmungen des Grundgesetzes außerhalb des Grundrechtsteils oder zu den Verbürgungen der Versammlungsfreiheit anderer Verfassungen wie etwa der Weimarer Reichsverfassung. Schließlich verlangt der Wortlaut einen „Gehalt“, dieser wird auch durch die Rechtsqualität, die Rechtsschutzmöglichkeit, den Gesetzesvorbehalt, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz etc. ausgefüllt. cc) Die europäischen Wesensgehalte Die – wenigen – Ausführungen des EGMR und des EuGH zur Wesensgehaltsgarantie der EMRK bzw. des Art. 52 I 1 EUGrCh bestätigen die Erkenntnis, dass ein innerer Kern des Grundrechts geschützt werden müsse.223 Auch im europäischen Kontext zeigt sich die Verbindung von hinreichender Quantität und charakteristischer Qualität des Grundrechts, um von einem unangetasteten Wesensgehalt sprechen zu können.224 Überdies lässt sich speziell der Judikatur des EuGH zum Datenschutzrecht entnehmen, dass der Schutz des Kommunikationsinhalts bedeutsamer als der Schutz der Begleitumstände der Kommunikation ist,225 es besteht also eine Differenzierung nach Inhalt und Form. Auch der EGMR hat – spezifisch im Hinblick auf die Versammlungsfreiheit – judiziert, den Inhalt betreffende Be-
222
Nach hier vertretener Ansicht auch auf die grundrechtsgleichen Rechte, siehe oben D.
IV. 4. 223
Siehe hierzu bereits unter D. III. 2.–D. III. 2. b). Siehe hierzu oben D. III. 2.–D. III. 2. b). 225 EuGH, Urt. v. 6.10.2015 – C-362/14, ECLI:EU:C:2015:650 Rn. 94 f. – Schrems. Siehe hierzu oben D. III. 2. a). 224
354
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
schränkungen der Freiheit strenger zu kontrollieren als Beschränkungen der Modalitäten der Freiheitsausübung.226 Dies kann im Zusammenhang mit dem individuellen Selbstverständnis und dem Selbstbestimmungsrecht bei gleichzeitiger staatlicher Neutralität bedeutsam werden.227 Überdies hat der EuGH auf die Bedeutung einer fairen Rechtsschutzmöglichkeit und die Unabhängigkeit der entscheidenden Richter hingewiesen,228 was auch für den Rechtsschutzgedanken im Zusammenhang mit Art. 19 II GG relevant werden kann. Die Frage der europäischen Integration betrifft insbesondere die Frage der Grundrechtsträgerschaft sowohl von natürlichen Personen (EU-Ausländer) als auch von juristischen Personen mit Sitz im EU-Ausland229 und den Versammlungszweck230. Im Übrigen besteht weitgehende Übereinstimmung des europäischen Rechts231 mit der Versammlungsfreiheit,232 weshalb explizit allein auf die Abweichungen wie die unterschiedlichen personellen Schutzbereiche von Art. 11 EMRK und Art. 8 GG eingegangen wird.233 b) Systematik des Art. 8 GG Ein erster Ansatz wäre, die Ergebnisse der Wesensgehaltsgarantie von anderen Grundrechten oder zumindest die Methode auf Art. 8 GG zu übertragen. Jedoch mangelt es insgesamt an zusammenhängenden Darstellungen über den Wesensgehalt von Grundrechten und seiner Ermittlung. Deshalb werden die einzelnen Elemente der Versammlungsfreiheit einer eigenen systematischen Interpretation unterzogen. 226 EGMR, Urt. v. 7.2.2017 – 57818/09 etc., Rn. 417 – Lashmankin u.a. v. Russland, https://hudoc.echr.coe.int/?i=001–170857 (Stand: 10.8.2023): „most serious scrutiny“ verglichen mit einer „wider margin of appreciation“ in Bezug auf Beschränkungen hinsichtlich Zeit oder Ort. 227 Siehe hierzu noch unten E. II. 2. b) hh). Frankenberg, Demonstrationsfreiheit – eine verfassungsrechtliche Skizze, KJ 1981, 370 (379) zählt zu den „minima legalia“ der Demonstrationsfreiheit, dass jede Bewertung und rechtliche Diskriminierung der Inhalte des politischen Protests unzulässig sind. 228 EuGH, Urt. v. 25.7.2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 47 – Minister for Justice and Equality/LM. 229 Siehe hierzu unten E. II. 2. b) cc) (2). 230 Siehe hierzu unten E. II. 2. b) gg). Die Anforderungen an den Versammlungszweck sind weniger streng als nach Art. 8 I GG, vgl. v. Coelln, in: Ullrich/v. Coelln/Heusch (Hrsg.), Handbuch Versammlungsrecht, 2021, Rn. 27. 231 Zu Art. 12 I EUGrCh existiert kaum Rechtsprechung, vgl. A.-B. Kaiser, in: Dreier, GG, Bd. I, 4. Aufl. 2023, Art. 8 Rn. 17. 232 So zur EMRK Arndt/Engels/v. Oettingen, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, 3. Aufl. 2022, Art. 11 Rn. 2; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 7. Aufl. 2021, § 23 Rn. 70. Art. 12 I EUGrCh orientiert sich seinerseits im Wesentlichen an Art. 11 I EMRK. Das BVerfG spricht im Hinblick auf die EUGrCh, die EMRK und die Grundrechte des Grundgesetzes allgemein von „weitgehend deckungsgleichen Gewährleistungsgehalte[n]“, BVerfGE 158, 1 (37). 233 Siehe hierzu unten E. II. 2. b) cc) (1).
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 355
aa) Rechtsqualität Dass Art. 8 GG Rechtsqualität besitzt, ergibt sich auch aus Art. 1 III GG, der bestimmt, dass die nachfolgenden Grundrechte „als unmittelbar geltendes Recht“ binden. Art. 8 GG steht im Abschnitt „I. Die Grundrechte“, sodass es eindeutig ist, dass sich die Rechtsverbindlichkeit, die Art. 1 III GG explizit auf die Grundrechte erstreckt, auch auf Art. 8 GG bezieht. In Südafrika ist die Grundrechtsbindung ebenfalls ausdrücklich angeordnet (Art. 7(2) FC) und bestätigt das hiesige Ergebnis. bb) Grundrechtsbindung Die rechtliche Bindung, die Art. 1 III GG unmissverständlich anordnet, bezieht sich auf alle staatliche Gewalt. Hiermit ist nicht nur die unmittelbare Staatsverwaltung, sondern auch die mittelbare Staatsverwaltung erfasst, insgesamt jegliche Ausübung von Hoheitsgewalt, auch gemischtwirtschaftliche Unternehmen.234 Im Zusammenhang mit der demokratischen Dekonsolidierung ist aber der Gesetzgeber besonders relevant. Die Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG steht im Abschnitt zu den Grundrechten und ist eines der nachfolgenden Grundrechte, von denen Art. 1 III GG spricht. Dies bestätigt den Befund der grammatikalischen Auslegung, wonach die Grundrechte Rechtscharakter haben, und zwar mit allen ihren Dimensionen, also einschließlich Schutz- und Leistungsdimension, denn sie ergeben sich alle aus derselben Grundrechtsbestimmung (Art. 8 GG). Es heißt zwar, dass die Krise die Stunde der Exekutive sei,235 was für die demokratische Dekonsolidierung als Krise der Demokratie bedeutsam sein könnte. Aber das Grundgesetz dispensiert, anders als die Weimarer Reichsverfassung dies zuließ, im Krisenfall nicht von den Grundrechten.236 Selbst in der „Krise“ gilt die Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt uneingeschränkt. Für eine Bindung von privaten Personen (im Unterschied zu Trägern hoheitlicher Gewalt237) an Art. 8 GG bietet auch die Systematik keinen Anhaltspunkt. In dem der Versammlungsfreiheit nachfolgenden Artikel des Grundge234
BVerfGE 128, 226 (LS 1). Heinig et al., Why Constitution Matters – Verfassungsrechtswissenschaft in Zeiten der Corona-Krise, JZ 2020, 861 (861). 236 Heinig et al., Why Constitution Matters – Verfassungsrechtswissenschaft in Zeiten der Corona-Krise, JZ 2020, 861 (862); A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 221–227; Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 3. Aufl. 2022, S. 350– 353. 237 Hollo, Schutz von Versammlungen auf fremdem Grund, JZ 2021, 61 (61 f.) unterscheidet sieben verschiedene Fallkonstellationen. Die hier behandelte Bindung Privater betrifft die dort genannten Fallgruppen (6) und (7), wobei nur die Fallgruppe (6) problematisch sein dürfte. 235
356
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
setzes, in Art. 9 III 2 GG, wird eine unmittelbare Drittwirkung und damit eine Bindung Privater an Grundrechte statuiert. Hieraus wäre zu schlussfolgern, dass der Verfassungsgeber die Frage der Grundrechtsbindung gesehen und in der gewählten Weise ausgestaltet hat. Im Umkehrschluss könnte der Versammlungsfreiheit keine unmittelbare Drittwirkung entnommen werden, sodass diese nach der systematischen Auslegung auch nicht zur Wesensgehaltsgarantie gezählt werden könnte. Gleichwohl hat das BVerfG in vereinzelten (Kammer-)Entscheidungen im Sinne einer zumindest gesteigerten Drittwirkung der Grundrechte judiziert. Gemeint sind die Entscheidungen „Bierdosen-Flashmob“238 speziell zu Art. 8 GG sowie „Stadionverbot“239 zu Art. 3 GG. In der Entscheidung „Bierdosen-Flashmob“ erließ die Dritte Kammer des Ersten Senats des BVerfG eine einstweilige Anordnung nach § 32 I BVerfGG, mit der den Antragstellern gestattet wurde, auf einem Platz einer privaten Person gegen deren Willen eine Versammlung abzuhalten. Der Platz ist zentral am Ende einer Fußgängerzone gelegen und für den Publikumsverkehr geöffnet.240 Die Kammer führte aus: „Allerdings ist die Eigentümerin des Nibelungenplatzes als juristische Person des Privatrechts Grundrechtsträgerin und kann nach Maßgabe des Art. 19 Abs. 3 GG für das von ihr ausgesprochene Hausverbot eigene Grundrechte, insbesondere ihr Eigentumsrecht aus Art. 14 GG, geltend machen. Dies hindert jedoch nicht, dass sich der Antragsteller in einem diesbezüglichen zivilgerichtlichen Verfahren auf die Versammlungsfreiheit berufen kann. Die Versammlungsfreiheit verschafft zwar kein Zutrittsrecht zu beliebigen Orten. Insbesondere gewährt sie dem Bürger keinen Zutritt zu Orten, die der Öffentlichkeit nicht allgemein zugänglich sind oder zu denen schon den äußeren Umständen nach nur zu bestimmten Zwecken Zugang gewährt wird. Demgegenüber verbürgt die Versammlungsfreiheit die Durchführung von Versammlungen dort, wo ein allgemeiner öffentlicher Verkehr eröffnet ist (BVerfGE 128, 226 [251]).“241
Die zitierte Senatsentscheidung („Fraport“) bezog sich jedoch auf eine Person, die unmittelbar an Grundrechte gebunden war,242 sodass der Verweis auf die Senatsentscheidung (Fraport) von zweifelhafter Aussagekraft ist. Jedoch führt die Kammer weiter aus: „Wenn heute die Kommunikationsfunktion der öffentlichen Straßen, Wege und Plätze zunehmend durch weitere Foren wie Einkaufszentren, Ladenpassagen oder durch private Investoren geschaffene und betriebene Plätze als Orte des Verweilens, der Begeg238 BVerfG(K), NJW 2015, 2485 f. Hierzu F. Becker, Öffentliches und Privates Recht, NVwZ 2019, 1385 (1390); Hettich, Versammlungsrecht in der Praxis, 3. Aufl. 2022, Rn. 189. 239 BVerfGE 148, 267 ff. Hierzu Wiater, Verwaltungsverfahren durch Private?, JZ 2020, 379 ff. 240 Umfassend Siehr, Das Recht am öffentlichen Raum, 2016, S. 588–638, die von „semiöffentlichen“ Räumen spricht. 241 BVerfG(K), NJW 2015, 2485 (2485). 242 Hierauf wird erst später hingewiesen BVerfG(K), NJW 2015, 2485 (2486).
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 357
nung, des Flanierens, des Konsums und der Freizeitgestaltung ergänzt wird, kann die Versammlungsfreiheit für die Verkehrsflächen solcher Einrichtungen nicht ausgenommen werden, soweit eine unmittelbare Grundrechtsbindung besteht oder Private im Wege der mittelbaren Drittwirkung in Anspruch genommen werden können (BVerfGE 128, 222 [252]). Letzteres ist hier der Fall. Der beabsichtigte Ort der Versammlung steht zwar im Eigentum einer Privaten, ist zugleich aber für den Publikumsverkehr offen und schafft nach den Feststellungen des Landgerichts einen Raum des Flanierens, des Verweilens und der Begegnung, der dem Leitbild des öffentlichen Forums entspricht (vgl. hierzu BVerfGE 128, 226 [253 f.]).“243
Da die unmittelbare Drittwirkung mangels Grundrechtsverpflichtung ausscheidet, kann die Entscheidung nur auf den Aspekt der mittelbaren Drittwirkung gestützt werden. Für den vorliegenden Zusammenhang bleibt es bei der Erkenntnis, dass Art. 8 GG keine unmittelbare Drittwirkung beinhaltet. Dementsprechend kann es auch nicht zum Wesensgehalt des Art. 8 GG gehören, dass Private an ihn gebunden sind. Allerdings kann auch eine mittelbare Drittwirkung weit reichen. Dies spricht die Kammer selbst an, wenn sie ausführt, dass sich eine mittelbare Drittwirkung der unmittelbaren Drittwirkung in ihren Auswirkungen angleichen kann.244 § 21 ME VersG will ausdrücklich klarstellen, dass auf „Verkehrsflächen von Grundstücken in Privateigentum, die dem allgemeinen Publikum geöffnet sind“, „öffentliche Versammlungen auch ohne die Zustimmung der Eigentümerin oder des Eigentümers durchgeführt werden“ können. Diese Vorschrift ist auf Verkehrsflächen begrenzt, aber solche können sich auch in Gebäuden wie z.B. Einkaufszentren befinden.245 Dies scheint eine sehr weitgehende Einschränkung der Eigentümerbefugnisse darzustellen. Zwar ist der Gesetzgeber zur inhaltlichen Ausgestaltung der Eigentumsfreiheit berechtigt und verpflichtet, aber die vorgeschlagene Regelung knüpft pauschal an die tatsächliche Eröffnung eines öffentlichen Verkehrs an und gestattet keine Abstufungen nach Art der Verkehrsfläche.246 Im geltenden Recht fehlt es aber an entsprechenden gesetzlichen Ausgestaltungen der Eigentumsfreiheit.247 Letztlich wird die Rechtsfrage, nämlich nach welchen Grundsätzen die Kollision der Grundrechte auf Versammlungs- und Meinungsäußerungsfreiheit mit den 243
BVerfG(K), NJW 2015, 2485 (2485). BVerfG(K), NJW 2015, 2485 (2486). So bereits zuvor BVerfGE 128, 226 (249), obwohl kein mittelbarer Drittwirkungsfall zu entscheiden war. 245 Enders et al., Musterentwurf eines Versammlungsgesetzes, 2011, S. 60. 246 Siehe insgesamt zur Begründung Enders et al., Musterentwurf eines Versammlungsgesetzes, 2011, S. 60–65. 247 Dirscherl, Versammlungen jenseits des öffentlichen Straßenraums, 2022, S. 195, die auf die Ausnahme des § 20 II 1 BerlVersFG hinweist. Prothmann, Die Wahl des Versammlungsortes, 2013, S. 236–242 sieht die Länder wegen der Schutzpflicht aus Art. 8 I GG gebunden, solche Ausgestaltungen vorzunehmen, und macht hierzu einen entsprechenden Gesetzesvorschlag; ähnlich P.-L. Krüger, Versammlungsfreiheit in privatisierten öffentlichen Räumen, DÖV 2012, 837 (843). 244
358
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
Grundrechten Privater, die einen öffentlichen Verkehr eröffnen und damit Orte der allgemeinen Kommunikation schaffen, von der Kammer des Ersten Senats des BVerfG offengelassen und der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten. Die Ausführungen entsprechen noch keiner gefestigten Auffassung des BVerfG248 oder des EGMR249. Der Anspruch auf Versammlungen auf privatem Grund ist zudem von Voraussetzungen abhängig, die private Fläche muss zumindest dem Leitbild des öffentlichen Forums entsprechen.250 Zudem hat das BVerfG – wenn auch nur im Verfahren nach § 32 I BVerfGG – darauf abgestellt, dass es ohne Zurverfügungstellung der privaten Fläche zu einem faktischen Verbot der Versammlung käme.251 Das lässt sich als das Erfordernis einer essenziellen Angewiesenheit interpretieren.252 § 20 II 1 BerlVersFG gewährt den Anspruch zudem lediglich dann, „soweit überwiegende Interessen der privaten Eigentümerinnen und Eigentümer der Durchführung nicht entgegenstehen“. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Inanspruchnahme von Eigentum Privater für Versammlungen wird von der Literatur teils kritisch253 rezipiert. Zutreffend wird an der neuen Kammerrechtsprechung auch kritisiert, dass die 248 Siehe auch die abweichende Meinung (Schluckebier) in BVerfGE 128, 226 (269 ff.), die sich erst recht auf die Flächen privater Eigentümer übertragen lässt. 249 EGMR, Urt. v. 6.5.2003 – 44306/98, Rn. 52 i.V.m. 47 – Appleby u.a. v. UK, https:// hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–61080; Urt. v. 11.10.2023 – 14237/07, Rn. 72 – Tuskia v. Georgien, https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–186667 (Stand jeweils: 10.8.2023). In einem Hauptsacheverfahren hat der EGMR noch nicht entschieden, dass ein Zutrittsrecht zu privaten Versammlungsorten besteht, vgl. Scharlau, Schutz von Versammlungen auf privatem Grund, 2018, S. 249. 250 BVerfGE 128, 226 (253 f.); BVerfG(K), NJW 2015, 2485. In der Literatur wird teilweise auch eine Monopolstellung des Privaten oder ein spezifischer Versammlungsbezug gefordert, vgl. Dirscherl, Versammlungen jenseits des öffentlichen Straßenraums, 2022, S. 222 ff. und bereits Burgi, Art. 8 GG und die Gewährleistung des Versammlungsorts, DÖV 1993, 633 (642) oder eine wirtschaftliche und soziale Mächtigkeit, vgl. Prothmann, Die Wahl des Versammlungsortes, 2013, S. 233 ff. 251 BVerfG(K), NJW 2015, 2485 (2486). 252 So auch Dirscherl, Versammlungen jenseits des öffentlichen Straßenraums, 2022, S. 222 ff. 253 Frau, Versammlungsfreiheit und Privateigentum, RW 7 (2016), 625 (633 ff.); B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 411–421, insbes. 417; Hettich, Versammlungsrecht in der Praxis, 3. Aufl. 2022, Rn. 189; Hollo, Schutz von Versammlungen auf fremdem Grund, JZ 2021, 61 (66 f.); Michl, Situativ staatsgleiche Grundrechtsbindung privater Akteure, JZ 2018, 910 ff.; Muckel, Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsverpflichtung – Wer kann sich auf Grundrechte berufen und wer wird durch sie verpflichtet?, JA 2020, 411 (415–417); Müller-Franken, in: Schmidt-Bleibtreu, GG, 15. Aufl. 2022, Art. 8 Rn. 8 f.; Smets, Staatsgleiche Grundrechtsbindung Privater aus Funktionsnachfolge?, NVwZ 2016, 35 (37 f.); Smets, Die Stadionverbotsentscheidung des BVerfG und die Umwälzung der Grundrechtssicherung auf Private, NVwZ 2019, 34 (35). Bedenken wegen der Auswirkungen auch bei Frau, Ortsrecht im Einkaufszentrum, LKV 2016, 445 ff. Zustimmung von Schulenberg, Der „Bierdosen-Flashmob für die Freiheit“: Zu Versammlungen auf Grundstücken im Eigentum Privater, DÖV 2016, 55 ff.
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 359
Öffnung des Privateigentums für den öffentlichen Verkehr nicht auf bestimmte Zwecke begrenzt werden könne.254 Die Argumentation ist zumeist auch empirisch nicht abgesichert, da von einem Schwinden des öffentlichen Raums durch Privatisierungen gesprochen wird, ohne dass das Ausmaß näher bekannt wäre. Da der Staat infolge von Privatisierungen nicht mehr als grundrechtsgebundener „Gegner“ vorhanden ist, sondern nicht grundrechtsgebundene Private, wird pauschal einer weitreichenden Drittwirkung das Wort geredet.255 Ausgeblendet bleibt oft, dass der Charakter von Aufgaben als öffentlich oder privat im Laufe der Geschichte durchaus schwankend war. Hier wird es gründlicherer Differenzierungen nach Art und Ausmaß der privatisierten Flächen sowie der gesetzgeberischen Ausgestaltung bedürfen. Ein vermeintliches, nicht näher begründetes faktisches „Bedürfnis“ wird schwerlich Verkürzungen der Eigentumsfreiheit rechtfertigen können. Eine solche strenge Bindung Privater, sofern sie überhaupt zum Schutzbereich des Art. 8 I GG gehört, kann jedenfalls derzeit noch nicht zum Wesensgehalt gezählt werden. Gleichwohl dürfte die Tendenz in der Rechtsprechung zu einer stärkeren mittelbaren Grundrechtsbindung Privater gehen.256 In der südafrikanischen Verfassung ist die Grundrechtsbindung staatlicher und privater Stellen ausführlicher als im Grundgesetz geregelt. Grundsätzlich gilt auch dort, dass zunächst alle staatlichen Stellen an die Grundrechte gebunden sind (Art. 7(2), Art. 8(1) FC). Art. 8(2) FC geht jedoch hierüber hinaus und besagt, dass auch natürliche und juristische Personen des Privatrechts grundrechtsgebunden sein können, wobei die Art des Rechts und die Art der durch das Recht auferlegten Pflichten zu berücksichtigen sind.257 Hiermit ist nicht die mittelbare Drittwirkung gemeint, die ausdrücklich in Art. 39(2) FC geregelt ist,258 sondern die unmittelbare Drittwirkung, welche eine Neuerung gegenüber der Interimsverfassung darstellt.259 Wann diese unmittelbare Drittwirkung gilt, präzisiert die Verfassung jedoch nicht weiter und überlässt diese Ausgestaltung der Rechtsprechung und Literatur. Bislang hat die Rechtsprechung nur in sehr wenigen Fällen Stellung zu Art. 8(2) FC bezogen. Allein hieraus kann bereits geschlussfolgert werden, dass die unmittelbare Drittwirkung nicht der Regelfall ist. Dies wird durch die Entscheidungspraxis des süd254 B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 411–421, insbes. 417. 255 Gornik, Die Bindung der Betreiber öffentlicher Räume an die Kommunikationsgrundrechte, 2017, S. 436–445. 256 Vgl. Scharlau, Schutz von Versammlungen auf privatem Grund, 2018, S. 249. 257 De Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 349 f.; Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, 2000, S. 336–338. 258 De Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 349 f.; Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, 2000, S. 338. 259 Hierzu L.M. du Plessis, A Background to Drafting the Chapter on Fundamental Rights, in: De Villiers (Hrsg.), Birth of a Constitution, 1994, S. 89 (93 f.).
360
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
afrikanischen Verfassungsgerichts bestätigt.260 Die relevanten Fälle befassen sich mit der unmittelbaren Drittwirkung bei den sozioökonomischen Grundrechten, welche das deutsche Grundgesetz gerade nicht kennt. Die südafrikanische Rechtsprechung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Art. 8(2) FC führt nicht zu einer positiven Verpflichtung Privater, die sozioökonomischen Grundrechte umzusetzen, es kann allenfalls die Abwehr der Beeinträchtigung eines sozioökonomischen Rechts, z.B. des Rechts auf schulische Grundbildung, abgewehrt werden. Hierbei spielt die Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung eine Rolle.261 Da es in der Bundesrepublik keine vergleichbaren sozioökonomischen Rechte gibt, die unmittelbare Drittwirkung hier grundsätzlich abgelehnt wird und die Rechtslage in Südafrika vage ist, kann keine Übertragung des südafrikanischen Verfassungsrechtsdenkens zur unmittelbaren Drittwirkung auf den Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit vorgenommen werden. Aber das südafrikanische Recht geht davon aus, was in Deutschland derzeit im Fluss zu sein scheint, dass private Grundstücke nicht gegen den Willen des Eigentümers für Versammlungen genutzt werden dürfen.262 cc) Grundrechtsträger Zunächst wird auf natürliche Personen ([1]) und insbesondere EU-Ausländer eingegangen ([2]), bevor sich die Untersuchung den juristischen Personen i.S.d. Art. 19 III GG ([3]) zuwendet. (1) Natürliche Personen. Nach dem Wortlaut des Art. 8 GG sind nur Deutsche, aber auch alle Deutschen Träger des Rechts der Versammlungsfreiheit. Aus dem Vergleich mit den Jedermanngrundrechten wie etwa Art. 2 I, Art. 2 II 1, Art. 4 I, II, Art. 5 I 1, Art. 5 III GG wird hier erkennbar, dass es sich um eine bewusste Entscheidung des Verfassungsgebers handelt. In verfassungssystematischer Hinsicht spricht nichts dafür, Art. 8 I GG über den Wortlaut hinaus auf Nichtdeutsche auszudehnen, wodurch Nichtdeutsche nicht dem Wesensgehalt unterfallen. Denn nach der Rechtsprechung des BVerfG wirkt Art. 2 I GG auch in personeller Hinsicht als Auffanggrundrecht. Der Einzelne kann sich bei Eingriffen der öffentlichen Gewalt auf Art. 2 I GG berufen, „soweit seine Freiheit in dem betroffenen Lebensbereich unter dem 260 CC, 11.4.2011 – CCT/29/10 Rn. 54–65 (Nkabinde) – Governing Body of the Juma Musjid Primary School and Others v. Essay N.O. and Others, http://www.saflii.org/za/ cases/ZACC/2011/13.html (Stand: 10.8.2023). 261 De Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 349 f.; Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, 2000, S. 337 f., die aber auch zu dem Schluss kommen, dass viele Fragen ungeklärt seien. 262 Vgl. Woolman, Freedom of Assembly, in: Woolman/Bishop (Hrsg.), Constitutional Law of South Africa, Bd. 3, 2. Aufl. (Stand: Februar 2005), Kap. 43, 43-26–43-28, der aber auch für weiter gehende Rechte im Falle öffentlicher Foren plädiert.
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 361
gleichen Gesichtspunkt nicht bereits durch eine besondere Grundrechtsnorm geschützt wird“263. Eine Sperrwirkung dergestalt, dass im Falle der fehlenden Eröffnung des persönlichen Schutzbereichs überhaupt keine Berufung auf Grundrechte möglich sein soll, wird vom BVerfG nicht angenommen.264 Dann verbleibt es bei dem Befund der Wortlautauslegung, wonach sich Ausländer nicht auf Art. 8 GG berufen können, und dementsprechend wird ihr Schutz auch nicht vom Wesensgehalt des Art. 19 II GG erfasst. Erweitert man die systematische Auslegung über die Verfassung hinaus auch auf das einfache Recht und das Recht der EMRK, könnte dem soeben erzielten Zwischenergebnis entgegenstehen, dass bereits das Versammlungsgesetz von 1953 in seinem § 1 jeder Person, also nicht nur Deutschen, das Recht der Versammlungsfreiheit zugestanden hat.265 Das einfache Recht geht also in Bezug auf den personalen Schutzbereich über die Verbürgung des Grundgesetzes hinaus. Dies trifft auch weiterhin nicht nur für die Länder zu, in denen das VersG fortgilt (z.B. Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen), sondern auch in Ländern mit eigenen Landesversammlungsgesetzen, wie etwa Art. 1 I BayVersG, § 1 NdsVersG, § 1 I SächsVersG, § 1 I VersG LSA, § 1 I VersFG SH belegen. Alle diese Gesetze räumen das Versammlungsrecht „jedermann“ ein. Außerdem ist der persönliche Schutzbereich von Art. 11 Hs. 1 Alt. 1 EMRK, der im Range eines einfachen Bundesgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland gilt,266 ebenfalls eröffnet. Auch Art. 11 I EMRK spricht von „jede[r] Person“. Jedoch unterliegt die politische Betätigung von Ausländern in der Bundesrepublik zusätzlichen Beschränkungsmöglichkeiten, die für Deutsche nicht gelten.267 § 47 I 1 AufenthG ermöglicht und § 47 II AufenthG verlangt die Beschränkung oder Untersagung der politischen Betätigung von Ausländern. Hierunter fallen auch Versammlungsverbote.268 Aus der Systematik im weiteren Sinne ergibt sich insgesamt ein schwächerer Schutz der Versammlungsfreiheit von Ausländern. Da sich die Wesensgehaltsgarantie 263 BVerfGE 58, 358 (363) – Hervorhebung nicht im Original. So bereits BVerfGE 30, 292 (336) m.w.N. 264 BVerfGE 35, 382 (399) – im Hinblick auf Art. 11 GG; BVerfGE 78, 179 (196 f.) – im Hinblick auf Art. 12 GG; BVerfGE 104, 337 (345 f.) – im Hinblick auf Art. 12 GG; BVerfGE 128, 1 (68) – im Hinblick auf Art. 12 GG. So auch Bleckmann, Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997, § 9 Rn. 115 (weniger klar hingegen § 29 Rn. 57); Isensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, VVDStRL 32 (1974), 49 (79–81); Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Vorb. Art. 1 Rn. 36; hiergegen Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 2 Rn. 44–46. 265 Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) v. 24.7.1953, BGBl. I, 684. 266 BVerfGE 74, 358 (370); 111, 307 (317 f.); 128, 326 (367); 148, 296 (350, 351). 267 Was wegen Art. 16 EMRK grundsätzlich konventionskonform sein kann, v. Coelln, in: Ullrich/v. Coelln/Heusch (Hrsg.), Handbuch Versammlungsrecht, 2021, Rn. 23; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 7. Aufl. 2021, § 23 Rn. 70. 268 BVerwGE 49, 36 (40 f.) zu dem damaligen § 6 II AuslG.
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
des Art. 19 II GG auf jeweils ein bestimmtes Grundrecht und nicht zusätzlich auf dessen gesamte einfachgesetzliche Ausgestaltung oder andere Grundrechte (wie etwa Art. 2 I GG als subsidiäres Auffanggrundrecht in persönlicher Hinsicht für Ausländer) bezieht, sind die zusätzlichen Verbürgungen der EMRK, des einfachen Rechts oder des Art. 2 I GG nicht maßgeblich. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 8 GG ist getrennt von der des Art. 2 I GG zu betrachten und das einfache Recht wird von Art. 19 II GG erst gar nicht geschützt. Aus diesem Grund ändert die systematische Auslegung mit ihren Bezügen zur EMRK und zu den Versammlungsgesetzen sowie zu Art. 2 I GG nichts daran, dass Nichtdeutsche nicht dem Wesensgehalt des Art. 8 i.V.m. Art. 19 II GG unterfallen können. In Südafrika ist die Versammlungsfreiheit nach Art. 17 FC ein Jedermanngrundrecht, was in systematischer Hinsicht gegen einen engen Bezug zur Demokratie und zum Wahlrecht zu sprechen scheint. Ohnehin ist zu beachten, dass das deutsche Verständnis, wonach nur deutsche Staatsangehörige wahlberechtigt sind, in Südafrika nicht stets vergleichbar konsequent praktiziert wurde. So waren bei den ersten Wahlen nach Ende der Apartheid, die 1994 stattfanden, auch nicht südafrikanische Staatsangehörige wahlberechtigt. Zwar sah die Übergangsverfassung in Art. 21(1) IC ein Wahlrecht nur für Staatsangehörige vor, aber Art. 6(a) IC gestatte es dem Parlament, ein Wahlgesetz zu erlassen, das auch Ausländern ein Wahlrecht gewährte.269 So kam es dann auch, und schätzungsweise 500.000 Ausländer nahmen an den Parlaments- und Provinzwahlen 1994 teil.270 Wenn Art. 8 GG ein demokratisches Grundrecht und zudem ein Deutschengrundrecht ist, die Volksherrschaft aber nur von den Staatsangehörigen ausgeübt werden darf, so spricht dies in doppelter Weise dagegen, Art. 8 GG gegen seinen Wortlaut auf Nichtdeutsche auszudehnen. Hier unterscheiden sich die südafrikanische Interimsverfassung und das deutsche Grundgesetz klar voneinander. Anleihen beim südafrikanischen Recht scheinen damit ausgeschlossen. Der Vollständigkeit halber sei jedoch erwähnt, dass die endgültige Verfassung von 1996 ebenso wie das Grundgesetz lediglich den südafrikanischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern das Wahlrecht einräumt. Das einfache Recht verbietet ausdrücklich die Registrierung von Ausländern als Wähler.271 Somit bestehen die Unterschiede im Wesentlichen in der unterschiedlichen Ausgestaltung der Versammlungs269 Auch die Versammlungsfreiheit in Art. 17 IC war, wie gegenwärtig in Art. 17 FC, als Jedermanngrundrecht ausgestaltet. 270 Siehe hierzu le Roux, Migration, Representative Democracy and Residence Based Voting Rights in Post-Apartheid South Africa and Post-Unification Germany (1990–2015), in: Botha/Schaks/Steiger (Hrsg.), Das Ende des repräsentativen Staates?, 2016, S. 173 (176). 271 Siehe le Roux, Migration, Representative Democracy and Residence Based Voting Rights in Post-Apartheid South Africa and Post-Unification Germany (1990–2015), in: Botha/Schaks/Steiger (Hrsg.), Das Ende des repräsentativen Staates?, 2016, S. 173 (179–186).
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 363
freiheit als Deutschengrundrecht in Deutschland und als Jedermanngrundrecht in Südafrika. (2) EU-Ausländer. Der Wortlaut des Art. 8 GG gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass EU-Ausländer dem Schutzbereich des Art. 8 GG unterfallen. Die systematische Interpretation gestaltet sich jedoch komplexer. Zwischen 2010 und 2020 gab es drei bedeutsame Entscheidungen des BVerfG, in denen es wichtige Aussagen zum Grundrechtsschutz von Personen aus dem EU-Ausland getroffen hat. Alle drei Entscheidungen betrafen juristische Personen mit Sitz im EU-Ausland. Eine der Entscheidungen272 behandelt die Berufung einer juristischen Person aus dem EU-Ausland auf das Deutschengrundrecht des Art. 12 I GG. Hier hat die Dritte Kammer des Zweiten Senats des BVerfG entschieden, dass sich juristische Personen aus dem EU-Ausland auf Grundrechte berufen können. Das, was Art. 19 III GG inländischen juristischen Personen gewährleistet, muss wegen „des Anwendungsvorrangs der Grundfreiheiten (Art. 26 II AEUV) und des allgemeinen Diskriminierungsverbots aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV)“ im Ergebnis auch für juristische Personen aus dem EU-Ausland gelten.273 Die Kammer lässt es zwar ausdrücklich offen, ob sich eine juristische Person aus dem EU-Ausland auf ein Deutschengrundrecht berufen kann,274 äußert aber hieran starke Zweifel, denn der Wortlaut sei eindeutig und eine andere Interpretation würde die Wortlautgrenze übersteigen.275 Zur Vermeidung einer Schlechterbehandlung juristischer Personen aus dem EU-Ausland wird auf das subsidiäre Grundrecht des Art. 2 I GG verwiesen, der einen identischen Schutz von In- und Ausländern bewirken könne.276 Es handelt sich zwar lediglich um eine Kammerentscheidung, die zudem die Rechtsfrage explizit offenlässt und sich nur auf die Berufung einer juristischen Person aus dem EU-Ausland auf ein Deutschengrundrecht bezieht, aber man kann der Rechtsprechung des BVerfG zumindest nicht positiv entnehmen, dass der Schutz von EU-Ausländern durch Deutschengrundrechte des Grundgesetzes bewirkt wird. Dementsprechend 272 Nämlich BVerfG(K), NJW 2016, 1436 ff. Die anderen beiden Entscheidungen betreffen Jedermanngrundrechte: BVerfGE 143, 246 ff. betrifft eine juristische Person, die vollständig von einem Mitgliedstaat gehalten wird und sich auf Art. 14 I GG beruft, während BVerfGE 129, 78 ff. den unkomplizierteren Fall einer juristischen Person des Privatrechts aus dem EU-Ausland betrifft, die sich auf Art. 14 I und Art. 101 I 2 GG beruft. Diese beiden Entscheidungen werden im Anschluss bei den juristischen Personen behandelt, siehe sogleich unter E. II. 2. b) cc) (3). 273 BVerfG(K), NJW 2016, 1436 (1436) unter Verweis auf BVerfGE 129, 78 (94 ff.). 274 BVerfG(K), NJW 2016, 1436 (1436). 275 BVerfG(K), NJW 2016, 1436 (1436). 276 BVerfG(K), NJW 2016, 1436 (1437). Befürwortend v. Coelln, in: Ullrich/v. Coelln/ Heusch (Hrsg.), Handbuch Versammlungsrecht, 2021, Rn. 51; Heintzen, Ausländer als Grundrechtsträger, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. II, 2006, § 50 Rn. 49.
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
kann dieser Punkt auch (noch) nicht zum Wesensgehalt gehören. Selbst wenn sich in der Zukunft beim BVerfG ein Verständnis von „deutsch“ bzw. „inländisch“ im Sinne von „europäisch“ durchsetzen sollte,277 wäre dieser grundrechtliche Schutz zumindest in der ersten Zeit nicht mit dem Kern des Grundrechtsschutzes in personeller Hinsicht gleichzusetzen. Ein solches Verständnis müsste sich erst verfestigen, bevor es als typisch, prägend oder charakteristisch angesehen werden könnte. Die systematische Auslegung bestätigt den Befund der Wortlautauslegung, wonach der Schutz von EU-Ausländern nicht von Art. 8 GG und damit auch nicht von Art. 8 GG i.V.m. Art. 19 II GG erfasst wird. (3) Juristische Personen. Geht man davon aus, dass ein Unterschied zwischen natürlichen und juristischen Personen besteht und die Erstreckung des Schutzbereichs auf juristische Personen gem. Art. 19 III GG begründungsbedürftig und voraussetzungsvoll ist, dann stellt sich zunächst die Frage, ob der Grundrechtsschutz juristischer Personen überhaupt der Wesensgehaltsgarantie unterfällt. Hieran schließt sich ggf. die Beantwortung der Frage an, ob auch juristische Personen aus dem EU-Ausland erfasst werden. Auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit können sich auch inländische juristische Personen i.S.v. Art. 19 III GG berufen, zumindest insoweit sie die Rechte aus Art. 8 GG selbst wahrnehmen können. Dies betrifft insbesondere das Planen, Organisieren, Einladen und Veranstalten von Versammlungen, hingegen nicht das gemeinsame Sichversammeln an einem Ort im Sinne der gleichzeitigen physischen Präsenz,278 denn juristische Personen haben eine solche nicht. Nicht geschützt sind juristische Personen des öffentlichen Rechts279 und solche, die nicht „inländisch“ sind. Hiermit sind jene gemeint, die ihren effektiven Sitz280 nicht in der Bundesrepublik Deutschland haben.281 Auch soweit sie sich auf Art. 8 GG berufen können, ist fraglich, ob ihr Schutz vom Wesensgehalt erfasst wird. Hiergegen könnte sprechen, dass 277 Dies wegen Art. 12 I EUGrCh befürwortend Eickenjäger/Fischer-Lescano, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, VersR, 2. Aufl. 2020, S. 318–321. 278 Siehe hierzu oben E. II. 1. b) cc) (1). 279 BVerfGE 75, 192 (196 f.); 143, 246 (313 f.) m.w.N.; Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 22–26, dort auch zu Ausnahmen. Ausnahme wegen des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots in BVerfGE 143, 246 (314–317). Siehe insgesamt Ludwigs/Friedmann, Die Grundrechtsberechtigung staatlich beherrschter Unternehmen und juristischer Personen des öffentlichen Rechts, NVwZ 2018, 22 ff. 280 Auf diesen ist abzustellen, BVerfG(K), NVwZ 2008, 670 (671); BVerfG(K), NJW 2009, 2518 (2519); BVerfG(K), LKV 2010, 468 (469); P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 296. Siehe bereits BVerfGE 21, 207 (209); 23, 229 (236). 281 P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 301, 303.
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 365
der Schutz von außen herangetragen wird, aber nicht im Grundrecht selbst steckt. Allerdings ist dieses Argument nicht sehr stark. Man könnte die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen auch ohne Art. 19 III GG begründen, und die explizite Statuierung der Gesetzesbindung in Art. 1 III GG kann man ebenso nicht als von außen herangetragen betrachten. Vielmehr erscheint es bedeutsamer, dass traditionell Vereinigungen wie politische Parteien, Kirchen, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände zu Versammlungen aufgerufen und diese veranstaltet haben. Würde man diese juristischen Personen nicht dem Wesensgehaltsschutz unterstellen, wäre ihre Rechtsstellung insgesamt schwächer. Das ist sicherlich für sich genommen kein hinreichendes Argument. Aber bei Art. 9 I und Art. 9 III GG ist anerkannt, dass es sich um Doppelgrundrechte handelt.282 Diese Grundrechte sollen nach der Rechtsprechung zugleich die natürliche Person und die juristische Person schützen, ohne dass es eines Rückgriffs auf Art. 19 III GG bedürfte. Methodisch inkonsistent wäre es, bei juristischen Personen und Grundrechten zu differenzieren, ob und in welchem Fall die juristische Person Wesensgehaltsschutz genießt und wann nicht. Die besseren Gründe sprechen deshalb dafür, auch juristische Personen grundsätzlich dem Schutz des Art. 19 II GG unterfallen zu lassen. Art. 8(4) FC entspricht weitestgehend der deutschen Regelung des Art. 19 III GG zur Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen und stellt auf die Natur des Grundrechts und die Natur der juristischen Person ab,283 sodass das südafrikanische Verfassungsrecht keine zusätzlichen Impulse setzt. Wie bereits anklang, lässt das BVerfG die Berufung von juristischen Personen aus dem EU-Ausland auf Jedermanngrundrechte im Wege der Verfassungsbeschwerde zu. Zwar schließt es aus, den Begriff „inländisch“ in Art. 19 III GG im Sinne von „in der EU“ auszulegen, da der Wortlaut eindeutig sei und anderenfalls die Wortlautgrenze unzulässigerweise überschritten werde.284 Gleichwohl geht das BVerfG von einer „Anwendungserweiterung“ des Art. 19 III GG wegen der fortschreitenden europäischen Integration und des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots aus.285 Da sich aber die EUAusländer als natürliche Personen nicht auf Art. 8 GG berufen können, muss dies erst recht für juristische Personen aus dem EU-Ausland gelten. Das Grundgesetz geht, wie Art. 19 III GG zeigt, davon aus, dass der Schutz juris282 Siehe hierzu bereits oben D. III. 1. c) zu Art. 9 III GG, zu Art. 9 I GG Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 178 f. 283 De Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 349 f.; Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, 2000, S. 324 f. 284 BVerfGE 129, 78 (96); BVerfG(K), NJW 2016, 1436 (1436). Siehe auch Ludwigs, Grundrechtsberechtigung ausländischer Rechtssubjekte, JZ 2013, 434 ff. 285 BVerfGE 129, 78 (96–100). Kritik am methodischen Vorgehen, aber nicht am Ergebnis bei P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 307 f.
366
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
tischer Personen grundsätzlich nicht weiter als derjenige von natürlichen Personen reicht. In Südafrika stellt sich dieses Problem nicht, da Art. 17 FC ein Jedermanngrundrecht ist. Juristische Personen können sich auf die Versammlungsfreiheit berufen.286 (4) Anzahl der Grundrechtsträger. Der Systematik lassen sich keine klaren Aussagen zur erforderlichen Mindestanzahl für eine Versammlung entnehmen. Der Bezug zu Art. 5 I 1 Var. 1 GG könnte dafür sprechen, dass die Meinungsfreiheit den Einzelnen und Art. 8 GG alle Zusammenkünfte schützt, die mehr als eine Person erfassen. Da sich Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit aber nicht nur hinsichtlich der Personenanzahl unterscheiden und es zwei verschiedene Grundrechte sind, ist dieser Schluss nicht zwingend. Das einfache Recht geht – sofern es sich äußert – überwiegend von zwei Personen aus, aber das einfache Landesrecht kann den Inhalt der Verfassung nicht definieren, sodass es sich hierbei nur um ein Indiz, aber noch nicht um einen zwingenden Beweis dafür handelt, dass zwei Personen bereits eine Versammlung bilden können. In Südafrika enthält die Verfassung ebenfalls keine Definition der Mindestanzahl. Einfachgesetzlich unterscheidet § 1 RGA287 zwischen „demonstrations“, die aus weniger als 15 Personen bestehen, und „gatherings“. Letztere bestehen aus 15 oder mehr Personen in oder auf einer öffentlichen Straße oder an anderen öffentlichen Orten oder Räumlichkeiten, die ganz oder teilweise dem Freien zugänglich sind. Der Hintergrund sind unterschiedlich aufwendige Verwaltungsprozeduren für kleine und große Veranstaltungen, insbesondere müssen die kleineren „demonstrations“ ihr Vorhaben grundsätzlich288 nicht anmelden (vgl. § 3 RGA, der Anmeldungen nur für „gatherings“ verlangt289). Eine „demonstration“ kann – einfachgesetzlich – bereits aus lediglich einer Person bestehen, wie die Legaldefinition des § 1 RGA klarstellt („,demonstration‘ includes any demonstration by one or more persons, but 286 So wurde das der Entscheidung SATAWU zugrunde liegende Verfahren von einer Gewerkschaft eingeleitet, CC, 13.6.2012 – CCT/112/11 – South African Transport and Allied Workers Union and Another v. Garvas and Others, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/ 2012/13.html (Stand: 10.8.2023). 287 Regulation of Gatherings Act 205 of 1993 (RGA), https://www.gov.za/documents/ regulation-gatherings-act (Stand: 10.8.2023). Sehr kritisch zu diesem Gesetz, das in der Übergangsphase zwischen Apartheid und Demokratie verabschiedet wurde und noch nicht vollständig an demokratische Grundsätze angepasst ist, Woolman, Freedom of Assembly, in: Woolman/Bishop (Hrsg.), Constitutional Law of South Africa, Bd. 3, 2. Aufl. (Stand: Februar 2005), Kap. 43, 43-7–43-17. 288 Nur ausnahmsweise in der Nähe bestimmter Regierungsgebäude bedarf es nach § 7 RGA der Anmeldung. 289 Hierzu Woolman, Freedom of Assembly, in: Woolman/Bishop (Hrsg.), Constitutional Law of South Africa, Bd. 3, 2. Aufl. (Stand: Februar 2005), Kap. 43, 43-22 f.
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 367
not more than 15 persons […]“).290 Inwieweit dies zwingend verfassungsrechtlich vorgegeben ist, wird nicht diskutiert. Der Wortlaut von „demonstration“ spricht zwar dafür, aber das südafrikanische Verfassungsgericht hat an anderer Stelle, wenn auch nicht in entscheidungserheblicher Weise, ausgeführt, dass „freedom of assembly“ der Natur des Grundrechts nach nur kollektiv ausgeübt werden könne.291 Unklar bleibt aber, ob sich dies nur auf Versammlungsfreiheit im engeren Sinne oder auch auf das „right to demonstrate“ bezieht. dd) Rechtsschutz Art. 19 IV 1 GG eröffnet den Rechtsweg, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten, worunter auch Art. 8 GG fällt, verletzt ist. Erforderlich ist eine effektive und rechtzeitige Überprüfung der staatlichen Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht.292 Überdies lässt Art. 93 I Nr. 4a GG die Verfassungsbeschwerde im Falle der Verletzung des Art. 8 GG zu.293 Die Ausgestaltung des Rechtswegs ist komplex und kann nicht in allen prozessualen Einzelheiten dargelegt werden. Art. 19 IV GG verlangt aber eine effektive und damit auch zeiteffektive Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Damit nicht vereinbar ist eine Häufung von Mechanismen, die das Recht nur auf dem Papier stehen lassen. So wäre beispielsweise eine exzessive Handhabung des Gedankens, dass nach Erledigung eines Rechtsakts kein Rechtsschutz mehr möglich ist, unzulässig, denn gerade versammlungsrechtliche Streitigkeiten erledigen sich üblicherweise rasch wegen Zeitablaufs. Die Grenze überschritten wäre jedenfalls dann, wenn effektiver Eilrechtsschutz ebenfalls unmöglich gemacht würde. Dann gäbe es im Versammlungsrecht keine effektive Rechtsdurchsetzung mehr. Auch Ermessensentscheidungen müssen zumindest eingeschränkt überprüfbar bleiben. Das BVerfG hat sinngemäß formuliert, dass der Wesensgehalt dann angetastet wäre, wenn es keine Rechtsschutzmöglichkeit gäbe. Wörtlich: „Zwar kann der Wesensgehalt eines Grundrechts, etwa des Art. 2 Abs. 2, Art. 12 oder Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG, betroffen sein, wenn jeglicher Störungsabwehranspruch, den die Rechtsordnung zum Schutze eines Grundrechts einräumt, materiellrechtlich beseitigt oder wenn verfahrensrechtlich verwehrt wird, ihn wirkungsvoll geltend zu ma290 So explizit auch High Court (Western Cape Division, Cape Town), 24.1.2018 – A/ 431/15 Rn. 24 (Ndita) – Mlungwana and Others v. The State and Another, http://www.saf lii.org/za/cases/ZAWCHC/2018/3.html (Stand: 10.8.2023). 291 CC, 13.6.2012 – CCT/112/11 Rn. 120 (Jafta, Zondo concurring) – South African Transport and Allied Workers Union and Another v. Garvas and Others, http://www.saf lii.org/za/cases/ZACC/2012/13.html (Stand: 10.8.2023). 292 BVerfGE 110, 77 (85–88). 293 Siehe hierzu bloß BVerfGE 69, 315 ff.; 73, 206 ff.; 82, 236 ff.; 85, 69 ff.; 122, 342 ff.; 128, 226 ff.; 143, 161 ff.
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
chen, mag er oder das Grundrecht, zu dessen Schutz er gewährt ist, auch – unbewehrt in bezug auf ein bestimmtes Vorhaben – materiellrechtlich bestehen bleiben. Ob eine derartige Auswirkung vorliegt, muß indes anhand des gesamten Wirkungsgefüges bemessen werden, in das die einschränkende Norm gestellt ist.“294
Rechtsschutz setzt zu schützendes Recht voraus, eine gewisse Quantität an Recht muss deshalb gegeben sein, damit das Gericht die Rechtskontrolle überhaupt vornehmen kann. Daher muss es eine Kontrolle in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht geben können, was „Recht“ als Kontrollmaßstab voraussetzt. In Südafrika ist die Rechtsschutzmöglichkeit im Falle von Grundrechtsbeeinträchtigungen noch expliziter als in der Bundesrepublik adressiert. Art. 38 FC295 besagt, dass jede in der Bill of Rights aufgeführte Person das Recht hat, sich an ein zuständiges Gericht zu wenden und zu behaupten, dass ein Recht in der Bill of Rights verletzt oder bedroht wurde, und das Gericht kann angemessene Rechtsmittel gewähren. Auch die rechtsschutzsuchenden Personen werden explizit und detailliert aufgezählt: (a) jeder, der in seinem eigenen Interesse handelt, (b) jede Person, die im Namen einer anderen Person handelt, die nicht in ihrem eigenen Namen handeln kann, (c) jeder, der als Mitglied oder im Interesse einer Gruppe oder Klasse von Personen handelt, (d) eine Person, die im öffentlichen Interesse handelt, und (e) eine Vereinigung, die im Interesse ihrer Mitglieder handelt. Auch wenn sich die prozessuale Durchsetzung in Deutschland und Südafrika stark voneinander unterscheidet, ist die Tatsache, dass effektiver Rechtsschutz gewährt werden muss, anerkannt. ee) Gesetzesvorbehalt Der Gesetzesvorbehalt ist eine rechtsstaatliche Errungenschaft und eine „Basisinstitution“ des Rechtsstaats.296 In systematischer Hinsicht ist wegen des Erfordernisses eines Parlamentsgesetzes seine Verknüpfung mit dem Demokratieprinzip bedeutsam. Grundrechtlicher Freiheitsschutz und demokratische Willensbildung werden über das Parlamentsgesetz miteinander verbunden.297 294
BVerfGE 61, 82 (113). Englischer Wortlaut: „Anyone listed in this section has the right to approach a competent court, alleging that a right in the Bill of Rights has been infringed or threatened, and the court may grant appropriate relief, including a declaration of rights. The persons who may approach a court are – (a) anyone acting in their own interest; (b) anyone acting on behalf of another person who cannot act in their own name; (c) anyone acting as a member of, or in the interest of, a group or class of persons; (d) anyone acting in the public interest; and (e) an association acting in the interest of its members.“ 296 Hoffmann-Riem, Gesetz und Gesetzesvorbehalt im Umbruch, AöR 130 (2005), 5 (7). 297 Hoffmann-Riem, Gesetz und Gesetzesvorbehalt im Umbruch, AöR 130 (2005), 5 (10). 295
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 369
Auch wenn der Gesetzesvorbehalt nicht mehr dieselbe freiheitssichernde Funktion wie im Konstitutionalismus hatte, da im Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland Regierung und Parlament politisch regelmäßig übereinstimmen, kann der Gesetzesvorbehalt Teil des Wesensgehalts von Art. 8 GG sein. Denn Art. 19 II GG fragt nicht nach dem Schutzniveau des Gesetzesvorbehalts im Vergleich zum Konstitutionalismus, sondern geht von der gegenwärtigen Ausgestaltung der Rechtsordnung aus und fragt, was für das Grundrecht prägend ist. Allgemein anerkannt ist, dass ein Grundrechtseingriff ohne eine gesetzliche Grundlage schlechterdings unzulässig ist. Dies gilt generell, auch wenn die Steuerungskraft der Gesetze nachlässt,298 und sogar im Krisenfall.299 Selbst „in der Stunde der Exekutive“300 gilt der Gesetzesvorbehalt aus Art. 8 II GG. Das Grundgesetz kennt kein Ausnahmerecht, welches im Krisenfall von der Beachtung der Grundrechte suspendiert.301 Dies gilt auch im Verhältnis des Gesetzes zur Rechtsverordnung. Deshalb muss es Anlass zur Besorgnis geben, wenn auch in dem für die Demokratie so sensiblen Wahlrecht die Möglichkeit geschaffen wird, per Rechtsverordnung des Innenministeriums vom Bundeswahlgesetz abweichen zu dürfen.302 Auf die Schwierigkeit, den Begriff „Recht“ in Südafrika wegen der verschiedenen Rechtskategorien zutreffend zu erfassen, wurde bereits hingewiesen.303 Art. 36(1) FC gestattet Grundrechtsbeschränkungen nur durch ein Gesetz von allgemeiner Anwendung („law of general application“). Dabei ist die Übersetzung von „law“ mit dem Begriff „Gesetz“ schon tendenziös, möglicherweise ist auch lediglich der weiter gehende Begriff „Recht“ gemeint. Art. 39(2) FC formuliert, dass jedes Gericht den Geist sowie die Zwecke und Ziele der Verfassung berücksichtigen muss, wenn es „legislation“ interpretiert oder „common law“ oder „customary law“ entwickelt. Hieraus wurde geschlussfolgert, dass der Begriff „law“ in Art. 36(1) FC weit und folglich unter Einschluss des „common law“ und des „customary law“ 298 E.-W. Böckenförde, Nachwort. Gesetzesbegriff und Gesetzesvorbehalt, in: Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. 1981, S. 375 (402); Hoffmann-Riem, Gesetz und Gesetzesvorbehalt im Umbruch, AöR 130 (2005), 5 (28); Isensee, Die typisierende Verwaltung, 1976, S. 155–159, 172–174; Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2006, S. 183 f. 299 Zur südafrikanischen Rechtslage siehe bereits oben C. IV. 1. d). 300 Hierzu Heinig et al., Why Constitution Matters – Verfassungsrechtswissenschaft in Zeiten der Corona-Krise, JZ 2020, 861 (861, 862). 301 A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 221–227; Heinig et al., Why Constitution Matters – Verfassungsrechtswissenschaft in Zeiten der Corona-Krise, JZ 2020, 861 (862). 302 Vgl. den inzwischen wieder aufgehobenen § 52 IV BWahlG a.F. Siehe hierzu BT-Drs. 19/20596, S. 3–6; BT-Drs. 19/23197. Berechtigte Kritik bei Heinig et al., Why Constitution Matters – Verfassungsrechtswissenschaft in Zeiten der Corona-Krise, JZ 2020, 861 (868). 303 Siehe hierzu unter B. I. 3. c) aa) sowie E. II. 1. b) ff.).
370
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
zu verstehen sei.304 Nicht erfasst sind hingegen exekutive Maßnahmen ohne gesetzliche Grundlage305 oder Handlungen von Privatpersonen.306 Im Hinblick auf das Recht der Gemeindeebene („Satzungen“), internationales Recht und dergleichen ist jedoch noch vieles offen, und in manchen Fragen existieren lediglich sich wiedersprechende Sondervoten des Verfassungsgerichts, aber keine geklärte Rechtsprechung.307 Die Tendenz geht dahin, den Begriff „law of general application“ insgesamt weit zu fassen.308 Jedenfalls ist die südafrikanische Rechtslage nicht vergleichbar klar und streng wie die deutsche, wo sich jedes belastende Handeln auf ein Parlamentsgesetz zurückführen lassen muss. Insgesamt unterscheiden sich die beiden Rechtsordnungen in dieser Hinsicht recht stark voneinander, sodass keine Übertragungen möglich sind. ff) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Um Missverständnissen vorzubeugen, sei sogleich betont, dass die Wesensgehaltsgarantie nicht mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz309 identisch ist. Vielmehr wird Art. 19 II GG absolut verstanden.310 Aber der Gedanke, dass Grundrechte nur in verhältnismäßiger Weise eingeschränkt werden dürfen, kann Teil des Wesensgehalts sein. Das bedeutet nicht, dass eine einmalige Verkennung der Verhältnismäßigkeit sogleich eine Antastung des Wesensgehalts z.B. der Versammlungsfreiheit darstellte, zumal hier ohnehin lediglich die objektivrechtliche Seite der Versammlungsfreiheit analysiert werden soll. Aber die grundsätzliche Abschaffung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Teil der Rechtfertigungsprüfung wäre möglicherweise eine Antastung des Wesensgehalts, denn dann könnten staatliche Stellen die Versammlungsfreiheit stärker 304 CC, 26.5.1996 – CCT/8/95 Rn. 44, 136 (Kentridge) – Du Plessis and Others v. De Klerk and Another, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/1996/10.html (Stand: 10.8.2023). Diese Entscheidung erging zwar noch zur Interimsverfassung, aber hinsichtlich des Erfordernisses „law of general application“ bestehen keine Unterschiede zwischen beiden Verfassungen. 305 CC, 1.4.1999 – CCT/8/99 Rn. 23 (Sachs) – August and Another v. Electoral Commission and Others, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/1999/3.html (Stand: 10.8.2023); de Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 361. 306 De Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 361. 307 So die Einschätzungen von Currie/de Waal, The Bill of Rights Handbook, 6. Aufl. 2013, S. 155 f.; de Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 361 f. 308 Exemplarisch CC, 26.11.1997 – CCT/2/97 Rn. 27 (Mokgoro) – Larbi-Odam and Others v. Member of the Executive Council for Education (North-West Province) and Another, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/1997/16.html (Stand: 10.8.2023). Diese Entscheidung erging zwar noch zur Interimsverfassung, aber hinsichtlich des Erfordernisses „law of general application“ bestehen keine Unterschiede zwischen beiden Verfassungen. 309 Hierzu Sodan, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. III, 2. Aufl. 2022, § 87 m.w.N. 310 Siehe hierzu oben D. IV. 2.–D. IV. 2. c).
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 371
als unbedingt nötig einschränken und wären kaum an inhaltliche Grenzen gebunden. Ausdrücklich niedergelegt ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Grundgesetz nicht. Das BVerfG hat früh entschieden, dass er nicht nur dem Rechtsstaatsprinzip entnommen werden könne, sondern auch aus dem Wesen der Grundrechte folge.311 Auch wenn aus der Verwendung des Wortes „Wesen“ keine voreiligen Schlüsse gezogen werden dürfen, so ist dies doch ein Indiz. Grundrechte sind in ihrer klassischen Abwehrfunktion Verteilungsprinzipien und teilen die staatliche und gesellschaftliche Sphäre auf. Nach klassischem Verständnis ist die Freiheit des Einzelnen prinzipiell unbegrenzt, während der Staat sich für seine Eingriffe in grundrechtliche Freiheit rechtfertigen muss.312 Aus diesem grundlegenden Verteilungsprinzip kann zumindest für den Abwehrgehalt des Art. 8 GG geschlossen werden, dass er der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG unterfällt. Aber für die anderen Dimensionen dürfte nichts anderes gelten. Inzwischen ist unbestritten, dass aus den Grundrechten auch Schutzpflichten, Ausstrahlungswirkungen etc. folgen können. Auch wenn die Berufung auf diese oder die Feststellung ihrer Verletzung anderen Regeln gehorcht als die Prüfung der Verletzung eines abwehrrechtlichen Gehalts, gilt gleichwohl das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Dieses wird bei der Schutzpflicht jedoch nicht als Übermaß-, sondern als Untermaßverbot313 bezeichnet. Gleichwohl gibt der Ausdruck „Wesen der Grundrechte“ Anlass, sich intensiver mit der Frage auseinanderzusetzen, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Teil des Wesensgehalts aller Grundrechte und damit auch der Versammlungsfreiheit ist. Gäbe es den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht (mehr), könnten staatliche Stellen die Versammlungsfreiheit stärker als unbedingt nötig einschränken und wären zudem bei Grundrechtsbeschränkungen kaum inhaltlich gebunden. Denn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist der vorrangige inhaltliche Kontrollmaßstab der Grundrechte. Die übrigen Grenzen der Einschränkbarkeit von Grundrechten, gleichgültig ob formaler oder materieller Natur, haben keine starke dirigierende Kraft. Art. 19 I 1 und 2 GG314 haben in der Recht311
BVerfGE 19, 342 (348 f.); 61, 126 (134); 65, 1 (44); 76, 1 (50 f.); BVerfG(K), NJW 2018, 531 (532). So auch Bleckmann, Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997, § 12 Rn. 146. 312 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 9 f. 313 BVerfGE 98 (abw. Meinung Papier, Graßhof, Haas), 265 (343, 348, 355–358); 109 (abw. Meinung Broß, Osterloh, Gerhardt), 190 (247); siehe auch Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Januar 2022), Art. 20 VII Rn. 128–130; Sodan, Verfassungsrechtliche Grundlagen der Krankenversicherung, in: Sodan (Hrsg.), Handbuch des Krankenversicherungsrechts, 3. Aufl. 2018, § 2 Rn. 62. 314 Zum Verbot des Einzelfallgesetzes: BVerfGE 121, 30 (49); Guckelberger, Verbot von Einzelfallgesetzen und Zitiergebot, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. III, 2. Aufl. 2022, § 85 Rn. 2 ff.
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
sprechung des BVerfG keine Bedeutung erlangt, der Bestimmtheitsgrundsatz als materielle Schranke stellt keine besonders hohe Hürden an den Gesetzgeber. Zudem ist er im Kontext der demokratischen Dekonsolidierung wenig hilfreich, da er lediglich – vereinfacht formuliert – mehrdeutige Vorschriften verbietet. Bei der demokratischen Dekonsolidierung geht es aber um die Summe an Freiheitsbeschränkungen. Sind diese klar formuliert, hilft der Bestimmtheitsgrundsatz nicht weiter. Ein Gesetz, welches alle politischen Versammlungen oder alle Versammlungen unter freiem Himmel verbieten würde, könnte z.B. wegen seiner klaren Formulierung und eines interpretatorisch feststellbaren Inhalts nicht wegen eines Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot sanktioniert werden. Die Rückwirkungsverbote schließlich können keine zukunftsgerichteten Freiheitsverkürzungen erfassen.315 Um die zukünftige Umgestaltung der Rechtsordnung geht es aber bei der demokratischen Dekonsolidierung. Da ohne den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Beschränkung der Grundrechte in inhaltlicher Hinsicht kaum begrenzt werden könnte und es bei dem Schutz vor der demokratischen Dekonsolidierung nicht nur um den Schutz des grundrechtlichen Schutzbereichs, sondern auch um den Schutz vor zu weitreichenden und zu zahlreichen Einschränkungen geht, ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zunächst einmal sehr bedeutsam. Dies allein rechtfertigt jedoch noch nicht, ihm dem Wesensgehalt von Art. 8 GG zuzuordnen. Aber das BVerfG hat auch speziell im Hinblick auf Art. 8 judiziert, dass die Versammlungsfreiheit nur „zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“ beschränkbar sei.316 Dem kann entnommen werden, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip auch der Versammlungsfreiheit immanent ist. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat sich in Rechtsprechung und Literatur auch im Hinblick auf Art. 8 GG fest etabliert. Er ist der zentrale Kontrollmaßstab. Deshalb prägt er das Verständnis der Grundrechte und auch von Art. 8 GG.317 Auch Peter Häberle sieht es als Wesen der Grundrechte an, dass diese nur in verhältnismäßiger Weise eingeschränkt werden dürfen.318 315 Zum Zitiergebot: BVerfGE 120, 274 (343 f.); Guckelberger, Verbot von Einzelfallgesetzen und Zitiergebot, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. III, 2. Aufl. 2022, § 85 Rn. 37 ff. 315 Siehe hierzu BVerfG(K), NZA 2020, 1338 (1339 f.). Vgl. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Januar 2022), Art. 20 Abs. VII Rn. 71. 316 BVerfGE 69, 315 (348 f.). Ähnlich BVerfGE 128, 226 (259); BVerwG, NVwZ 2014, 883 (885); Dürig-Friedl, in: Dürig-Friedl/Enders, VersR, 2. Aufl. 2022, Einleitung Rn. 59; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 8 Rn. 19. B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 354 äußert berechtigte Kritik an Teilen dieser Formulierung. 317 Vgl. auch Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 58 f. 318 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 58.
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 373
In Südafrika bedarf es keiner Herleitung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus dem Wesen der Grundrechte, da Art. 36 FC eine explizite Regelung über die Rechtfertigung von Grundrechtsbeschränkungen enthält. Zwar wird der Begriff Verhältnismäßigkeit bzw. „proportionality“ auch dort nicht ausdrücklich verwendet, aber es wird auf Elemente der Verhältnismäßigkeit verwiesen, nämlich auf das Verhältnis von Beschränkung und verfolgtem Zweck sowie auf mildere Mittel (Art. 36(1)(d) und (e) FC). Dies lässt aber den Rückschluss zu, dass dieser Grundsatz über die explizit genannten Elemente der Verhältnismäßigkeit hinaus insgesamt als Schranke der Grundrechtsbeschränkungen aus Art. 36(1) FC folgt. Auch wenn es an einer vergleichbar ausdrücklichen Aussage zum „Wesen“ der Grundrechte fehlt, ist doch auch in Südafrika die Abwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur dominierenden Figur geworden, wenn es darum geht, Grundrechte miteinander oder gegenüber staatlichen Kompetenzen in Einklang zu bringen.319 Zwar sind die Strukturen der Grundrechtsprüfungen in Deutschland und Südafrika nicht identisch,320 jedoch ist die Abwägung in beiden Verfassungsordnungen zentral. Dies bestätigt, dass die Verhältnismäßigkeit ein wesentlicher Teil des Grundrechts ist. gg) Enger oder weiter Versammlungsbegriff Umstritten ist, welcher Zweck von den versammelten Personen verfolgt werden muss, damit sich diese als „Versammlung“ i.S.d. Art. 8 GG qualifizieren. Auch wenn die überwiegende Auffassung im Schrifttum großzügiger ist (Konzerte, Vorträge, Kongresse),321 vertritt das BVerfG den sog. engen Versammlungsbegriff.322 Danach liegt eine Versammlung nur dann vor, wenn der gemeinsam verfolgte Zweck gerade in der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung und -äußerung besteht.323 Art. 74 I Nr. 3 GG a.F. ordnete dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungswesen zu. In der Literatur wurde darauf hingewiesen, dass diese Kompetenz einen engen Versammlungsbegriff erfordere, da anderenfalls der Gesetzgeber eine Gesetzgebungskompetenz zur Regelung von Kino- und Theaterveranstaltungen, wissenschaftlichen Vorträgen und Familienfeiern hätte.324 Überdies wird argu319 De Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 349 f.; Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, 2000, S. 349. 320 Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, S. 222. 321 Dies auch wegen Art. 12 I EUGrCh befürwortend Eickenjäger/Fischer-Lescano, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, VersR, 2. Aufl. 2020, S. 315. 322 Hierzu B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 164–175; Heintzen, Das alte Versammlungsgesetz in der neuen Hauptstadt, in: FS Isensee, 2002, S. 103 (106–108); Hettich, Versammlungsrecht in der Praxis, 3. Aufl. 2022, Rn. 4, 6–10. 323 BVerfGE 104, 92 (104); 111, 147 (154 f.); 126, 228 (250); 143, 161 (210). 324 Frowein, Versammlungsfreiheit und Versammlungsrecht, NJW 1969, 1081 (1081).
374
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
mentiert, dass die Einordnung als Versammlung auch Nachteile bewirken kann, wie z.B. die Anmeldepflicht des § 14 VersG.325 Hier wird dem engen Versammlungsbegriff gefolgt, da er der Rechtsprechung des BVerfG entspricht. Überdies liegt er auch den Versammlungsgesetzen einiger Länder zugrunde, Art. 2 I 1 BayVersG, § 2 NdsVersG, § 1 III SächsVersG, § 2 I 1 VersFG SH. Nach Auffassung der Rechtsprechung können deshalb Personenmehrheiten, die nicht durch den gemeinsamen Zweck der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung oder -äußerung verbunden sind, nicht dem Schutz des Art. 8 GG und damit auch nicht dessen Wesensgehalt unterfallen. Das südafrikanische Recht geht von einem weiteren Versammlungsbegriff aus und schließt kulturelle oder religiöse Zwecke ein.326 Teilweise wird explizit gegen den engen Versammlungsbegriff der deutschen Rechtsprechung Stellung bezogen.327 Der weite Versammlungsbegriff ist auch einfachrechtlich abgesichert, da die Legaldefinitionen in § 1 RGA sowohl für die „demonstration“ als auch für ein „gathering“ jede beliebige Angelegenheit ausreichen lassen („,demonstration‘ includes any demonstration by one or more persons, but not more than 15 persons, for or against any person, cause, action or failure to take action“ bzw. „to mobilize or demonstrate support for or opposition to the views, principles, policy, actions or omissions of any person or body of persons or institution, including any government, administration or governmental institution“ – Hervorhebung nicht im Original). Gemeinsamkeit besteht aber insoweit, als ein gemeinsamer Zweck verfolgt werden muss und keine bloße Ansammlung vorliegen darf.328 hh) Selbstbestimmung und staatliche Neutralität Aus der Trennung von Staat und Gesellschaft329 bzw. Staat und Individuum lässt sich auch das Prinzip der Selbstbestimmung der Grundrechtsträger bei staatlicher Neutralität herleiten. Die fehlende Rechtfertigungsbedürftigkeit für das Verhalten der Bürger bei gleichzeitiger Rechtfertigungsbedürftigkeit des staatlichen Verhaltens scheint eine grundsätzliche Weichenstellung darzustellen, welche Regelungen im Hinblick auf Anmelde- und Erlaubnispflichten des Bürgers und staatliche Verbots-, Auflösungs- und Auflagenentscheidun325
Hettich, Versammlungsrecht in der Praxis, 3. Aufl. 2022, Rn. 7. De Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 553. So auch I.M. Rautenbach, The liability of organisers for damage caused in the course of violent demonstrations as a limitation of the right to freedom of assembly, Journal of South African Law 2013, 151 (157 f.); Woolman, Freedom of Assembly, in: Woolman/Bishop (Hrsg.), Constitutional Law of South Africa, Bd. 3, 2. Aufl. (Stand: Februar 2005), Kap. 43, 43-4. 327 So explizit I.M. Rautenbach, The liability of organisers for damage caused in the course of violent demonstrations as a limitation of the right to freedom of assembly, Journal of South African Law 2013, 151 (157 f.), der sich mit der entgegenstehenden deutschen Rechtsprechung und der deutschen Literatur auseinandersetzt. 328 De Vos/Freedman, South African Constitutional Law in Context, 2014, S. 553. 326
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 375
gen zulässig sind. Hierbei wird von dem Gedanken ausgegangen, dass staatliche Kontroll- und Einflussmöglichkeiten als Gegensatz zur Autonomie der Grundrechtsträger verstanden werden können. Um dies in systematischer Hinsicht ermitteln zu können, wird auch auf andere Grundrechte sowie das Demokratieprinzip eingegangen. (1) Religionsfreiheit. Am prägnantesten dürften sich die staatliche Neutralität und das Selbstbestimmungsrecht der Grundrechtsträger bei der Religionsfreiheit zeigen. Aus dem Zusammenwirken von Art. 3 III, Art. 4, Art. 33 III GG sowie Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 I und II, Art. 137 I WRV folgt die Pflicht zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates.330 Dies gilt sowohl gegenüber den Religionsgemeinschaften als Kollektiv als auch gegenüber dem Grundrechtsträger als Individuum. Der Grundrechtsträger bestimmt, welche Vorgaben er für sich als verbindlich anerkennt und an welchen er seine Lebensführung ausrichten möchte. Der Staat hat sich dabei grundsätzlich einer Bewertung zu enthalten.331 Auch im Hinblick auf die Versammlungsfreiheit ist anerkannt, dass der Staat sich neutral zu verhalten hat und nicht mit einzelnen Versammlungen identifizieren oder andere ablehnen darf.332 Grenzen sind dort erreicht, wo die Rechtsordnung – durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber in verfassungskonformer Weise oder durch die Verfassung – diese selbst zieht. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn wegen des Inhalts einer Äußerung ein verfassungsgemäßes Strafgesetz verletzt wird, wie es bei Beleidigungsdelikten (§§ 185 bis 189 StGB) der Fall sein kann oder auch bei § 130 IV StGB.333 Steht der Verstoß gegen ein solches Gesetz bevor, dann droht eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder liegt sogar bereits vor (§ 15 I VersG) in Gestalt des Schutzguts der Unverbrüchlichkeit der geschriebenen Rechtsordnung. Versammlungsbehördliche Maßnahmen sind in diesen Fällen zulässig, da die grundlegende Wertungsentscheidung vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber getroffen wurde. 329 Zur Trennung von Staat und Gesellschaft siehe Heintzen, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), 220 (235–237). In historischer Perspektive Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 60–66 sowie S. 75–95 im internationalen und rechtsvergleichenden Kontext; Scherzberg, Grundrechtsschutz und „Eingriffsintensität“, 1989, S. 210 f.; Quilisch, Die demokratische Versammlung, 1970, S. 113–116 sieht Versammlungen als „Nahtstelle“ zwischen Staat und Gesellschaft und die Versammlungsfreiheit in einem Spannungsfeld zwischen beiden Sphären. 330 BVerfGE 108, 282 (299); Morlok, in: Dreier, GG, Bd. III, 3. Aufl. 2018 Art. 140 Rn. 35. 331 BVerfGE 33, 23 (29); 93, 1 (16 f.); 108, 282 (299 f.); 138, 296 (329 f.). 332 BVerwGE 159, 327 ff. Hierzu Hettich, Neue Entwicklungen im Versammlungsrecht, VBlBW 2018, 485 (485–487). 333 Hierzu BVerfGE 124, 300 ff. mit umstrittener Begründung.
376
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
Dies gilt jedoch nicht für das Schutzgut der öffentlichen Ordnung,334 das gerade keiner Konkretisierung durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber unterliegt. Die öffentliche Ordnung verweist auf ungeschriebene Regeln, „deren Befolgung nach den jeweils herrschenden und mit dem Wertgehalt des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird“.335 Hier entscheidet die Verwaltung oder im Streitfall die Judikative die Wertungsfrage, nicht der Gesetzgeber. Dementsprechend lässt das BVerfG ein Verbot oder eine Auflösung einer Versammlung aus Gründen der öffentlichen Ordnung grundsätzlich nicht zu.336 Das „Störgefühl“ der Mehrheit würde sonst über die Zulässigkeit von Protest entscheiden. Aber die Versammlungsfreiheit steht auch Minderheiten zu und gestattet auch Versammlungen zu Themen, welche die Mehrheit reizen, stören oder verärgern. Da sich in der Demokratie die Mehrheiten ändern können müssen und die Betrachtung nicht allein im Hinblick auf die gegenwärtige politische Lage erfolgen darf, dient diese Sichtweise auch dem Schutz der gegenwärtigen Mehrheit, welche womöglich die Minderheit von morgen darstellt. Die Anfälligkeit des Schutzguts der öffentlichen Ordnung für ideologische Aufladungen veranschaulicht die Rechtsprechung aus den Jahren 1932 und 1933. Während in Preußen im Herbst 1932 Damen-Boxkämpfe in einer öffentlichen Wirtschaft noch als zulässig angesehen wurden, erblickte das Preußische OVG hierin nur wenige Monate später eine Gefahr für die öffentliche Ordnung.337 Auch in Südafrika schützt die Versammlungsfreiheit das Selbstbestimmungsrecht der Versammlungsteilnehmer bzw. -veranstalter.338 Dort kann die staatliche Distanz wegen der Anknüpfung an die freie und offene Gesellschaft in Art. 36(1) FC etwas näher am Wortlaut begründet werden, zumal die Verfassung Offenheit und Pluralismus als zur Demokratie zugehörig explizit benennt (z.B. Art. 1(d) FC). Die öffentliche Ordnung wird zudem nicht als Verbotsgrund für Versammlungen anerkannt. § 5 I, II RGA gestattet ein Versammlungsverbot nur, wenn die Gefahr besteht, dass eine Versammlung zu einer ernsthaften Störung des Fahrzeug- oder Fußgängerverkehrs, zu Verlet334 Hierzu umfassend Baudewin, Öffentliche Ordnung im Versammlungsrecht, 4. Aufl. 2023, S. 165–289; siehe auch Koll, Liberales Versammlungsrecht, 2015, S. 148–161. 335 BVerfGE 111, 147 (156). Siehe auch BVerfGE 69, 315 (352). 336 BVerfGE 69, 315 (353); 111, 147 (157). So auch Heintzen, Das alte Versammlungsgesetz in der neuen Hauptstadt, in: FS Isensee, 2002, S. 103 (108–111, insbes. 109 f.). 337 PrOVGE 91, 139 (140 f.), wo argumentiert wird, dass zwischen Herbst 1932 und März 1933 „ein gewaltiger innerer Umschwung stattgefunden“ habe, der sich gerade auf öffentlichen Anstand und öffentliche Sittlichkeit erstreckt habe. 338 I.M. Rautenbach, The liability of organisers for damage caused in the course of violent demonstrations as a limitation of the right to freedom of assembly, Journal of South African Law 2013, 151 (158).
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 377
zungen der Teilnehmer der Versammlung oder anderer Personen oder zu umfangreichen Sachschäden führen würde. Das Anstandsgefühl etc. ist gesetzlich nicht als Verbotsgrund anerkannt. (2) Meinungsfreiheit. Die Meinungsfreiheit des Art. 5 I 1 Var. 1 GG steht in einer besonders engen Verbindung zu Art. 8 GG. In dem bereits zitierten Brokdorf-Beschluss hat das BVerfG dies deutlich zum Ausdruck gebracht. Dort heißt es: „[…] wird die Meinungsfreiheit seit langem zu den unentbehrlichen und grundlegenden Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens gezählt. Sie gilt als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit und als eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt, welches für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend ist; denn sie erst ermöglicht die ständige geistige Auseinandersetzung und den Kampf der Meinungen als Lebenselement dieser Staatsform […]. Wird die Versammlungsfreiheit als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe verstanden, kann für sie nichts grundsätzlich anderes gelten.“339
Art. 5 I 1 Var. 1 gestattet nur die geistige Auseinandersetzung, diese aber umfassend und grundsätzlich frei von staatlichen Einflüssen. Die politische Neutralität des Art. 5 I 1 Var. 1 GG zeigt sich erstens daran, dass jede Meinung geschützt ist, unabhängig davon, ob sie „rational oder emotional, begründet oder grundlos ist und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird“340. Sie ist auch geschützt, wenn sie scharf oder überzogen geäußert wird.341 Insbesondere ist Kritik am Staat, den Verhältnissen und dergleichen eine Meinungsäußerung und grundsätzlich zulässig.342 Auch „rechtswidrige“ oder „verbotene“ Meinungen unterfallen dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit,343 da sonst der Gesetzgeber durch Straf- oder sonstige Vorschriften den Schutzbereich des Grundrechts bestimmen könnte. Zweitens darf der Staat in die Meinungsfreiheit nur aufgrund eines allgemeinen Gesetzes i.S.d. Art. 5 II GG eingreifen. Unter allgemeinen Gesetzen sind solche zu verstehen, „die nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, sondern dem Schutz 339 BVerfGE 69, 315 (344 f.) – unter Weglassung der Rechtsprechungsnachweise, Hervorhebungen nicht im Original. 340 BVerfGE 93, 266 (289). So der Sache nach, wenn auch nicht wörtlich BVerfGE 30, 336 (347); 33, 1 (14); 61, 1 (7); 124, 300 (320). 341 Grabenwarter, in Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Januar 2013), Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 Rn. 66 m.w.N. 342 Grabenwarter, in Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Januar 2013), Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 Rn. 66. 343 Grabenwarter, in Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl. (Stand: Januar 2013), Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 Rn. 66.
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
eines schlechthin ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen“.344 Weiter abgesichert wird diese politische Neutralität drittens über Art. 5 I 3, Art. 3 III 1 Var. 9 und Art. 33 II GG. Das Verbot der Zensur (gemeint ist allein die Vorzensur345) erfasst „einschränkende Maßnahmen vor der Herstellung oder Verbreitung eines Geisteswerkes, insbesondere das Abhängigmachen von behördlicher Vorprüfung und Genehmigung seines Inhalts (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt)“.346 Beispielsweise würde eine Zensur für Filme das generelle Verbot bedeuten, „ungeprüfte Filme der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, verbunden mit dem Gebot, Filme, die öffentlich vorgeführt werden sollen, zuvor der zuständigen Behörde vorzulegen, die sie anhand von Zensurgrundsätzen prüft und je nach dem Ergebnis ihrer Prüfung die öffentliche Vorführung erlaubt oder verbietet“.347 Hieraus folgt das Verbot einer vorherigen Inhaltskontrolle. Der Inhalt von Äußerungen wurde jedoch sowohl im deutschen als auch im europäischen Recht als besonders sensibel und schützenswert erkannt. Deshalb zählt Günter Frankenberg zu den minima legalia der Demonstrationsfreiheit, dass jede Bewertung und rechtliche Diskriminierung der Inhalte des politischen Protests unzulässig sind.348 Weiterhin lässt dies den Schluss zu, dass die Vorwirkungen als besonders sensibel angesehen werden. Ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, also die Genehmigungspflicht, widerspricht diametral dem Grundrechtsverständnis der liberalen Demokratie.349 Erlaubnispflichten im Unterschied zur Erlaubnisfreiheit würden auch die Beweislast zulasten des Bürgers verschieben. Auch der besondere Gleichheitssatz des Art. 3 III 1 Var. 9 GG stuft die Anknüpfungen an „politische Anschauungen“ als verpönt und somit unzulässig ein. Demgegenüber nennt Art. 33 II GG nur Eignung, Befähigung und fachliche Leistung und bezeichnet so positiv die zulässigen Differenzierungskriterien. Aus einem Umkehrschluss ergibt sich, dass politische Gründe auch im Beamtenrecht gerade keine Differenzierung begründen können und sich der Staat sogar hier neutral zu verhalten hat. Grenzen sind allgemein die Verfassungstreue350 und speziell für Hochschullehrer die Verfassungstreue des Art. 5 III 2 GG.351 344
BVerfGE 124, 300 (321 f.) m. zahlreichen w. N., obwohl hier gerade eine umstrittene Ausnahme von der Definition erfolgte. 345 BVerfGE 33, 52 (71) m.w.N. 346 BVerfGE 33, 52 (72). 347 BVerfGE 33, 52 (72) – Hervorhebung im Original. 348 Frankenberg, Demonstrationsfreiheit – eine verfassungsrechtliche Skizze, KJ 1981, 370 (379 f.). 349 Großzügiger EGMR, Urt. v. 15.10.2015 – 37553/05, Rn. 147 – Kudrevičius u.a. v. Litauen, https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–158200 (Stand: 10.8.2023), der eine Genehmigungspflicht nicht grundsätzlich für unzulässig erachtet. 350 Siehe hierzu oben C. III. 2. 351 Siehe hierzu C. III. 6. d).
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 379
Ähnlich ist wegen der Verbundenheit von Art. 5 I 1 Var. 1 GG und Art. 8 GG die Argumentation bei der Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG. Bei einem präventiven Verbot der Versammlung (§ 15 I VersG) wird z.B. den Versammlungsteilnehmern von vornherein die Möglichkeit genommen, ihren Protest zu äußern, was zudem lediglich auf eine Prognose gestützt werden kann. Demgegenüber kann vor einer etwaigen Auflösung, die unter den gleichen Voraussetzungen zulässig ist, aber nach Beginn der Versammlung erfolgt, der Grundrechtsträger sein Verhalten wenigstens beginnen und das Prognoserisiko zulasten der Versammlung vermindern. Eine etwaige Auflösungsentscheidung muss sich im Unterschied zu einer Verbotsentscheidung auf eingetretene Tatsachen, nicht auf bloße Tatsachenprognosen stützen lassen. Versammlungen sind so weit wie möglich zuzulassen und nicht bereits im Vorfeld zu verhindern. Wenn Art. 5 I 1 Var. 1 und Art. 8 GG vergleichbar sind und bei Art. 5 I 1 Var. 1 GG inhaltliche Anknüpfungen verpönt sind, dann spricht dies auch in besonderer Weise dagegen, gegen Versammlungen wegen der dort geäußerten Meinungen vorzugehen. Solange keine strafbaren Äußerungen vorliegen, können selbst Aussagen, welche die Öffentlichkeit heftig empören, kein Vorgehen gegen eine Versammlung rechtfertigen. Beide Grundrechte haben zudem gemeinsam, dass es sich um Kommunikationsgrundrechte352 handelt. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ergibt sich dies aus dem Versammlungsbegriff, da eine Versammlung der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung dienen muss. Auf den ersten Blick könnte dies dafür sprechen, dass bereits eine Person für eine Versammlung ausreichen könnte, denn schon eine einzige Person kann auf die Meinungsbildung und folglich die Öffentlichkeit einwirken. Somit lässt sich in systematischer Hinsicht nicht zwingend argumentieren, dass stets drei Personen für eine Versammlung erforderlich sind. Viel spricht für den Schutz von bereits zwei Personen, auch im Hinblick auf Art. 19 II GG. Wenn es um die Einwirkung auf die öffentliche Meinungsbildung geht, dann sind Ort und Zeit der Versammlung bedeutsam. Das BVerfG hat im Brokdorf-Beschluss entschieden, dass die Versammlungsveranstalter über Ort und Zeit frei bestimmen dürfen. Regelmäßig werden Versammlungen in der Nähe zu dem Versammlungsgegenstand stattfinden. Deshalb haben Versammlungen der Friedensbewegung in der Nähe von Kasernen stattgefunden, die Antiatomkraftbewegung hat in der Nähe von Kernkraftwerken demonstriert, und Versammlungen gegen Abschiebungen erfolgten am Flughafen. Die Versammlung hat – nach der Formulierung der Rechtsprechung – ein Recht auf 352 Dies gilt auch für die Republik Südafrika, wo der Charakter des Art. 17 FC als Kommunikationsgrundrecht betont wird, Omar, A legal analysis in context: The Regulation of Gatherings Act – a hindrance to the right to protest?, South African Crime Quarterly 62 (2017), 21 (21).
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
einen Beachtungserfolg.353 Deshalb müssen Versammlungen in Hör- und Sichtweite des Objekts des Protests („sight and sound“) erfolgen können, wie es auch der Rechtsprechung des EGMR entspricht.354 Dies gilt auch für symbolträchtige Orte oder Zeitpunkte.355 Rechtsextreme Versammlungen am Holocaust-Gedenktag (27.1.)356 oder in der Nähe des Holocaust-Mahnmals in Berlin-Mitte haben Rechtsprechung und Literatur in dieser Hinsicht besonders beschäftigt. Hier gestattet es § 15 II 1 VersG, eine Versammlung oder einen Aufzug zu verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig zu machen, wenn „die Versammlung oder der Aufzug an einem Ort stattfindet, der als Gedenkstätte von historisch herausragender, überregionaler Bedeutung an die Opfer der menschenunwürdigen Behandlung unter der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft erinnert“ und „nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung konkret feststellbaren Umständen zu besorgen ist, dass durch die Versammlung oder den Aufzug die Würde der Opfer beeinträchtigt wird“. Nach § 15 II 2 VersG ist das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin ein solcher Ort.357 In zeitlicher Hinsicht wurden rechtsextreme Veranstaltungen am 27.1. untersagt und auf andere Tage verlegt,358 wobei unklar blieb, ob es sich um eine Auflage (aus Gründen der öffentlichen Ordnung zulässig) oder ein Verbot (nur aus Gründen der öffentlichen Sicherheit gestattet) handelte.359 Die Abgrenzung ist nach wie vor umstritten. Während die gesetzliche Vorschrift des § 15 II VersG mit ihren örtlichen Beschränkungen von der Rechtsprechung des BVerfG wohl für zulässig erachtet wird, ging das BVerwG bei der Vertagung aus Gründen der öffentlichen Ordnung davon aus, dass sich die Veranstaltung nicht deutlich gegen den Gedenktag selbst richtete und deshalb für eine Beschränkung der Versammlungsfreiheit nicht provozierend genug gewesen sei. Mit dieser Argumentation konnte zwar eine Verletzung der Versammlungsfreiheit festgestellt werden, aber die Argumentation ist gleichwohl bedenklich, denn dann, wenn die Versammlung provozierender gewesen wäre, hätte sie verboten werden können, wobei an Meinungsinhalte angeknüpft worden wäre. Dies kann nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung geschehen, sondern bedürfte einer gesetzlichen Grundlage, wie sie § 15 II VersG für Beschränkungen in örtlicher Hinsicht enthält. 353 So z.B. BVerfG(K), NJW 2007, 2167 (2169). Allerdings scheint der Begriff schlecht gewählt zu sein. Der Staat hat Versammlungen zu ermöglichen und zu schützen, den Erfolg des Anliegens in der Bevölkerung kann er nicht sicherstellen. 354 Hierzu EGMR, Urt. v. 7.2.2017 – 57818/09 etc., Rn. 426 – Lashmankin u.a. v. Russland, https://hudoc.echr.coe.int/?i=001–170857 (Stand: 10.8.2023). 355 BVerfG(K), NJW 2007, 2167 (2169). In diese Richtung bereits BVerfGE 69, 315 (365). 356 Hierzu BVerwG, NVwZ 2014, 883 ff. 357 Hierzu BVerfG(K), NVwZ 2005, 1055 (1056). 358 OVG Koblenz, Beschl. v. 27.1.2012 – 7 B 10102/12.OVG, BeckRS 2012, 46310. Hiergegen aber BVerwG, NVwZ 2014, 883 (884). 359 BVerwG, NVwZ 2014, 883 (884).
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 381
Im Ergebnis sollte das Schutzgut der öffentlichen Ordnung im Zusammenhang mit Meinungsinhalten ganz gemieden werden, erforderlich sind gesetzliche Grundlagen auch für Beschränkungen in zeitlicher Hinsicht. Aber auch diese dürfen das Recht, grundsätzlich frei über Ort und Zeit der Versammlung zu bestimmen, nicht aushebeln. (3) Berufsfreiheit. Auf den ersten Blick haben auch die Berufsfreiheit und die Versammlungsfreiheit inhaltlich wenig gemeinsam. Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit lassen sich jedoch die Gedanken der grundlegenden Drei-Stufen-Theorie des Art. 12 I GG fruchtbar machen.360 Das BVerfG hat zur Berufsfreiheit des Art. 12 I GG ausgeführt, dass die Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Eingriffen umso höher werden, je intensiver in das Grundrecht eingegriffen wird.361 Dabei hat es zwischen bloßen Berufsausübungsregelungen, die sich lediglich auf die Modalitäten der Berufsausübung beziehen, und objektiven Berufswahlregelungen, welche die grundsätzliche Frage betreffen, ob eine Person überhaupt Zugang zu einem Beruf erhält, unterschieden. Als Zwischenstufe zwischen diesen beiden Stufen hat das BVerfG die sog. subjektiven Berufswahlregelungen ausgemacht. Diese betreffen auch den Zugang zum Beruf und nicht bloß Modalitäten der Berufsausübung. Von den objektiven Berufswahlregelungen unterscheiden sich die subjektiven Berufswahlregelungen dadurch, dass diese an Eigenschaften anknüpfen, die in der Person begründet liegen, teilweise für diese sogar beeinflussbar sind, während die objektiven Berufswahlregelungen an Eigenschaften anknüpfen, die außerhalb der betroffenen Person begründet liegen. Dem kann der Gedanke entnommen werden, dass das selbstbestimmte Ob der Grundrechtsausübung wichtiger als das Wie ist. Dieser Gedanke ist zwar naheliegend, er wird durch die Rechtsprechung zu Art. 12 I GG aber zusätzlich verfassungsrechtlich abgesichert. Auch wenn die Drei-Stufen-Theorie im Laufe der Jahrzehnte verfeinert und die Übergänge fließender wurden, stellt sie doch einen wichtigen Baustein zur Bewertung und Gewichtung privater Grundrechtsbelange dar.362 Dies lässt sich auf die Versammlungsfreiheit übertragen. Danach muss das Stattfinden der Versammlung, das Ob, als besonders prägend und dadurch schützenswert angesehen werden. Hiermit ist die räumliche Zusammenkunft 360 So bereits Leisner-Egensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 79. 361 BVerfGE 7, 377 (399–408); Sodan, Berufsfreiheit, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. IV, 2. Aufl. 2022, § 125 Rn. 90; Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 12 Rn. 29–35, auch zu den folgenden Ausführungen in diesem Abschnitt. 362 Sodan, Berufsfreiheit, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. IV, 2. Auflage 2022, § 125 Rn. 90– 127.
382
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
gemeint. Demgegenüber sind Regelungen, welche die Modalitäten der Versammlung betreffen (etwa die Anzahl der Fahnen), weniger charakteristisch und eher nicht dem Wesensgehalt zugehörig. Arrondierungen durch Auflagen zur Lösung von Grundrechtskollisionen sind hinnehmbar, grundsätzliche Verbote und Auflösungen, insbesondere wegen nicht verbotenen und nicht verbietbaren Meinungen, hingegen nicht. (4) Demokratieprinzip. Das Demokratieprinzip ist für Art. 8 GG von Bedeutung, wie auch die zitierte Passage aus dem Brokdorf-Beschluss belegt.363 Im demokratischen Staat des Grundgesetzes hat die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen zu erfolgen, nicht umgekehrt.364 Hieraus folgt, dass die privaten Personen Grund, Anlass und Inhalt der Versammlung selbst bestimmen können müssen und dass der Staat auf das inhaltliche Vorbringen lediglich mittelbar etwa durch Gesetzgebung reagieren kann, sich aber einer unmittelbaren inhaltlichen Bewertung der Versammlung selbst zu enthalten hat. Nach der Rechtsprechung des BVerfG wirkt sich die demokratische Bedeutung der Versammlungsfreiheit aber auch begrenzend im Hinblick auf den Versammlungszweck aus. Danach erfasst der Versammlungsbegriff des Art. 8 GG nur solche Versammlungen, die auf Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet sind. Nicht erfasst werden demgegenüber wissenschaftliche, künstlerische, religiöse Zwecke oder reine Spaßveranstaltungen. Dies wird in der Literatur zwar kritisiert, ist aber als gefestigte Rechtsprechung zugrunde zu legen.365 Aus diesem Grund unterfällt der weite Versammlungsbegriff nicht dem Schutzbereich des Art. 8 GG und damit auch nicht dessen Wesensgehalt. Schließlich bestätigt die demokratische Funktion des Art. 8 GG auch die Begrenzung der Grundrechtsträgerschaft auf deutsche Staatsangehörige. Wenn es um die demokratische Willensbildung geht, dann muss auch die der Versammlung vorgelagerte Phase der Vorbereitung, Organisation und Anreise geschützt sein, denn ohne diese lassen sich eine Versammlung und die Einwirkung auf die öffentliche Meinungsbildung nicht erfolgreich durchführen. Wäre diese Phase schutzlos, dann könnte der Schutz der Versammlung durch vorherige Störungen ausgehebelt werden. Hiermit sind vorherige Genehmigungen ebenfalls nicht zu vereinbaren. Dieser Gedanke stützt auch den 363 BVerfGE 69, 315 (344 f.); H. Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, JZ 1994, 741 (741); Benda, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Mai 1995), Art. 8 Rn. 2 f.; Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. IV, 2011, § 106 Rn. 17. Siehe zur Bedeutung für die Demokratie auch Quilisch, Die demokratische Versammlung, 1970, S. 147–154; Schwäble, Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, 1975, S. 58–70. 364 Siehe hierzu oben B. II. 1. b). 365 Siehe zur Rechtfertigung Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. IV, 2011, § 106 Rn. 47–51. Siehe hierzu oben E. II. 1. b) cc) (3) und E. II. 2. b) gg).
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 383
Sight-and-sound-Grundsatz, wonach Versammlungen in Hör- und Sichtweite des Protestobjekts stattfinden können müssen, denn Kritik an staatlichen Stellen muss diesen zur Kenntnis gebracht werden können, damit sich die Willensbildung von unten nach oben vollziehen kann. (5) Zwischenergebnis. Aus dem Vergleich von Art. 8 GG mit weiteren Grundrechten sowie dem Demokratieprinzip lassen sich das Selbstbestimmungsrecht der Bürger und die Neutralität des Staates als Grundgedanken absichern. Das BVerfG hat dies für Art. 8 GG auch ausdrücklich anerkannt,366 ebenso der EGMR für Art. 11 EMRK.367 Dieses Selbstbestimmungsrecht betrifft das Ob und das Wie der Grundrechtsausübung und damit die Modalitäten wie Ort und Zeit. Als besonders zentral hat sich das tatsächliche Zusammenfinden unter einem bestimmten Motto erwiesen. Das grundsätzliche Ob und die inhaltliche Bewertung dürfen nicht von dem Schutzgut der öffentlichen Ordnung oder Genehmigungserfordernissen abhängig gemacht werden. Weiterhin muss die Möglichkeit bestehen, die Versammlung in Hör- und Sichtweite („sight and sound“) zu dem Gegenstand des Protestes oder einer betroffenen Person abzuhalten, um die erforderliche Aufmerksamkeit für das Anliegen erzielen zu können. Da Versammlungen oft nicht spontan entstehen und nur bei entsprechender Planung und Organisation beabsichtigte mobilisierende Wirkung entfalten können, ist die staatliche Ingerenz in die Vorbereitungsphase ebenfalls beschränkt. Nicht zum Selbstbestimmungsrecht gehört aber die Frage, was eine Versammlung i.S.d. Art. 8 I GG darstellt und welches Verhalten unter den Schutzbereich fällt. Ebenfalls unzulässig ist eine Genehmigungspflicht, insbesondere wenn es um das Ob der Versammlung und ihren Inhalt geht. In diesen Fällen würde ein Genehmigungserfordernis den Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit antasten. ii) Friedlichkeit Dass die Grenzziehung zwischen Friedlichkeit und Unfriedlichkeit nicht stets richtig erfolgte, zeigt ein Blick in die ältere Rechtsprechung der Zivilgerichte zum Ersatz von Schäden auf, bei oder durch Versammlungen. Anders als in Südafrika, wo § 11 RGA368 eine ausdrückliche Regelung zur Haftung bei Ver366 BVerfGE 69, 315 (343). Auch der ME VersG betont diesen Grundgedanken, Enders et al., Musterentwurf eines Versammlungsgesetzes, 2011, S. 2. 367 EGMR, Urt. v. 7.2.2017 – 57818/09 etc., Rn. 405 – Lashmankin u.a. v. Russland, https://hudoc.echr.coe.int/?i=001–170857 (Stand: 10.8.2023). 368 Regulation of Gatherings Act 205 of 1993, https://www.gov.za/documents/regula tion-gatherings-act (Stand: 10.8.2023). Siehe hierzu die Entscheidung CC, 13.6.2012 – CCT/ 112/11 – South African Transport and Allied Workers Union and Another v. Garvas and Others, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2012/13.html (Stand: 10.8.2023).
384
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
sammlungen enthält, besteht in Deutschland kein besonderes Rechtsregime für die Haftung im Zusammenhang mit Versammlungen. Vielmehr gelten auch hier die allgemeinen Haftungsregeln des BGB.369 Demnach haftet jeder gem. § 823 I BGB für Schäden, die er selbst an absolut geschützten Rechtsgütern Dritter zurechenbar, in nicht gerechtfertigter Weise und schuldhaft verursacht. Art. 8 GG stellt keinen Rechtfertigungsgrund für jegliches Verhalten anlässlich von Versammlungen dar. Handlungen, für die Schadensersatz zu leisten ist, werden nicht dadurch privilegiert, dass sie – ggf. gemeinschaftlich – auf einer Versammlung begangen werden. Als problematischer hatte sich zunächst die Haftung von Veranstaltern, Leitern oder sonstigen Teilnehmern einer Versammlung erwiesen, die den Schaden nicht selbst unmittelbar verursacht haben. Für die rechtliche Einordnung ist hierbei zu berücksichtigen, dass bei einer gemeinschaftlich begangenen unerlaubten Handlung zivilrechtlich jeder für den Schaden verantwortlich ist (§ 830 I 1 BGB), auch wenn sich nicht ermitteln lässt, wer von mehreren Beteiligten den Schaden durch seine Handlung verursacht hat (§ 830 I 2 BGB). § 830 II BGB stellt sodann Anstifter und Gehilfen (Oberbegriff: Teilnehmer) den Mittätern gleich. § 840 BGB verschärft die Haftung dadurch, dass die gesamtschuldnerische Haftung (i.S.d. § 426 BGB) angeordnet wird, wenn für den aus einer unerlaubten Handlung entstehenden Schaden mehrere Personen (Mittäter oder Teilnehmer) verantwortlich sind. Teilweise haben Zivilgerichte die Leiter oder Veranstalter von Versammlungen bereits deshalb zum Schadensersatz verurteilt, weil sie zur Versammlung aufgerufen haben und allein aus diesem Grund Anstifter seien oder eine Gefahrenquelle eröffnet hätten.370 Ebenso wurde eine psychische Beihilfe wegen eines Gefühls der Sicherheit konstruiert, wenn ein Versammlungsteilnehmer einen anderen nicht an der Begehung von Sachbeschädigungen hinderte.371 Dem ist der BGH jedoch bereits vor dem Brokdorf-Beschluss des BVerfG entgegengetreten und hat entschieden, dass eine Haftung für Exzesse von Dritten oder für die bloße Teilnahme an einer Versammlung weder über eine Haftung nach § 830 I, II BGB noch nach § 823 I BGB (Gedanke der Gefahreröffnung durch Veranstalter) in Betracht kommt.372 Anderes kann nur dann gelten, wenn die Anwesenheit selbst der Demonstranten wie etwa bei Blocka369 Siehe zur Haftung für Versammlungsschäden Armbrüster/Schreier, Haftungs- und Versicherungsfragen bei Sachschäden durch gewalttätige Ausschreitungen, VersR 2017, 1173 ff.; Dimski, Wer haftet für Tumultschäden?, VersR 1999, 804 ff. Umfassend Thommes, Zivilrechtliche Haftung im Zusammenhang mit Versammlungen, in: Ridder et al. (Hrsg.), Versammlungsrecht, 1992, S. 943–961. Für einen Vergleich beider Rechtsordnungen Midgley/Ring/Pfaff, Boycotts and Similar Actions, South African Law Journal 119 (2002), 352 ff. Zu einer Falllösung Schaks/Apel, Hausarbeit im Öffentlichen Recht für Anfänger – Nach der Demo wird es teuer, StudZR 2020, 197 ff. 370 OLG Karlsruhe, OLGZ 1980, 494 (495 f.). 371 LG Berlin, NJW 1969, 1119 (1120). 372 So bereits BGHZ 63, 124 (127–129). So auch BGHZ 89, 383 (395).
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 385
den von benötigtem Arbeitsgerät373 die Rechtsgutverletzung darstellt, die zur Schadensersatzpflicht führt.374 Dann liegt aber wieder eine eigene Tat i.S.d. § 823 I BGB vor, sodass es des Rückgriffs auf § 830 II BGB nicht bedarf. Anderenfalls hätte es der skrupellose politische Gegner in der Hand, zumindest eine Mithaftung (§ 840 BGB) des Versammlungsveranstalters herbeizuführen. Ebenfalls wird gehaftet, wenn die Veranstalter eine unfriedliche Versammlung beabsichtigen und zu dieser aufrufen.375 Bemerkenswerterweise hat sich der BGH in diesem Zusammenhang einer Formulierung bedient, die stark an die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG erinnert, auch wenn diese Vorschrift nicht explizit zitiert wird. So heißt es in der relevanten BGH-Entscheidung: „Eine solche Haftung würde in der Tat das Demonstrationsrecht in seinem Kern antasten, zumal die Gefahr der Auslösung solcher Exzesse auch mit einer durch Art. 5 und Art. 8 GG erlaubten, friedlichen Demonstration meist verbunden ist.“376
Der BGH hat seine soeben zitierte Ansicht nicht näher begründet und auch nicht erläutert, ob damit der Wesensgehalt des Art. 8 GG i.V.m. Art. 19 II GG gemeint sein sollte. Diese versammlungsfreundliche Auslegung der Haftungsregeln hat aber im Ergebnis zur Folge, dass selten gehaftet wird. Im Zusammenhang mit der demokratischen Dekonsolidierung ist diese Frage relevant, denn eine Ausweitung der Haftung lässt sich mit dem Schutz der Geschädigten rechtfertigen und erscheint inhaltsneutral. Aber eine Ausdehnung der Haftung kann erfolgen, um missliebige Versammlungen durch die abschreckende Wirkung der Schadensersatzpflicht zurückzudrängen. Dabei entsteht ein Einschüchterungseffekt, welcher Grundrechtsträger davon abhält, Versammlungen zu veranstalten oder zu besuchen. Das Schadensersatzrecht darf nicht von einer „Präventionsabsicht“ getragen sein.377 Ähnliche Effekte können exzessive Bearbeitungsgebühren oder Straßenreinigungsgebühren378 nach erfolgter Versammlung bewirken. In Südafrika entspricht die gegenwärtige Haftungsrechtslage eher der Rechtslage, wie sie auch in der Bundesrepublik Deutschland bis zum Grundsatzurteil des BGH379 1984 galt.380 § 11 RGA sieht eine Haftung von Organi373
Hierzu Hettich, Versammlungsrecht in der Praxis, 3. Aufl. 2022, Rn. 135. BGHZ 137, 89 (98–100); LG Aachen, NJW-RR 2007, 89 (90). 375 BGHZ 63, 124 (128 f.). 376 BGHZ 63, 124 (128) – Hervorhebung nicht im Original. 377 Thommes, Zivilrechtliche Haftung im Zusammenhang mit Versammlungen, in: Ridder et al. (Hrsg.), Versammlungsrecht, 1992, S. 943 (946). 378 Hierzu BVerfG(K), NVwZ 2008, 414 (414 f.). Siehe auch Hettich, Versammlungsrecht in der Praxis, 3. Aufl. 2022, Rn. 54. 379 BGHZ 63, 124 ff. 380 Midgley/Ring/Pfaff, Boycotts and Similar Actions, South African Law Journal 119 (2002), 352 (363). 374
386
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
satoren und Teilnehmern für „riot damages“ vor. Dabei ist der Begriff der Tumult- oder Ausschreitungsschäden sehr weit, er erfasst nach § 1 RGA auch alle indirekten Schäden und sogar solche, welche die Versammlungsteilnehmer selbst erleiden.381 Als Einwand kann lediglich vorgebracht werden, dass alle vernünftigerweise zu treffenden Maßnahmen ergriffen wurden, um den Schadenseintritt zu verhindern, und sich der Schaden trotzdem ereignet hat, also unvermeidlich und überraschend war.382 Auch die Unfriedlichkeit Einzelner wird den Veranstaltern leichter zugerechnet.383 Zwar hat sich das südafrikanische Verfassungsgericht auf eine Entscheidung des EGMR bezogen, wonach ein Versammlungsteilnehmer sein Menschenrecht auf Versammlungsfreiheit nicht verliert, wenn andere auf der Versammlung gewalttätig werden,384 aber diese Bezugnahme bleibt folgenlos, da die Gewerkschaft trotz ihrer eigenen Friedlichkeit haftete. Gerade bei der Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit der zivilrechtlichen Haftungsvorschrift des § 11 RGA385 dürften die unterschiedlichen Begleitumstände und gesellschaftlichen Ausgangslagen eine erhebliche Rolle gespielt haben. In Südafrika finden seit vielen Jahren gewalttätige Proteste statt. Bei den Protesten, die der Entscheidung des Verfassungsgerichts vorausgingen, starben angeblich 50 Menschen.386 Sachbeschädigungen wie die Zerstö381
Die Legaldefinition lautet im englischen Original: „,riot damage‘ means any loss suffered as a result of any injury to or the death of any person, or any damage to or destruction of any property, caused directly or indirectly by, and immediately before, during or after, the holding of a gathering.“ „,Tumultschaden‘ bezeichnet jeden Schaden, der sich aus der Verletzung oder dem Tod von Personen oder der Beschädigung oder Zerstörung von Sachen ergibt, die unmittelbar oder mittelbar vor, während oder nach einer Versammlung entstanden sind.“ [Übersetzung des Verfassers] 382 CC, 13.6.2012 – CCT/112/11 Rn. 43–50 (Mogoeng; Yacoob, Cameron, Froneman, Khampepe, Maya, Nkabinde, Skweyiya, van der Westhuizen concurring) – South African Transport and Allied Workers Union and Another v. Garvas and Others, http://www.saf lii.org/za/cases/ZACC/2012/13.html (Stand: 10.8.2023). 383 Supreme Court, Natal Provincial Division, 15.12.1995, Acting Superintendent-General of Education of KwaZulu-Natal v. Ngubo and Others, Butterworths Constitutional Law Reports 1996, 369 (377) – noch zur Interimsverfassung. 384 CC, 13.6.2012 – CCT/112/11 Rn. 53 mit Fn. 24 (Mogoeng; Yacoob, Cameron, Froneman, Khampepe, Maya, Nkabinde, Skweyiya, van der Westhuizen concurring) – South African Transport and Allied Workers Union and Another v. Garvas and Others, http:// www.saflii.org/za/cases/ZACC/2012/13.html (Stand: 10.8.2023). 385 CC, 13.6.2012 – CCT/112/11 – South African Transport and Allied Workers Union and Another v. Garvas and Others, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2012/13.html (Stand: 10.8.2023). 386 CC, 13.6.2012 – CCT/112/11 Rn. 10 (Mogoeng; Yacoob, Cameron, Froneman, Khampepe, Maya, Nkabinde, Skweyiya, van der Westhuizen concurring) – South African Transport and Allied Workers Union and Another v. Garvas and Others, http://www.saf lii.org/za/cases/ZACC/2012/13.html (Stand: 10.8.2023). Siehe auch Omar, A legal analysis in context: The Regulation of Gatherings Act – a hindrance to the right to protest?, South African Crime Quarterly 62 (2017), 21 (22 f.).
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 387
rung von Autos, Kiosks oder kleinen Geschäften sind keine Seltenheit.387 In den letzten Jahren haben Versammlungen wegen Studiengebühren, Outsourcing von Dienstleistungen an den Universitäten und um Denkmäler aus der Kolonialzeit viel Aufmerksamkeit erhalten388 und eine intensive rechtsund politikwissenschaftliche Debatte ausgelöst389. Hierbei wurden auch die Fragen aufgeworfen, wie sich die Versammlungsfreiheit zum demokratischen Prinzip und zur Eigentumsfreiheit Dritter verhält sowie wann eine Versammlung friedlich ist. Hierbei stellte sich auch die Frage, ob „peaceful“ mit legal gleichzusetzen sei, dieselbe Frage, die in Deutschland v.a. mit Sitz- und anderen Blockaden diskutiert wurde. Das südafrikanische Verfassungsgericht entschied zwar – u.a. unter mittelbarer Berufung auf den EGMR390 – partiell ähnlich wie das BVerfG. Von einer friedlichen Versammlung könne auch dann noch die Rede sein, wenn einzelne Personen unfriedlich würden.391 Selbst wenn andere unfriedlich sind und dadurch den Schutz des Art. 17 FV verlieren, gelte dies nicht für die friedlichen Versammlungsteilnehmenden.392 Divergenzen gibt es aber bei der Frage, was „friedlich“ konkret bedeutet. Unfriedlich sind jedenfalls Sachbeschädigung, Brandstiftung, Farbschmierereien, die vom südafrikanischen Verfassungsgericht als „hooliganism, vandalism or any other unlawful and illegitimate conduct“ bezeichnet wurden393. Da in den vom 387
I.M. Rautenbach, The liability of organisers for damage caused in the course of violent demonstrations as a limitation of the right to freedom of assembly, Journal of South African Law 2013, 151 (151). 388 Hierzu Karim/Kruyer, Rhodes University v Student Representative Council of Rhodes University: The constitutionality of interdicting non-violent disruptive protest, South African Crime Quarterly 62 (2017), 93 ff. Für einen Eindruck aus der deutschen Tagespresse siehe etwa die Überschrift von: Zick, Gummigeschosse auf Studenten, in: SZ v. 21.10.2016, Nr. 244, S. 8. Allerdings kommen Plünderungen auch in Deutschland vor, wie die Chaostage und die Ausschreitungen 2017 in Hamburg anlässlich des G-20-Gipfels zeigen. 389 Siehe z.B. CC, 12.4.2017 – CCT 280/16 – Hotz and Others v. University of Cape Town, https://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2017/10.html (Stand: 10.8.2023); CC, 7.11.2017 – CCT 187/17 – Ferguson and Others v. Rhodes University, https://www.saf lii.org/za/cases/ZACC/2017/39.html (Stand: 10.8.2023). 390 CC, 12.4.2017 – CCT 280/16 Rn. 30 (Nkabinde, Cameron, Froneman, Jafta, Khampepe, Madlanga, Mbha, Mhlantla, Zondo) – Hotz and Others v. University of Cape Town, https://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2017/10.html (Stand: 10.8.2023) unter Berufung auf die SATAWU-Entscheidung, die wiederum EGMR, Urt. v. 4.5.2004 – 61821/00, Rn. 2 – Ziliberberg v. Moldau, https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–23889 (Stand: 10.8.2023). 391 CC, 12.4.2017 – CCT 280/16 Rn. 30 f. (Nkabinde, Cameron, Froneman, Jafta, Khampepe, Madlanga, Mbha, Mhlantla, Zondo) – Hotz and Others v. University of Cape Town, https://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2017/10.html (Stand: 10.8.2023). 392 CC, 12.4.2017 – CCT 280/16 Rn. 30 f. (Nkabinde, Cameron, Froneman, Jafta, Khampepe, Madlanga, Mbha, Mhlantla, Zondo) – Hotz and Others v. University of Cape Town, https://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2017/10.html (Stand: 10.8.2023). 393 CC, 12.4.2017 – CCT 280/16 Rn. 32 (Nkabinde, Cameron, Froneman, Jafta, Khampepe, Madlanga, Mbha, Mhlantla, Zondo) – Hotz and Others v. University of Cape Town, https://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2017/10.html (Stand: 10.8.2023).
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
südafrikanischen Verfassungsgericht entschiedenen Fällen mit Entführungen, Bedrohungen Brandstiftung und Sachbeschädigungen die Unfriedlichkeit leicht zu bejahen war, wurde auf die harmloseren Aspekte wie Blockaden von Straßen oder Unterbrechungen des Lehrbetriebs nicht spezifisch eingegangen.394 Gleichwohl muss die Entscheidung Ferguson v. Rhodes University wohl so gelesen werden, dass Unfriedlichkeit rascher erreicht wird als in Deutschland, denn es wurde pauschal auf „ungesetzliches und illegitimes Verhalten“ hingewiesen.395 Dass zumindest im Ausgangspunkt ein legitimes Interesse verfolgt wurde, fand nur bei der Kostenentscheidung Berücksichtigung, und zwar nur insofern, dass statt einer alleinigen Kostentragung durch die Protestierenden eine Kostenaufhebung angeordnet wurde.396 Bereits zuvor wertete das südafrikanische Verfassungsgericht in der Entscheidung South African Transport and Allied Workers Union and Another v. Garvas and Others (im Folgenden „SATAWU“) die Interessen der Geschädigten, Schadensersatzansprüche gegen einen solventen und leicht zu ermittelnden Schuldner (die veranstaltende Gewerkschaft) zu haben, als sehr hoch. In einer späteren Entscheidung hat das südafrikanische Verfassungsgericht es als legitimes Interesse anerkannt, die Kriminalität im Zusammenhang mit Versammlungen zu reduzieren.397 Demgegenüber wurde die Bedeutung der Versammlungsfreiheit in der SATAWU-Entscheidung lediglich zu Beginn verbal betont.398 Eine Angemessenheitsprüfung wurde später in der Entscheidung aber allenfalls in Ansätzen durchgeführt. An deutschen versammlungsrechtlichen Maßstäben gemessen erscheint das Urteil wenig freiheitlich, da es einen stark abschreckenden Effekt für zulässig erachtet.399 Jedoch müssen die gravie394 Kritik bei Karim/Kruyer, Rhodes University v Student Representative Council of Rhodes University: The constitutionality of interdicting non-violent disruptive protest, South African Crime Quarterly 62 (2017), 93 (99–101). 395 Hierzu Karim/Kruyer, Rhodes University v Student Representative Council of Rhodes University: The constitutionality of interdicting non-violent disruptive protest, South African Crime Quarterly 62 (2017), 93 (99–101). 396 CC, 12.4.2017 – CCT 280/16 Rn. 34–42 (Nkabinde, Cameron, Froneman, Jafta, Khampepe, Madlanga, Mbha, Mhlantla, Zondo) – Hotz and Others v. University of Cape Town, https://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2017/10.html (Stand: 10.8.2023); CC, 7.11.2017 – CCT 187/17 Rn. 22–29 (Kollapen; Mogoeng, Zondo, Cameron, Froneman, Jafta, Kathree-Setiloane, Madlanga, Mhlantla, Zondi concurring) – Ferguson and Others v. Rhodes University, https://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2017/39.html (Stand: 10.8.2023). 397 CC, 19.11.2018 – CCT/32/18 Rn. 79 (Petse; Basson, Cameron, Dlodlo, Froneman, Goliath, Khampepe, Mhlanthla and Theron concurring) – Mlungwana and Others v. The State and Another, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2018/45.html (Stand: 10.8.2023). 398 CC, 13.6.2012 – CCT/112/11 Rn. 51–84 (Mogoeng; Yacoob, Cameron, Froneman, Khampepe, Maya, Nkabinde, Skweyiya, van der Westhuizen concurring) – South African Transport and Allied Workers Union and Another v. Garvas and Others, http://www.saf lii.org/za/cases/ZACC/2012/13.html (Stand: 10.8.2023). 399 In Südafrika sind die Meinungen geteilt, I.M. Rautenbach, The liability of organisers for damage caused in the course of violent demonstrations as a limitation of the right to free-
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 389
renden gesellschaftlichen Unterschiede im Blick behalten werden. Schwer vermittelbar wäre es sicherlich, wenn die Existenzvernichtung durch die Zerstörung der Lebensgrundlage von Ladeninhabern und Kioskbesitzern durch marodierende Gruppen bagatellisiert und als im Namen des demokratischen Prozesses hinzunehmende Folge dargestellt würde.400 Gerade weil Versammlungen oftmals gewalttätig werden, sollte wohl kein weiterer Anreiz zu ihrer Durchführung gesetzt werden. Vielmehr sollten die Veranstalter im finanziellen Eigeninteresse dazu angehalten werden, auf „ihre“ Versammlungsteilnehmer im Sinne der Friedlichkeit und Gewaltfreiheit einzuwirken. Auch wenn beide hier analysierten Rechtsordnungen grundsätzlich vergleichbar sind, zeigen v.a. die tatsächlichen Unterschiede in beiden Ländern, dass aus einem Vergleich nicht die Annahme identischer Regelungen geschlussfolgert werden muss. Die Befürchtung, dass bereits der Vergleich allein die Eigenständigkeit der jeweiligen Rechtsordnung gefährdet, ist nicht stets begründet. jj) Infrastrukturelle Begleiteinrichtungen Gerade in den letzten Jahren ist die Frage virulent geworden, inwieweit der Schutz der Versammlungsfreiheit auch begleitende Infrastruktureinrichtungen umfasst. Dies betrifft u.a.Verpflegungsstände, sanitäre Anlagen oder Schlafstätten, wobei die Thematik oft unter dem Schlagwort „Protestcamps“ verortet wird. Während die Rechtsprechung traditionellerweise zurückhaltend war, zeichnet sich inzwischen eine großzügigere Sichtweise ab. Das BVerwG nimmt hierzu folgende Einordnung vor: „Bei diesen Camps handelt es sich um eine neuere, zunehmende Verbreitung findende Form kollektiven Protests. Sie werden typischerweise an einem Ort veranstaltet, der einen Bezug zu dem jeweils inmitten stehenden Thema hat. Der Charakter der Protestcamps wird allerdings mehr noch als durch ihren Ortsbezug durch ihre zeitliche Dauer geprägt. Es handelt sich um Veranstaltungen mit einer zeitlichen Perspektive von einigen Tagen bis in Einzelfällen auch zu mehreren Jahren.“401 400 dom of assembly, Journal of South African Law 2013, 151 ff. begrüßt das Urteil weitgehend. Woolman, My tea party, your mob, our social contract, South African Journal on Human Rights 27 (2011), 346 (351 f.) kritisiert das Urteil der Vorinstanz, das jedoch zu ähnlichen Ergebnissen kommt wie das Verfassungsgericht. 400 Der Richter Jafta, der im Ergebnis, nicht aber der Begründung zustimmt, hat in seinem Sondervotum bereits das Vorliegen eines Eingriffs in die Versammlungsfreiheit durch die Haftungsvorschrift verneint, CC, 13.6.2012 – CCT/112/11 Rn. 137 (Jafta) – South African Transport and Allied Workers Union and Another v. Garvas and Others, http:// www.saflii.org/za/cases/ZACC/2012/13.html (Stand: 10.8.2023). Siehe auch Siehe z.B. CC, 12.4.2017 – CCT 280/16 – Hotz and Others v. University of Cape Town, https://www.saf lii.org/za/cases/ZACC/2017/10.html (Stand: 10.8.2023); CC, 7.11.2017 – CCT 187/17 – Ferguson and Others v. Rhodes University, https://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2017/ 39.html (Stand: 10.8.2023). 401 BVerwG, NVwZ 2022, 1197 (1199).
390
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
Es muss zunächst zwischen dem Camp und seinem Schutz durch Art. 8 I GG sowie dem Schutz der begleitenden Infrastruktur unterschieden werden.402 Nach Ansicht des BVerwG unterfällt eine infrastrukturelle Einrichtung eines als Versammlung zu beurteilenden Protestcamps dem unmittelbaren Schutz durch Art. 8 I GG „nicht nur dann, wenn sie einen inhaltlichen Bezug zu der mit dem Camp bezweckten Meinungskundgabe aufweist. Vielmehr wird ihr dieser Schutz auch dann zuteil, wenn sie für das konkrete Camp logistisch erforderlich und ihm räumlich zuzurechnen ist.“403 Damit bedarf es einer Einzelfallbetrachtung, ob eine Infrastruktureinrichtung von Art. 8 I GG geschützt wird. Das BVerfG hat sich mit den Protestcamps – soweit ersichtlich – nur in einstweiligen Rechtsschutzverfahren befasst404 und hierbei die Frage, inwieweit diese Camps unter Art. 8 I GG fallen, explizit als ungeklärt bezeichnet.405 Ausgehend von der Prämisse, dass die Ansicht der Rechtsprechung maßgeblich sein soll bei der Beantwortung der Frage, ob etwas zum Wesensgehalt des Art. 19 II GGG gehört, wird man dies zumindest derzeit für Protestcamps wohl noch ablehnen müssen. Denn es ist nicht geklärt, ob Protestcamps überhaupt dem Schutzbereich des Art. 8 I GG unterfallen. Auch wenn dies teilweise durch die Rechtsprechung bejaht wird, handelt es sich eher um Phänomene am Randbereich des Grundrechts, was gegen den Schutz des Art. 19 II GG spricht. c) Zwischenergebnis Die systematische Auslegung hat bekräftigt, dass zum Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit der Charakter als verbindliches Recht auf Zusammenkunft, die Grundrechtsverpflichtung (nur) der staatlichen Gewalt, der Gesetzesvorbehalt, die lediglich verhältnismäßige Einschränkbarkeit und die Möglichkeit des Rechtsschutzes gehören. Des Weiteren erfasst der Wesensgehalt des Art. 19 II GG i.V.m. Art. 8 GG in inhaltlicher Hinsicht die tatsächliche räumliche Zusammenkunft ohne vorherige inhaltliche Genehmigung, insbesondere in Spontan- und Eilfällen. Beschränkungen aus Gründen der öffentlichen 402 BVerwG, NVwZ 2022, 1197 (1198 f.); Fischer, Infrastruktur bei Protestcamps und der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit, NVwZ 2022, 353 (354 f.); J.-P. Schneider, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 8 Rn. 20 (Stand: 15.5.2023). Tendenziell ähnlich Friedrich, Versammlungsinfrastrukturen: An den Grenzen des Versammlungsrechts, DÖV 2019, 55 (58–64), der zunächst danach fragt, ob die Infrastruktureinrichtung selbst bereits dem Schutz der Versammlungsfreiheit unterfällt. 403 BVerwG, NVwZ 2022, 1197 (1200). 404 BVerwG, NVwZ 2022, 1197 (1199). 405 BVerfG(K), NVwZ 2017, 1374 (1375); NVwZ 2020, 1508 (1510). So auch weiterhin die Einschätzung von J.-P. Schneider, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 8 Rn. 16 (Stand: 15.5.2023). Siehe auch die Darstellung der schwankenden Haltung der Fachgerichtsbarkeit bei M. Hartmann, Protestcamps als Versammlungen iSv Art. 8 I Grundgesetz?, NVwZ 2018, 200 (201–204).
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 391
Ordnung dürfen sich nur auf Modalitäten der Versammlung beziehen, nicht auf das grundsätzliche Ob und den Inhalt der Versammlung. Ausländer, auch EU-Ausländer, werden hingegen ebenso wenig vom Wesensgehalt wie die Inanspruchnahme des Eigentums privater Dritter oder unfriedliche und bewaffnete Versammlungen erfasst. Zur Personenzahl lässt sich der Systematik keine belastbare Aussage entnehmen. Dies deckt sich weitgehend mit den Erkenntnissen des südafrikanischen Rechts, wobei dort die Friedlichkeit strikter verstanden wird.
3. Historische Auslegung Die historische Auslegung befasst sich mit dem Ursprung der auszulegenden Vorschrift. Sie kann sich sowohl auf die Entstehungsgeschichte406 der Norm (Genese) als auch auf die Dogmengeschichte (Historie)407 beziehen. Hierfür können Dokumente zum Zeitpunkt der Entstehung der Norm wie etwa Gesetzesbegründungen,408 aber auch ggf. weiter zurückreichende Rechtstraditionen aufschlussreich sein. Umstritten ist in der Methodenlehre, ob der „subjektive“ oder der „objektive“ Wille entscheidend sein soll.409 Aber nach der Rechtsprechung des BVerfG müssen „die Gesetzesmaterialien mit Vorsicht, nur unterstützend und insgesamt nur insofern herangezogen werden […], als sie auf einen ‚objektiven Gesetzesinhalt schließen lassen‘ (vgl. BVerfGE 1, 299 [312]; 6, 55 [75]; 6, 389 [431]; 10, 234 [244]; 36, 342 [367]; 41, 291 [309]). Der sogenannte Wille des Gesetzgebers bzw. der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten kann hiernach bei der Interpretation insoweit berücksichtigt werden, als er auch im Text Niederschlag gefunden hat. Die Materialien dürfen nicht dazu verleiten, die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen (vgl. BVerfGE 11, 126 [130]; 13, 261 [268]; 54, 277 [298 f.]).“410
Ob dies auch für die Verfassungsinterpretation gilt, hat das BVerfG zwar ausdrücklich offengelassen,411 aber immerhin klargestellt, dass den Verfassungsmaterialien in der Regel keine ausschlaggebende Bedeutung zukommt.412 Im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen ist dies zwar zuweilen anders,413 aber um diese geht es hier nicht. Denn die Gesetzgebungskompetenz für das Recht des Versammlungswesens war vor und ist nach der Föderalismusreform un406 407 408 409 410 411 412 413
Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 330. Vgl. Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 2 Rn. 8. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 330. Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 328–339. BVerfGE 62, 1 (45). BVerfGE 62, 1 (45). BVerfGE 6, 389 (431); 41, 291 (309); 45, 187 (227); 62, 1 (45). Siehe nur BVerfGE 61, 149 (174–202); 106, 62 (104 f.) m.w.N.
392
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
zweideutig früher dem Bund und nunmehr den Ländern zugewiesen, wie ein Vergleich der neuen und der alten Fassung des Art. 74 I Nr. 3 GG zeigt. Zweifel bestehen hier nicht. Vornehmlich die Verfassungstexte zur Versammlungsfreiheit und zur Wesensgehaltsgarantie sowie ihre Begleitmaterialien und Protokolle sowie die Erörterungen zu den Vorläuferverfassungen des Grundgesetzes in Rechtsprechung und Literatur sind heranzuziehen. Hierbei sind Verfassungen, die dem Grundgesetz ähnlich sind, besonders aufschlussreich. Dies sind für die Bundesebene die Weimarer Reichsverfassung von 1919 und die Paulskirchenverfassung von 1849.414 Demgegenüber können unähnlichere Verfassungen wie die revidierte Preußische Verfassung von 1850 eher als negative Kontrastfolie dienen. Ein noch weiteres Zurückgehen in die Vergangenheit ist zwar möglich,415 aber insgesamt wenig erhellend,416 denn die tatsächliche Ausübung von Versammlungen und die ausdrücklichen Verbürgungen der Versammlungsfreiheit sind jüngeren Datums.417 In Deutschland entwickelten sich Versammlungsrechte im modernen Sinne erst im 19. Jahrhundert.418 Ende des 18. Jahrhunderts stellte § 181 II 20 ALR folgende Regelung auf: „Allem Zusammenlaufe des Volks an ungewöhnlichen Zeiten und Orten, besonders aber nächtlichen Schwärmereyen, und Beunruhigungen der Einwohner eines Orts, soll von der Obrigkeit durch ernstliche Mittel gesteuert werden.“
Allerdings stand diese Vorschrift im 20. Titel des Zweiten Teils des ALR mit der Überschrift „Von den Verbrechen und deren Strafen“, wobei § 181 noch spezieller unter der Überschrift „Vorbeugungsmittel“ eingeordnet wurde. Zwar kann man aus der Bestimmung des ALR ableiten, dass das „Zusammenlaufen des Volks“ nicht per se verboten war,419 aber hier wird ein Verständnis von „Volkszusammenläufen“ deutlich, welches nur wenig mit dem heutigen Verständnis von Versammlungen und Versammlungsfreiheit gemeinsam hat.420 Jedenfalls werden Versammlungen heute nicht als zu beobachtende Vorstufe einer Straftat angesehen. Vielmehr setzt sich in der Staatspraxis und in der Rechtswissenschaft eine die Versammlung ermöglichende Sichtweise durch,421 414 So auch B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 104. 415 Siehe zu den klassisch-antiken und germanischen Wurzeln der Versammlungsfreiheit sowie zum Versammlungsrecht im Mittelalter und in der frühen Neuzeit N. Ullrich, Das Demonstrationsrecht, 2015, S. 31–35. 416 B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 104, 106. 417 Vgl. N. Ullrich, Das Demonstrationsrecht, 2015, S. 37–41. 418 Siehe hierzu B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 104, 106; N. Ullrich, Das Demonstrationsrecht, 2015, S. 41–44. 419 Hierzu N. Ullrich, Das Demonstrationsrecht, 2015, S. 36. 420 Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. IV, 2011, § 106 Rn. 5 meint, dass hier eine deutliche Distanzierung erkennbar sei. 421 Enders et al., Musterentwurf eines Versammlungsgesetzes, 2011, S. 1 f.
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 393
wie sie auch teilweise in Gesetzestiteln zum Ausdruck kommt. In SchleswigHolstein trägt das Versammlungsgesetz den Namen „Versammlungsfreiheitsgesetz für das Land Schleswig-Holstein“422. Dabei war § 181 II 20 ALR für die damalige Zeit bereits eine fortschrittliche Regelung.423 a) Historie des Art. 19 II GG Nach überwiegender Ansicht handelt es sich bei Art. 19 II GG um eine originäre Neuschöpfung des Grundgesetzes.424 Danach scheint lediglich die Entstehungsgeschichte, nicht aber die Dogmengeschichte Aufschluss über den Inhalt der Wesensgehaltsgarantie geben zu können. Allerdings haben die unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung entwickelten Einrichtungsgarantien dieselbe Funktion wie die Wesensgehaltsgarantie. Beide sollen das Leerlaufen der Grundrechte durch eine gesteigerte Bindung insbesondere des einfachen Gesetzgebers verhindern. Deshalb könnte grundsätzlich auch auf Ausführungen zu Einrichtungsgarantien des Art. 8 GG bzw. Art. 123 WRV zurückgegriffen werden (Dogmengeschichte). Allerdings wurde der Versammlungsfreiheit des Art. 123 WRV keine Einrichtungsgarantie zugeordnet.425 Teilweise wird dies zwar anders gesehen,426 aber jedenfalls finden sich auch bei den Befürwortern keine besonders geschützten Gehalte. Eine weitere Befassung mit den Einrichtungsgarantien der Weimarer Republik speziell zu Art. 8 GG bringt deshalb keinen Ertrag. Auch unter der Geltung des Grundgesetzes wird der Versammlungsfreiheit keine Einrichtungsgarantie entnommen oder zugeordnet.427 In der Drittbearbeitung zu Art. 8 GG im Bonner 422
Gesetz v. 18.6.2015, GVOBl. Schl.-H. 135 – Hervorhebung nicht im Original. N. Ullrich, Das Demonstrationsrecht, 2015, S. 36. 424 Siehe oben D. III. 2. 425 So geht z.B. F. Klein, Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, 1934, S. 291–328 bei seiner Darstellung der 36 Einrichtungsgarantien der Weimarer Reichsverfassung nicht auf Art. 123 WRV ein. C. Schmitt, Verfassungslehre, 11. Aufl. 2017, S. 170–173 nennt sie ebenfalls nicht, auch nicht bei C. Schmitt, Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 572 (596), der explizit nur Eigentum, Erbrecht und Ehe nennt. Waldecker, Vereins- und Versammlungsfreiheit, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 637 f. weist zwar darauf hin, dass sich Versammlungen als Phänomene des tatsächlichen Lebens beobachten lassen, aber eine Institutsgarantie formuliert auch er nicht, vielmehr spricht er durchweg von dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit. Auch für Art. 8 GG wird eine Einrichtungsgarantie abgelehnt, Blanke, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 8 Rn. 61. 426 F. Klein, in: v. Mangoldt/Klein, GG, Bd. I, 2. Aufl. 1957, Art. 8 Anm. II. 3. 427 So fehlt beispielsweise eine Erwähnung der Versammlungsfreiheit bei der Auflistung der herkömmlichen Einrichtungsgarantien des Grundgesetzes bei Stern, Staatsrecht, Bd. III/ 1, 1988, S. 795–832 und auch an anderer Stelle. Mager, Einrichtungsgarantien, 2003 sowie Mainzer, Die dogmatische Figur der Einrichtungsgarantie, 2003 gehen ausweislich der Inhalts- und ggf. Stichwortverzeichnisse ebenfalls nicht auf die Versammlungsfreiheit als Ein423
394
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
Kommentar spricht Bernd J. Hartmann von einer „eingeschränkten Institutsgarantie“ und meint damit, dass es Raum für Versammlungen geben muss.428 Dass man hierfür die Institutsgarantie braucht, erscheint nicht zwingend, ist für den vorliegenden Zusammenhang aber unschädlich. Da auch hier davon ausgegangen wird, dass die räumliche Zusammenkunft geschützt ist und es hierfür des entsprechenden Platzes bedarf, bringt die Institutsgarantie keine darüber hinausgehenden Erkenntnisse. Weil es keine Onlineversammlungen gibt, sind Versammlungen i.S.d. Art. 8 GG zwingend auf reale Räume angewiesen. Immerhin kann man den Ausführungen von Carl Schmitt entnehmen, dass mit den Einrichtungsgarantien die typischen oder charakteristischen Eigenschaften erfasst werden.429 Somit verbleibt die Entstehungsgeschichte als Anknüpfungspunkt für die Inhaltsermittlung des Art. 19 II GG. So hieß es in Art. 21 I HerrenChE: „Die Grundrechte dürfen nicht beseitigt werden. Auf ein solches Ziel gerichtete Anträge sind unzulässig.“
Art. 21 IV 2 HerrenChE lautete: „Die Einschränkung eines Grundrechtes oder die nähere Ausgestaltung durch Gesetz muß das Grundrecht als solches unangetastet lassen.“
Die Formel „als solches“ ist nicht besonders aussagekräftig und eher ein Ausdruck der Verlegenheit, wenn man das „Eigentliche“ nicht präziser beschreiben kann. Immerhin deckt sich dieser Entwurf mit der gegenwärtigen Inhaltsbeschreibung, dass vom Grundrecht auch nach Beschränkungen noch etwas verbleiben muss. Dies bestätigt auch der dem Entwurf von Herrenchiemsee beigefügte „Darstellende Teil“ (dort S. 22 f.).430 Der Parlamentarische Rat befasste sich wiederholt mit den Entwurfsfassungen des heutigen Art. 19 II GG.431 So bestand zunächst im Grundsatzausschuss Einigkeit, dass das Grundrecht in seiner Substanz bzw. in seinem Bestand bestehen bleiben müsse.432 Allerdings wollte man die Formulierung des Konvents präziser fas428 richtungsgarantie ein. Abel, Die Bedeutung der Lehre von den Einrichtungsgarantien für die Auslegung des Bonner Grundgesetzes, 1964, S. 77–86 sowie Schmidt-Jortzig, Die Einrichtungsgarantien der Verfassung, 1979, S. 32 nennen die Versammlungsfreiheit ebenfalls nicht im Zusammenhang mit den bestehenden Einrichtungsgarantien des Grundgesetzes. 428 B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 379. 429 C. Schmitt, Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 572 (595, 596). 430 Abgedruckt in Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 2, 1981, S. 516. 431 Siehe hierzu Matz, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 177–180. 432 Matz, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 177.
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 395
sen und stellte im Unterausschuss des Grundsatzausschusses die Formulierung von der Antastung des Wesensgehalts auf, was der Grundsatzausschuss insgesamt billigte.433 Diese Formulierung (in Art. 20 II) lautete: „Soweit ein Grundrecht nach den Bestimmungen dieses GG eingeschränkt werden kann, darf es in seinem Wesensgehalt nicht angetastet werden.“
Nachdem der Allgemeine Redaktionsausschuss noch im November 1948 keine Änderungen vorgeschlagen hatte, legte er im Dezember 1948 die später in Kraft getretene und auch heute noch gültige Formulierung (allerdings in einem Art. 20c II) vor.434 Soweit ersichtlich, wurden die Gründe hierfür nicht vertieft; vielmehr ging es vor allem um den vorangehenden Absatz und das Zitiergebot.435 Bevor diese Fassung schließlich angenommen wurde, änderte sich die Entwurfsfassung allerdings abermals.436 Eine eindeutige Aussage wird man dem Wechsel der verschiedenen Fassungen nicht entnehmen können, möglicherweise handelt es sich nur um sprachliche Erwägungen. Jedoch hat man sich am Ende für die strenger klingende Fassung („in keinem Falle“) entschieden. Die schwierige Frage der Konkretisierung wurde vom Parlamentarischen Rat selbst jedoch nicht in Angriff genommen, sondern Rechtsprechung und Literatur überlassen.437 In Südafrika war die Wesensgehaltsgarantie nur kurzzeitig verfassungsrechtlich verankert. Art. 33(I)(b) IC enthielt ein klar an Art. 19 II GG angelehntes Verbot der Antastung des Wesensgehalts der Grundrechte. Diese Vorschrift ist jedoch nicht mehr in Kraft. Am 18.12.1996 wurde die endgültige und im Wesentlichen jetzt noch in Kraft befindliche Verfassung Südafrikas verkündet.438 Diese enthält keine dem früheren Art. 33(I)(b) IC entsprechende Vorschrift, in der Nachfolgevorschrift des Art. 36 FC fehlt gerade dieser Teil. Die Wesensgehaltsgarantie wurde also nach nur rund zwei Jahren wieder gestrichen. Grund hierfür war, dass kein fester Inhalt der Wesensgehaltsgarantie zu erkennen war und 40 Jahre ergebnisloser deutscher Grundrechtsdebatte die Vorschrift verzichtbar erscheinen ließen. Dies gilt insbesondere angesichts der unterschiedlichen Unrechtserfahrungen beider Länder.439 Während das Scheitern Weimars die Grundgesetzgebung überschattete und starke Sicherungen gegen einen etwaigen Mehrheitsmissbrauch für erforderlich gehalten wurden, 433
Matz, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 177 f. Matz, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 178. 435 Matz, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 178. 436 Matz, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 178–180. 437 P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 106. 438 Constitution of the Republic of South Africa Act, No. 108 of 1996, https:// www.gov.za/documents/constitution/constitution-republic-south-africa-1996–1 (Stand: 10.8.2023). Inkrafttreten war am 4.2.1997. 439 Siehe hierzu van der Merwe, South Africa: Addressing the Unsettled Accounts of Apartheid, in: Hoeres/Knabe (Hrsg.), After Dictatorship, 2023, S. 149 ff. 434
396
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
war die südafrikanische Verfassungsgebung zukunftsorientierter. Künftig sollten keine Bürgergruppen mehr diskriminiert und vom politischen Prozess ausgeschlossen werden, Integration und Partizipation waren hierfür die Hauptmechanismen. Die Streichung der südafrikanischen Wesensgehaltsgarantie lässt deshalb keine Rückschlüsse für das deutsche Verfassungsrecht zu. b) Historie des Art. 8 GG Art. 8 GG ist die Nachfolgebestimmung zu Art. 123 WRV440 und § 161 Paulskirchenverfassung, die Versammlungen dem Wortlaut und dem Geist nach als Bürgerrecht anerkannten und nicht lediglich einzudämmen und zu verhindern trachteten. Hieran knüpfte Art. 8 HerrenChE dem Wortlaut nach an,441 welcher zunächst lediglich lautete: „Alle haben das Recht, sich ohne vorherige Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und unbewaffnet zu versammeln.“
Einen zweiten Satz oder Absatz gab es nicht. Somit fehlte es an einem speziellen Gesetzesvorbehalt für die Versammlungsfreiheit. Jedoch enthielt Art. 21 IV HerrenChE einen allgemeinen Schrankenvorbehalt für alle Grundrechte.442 In sachlicher Hinsicht war der Schutzbereich verglichen mit der heutigen Fassung nahezu identisch formuliert. Es hieß lediglich „unbewaffnet“ statt „ohne Waffen“ sowie „ohne vorherige Anmeldung oder Erlaubnis“. Einen deutlichen Unterschied443 sowohl zur Weimarer Reichsverfassung als auch zum heutigen Grundgesetz kann man beim persönlichen Schutzbereich erblicken, denn Art. 8 HerrenChE war als Jedermanngrundrecht und nicht als Deutschengrundrecht ausgestaltet. Noch im Oktober 1948 wurde dies während der Beratungen des Parlamentarischen Rats geändert und die heutige Fassung des Art. 8 I GG vorgeschlagen. Der Antrag der KPD-Fraktion, die Versammlungsfreiheit ausdrücklich (wieder) als Jedermanngrundrecht zu fassen, wurde abgelehnt.444
440
Hierzu Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 310–315. Jedoch sind die unterschiedlichen Kontexte und die zugrunde liegenden Verfassungsverständnisse von 1849, 1919 und 1949 zu verschieden, als dass aus dem Wortlaut zwingend eine identische Schlussfolgerung für die verschiedenen Verfassungen gezogen werden könnte, so B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 105; Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. IV, 2011, § 106 Rn. 15. 442 Abgedruckt in Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 2, 1981, S. 580. Siehe hierzu B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 123. 443 Siehe zu den Unterschieden zwischen beiden Entwürfen insgesamt B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 123 f. 444 Matz, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 114. 441
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 397
Die Verabschiedung des Gesetzesvorbehalts im heutigen Art. 8 II GG gestaltete sich demgegenüber windungsreicher.445 Er wurde zwar bereits im Oktober 1948 durch ein Redaktionskomitee vorgeschlagen, unterlag aber mehreren Änderungen. Zunächst lautete der entsprechende Absatz 2: „Bei Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz beschränkt werden. Sie können bei unmittelbarer Gefahr für die öffentliche Sicherheit verboten werden.“
Interessant ist hieran, dass nur Beschränkungen „durch Gesetz“ (nicht auch „aufgrund eines Gesetzes“) zugelassen sein sollten und dass nur bei einer unmittelbaren Gefahr446 für die öffentliche Sicherheit (nicht auch für die „öffentliche Ordnung“) ein Versammlungsverbot erlassen werden durfte. Allerdings lautete auch Art. 123 II WRV dahin gehend, dass Versammlungen unter freiem Himmel bei einer unmittelbaren Gefahr verboten werden konnten. Jedoch kamen in der Weimarer Republik auch Versammlungsverbote aus Gründen der öffentlichen Ordnung vor,447 sodass man historisch aus dem auf die öffentliche Sicherheit begrenzten Wortlaut nicht allzu viel herleiten kann. Schließlich gestattete Art. 48 II WRV auch explizit das Einschreiten aus Gründen der öffentlichen Ordnung. Der Allgemeine Redaktionsausschuss schlug im November 1948 vor, im ersten Satz des zweiten Absatzes klarzustellen, dass Versammlungen nicht aus politischen Gründen verboten werden dürften; die übrigen Änderungen waren lediglich sprachlicher Natur.448 Die Frage, ob nur durch Gesetz oder auch aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden dürfe, beschäftigte die Ausschüsse zwar, aber warum die letztlich Gesetz gewordene Fassung gewählt wurde, blieb trotz der dokumentierten Diskussionen offen.449 Interessanterweise war man sich im Grundsatzausschuss einig, dass das Verbot des Versammlungsverbots aus politischen Gründen nicht aufgenommen werden solle. Politische Gründe erschienen als Hauptargument für ein Versammlungsverbot.450 Die staatliche Neutralität, die man durch das Weglassen der „öffentlichen Ordnung“ als Verbotsgrund durch die historische Auslegung als etabliert hätte ansehen können, wird durch ein Verbot aus politischen Gründen stark relativiert. Insgesamt fehlte es jedoch an vertieften Debatten über die Konzeption der Versammlungsfreiheit und die einzelnen Tatbestandsmerkmale.451 445 Hierzu B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 125–142. 446 Auf die „unmittelbare“ Gefährdung stellt auch heute noch § 15 I VersG ab. 447 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 313. 448 Matz, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 114. 449 Matz, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 115 f. 450 Matz, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 114. 451 B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 125; Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. IV, 2011, § 106 Rn. 9.
398
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
In Südafrika bestand v.a. Einigkeit darüber, dass die Versammlungsfreiheit allen Bürgern zustehen müsse und dass keine Gruppen ausgeschlossen werden dürften, denn während der Apartheid und bereits zuvor wurden immer mehr und immer restriktivere Gesetze gegen Versammlungen erlassen, sodass ab Mitte der 1970er-Jahre kaum Versammlungen gestattet wurden.452 Allerdings fehlt es auch hier an direkten Aussagen im Verfassungsgebungsprozess zu den Schutzwirkungen der Versammlungsfreiheit, die über die allgemeinen Aussagen, dass es sich bei der Versammlungsfreiheit um ein Recht handelt, welches in der Demokratie von besonderer Bedeutung ist, hinausgehen. aa) Subjektives Recht gegen den Staat, aber nicht Private Wortlaut und Systematik des Art. 8 GG gehen von seiner Rechtsqualität aus. Dieses Grundrechtsverständnis war jedoch nicht immer vorherrschend. Zunächst war umstritten, ob es sich überhaupt um „Rechte“ handelte.453 Selbst in der Weimarer Republik war die Grundrechtsbindung, insbesondere diejenige des Gesetzgebers, anfänglich umstritten und selbst später nur schwach ausgeprägt.454 Allerdings bezog sich dies nicht auf alle Grundrechte in gleicher Weise,455 und bei Art. 123 WRV ist anerkannt gewesen, dass ihm Rechtsverbindlichkeit zukam.456 Demgegenüber erlangte die Paulskirchenverfassung erst gar keine Bedeutung in der Rechtspraxis. Im Falle des Grundgesetzes handelt es sich hingegen um eine bewusste Entscheidung des Verfassungsgebers, von Beginn an die Grundrechte rechtsverbindlich auszugestalten und insbesondere auch den Gesetzgeber zu binden, wie es in Art. 1 III GG unmissverständlich zum Ausdruck kommt. Diese Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalten (Art. 1 III GG) wird durch die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG und die Bundesverfassungsgerichtsbarkeit mit weitgefassten Kompetenzen (insbesondere Art. 93 I Nr. 4a GG) abgesichert und bestätigt. Was bereits der Wortlaut und die Systematik nahelegen, wird durch die historische Auslegung bekräftigt. Der Rechtscharakter, die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte als gegen den Staat gerichtete Rechte, ist essenziell für das Verständnis aller Grundrechte und damit auch 452 Woolman, Freedom of Assembly, in: Woolman/Bishop (Hrsg.), Constitutional Law of South Africa, Bd. 3, 2. Aufl. (Stand: Februar 2005), Kap. 43, 43-4–43-6. 453 N. Ullrich, Das Demonstrationsrecht, 2015, S. 42–44 m.w.N. 454 Siehe hierzu oben D., D. V. und E. II. 2. b) bb). 455 K. Groh, Zu den Grundrechten der Weimarer Reichsverfassung, DÖV 2019, 598 (601). 456 Delius, Artikel 123 und 124, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. II, 1930, S. 138 (143); Waldecker, Vereins- und Versammlungsfreiheit, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 637 (643). So auch K. Groh, Zu den Grundrechten der Weimarer Reichsverfassung, DÖV 2019, 598 (601).
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 399
der Versammlungsfreiheit. An hiervon abweichende frühere Grundrechtsverständnisse kann nicht mehr angeknüpft werden, sie sind überholt. „Das Wesen der Grundrechte als subjektiv-öffentliche Rechte besteht darin, dass sie staatlichen Maßnahmen, die auf die Rechtssphäre des Einzelnen einwirken, entgegengesetzt werden können.“457 Die Bindung des Gesetzgebers wird dementsprechend auch in der Literatur mit dem Wesen der Grundrechte in Verbindung gebracht.458 Während die Bindung der öffentlichen Gewalt an die Grundrechte als zum Wesensgehalt des Art. 19 II zugehörig anzusehen ist, ist dies für das Verhältnis zu Privaten anders.459 Eine Bindung Privater wurde im Parlamentarischen Rat in Bezug auf Art. 8 GG nicht erörtert. Unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung wurde zwar vertreten, dass sich das Grundrecht aus Art. 123 WRV nicht in seiner Staatsgerichtetheit erschöpfe.460 Vielmehr habe der Einzelne Anspruch auf Respektierung und insbesondere einen Anspruch auf Schutz bei der Ausübung seines Grundrechts und ggf. auf dessen Verwirklichung durch alle zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe.461 Aber hieraus kann keine Bindung privater Dritter geschlussfolgert werden. Gemeint war vielmehr, dass sich der Grundrechtsschutz nicht im Abwehrgehalt erschöpft, denn es heißt auch ausdrücklich, dass die Versammlungsfreiheit nicht zur Verletzung der privaten Eigentumsordnung, insbesondere nicht zur Inanspruchnahme eines fremden Grundstücks ohne die Erlaubnis des Verfügungsberechtigten, berechtige.462 Dies ist aber gerade der Punkt, der gegenwärtig streitig zu werden droht. Die historische Auslegung gibt nichts her für eine unmittelbare Drittwirkung oder einen generellen Anspruch auf Versammlungen auf fremdem Grund und Boden. Die Anerkennung der Versammlungsfreiheit als ein Recht war in Südafrika bereits vor dem Prozess der Verfassungsgebung ein besonderes Anliegen,463 da während der Apartheid Versammlungen fast nie gestattet wurden. Das ausführende Versammlungsgesetz, Regulation of Gatherings Act (RGA), das noch 457 So M. Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, 2005, S. 179. Ähnlich Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 7: „Die Rechtsgutsqualität ist gesicherter Bestand älterer und neuerer Grundrechtsauslegung.“ – unter Weglassung der Fußnotenzeichen. 458 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 42 f., 45, 202–210. 459 Siehe zur sog. Drittwirkung bereits oben E. II. 2. b) bb). 460 Waldecker, Vereins- und Versammlungsfreiheit, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 637 (644 f.). 461 Waldecker, Vereins- und Versammlungsfreiheit, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 637 (645). 462 Waldecker, Vereins- und Versammlungsfreiheit, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 637 (646). 463 Woolman, Freedom of Assembly, in: Woolman/Bishop (Hrsg.), Constitutional Law of South Africa, Bd. 3, 2. Aufl. (Stand: Februar 2005), Kap. 43, 43-7.
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
Elemente aus der Zeit vor der demokratischen Verfassung enthält, ist jedoch sehr restriktiv und führt entgegen den Intentionen der Verfassungsgeber zu starken Behinderungen der Versammlungsfreiheit.464 In Südafrika wurde die Drittwirkung ebenfalls diskutiert und die gegenwärtige differenzierende Ausgestaltung gewählt. Die dem Wortlaut nach weitere Bindung Privater lässt sich mit den großen sozialen Unterschieden erklären, die sich in der Folge von Kolonialismus und Apartheid gebildet haben. Eine erweiterte Bindung Privater, seien es Betriebe mit essenziellen Dienstleistungen (Strom, Wasser etc.) oder Schulen, gestattet es eher, soziale Unterschiede auszugleichen. Für die deutsche Rechtslage können hieraus aber keine unmittelbaren Schlussfolgerungen gezogen werden. bb) Deutschengrundrecht Sowohl Art. 123 WRV465 als auch § 161 Paulskirchenverfassung gewährleisteten die Versammlungsfreiheit nur Deutschen. Da diese beiden Verfassungen zwischen Deutschen- und Jedermanngrundrechten unterschieden, wird man der Differenzierung eine Bedeutung zumessen müssen.466 Dies kann einerseits allgemein einem engeren Verständnis geschuldet sein, welchen Personen Grundrechte zugebilligt werden sollten. Allerdings kann es andererseits auch spezifisch dem Umstand geschuldet sein, dass Versammlungen einen besonderen Bezug zur Politik und zum Staat aufweisen, weshalb das Band der Staatsangehörigkeit eine Voraussetzung für die Gewährleistung dieser Freiheit sein soll. Hierfür spricht die Beratung im Parlamentarischen Rat in stärkerem Maße, da man die politische Betätigung strenger als bei Deutschen regulieren können wollte, ohne sie ganz zu verbieten.467 Der Grund für die Ausgestaltung als Deutschengrundrecht ist an dieser Stelle jedoch nicht weiter entscheidend. Die Antwort auf diese Frage kann aber für den von den Versammlungsteilnehmern zu verfolgenden Zweck, ob es sich um einen politischen handeln muss oder nicht (enger oder weiter Versammlungsbegriff), bedeutsam sein. Nach Umformulierung des Art. 8 HerrenChE und Ablehnung des KPD-Antrags, die Versammlungsfreiheit als Jedermanngrundrecht zu fassen, ist jedoch eindeutig, dass die Ausgestaltung als Deutschengrundrecht eine bewusste Entscheidung war. Der Antrag der Fraktion DIE LINKE vom 19.11.2018, Art. 8 464 Woolman, Freedom of Assembly, in: Woolman/Bishop (Hrsg.), Constitutional Law of South Africa, Bd. 3, 2. Aufl. (Stand: Februar 2005), Kap. 43, 43-7–43-17. 465 Sehr dezidiert gegen die Einbeziehung von Nichtdeutschen äußert sich Delius, Artikel 123 und 123, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. II, 1930, S. 138 (140 f.). 466 Bereits die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom August 1789 unterschied nicht nur in ihrem Titel zwischen Menschenrechten einerseits und Bürgerrechten andererseits, vgl. Heintzen, Fremde in Deutschland, Der Staat 36 (1997), 327 (330). 467 Matz, in: Häberle (Hrsg.), JöR n.F. 1, 2. Aufl. 2010, S. 114.
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 401
GG zu ändern und als Jedermannsrecht auszugestalten,468 fand ebenfalls keine Mehrheit. Zwar wurden bereits früh in der Bundesrepublik die Auswirkungen des Charakters des Art. 8 GG als Deutschengrundrecht für Ausländer abgemildert, denn das Versammlungsgesetz von 1953 hat in seinem § 1 jeder Person das Recht auf Versammlungsteilnahme zugestanden und ist damit über die Verbürgung des Grundgesetzes hinausgegangen. Aber diese und vergleichbare landesrechtlichen Regelungen vermögen nicht den Wesensgehalt eines Grundrechts zu verändern. Dies ist bereits dem Wortlaut des Art. 19 II GG nach nicht möglich, der lediglich von den Grundrechten spricht und nicht das einfache Recht meint. Aber auch teleologisch kann ein anderes Ergebnis nicht richtig sein, denn anderenfalls stünde der Wesensgehalt zumindest partiell zur Disposition des einfachen Gesetzgebers. Dieser könnte den Wesensgehalt zwar nicht einschränken, aber womöglich ausdehnen, was zunächst für die Grundrechtsberechtigten nicht unmittelbar nachteilig erscheint. Aber im Falle eines absoluten Verständnisses des Wesensgehalts wäre auch dieser erweiterte Kern unantastbar. Dies kann sich bei Grundrechtskollisionen mittelbar zulasten eines anderen Grundrechts auswirken, weshalb die Möglichkeit einer solchen Praxis ausgeschlossen ist. Da der Wesensgehalt nicht weiterreichen kann als das Grundrecht selbst, ist der Wesensgehalt auch nach der historischen Auslegung des Art. 8 GG auf Deutsche i.S.d. Art. 116 GG beschränkt, selbst wenn einfachgesetzlich weiter gehende Verbürgungen der Versammlungsfreiheiten auch für Nichtdeutsche in Bund und Ländern galten und gelten. Die Frage der Eröffnung des personellen Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit für EU-Ausländer konnte im Verfassungsgesetzgebungsprozess nicht erörtert werden, da es keine EU gab. Deshalb kann die historische Auslegung die Position, dass das Grundgesetz EU-Ausländern die Berufung auf Deutschengrundrechte gestatten möchte, nicht stützen. Es könnte lediglich erwogen werden, dass das Grundgesetz zwar keine konkrete Aussage zur Grundrechtsträgerschaft von EU-Ausländern enthält, aber einer solchen Auslegung nicht im Wege stehen möchte.469 Hierfür könnten z. B. die ursprüngliche Präambel des Grundgesetzes470, Art. 1 II GG471 und Art. 24 468
BT-Drs. 19/5860. So BVerfGE 129, 78 (96 f.). 470 Die Vorschrift lautete: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichwertiges Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk in den Ländern Baden, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern, um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mit469
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
GG472 sprechen, welche die Europa- und Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (mit-)begründen.473 Jedoch sind diese Aussagen des Grundgesetzes sehr allgemein und gestatten nicht den spezifischen Rückschluss, dass das Grundgesetz die sehr konkrete Frage des persönlichen Schutzbereichs der Deutschengrundrechte unter einem Vorbehalt supranationaler Integration verstanden wissen wollte. Dies gilt umso mehr, als das Attribut „inländisch“ in Art. 19 III bewusst aufgenommen wurde, da keine Veranlassung gesehen wurde, „auch ausländischen juristischen Personen den verfassungsmäßigen Schutz der Grundrechte zu gewähren“.474 Die historische Auslegung spricht folglich nicht dafür, dass sich EU-Ausländer auf Deutschengrundrechte berufen können. Somit kann dies erst recht nicht als vom Wesensgehalt des Art. 19 II GG umfasst angesehen werden. Das südafrikanische Verfassungsrecht hat sich demgegenüber für die Ausgestaltung der Versammlungsfreiheit als Jedermanngrundrecht entschieden, was insgesamt der Ausgestaltung der Demokratie mit möglichst breiten Partizipationsmöglichkeiten entspricht, aber gegen eine Übertragbarkeit auf Deutschland spricht. cc) Gesetzesvorbehalt Einen Gesetzesvorbehalt vergleichbar Art. 8 II GG enthielten bereits Art. 123 II WRV und § 161 II Paulskirchenverfassung. Dies spricht für eine starke verfassungsgeschichtliche Tradition, wonach nur durch ein Parlamentsgesetz oder zumindest auf der Grundlage eines Parlamentsgesetzes versammlungsrechtliche Freiheit beschränkt werden durfte. Jedoch konnte die Versammlungsfreiheit des Art. 123 WRV gem. Art. 48 II 2 WRV durch den Reichspräsidenten ganz oder zum Teil außer Kraft gesetzt werden. Hierfür war keine gesetzliche Grundlage erforderlich, sodass es sich um eine partielle Durchbrechung des Vorbehalts des Gesetzes handelte. Die Maßnahmen des Reichspräsidenten mussten aber immerhin auf Verlangen des Reichstags außer Kraft gesetzt werden, Art. 48 III 2 WRV. Von der „Diktaturbefugnis“ des Art. 48 II WRV475 wurde u.a. am Ende der Weimarer Republik durch § 1 der 471 zuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“ – Hervorhebung nicht im Original. Siehe BGBl. 1949 I, 1. 471 Der Wortlaut von Art. 1 II GG wurde seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht geändert. 472 Der Wortlaut von Art. 24 I GG wurde seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht geändert. 473 Siehe hierzu oben B. I. 1. sowie C. II. 3. 474 Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948– 1949. Akten und Protokolle, Bd. 5/II, 1993, S. 885 f. 475 Siehe zur Anwendung des Art. 48 II 2 WRV auf Versammlungen während der gesamten Dauer der Weimarer Republik, Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 312–314.
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 403
„Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ (sog. Reichstagsbrandverordnung) vom 28.2.1933476 Gebrauch gemacht, nachdem zuvor schon das Versammlungsrecht durch die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes“ (sog. Schubladenverordnung) vom 4.2.1933477 erheblich verschärft worden war. Christoph Gusy weist darauf hin, dass Art. 123 WRV bereits seit März 1931 nahezu stets suspendiert oder eingeschränkt war und der staatsrechtliche Normalfall durch „die Flut von Notverordnungen“ zur Ausnahme wurde.478 Hier zeigt sich wieder, wie die Kumulation von Maßnahmen ein Grundrecht leerlaufen lassen kann und dass es vor Eintreten der Krise eines Mechanismus bedarf, der auch in der Krise zur Anwendung gelangen kann. Gleichwohl lässt sich Art. 48 II WRV nicht für eine lediglich beschränkte Geltung des Vorbehalts des Gesetzes heranziehen, denn die besondere Machtfülle des Reichspräsidenten wollte das Grundgesetz gerade vermeiden und hat dementsprechend auf „Diktaturbefugnisse“ wie Art. 48 II WRV bewusst verzichtet.479 Es liegt ein bezweckter Bruch mit der vorkonstitutionellen Rechtslage vor. Auch wenn der Gesetzesvorbehalt nicht mehr dieselbe freiheitssichernde Funktion wie im Konstitutionalismus hat, ist der Gesetzesvorbehalt Teil des Wesensgehalts von Art. 8 GG.480 Dass Eingriffe in Eigentum und Freiheit, so die klassische Formulierung, der gesetzlichen Grundlage bedürfen, lässt sich in das Kaiserreich und die Verfassungsdogmatik des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen.481 Dabei ist nicht nur nicht erkennbar, dass der Verfassungsgeber hiervon abweichen bzw. hinter diesem Erkenntnisstand zurückbleiben wollte. Vielmehr sind als Gegenteil die umfassende Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt und die Rückführbarkeit aller Belastungen auf ein formelles Parlamentsgesetz nachweisbar. Dies gilt bereits seit geraumer Zeit selbst für die früher als „besonderes Gewaltverhältnis“ genannte Konstellation.482 Über die reine Eingriffskonstellation hat das BVerfG für das Grundgesetz sogar eine gesteigerte Bindung des Gesetzgebers ausgemacht. Nicht nur „Eingriffe“, sondern alle für die Verwirklichung der Grundrechte „wesentlichen“ staatlichen Maßnahmen („Wesentlichkeitsgedanke“) bedürfen einer gesetzlichen Grundlage.483 476
Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat v. 28.2.1933, RGBl. I, 83 („Reichstagsbrandverordnung“). 477 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes v. 4.2.1933, RGBl. I, 35 („Schubladenverordnung“). 478 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 314. 479 Siehe hierzu oben C. IV. 1. b). 480 Siehe hierzu oben C. III. 6. b), E. II. 2. b) ee). 481 Hierzu Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, 1975, S. 11–13, 17–24; Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 2. Aufl. 1991, S. 113–115. 482 Hierzu grundlegend BVerfGE 33, 1 (9–11). Aus der Literatur umfassend zu dieser Figur S. v. Kielmansegg, Grundrechte im Näheverhältnis, 2012, S. 13–93. 483 Siehe hierzu oben E. II. 1. a) aa).
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
Dies entspricht der südafrikanischen Verfassungslage, wo sogar über die Schrankenklausel des Art. 36(1) FC eine explizite Verknüpfung zur freien und demokratischen Gesellschaft erfolgt. dd) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der sich zunächst im Verwaltungsrecht entwickelt hatte, wurde – in seinem heutigen Grundverständnis – erst unter der Geltung des Grundgesetzes in die Grundrechtsdogmatik hineingetragen.484 Aus diesem Grund kann keine dem Grundgesetz vorausliegende verfassungsrechtliche Tradition zur Begründung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Teil des Wesensgehalts der Grundrechte angeführt werden. Dementsprechend fehlt es auch an einer expliziten Verankerung im Verfassungstext und an bekräftigenden Stellungnahmen aus dem Prozess der Verfassungsgebung. Dies schließt indes nicht aus, dass das Übermaßverbot zum Wesen der Grundrechte und damit zum Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit i.S.d. Art. 19 II i.V.m. Art. 8 GG gehört. Das BVerfG hat früh zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entschieden, dass er nicht nur dem Rechtsstaatsprinzip angehöre, sondern auch aus dem „Wesen der Grundrechte“ folge.485 Auch speziell im Hinblick auf Art. 8 GG hat das BVerfG judiziert, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz strikt zu wahren ist.486 Dass keine eindeutigeren historischen Aussagen möglich sind, ist indes unproblematisch. Die historische Auslegung hat zumindest nach der Rechtsprechung des BVerfG ohnehin nur geringe Aussagekraft und keine ausschlaggebende Bedeutung. Vor allem aber unterscheidet sich das Grundgesetz von der Weimarer Reichsverfassung dadurch, dass das Grundgesetz wirksame materielle Grenzen der Einschränkbarkeit von Grundrechten errichten will. Dementsprechend könnte sogar das Fehlen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unter Geltung der Weimarer Reichsverfassung als Indiz für die Erfassung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch Art. 19 II GG angesehen werden. In Südafrika begann nach der Ausarbeitung der Interimsverfassung die Arbeit an der endgültigen Verfassung. Man entschied sich dafür, die Herangehensweise des Verfassungsgerichts hinsichtlich der Überprüfung von Grundrechtsbeschränkungen, wie sie in der Makwanyane-Entscheidung487 vorge484 Remmert, Verfassungs- und verwaltungsrechtsgeschichtliche Grundlagen des Übermaßverbotes, 1995, S. 200, siehe dort auch umfassend zu den historischen Grundlagen; vgl. auch Sodan, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. III, 2. Aufl. 2022, § 87 Rn. 1–3. 485 BVerfGE 19, 342 (348 f.); 61, 126 (134); 65, 1 (44); 76, 1 (50 f.); BVerfG(K), NJW 2018, 531 (532). 486 BVerfGE 69, 315 (348 f.); 128, 226 (259). 487 CC, 6.6.1995 – CCT/3/94 Rn. 103 f., passim (Chaskalson) – The State v. Makwanyane, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/1995/3.html (Stand: 10.8.2023).
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 405
nommen wurde, in die Verfassung zu übernehmen. In dieser Entscheidung wurde auch auf die deutsche Verhältnismäßigkeitsprüfung Bezug genommen.488 Bedenkt man die Beeinflussung des gesamten Verfassungsgebungsprozesses durch deutsches Verfassungsrecht und deutsche Verfassungsrechtler sowie den expliziten Bezug in der grundlegenden Entscheidung, dann kann man hieraus vielleicht vorsichtig ableiten, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im deutschen Verfassungsrecht so fest verankert ist, dass dies auch für ausländische Rechtsordnungen nicht nur erkennbar wird,489 sondern als wesentlich angesehen wird.490 Da der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aber nicht nur in Deutschland ubiquitär ist, sondern weltweit gilt, ist auch diese vorsichtige Schlussfolgerung nicht weiterführend. ee) Rechtsschutz Die Möglichkeit des Rechtsschutzes ergibt sich nicht explizit aus dem Wortlaut von Art. 8 GG, vielmehr bedarf es systematischer Erwägungen, um den Rechtsschutz in Verbindung zu Art. 8 GG zu setzen.491 Auch entstehungsgeschichtlich finden sich keine eindeutigen Aussagen, die Rechtsschutz als unmittelbar in den Grundrechten und damit auch Art. 8 GG verankert ansehen. Aber immerhin lässt sich der Entstehungsgeschichte entnehmen, dass Art. 8 GG als Recht konzipiert wird. Die Tradition des Rechtsstaats, zu welchem auch die Gewährung von Rechtsschutz gehört, hat eine lange verfassungsrechtliche Tradition in Deutschland. Allerdings ist diese Tradition kürzer, wenn es um Rechtsschutz gegen Grundrechtsbeeinträchtigungen durch Gesetz geht, denn Grundrechte wurden als rein objektivrechtlich verstanden oder sollten nicht den Gesetzgeber binden.492 Jedoch war bei den klassischen Abwehrrechten, wie Art. 123 WRV eines war und Art. 8 GG nunmehr eines ist, der Rechtsschutzgedanke zumindest gegen behördliche Maßnahmen durchaus präsent.493 Die historische Auslegung schließt somit ein Verständnis, wonach der jeweilige Rechtsschutz zum Wesen des jeweiligen Grundrechts gehört, nicht aus, spricht aber auch nicht in besonders zwingender Weise dafür. 488 CC, 6.6.1995 – CCT/3/94 Rn. 108 (Chaskalson) – The State v. Makwanyane, http:// www.saflii.org/za/cases/ZACC/1995/3.html (Stand: 10.8.2023). 489 Da jedoch auch auf das kanadische und indische Recht sowie auf die EMRK Bezug genommen wird, lässt sich ein ausschließlicher oder auch nur vorherrschender deutscher Einfluss keinesfalls begründen, vgl. CC, 6.6.1995 – CCT/3/94 Rn. 70–78, 105–107, 109 (Chaskalson) – The State v. Makwanyane, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/1995/3.html (Stand: 10.8.2023). Siehe zur Rechtsvergleichung in dieser Entscheidung G. A. du Plessis, S v Makwanyane and Another Case (S Afr), MPECCoL (Stand: Mai 2017), Rn. 15–20. 490 Poscher, Das Grundgesetz als Verfassung des verhältnismäßigen Ausgleichs, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 3. 491 Siehe hierzu oben E. II. 2. b) dd). 492 So N. Ullrich, Das Demonstrationsrecht, 2015, S. 41–44 m.w.N. 493 Waldecker, Vereins- und Versammlungsfreiheit, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 637 (644 f.).
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
In Südafrika waren der Rechtsschutz gegen willkürliche staatliche Maßnahmen und die rechtliche Gleichheit aller Bürger als Reaktion auf die Diskriminierungen der Apartheid ein besonderes Anliegen. Dementsprechend gewährleistet Art. 38 FC ausdrücklich einen weitreichenden gerichtlichen Grundrechtsschutz. ff) Selbstbestimmung und staatliche Neutralität Prima facie spricht die Neutralität der Weimarer Reichsverfassung insgesamt494 dafür, auch der Versammlungsfreiheit des Art. 123 WRV die staatliche Verpflichtung zu Neutralität und das Selbstbestimmungsrecht der Versammlungsveranstalter und -teilnehmenden zu entnehmen. Jedoch bricht das Grundgesetz mit dem Neutralitätsverständnis der Weimarer Reichsverfassung und etabliert beispielsweise den Grundsatz der wehrhaften Demokratie495 und errichtet eine objektive Wertordnung496. Somit muss spezifischer analysiert werden, wenn man den Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts und der staatlichen Neutralität durch historische Auslegung ermitteln will. Der Parlamentarische Rat fand keine eindeutige Haltung, die für die Beantwortung heutiger Fragen Klarheit bieten würde. Einerseits sollte ursprünglich eine Versammlung nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung verboten werden können, andererseits sollte ein Versammlungsverbot aus politischen Gründen gerade möglich sein.497 Jedoch ist unklar, an welche politischen Gründe hierbei gedacht wurde. Die Untersagung der Versammlung einer verbotenen verfassungswidrigen Partei stellt sich in der verfassungsrechtlichen Beurteilung anders dar als das Versammlungsverbot gegenüber einer regierenden Volkspartei. Insofern ist die historische Auslegungslage nicht eindeutig. Speziell im Hinblick auf das Anmelde- und Genehmigungserfordernis ist die Rechtslage, die der Parlamentarische Rat vor Augen hatte, klarer nachvollziehbar. Die drei demokratischen deutschen Verfassungen der Bundesebene (Paulskirchenverfassung, Weimarer Reichsverfassung, Grundgesetz) haben die Versammlungsfreiheit gewährleistet und in § 161 Paulskirchenverfassung, Art. 123 WRV bzw. Art. 8 GG ausdrücklich formuliert, dass es keiner Anmeldung oder Genehmigung für die Zulässigkeit einer Versammlung bedürfe. Dies stellt eine Gemeinsamkeit der drei Verfassungen dar. Art. 123 II WRV hat zwar ausdrücklich zugelassen, eine Anmeldepflicht durch Reichsgesetz einzuführen. Denn der Aufruf des Rats der Volksbeauftragten vom 12.11.1918498 494
Siehe hierzu bereits oben A. III. 1. m.w.N. Siehe hierzu oben C. IV. 1. b). 496 BVerfGE 148, 267 (280) m.w.N. 497 Siehe hierzu bereits oben E. II. 3. b). 498 Hierzu B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 117 f. 495
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 407
hatte u.a. § 7 RVG499 von 1908 aufgehoben. Diese Bestimmung sah in ihrem ersten Absatz eine Genehmigungspflicht für Versammlungen und in ihrem zweiten Absatz ein Antragserfordernis mindestens 24 Stunden vor beabsichtigtem Versammlungsbeginn vor.500 Ein solches allgemeines Gesetz mit einer Anmeldepflicht wurde in der Weimarer Republik indes nicht erlassen.501 Jedoch gab es gerade in der Anfangszeit der Weimarer Republik Berufungen auf den Belagerungszustand, auf Notverordnungen oder ähnliche „Ausnahmerechte“.502 Mit den Notverordnungen von 1933, mit denen die Versammlungsfreiheit erst stark eingeschränkt und dann außer Kraft gesetzt wurde,503 endete die Versammlungsfreiheit zunächst. Dabei wurden in der Weimarer Republik zahlreiche Versammlungen verboten, sodass die Staats- und Verwaltungspraxis keineswegs so liberal war, wie es der bloße Verfassungstext vermuten lassen könnte. Das bundesdeutsche Versammlungsgesetz mit seinem Anmeldeerfordernis (schon damals § 14 I VersG) trat bereits im August 1953 in Kraft.504 Auch wenn Art. 8 II GG einen von Art. 123 II WRV abweichenden Wortlaut aufweist, lässt sich das Anmeldeerfordernis unter den Gesetzesvorbehalt subsumieren. Zwar wird damit ein Tatbestandsmerkmal für öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel vollständig eliminiert.505 Aber dies erscheint vor dem historischen Hintergrund einer teilweise rigiden Anmeldungspraxis als weniger starker Bruch. Während sich das Anmeldeerfordernis für öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel verfassungsrechtlich rechtfertigen lässt, gilt dies für Genehmigungsvorbehalte nicht. Diese lassen sich historisch den „undemokratischen“ Verfassungen zuordnen.506 Für den Schutz der Versammlung und den Ausgleich kollidierender Interessen durch die Versammlungsbehörde ist zwar die Kenntnis von der Versammlung und ihren Umständen, nicht aber ein Ge499 Vereinsgesetz (Reichsvereinsgesetz – RVG) v. 19.4.1908, RGBl. 151. Hierzu B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 116. 500 Vgl. Ehls, Protest und Propaganda, 1997, S. 27–32 sowie zu den Bemühungen, ein gesetzliches Anmeldeerfordernis zu erlassen, S. 36–40. 501 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl. 1933, Art. 123, S. 571 f., der aber auf Regelungen durch Notverordnungen gem. Art. 48 II WRV hinweist; Frowein, Versammlungsfreiheit und Versammlungsrecht, NJW 1969, 1081 (1081); B.J. Hartmann, in: Bonner Kommentar, GG, Losebl. (Stand: Juni 2018), Art. 8 Rn. 119. 502 Ehls, Protest und Propaganda, 1997, S. 26–32. 503 Siehe hierzu oben D. V., E. I., E. II. 3. b) cc). 504 Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) v. 24.7.1953, BGBl. I, 684. 505 Deshalb hält u.a. Höfling, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 8 Rn. 63 f. das Anmeldeerfordernis auch für verfassungswidrig; Frowein, Versammlungsfreiheit und Versammlungsrecht, NJW 1969, 1081 (1085 f.) sieht hierin sogar eine Antastung der Wesensgehaltsgarantie; Schwäble, Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, 1975, S. 202–207. Siehe auch Geis, Die „Eilversammlung“ als Bewährungsprobe verfassungskonformer Auslegung, NVwZ 1992, 1025 (1027–1030). 506 N. Ullrich, Das Demonstrationsrecht, 2015, S. 41–48.
408
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
nehmigungsvorbehalt erforderlich. Ein solcher ist auch in historischer Perspektive mit dem Wesensgehalt nicht vereinbar.507 In Südafrika besteht wegen der häufigen Eskalationen und Gewalttätigkeiten anlässlich von Versammlungen die Tendenz der lokalen Verwaltungsbehörden, Versammlungen zu verbieten oder auf sonstige Weise zu verhindern.508 Dies widerspricht der Verfassungsrechtslage. Wie aber die Mlungwana-Entscheidung509, mit der die Strafbarkeit der Veranstalter für die Nichtvornahme der Anmeldung abgeschafft wurde, zeigt, nimmt die Rechtslage zunehmend liberale Züge an. Auch wenn noch einige prädemokratische Relikte vornehmlich im einfachgesetzlichen RGA enthalten sind, ist die Rechtslage hinsichtlich der Strafbarkeit nicht angemeldeter Versammlungen dem deutschen Recht voraus. gg) Enger oder weiter Versammlungsbegriff Mit dem Begriff der Versammlung und ihren Voraussetzungen hat sich der Parlamentarische Rat nicht befasst. Deshalb fehlt es auch an Aussagen zu einem engen oder weiten Versammlungsbegriff. In der Literatur aus der Zeit vor 1933 wurde darauf hingewiesen, dass eine Ansammlung wie das Publikum im Konzertsaal oder im Theater keine Versammlung sei,510 was sich mit dem heutigen Verständnis deckt. Hieraus kann man schließen, dass auch die historische Auslegung Ansammlungen nicht schützen und damit auch nicht durch Art. 19 II GG i.V.m. Art. 8 GG erfassen will. Aber hiermit ist noch nicht die Frage des Versammlungsbegriffs entschieden. Unter Geltung der Weimarer Reichsverfassung wurde es als für die Versammlungsfreiheit charakteristisch und ausreichend angesehen, dass die Zusammenkunft der Entgegennahme von Meinungsäußerungen oder der Erörterung oder Beratung von privaten, öffentlichen oder politischen Angelegenheiten abzielt,511 sodass auch öffentliche Leichen- oder Hochzeitszüge unter die Versammlungsfreiheit fallen konnten.512 Reine Spaßveranstaltungen sollten jedoch nicht in den Schutzbereich
507
Eibenstein, Kein zweiter Shutdown von Art. 8 I GG, NVwZ 2020, 1811 (1813). Woolman, Freedom of Assembly, in: Woolman/Bishop (Hrsg.), Constitutional Law of South Africa, Bd. 3, 2. Aufl. (Stand: Februar 2005), Kap. 43, 43-7–43-17. 509 CC, 19.11.2018 – CCT/32/18 – Mlungwana and Others v. The State and Another, http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2018/45.html (Stand: 10.8.2023). 510 Waldecker, Vereins- und Versammlungsfreiheit, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 637 (644). 511 Delius, Artikel 123 und 124, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. II, 1930, S. 138 (143 f.); Waldecker, Vereins- und Versammlungsfreiheit, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 637 (644). 512 Waldecker, Vereins- und Versammlungsfreiheit, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 637 (644). 508
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 409
der Versammlungsfreiheit des Art. 123 WRV fallen.513 Das historische Verständnis spricht also eher für einen weiten Versammlungsbegriff, allerdings hat es im Widerstreit der Auslegungsmethoden nur geringe Kraft, insbesondere weil das BVerfG der historischen Auslegung eine geringe Bedeutung beimisst und speziell in dieser Frage eine so eindeutige Gegenposition bezieht. hh) Personenanzahl Auch mit der erforderlichen Personenanzahl, um von einer Versammlung sprechen zu können, hat sich der Parlamentarische Rat nicht beschäftigt. Zieht man die Rechtslage in der Weimarer Republik heran und unterstellt, dass dieses Verständnis für das Grundgesetz übernommen werden sollte, dann würde dies gegen einen Schutz von bloß zwei Personen als Versammlung sprechen. Die Literatur der Weimarer Republik verneinte eine Versammlung, wenn es sich um einen allzu kleinen Kreis von Beteiligten handelte.514 Damit ist jedenfalls die Eine-Person-Versammlung historisch ausgeschlossen. Als Beispiele für zu kleine Zusammenkünfte werden eine geschlossene Gesellschaft oder ein Tanzvergnügen genannt, aber hierfür wird keine konkrete Zahl angeführt.515 Jedoch wird darauf hingewiesen, dass die Rechtsprechung mal zwölf und mal acht Personen hat ausreichen lassen, sieben Personen wurden dagegen als zu wenige eingestuft.516 Der Wortlaut „allzu kleiner Kreis von Beteiligten“ lässt aber wohl Versammlungen aus nur zwei oder drei Personen nicht ausreichen. Indes ist die Auslegungslage erneut unklar und überdies nur von schwacher Durchsetzungskraft gegenüber z.B. der systematischen Auslegung. ii) Ort Schließlich lassen sich auch keine Ausführungen des Parlamentarischen Rats zu der Frage finden, an welchen Orten Versammlungen abgehalten werden dürfen, insbesondere ob auf dem Grund und Boden von Privatpersonen gegen deren Willen Versammlungen abgehalten werden dürfen. Gegen die zuletzt genannte Deutungsweise hat sich jedenfalls die Weimarer Staatsrechtslehre explizit gerichtet.517 Daraus lässt sich schlussfolgern, dass der für die Versamm513
Delius, Artikel 123 und 124, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. II, 1930, S. 138 (144). 514 Delius, Artikel 123 und 124, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. II, 1930, S. 138 (144); Waldecker, Vereins- und Versammlungsfreiheit, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 637 (644). 515 Waldecker, Vereins- und Versammlungsfreiheit, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 637 (644). 516 Nach Delius, Artikel 123 und 124, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. II, 1930, S. 138 (144 f). 517 Waldecker, Vereins- und Versammlungsfreiheit, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 637 (644).
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
lung gedachte Ort zwar nicht öffentlich und auch allgemein öffentlich zugänglich sein muss, aber private Orte nur im Einvernehmen mit dem Berechtigten zur Verfügung stehen. jj) Friedlichkeit und Waffenlosigkeit Die Nichtschädigung ist im Zusammenhang mit den Grundrechten seit der Französischen Revolution anerkannt und wurde insbesondere in Art. 4 und Art. 5 der Menschenrechtserklärung von 1789 zum Ausdruck gebracht.518 Spezifischer für das Versammlungsrecht und die deutsche Rechtslage haben auch § 161 Paulskirchenverfassung und Art. 123 I WRV die Versammlungsfreiheit auf friedliche und unbewaffnete Versammlungen beschränkt. Art. 29 I Preußische Verfassung 1850 kannte ebenfalls die Beschränkung der Versammlungsfreiheit auf friedliche und waffenlose Versammlungen, auch wenn weitergehend nur Versammlungen in geschlossenen Räumen geschützt wurden. Hierbei handelt es sich um eine lange verfassungsrechtliche Tradition. Auch Art. 17 FC begrenzt das südafrikanische Grundrecht der Versammlungsfreiheit auf friedliche und unbewaffnete Versammlungen. Hierbei dürfte es sich um einen internationalen Standard handeln.519 Da unfriedliche und „bewaffnete“ Versammlungen schon nicht dem Schutzbereich des Art. 8 I GG unterfallen, also nicht zum Grundrecht gehören, können sie erst recht nicht von der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II geschützt sein. Hierüber dürfte Einigkeit bestehen. Folgende Erwägung ließe sich aber noch anstellen: Je mehr eine Versammlung von ihrer Friedlichkeit verliert und Richtung Unfriedlichkeit tendiert, desto mehr wandert das fragliche Verhalten zum Rand des Schutzbereichs und aus dem von Art. 19 II GG geschützten Kernbereich. Umso weniger die Umwelt von einer Versammlung berührt oder gar beeinträchtigt wird, desto friedlicher ist sie und desto weniger sind staatliche Maßnahmen zulässig. Damit sind insbesondere nicht öffentliche Versammlungen und solche in geschlossenen Räumen besonders geschützt, was auch ihre erleichterte Zulässigkeit in der Restaurationszeit des 19. Jahrhunderts bestätigt. Es ließen sich innerhalb des Schutzbereichs im Hinblick auf Art. 19 II GG noch Abstufungen vornehmen. Allerdings schützt Art. 19 II GG die charakteristischen, nicht bloß die ungefährlicheren Merkmale des Grundrechts. Dies bedeutet, dass gerade die öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel, die klassischerweise mit Versammlungen verbunden werden, als Art. 8 GG prägend anzusehen sind. Sie sind nicht 518
Siehe hierzu bereits oben E. II. 1. b) ee). Davis, Assembly, in: Cheadle/Davis, South African Constitutional Law. The Bill of Rights, Kap. 12, 12–2. Dass in den USA Waffen auf Versammlungen zulässig sein können, vgl. Salát, The Right to Freedom of Assembly, 2015, S. 110, dürfte international die Ausnahme sein. 519
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 411
schwächer geschützt, sondern unterfallen mindestens in gleicher Weise der Wesensgehaltsgarantie. kk) Zwischenergebnis Nach der hier zugrunde gelegten Rechtsprechung ist die historische Auslegung in aller Regel nicht entscheidungserheblich. Für die vorliegenden Fragen ist sie auch in vielerlei Hinsicht unergiebig. So gibt sie keine hinreichend präzisen Auskünfte hinsichtlich der Zugehörigkeit des Rechtsschutzes, des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie der Anmelde- und Erlaubnisfreiheit zum Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit. Jedenfalls werden die bisherigen Ergebnisse in dieser Hinsicht auch nicht widerlegt. Die historische Interpretation bestätigt jedoch die bisher ermittelten Ergebnisse, dass zum Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit der Rechtscharakter mit dem Recht auf gemeinsame Zusammenkunft, die Staatsgerichtetheit und der Gesetzesvorbehalt gehören. Die Unfriedlichkeit im weiteren Sinne unterfällt eindeutig nicht dem Grundrechtsschutz des Art. 8 GG und damit auch nicht dessen Wesensgehalt. Ebenfalls nicht geschützt sind sehr kleine Versammlungen von unter acht Personen, Nichtdeutsche und die Inanspruchnahme fremder Grundstücke. Wegen der Schwäche der historischen Auslegung kann diese allein nicht die bisherigen Auslegungsergebnisse überspielen, aber Dissens zu den bisherigen Auslegungsergebnissen besteht ohnehin nur bei der Mindestteilnehmerzahl und den Anforderungen an den Versammlungszweck. Im Hinblick auf die Anforderungen an den Versammlungszweck hat das BVerfG jedoch in inzwischen langjähriger Rechtsprechung für den „engen“ Versammlungsbegriff klar Stellung bezogen. Damit gehört der weite Versammlungsbegriff nicht zum Schutzbereich des Art. 8 I GG und folglich auch nicht zu dessen Wesensgehalt. Offen ist somit nur noch die Frage nach der erforderlichen Mindestteilnehmerzahl und ob eine bestimmte Versammlungsgröße dem Wesensgehalt des Art. 19 II GG i.V.m. Art. 8 GG unterfällt.
4. Auslegung nach Sinn und Zweck Die Auslegung nach dem Sinn und dem Zweck einer Vorschrift, die teleologische Auslegung, fragt danach, was die Regelung bewirken soll. Die Vorschrift soll nach überkommenem Verständnis so interpretiert werden, dass sie ihren Zweck oder ihre Zwecke möglichst weitgehend entfaltet.520 Jedoch ist umstritten, auf wessen Zwecksetzung es hierbei ankommt: Entscheidet der historische Gesetzgeber (subjektive Teleologie) oder ist der Zweck hiervon losgelöst, 520
Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 332.
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
angeblich „objektiv“ zu bestimmen?521 Überwiegend wird in Deutschland von dem objektiven Verständnis ausgegangen.522 Unabhängig von diesem Streit muss beachtet werden, dass eine Vorschrift zumeist nicht ausdrücklich ihren Zweck offenbart, vielmehr muss auch dieser erst ermittelt werden. Hierfür sind wiederum Auslegungsmethoden heranzuziehen: „Die teleologische Interpretation ist kein selbständiges Element der Konkretisierung, da Gesichtspunkte von ,Sinn und Zweck‘ der zu deutenden Vorschrift nur insoweit heranzuziehen sind, als sie mit Hilfe der anderen Elemente belegt werden können. ‚Sinn und Zweck‘ ist, anders gesagt, keine Methode, sondern bereits ein Ergebnis.“523
Der Grundkonzeption der Arbeit entsprechend wird im Zweifelsfall – und sofern vorhanden – die Ansicht der Rechtsprechung, was Sinn und Zweck einer Vorschrift betrifft, als maßgebend zugrunde gelegt. a) Telos des Art. 19 II GG Darüber, was „Sinn und Zweck“ der Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit ist, dürfte – trotz der soeben dargelegten grundsätzlichen Schwierigkeiten, diese methodisch korrekt zu ermitteln – innerhalb der Literatur Einigkeit bestehen. Die Rechtsprechung hat sich hierzu hingegen nicht explizit geäußert. Art. 19 II GG soll das Leerlaufen der Grundrechte verhindern, indem er insbesondere eine Bindung des einfachen Gesetzgebers festlegt.524 Hierfür sprechen der Wortlaut, der in keinem Fall eine Antastung zulassen will, die systematische Stellung in Art. 19 GG am Ende des Grundrechtsabschnitts sowie die Entstehungs- und Dogmengeschichte (wenn man die Einrichtungsgarantien berücksichtigt). Sobald es mehr ins Detail geht, laufen jedoch die Meinungen auseinander. Dies betrifft die angesprochenen Aspekte der erfassten Grundrechtsbestimmungen und Grundrechtsberührungen,525 die Frage, ob le521 Hierzu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 328–333, für den dies auch eine Frage der historischen Auslegung ist; Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 5. Aufl. 2023, S. 157–174, insbes. 158–167; Sodan, Unabhängigkeit und Methodik von Verfassungsrechtsprechung, in: Sodan (Hrsg.), Wechsel und Kontinuität im Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, 2001, S. 21 (24). 522 Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 2 Rn. 10, dort auch zu Ausnahmen des BVerfG. 523 F. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, 11. Aufl. 2013, Rn. 364. So auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, Rn. 68; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 12. Aufl. 2022, Rn. 725–729; Sodan, Kollegiale Funktionsträger als Verfassungsproblem, 1987, S. 514 f.; Sodan, Unabhängigkeit und Methodik von Verfassungsrechtsprechung, in: Sodan (Hrsg.), Wechsel und Kontinuität im Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, 2001, S. 21 (24). 524 Allg. Ansicht, siehe oben ausführlich und m. zahlreichen w. N. unter D. 525 Siehe hierzu oben D. IV. 4. und D. IV. 5.
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 413
diglich die objektive Grundrechtsverbürgung oder auch die individuelle subjektive Rechtsposition erfasst ist,526 und den Streitpunkt des absoluten oder lediglich relativen Gehalts der Wesensgehaltsgarantie.527 Auch wenn hier keine einheitliche Linie oder auch in Teilen überhaupt keine Aussagen der Rechtsprechung vorliegen, wird an der bereits zuvor begründeten Auffassung festgehalten, denn dass Art. 8 GG von Art. 19 II GG erfasst wird, ist unstreitig. Gleiches gilt für die Erfassung zumindest der objektivrechtlichen Dimension der Grundrechte, um die es im Falle der demokratischen Dekonsolidierung geht. Somit ist allein die Frage des absoluten Gehalts streitig. Hierfür kann sich diese Arbeit zumindest auf einige bundesverfassungsgerichtliche Entscheidungen stützen,528 auch wenn die Summe der Entscheidungen kein klares Bild ergibt. b) Telos des Art. 8 GG Grundlegende Aussagen zur Funktion der Versammlungsfreiheit hat das BVerfG in seinem Brokdorf-Beschluss getätigt: „Als Abwehrrecht, das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugute kommt, gewährleistet Art. 8 GG den Grundrechtsträgern das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung und untersagt zugleich staatlichen Zwang, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fernzubleiben. Schon in diesem Sinne gebührt dem Grundrecht in einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang; das Recht, sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln, galt seit jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewußten Bürgers. In ihrer Geltung für politische Veranstaltungen verkörpert die Freiheitsgarantie aber zugleich eine Grundentscheidung, die in ihrer Bedeutung über den Schutz gegen staatliche Eingriffe in die ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung hinausreicht.“529
Hieraus ergeben sich sowohl eine individualschützende, der Persönlichkeitsentfaltung dienende (aa]) als auch eine demokratiefördernde Funktion (bb]),530 welche beide im Folgenden untersucht werden. Da das BVerfG der demokratischen Funktion der Versammlungsfreiheit besondere Bedeutung beimisst, z.B. bei dem Versammlungszweck, wird der demokratischen Funktion auch hier eine besondere Relevanz zugebilligt. Sie soll offene Zweifelsfra526
Siehe hierzu oben D. IV. 1. Siehe hierzu oben D. IV. 2–D. IV. 2. c). 528 BVerfGE 7, 377 (411); 8, 274 (328 f.); 34, 238 (245 f.); 80, 367 (373 f., 375); BVerfG(K), NJW 2002, 2164 (2165). Siehe hierzu ausführlich unter D. IV. 2.–D. IV. 2. C). 529 BVerfGE 69, 315 (343) – Hervorhebungen nicht im Original. 530 Siehe zu diesen beiden auch ideengeschichtlichen Strängen der Versammlungsfreiheit Sinder, Versammlungskörper. Zum Schutz von hybriden und online-Versammlungen unter dem Grundgesetz, in: Greve/Gwiasda et al. (Hrsg.), 60. ATÖR – Der digitalisierte Staat, 2020, S. 223 (230–239). 527
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
gen am Ende der Auslegungsergebnisse entscheiden, sofern dies methodisch zulässig ist. aa) Persönlichkeitsentfaltung Grundrechte sind subjektive Rechte „par excellence“.531 Sie dienen der Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen, welche sich möglichst unberührt von hoheitlichen Beeinträchtigungen vollziehen können soll. Der Einzelne ist prinzipiell frei, während der Staat sich für seine Beschränkungen der grundrechtlichen Freiheit rechtfertigen muss. (1) Recht. Den Rechtscharakter betreffend haben alle Auslegungsmethoden zu demselben klaren Ergebnis geführt, dass dieser dem Wesensgehalt des Art. 19 II GG i.V.m. Art. 8 GG unterfällt. Das geschützte Recht beinhaltet, mit anderen Personen an einem Ort gemeinsam zusammenzukommen. Dies entspricht auch der zitierten Passage des Brokdorf-Beschlusses. (2) Bindung des Staates. Auch die Bindung aller staatlichen Gewalt, insbesondere die Bindung des Gesetzgebers, unterfällt nach allen Auslegungsmethoden dem Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit.532 Demgegenüber ist die Bindung privater Dritter nicht von Art. 8 GG erfasst. Selbst wenn sie es inzwischen wäre, unterfiele sie jedenfalls noch nicht dem Wesensgehaltsschutz. (3) Mindestpersonenanzahl. Auch wenn Versammlungen einer verbreiteten Auffassung nach aus lediglich zwei Personen bestehen können und dann den Schutz des Art. 8 GG genießen, ist bislang unklar geblieben, ob Zwei-Personen-Versammlungen auch dem Wesensgehalt des Grundrechts unterfallen. Die Persönlichkeitsentfaltung alleine dürfte hier nicht ausschlaggebend sein, da sie auf die individuelle Person bezogen ist. Sie kann aber nicht entscheiden, wie der Versammlungsbegriff zu verstehen ist. Ob eine Versammlung vorliegt, unterfällt nicht dem Selbstverständnis der Teilnehmer. Wegen der Meinungsfreiheit ist das individuelle Selbstverständnis in Fragen der Selbstverwirklichung durch Meinungsäußerung auch anderweitig abgesichert. Deshalb soll die Frage der Mindestpersonenanzahl sogleich anhand der demokratischen Funktionen entschieden werden. (4) Enger oder weiter Versammlungsbegriff. Das BVerfG vertritt einen engen Versammlungsbegriff, wonach nur solche Versammlungen dem Schutz des Art. 8 GG unterfallen, die auf Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung 531
Sodan, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 42 Rn. 392. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 42 f., 45. 532
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 415
gerichtet sind. Da das Recht auf Zusammenkunft vom Wesensgehalt geschützt ist, bedeutet dies, dass die Einwirkung auf die öffentliche Willensbildung sowie die Teilhabe hieran von Art. 19 II GG erfasst sind, denn dies ist der Zweck der räumlichen Zusammenkunft. Private Zwecke genügen für Art. 8 GG nicht. Demnach unterfällt ein weiterer Versammlungsbegriff erst recht nicht der Wesensgehaltsgarantie. (5) Deutschengrundrecht. Da der Wesensgehalt nicht weiter als das Grundrecht selbst reichen kann, ist Art. 8 GG ein Recht, welches nur Deutschen i.S.d. Art. 116 GG zusteht. Auch dies haben die Auslegungsmethoden einstimmig ergeben. Die Frage der Grundrechtsberechtigung von EU-Ausländern ist zwar komplexer. Aber jedenfalls derzeit kann noch nicht davon ausgegangen werden, dass von Art. 19 II GG i.V.m. dem Deutschengrundrecht des Art. 8 I GG die Versammlungsfreiheit von EU-Ausländern erfasst wird. Der teleologische Aspekt der Persönlichkeitsentfaltung kann dieses klare Auslegungsergebnis nicht zugunsten von Nichtdeutschen überspielen, zumal diese sich auf Art. 2 I GG berufen können. (6) Versammlungsorte. Die Rechtsprechung des BVerfG entwickelt sich dahin, dass der Versammlungsfreiheit auch horizontale Wirkung zugesprochen wird, d.h., dass sie auch privaten Dritten im Sinne einer gesteigerten mittelbaren Drittwirkung entgegengehalten werden kann. Allerdings befindet sich diese (Kammer-)Rechtsprechung erst im Anfangsstadium und wird zudem kontrovers diskutiert. Somit bleibt es dabei, dass zum Wesensgehalt im Moment lediglich die Staatsgerichtetheit gehört. Öffentliche Orte, die der Öffentlichkeit auch tatsächlich zugänglich sind, gehören zum Wesensgehalt, nicht hingegen solche öffentlichen Orte, die aufgrund ihrer Zweckbestimmung keine Versammlungsorte sind. (7) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Der Gedanke, dass Grundrechte nur in verhältnismäßiger Weise eingeschränkt werden dürfen, entspricht der ständigen Rechtsprechung des BVerfG. Jedoch lässt sich das Verhältnismäßigkeitsprinzip nur aus der Systematik entwickeln, Wortlaut und Historie sind unergiebig. Allerdings ist das Ergebnis der systematischen Auslegung stark. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dient auch der Persönlichkeitsentfaltung, indem er – so weit wie möglich – die Versammlungsfreiheit der Einzelnen zum Tragen kommen lässt. Schließlich spricht der internationale Vergleich für die Annahme, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip zum Wesensgehalt des Art. 8 GG gehört. Sowohl der EGMR als auch der EuGH nehmen in Grundrechtsfragen Verhältnismäßigkeitsprüfungen vor. Schließlich hat das südafrikanische Recht auch die deutschen Grundrechtslehren aufgegriffen und sich für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung in Art. 36(1) FC entschieden. Dies ist ein uni-
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
verselles Prinzip liberaler Demokratien, um Grundrechtskonflikte oder Konflikte zwischen Staat und Grundrechtsträger aufzulösen. Alles dies spricht dafür, dass die lediglich verhältnismäßige Beschränkung der Versammlungsfreiheit charakteristisch und typisch für dieses Grundrecht ist. Somit ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip – in Übereinstimmung mit Stellungnahmen aus der Literatur – Teil des Wesensgehalts von Art. 8 GG i.V.m. Art. 19 II GG. bb) Demokratische Funktionen Das BVerfG hat im Brokdorf-Beschluss Stellung zu den Funktionen der Versammlungsfreiheit bezogen und dabei angenommen, dass ihr verschiedene Funktionen zukommen. Das Gericht führt zur Bedeutung von Versammlungen in der Demokratie des Grundgesetzes aus: „Die grundsätzliche Bedeutung der Versammlungsfreiheit wird insbesondere erkennbar, wenn die Eigenart des Willensbildungsprozesses im demokratischen Gemeinwesen berücksichtigt wird. Über die freiheitliche demokratische Ordnung heißt es im KPDUrteil, sie gehe davon aus, daß die bestehenden, historisch gewordenen staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse verbesserungsfähig und -bedürftig seien; damit werde eine nie endende Aufgabe gestellt, die durch stets erneute Willensentscheidung gelöst werden müsse (BVerfGE 5, 85 [197]). Der Weg zur Bildung dieser Willensentscheidungen wird als ein Prozeß von ‚trial and error‘ beschrieben, der durch ständige geistige Auseinandersetzung, gegenseitige Kontrolle und Kritik die beste Gewähr für eine (relativ) richtige politische Linie als Resultante und Ausgleich zwischen den im Staat wirksamen politischen Kräften gebe (a.a.O. [135]; vgl. auch BVerfGE 12, 113 [125]). An diese Erwägungen knüpft das spätere Urteil zur Parteienfinanzierung an und betont, in einer Demokratie müsse die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen und nicht umgekehrt verlaufen; das Recht des Bürgers auf Teilhabe an der politischen Willensbildung äußere sich nicht nur in der Stimmabgabe bei Wahlen, sondern auch in der Einflußnahme auf den ständigen Prozeß der politischen Meinungsbildung, die sich in einem demokratischen Staatswesen frei, offen, unreglementiert und grundsätzlich ‚staatsfrei‘ vollziehen müsse (BVerfGE 20, 56 [98 f.]). An diesem Prozeß sind die Bürger in unterschiedlichem Maße beteiligt. Große Verbände, finanzstarke Geldgeber oder Massenmedien können beträchtliche Einflüsse ausüben, während sich der Staatsbürger eher als ohnmächtig erlebt. In einer Gesellschaft, in welcher der direkte Zugang zu den Medien und die Chance, sich durch sie zu äußern, auf wenige beschränkt ist, verbleibt dem Einzelnen neben seiner organisierten Mitwirkung in Parteien und Verbänden im allgemeinen nur eine kollektive Einflußnahme durch Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit für Demonstrationen. Die ungehinderte Ausübung des Freiheitsrechts wirkt nicht nur dem Bewußtsein politischer Ohnmacht und gefährlichen Tendenzen zur Staatsverdrossenheit entgegen. Sie liegt letztlich auch deshalb im wohlverstandenen Gemeinwohlinteresse, weil sich im Kräfteparallelogramm der politischen Willensbildung im allgemeinen erst dann eine relativ richtige Resultante herausbilden kann, wenn alle Vektoren einigermaßen kräftig entwickelt sind. Nach alledem werden Versammlungen in der Literatur zutreffend als wesentliches Element demokratischer Offenheit bezeichnet: ,Sie bieten … die Möglichkeit zur öf-
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 417
fentlichen Einflußnahme auf den politischen Prozeß, zur Entwicklung pluralistischer Initiativen und Alternativen oder auch zu Kritik und Protest …; sie enthalten ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren‘ (Hesse, a.a.O., S. 157; übereinstimmend Blumenwitz, a.a.O., [132 f.]). Namentlich in Demokratien mit parlamentarischem Repräsentativsystem und geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten hat die Versammlungsfreiheit die Bedeutung eines grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselementes. Hier gilt – selbst bei Entscheidungen mit schwerwiegenden, nach einem Machtwechsel nicht einfach umkehrbaren Folgen für jedermann – grundsätzlich das Mehrheitsprinzip. Andererseits ist hier der Einfluß selbst der Wählermehrheit zwischen den Wahlen recht begrenzt; die Staatsgewalt wird durch besondere Organe ausgeübt und durch einen überlegenen bürokratischen Apparat verwaltet. Schon generell gewinnen die von diesen Organen auf der Grundlage des Mehrheitsprinzips getroffenen Entscheidungen an Legitimation, je effektiver Minderheitenschutz gewährleistet ist; die Akzeptanz dieser Entscheidungen wird davon beeinflußt, ob zuvor die Minderheit auf die Meinungs- und Willensbildung hinreichend Einfluß nehmen konnte (vgl. BVerfGE 5, 85 [198 f.]). Demonstrativer Protest kann insbesondere notwendig werden, wenn die Repräsentativorgane mögliche Mißstände und Fehlentwicklungen nicht oder nicht rechtzeitig erkennen oder aus Rücksichtnahme auf andere Interessen hinnehmen (vgl. auch BVerfGE 28, 191 [202]). In der Literatur wird die stabilisierende Funktion der Versammlungsfreiheit für das repräsentative System zutreffend dahin beschrieben, sie gestatte Unzufriedenen, Unmut und Kritik öffentlich vorzubringen und abzuarbeiten, und fungiere als notwendige Bedingung eines politischen Frühwarnsystems, das Störpotentiale anzeige, Integrationsdefizite sichtbar und damit auch Kurskorrekturen der offiziellen Politik möglich mache (Blanke/Sterzel, a.a.O. [69]).“533
Diese Aussagen erlauben, eine Plebiszit-, Publikations-, Minderheitenschutz-, Warn- und Stabilisierungsfunktion auszumachen.534 Diese Funktionen schließen sich weder gegenseitig aus, noch sind sie immer trennscharf voneinander abzugrenzen: So kann eine Minderheit (Minderheitenschutzfunktion) ihr Anliegen auf die Straße tragen (Publikations- und Plebiszitfunktionen) und vor Missständen warnen (Warnfunktion). Regelmäßig werden somit verschiedene Funktionen gemeinsam gegeben sein. In der Literatur wird darüber hinausgehend auch zusätzlich noch von einer Konsensfunktion535 gesprochen. Da diese 533
BVerfGE 69, 315 (345–347). Schaefer, Grundlegung einer ordoliberalen Verfassungstheorie, 2007, S. 63–66; N. Ullrich, Das Demonstrationsrecht, 2015, S. 92–94. So auch Peters/Ley, Freedom of Assembly: The Politics of Presence, in: Peters/Ley (Hrsg.), The Freedom of Peaceful Assembly in Europe, 2016, S. 9 (12). Diese Sichtweise dürfte auch der südafrikanischen Verfassungslage entsprechen, Omar, A legal analysis in context: The Regulation of Gatherings Act – a hindrance to the right to protest?, South African Crime Quarterly 62 (2017), 21 (23 f.); Woolman, Freedom of Assembly, in: Woolman/Bishop (Hrsg.), Constitutional Law of South Africa, Bd. 3, 2. Aufl. (Stand: Februar 2005), Kap. 43, 43-1–43-4. 535 So Schaefer, Grundlegung einer ordoliberalen Verfassungstheorie, 2007, S. 65. Ablehnend N. Ullrich, Das Demonstrationsrecht, 2015, S. 92 mit Fn. 375. 534
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
Funktion nicht allgemein anerkannt ist, wird auf diese weitere Funktion nicht separat eingegangen. Offengeblieben ist allein die Frage, ob eine lediglich aus zwei Personen bestehende Versammlung schon dem Schutz des Art. 19 II GG unterfällt. Dem soll nun abschließend nachgegangen werden. (1) Plebiszitfunktion. Schon vor Erlass des Brokdorf-Beschlusses nannte Fritz Ossenbühl Versammlungen „punktuelle Plebiszite“.536 Die Plebiszitfunktion knüpft an „das Recht des Bürgers auf Teilhabe an der politischen Willensbildung“537 an. Diese Funktion bringt zum Ausdruck, dass sich die Teilhabe an der politischen Willensbildung nicht im Akt der Stimmabgabe bei Wahlen alle vier Jahre (Bundesebene) erschöpft. Vielmehr bringen die Bürgerinnen und Bürger ihre politischen Präferenzen auch zwischen den Wahlterminen zum Ausdruck, die Staatsorgane nehmen diese Willensäußerungen zur Kenntnis und berücksichtigen sie ggf. bei ihren politischen Entscheidungen. Auf diese Weise wird auch bei Fehlen direktdemokratischer Elemente sichergestellt, dass sich die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen vollzieht und nicht umgekehrt. Dies unterstreicht zusätzlich die Notwendigkeit der bereits ermittelten staatlichen Neutralität und des Selbstbestimmungsrechts der Bürger. Fraglich ist, ob sich hieraus Ableitungen in Bezug auf den offenen Punkt „Personenanzahl“ vornehmen lassen. Seine politischen Präferenzen kann man unabhängig davon zum Ausdruck bringen, wie viele andere sie teilen. Zwar gibt es keine Eine-Person-Versammlung, aber sobald zwei Personen zusammenkommen, kann dem Wortlaut nach eine Zusammenkunft erfolgen. Während der Einzelne sich auf den Schutz des Art. 5 I 1 Var. 1 GG berufen kann, bedarf es für Personenmehrheiten des zusätzlichen Schutzes des Art. 8 GG. Für das „punktuelle Plebiszit“ muss die Personenanzahl aber gleichgültig sein, und es ist vor dem Hintergrund des Plebiszitskriteriums nicht zu rechtfertigen, eine Zahl wie etwa mindestens drei oder sieben Personen als Voraussetzung für den Versammlungsschutz heranzuziehen. Für eine Versammlung ist das Beziehen eines gemeinsamen Standpunkts bereits ab zwei Personen prägend. (2) Publikationsfunktion. Die Publikationsfunktion besagt, dass die Bürgerinnen und Bürger über Versammlungen Einfluss auf das politische Geschehen ausüben können, auch wenn sie nicht über besondere Finanzmittel, eine besondere Nähe zu den Staatsorganen oder mediale Einflussmöglichkeiten verfügen. Versammlungen können diesen Ressourcenmangel zumindest vermin536 Ossenbühl, Versammlungsfreiheit und Spontandemonstration, Der Staat 10 (1971), 53 (54, 64). 537 BVerfGE 69, 315 (346).
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 419
dern. Zweifelhaft ist jedoch, ob dies in dieser Dringlichkeit noch zutrifft, denn über das Internet kann beispielsweise die Mittlerfunktion der traditionellen Medien umgangen werden. Über vermeintlich „soziale“ Netzwerke kann ein großes Publikum ohne großen technischen Aufwand und ohne besondere Kosten erreicht werden. Allerdings herrscht auch hier Konkurrenz um Aufmerksamkeit, und es fällt leichter, mit besonders ansprechend gestalteten Inhalten, welche wiederum Ressourcen technischer, zeitlicher und gestalterischer Art erfordern, zu mobilisieren. Für eine Versammlung bedarf es aber nicht einmal eines Kanals mit Followern, und zumindest über große Versammlungen wird von den klassischen ebenso wie von den neueren Medien berichtet.538 Deshalb dürften die Erwägungen des BVerfG zur Publikationsfunktion der Versammlungsfreiheit zumindest in gewissem Umfang weiterhin zutreffen. Im Zusammenhang mit Protesten in den USA wird von Aktivisten darüber berichtet, dass Bürger zwar das Gefühl haben, dass das politische System sich nicht besonders für ihre Nöte interessiere, dass aber mit Versammlungen die gewünschte Aufmerksamkeit erreicht und Debatten angefacht, intensiviert oder in andere Richtungen gelenkt werden können.539 Die Möglichkeit des Zusammenkommens im öffentlichen Raum und des Erörterns öffentlicher Angelegenheiten ist deshalb zwingend erforderlich. Standpunkte sind unabhängig von der Anzahl ihrer Unterstützer geschützt, zumal Ideen im Laufe der Zeit unterschiedlich populär sein können. Deshalb müssen Positionen, die kaum auf Zustimmung stoßen, dennoch geschützt werden. Nach dem Demokratieprinzip muss die Minderheit zur Mehrheit werden können. Dies spricht dafür, dass, sobald eine Versammlung vorliegt (ab zwei Personen), auch sie den vollen Schutz der Wesensgehaltsgarantie genießt. (3) Minderheitenschutz. In dem auf Stabilität angelegten Regierungssystem der Bundesrepublik ohne direktdemokratische Elemente kann es für die bei den Bundestagswahlen unterlegene Minderheit schwierig sein, ihre Anliegen bis zur nächsten Bundestagswahl effektiv einzubringen. Mittels Versammlungen kann zumindest auf die öffentliche Willensbildung eingewirkt und der Versuch der Beeinflussung der Staatsorgane unternommen werden, selbst wenn das verfolgte Petitum ein Anliegen bloß einer Minderheit ist. Da sich jede beliebige Minderheit in den Prozess mit ihren Argumenten einbringen und sich geistig mit der verfolgten Politik auseinandersetzen kann, werden Minderheiten mit ihren Einwirkungsmöglichkeiten geschützt.540 Dementspre538 Brüning, Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit in der „streitbaren Demokratie“, Der Staat 41 (2002), 213 (215). 539 Ruggiero, Editor’s Note, in: Chomsky, Occupy, 2012, S. 9 (9, 14 f.); Chomsky, Interoccupy, in: Chomsky, Occupy, 2012, S. 69 (69 f.). 540 So auch Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. IV, 2011, § 106 Rn. 17.
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
chend nennt Fritz Ossenbühl die Geschichte der Versammlungsfreiheit auch eine „Geschichte oppositioneller politischer Minderheiten“, „die Geschichte des Nonkonformismus“.541 Je kleiner eine Minderheit ist, desto schutzbedürftiger dürfte sie in aller Regel sein. Das Recht, in der Öffentlichkeit sichtbar sein zu dürfen und auf politische Alternativen oder die Betroffenheit der Minderheit hinzuweisen, sollte unabhängig von der zahlenmäßigen Größe der Minderheit sein. Dies spricht dafür, eine Versammlung bereits ab zwei Personen anzunehmen und diese auch dem Schutz der Wesensgehaltsgarantie zu unterstellen. (4) Warnfunktion. Versammlungen können insbesondere dann erforderlich werden, „wenn die Repräsentativorgane mögliche Mißstände und Fehlentwicklungen nicht oder nicht rechtzeitig erkennen oder aus Rücksichtnahme auf andere Interessen hinnehmen“.542 Versammlungen können auf solche Mängel hinweisen und eine Debatte hierüber anstoßen. Nach dem BVerfG erfüllen Versammlungen damit die Funktion eines „politischen Frühwarnsystems“.543 Anders als die bisherigen Funktionen scheint die Warnfunktion nicht für eine Mindestpersonenanzahl von bereits zwei Personen zu streiten. Denn wenn nur zwei Personen betroffen sind, scheint das Problem nicht so groß zu sein. Allerdings verkennt eine solche Betrachtung, dass das Interesse der Bevölkerung nicht mit der Größe oder Dringlichkeit eines Problems gleichgesetzt werden kann. Die Fridays-for-Future-Bewegung begann beispielsweise mit dem „Schulstreik“ nur einer einzigen Schülerin, ohne dass man sagen könnte, dass der Klimawandel ein kleines oder nicht dringliches Problem sei. Versammlungen sind also unabhängig von der Relevanz des Themas geschützt. Sähe man dies anders, könnte mittelbar über die Größe der Inhalt der Versammlung staatlicherseits bewertet werden und für wichtiger oder weniger wichtig genommen werden. Dies widerspräche der Warnfunktion und auch der staatlichen Neutralität. Teilweise wollen Versammlungen erst auf neue, bislang unbekannte Gefahren oder Fehlentwicklungen aufmerksam machen. Naturgemäß stoßen diese zunächst auf geringeres Interesse und haben deshalb weniger Teilnehmer. Dies ist jedoch ebenfalls kein zulässiger Differenzierungsgrund für den Grundrechtsschutz. Deshalb sind auch nach dieser Funktion zwei Personen als vom Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit geschützt anzusehen. (5) Stabilisierungsfunktion. Diktatorische Regierungen wie die kommunistischen Regime des früheren Ostblocks oder des heutigen China nutzen Mas541
Ossenbühl, Versammlungsfreiheit und Spontandemonstration, Der Staat 10 (1971), 53
(56). 542 543
BVerfGE 69, 315 (347). BVerfGE 69, 315 (347).
II. Auslegung nach den klassischen Auslegungsmethoden und Rechtsvergleichung 421
senzusammenkünfte und Aufmärsche zu Propagandazwecken und zur Stabilisierung ihrer Herrschaft.544 Dies ist nicht, was hier mit Stabilisierungsfunktion gemeint ist. Die Stabilisierungsfunktion wird in einem demokratischen Staat vielmehr dadurch bewirkt, dass Kritik, Unmut und Ablehnung öffentlich zum Ausdruck gebracht werden können. Gegenpositionen können aufgebaut werden und ggf. eine Kurskorrektur ermöglichen.545 Da es legale und legitime Möglichkeiten des Protestes gibt, erfolgt keine Abdrängung in die Illegalität, und eine Befürwortung des politischen Systems insgesamt (wenn auch nicht der bekämpften Positionen) erscheint möglich. Dies spricht dafür, auch kleine Minderheiten als geschützt anzusehen, damit diese sich einbringen können, auch wenn sie bei der geistigen Auseinandersetzung keine weiteren Anhänger gewinnen.
5. Zwischenergebnis Als Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit i.S.d. Art. 19 II i.V.m. Art. 8 GG wurden somit im Ergebnis ermittelt – Charakter als verbindliches Recht, – Bindung aller Hoheitsgewalten einschließlich der Gesetzgebung, – Gesetzesvorbehalt für Eingriffe, Einschränkungen, Beeinträchtigungen etc., – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Eingriffen etc., – Rechtsschutzmöglichkeit im Falle von (vermeintlichen) Rechtsverletzungen, – Schutz der räumlichen Zusammenkunft (an einem realen Ort) zur Einwirkung auf die öffentliche Meinungsbildung einschließlich der Vorbereitung und Anreise (auch Abwesenheit von pauschalen und flächendeckenden Versammlungsverboten), – Zusammenkunft von bereits zwei Personen, – Selbstbestimmung über Versammlungsthema, Ort, Zeit und sonstige Modalitäten, insbesondere Nähe zu einem Ort mit Bezug zum Versammlungsthema („sight and sound“), – staatliche Neutralität, – Genehmigungfreiheit, – auch negative Versammlungsfreiheit.
544 Hierzu Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. IV, 2011, § 106 Rn. 1. 545 BVerfGE 69, 315 (347); Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. IV, 2011, § 106 Rn. 2. Siehe hierzu M. Hartmann, Protestcamps als Versammlungen iSv Art. 8 I Grundgesetz?, NVwZ 2018, 200 (204–206).
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
Nicht vom Wesensgehalt geschützt werden hingegen – Eine-Person-Versammlungen, – Onlineversammlungen, – Nichtdeutsche als Grundrechtsträger, – die Bindung privater Dritter, insbesondere die Inanspruchnahme fremden Eigentums ohne oder gegen den Willen der Berechtigten, – der weite Versammlungsbegriff, – Unfriedlichkeit und Waffentragen.
III. Verfassungsprozedurale und rechtswissenschaftliche Umsetzungen Da die Rechtsfolge einer Antastung der Wesensgehaltsgarantie die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Maßnahme und der Gesetzgeber der primäre Adressat des Art. 19 II GG ist, wird in erster Linie das BVerfG zur gerichtlichen Entscheidung über die Antastung des Wesensgehalts eines Grundrechts berufen sein (vgl. Art. 100 I GG). Allerdings wurde bereits betont, dass die Sanktionsfunktion des Art. 19 II GG als Folge einer gerichtlichen Entscheidung nicht im Vordergrund der Wesensgehaltsgarantie stehen muss. Vielmehr entfaltet die Warn-, Signal- bzw. Appellfunktion der Wesensgehaltsgarantie eine Wirkung im Vorfeld, die idealiter Antastungen der Wesensgehaltsgarantie entgegenwirkt und gerichtliche Entscheidungen hierüber obsolet macht. Aus diesem Grund ist nicht nur die Rechtspraxis, sondern auch die Rechtswissenschaft zur Befassung mit der Wesensgehaltsgarantie und der demokratischen Dekonsolidierung berufen. Beide Ansätze (Sanktions- und Warnfunktion) haben jedoch gemeinsam, dass der Inhalt des Rechts, hier also der Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit, ermittelt und bekannt sein muss. Ohne das Recht zu kennen, kann auch ein Rechtsverstoß weder festgestellt noch warnend oder appellativ verhindert werden. Im Folgenden wird analysiert, wie das BVerfG im Verfassungsprozess mit der Wesensgehaltsgarantie umgehen (1.) und welchen Beitrag die Rechtswissenschaft leisten kann (2.).
1. Verfassungsprozessuale Umsetzung Die Wesensgehaltsgarantie ist bereits an sich eine vernachlässigte Vorschrift. Schrifttum und Rechtspraxis befassen sich noch weniger mit der Frage, wie eine Antastung der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG verfassungsprozessual geltend zu machen ist. Zwar wird die Rechtsfolge einer Antastung, die Nichtigkeit, angegeben. Aber diese Aussage bezieht sich auf einen Einzelakt.
III. Verfassungsprozedurale und rechtswissenschaftliche Umsetzungen
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Erörterungen, wie mit Kumulationen zu verfahren ist, fehlen fast gänzlich.546 Auch hier wird deutlich, dass die Befassung mit Kumulationen noch nicht in dem Maße fortgeschritten ist, dass es praktikable und zugleich konsentierte Lösungsansätze gibt. Im Folgenden wird in einem ersten Schritt untersucht, wie das BVerfG sein Verständnis des Wesensgehalts eines Grundrechts, insbesondere der Versammlungsfreiheit, ermitteln (a]) und verfassungsprozessual aktivieren (b]) kann. Im Anschluss daran wird auf den schwierigeren Fall der Anwendung dieses Verständnisses gerade auf Kumulationen von Grundrechtseingriffen eingegangen (c]) und d]). Die Kumulationserfassung wird besonders dann relevant, wenn die Einzelmaßnahmen, isoliert betrachtet, verfassungsmäßig sind und nicht über die Überprüfung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit erfasst werden können. Hierfür wird auch auf die Verfahrensarten eingegangen, bei denen sich die Frage der Antastung des Wesensgehalts stellen kann. Möglicherweise kann die Besonderheit einer Verfahrensart den Umgang mit der Wesensgehaltsgarantie beeinflussen. Beispielsweise ergeht im Falle eines Organstreitverfahrens i.S.d. Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG lediglich ein Feststellungsurteil,547 eine bestimmte Maßnahme kann aber grundsätzlich548 nicht aufgehoben oder für nichtig erklärt werden, ebenso kann der Antragsgegner nicht zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet werden.549 a) Methoden und Strategien bei der Ermittlung des Wesensgehalts Üblicherweise stellt das BVerfG in seinen Entscheidungen zunächst die etablierten Entscheidungsmaßstäbe vor, bevor es die Anwendung auf den konkreten Fall vornimmt. Dieser Teil wird oft unter der Gliederungsebene „C. I.“ geführt.550 Bei neuen Fragen werden diese Entscheidungsmaßstäbe erstmalig ermittelt bzw. mitgeteilt.551 Das BVerfG könnte diese Maßstäbe auch für Art. 19 II GG formulieren. Dies gilt ebenfalls dann, wenn es im Ergebnis keine Antastung der Wesensgehaltsgarantie annimmt. Dass dies geschehen wird, ist jedoch unwahrscheinlich, denn diese Möglichkeit ist nicht nur seit 546 Dieser Abschnitt beruht auf und vertieft Erwägungen, die teilweise formuliert wurden bei Schaks, Das Verbot der Belastungskumulation als Bestandteil der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, DÖV 2015, 817 ff.; Schaks, Schutz des Wesensgehalts der Grundrechte, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. III, 2. Aufl. 2022, § 88 Rn. 83–88. 547 BVerfGE 20, 119 (129); 141, 182 (186); Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2020, Rn. 1091; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 1991, § 7 Rn. 44. 548 Zu einer Ausnahme siehe BVerfGE 112, 118 (147 f.). 549 BVerfGE 136, 277 (301) m.w.N.; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2020, Rn. 1091; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 1991, § 7 Rn. 44. 550 Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (170). 551 Siehe im Hinblick auf Art. 8 GG z.B. BVerfGE 69, 315 (342–349).
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
Langem bekannt, sie wurde auch von der Literatur zu Art. 19 II GG, welche die fehlende Auseinandersetzung mit der Wesensgehaltsgarantie beklagt, oft genug angemahnt. Selbst wenn das BVerfG eine Vorfestlegung durch die Formulierung der Maßstäbe in einem Fall, in dem dies nicht entscheidungserheblich ist, scheut, worauf die bisherige Praxis hindeutet, kann es immerhin einzelne Elemente seines Verständnisses offenbaren. Dieses Verständnis kann dann etappenweise konkretisiert werden. So können Aussagen dazu getroffen werden, ob gravierende staatliche Grundrechtsbeeinträchtigungen, die Folge eigener freien Entscheidung des Grundrechtsträgers sind, eine Wesensgehaltsantastung ausschließen oder nicht. Das bekannteste Beispiel aus der deutschen Grundrechtsdogmatik ist die Frage des polizeilichen Rettungsschusses, um das Leben einer Geisel zu retten.552 Im Unionsrecht wurde dies bei dem Verlust der Unionsbürgerschaft diskutiert.553 Auch wenn der Geiselnehmer nicht auf sein Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verzichten will und wohl rechtlich auch gar nicht kann, also kein Grundrechtsverzicht vorliegt,554 hätte er die Möglichkeit, die Bedrohung der Geisel zu beenden und damit auch der eigenen Lebensgefahr auszuweichen. Das BVerfG hätte in einem entsprechenden Fall die Möglichkeit, zu diesem oder anderen Teilaspekten der Wesensgehaltsgarantie in dem einen oder anderen Sinne Stellung zu beziehen. Das BVerfG könnte auch eine sog. Appellentscheidung treffen, d.h. ein Gesetz zwar für verfassungsgemäß erklären, aber zugleich die absehbare Nähe zur Verfassungswidrigkeit betonen.555 Eine weitere Möglichkeit liegt darin, sich am EuGH556 zu orientieren und kurz und apodiktisch festzustellen, dass eine Wesensgehaltsantastung vorliegt557 oder nicht558. Wie bereits oben bei der Inhaltsermittlung dargelegt, kann auch hier positiv oder negativ formuliert werden. Folglich kann festgestellt werden, ob etwas zum Wesensgehalt gehört oder nicht, wie die beiden soeben zitierten Entscheidungen aus dem Bereich des Datenschutzes zeigen. Beide Aussagen helfen anderen Gerichten und der Literatur, den Wesensgehalt eines Grundrechts genauer zu konturieren. Das situative und apodiktische 552
Siehe hierzu bereits oben D. IV. 2. a). Siehe hierzu bereits oben D. IV. 2. c). 554 Diese Diskussion wird v.a. strafrechtlich geführt im Rahmen der Tötung auf Verlangen gem. § 216 StGB, siehe hierzu auch Kubiciel, Tötung auf Verlangen und assistierter Suizid als selbstbestimmtes Sterben?, JZ 2009, 600 ff.; H. Schneider, in: MüKo StGB, Bd. IV, 4. Aufl. 2021, § 216 Rn. 2–8. 555 Ein Beispiel ist BVerfGE 54, 11 ff. Siehe zu dieser Frage insgesamt Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 51. 556 Siehe hierzu oben D. III. 2. a). 557 EuGH, Urt. v. 6.10.2015 – C-362/14, ECLI:EU:C:2015:650 Rn. 94 f. – Schrems. 558 EuGH, Urt. v. 8.4.2014 – C-293/12 und C-594/12, ECLI:EU:C:2014:238 Rn. 39 – Digital Rights Ireland. 553
III. Verfassungsprozedurale und rechtswissenschaftliche Umsetzungen
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Vorgehen des EuGH hat den Nachteil, weniger dogmatisch und möglicherweise weniger konsistent zu sein. Überdies sind nur knappe Begründungen oder bloße Behauptungen weniger aussagekräftig. Jedoch ist diese Herangehensweise flexibel und erlaubt es rasch, bestimmte Akzente zu setzen. Schließlich ist – angesichts der kaum vorhandenen Rechtsprechung – jegliche Stellungnahme des BVerfG wünschenswert und sei sie noch so knapp. Eine eher vermittelnde Position zwischen diesen beiden zuvor geschilderten Ansätzen könnte in der Instrumentalisierung der Verhältnismäßigkeitsprüfung liegen. Diese wird ohnehin in den meisten Fällen mit Grundrechtsbezug durchgeführt. Da im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung auf Intensität und Ausmaß einer Grundrechtsbeeinträchtigung einzugehen ist,559 kann expliziter auf diese Aspekte eingegangen und wenigstens eine Nähe zum Wesensgehalt eines Grundrechts festgestellt oder abgelehnt werden. Eine Vorfestlegung wird vermieden, aber immerhin wird eine Kriteriengewichtung vorgenommen, auf welche ggf. zurückgegriffen werden kann. Ein Beispiel hierfür ist die Drei-Stufen-Theorie im Rahmen des Art. 12 I GG, die zwischen Berufsausübungs- und subjektiven sowie objektiven Berufswahlregelungen unterscheidet560 und die von der Literatur schon als Vorbild für die Wesensgehaltsgarantie identifiziert wurde.561 Hierbei kann das BVerfG auch ein obiter dictum einsetzen. Wolf-Rüdiger Schenke hat in seiner Anmerkung zum Brokdorf-Beschluss zwar den großzügigen Umgang mit obiter dicta in dieser Entscheidung kritisiert und darauf hingewiesen, dass sie den rechtswissenschaftlichen Diskurs abwürgen können.562 Hierbei handelt es sich in der Tat um eine grundsätzliche Frage.563 Im konkreten Fall der demokratischen Dekonsolidierung dürfte die Gefahr einer Diskursverkürzung zumindest derzeit noch gering sein, denn an Ausführungen des BVerfG zur demokratischen Dekonsolidierung und zu Art. 19 II GG fehlt es derzeit. Vielmehr könnte das BVerfG hier die wissenschaftliche Diskussion befördern. Ein obiter dictum kann auch kurz oder tastend formuliert sein, wenn das Gericht den wissenschaftlichen Diskurs erweitern und nicht verengen will. Ein entsprechender Versuch könnte auch zuerst in einer Kammerentscheidung unternommen werden. Selbst wenn ein Senat sich auf eine solche Linie nicht verständigen kann, können einzelne Richter ihre abweichende Meinung in Sondervoten gem. § 30 II 1 BVerfGG zum Ausdruck brin559 BVerfGE 68, 272 (282); Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 24 Rn. 44 f. 560 BVerfGE 7, 377 (399–408); vgl. Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 40 Rn. 28–33. Siehe hierzu oben E. II. 2. b) hh) (4). 561 Leisner-Egensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 79. 562 W.-R. Schenke, Anmerkung zum Urteil des BVerfG v. 14.5.1985, 1 BvR 233/81 (Brokdorf-Entscheidung), JZ 1986, 35 (35). 563 Siehe hierzu W.-R. Schenke, Die Verfassungsorgantreue, 1977, S. 122–129.
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E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
gen. Schließlich sind jedenfalls missverständliche Aussagen wie bei Art. 24 I GG564 zu vermeiden, da dies zur Verwirrung führt und die Ermittlung des „wahren“ Wesensgehalts erschwert. Alle diese Ansätze können einzeln oder in Kombination, gleichzeitig oder gestaffelt, verfolgt werden, wenn einer der am Verfahren Beteiligten die Antastung der Wesensgehaltsgarantie explizit angesprochen hat und somit die Frage vermeintlich relevant ist. Das BVerfG kann aber auch obiter dicta in seine Entscheidungen aufnehmen. Dies ermöglicht ihm, inhaltliche Aussage dosiert zu treffen, ohne sich zu früh unnötig festzulegen. b) Verfahrensarten Die Frage der verfassungsprozessualen Geltendmachung einer Antastung der Wesensgehaltsgarantie kann in verschiedenen Verfahren erfolgen. Weniger relevant dürfte die einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG sein, da die Prüfung, ob die Wesensgehaltsgarantie durch eine Belastungskumulation angetastet ist, gründlicherer Prüfung und nicht bloß einer Folgenabwägung bedarf.565 Aber auch in diesen Verfahren können immerhin Fragen aufgeworfen oder Positionen angedeutet werden, die von der Literatur aufgegriffen werden können.566 Gleichwohl bleibt der einstweilige Rechtsschutz wegen seiner bloßen Folgenabwägung ausgeblendet. Ebenfalls weniger relevant dürften – mangels thematischer Einschlägigkeit – die föderalen Streitigkeiten wie etwa Art. 93 I Nr. 2a, 3 oder 4 GG oder die Normenverifikation (Art. 100 II GG) sein. Die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 I Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a, §§ 90 ff. BVerfGG), die konkrete (Art. 100 I GG, § 13 Nr. 11, §§ 80 ff. BVerfGG) und die abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 I Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, §§ 76 ff. BVerfGG) sowie das Organstreitverfahren (Art. 93 I Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5, §§ 63 ff. BVerfGG) als auch zahlenmäßig häufigste und kontrollintensivste Verfahrensarten dürften deshalb aus Sicht der verfahrenseinleitenden Akteure die vielversprechendsten bzw. einzigen zur Verfügung stehenden Verfahrensarten sein.
564
Siehe hierzu oben D. II. 1.–D. II. 1. c). So BVerfGE 122, 342 (354 f., 361–374). Siehe hierzu aus der Literatur Fleury, Verfassungsprozessrecht, 10. Aufl. 2015, Rn. 495 f.; C. Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 5. Aufl. 2020, Rn. 1054–1077; Sachs, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2016, Rn. 635–640. Anders aber in verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzfällen: eine Antastung der Wesensgehaltsgarantie bejahend VG Köln, ZD 2020, 431; VG Köln, COVuR 2020, 211 (212). 566 So z.B. VG Hamburg, Beschl. v. 17.4.2020 – 15 E 1640/20, Rn. 21 f., BeckRS 2020, 6394; VG Hamburg, Beschl. v. 29.4.2020 – 11 E 1790/20, Rn. 5, BeckRS 2020, 7213; VG Mainz, Beschl. v. 2.6.2020 – 1 L 361/20.MZ, Rn. 17, BeckRS 2020, 13462 im verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz. Hier ist es jedoch bemerkenswert, dass die höheren Instanzen die Fragen der Wesensgehaltsgarantie seltener aufgreifen als die Eingangsinstanzen. 565
III. Verfassungsprozedurale und rechtswissenschaftliche Umsetzungen
427
Im Organstreitverfahren müssen jedoch ein oberstes Bundesorgan oder andere Beteiligte567, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind, in durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet sein (Art. 93 I Nr. 1 GG, § 64 I BVerfGG). Diese obersten Bundesorgane bzw. anderen Beteiligten können nur eine Verletzung ihres verfassungsrechtlichen Status, aber nicht die Grundrechte der das Amt ausübenden natürlichen Person geltend machen.568 Deshalb können Grundrechte im Organstreitverfahren und dementsprechend auch deren Wesensgehalt grundsätzlich nicht geprüft werden. Somit verbleiben als relevante Verfahrensarten die Verfassungsbeschwerde, die konkrete sowie die abstrakte Normenkontrolle. In allen diesen Verfahren kann zudem auf die Nichtigkeit einer Vorschrift erkannt werden. Zwar ist ein obiter dictum, das als Mittel zur tastenden Ermittlung des Wesensgehalts der Grundrechte identifiziert wurde, nicht an ein bestimmtes Verfahren gebunden. Aussagen zur Wesensgehaltsgarantie können folglich auch in anderen Verfahren getätigt werden. Jedoch bietet sich hierfür in der Regel weniger die Gelegenheit, da z.B. in den föderalen Streitigkeiten Grundrechte kaum streitentscheidend sein dürften. Und auch wenn ein obiter dictum nicht an ein bestimmtes Verfahren gebunden ist, muss doch eine gewisse Nähe zu den streitigen Angelegenheiten bestehen, soll das obiter dictum nicht ohne Bezug im Raum stehen. c) Darlegungslast, insbesondere bei Kumulationen Die Schwierigkeiten im Umgang mit der Wesensgehaltsgarantie und die fehlende Einigkeit in Rechtsprechung und Literatur in der Herangehensweise verdeutlichen, dass es sich nicht um eine dogmatische Petitesse handelt. Diese Schwierigkeiten nehmen sogar noch größere Ausmaße an, wenn man die Erfassung von Eingriffskumulationen in die Betrachtung aufnimmt. Auch hinsichtlich dieser besteht keine Einigkeit in Rechtsprechung und Schrifttum, sodass die Dogmatik von allgemein anerkannten Lösungen noch entfernt ist. Die praktischen Schwierigkeiten dürfen jedoch auch nicht überschätzt werden.569 Wenn ein Grundrechtsträger die Belastungskumulation rügen will, wird er dies im Wege der Verfassungsbeschwerde oder ggf. in einem anderen Gerichtsverfahren und dann mittelbar über die Richtervorlage nach Art. 100 567 Dies sind insbesondere die politischen Parteien, vgl. BVerfGE 82, 322 (335), sowie der einzelne Abgeordnete, vgl. BVerfGE 62, 1 (31). 568 BVerfGE 84, 290 (299) hinsichtlich einer Partei. 569 So allgemein im Hinblick auf Art. 19 II GG Leisner-Egensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. III, 2009, § 70 Rn. 83, die Art. 19 II GG für durchaus praktikabel hält.
428
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
Abs. 1 GG bewerkstelligen. Der Grundrechtsträger muss ohnehin seine Verfassungsbeschwerde substanziieren (vgl. § 92, § 93 I 1 BVerfGG) oder das vorlegende Gericht von der Belastungskumulation überzeugen, damit dieses seine Vorlage begründen kann (vgl. § 80 II 1 BVerfGG). Da der Bürger weiß, von welchen Maßnahmen er belastet wird und wie diese sich auswirken, kann er im Verfahren entsprechend vortragen. Das BVerfG hat in seinen Entscheidungen dem Grundrechtsträger die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen einer Belastungskumulation auferlegt.570 Auch insoweit ließe sich der hier empfohlene Ansatz mit der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG vereinbaren. Hierfür spricht schließlich auch der Vergleich mit der Übertragung von Hoheitsrechten sowohl auf die EU als auch auf andere supranationale Organisationen.571 Hinsichtlich der sog. Grundrechtsrüge hat das BVerfG ausgeführt, dass eine Verfassungsbeschwerde, mit der gerügt wird, dass ein nicht deutscher Hoheitsakt Grundrechte verletzt wird, nur unter besonderen Voraussetzungen zulässig ist.572 Erforderlich ist nach dem BVerfG: „Sonach sind auch nach der Entscheidung des Senats in BVerfGE 89, 155 Verfassungsbeschwerden und Vorlagen von Gerichten von vornherein unzulässig, wenn ihre Begründung nicht darlegt, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nach Ergehen der Solange II-Entscheidung (BVerfGE 73, 339 [378 bis 381]) unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken sei. Deshalb muss die Begründung der Vorlage eines nationalen Gerichts oder einer Verfassungsbeschwerde, die eine Verletzung in Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschaftsrecht geltend macht, im Einzelnen darlegen, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet ist. Dies erfordert eine Gegenüberstellung des Grundrechtsschutzes auf nationaler und auf Gemeinschaftsebene in der Art und Weise, wie das Bundesverfassungsgericht sie in BVerfGE 73, 339 (378 bis 381) geleistet hat.“573
Damit geht das BVerfG davon aus, dass der Einzelne den für die Grundrechtsrüge erforderlichen Substanziierungsaufwand leisten kann. Wenn diese Rüge aber im Hinblick auf ein ganzes supranationales Gebilde und den dortigen Grundrechtsschutz generell erfolgen kann, dann muss dies erst recht für den etwas weniger umfangreichen Rügemechanismus für ein bestimmtes Grundrecht der deutschen Verfassungsordnung gelten.
570 BVerfGE 114, 196 (247 f.); 130, 1 (24). Zur Rechtsprechung des BSG siehe die Nachweise bei Schaks, Das Verbot der Belastungskumulation als Bestandteil der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, DÖV 2015, 817 (826) in Fn. 109. 571 Siehe hierzu oben C. III. 1. b)–C. III. 1. b) bb), D. II. 1. a) und b). 572 Siehe hierzu oben C. III. 1. b) bb). 573 BVerfGE 102, 147 (164).
III. Verfassungsprozedurale und rechtswissenschaftliche Umsetzungen
429
d) Entscheidungsinhalt, insbesondere bei Kumulationen Ebenfalls als ungeklärt muss gelten, welche Entscheidungsoptionen den Gerichten zur Verfügung stehen. Die Gerichte haben – sofern sie sich überhaupt mit Kumulationen befasst haben – die Belastungskumulation im Anschluss an die Verhältnismäßigkeit geprüft.574 Dies entspricht der Herangehensweise, die für die Prüfung der Wesensgehaltsgarantie vorgeschlagen wird.575 Auch diese wird erst vorgenommen, wenn die vorherige – und leichter durchführbare – Verhältnismäßigkeitsprüfung ergeben hat, dass die zur Kontrolle gestellte Vorschrift verfassungsgemäß ist. Anderes gilt indes für das europäische Recht. Dort wird des Öfteren ausgeführt, dass die Wesensgehaltsantastung vorrangig vor der Verhältnismäßigkeit zu prüfen sei.576 Wenn der Wesensgehalt eines Grundrechts angetastet sei, dann erübrige sich ohnehin jegliche weitere Abwägung, welche im Falle der Verhältnismäßigkeitsprüfung ansonsten erforderlich sei. Indes bezieht sich diese Aussage allein auf Einzelakte. Jedoch ist vorstellbar und gerade im Zusammenhang mit der demokratischen Dekonsolidierung sogar wahrscheinlicher, dass mehrere Maßnahmen für sich allein gesehen zwar verhältnismäßig sind, aber in der Summe den Wesensgehalt eines Grundrechts antasten. Da sowohl das Übermaßverbot als auch die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG gewahrt sein müssen, spricht viel gegen eine starre Hierarchie und viel für eine pragmatische, falladaptierte richterliche Herangehensweise bei der Prüfungsreihenfolge. Jedoch ist mit Gewissheit über den Prüfungsstandort allein noch nicht viel gewonnen und bleibt die Frage des Entscheidungsinhalts weiterhin offen. Will das Gericht auf eine unzulässige Belastungskumulation erkennen, dann stellt sich aber die Frage nach dem Entscheidungsinhalt. Wegen des Zusammenwirkens verschiedener Maßnahmen bestehen mehrere Möglichkeiten, die Kumulation zu reduzieren. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um ein auf die Belastungskumulation begrenztes Problem. So hat der Gesetzgeber im Falle eines Gleichheitsverstoßes mehrere Handlungsmöglichkeiten, um den Verfassungsverstoß auszuräumen. Das BVerfG trägt dem Rechnung, indem es regelmäßig nur die Unvereinbarkeit der Regelung mit dem Grundgesetz feststellt.577 Auch für den Fall, dass sich ein Verfassungsverstoß erst aus dem Zusammenwirken 574
So z.B. in BVerfGE 123, 186 (265 f.). C. Hillgruber, Grundrechtsschranken, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 201 Rn. 100. 576 EGMR (abw. Meinung Costa), Urt. v. 12.7.2001 – 42527/98, S. 33 ff. – Prince HansAdam II von Liechtenstein v. Deutschland, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–59591 (Stand: 10.8.2023); Lenaerts, Limits on Limitations: The Essence of Fundamental Rights in the EU, German Law Journal 20 (2019), 779 (787) m. zahlreichen w. N. aus der Rechtsprechung des EuGH; van Drooghenbroeck/Rizcallah, The ECHR and the Essence of Fundamental Rights: Searching for Sugar in Hot Milk?, German Law Journal 20 (2019), 904 (909 f). 577 Hierzu Determann/Heintzen, Die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle in Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika im Vergleich, ZG 2019, 52 (65–67). 575
430
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
mehrerer Vorschriften ergibt, wie es bei der der Maßnahmenkumulation der demokratischen Dekonsolidierung der Fall ist, hat das BVerfG bereits Entscheidungsoptionen entwickelt.578 Wörtlich hat es formuliert: „Steht eine Norm mit der Verfassung nicht im Einklang, so ist sie grundsätzlich für nichtig zu erklären (§ 82 Abs. 1 i.V.m. § 78 Abs. 1 BVerfGG). Das gilt jedoch nicht, wenn sich ein Verfassungsverstoß aus dem Zusammenwirken mehrerer Vorschriften ergibt und eine Korrektur auf verschiedene Weise vorgenommen werden kann. So liegt es hier. Die für Arbeiter geltenden Kündigungsfristen sind mit dem allgemeinen Gleichheitssatz unvereinbar, weil sie ohne ausreichenden Grund die Arbeiter schlechter stellen als die Angestellten. Durch eine Nichtigerklärung von § 622 Abs. 2 BGB würde die bestehende Ungleichheit nur noch vertieft werden. Beseitigt werden kann der Verfassungsverstoß nur durch eine Neuregelung der einschlägigen Vorschriften durch den Gesetzgeber. In einer solchen Lage muß das Bundesverfassungsgericht sich grundsätzlich darauf beschränken, die diskriminierende Bestimmung als unvereinbar mit dem Grundgesetz zu erklären. Diese darf dann bis zur Neuregelung von staatlichen Stellen nicht mehr angewandt werden. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die Rechtslage unverzüglich mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen. Gerichte müssen anhängige Verfahren, bei denen die Entscheidung von der verfassungswidrigen Norm abhängt, aussetzen, bis eine Neuregelung in Kraft tritt (vgl. BVerfGE 37, 217 [260 f.]; siehe auch Heußner, NJW 1982, S. 257).“579
Dieses Vorgehen ist auch im Falle der Antastung des Wesensgehalts durch kumulative Eingriffe grundsätzlich ein gangbarer Weg,580 denn dieses Vorgehen belässt dem Gesetzgeber den ihm zustehenden Gestaltungsspielraum bei gleichzeitiger Wahrung des Vorrangs der Verfassung. Dem einfachen Recht, insbesondere § 31 und § 79 BVerfGG, lässt sich auch kein Verbot der Unvereinbarkeitserklärung in Fällen der demokratischen Dekonsolidierung entnehmen. Während dieses Vorgehen im Normalfall unproblematisch erscheint, bestehen im Falle der demokratischen Dekonsolidierung durchaus Bedenken, denn die demokratische Dekonsolidierung ist dadurch gekennzeichnet, dass sich das Parlament an der etappenweisen Abschaffung demokratischer Standards beteiligt. Das Parlament ist gerade einer der undemokratischen Hauptakteure. Von ihm im Falle einer festgestellten Wesensgehaltsantastung Abhilfe zu erwarten, erscheint naiv. Im Falle der demokratischen Dekonsoli578 BVerfGE 72, 278 (295); 82, 126 (154–156); 98, 365 (401–403); 111, 191 (224 f.); 121, 108 (131–134); 138, 136 (251). Siehe hierzu Aust/Meinel, Entscheidungsmöglichkeiten des BVerfG, JuS 2014, 113 (115 f.); Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2020, Rn. 1435–1443; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 12. Aufl. 2021, Rn. 394– 430. 579 BVerfGE 82, 126 (154 f.). Siehe auch BVerfGE 82, 60 (83–86). 580 So auch G. Kirchhof, Kumulative Belastung durch unterschiedliche staatliche Maßnahmen, NJW 2006, 732 (733, 735); Michael, Formen- und Instrumentenmix, in: Voßkuhle/ Eifert/Möllers (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2022, § 40 Rn. 126. Siehe auch Klement, Die Kumulation von Grundrechtseingriffen im Umweltrecht, AöR 134 (2009), 35 (80).
III. Verfassungsprozedurale und rechtswissenschaftliche Umsetzungen
431
dierung dürfte deshalb ein robusteres Vorgehen der Verfassungsgerichtsbarkeit erforderlich sein. Ein solches ist indes nicht grundsätzlich ausgeschlossen, da das BVerfG hinsichtlich der Entscheidungsinhalte nicht strikt gebunden ist und auch mehrere Maßnahmen kumulativ aufheben könnte, sofern dies erforderlich werden sollte.581 Folglich lässt sich festhalten, dass der hier vorgeschlagene Ansatz mit den bestehenden prozessualen Möglichkeiten praktikabel umsetzbar ist.
2. Rechtswissenschaftlicher Wirkmechanismus Das BVerfG ist ein Gericht (Art. 92 GG) und entscheidet in definierten Konstellationen auf Antrag Dritter, nicht auf eigene Initiative.582 Deshalb ist es darauf angewiesen, dass ihm zulässige Streitigkeiten unterbreitet werden, bei denen sich Fragen der demokratischen Dekonsolidierung stellen. Selbst für ein obiter dictum bedarf es eines hinreichenden Anlasses, auch wenn keine verbindlichen Regeln im Zusammenhang mit obiter dicta bestehen. Die Schwierigkeit des Umgangs mit der demokratischen Dekonsolidierung liegt darin, dass sie – einmal begonnen – mit den üblichen Instrumenten kaum einzugrenzen ist. Der Gewaltenteilungsgrundsatz, der klassischerweise Machtbegrenzungen bewirkt, funktioniert lediglich eingeschränkt.583 Zumeist sind die Verfassungsgerichte wegen ihrer längeren Amtszeiten, hoher Wahlquoren und inhaltlicher Anforderungen an ihre Bestellung die letzten Instanzen, die einer demokratischen Dekonsolidierung etwas entgegensetzen können. Jedoch sind Verfassungsgerichte gerade deshalb auch die Zielscheibe von Reformen, mit denen ihre Kontrollkompetenz geschwächt oder aufgehoben werden soll.584 Aus diesem Grund ist das Zeitfenster, in dem ein Verfassungsgericht Methoden und Strategien zur Verhinderung der demokratischen Dekonsolidierung entwickeln kann, klein. Umso wichtiger ist deshalb, dass sich die Verfassungsgerichtsbarkeit rechtzeitig der Gefahr der demokratischen Dekonsolidierung bewusst wird und auf diese Gefahr mit geeigneten juristischen Mitteln reagieren kann. Die Verfassungsgerichte sind aber nicht die einzigen Akteure, die einen Beitrag gegen die demokratische Dekonsolidierung leisten können. Auch die Rechtswissenschaft kann mit ihren Forschungsbemühungen z.B. zur Ermittlung des Wesensgehalts der Grundrechte die demokratische Dekonsolidierung ggf. eingrenzen.585 581
Vgl. BVerfGE 82, 60 (83–86). Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 12. Aufl. 2021, Rn. 512. 583 Siehe hierzu oben A. I. 3. d). 584 Siehe oben zu den Beispielen Ungarn (A. I. 1. a]) und Polen (A. I. 2. a]). 585 Speziell im Hinblick auf die Auslegung des Art. 8 GG Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. IV, 2011, § 106 Rn. 22. 582
432
E. Die Wesensgehaltsgarantie der Versammlungsfreiheit
Nicht nur die gerichtliche Feststellung einer Antastung des Wesensgehalts eines Grundrechts, sondern auch dessen vorherige Inhaltsermittlung ist bedeutsam. Der Wesensgehaltsgarantie kommt schließlich eine Warn- und Signalfunktion zu.586 Bereits begründet wurde, dass und warum die Entfaltung des Wesensgehalts der verschiedenen Grundrechte eine wichtige Leistung darstellt, denn ohne ein Verständnis davon, was den Wesensgehalt eines Grundrechts ausmacht, kann eine Antastung nicht erkannt werden. Wenn die Antastung als eine solche nicht erkannt werden kann, dann erfüllt die Wesensgehaltsgarantie nicht ihre Warn- und Signalfunktion. Sie ist dann bedeutungslos. Das war aber nicht das Ziel der Verfassungsgeber. Aufgabe der Rechtswissenschaft ist es deshalb, frühzeitig den Wesensgehalt zu ermitteln und so weit wie möglich Konsens zu erzielen. Ganz allgemein ist es Aufgabe der Rechtswissenschaft, das Recht in seinen vielfältigen Bezügen zu durchdringen und zu reflektieren,587 „innovative Perspektiven offen zu halten“588 und „neues Wissen hervorzubringen bzw. Wissenslücken zu schließen“589. Vor allem – und im Zusammenhang mit dem demokratischen Rückschritt besonders bedeutsam – ist es „Aufgabe der Rechtswissenschaft […], Voraussetzungen, Geltungsbedingungen und Effekte dieses zentralen gesellschaftlichen Steuerungsmediums unter den sich verändernden Bedingungen moderner Vergesellschaftung zu erforschen“.590 Brun-Otto Bryde macht drei Typen wissenschaftlicher Einflussnahme aus: die Mitwirkung als Gutachter/Sachverständiger v.a. in Gerichts- oder Gesetzgebungsverfahren, die mündliche Lehre und literarische Äußerungen.591 Die erste und dritte Variante dürften wegen bzw. im Falle ihrer Schriftlichkeit am nachhaltigsten wirken, da sie eine Vielzahl an Personen und Akteuren erreichen können. Auch wenn die Staatspraxis und die Rechtsprechung einflussreicher für die Rechtsentwicklung sein dürften,592 besteht die Möglichkeit, dass diese Staatsgewalten sich durch die Rechtswissenschaft positiv oder negativ beeinflussen lassen. Dies kann u.a. durch Stellungnahmen in 586 Z.B. von Hochhuth, Das abwägungsfeste Übermaßverbot als gesellschaftsvertragliche Gegenleistung, ARSP 92 (2006), 382 (394); Lerche, Grundrechtsschranken, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 122 Rn. 32; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 840. Für F. Klein, in: v. Mangoldt/Klein, GG, Bd. I, 2. Aufl. 1957, Art. 19 Anm. V. 7. b) ist Art. 19 II GG das „mahnende ‚Ausrufezeichen‘“, ähnlich bereits zuvor unter Vorbemerkungen B. XV. 3. c) (S. 133): „Ausrufezeichen“. 587 Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland, Drs. 2558–12, S. 6, 37. 588 Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland, Drs. 2558–12, S. 37. 589 Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland, Drs. 2558–12, S. 30. 590 Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland, Drs. 2558–12, S. 26. 591 Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 207. 592 Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 209.
IV. Zwischenergebnis
433
Aufsätzen, Lehrbüchern und Kommentaren geschehen. Hierbei ist bedeutsam, über die abstrakten Erörterungen hinauszugehen und konkret zu benennen, was den Wesensgehalt eines bestimmten Grundrechts ausmacht. Ironischerweise ist man sich in Rechtsprechung und Literatur einig, was bei Art. 19 II GG eine Seltenheit ist, dass der Wesensgehalt für jedes Grundrecht einzeln zu bestimmen ist – aber vorgenommen wird diese grundrechtsspezifische Bestimmung nicht. Neben der Ermittlung des Wesensgehalts eines bestimmten Grundrechts muss aber auch eine Umsetzung in die Rechtspraxis erfolgen. Dies kann durch die erwähnte Tätigkeit als Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren einschließlich der schriftlichen Stellungnahmen geschehen.
IV. Zwischenergebnis Die zuvor ermittelten Elemente des Wesensgehalts der Versammlungsfreiheit nach Art. 19 II GG i.V.m. Art. 8 GG593 können in nahezu allen gerichtlichen Verfahren adressiert werden. Eine Aufhebung von Gesetzen kann allerdings ausschließlich durch das BVerfG erfolgen (vgl. Art. 100 I GG). Im Ergebnis stellen die Verfahren der abstrakten Normenkontrolle (Art. 93 I Nr. 2 GG), der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 I GG) und der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 I Nr. 4a GG) die relevantesten Verfahren dar. Die Aufhebung eines Gesetzes wegen Verletzung der Wesensgehaltsgarantie ist aber nicht die Hauptfunktion von Art. 19 II GG. Bedeutsamer als die Sanktion (Verfassungswidrigkeits- und damit Nichtigkeitsverdikt des BVerfG) ist die der Wesensgehaltsgarantie beigemessene Warn- oder Signalfunktion, die im Vorfeld wirkt und idealiter die Gewalten so lenkt und leitet, dass es zu keinen Wesensgehaltsantastungen kommt. Art. 19 II GG setzt zwingend voraus, dass der Inhalt der relevanten Grundgesetzbestimmungen ermittelt ist. Insbesondere muss ein hinreichend klares Bild bestehen, was zu dem Wesensgehalt eines Grundrechts gehört und deshalb vor einer Antastung auch des Gesetzgebers besonders geschützt ist. Bei dieser Inhaltsermittlung kommt dem BVerfG keine ausschließliche Zuständigkeit zu, auch wenn es die einzige Instanz ist, die verbindlich (§ 31 I BVerfGG) und mitunter mit Gesetzeskraft (§ 31 II BVerfGG) über den Wesensgehalt entscheiden kann.
593
Auflistung unter E. II. 5.
F. Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick I. Zusammenfassung Weltweit ist das Phänomen des „democratic backsliding“ zu beobachten, welches hier mit dem Begriff „demokratische Dekonsolidierung“ übersetzt und unter dieser Bezeichnung untersucht wurde. Nachdem die charakteristischen Merkmale ermittelt wurden, wurde analysiert, welchen Schutz das derzeit geltende Verfassungsrecht gegen rechtliche Angriffe von innen auf die Verfassungsordnung des Grundgesetzes bereithält. Dabei trat zutage, dass das Grundgesetz solche Angriffe vorhersieht und hiergegen in einzelnen Bestimmungen sowie in vorschriftenübergreifenden Konzepten einen Schutz zu etablieren versucht. Dies lässt sich als Antizipation bezeichnen. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG stellt eine Ausprägung des Antizipationsgedankens dar. Die Vorschrift ist im Zusammenhang mit der demokratischen Dekonsolidierung besonders bedeutsam, da sie künftigen Entwicklungen entgegentritt, Kumulationen erfassen kann und zudem eine absolute Grenze für staatliches Handeln markiert. Exemplarisch wurde anhand der Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG der Wesensgehalt für ein Grundrecht ermittelt, und es wurden Strategien für Rechtswissenschaft und -praxis aufgezeigt, wie die Wesensgehaltsgarantie gegen eine etwaige demokratische Dekonsolidierung entwickelt werden kann. Dies wird nachfolgend im Einzelnen dargestellt.
1. Demokratische Dekonsolidierung: Begriff, Beispiele, Probleme „Demokratische Dekonsolidierung“ bezeichnet einen Prozess, in dessen Verlauf die Verfassungsordnung etappenweise durch Maßnahmenbündel, welche unterschiedliche Rechtsgebiete und Gesellschaftsbereiche betreffen und die sich wechselseitig verstärken, verändert wird. Diese Veränderung verläuft nicht zum Positiven, man kann auch von einem demokratischen Rückschritt oder einer Entdemokratisierung sprechen. Dabei ist das Charakteristische der demokratischen Dekonsolidierung, dass durch eine Maßnahmenkumulation eine Veränderung des Verfassungscharakters erfolgt. Die demokratische Dekonsolidierung unterscheidet sich von einzelnen demokratischen Verschlech-
436
F. Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick
terungen dadurch, dass das gesamte politische und verfassungsrechtliche System betroffen ist und zunehmend geschwächt wird. Auf lange Sicht kann dies zur Etablierung autoritärer Herrschaften bis hin zur Diktatur führen. Die Entwicklungen in Polen und Ungarn dienten als Beispiele für die demokratische Dekonsolidierung. Indem u.a. die Verfassungsgerichte kompetenziell und personell geschwächt wurden oder die Regierungen die Befolgung missliebiger Urteile verweigerten, wurde die letzte verbliebene Kontrollinstanz ausgeschaltet. Dies gestattete z.B. Veränderungen des Wahlrechts zugunsten der regierenden Parteien und die Beeinflussung der Medien-, Parteien- und Verbandslandschaft über das bislang verfassungsrechtlich zulässige Maß hinaus. Selbst ohne Verabschiedung von verfassungsändernden Gesetzen konnten durch die Summe einfacher Gesetze faktisch dieselben Ergebnisse erreicht werden. Tatsächlich kam es zu Verfassungsänderungen, ohne dass die verantwortlichen Akteure über die hierfür erforderliche Mehrheit verfügten (Defacto-Verfassungsänderung). Dass dieses Vorgehen möglich ist, stellt ein verfassungsrechtliches Problem dar, denn die Verfassungsänderung ist bewusst an hohe Quoren gebunden, um sicherzustellen, dass grundlegende Änderungen des Gemeinwesens von einer hohen Zustimmung getragen sind. Diese Sicherung kann offensichtlich ausgeschaltet werden. Über die weiteren Veränderungen der Rechtsordnung kann dann eine Perpetuierung dieses Zustands bewirkt werden. Durch die Modifikationen des Wahlrechts kann die Opposition systematisch benachteiligt werden, sodass sie es deutlich schwerer hat, zukünftig eine Mehrheit zu erringen. Damit wird aber der Kern des Demokratieprinzips, dass demokratische Herrschaft immer nur Herrschaft auf begrenzte Zeit ist, nicht nur missachtet, sondern sogar ausgeschaltet.
2. Forschungsgegenstand und -frage Ziel der vorliegenden Arbeit war, die demokratische Dekonsolidierung in der Bundesrepublik Deutschland zu erforschen und dabei rechtsdogmatisch und rechtsvergleichend zu untersuchen, was das geltende Verfassungsrecht einer demokratischen Dekonsolidierungsbewegung entgegenzusetzen hat. Dabei wurde von der Prämisse ausgegangen, dass die demokratische Dekonsolidierung das zu verhindernde Phänomen und die geltende Verfassungsordnung des Grundgesetzes den zu erhaltenden Zustand darstellen. Behandelt wurden erstens rechtliche Maßnahmen, da die demokratische Dekonsolidierung sich durch das Ergreifen verschiedener Rechtsmaßnahmen auszeichnet. Ausgeklammert blieben deshalb die faktischen Gelingensbedingungen der Demokratie. Ebenfalls nicht zum Forschungsthema gehörten Naturkatastrophen oder Angriffe von außen.
I. Zusammenfassung
437
Zweitens erfolgten die Überlegungen zum Schutz der Verfassungsordnung de constitutione lata. Damit blieben mögliche Verfassungsänderungen ausgeblendet. Die kursorische Befassung mit dem Thema der „Verfassungsfestigkeit“ zeigte jedoch, dass die Aufnahme in das Grundgesetz von Vorschriften des einfachen Rechts, die für die Verfassungsordnung bedeutsam sind (Wahlrecht und das Recht der Verfassungsgerichtsbarkeit, sog. materielles Verfassungsrecht), durchaus angebracht sein kann.
3. Thesen und Methode Leitender Gedanke der Arbeit war, dass die geltende Verfassung in dem Sinne antizipativ ist, als sie Gefahren für die Verfassungsordnung vorhersieht und auch die zur Lösung erforderlichen Mechanismen bereithält. Da sich die demokratische Dekonsolidierung durch das etappenweise Ergreifen von Maßnahmen auszeichnet, lag der Fokus auf Instrumenten, die Kumulationen erfassen können und feste, absolute Grenzen markieren. Als ein solches potenzielles Instrument wurde die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG identifiziert. Die verwendete Methode lässt sich als Dogmatik im Kontext begreifen. Die Dogmatik ist eine allgemein anerkannte Methode in Rechtswissenschaft und -praxis, wahrscheinlich sogar die am weitesten verbreitete Methode. Dies ermöglicht die Übertragung auf die und die Anwendung in der Rechtspraxis sowie ganz allgemein die Überprüfbarkeit der Ergebnisse durch die Rechtswissenschaft. Zusätzlich wurden die Ergebnisse durch die Methode der Rechtsvergleichung abgesichert. Auch die Rechtsvergleichung ist eine vom BVerfG anerkannte und praktizierte Methode. Durch den Vergleich der deutschen mit der südafrikanischen Rechtsordnung wurde versucht, die Offenheit des verfassungsrechtlichen Wortlauts auszugleichen und zusätzliche Erkenntnis zu erlangen. Folge des Vergleichs war, dass teilweise gewisse Regeln des deutschen Rechts als Teil eines internationalen Standards identifiziert wurden. Dies konnte bestimmte Auslegungsergebnisse bestätigen. Teilweise und sogar häufiger zeigte der Vergleich die Unterschiede zwischen beiden Rechtsordnungen auf. In diesen Fällen erfolgte dann gerade kein bestätigender Vergleich.
4. Der Antizipationsgedanke des Grundgesetzes Nachdem der Begriff der Antizipation anhand der deutschen und europäischen Rechtslage sowie des allgemeinen Sprachgebrauchs ermittelt und von anderen Konzepten abgegrenzt wurde, wurde dem antizipativen Gehalt in Einzelvorschriften des Grundgesetzes nachgespürt. „Antizipation“ konnte
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F. Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick
dabei als die gedankliche Vorwegnahme eines als möglich erscheinenden zukünftigen Ereignisses, Verhaltens, Risikos oder Szenarios verstanden werden, als ein „Sich-darauf-Einstellen“. Mit dem antizipierten Ereignis waren Gefährdungen der liberalen Demokratie durch rechtliche Maßnahmen der demokratischen Dekonsolidierung gemeint. Nicht nur einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes ließ sich der Antizipationsgedanke entnehmen (Art. 5 III 2, Art. 9 II, Art. 10 II 2, Art. 11 II, Art. 18, Art. 21 II 1, Art. 21 III 1, Art. 28 II 1, Art. 33 IV, V, Art. 79 III, Art. 91, Art. 98 II, V GG), auch darüber hinausgehend werden diese Vorschriften zu rechtswissenschaftlichen Konzepten zusammengefasst. So lässt sich auf die untersuchten Konzepte der wehrhaften Demokratie, der Notstandsverfassung, des Staats- und des Verfassungsschutzes und des Ausnahmezustands verweisen. Dass diese Konzepte Überschneidungen aufweisen und eine gewisse begriffliche Vielfalt besteht, schmälert den antizipativen Befund nicht, sondern betont ihn sogar, denn dies zeigt, wie der Grundgedanke der Antizipation für unterschiedliche Situationen, Gefahren oder Konstellationen fruchtbar gemacht wird. Wenn die Verfassung aber bestimmte Szenarien antizipiert und Instrumente bereithält, dann muss Klarheit bestehen, wann und wie diese Instrumente zum Einsatz kommen. Ohne klaren Inhalt kann das Recht seine Steuerungsfunktion nicht entfalten und die Antizipation nicht erfolgen. Exekutive und Legislative können sich nicht am Verfassungsrecht orientieren, wenn dessen Inhalt unklar oder unbekannt ist; die Judikative kann ihre Kontrollfunktion nicht übernehmen. Aus diesem Grund gebietet der Antizipationsgedanke auch, rechtzeitig Klarheit über Inhalt und Grenzen des Verfassungsrechts herzustellen, wozu Rechtswissenschaft und Rechtspraxis aufgerufen sind.
5. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG als Ausprägung der Antizipation Die Vorschrift des Art. 19 II GG wurde zunächst darauf untersucht, ob sie praktikabel angewendet werden kann. Hierbei stellte sich heraus, dass sie zwar rechtsdogmatisch vernachlässigt und als schwer konkretisierbar eingeordnet wird, sie wenig relevant ist und ihre rechtswissenschaftliche Durchdringung stagniert. Aber sie ist geltendes Recht mit einem konkreten Anwendungsbereich und bedarf bereits deshalb der inhaltlichen Entfaltung. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund der demokratischen Dekonsolidierung. Trotz ihrer vorgeblich fehlenden Praktikabilität wird in verschiedenen Bereichen des Verfassungsrechts mit ähnlichen oder identischen Argumentationsmustern gearbeitet, wie sie auch zur Beschreibung der Wesensgehaltsgarantie herangezogen werden. Dies spricht dafür, dass die Schwierigkeiten im Umgang mit Art. 19 II GG überschätzt werden. Die philosophische Überhö-
I. Zusammenfassung
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hung und die Abstraktheit der Betrachtungen schaden dabei zumeist der Inhaltsermittlung. Deshalb ist es umso wichtiger, anhand eines konkreten Beispiels den Inhalt des Art. 19 II GG zu ermitteln. Obwohl Einigkeit besteht, dass der Wesensgehalt spezifisch für jedes Grundrecht zu ermitteln ist, zeichnen sich die Stellungnahmen im Schrifttum durch ihre Abstraktheit aus. Der Wesensgehalt eines Grundrechts wird praktisch nie ermittelt. Im Anschluss hieran wurde herausgearbeitet, dass die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG Kumulationen erfassen kann und einen absoluten Gehalt aufweist. Sie ist damit geeignet, den Gefahren der demokratischen Dekonsolidierung zu begegnen, und erfasst auch so bedeutsame Grundrechte wie die Versammlungsund die Meinungsfreiheit, die für den demokratischen Prozess schlechthin konstituierend sind. Die historische Betrachtung der Weimarer Republik und ihres Untergangs ergab zwei Grundkonstellationen, die das Grundgesetz adressieren will: die schleichende Aushöhlung der Grundrechte im Alltag (Leerlaufen) und die gezielte Abschaffung der freiheitlich liberalen Staatsform. Der Vermeidung beider dient die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG. Diese Doppelfunktion wird oft übergangen und damit auch die Relevanz der Vorschrift verkannt.
6. Dogmatische Anwendung am Beispiel der Versammlungsfreiheit Diese Erkenntnisse wurden auf das demokratische Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG angewendet, da die Grundrechte der Gefahr der demokratischen Dekonsolidierung besonders ausgesetzt sind. Als wesentliche Ergebnisse konnte im Wege der Auslegung anhand der klassischen Auslegungsmethoden und der Rechtsvergleichung mit dem Recht der Republik Südafrika ermittelt werden, dass der Wesensgehalt des Art. 19 II GGG i.V.m. Art. 8 GG folgende Elemente umfasst: – Charakter als verbindliches Recht, – Bindung aller Hoheitsgewalten einschließlich der Gesetzgebung, – Gesetzesvorbehalt für Eingriffe, Einschränkungen, Beeinträchtigungen etc., – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Eingriffen etc., – Rechtsschutzmöglichkeit im Falle von (vermeintlichen) Rechtsverletzungen, – Schutz der räumlichen Zusammenkunft (an einem realen Ort) zur Einwirkung auf die öffentliche Meinungsbildung einschließlich der Vorbereitung und Anreise (auch Abwesenheit von pauschalen und flächendeckenden Versammlungsverboten), – Zusammenkunft von bereits zwei Personen, – Selbstbestimmung über Versammlungsthema, Ort, Zeit und sonstige Modalitäten, insbesondere Nähe zu einem Ort mit Bezug zum Versammlungsthema („sight and sound“),
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– staatliche Neutralität, – Genehmigungfreiheit, – auch negative Versammlungsfreiheit. Nicht vom Wesensgehalt geschützt werden hingegen – Eine-Person-Versammlungen, – Onlineversammlungen, – Nichtdeutsche als Grundrechtsträger, – die Bindung privater Dritter, insbesondere die Inanspruchnahme fremden Eigentums ohne oder gegen den Willen der Berechtigten, – der weite Versammlungsbegriff, – Unfriedlichkeit und Waffentragen. Dieses Verständnis kann sich zwar wegen der Dynamik der Verfassung wandeln, aber zumindest handelt es sich um eine Momentaufnahme und der Wandel des Wesensgehaltes vollzieht sich langsamer als der Verfassungswandel des Art. 8 GG. Der so entwickelte Inhalt kann in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, insbesondere in den dargestellten bundesverfassungsgerichtlichen Verfahren herangezogen werden. Da die Sanktionswirkung des Art. 19 II GG nicht im Vordergrund steht, sondern vielmehr als Krisenzeichen zu werten wäre, ist auch und gerade die Rechtswissenschaft aufgerufen, die abwägungsfesten, absoluten Gehalte der Grundrechte rechtzeitig zu ermitteln.
II. Ausblick Die liberale Demokratie wird nicht durch den Verfassungstext allein, sei er noch so gelungen geschaffen und interpretiert worden, geschützt. Sie bedarf vielmehr des Zuspruchs und der Unterstützung der Bevölkerung. Die Verfassungsordnung langfristig zu sichern und zu bewahren, ist deshalb eine Daueraufgabe für Staat und Gesellschaft. Die rechtswissenschaftliche Befassung mit den Gelingensbedingungen der Demokratie ist folglich ein wichtiger Aspekt, auch wenn dieser außerhalb des Forschungsansatzes der vorliegenden Arbeit angesiedelt war. Ebenfalls nicht von der gewählten Forschungsfrage erfasst war die Verfassungsfestigkeit, also die Befassung mit der Aufnahme von Vorschriften des einfachen Rechts in die Verfassung. In dieser Untersuchung ging es um einen anderen Aspekt, den Schutz der Verfassungsordnung durch das bereits derzeit geltende Verfassungsrecht. Auch wenn die Rechtsordnung alleine ihre Fortgeltung nicht garantieren kann, kann das Recht günstiger oder weniger günstig ausgestaltet sein, um einer demokratischen Dekonsolidierung oder Ansätzen hiervon begegnen zu können. Zu der rechtlichen Ausgestaltung tritt die Interpretation der Vorschriften durch die Literatur und v.a. die Rechtsprechung hinzu. Dies setzt aber ganz grundsätzlich voraus, dass der In-
II. Ausblick
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halt des Rechts ermittelt wird und bekannt ist. Wenn unklar oder offen ist, wen oder was das Recht wann, wie und warum schützt, hat seine Inkraftsetzung wenig erreicht. Auf diesen leicht einzusehenden Befund weisen nicht nur Stimmen in der Literatur, sondern z.B. auch ein Richter des EGMR hin. Er beklagt, dass in grundlegenden Fragen keine Klarheit bestehe, was die Rechtssicherheit beeinträchtige.1 Der hier unternommene Versuch, für ein Grundrecht anhand der in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis anerkanntesten Methode, der Dogmatik, beispielhaft den Wesensgehalt zu entfalten, soll einen Beitrag zur Klärung des Schutzes der Verfassungsordnung leisten. Hierbei handelt es sich um einen methodischen und inhaltlichen Vorschlag, der aufgegriffen, verändert oder um weitere Facetten angereichert werden kann. Angesichts der Gefahren der demokratischen Dekonsolidierung sollte jedoch mit der Inhaltsermittlung der Vorschriften, welche die Verfassungsordnung schützen, nicht gezögert werden. Dies gilt unabhängig davon, dass die Wesensgehalte der Grundrechte dynamisch sind und fortgeschrieben werden müssen. Mit dem hier praktizierten Vorgehen kann Art. 8 GG Pate für andere Grundrechtsbestimmungen stehen, bei denen der Wesensgehalt zu ermitteln ist. Dafür kann sich an der hier verwendeten Methode orientiert werden. Besonders naheliegend ist im Kontext der demokratischen Dekonsolidierung das Recht der Meinungsäußerungen im weiteren Sinne (Meinungs-, Presse-, Rundfunkfreiheit). Auch beim Wahlrecht aus Art. 38 GG ließe sich ein solches Vorgehen konzeptualisieren. Zwar ist umstritten, ob Art. 38 GG als grundrechtsgleiches Recht von Art. 19 II GG, der nur von Grundrechten spricht, erfasst wird.2 Selbst wenn man dies ablehnt, könnte über Art. 20 II, III GG i.V.m. Art. 79 III GG überlegt werden, ob es eine unantastbare, absolute Grenze des Wahlrechts gibt, wo sie verläuft und wie der Kerngehalt vor Aushöhlung geschützt werden kann.3 De constitutione ferenda ließe sich auch überlegen, ob unterschiedliche Regelungen, z.B. hinsichtlich Verfassungsänderungen oder des BVerfG, in Abhängigkeit davon gelten sollen, ob die Regierungskoalition beispielsweise über eine Zweidrittelmehrheit verfügt. Über den Forschungsgegenstand dieser Arbeit hinaus könnten Ansätze zur Ermittlung von positiven Inhalten, welche die liberale Demokratie ausmachen und für diese unverzichtbar sind, formuliert werden. Idealerweise werden hierdurch auch Kumulationsproblematiken aufgegriffen und möglicherweise über den grundrechtlichen Bereich, wo sie derzeit wohl am intensivsten untersucht werden, ausge1 EGMR (abw. Meinung Wojtyczek), Urt. v. 15.3.2018 – 51357/07, Rn. 8 – Naït-Liman v. Schweiz, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–181789 (Stand: 10.8.2023). Siehe ausführlich unter D. III. 2. b). 2 Siehe hierzu oben D. IV. 4. 3 Siehe hierzu H.-J. Cremer, Rügbarkeit demokratiewidriger Kompetenzverschiebungen im Wege der Verfassungsbeschwerde?, NJ 1995, 5 (6).
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dehnt und Lösungsvorschlägen zugeführt. Alle diese Erwägungen lassen sich auch auf die europäische Ebene (EMRK und EUGrCh) übertragen und können dort ggf. mit den Rechtsstaatlichkeitsverfahren für Rechtsklarheit und Rechtssicherheit sorgen. Das Konzept der antizipativen Verfassung kann auch zur Auslegung der Staatszielbestimmungen selbst herangezogen werden. Wenn die Bundesrepublik Deutschland „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Art. 20 I GG) ist, der Grundsatz der Volkssouveränität (Art. 20 II GG), des Vorrangs der Verfassung und der Rechtsstaatlichkeit (Art. 20 III GG) sowie die „Grundsätze […] des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes“ (Art. 28 I 1 GG) gelten, dann ist diese Ordnung doch in besonderem Maße geschützt, wenn nicht nur diese Ordnung errichtet wird, sondern das Recht insgesamt so gestaltet ist, dass die Gelingensbedingungen dieser Prinzipien gestärkt und geschützt werden. Mit anderen Worten müssen zum Schutze dieser höchstrangigen Prinzipien ihre Grundlagen und Voraussetzungen kontinuierlich gepflegt und erhalten werden. Hieraus kann eine Förderpflicht abgeleitet werden, die sich von den bislang rein repressiven Zügen z.B. der wehrhaften Demokratie4 unterscheidet. Inwieweit dies einklagbar ist, ist eine andere Frage. Wie auch bei den Schutzpflichten dürfte dies nur in seltenen Ausnahme- und Extremkonstellationen der Fall sein. Aber bei der Auslegung des Grundgesetzes den antizipativen Charakter des Grundgesetzes im Sinne einer Förderpflicht zu berücksichtigen, dürfte neue Interpretationswege aufzeichnen. Dies ist bei den Schutzpflichten der Grundrechte mittlerweile unbestritten. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb dieser Gedanke nicht auch in anderen Zusammenhängen fruchtbar gemacht werden sollte. Wie anfangs erwähnt, waren die Themen Verfassungsfestigkeit und Argumentationen de constitutione ferenda ausdrücklich ausgeklammert. Da jedoch zu Beginn der Arbeit aufgezeigt wurde, dass der Grundsatz der Gewaltenteilung überwindbar ist, sollte sich gegen eine demokratische Dekonsolidierung auch der Frage gewidmet werden, wie man dieses Grundprinzip stärken kann. Hier sind die Ansätze der südafrikanischen Verfassung – auch aufgrund ihres jüngeren Alters – womöglich nachahmenswert. Die südafrikanische Verfassung trifft in ihrem 9. Kapitel verschiedenen Regelungen zu unabhängigen Institutionen (wie z.B. der Public Protector), die dem Schutz der Demokratie dienen sollen. Insgesamt besteht noch Forschungsbedarf, wie man Netzwerke jenseits des traditionellen Gewaltenteilungsgrundsatzes zum Schutz der liberalen Verfassung etablieren kann. Möglicherweise bedarf es hierfür nicht nur der Gewaltentrennung und Aufteilung von Macht, sondern auch des Zusammenschlusses von für die liberale Demokratie bedeutsamen Akteuren. 4
Siehe hierzu unter C. IV. 1.–C. IV. 1. e).
II. Ausblick
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Ansatzpunkt für einen solchen Netzwerkgedanken könnte eine gänzlich andere Forschungsdisziplin sein: die Biologie. Diese beschäftigt sich mit lebenden Organismen sowohl im kleineren (Zytologie, Medizin) wie auch im größeren Maßstab (Ökologie). Auf die gleiche Weise, wie sich die Ingenieurswissenschaften von den Erkenntnissen der Natur leiten lassen und versuchen, Phänomene aus der Natur auf die Technik zu übertragen (Disziplin der „Bionik“), könnte auch die Rechtswissenschaft von den Erkenntnissen der Biologie profitieren. Sie befasst sich mit natürlichen Systemen, die sich ebenfalls regulieren. Technik und Rechtswissenschaft ist gemeinsam, dass es sich um vom Menschen geschaffene Systeme handelt. Indem die Biologie systematisch auf für die Rechtswissenschaft relevante und übertragbare Phänomene untersucht wird, lassen sich neue Erkenntnisse gewinnen. Zwar wird in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis auch bislang mit Metaphern aus der Biologie argumentiert, z.B. den „Organen“ im zivil-, straf- und öffentlich-rechtlichen Organisationsrecht, der „Gesamthandgemeinschaft“, „Körperschaften“, „legal transplants“ in der Rechtsvergleichung, Nachhaltigkeit etc. Diese Argumentationen werden aber noch nicht systematisch herangezogen, sondern lediglich anekdotisch-sporadisch zitiert. Ein Ansatz „law & biology“ oder „law & nature“, der soweit ersichtlich noch nicht praktiziert wird, könnte neue Impulse setzen, Erkenntnisse stiften und idealiter Lösungen für Probleme anbieten.
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Stichwortverzeichnis allgemeine Handlungsfreiheit 276, 277 Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten 106, 392 f. allgemeines Persönlichkeitsrecht 276 ff. ANC 3, 6, 103 f. Antizipation 66 f., 115 ff., 120 ff., 123 ff., 138 ff., 171 ff., 208 ff., 210 ff., 251 f. antizipierte Verwaltungspraxis 135 antizipiertes Sachverständigengutachten 134 f. Apartheid 92 f., 105, 226 f., 398, 400 Auslegung 325 ff. – historische 391 ff. – Sinn und Zweck 411 ff. – systematische 351 ff. – Wortlaut 327 ff. Auslegungsmethoden 325 ff. Ausnahmezustand 117, 241 ff. Baurecht 125 f. Beamtenrecht 160 ff., 201 Bekanntgabe eines Verwaltungsakts 133 f. Berufsfreiheit 381 f. Bestimmtheitsgebot 311, 372 Beweisantizipation 128 f., 130 f. Binnenmarktkompetenz (EU) 153 Brasilien 3 Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis 187 f., 190, 194, 208, 213, 218, 238, 240 f., 277 Bundeskanzler 43 Bundespräsident 28, 119, 213, 219 f. Bundesrat 28, 32, 40, 43, 47, 89, 148, 185, 222 Bundesregierung 28, 35, 40, 43, 60, 156, 174, 185, 222, 230 Bundesstaatsprinzip 110, 143, 144, 148, 159, 183, 194 Bundestag 28, 32, 40, 43, 48, 60, 100, 102 f., 148, 156, 185, 222, 248, 280, 419 Bundesverfassungsgericht – Entscheidung 429 ff. – Verfahrensarten 426 f.
CEU 13 f. Chapter 9 Institutions 33 ff. Corona 39 ff., 61, 115, 118, 264, 338, 342 Corona-Diktatur 39 ff. court packing 3, 10 f., 17 ff., 63 DDR 318 De-facto-Verfassungsänderung 23, 25 ff., 58 f., 113, 308 Dekonsolidierung, demokratische, siehe demokratische Dekonsolidierung Demagogenverfolgung 321 democratic backsliding, siehe demokratische Dekonsolidierung democratic decay, siehe demokratische Dekonsolidierung democratic deconsolidation, siehe demokratische Dekonsolidierung democratic rot, siehe demokratische Dekonsolidierung Demokratie 59, 97 ff. – abwehrbereite, siehe wehrhafte – direkte 100, 248, 317 f. – illiberale 1, 39, 98 – intolerante, siehe wehrhafte – Legitimationsketten 101 f., 106, 317 f. – liberale 63, 71, 98, 108, 111, 207 – Mehrheitsprinzip 101 f., 107 – militante, siehe wehrhafte – streitbare, siehe wehrhafte – und Grundrechte 106 ff. – wehrhafte 35, 44 ff., 62, 123 Demokratieförderung 5, 35, 228 demokratische Dekonsolidierung 2 ff., 56 ff., 58 ff., 63 ff., 70 ff., 111 ff., 177, 182, 210 ff., 430 f. demokratische Erosion, siehe demokratische Dekonsolidierung demokratische Funktionsbedingungen 51 ff., 71 demokratischer Rückfall, siehe demokratische Dekonsolidierung
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Stichwortverzeichnis
demokratischer Rückschritt, siehe demokratische Dekonsolidierung demokratischer Wettbewerb 2, 23 ff., 50, 56, 184 demokratisches Ethos 25 f., 52 ff., 313 Diktatur 36, 39 ff., 116 f., 145, 150, 165 f., 203, 210, 231, 253, 311 Diktaturgewalt des Reichspräsidenten (WRV) 30, 59, 176, 203, 219 f., 232, 244, 309, 319, 397, 402 f., 407 Disziplinarkammer (Polen) 19, 20, 63 Dogmatik 73 ff., 97 Drei-Elemente-Lehre 51 f., 239 Drei-Stufen-Theorie 381, 425 Eigentumsfreiheit 300 f. Einrichtungsgarantien 160, 164, 199 ff., 254, 280, 291, 304, 311, 338, 352, 393 f., 412 Einzelermächtigung, Prinzip der begrenzten 151 f. EMRK 18, 74, 109, 175, 189, 243, 281, 287 ff., 291, 353 f., 361 f., 383 Enteignung 300 f. Ermächtigungsgesetz (1933) 142 f., 308 ff., 312 état de siège 231 EU 5 ff., 37 ff., 63, 127 f., 148 ff., 264, 265, 268, 269 ff., 281 ff. Europarat 23 Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes 74 f., 402 Ewigkeitsgarantie 44, 138 ff., 192, 210, 226, 311 Fidesz 9 ff., 14 f., 23 Föderalismus, siehe Bundesstaatsprinzip Föderalismusreform 322 ff., 391 f. Fragmentierung 55 f. Frankreich 1, 100, 193, 231 f., 237, 319 freiheitliche demokratische Grundordnung 64, 108, 110 f., 110 f., 181 ff., 187 f., 188 f., 189 ff. Freiheitsstrafe, lebenslange 292, 301 ff. gegenseitige Anerkennung (EU) 37 f. Gesetzesvorbehalt 174 ff., 187 f., 208, 226, 254, 298 f., 305, 326, 337, 350, 353, 368 ff., 396, 402 ff., 407 Gewaltenteilung 27 ff., 32 ff., 56, 84, 100, 108, 142, 144 f., 431
Gleichheit 35, 37 f., 89 f., 102, 106 f., 109, 135, 175, 178, 183 f., 191, 195, 223, 226 f., 304, 378, 406, 429 f. Gleichschaltung 310 Großbritannien 6, 46, 231 Grundfreiheiten 153, 363 Grundrechte, Leerlaufen 70, 202, 207, 253 f., 303, 305, 308, 311 f., 393, 412 f. Grundrechtsbindung 144, 308, 255 ff., 398, 403 Grundrechtseingriff 61, 174, 369, 423 Grundrechtseingriff, additiver, siehe Maßnahmenkumulation grundrechtsgleiche Rechte 181, 191 f., 197, 304 ff., 441 Grundrechtsverwirkung 189 ff. Grundrechtsverzicht 424 Hambacher Fest 320, 321 Herrschaft auf Zeit 25, 102 f., 130, 144 f. Holocaust 310 institutionelle Garantie, siehe Einrichtungsgarantien Institutsgarantie, siehe Einrichtungsgarantien Interpretation, siehe Auslegung Israel 46 Kapitalverkehrsfreiheit 14 Kardinalgesetze (Ungarn) 11, 16 Karlsbader Beschlüsse 321 Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung 279 f. Kernbereichsschutz 164 ff., 205, 274 ff. Koalitionsfreiheit 278 f. Konditionalitätsverordnung (EU) 8 f. Konstitutionalismus 95, 174, 193, 369, 403 KPD 65, 182 f., 193 f., 196, 217, 309, 396, 400, 416 Machtüberlassung 202, 308, 310 martial law 231 Maßnahmenkumulation 26 f., 41, 63 ff., 68 f. Medien 12 f., 21, 23, 25 f., 40, 48, 54 f., 55 f., 313, 416 f., 419 Meinungsfreiheit 106, 317, 366, 377 ff., 414 Menschenwürdegarantie 8, 37, 60, 61 f., 89 f., 92, 109, 141, 144 f., 154, 165, 172 ff., 183, 191, 195, 209, 212, 226, 254, 275 f., 296, 311
Stichwortverzeichnis Nachhaltigkeitsgrundsatz 123, 245 ff. Nachschieben von Gründen 331 Nationalsozialismus 21, 92, 97 f., 145, 166, 172, 202 f., 210, 216, 219, 239 f., 308 ff., 312, 380 Nebenbestimmungen zum Verwaltungsakt 133 NGO 14, 22 Niederlassungsfreiheit 14 Norddeutscher Bund 239 Normenhierarchie, siehe Stufenbau der Rechtsordnung Normenkontrolle (verfassungsgerichtliche) – abstrakte 426, 427, 433 – konkrete 426, 427, 433 Notstand, innerer 170 f. Notstandsverfassung 123, 195 f., 229 ff. Notwehr 128 ff. NPD 43, 182 f., 186, 189 f., 212, 216, 222, 224 NSDAP 185, 216 f., 220 f. Oberstes Gericht (Polen) 19 ff. Obiter dictum 425 f. Offenheit des Verfassungstexts 75 f., 97, 263 f. Öffentlichkeit 51, 54 f., 105, 158, 328, 348, 356, 379, 415 f., 420 Organstreitverfahren 31, 423, 426 f. Parlamentarischer Rat (1948/1949) 185, 189, 394 f., 396 f., 398 f., 400, 406, 408, 409 Parteienfinanzierung 186 ff. Parteiverbot 56, 64, 177 f., 181 ff., 220 ff. Paulskirchenverfassung 77, 193, 320, 321, 392, 396, 398, 400, 402, 406, 410 Philippinen 3, 7, 231 PiS 16, 17, 23 Polen 3, 5, 7, 8, 9, 16 ff., 23 ff., 37 ff., 47 ff., 164, 171, 284 f. Populismus 44, 49 f., 117 Pouvoir constituant 138 f. Pouvoir constitué 138 f. Prävention 115, 120 ff. Pressefreiheit 2, 3, 12 f., 23, 27, 68, 189, 206, 312 Preußenschlag 309 f. Preußische Verfassung (revidierte, 1850) 116 ff., 174, 321, 337, 392, 410 Privatautonomie 131 f. Public Protector 33 f.
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Rat der Volksbeauftragten 406 f. Reaktion 120 ff. Rechtsstaat 2, 19, 23, 26, 34, 37 f., 70, 90 f., 107 ff., 143 ff., 177, 184, 195, 228, 329 f., 368 ff., 371, 405 Rechtsstaatlichkeitskrise 4 ff., 19, 38, 70 Rechtsstaatlichkeitsmechanismus 8 Rechtsstaatsrückschritt, siehe demokratische Dekonsolidierung Rechtsvergleich 81 ff. – Ähnlichkeit der Rechtsordnungen 88 f. – Alter der Verfassungen 87, 94 ff. – funktionale Methode 85 ff. – Länderbericht 86 – Sprache 96 – tertium comparationis 86 – Universalität 95 – Zulässigkeit 82 ff. Reichseinigung (1871) 117, 231, 239 Reichspräsident (WRV) 30, 176, 203, 219 ff., 232, 308, 310, 319 f., 402 f. Reichstagsbrandverordnung 309, 319, 403, 406 Reichsvereinsgesetz 406 f. Reichsverfassung (1871) 116 f., 222, 231, 239, 323 Religionsfreiheit 60, 375 Responsivität 90, 94, 103 ff., 226 f. Rettungsschuss, polizeilicher 297 ff. Richteranklage 167 ff. Rundfunkfreiheit 3, 21, 23, 312 Russland 3, 54 Schubladenverordnung 320, 406 Schuldenbremse 119 Schutzpflicht 172 ff. Selbstverwaltungsgarantie, kommunale 164 ff., 201 Sicherungsverwahrung 301 f. Sozialstaatsprinzip 111, 143, 247 Sphärentheorie 276 ff., 280, 291 Spannungsfall 120 SPD 222, 309 SRP 182, 226 Staatlichkeit 143 f., 148 f. Staatsgebiet 51 f., 239, 240 Staatsgewalt 28, 51 f., 90, 92, 99 ff., 106, 184, 239, 270, 417 Staatsschutz 235, 238 ff. Staatsstreich 18, 27, 30, 65, 112, 123, 216, 230 Staatsvolk 50, 51 f., 62, 99 ff., 106 f., 239, 240, 318, 350, 382, 418
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Stichwortverzeichnis
Straf- und Strafprozessrecht 128 ff. Stufenbau der Rechtsordnung 75, 76 ff., 248, 297 Südafrika XIX f., 32 ff., 81 ff., 103 ff., 108 f., 116, 136 ff., 157 ff., 166 f., 169, 171, 173 f., 175, 178, 181, 191, 206 f., 209 f., 225 ff., 228, 232 ff., 237, 240, 245, 249 f., 257 ff., 268, 325, 333, 343, 365, 373, 374, 395, 398 f., 404 f. Superrevisionsinstanz (BVerfG) 323 f. Todesstrafe 258 f., 294, 302, Trennungs- und Abstraktionsprinzip 132 Türkei 3 Übermaßverbot, siehe Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Übertragung von Hoheitsrechten 139, 148 ff., 269 ff., 428 Ungarn 1 ff., 5, 7 ff., 9 ff., 23 ff., 27 ff., 37 ff., 47, 70, 164, 171 Unrechtserfahrung 92 f., 219, 226, 237, 395 USA 36, 45, 192 f., 231, 285, 410, 419 Umweltschutzprinzip 245 ff. Venedig-Kommission 5, 7, 9, 11 ff., 17 ff. Venezuela 3, 7, 112, 319 Verbot des Angriffskriegs 121 Verbot des Einzelfallgesetzes 311 Vereinigungsfreiheit 2, 14, 176, 181, 189, 225 Vereinsverbot 44, 64 f., 67, 122, 176 ff., 190, 192, 210, 214, 226 Verfassungsänderung 59 ff., 138 ff. – Kumulationen 146 ff. – Textänderung 139 ff., 150 Verfassungsbeschwerde 31, 149 ff., 196 f., 305, 365, 367, 426 ff. Verfassungsfestigkeit 46 ff. Verfassungsgerichtsbarkeit (Polen) 17 ff. Verfassungsgerichtsbarkeit (Südafrika) 32 f., 89, 404 Verfassungsgerichtsbarkeit (Ungarn) 10 ff. Verfassungsidentität 110 f., 113, 144, 156, 159, 180, 183, 195, 197, 208 f., 224, 251 Verfassungskonflikt, preußischer 116 ff., 174 Verfassungskonvent von Herrenchiemsee 218, 228, 355, 394 f., 396, 400 verfassungsmäßige Ordnung 46, 49, 58, 64, 110 f., 161 ff., 167 f., 174 ff., 192, 194, 208, 236, 239, 247
Verfassungsrecht – formelles 141 – materielles 47 Verfassungsschutz 234 ff. Verfassungstreue 178 ff., 378 Verfassungsvergleich, siehe Rechtsvergleich Verfassungswandel 80, 147, 326 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 60 f., 75 f., 370 ff., 404 f., 415 f. Versammlungsfreiheit (Deutschland) 316 ff. – Anmeldefreiheit und -pflicht 320, 326, 344 f., 406 ff. – Anzahl der Personen 340 ff., 366, 409, 414 – Auflage 41, 374 f., 380, 382 – Auflösung 344 f., 376, 379 – Beachtungserfolg 379 f. – beschränkende Verfügung, siehe Auflage – Demokratiebezug 71, 316, 382 f., 413, 416 ff. – Deutschengrundrecht 333 ff., 360 ff., 396, 400 ff., 414 – Digitalisierung 81 – Drittwirkung 355 ff., 398 ff., 414 – EU-Ausländer 334, 363 ff., 401 f. – Friedlichkeit 320, 322, 347 ff., 383 ff., 410 f. – Funktionen 417 ff. – Gegendemonstrationen 22, 79, 347 – Genehmigungsfreiheit und -pflicht 41 f., 320, 346 f., 406 ff. – Gesetzesvorbehalt 350 f., 368 ff., 402 ff. – Gesetzgebungskompetenz 322 ff., 391 f. – Haftung für Schäden 383 ff. – hierarchische Ordnung 317 – infrastrukturelle Begleiteinrichtung, siehe Protestcamp – juristische Personen 334, 364 ff. – Konsensfunktion 417 – Minderheitenschutzfunktion 417, 419 f. – natürliche Personen 360 ff. – öffentliche Ordnung 319 ff., 376, 380 f., 383, 390 f., 397, 406 – öffentliche Sicherheit 319 ff., 375, 380, 397 – öffentliches Forum 356 ff. – Onlineversammlung 339, 394, 422, 440 – Ort 336 ff., 409 f., 415 – Persönlichkeitsentfaltung 414 ff. – Plebiszitfunktion 417, 418
Stichwortverzeichnis – Protestcamp 318, 340, 343, 346 f., 349, 389 f. – Publikationsfunktion 417, 418 f. – Rechtscharakter 335 f., 355, 414 – Rechtsschutz 336, 367 f., 405 – Selbstbestimmungsrecht und staatliche Neutralität 346, 374 ff., 406 ff. – selbsthilfeähnliche Durchsetzung von Forderungen 348 f. – sight & sound 379 f., 382 f., 421, 439 – Sitzblockaden 322 – Spaßveranstaltung 81, 382, 408 f. – Stabilisierungsfunktion 417, 420 f. – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 370 ff., 404 f., 415 f. – Vermummungsverbot 78 f. – Versammlungsbegriff 336 ff., 373 f., 408 f., 414 f. – Versammlungsverbot 320, 321, 338, 342, 358, 376 f., 379 f., 397, 406 – Versammlungszweck 340, 408 f. – Waffenlosigkeit 320, 319, 347 ff., 410 f. – Warnfunktion 417, 420 – Zeit 339 f. Versammlungsfreiheit (Südafrika) 333, 339, 340, 343, 345, 347, 359 f., 365, 368, 373, 374, 376 f., 383, 399 f., 404, 406, 408 – Anzahl der Personen 342 f., 366 f. – Friedlichkeit 348, 349 f., 383, 385 ff., 391, 408, 410 – Haftung für Schäden 383, 385 ff. – Jedermanngrundrecht 335, 362 f., 366, 398, 402 – Rechtscharakter 336, 350, 355, 369 f. – Zeit 340, 342 f. Verteidigungsfall 122 Vertretungsregeln 119 f. Verwaltungsrecht 133 ff., 331 Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes 74 f., 402 Volkssouveränität 99 ff., 184
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Wahlrecht 14 f., 22, 25 f., 47 ff. wehrhafte Demokratie, siehe Demokratie, wehrhafte Weimarer Reichsverfassung 30, 45, 58, 59 f., 142 f., 176, 185, 193, 203, 215, 217 f., 219 f., 225, 231 f., 244, 254, 294, 308 f., 312, 319, 335, 355, 392, 393 f., 396 ff., 402 ff., 406 f., 408, 409, 410 Wesensgehaltsgarantie (Deutschland) 66, 67 f., 79, 205, 207, 215 f., 217 ff., 227 ff., 231 f., 253 ff., 308 ff., 319 f., 327 ff., 331, 351 ff. – absolutes/relatives Verständnis 62, 68, 70, 264, 295 ff. – grundrechtsgleiche Rechte 304 ff. – Kumulationen 41 f., 303 f., 427 f., 429 ff. – Nichtigkeit als Sanktion 257, 264 f. – objektive/subjektive Deutung 293 ff. – Rolle der Rechtswissenschaft 431 ff. – Schranken-Schranke 256 f. – Verfassungsprozessrecht 422 ff., 426 f. Wesensgehaltsgarantie (EMRK) 264, 281, 287 ff., 353 f. Wesensgehaltsgarantie (EUGrCh) 264, 265, 268, 281 ff., 353 f. Wesensgehaltsgarantie (Südafrika) 91, 257 ff., 268, 291 f., 293 f., 395 f. Wesentlichkeitsgedanke 311, 328, 329 f., 403 Widerstandsrecht 1, 44, 64, 144, 191 ff., 210, 230, 232 Wiedervereinigung 269, 273 f. Wissenschaftsfreiheit 13, 23, 178 ff., 208, 293 Zeit 80 ff., 115 ff., 266 Zensur 77, 378 Zentrum (Partei) 143 Zitiergebot 268, 296, 311, 395 Zivilgesellschaft 12 ff., 21 f., 35 Zivilrecht 126, 131 ff.