Hundert Jahre deutsche Wohnmisere und kein Ende? 9783035602357, 9783764363727


189 72 7MB

German Pages [220] Year 2000

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Die neue Wohnungsnot, Anlaß zu einem Buch
Einleitung
1. Der Geburtsfehler
2. Am Rande der Sättigung
3. Das Erschrecken
4. Die Bilanz
5. Die neue Fatalität
Bibliographie
Bildquellen
Recommend Papers

Hundert Jahre deutsche Wohnmisere und kein Ende?
 9783035602357, 9783764363727

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Bauwelt Fundamente 91

Herausgegeben von Ulrich Conrads und Peter Neitzke Beirat: Gerd Albers Hansmartin Bruckmann Lucius Burckhardt Gerhard Fehl Herbert Hühner Julius Posener Thomas Sieverts

Christoph Hackelsberger Hundert Jahre deutsche Wohnmisere und kein Ende?

ν Friedr. Vieweg & Sohn

Braunschweig/Wiesbaden

Erste Umschlagseite: Glossierung des Geschoßwohnungsbaues durch M. R. Auzelle in: Ot Hoffmann/Christoph Repenthin, Neue urbane Wohnformen, Gütersloh und Berlin 1965 Vierte Umschlagseite: Arrigo Orsi, Notturno in: Otto Steinert, Subjektive Fotografie, Bonn 1952

Der Verlag Vieweg ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann International. Alle Rechte vorbehalten © Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH, Braunschweig 1990 Umschlagentwurf: Helmut Lortz Druck und buchbinderische Verarbeitung: Lengericher Handelsdruckerei, Lengerich Printed in Germany

ISBN 3-528-08791-9

ISSN 0522-5094

Inhalt

Die neue Wohnungsnot, Anlaß zu einem Buch

1

2

7

Einleitung

15

Hausen - Wohnen Zum Hausen Zum Wohnen Wie es zum Massenwohnen kam

15 26 28 30

Der Geburtsfehler

50

Vom „Führererlaß" 1940 bis in die „Wendezeit". Wohnungsbau im „Dritten Reich" und in der Bundesrepublik Die Wohnungsbaugesetze der Bundesrepublik Die ECA-Wettbewerbe

50

Am Rande der Sättigung Die Wende zur Neubürgerlichkeit Bürokratismus statt Vernunft Die Verdrängung Innenstadtwohnen Denkmalsch windel Die Eindringlinge Die Neue Armut Resultat: Fehleinschätzung

71 85 98 101 104 106 111 112 113 115 121

5

3

Das Erschrecken

123

Das Wohnungsdefizit in der Bundesrepublik Die Entwicklung in der DDR Verweigerung von Einsichten

123 127 130

4

Die Bilanz Der Bedarf, sofort und demnächst Die Kostenfrage Die Bodenfrage Neue Genossenschaften Zur Bauwirtschaft Industrialisierung des Bauens Neue Versuche Euro baumarkt Planung, Architektur des erneuerten Wohnbaus Energiesparen Ökologie Wasserersparnis Kostensparendes Bauen Entscheidend für den Wohnbau Zur Architektur Wohnbauarchitektur Architekten und Wohnungsbau

136 136 142 147 156 158 162 171 178 179 189 191 192 192 195 199 200 204

5

Die neue Fatalität Ein Resümee Wohnbauarchitektur Das Wohnen-Können

209 209 211 211

Bibliographie Bildquellen

6

213 214

Die neue Wohnungsnot, Anlaß zu einem Buch Die Außenhandelsweltmacht Nummer 2, bis vor kurzem noch Nummer 1, die dritte Industriemacht der Erde, das Land mit dem höchsten Geburtendefizit und der chancenreichsten Disposition zur Vergreisung, die bis zum äußersten geregelte, bürokratisch gegängelte Gesellschaft der Bundesrepublik ist sichtlich nicht in der Lage, die Wohnprobleme ihrer Bevölkerung zufriedenstellend zu lösen. Diese Unfähigkeit, deren Wurzeln dieses Buch aufzeigen möchte, ist schon kein Ärgernis mehr, sondern eher ein Skandal. Seit dem „Steckrübenwinter 1916/1917", mitten im Ersten Weltkrieg, als das Deutsche Kaiserreich, der imperialistische Popanz, der unseren „Wendeenkeln" wieder so vorbildlich und ehrwürdig erscheint, mit den „National-Vaterfiguren" Hindenburg und Ludendorff an der Spitze zur Militärdiktatur der Obersten Heeresleitung verkam, seit diesem Hungerwinter der einfachen Leute haben Wohnungsbewirtschaftung und Wohnungsmangel samt der zugehörigen obrigkeitlichen Mangelverwaltung den deutschen Alltag begleitet. Als die erste deutsche Republik, die von Weimar, das in Konkurs gegangene Kaiserreich liquidieren durfte, übernahm sie als Erblast auch gleich ein Wohnungsdefizit von Millionen. In ihren guten Jahren, zwischen 1924 und 1930, entstanden in dieser Republik, zumeist in deren großen Kommunen, 1,8 Millionen Sozialbauwohnungen. Wohnungsbau war erstmals in Deutschland zur öffentlichen Aufgabe geworden. Es war die große Zeit des Neuen Bauens, des sozial-humanen Aufbruchs zu den Ufern einer neuen, gleichberechtigten Gesellschaft mit neuen Menschen, die nicht mehr Untertanen sein sollten und Objekte, sondern freie Bürger eines demokratischen Landes. 7

Die Weltwirtschaftskrise und die fehlende staatsbürgerliche Solidarisierung der auf vordemokratischen Zuständen insistierenden Rechten und einer von proletarischer Diktatur schwafelnden extremen Linken fegten den Weg für die populistisch-rassistischen Nazi-Hilfstruppen der Rechten. Dem Neuen Bauen weinten damals ebenso wenige nach wie der Republik. Wenn es ums Wohnbauen ging, sollte es jetzt deutsch-völkisch, in edel-gediegener Handwerklichkeit oder heimattümlich weitergehen. Aber es passierte insgesamt wenig. Die Nationalsozialisten redeten zwar ununterbrochen vom „gesunden Volkstum" und den dafür erforderlichen Wohnungen, aktiv wurden sie aber auf ganz anderen Ebenen. Wenn es aus Anlaß von Truppendislozierungen, Rüstungsindustriepolitik, in Verfolg von Autarkiebestrebungen tatsächlich irgendwo zu umfänglicheren Wohnungsbauten kam, machte man darum das obligatorische Propagandagetöse. Oft reichte es auch schon, über Beabsichtigtes einen Film zu drehen und diesen breit vorzuführen. Das war preiswert, wirksam, ersparte rüstungswichtiges Material und verschärfte auch nicht die sowieso angespannte Lage am Arbeitsmarkt. Immerhin hatte man ja neben gewaltigen baulichen Darstellungen der Staatsmacht im klassischen Stil erhebliche Befestigungsanlagen des Westwalls aus dem Boden zu stampfen. Das eigentliche Wohnbauprogramm dieser chiliastischen braunen Barbaren nordischer Rasse sollte auch erst nach dem „Endsieg" ins Große laufen. Daß es dazu nicht kam, lag letztlich am mangelnden Realitätssinn des deutschen Volkes, das sich zum zweiten Mal in einem halben Jahrhundert, das erste Mal unter falscher, das zweite Mal unter falscher und krimineller Führung, total überschätzt hatte. Per saldo ist es dem deutschen Volk unter dieser „einmaligen" und sicherlich „unvergeßlichen Leitung", von allem anderen einmal abgesehen, gelungen, den nationalen Wohnungsbestand um rund 4 Millionen Wohneinheiten, ein Viertel des Bestandes also, zu reduzieren. Hierbei darf aus aktuellem Anlaß nicht unerwähnt 8

bleiben, daß man nach brutalen „Eingemeindungen" über die Grenzen von 1937 hinaus Mitte der vierziger Jahre dann auch Gebiete samt Wohneinheiten verlor, welche vor den „Ausflügen" ins Umland zum Reichsbestand gehört hatten und heute für neowilhelminische Bürgereliten sichtlich und vernehmbar noch immer dazugehören. Die zweite Hälfte der vierziger Jahre brachte dann noterzwungen und andauernd fast bis zur Mitte der fünfziger Jahre die eigentliche Orgie der Wohnungszwangswirtschaft samt bürokratisch exekutierter Mangelverwaltung. Zwischen 1949, dem Gründungsjahr des Reichsnachfolgestaates Bundesrepublik und der östlichen Gegengründung D D R , und heute teilt sich die Wohnungsfrage dann bei recht ähnlicher Ausgangslage in zwei der Qualität nach ähnliche Herausforderungen, die aber aus den verschiedensten Gründen völlig unterschiedlich beantwortet wurden. In den Ländern der Bundesrepublik wurde in einer ebenso gewaltigen wie unflexibel-bürokratisch-teilintelligenten Bauschlacht, welche nur mit den wohnungsbaulichen Leistungen der deutschen Urbanisierungsphase zwischen 1860 und 1914 vergleichbar ist, versucht, die Massenwohnungsprobleme endgültig zu lösen. In dieser Zeit wuchsen die Wohnungsbestände von 7,5 auf rund 26,3 Millionen. Daß die architektonische und urbanistische Qualität bei dieser „Materialschlacht" nicht das ihr zukommende Gewicht erhielt, weiß inzwischen jeder. Eine hochproduktive Gesellschaft, nicht besonders interessiert an immateriellen Werten, produzierte, auf Hitlers Nachkriegswohnungsbauüberlegungen von 1940 fußend, an sich selbst und auch an recht verstandener Wohnkultur vorbei. Die Belegschaft des „Betriebs Bundesrepublik", die durch eine leidlich soziale Marktwirtschaft merkantiles Weltmachtformat erlangt hatte, vergaß merkwürdigerweise beim Wohnen den Markt. Wohnbauen galt als Instrument plan wirtschaftlicher Konjunkturlenkung. Ankurbeln, bremsen ließ sich das anscheinend leicht;

9

dazu konnte man verordnen, zuteilen, festschreiben, kurz, verwalten. Sichtlich hat man unter allen Umständen vermieden, genau hinzusehen, was sich in der Gesellschaft eigentlich änderte. Man hat ohne Phantasie nach alten Rezepten gehandelt, nach politischen ebenso wie nach bürokratischen. Man hat sich jeweils mit der Statistik bewiesen, daß man auf dem richtigen Weg sei, recht hätte und allen Ansprüchen gerecht würde. Im anderen deutschen Staat, dem „ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden", war die Art, wie man sich mit der Wohnungsbaufrage befaßte - das stellt sich nun anläßlich des Konkurses der verkommenen staatskapitalistischen Bürokratie- und Schindemaschine, die so gar nichts mit Sozialismus zu tun hatte, heraus - , in jeder Weise um vieles miserabler. Nach den Gesetzen der Planwirtschaftsmangelverwaltung ließ man die Wohnungsbestände aus den Zeiten der verschiedenen deutschen Reiche verkommen. Ab 1970 unternahm die „volkseigene" Bürokratie gemäß planwirtschaftlich-„östlichen" Vorgaben Anstrengungen, den dringend notwendigen Wohnungsbau in industriellen Verfahren zu leisten. Dies geschah, wie im ganzen Ostblock üblich, durch Einführung eines einzigen Großplattenbausystems, dessen gnadenlose Minderwertigkeit nicht einmal Planbürokraten verborgen blieb. Diese hatten allerdings die Genugtuung, mit solcher „Schuhschachtelei" ihre eigenen Planvorgaben erfüllen zu können. Wachsender Gigantismus und krasse Vernachlässigung liefen in der DDR in den siebziger und achtziger Jahren parallel. Was es außer „Betonwerkern", den Herstellern und Monteuren der Plattenhäuser, an konventionellen Bauhandwerkern noch gab, kommandierte man zum Herrichten des „Schaufensters der Republik" in die Hauptstadt ab. Schon in Potsdam oder Cottbus ging nichts mehr, und schlimmeren Verfall als in der DDR gibt es nur weiter östlich oder in der Dritten Welt. Bei der Wiedervereinigung, die mutatis mutandis Assoziationen an die überstürzte Kaiserproklamation vom Januar 1871 hervor10

ruft, zeigt sich, daß die eins werdende Nation innerhalb der Grenzen von 1945 einen gewaltigen Wohnungsbedarf hat. 6,6 Millionen Wohnheiten werden bis zum Jahr 2000 gebraucht. Erschwerend kommt hinzu, daß die Deutschen zwar nicht mehr das „Volk ohne Raum", aber leider das „Volk ohne genügend Bauland an der richtigen Stelle" sind. Das Problem des Bodeneigentums wurde nie ernsthaft angegangen, und so ziehen sich die Schwierigkeiten durch die Zeit. Die Probleme verschärfen sich, weil Deutschland, die vereinigte Republik, mangels eigener Reproduktionsfahigkeit des ehemaligen „Herrenvolkes" und erheblichen Bedarfs an „menschlichen Betriebsmitteln", für seine Aktivitäten in verstärktem Maß ein Immigrationsland sein wird oder, genau genommen, bereits ist. Schon zeigt sich ängstliche Sensibilisierung. Diese verschärft die Wohnungsfrage, problematisiert Standorte, da unweigerlich bald Segregation auftreten wird. Nicht der mehr oder weniger wohlhabende Teil der deutschen Bürger, zwei Drittel, sind wohnunterversorgt, sondern das dritte Drittel, bestehend aus Randgruppen, Immigranten, aus erheblichen Anteilen der Bürger der ehemaligen DDR. Wir benötigen also in erster Linie preiswerte, dazu in den Ballungszentren gut dislozierte Wohnungen, und dies so rasch wie irgend möglich. Wir benötigen sie in kleineren Einheiten, damit die Gefahr von Gruppensegregation vermieden wird. Wir dürfen auf keinen Fall in die Großsiedlungsstereotypien der sechziger und siebziger Jahre zurückfallen, da wir mit diesen Relikten bei weiterer Verdünnung der einheimischen Bevölkerung sowieso über „ausreichende" Anlässe zur Ghettobildung verfügen. Wie ist die Deutsche Republik gerüstet, um mit den nun plötzlich nach jahrelanger, skandalöser Blindheit wiederentdeckten Wohnungsproblemen in angemessener Zeit fertigzuwerden? Denkbar schlecht, so muß die Auskunft lauten.

11

• Am wenigsten taugt die intellektuelle Bewältigung des Problems. Ideologie und Bürokratie sind wieder heftig im Spiel. • Öder Perfektionismus bremst nach wie vor. • Der chaotische Wust unserer Regelungen und Normen erstickt alles. Daß dies besser werden wird, wenn nach 1993 deutsche Normen durch europäische abgelöst werden, ist nach allem, was man aus Brüssel hört, nicht zu erwarten, eher das Gegenteil. • Wohnungen wurden in den achtziger Jahren mehr denn je „gebastelt", „gehandwerkelt", nicht produziert. • Der letzte Ausflug in den Sechzigern und Siebzigern ins industrialisierte Wohnbauen - die einzige Chance zu rascher Verbesserung — war eine einzige Pleite, weniger für die Baulöwen als für die Bewohner. Man hatte grobschlächtig am falschen Ende angefangen mit klotziger Rohbaufabrikation, statt sich um einen flexiblen, modularen Ausbau zu bemühen. • Die „Neue Gemütlichkeit" der zweiten Hälfte der siebziger und der achtziger Jahre war nichts als ein vom Publikum ersehnter und sofort bedienter Diversifikationsbetrug. Die Diskrepanz zwischen Rohbau und Ausbau wurde noch größer, die Handwerkelei schier unbezahlbar. Die Kapazitäten des Baugewerbes sind ungleichgewichtig. Während die „Gewichtheberei" des Rohbaus einigermaßen rationell vor sich geht und auch, trotz merklich fehlenden Nachwuchses an den Baustellen, noch leidlich bewältigbar erscheint, hat das Ausbaugewerbe die früher dort reichlich versammelte Intelligenz dank der Bildungsmobilisierung „nach oben" verloren. Die Wohnungsbaugeschichte ist ärgerlich. Die saturierte Unbeweglichkeit läßt nichts Zustandekommen. An den Architekten, die sich zwar in der Breite während der letzten zwanzig Jahre zu den „Gestaltungsclowns" der von einer Verwöhnung in die andere fallenden Gesellschaft gemacht haben, liegt es neuerdings nicht, wenn das Wohnbauen fehllaufen sollte. Gerade jüngere, engagierte Leute haben in letzter Zeit in den 12

allgemeinen Wogen des Kitsches und der pseudobürgerlichen Gemütsarchitektur eine beachtliche Zahl guter Modelle für preiswertes, sozial vernünftiges und Neuem gesellschaftlich verpflichtetes Wohnen geliefert. In der Breite fehlen aber die Abnehmer, die „Nachfrager", wie es so schön heißt. In Analogie zu dem Spruch, daß der Mensch gut, die Leute aber ein Gesindel seien, ist das deutsche Volk tüchtig in vielem, wach, in der Summe hochqualifiziert, politisch zwar opportunistisch, aber nicht dumm, während die Bürger in Wohndingen borniert, konsumideologisiert und auch -terrorisiert, dazu erstaunlich unkultiviert und ohne Humanität sind. Man muß sich nur einmal ansehen, wie Politiker, das sind ja die handverlesenen Exponenten der Gesellschaften, hierzulande wohnen. Etwas weiteres fällt ungut auf. Die Ellenbogengesellschaft, die zweite Generation, Adenauers Urenkel, die sich ständig weiterverbreitenden Nachkriegsreichen und -saturierten, sind nicht mehr in der Lage, Solidarität mit sozial Schwächeren zu empfinden. Da Solidarität im Sozialstaat anscheinend nicht nötig ist dafür ist ja der Staat da - , muß die anonyme politische Solidargemeinschaft für die Benachteiligten sorgen. Die gewählten Wächter der Solidargemeinschaften, die Politiker, haben sich nach der „Wende" als rechte Nachtwächter erwiesen und die Wohnungsfürsorge eher absichtsvoll verbummelt, weil sie, was im Prinzip nicht unvernünftig, aber in der Realität durchaus blödsinnig ist, das Regulativ des Marktes fürs Wohnen herbeizwingen wollten, ohne die Regulierungen des Planens und Bauens aufgeben zu können. Bei dieser merkwürdigen, zweckoptimistischen Quadratur des Kreises haben sie sichtlich übersehen, daß man in einer idealiter egalitär gedachten, sozial verfaßten und berechtigten Gesellschaft nicht einfach zehn Prozent der Mitbürger im Regen stehen lassen kann, nur weil man sich in Sachen Wohnungsvollversorgung etwas vormachen möchte.

13

Nun ist das Jammergeschrei groß, und es sieht so aus, als fiele einem nichts Besseres ein, als wieder mangelverteilerisch, bürokratisch zu agieren, wie eben seit jenem „Steckrübenwinter" mitten im Ersten Weltkrieg. Sogar Notprogramme unseligen Angedenkens von anno 1931, 1944 und 1946 werden im Bundesbauministerium neu aufgelegt und ausgeheckt, Provisorien, so heißt es, als gäbe es so etwas, abgesehen von Zeltstädten, im baulichen Bereich überhaupt. Dies alles wäre überflüssig, wenn man nicht ein Jahrzehnt lang versucht hätte, die Probleme dickfällig auszusitzen, als sie noch klein und handhabbar waren. Nun sind sie ziemlich ungeschlacht und sperrig geworden. Der deutsche Wohnungsbau muß mit einem Fluch beladen sein. Irgendwer hat immer Ideologisches oder Sachfremdes mit ihm vor. Warum kommt eigentlich niemand auf die Idee, daß die Wohnung zu den lebensnotwendigen Gütern gehört, die zu erschwinglichen Preisen in relativ überfließender Menge da sein müssen? Warum muß sich die Ware Wohnung an irrsinnigen, verteuernden Vorgaben orientieren und nicht, wie andere Güter auch, an der Bezahlbarkeit? Es wäre zu hoffen, daß man sich in „diesem unseren" wohnbornierten Land endlich einmal an den tatsächlichen Bedürfnissen orientiert. Sieht man sich allerdings um, so sind die Chancen für einen solchen Einbruch der Vernunft nicht eben gewaltig.

14

Einleitung Hausen — Wohnen Vielleicht ist es eine Art von Besessenheit, sichtlich alltäglichen, anscheinend nicht erklärungsbedürftigen Tatbeständen nachspüren zu wollen. Schon ganz geringes Eintauchen in unser Problem, jenes des Behaust- oder Unbehaustseins, zeigt aber, daß nichts, aber auch gar nichts selbstverständlich ist. Alles ist erst geworden seit kurzem oder noch nicht verwirklicht. Wir bemühen uns um ausgewogenes, sozial verträgliches Wohnen, dies zunächst in einem hochentwickelten Land und dann weltweit. In unseren Jahren, zehn Jahre vor der Jahrtausendwende, bewohnen den Planeten etwa 5,5 Milliarden Menschen. Wohlwollend geschätzt, wohnen nach unseren Maßstäben gerade 750 Millionen. Der unheimliche Rest von 4 Milliarden 750 Millionen Menschen haust, vegetiert am Rande, ist zu nicht geringen Teilen unbehaust. Will man diese Unbehaustheit lokalisieren, so genügt es zum einen, die Statistiken über das Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung, zum anderen jene der Säuglingssterblichkeit miteinander in Verbindung zu bringen. Was hier leicht ablesbar ist, darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch in den hochentwickelten Gesellschaften ein unübersehbarer, zum Teil großer Prozentsatz von Menschen unbehaust ist. Die erschütternden 4 Milliarden 750 Millionen Unbehausten, letztlich unfaßliche Zahlen, relativieren vordergründig unser mitteleuropäisches, deutsches Problem. Globalbetrachtungen bringen jedoch wenig. Das Schicksal der Menschheit wird in den einzelnen Köpfen und Herzen entschieden. Es baut sich vom Kleinen, vom Ubersichtlichen her auf, mündet in ein allgemeines Bewußtsein, in einen Willen, dann erst in Aktivitäten. Das 15

Gewollte teilt sich als allgemeinverständlich mit, Zustände werden nicht mehr geduldet, und so entsteht der Ruf nach Verbesserung der menschlichen Lage, so darf man aus der Erfahrung hoffen, wenn der Preis für die Verbesserung annehmbar ist. Dabei hat die Unerträglichkeit nichts mit einer allgemein ermittelten Unerträglichkeit zu tun; sie ist immer relativ, bezieht sich auf das Gefälle zur direkten Umgebung. Es ist also kein ungesunder, alles übrige verachtender Egoismus, wenn die entwickelten Gesellschaften ihre eigenen Probleme, die vor dem Hintergrund der offenen, noch unbewältigten Fragen der gesamten Menschheit fast nichtig erscheinen, sehr ernst nehmen und mit Aufwand zu lösen versuchen. Solcher Lösungswille kommt auch der Gesamtheit zugute. Wie nie zuvor hängt das Schicksal der Welt fast einzig an der Leistungsfähigkeit derer, die wir als „Wohnende" bezeichnet haben. 15 Prozent Wohnende haben die Verpflichtung, stehen aber andererseits auch aus schierem Selbsterhaltungstrieb vor der unfaßbar großen Aufgabe, für 85 Prozent Hausende oder gar Unbehauste zufriedenstellende Bedingungen zu schaffen. Daß diese 15 Prozent zunächst und vor allem versuchen, die Mängel im eigenen Bereich zu beheben - und dies, ohne dabei das Ganze aus dem Auge zu verlieren - , ist naheliegend. Längst wissen wir, daß das Wohnproblem nur ein Signal für andere, tiefer reichende Unverträglichkeiten und Unzulänglichkeiten ist. Gerade in den Bereichen der Wohlversorgtheit, in den nördlichen Leistungszentren der Welt also, zeigt sich deutlich die Tendenz zur Aufspaltung der Gesellschaften in leistungsfähigleistungsbereit-Berechtigte - nennen wir sie die „Wohner" - und solche, die aus nicht selbstverschuldeten Gründen dem Leistungsanspruch, dem steigenden Druck, den Anforderungen an Qualifikation und Anpassungsbereitschaft nicht oder nicht mehr gewachsen sind. Diese Aufspaltung signalisiert ein Abdriften in tödliche Verantwortungslosigkeit, selbst innerhalb der engeren Umgebung. Die Ausscheidenden sind in zunehmendem Maße, 16

wenn wir nicht mit sozialer Betroffenheit reagieren und geringe Teile unseres Reichtums aufwenden, „Hauser" inmitten der Wohner, oder sie werden dazu. Die Zahl der Hauser scheint, dies sei vorweggenommen, in unseren Breiten, wo wir das Hausen gerade erst seit ein paar Jahren endgültig für überwunden geglaubt hatten, neu und umfangreich im Wachsen begriffen. Dies liegt, so zeigt sich, am Versagen der großen Menschheitsideen, welche, jede in der ihr eigenen Einseitigkeit, in Regelkreise eingegriffen und letztlich nichts als destabilisierende Akzeleration erzeugt haben. So hat der christlich-abendländische Heils- und Missionsgedanke zuletzt nur noch den Imperialismus und, als säkularisierten Ausläufer, den Marxismus hervorgebracht. Der erstere brach sich in zwei Wellen bis Mitte des 20. Jahrhunderts, der zweite scheitert derzeit endgültig. Die Wogen hinterließen nichts als schmutzige Säume auf den Stränden unserer Zeit. Alles war schon lange in Bewegung geraten, aber nur zu Teilen. Bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts war Bewegung absichtsvoll oder immerhin ausgelöst von Absichten. Heute ist die Bewegung total geworden, ein Zustand, der auf Begründung verzichten kann. Was einst in geschichtsloser Zeit Evolution war, ist seit dem Einbruch der gemessenen, bewußt erlebten Zeit, seitdem das Gestern nicht mehr mythisch verstanden wird, sondern zur prospektiven, analogiefähigen und analysierten Geschichte wurde, zum Werkzeug der Überwindung des unausweichlichen, nun für katastrophal gehaltenen Todes, zur permanenten und dazu beschleunigten Revolte geworden. Diese Revolte geht längst mit totaler Mobilität, mit Auflösung und Ablösung einher. Wohnen aber setzt dieser Bewegung etwas entgegen. Wohnen ist ein Akt des Sich-Festsetzens, des Beharrens, ein Ort des Beisich-Einkehrens, ein Wall unzählig vieler Widerstände. So ist die Anstrengung, dem Hausen das Wohnen entgegenzusetzen, der Versuch, einer revoltierenden Welt Ordnungen zu vermitteln, die

17

überhaupt erst Abwägen, Werten der jeweiligen Situation zulassen. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Wenn ein landflüchtiger Campesino sich in die Randbereiche einer längst ausgewucherten Metropole flüchtet, weil er am gewohnten Ort, an dem er auch schon eher hauste als wohnte, keine Chance mehr sieht, dann findet er - nun endgültig von allem losgelöst, ein Hausender der untersten Kategorie - nichts als vage Hoffnung. Er ist ein Flüchtling aus der sicheren und tödlichen Ausweglosigkeit in die kommunikationsgestützte, unsichere Hoffnung, in der es für ihn, mindestens vorläufig, bis zum Scheitern oder Sich-Einleben trotz allem ein „und dann" gibt. Wir nennen diesen Menschen in klassifikatorisch-bürokratischer Arroganz einen „Wirtschaftsflüchtling", einzig weil er seinen Ort nicht deshalb verläßt, weil ihn irgendeine Gewalt, und sei es ein Polizeistiefel, die bei uns noch immer irgendwie für konstitutiv gehaltene Ordnung also, zertritt, sondern weil er verhungerte, wenn er bliebe. Für unseren Beispiel-Campesino ist es aber relativ gleichgültig, ob er unter Würdigung seiner Freiheitsrechte, also unbedroht, verhungert oder ob er unter Verletzung unserer - auch erst gestern Verfassung gewordenen - Sicherheiten des „Habeas corpus" an irgendeiner Mauer abgeknallt wird oder sonstwie gewaltsam zu Tode kommt. Dieser von einer schmalen Hoffnung lebende Wirtschaftsflüchtling also, der nie wohnen wird, der überall hingehen wird, wo in sein Dunkel durch einen Spalt etwas Licht fällt - auch uns schändet sein Schicksal - , wird zwischen seiner Geburt und seinem baldigen Tod - er hat statistisch nur eine Lebenserwartung von 15 Jahren - sich niemals wohnkonform verhalten. Er wird versuchen, sich zu reproduzieren. Da ihm dies nicht, wie in unseren Breiten, durch Arbeit und anschließenden Konsum möglich ist, wird er seine einzige Multiplikationsfähigkeit benutzen und Kinder zeugen. Während solches Reproduktionsverhalten in hochzivilisierten Gesellschaften rasch vom Wohnen zum Hausen zurückführen kann, zum Verlust von 18

Standard also, kann sich sein Standard nur verbessern, da er sein Elend und seine geringen Hoffnungen auf eine breitere Basis stellt. E r bringt sich nicht zeugend, zusammen mit einer Frau in gleicher Situation, um seinen Lebensstandard von Haus, Wohnung, Auto, Fernreise und K o n s u m . E r gewährt sich eine vitale Ablenkung und verbreitert, so wollen es seine Situation und sein Selbstverständnis, seine Chancen. E r geht nicht einmal ein unveränderliches Risiko ein, da er - dies zeigt die Statistik der favelas- mindestens so lange er aktiv genug ist, einfach geht, wenn ihm die Probleme der selbsterzeugten Kleingruppe über den K o p f wachsen. E r versteht die Welt nicht, wie sie in ihren möglichen Bedingungen tatsächlich ist, sondern wie sie ihm traditionell gedeutet wird, ihm, der noch Teilnehmer des mythischen Zeitalters ist. Seine schöpfungsoptimistische Religion, sein Stellvertreter Gottes auf Erden, gefangen im unveränderlichen Netz der Lehre, welcher die Revolte der Beschleunigung und K o m munikation den Boden entzieht, rät ihm noch zu. Unser Campesino wird schlimm hausen, ganz am Rande der favelas, im Abfall, selbst schon „Abfall". E r wird keine Zeit haben, Individualität zu entwickeln; es wird nur zu einer gewissen Gruppensolidarität reichen, die das Überleben ermöglicht. E r wird sich nicht festsetzen, sondern nur durch die N o t festgenagelt sein. J e d e auch nur gedachte Besserstellung löst sofort Mobilität aus. Dieser Mobilität aber stehen die Wohnenden gegenüber, die etwas zu verlieren haben und, das Beispiel des Campesinos vor Augen, gar nicht daran denken, irgendwelche Verluste auf sich zu nehmen, die sie auch nur in die Nähe der Campesino-Situation bringen könnten. Gerade die Bürger der Bundesrepublik, selbst jene, die in diesem Land in relativer Armut leben, haben Beträchtliches oder einiges zu verlieren. Die Mobilität, gefördert von weltweiter, zweckhaft manipulierter Kommunikation, welche das große, uralte Märchen von der Mühelosigkeit des Daseins aufbereitet, endlos variiert, 19

endlos wiederholt, ist nicht aufzuhalten. Die Masse einer sich in ausweglosen Verhältnissen sehenden Bevölkerung der Dritten Welt der südlichen Hemisphäre wird nicht am Ort verhungern, nicht hausend verkommen, sie wird sich in Bewegung setzen und gemäß den ausgestrahlten Botschaften der reichen Länder zu deren anscheinend mühelos erreichbaren Fleischtöpfen eilen. Wir sehen gerade in unseren Tagen, wie schon unvergleichlich geringeres Gefalle schwere Erosionsschäden einerseits und andererseits Aufschwemmungen gefährlicher Art bewirkt. Schon heute kommt sichtliche Mißstimmung auf, obwohl wir seit vierzig Jahren hören, daß jene, die nun zu uns drängen, unsere „Brüder und Schwestern" in Not sind. Unsere sehr dünne Humanität, unsere wenig erprobte politische Kultur und die demokratischen Navigationsregeln, nur bewährt beim einigermaßen sturmfreien Befahren von Binnengewässern, werden unter dem Ansturm, den wir zu Beginn des nächsten Jahrtausends zu erwarten haben, rasch das Papier nicht wert sein, auf dem sie verzeichnet sind. Einer solchen Ausnahmesituation, die schnell zur Regel werden könnte, muß man ins Auge sehen, um wenigstens Reste von Freiheit und Humanität zu bewahren. Sind erst die großen Utopien des Christentums, der Aufklärung, des bürgerlichen und des sozialen Jahrhunderts verschollen, dann wird sich „zweckmäßige Barbarei" ausbreiten, werden sich „praktische Lösungen" finden, alles im Vollzug pervertierter Modernisierungsstrategien der Machbarkeit, vor deren großangelegter Selbstverständlichkeit die reaktionäre Antizipation massenhafter Durchsetzungsstrategien des „Dritten Reiches" wie bescheidene Laborversuche wirken werden. Der Versuch, dem Hausen, welches zumindest materiell verlustlose Mobilität ermöglicht — man geht zwar nicht ohne Bindung an den Ort, aber doch mit leichtestem Gepäck und ohne besitzhafte „Rückstände" überall dorthin, wo immer sich eine Chance

20

irgendeiner Verbesserung zeigt - , Wohnung entgegenzusetzen, heißt nur unter Verlust aufgebbare Ordnungen zu gewinnen. Wie, so stellt sich die Frage, hat sich solche Ordnung überhaupt entwickelt? Es wird nützlich sein, dies in Kurzform ins Gedächtnis zu bringen: „Es wäre sicherlich vermessen, hier eine Geschichte des Wohnens entwickeln zu wollen. (...) Geht man in diesem Bereich weit zurück, so stellt man fest, daß im hohen Mittelalter nahezu ausnahmslos von Wohnen keine Rede sein kann. Man hauste zwar auf mehr oder minder großer Fläche, Wohnen in unserem Sinne kann man den zeitweiligen Aufenthalt in geschlossenen Räumen aber kaum nennen. Erst im 16. Jahrhundert begann die adeligpatrizische Oberschicht Italiens zu wohnen. Anregungen dazu hatten die Humanisten aus der Literatur der Antike herbeigeschafft. Die ersten wahrhaft gehobenen Wohnbauten waren wohl die ville rustiche. Hier, für uns ganz im Verborgenen, liegen die Anfänge unserer Wohnvorstellungen. Es wäre zwar interessant, aber reichlich umwegreich, herauszuarbeiten, wie sich dieses neue Wohnen über England in die ganze zivilisierte westliche Welt verbreitet hat. Fest steht, daß im England des 18. und 19. Jahrhunderts gewohnt wurde wie sonst nirgends auf der Welt. Zuerst wohnte verständlicherweise die Oberschicht, Wohnen war teuer und personalintensiv; die breite Masse war immer noch mehr oder minder untergebracht und hauste im besten Falle auf einem etwas höheren Niveau als in den vorangegangenen Jahrhunderten. Ende des 18. und bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hatten englische Städte das aufgewiesen, was auch in Deutschland in den achtziger Jahren zum großen Übel wurde, die totale Überbelegung von Wohnung und Behausung, das .overcrowding'. Zur Erhöhung der Bodenrendite und vor allem der Mieten wurde die Bautätigkeit gebremst. Dies klingt auch für uns vertraut. Auf einem acre (4046,71 m 2 ) standen in englischen Industriestädten nach einer geschönten Durchschnittszählung bis zu 50 Häuser. 21

Die Baugesetzgebung gestattete die typischen licht- und luftlosen Back-to-back-Häuser, die in einigen der Manchester-Industriestädte, nach einer Statistik von 1898, bis zu 60 Prozent aller Wohngebäude ausmachten. Wo man so in heute kaum mehr vorstellbaren Verhältnissen hauste - es sei denn, man geht in die Ballungsräume der Dritten und Vierten Welt - , lebten 300 Menschen auf einem acre. Wo man im Gegensatz dazu wohnte, in Englands Städten, lebten 21 Personen auf einem acre. Diese Zahlen bezogen sich, da aus einer amtlichen Statistik stammend, sicher nicht auf die negativsten Verhältnisse, sondern auf den Durchschnitt. Die Übelstände waren derartig kraß, daß der Staat den Bau von Kleinwohnungshäusern förderte, neue Baubestimmungen erließ und eine großzügige Baulandparzellierung durchführte. So besserten sich die Verhältnisse zusehends. In Deutschland traten mit einer durch langanhaltende Rückständigkeit gegenüber der ersten Industriemacht der Welt bewirkten Zeitverschiebung die Übel in sehr ähnlicher Form auf. Die ländliche Bevölkerungsexplosion - nach der Bauernbefreiung nahm die Bevölkerung von 1807 bis 1840 um 50 Prozent zu brachte über nahezu die Hälfte der in den deutschen Einzelstaaten lebenden Untertanen Armut und Hunger. Hatte die Landbevölkerung, die Anfang des 19. Jahrhunderts noch über 70 Prozent ausmachte, schon kaum jemals in unserem heutigen Sinne gewohnt, so sank das frühere Hausen bald ins krasse Elend ab. Die durch die Bevölkerungsexplosion für rasche Industrialisierung disponible Reservearmee drängte sich in einer früher nie für möglich gehaltenen Weise in den völlig unzureichenden Behausungen des Landes zusammen. Als der erste deutsche Wirtschaftsboom nach zaghaften Anfangen 1850 bis 1857, ausgelöst durch den Krimkrieg und eine Liberalisierung der englischen Zollpolitik, im Deutschen Zollverein wirksam wurde, lief die Industrialisierung heftig an. Die Massen wurden an deren Schauplätze geworfen. Vor allem die Bergbau und Hüttenwesen umfassende 22

Industrie in Preußen, aber auch in anderen deutschen Staaten, entwickelte sich rasch. Zwar gab es nach 1857 eine von Amerika ausgehende Rezession, die Wirtschaft und damit die Arbeitermassen waren aber in Bewegung geraten.* Man braucht gar nicht ins Detail zu gehen, um sich vorstellen zu können, wie damals die Unterbringungsverhältnisse für die aus einer rein agrarischen, im Verlauf von knapp 50 Jahren in eine industrielle verwandelte Gesellschaft aussahen. Im Gegensatz zu England, wo das einzelne, wenn auch noch so bescheidene Haus als Wohnmöglichkeit vorherrschte, war in Deutschland die Mietskaserne, höchst renditeträchtig und bis zum Überlaufen belastbar, durchgesetzt worden. Entstanden aus den militärischen Massenquartieren der Barockzeit, entsprach sie genau der patriarchalisch-obrigkeitlichen Tendenz des Landes. Gerade in den Größstädten breiteten sich in diesen Quartieren Übelstände aus, die man immer im Auge behalten sollte, wenn man heute von Wohnungsnot spricht. So wurden etwa in Berlin Anfang der neunziger Jahre 20000 Einzimmerwohnungen (sie bestanden, damit keine falschen Vorstellungen aufkommen, aus nichts als einem Raum) gezählt, die mit acht und mehr Personen belegt waren. Schwere gesundheitliche Schäden, soziale Unzufriedenheit und - so liest man in zeitgenössischen Schriften ,moralische Verkommenheit' (so das bürgerliche Urteil) waren die Folgen. Auf dem - buchstäblich so zu nennenden - Nährboden * Was dies fürs Wohnen bedeutete, mögen einige Zahlen belegen. Die Stadt Essen, zum Beispiel, Sitz der Krupp-Werke, hatte 1850 noch 9 0 0 0 Einwohner, 1875 waren es bereits 5 5 0 0 0 . Die Anzahl der Bergleute war in der gleichen Zeit von 1 2 7 4 1 im deutschen Zollgebiet bzw. im späteren deutschen Reich auf 8 3 0 0 0 gestiegen. 1870, kurz v o r der Reichsgründung, hatte Deutschland 41 Millionen Einwohner, 1905 zählte man, allerdings mit der Gebietserweiterung von Elsaß-Lothringen, 63 Millionen. Beredtes Zeugnis über die Explosion der Städte geben einige weitere Zahlen: 1870 zählte man erst acht Städte mit mehr als 1 0 0 0 0 0 Einwohnern. 1905 waren es 41 geworden. Alle Großstädte waren im Zählzeitraum zwischen 1875 und 1905 geradezu explodiert. Berlin war von 8 2 6 0 0 0 Einwohnern auf 2 Millionen gewachsen, Hamburg von 3 0 0 0 0 0 auf 8 0 0 0 0 0 , Düsseldorf von 69 000 auf 252 000, Nürnberg von 8 3 0 0 0 auf 2 9 4 0 0 0 und Mannheim von 3 9 5 0 0 auf 1 6 2 0 0 0 .

23

einer im Grunde entwurzelten, kasernierten und dabei unvorstellbar produktiven, indes trotz allem disziplinierten Bevölkerung lebte eine Schicht, die sich ums Wohnen kümmern konnte.* Wohnen in unserem Sinne ist also keine sehr alte Gewohnheit; in weiten Bereichen der Welt wurde noch überhaupt nie gewohnt. Suchen wir aber nach der Legitimation unseres Bestrebens, für alle Menschen so etwas wie Wohnen zu ermöglichen, das Hausen, also etwas Ungenügendes, Provisorisches, Zeitweiliges abzulösen durch gesicherte Verhältnisse, durch Auskömmlichkeit, dann müssen wir die Proklamationen der Menschenrechte heranziehen. Sie sind ein Ergebnis menschlicher Selbstreflexion. Schon in der griechischen Spätantike postulierte man aus vernünftiger Einsicht heraus Naturgegebenheiten des Menschen und leitete dementsprechend natürliche Rechte ab. Im christlichen Mittelalter wurden solche Denktraditionen aufgenommen und weiterentwikkelt. Ergebnis solcher Deutung ist vor allem die englische Rechtsentwicklung, von der Magna Charta (1215) über Habeas Corpus (1679) bis zur Bill of Rights von 1689, aus der dann die Virginia Bill of Rights von 1776 hervorging. Diese Satzungen gehören zu den größten Taten menschlicher Kultur. Die Instrumentalisierung der Gedanken eines natürlichen, jedem Menschen eigenen Rechts im Sinn moderne Forderungen erhebender Politik erfolgte dann durch John Locke, der Leben, Freiheit und Besitz als unveräußerliche, natürliche Eigentumsrechte des Menschen definierte. Der berühmte Gesellschaftsvertrag besteht nach Locke ja nur in der Delegation des Rechtes, die individuellen Naturrechte in funktionale Ordnungen zu bringen. Die Vollendung der Idee vom unveräußerlichen Recht erfolgt in der Deklaration Des droits de l'homme et du citoyen, klassisches Ergebnis der europäischen Aufklärung, welche den längst begrif* A u s C. Hackelsberger; Plädoyer für eine Befreiung des Wohnens aus den Zwängen sinnloser Perfektion, Braunschweig/Wiesbaden 1983

24

fenen Rechten der Freiheit und der Gleichheit nun auch die soziale Dimension zufügt. Vorläufiger Endpunkt der großen Entwicklung war die Menschenrechtsdeklaration der UNO vom 10. Dezember 1948 und, fünf Jahre später in Kraft getreten, die europäische Menschenrechtskonvention. In letzterer läßt sich ohne viele Umstände aus dem Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung ein Grundrecht auf Wohnung überhaupt ableiten. Man kann ja nicht etwas für unverletzlich erklären, das nicht selbstverständlich jedem Bürger zusteht und - so mindestens das Postulat - allgemein und ausreichend vorhanden sein muß. Die Grundrechte hängen zwar, obwohl sie in Europa seit ihrer Ratifikation im September 1953 einklagbar sind, recht hoch und sind für den einzelnen im konkreten Fall kaum durchsetzbar. Und trotzdem ist die Norm gesetzt. Da wir ideell die Forderungen der Aufklärung, die sich in unseren demokratischen Verfassungen ebenso wiederfinden wie die alte Naturrechtstradition, ernst nehmen müssen, wenn wir unsere eigene Existenz in Freiheit und Menschenwürde ernst nehmen wollen, ist noch immer das soziale Gebot der Brüderlichkeit gültig. Aufs Wohnen bezogen könnte das, mindestens was die Verfassungen der westlichen Demokratien betrifft, heißen: Laß deinen Mitbürger nicht schlechter wohnen, als du selbst zu wohnen beabsichtigst. Wenn man so will, ist dies die Anwendung des Kantschen Kategorischen Imperativs auf das Wohnen. Nach so eindeutiger Darlegung des Rechtes muß nun notgedrungen eine Definition dessen erfolgen, was unter Wohnen im Gegensatz zum Hausen zu verstehen ist. Diese Definition wird dadurch erschwert, daß bei den Ausführungen zur nötigen Besinnung auf eine Reform unseres Wohnens davon die Rede sein wird, daß viele Mitbürger mangels kundiger Einführung gar nichts vom Wohnen verstünden. Dieser Unverstand bewegt sich indessen auf der qualitativen Ebene; wir wollen bei unserem 25

Definitionsversuch - was ist Hausen, was Wohnen? - bei der Beschreibung der Übergänge das Defizit an qualitativ gekonntem Wohnen, das weithin zu bemerkende Konsum-Wohnen zunächst aussparen und erst später darauf zurückkommen. Zum Hausen Geschichtlich betrachtet, hausten früher wohl nahezu alle Menschen mehr oder minder dürftig. Man mußte in der frühen Feudalgesellschaft schon zu deren obersten Schichten gehören, um eine Art Wohnen, das allerdings von unseren bürgerlichen Vorstellungen gänzlich abweicht, zu zelebrieren. Infolge der explosiven Menschheitsentwicklung seit dem 18. Jahrhundert hat sich zwar das Wohnen, manchmal in fast egalitärer Weise, verbreitert, das Hausen oder gar Unbehaustsein ist aber geradezu unübersehbar riesig geworden. Hausen heißt, sich in für die Entfaltung eines persönlichen Lebens unzureichenden Umständen an irgendeinem Ort einzunisten. Hausen hat unendlich viele Gesichter und muß in seiner Qualität immer nach der Situation relativiert werden. Wenn also um 1890 das vom Lande stammende Dienstmädchen eines gehoben kleinbürgerlichen Haushalts in einem unbelichteten Verschlag unter der Speichertreppe nächtigte, dort seine einzige „Privatsphäre" hatte oder wenn die sechsköpfige Arbeiterfamilie in einer Wohnküche und einem weiteren winzigen Gelaß existierte, dazu nachts einem „Schlafburschen" eine Schlafstatt in der Wohnküche vermietete, der mit seiner Zahlung überhaupt erst die Entrichtung der Miete ermöglichte - Wasser auf dem Gang, Abort bestenfalls auf dem Treppenabsatz, meist auf dem Hof, für zehn solcher Mietparteien, Bademöglichkeiten nur im öffentlichen Bad - , dann sind das zwei Beispiele für lang anhaltendes Hausen. Hausen war auch das massenhaft erfahrene Untermieten in Verhältnissen, die die individuelle Freiheit fast vollständig außer 26

Kraft setzten. Ganze Generationen von Unselbständigen haben Zeit ihres Lebens in solchen geradezu persönlichkeitsverändernden Abhängigkeitsverhältnissen gelebt. Die kollektive Erinnerung daran wurde beinahe vollständig verdrängt. Hausen ist unter anderem auch die Unterbringung sogenannter Asylanten in Aufnahmelagern, und weniger als Hausen ist das Nächtigen polnischer Wirtschaftsflüchtlinge und Händler im Polski-Fiat auf den Straßen und Freiplätzen Berlins, sowie das Bewohnen von Grabkammern auf den längst von landflüchtigen Fellachen besetzten Friedhöfen Kairos. Fast ausschließlich gehaust wird insgesamt in der Dritten Welt, zu überwiegenden Teilen in Ostasien, aber auch im Vorderen Orient, im europäischen Süden und zu beträchtlichen Teilen in der Sowjetunion. Wer haust, kämpft täglich mit seiner Umgebung, ist — abgesehen von Landstrichen, in denen das Leben forensisch abläuft, weil es vom Klima begünstigt ist - nicht in der Lage, sich in seiner engsten Umgebung selbst zu finden, seine Individualität zu entfalten. Hausen ist Not vieler Grade. Insofern gibt es auch an den Stränden der forensischen Eilande das Hausen. Auch wenn Not erfinderisch macht, in Amerika, auf dem von aller sozialen Verantwortung verlassenen lateinamerikanischen Kontinent, in Afrika, das mit seinen ganz anderen Traditionen in die Zentrifuge des Westens geraten ist, auch wo weniges genügt, um vom Vegetieren ins Hausen und von dort zum Beheimatetsein auch ohne das Wohnen der nördlichen Breiten zu gelangen, fehlt den Bemühungen die Zuversicht der Verbesserung. Wenn in Schanghai, dem lebendigsten Vorort eines alten und riesigen Kulturlandes, Menschen mit durchschnittlich sieben Quadratmetern Wohnfläche auskommen müssen, dann ist das eine Form von Hausen in einer nicht einmal kulturell durchdrungenen Fremde. In China wurde in der Breite immer gehaust, in Erdhöhlen, in Hütten, in überbelegten Räumen. Gerade China zeigt, daß das Wohnen, einst eine bürgerliche Erfindung, dann ein sozialistisches Postulat, Utopie bleiben muß, wenn es nicht 27

gelingt, die nötige Leistungsfähigkeit für die Realisierung dieses befreienden Vorhabens zu erreichen. Man sollte sich keinen Täuschungen hingeben: Hausen ist nicht gleichzusetzen mit minderer Ausrüstung, Unterentwicklung, Raumnot; Hausen besteht vor allem im passiven Hinnehmen von Unzuträglichkeiten. Es gibt Beispiele von Wohnen in schlechtester Situation, andere von Hausen im Überfluß. Die Übergänge sind so gleitend, daß man sich vorschnell und arrogant vorkommt, wenn man urteilen muß. Vielleicht wird manches deutlicher, wenn nun vom Wohnen die Rede ist. Zum Wohnen Wohnen - diese Definition ist natürlich verkürzt und auch subjektiv gefärbt - heißt, die engste Umgebung zu bewältigen und zu personalisieren. Wenn man sich für seine Mitmenschen interessiert, kommt man oft in Verhältnisse, denen man zunächst, überheblich geworden aus eigener Erfahrung, Wohnlichkeit absprechen möchte. Doch unversehens zeigt sich unter dem Müll der Not, unter der ärmlichen Zufälligkeit eine Art persönlicher Gestaltung, Aussage über das empfundene, auch gedachte Leben also. Dies signalisiert: Hier wohnt ein Mensch, der sich nicht weggegeben hat, weder an die Not noch an den Überfluß. Wohnen heißt, etwas prägen, nicht passivisch sich gewöhnen, sondern unvermerkt aktiv die Dinge an sich ge-wöhnen. Sprachen verdeutlichen dies hervorragend: Wohnen, gewohnt, bewohnt, habitare, habitat, letzteres stammverwandt mit dem Wort habere=haben, halten, etwas in Besitz nehmen. Wohnen ist das Gehabte, das, was man begriffen, dann als Gehabt in Besitz genommen um sich stellt, vor sich zu finden, auch sich wiederzufinden in der letztlich so absurden Vergänglichkeit, die 28

von fast jedem nach Kräften so ausgestaltet wird, als gäbe es sie eigentlich nicht. Wohnen ist also eine Art von Reflexion. Gerade deshalb ist Wohnen auch ein Grundrecht, ein Grundrecht auf eine materiell ausgeprägte Selbsterfahrung. Hier ist wieder eine Anmerkung auf später erfolgende Erläuterungen dienlich: Wer sich, anscheinend des sogenannten Wohnens, des „Schöner Wohnens" wegen, mit so vielen käuflichen Dingen umstellt, daß er selbst nur als eine Art agierendes Accessoire zwischen den Objekten hin- und herpendelt, der wohnt nicht. Er haust, trotz allen Überflusses. Er ist der verwirrte Kustode im Uberproduktion stützenden Museum des ins Bizarre laufenden Warenüberflusses. Auf die verderbenstiftende „Nützlichkeit" dieses „Idioten", der in den scheinbar progressiven, „postindustriellen" Gesellschaften geradezu unmäßig vertreten ist, werden wir später zu sprechen kommen. Soll Wohnen ermöglicht werden, so müssen einige Grundbedingungen stimmen. Ohne den notwendigsten Raum, Entfaltungsraum, werden nur Wohnkünstler über das Hausen hinausgelangen. Raum läßt sich letztlich nicht nach utilitaristischen Gesichtspunkten bemessen. Weil wir aber in der Mehrzahl weniger originell, weniger kreativ sind, als wir uns dies zutrauen, lassen sich doch statistische Bedingungen ermitteln. Wer immer unter dem Druck der Notwendigkeit lebt, alles Persönliche zu verstauen, anderer allgemeinerer Nutzung wegen, oder wer im Gegensatz dazu alles verschlampen läßt, der gestaltlosen Beliebigkeit ausliefert, drastisch gesagt, auch noch beim Mittagessen auf dem Bettzeug sitzend den Eintopf aus dem Kochtopf löffelt, der wird kaum zum Wohnen kommen. Er ist blockiert, gleich ob dies die Not leistet oder ob er mangels Antriebs mitten im Überfluß einer reichen Gesellschaft aus Verneinung, wegen blanken Unvermögens oder irgendwie fehlender, vielleicht auch abhandengekommener Selbstachtung wieder zum Barbaren wird. Wohnen als Indikator humaner Gesittung also, Rückschluß auf 29

die moralische Qualität eines Menschen an Hand seiner Wohnfähigkeit? Hier seien sofort schwere Zweifel angemeldet. Das Heim eines SS-Massenmörders, idyllisch und auf der Luvseite unbegreiflicher Barbarei gelegen, eines Mannes, der es verstand, die Anforderungen seines politischen Glaubens von seiner ganz persönlichen, im alltäglichen Vergleich überprüften Existenz zu trennen, dieses Heim mag ungleich wohnlicher gewesen sein als das eines russischen Deportierten am Rande des Gulag, der in einem Gefangenen den hungrigen Bruder sah und mit ihm teilte. Es gilt also, nichts über einen Leisten zu schlagen und in jedem Fall genau Maß zu nehmen. Wie es zum Massenwohnen kam Historisch gesehen hat die deutsche Gesellschaft beträchtliche Verdienste um das Wohnen. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als in Urbanen Bereichen für die unteren Schichten die krasseste Ausbeutung, das Hausen schlechthin unausweichlich war, bemühten sich - keineswegs altruistisch, was keine Anklage beinhaltet, sondern nur der Vernunft der Zustände entspricht — Unternehmer um Überführung des elenden Hausens der Arbeitermassen ins Wohnen. Von Ausnahmen abgesehen, fällt die Entwicklung des Wohnens in der Breite in Deutschland überhaupt ins 19. Jahrhundert. Zunächst wohnte das aufgeklärte Bildungsbürgertum, eine damals neue Klasse, die vor allem durch die Reorganisation der Staatenwelt Deutschlands im Gefolge der Französischen Revolution und der napoleonischen Ereignisse Gewicht erhielt. Ob im Preußen der Reformära, in Berlin mit seiner kulturträchtigen Mischung deutsch-protestantischer, französischer und emanzipiert-j üdischer Geistigkeit und Lebensart, ob im München des aufgeklärten Absolutismus mit rheinpfälzisch-französischer, aber auch norddeutsch-protestantischer Kul30

turschicht oberhalb der einheimischen Zufriedenheit oder im Weimar Karl Augusts, Goethes und Schillers, überall wurde bewußt gewohnt. Dieses Wohnen war nicht affektierte Imitation adliger Hofhaltung und Repräsentation. Für eine kurze Zeit hatte die Avantgarde des Bürgertums - aufgeklärte Intellektuelle, Künstler, meist in Staatsdiensten - ihr eigenes Selbstwertgefühl in die unnachahmliche, graziöse Form des bürgerlichen Empire gegossen. Bewußt ist nicht die Rede vom „Biedermeier", da dieser allgemein hingenommene Ausdruck rein pejorativ zur Halbzeit des nationalistisch gewordenen Jahrhunderts für die Kultur der Restaurationszeit geprägt wurde. Hätte die Wohnkultur die gleiche Intensität erreicht ohne die Restauration im Gefolge des Wiener Kongresses, der Heiligen Allianz? Man muß dies bezweifeln. Eine gebildete Schicht, die mit großen aufklärerischen Intentionen angetreten war, dies erfahren wir bei Lessing, bei Schiller, dies wird dann auch beim Jungen Deutschland deutlich, wird politisch von der sich erholenden, ein letztes Mal sich offensiv behauptenden und konkurrierende Kräfte durch scheinbare Kooptation aufsaugenden Feudalaristokratie nach innen abgedrängt. So entsteht die bürgerliche Kultur der Innerlichkeit, aber auch des Wohnens, die allerdings nicht endgültig, ihrer Gestaltfindung nach, vorbildlich werden sollte. Die damals tragende Schicht des Bildungsbürgertums gelangte rasch durch „Überproduktion" von Akademikern und damit verbundene Proletarisierung unter Druck. So konnte sie sich mit ihrer Fähigkeit, selbst unter karger Remuneration Wohnumwelt zu gestalten und Status zu bewahren, nicht prägend für das nachdrängende Wirtschaftsbürgertum auswirken. In dem Maße, wie Hochqualifizierte, zu Einfluß Gelangte von der vom Adelsstand zur Herrschaftsklasse gewechselten Aristokratie amalgamiert wurden, am krassesten geschehen in Bayern mit seiner ex nihilo geschaffenen modernen Staatlichkeit, verebbte die Kraft des Bildungsbürgertums der ersten Stunde. Der neue Briefadel löste sich aus den Wohngewohnheiten ebenso wie das neue 31

/ Die Wohnlichkeit des Biedermeier: Karl Julius Milde in seinem Münchner Zimmer, 1825 2 Gründerzeit-Interieur: Wohnung Lesser um 1885

vermögende Großbürgertum und versuchte, den Lebensgewohnheiten des sich elitär abschottenden Feudaladels wenigstens oberflächlich nachzukommen. Darin unterschied sich im wesentlichen keine einzige Region des deutschen Bundes von Bayern, und vor allem im preußischen Ostelbien gelangten Schichten, die bislang gehaust hatten, plötzlich, dank genügend angesammelter Kapitalkraft, in Bereiche, in denen Imitation geburtsadeligen Wohnstils überlebensnotwendig wurde. Die Welle der Industrialisierung, getragen von frühen Gründerfamilien, etwa im alten Gewerbeland an der Ruhr, an der Saar, auch am Oberrhein, auch in Sachsen - sie alle hatten die Vorgänge in England richtig gedeutet und für sich gewertet - , brach in der Breite erst im Jahrzehnt nach 1848 los. Die sich nun bildende besitzbürgerliche Klasse rekrutierte sich mehrheitlich aus stadtbürgerlichen, bereits besitzenden Schichten, aus Kaufleuten, Bankiers und Kreisen, die des längeren schon mit Gewerbe und Produktion befaßt waren. Von prägenden Wohnvorerfahrungen dieser Gruppe kann nicht die Rede sein. Mit etwa je nur einem Zehntel nahmen bildungsbürgerliche Eliten und reine Handwerker sowie ländliche Besitzer an der Klassenbildung teil. Unterschichten waren von diesem Prozeß ganz ausgeschlossen, was sich aus deren Mittellosigkeit erklärt. Meist wurden ja die Startkapitalien für größere Unternehmungen innerhalb des Familienverbandes zusammengebracht. Für unseren Zusammenhang ist die Anmerkung, daß sich die neue Klasse zu rund drei Vierteln aus Protestanten rekrutierte, nur insofern von Wichtigkeit, als Modernisierungsprozesse, auch solche des Wohnens, nie von anderer Seite kamen. Dies muß etwas mit der von Max Weber festgestellten protestantischen Ethik und der Idee der Werkheiligkeit zu tun haben. Die überwiegend katholischen Staaten und Bevölkerungsgruppierungen tendierten immer eher zur traditionellen Selbstgenügsamkeit und Entmutigung angesichts des Fortschrittes, dazu zu einer erhöhten Bildungsfeindlichkeit. Sie hatten somit auch 33

keinen Einfluß auf den Fortgang bürgerlicher oder dieser nachfolgenden egalitär-bürgerlichen Kultur. Das Wohnen der sich nun in Schüben bis 1914 erweiternden bürgerlichen Klasse wurde rasch zur mehr oder minder luxuriös ausgestatteten Selbstdarstellung. Der Expansion von industriellgewerblicher Tätigkeit entsprach das extrovertierte, mindestens in den Brennpunkten bürgerlicher Konkurrenz kaum jemals behäbige und überanstrengte Wohnen. Rasch wurden vom Adel abgeschaute Zugangssperren und Selektionsallüren übernommen. Einrichtungsmoden kamen auf, deren protzige Opulenz und sanitäre Perfektion sogar auf adlige Milieus abfärbten. Das bis heute unter gänzlich veränderten gesellschaftlichen Bedingungen fortdauernde Paradewohnen persönlicher Repräsentation im Gegensatz zu ehemaliger Herrschaftsrepräsentation setzte damals voll ein. Etwa gleichzeitig mit der Formierung der besitzbürgerlichen Klasse, die dann im Wilhelminismus den Gipfel ihrer Selbstdarstellung erreichte, ging die Entstehung des Elendsproletariats einher. Mitte der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts hatte das Zusammenwirken von Mißernten und Gewerbekrise den sogenannten „Pauperismus" bis an den Rand der Katastrophe getrieben. Die entsetzliche und ausweglose Armut traf vor allem das ländliche Proletariat, das nicht die geringste Ausweichmöglichkeit hatte, aber auch das städtisch-gewerbliche, fabrikindustrielle. Wie die Industrialisierung, die Mechanisierung mit den damaligen Problemen fertig wurde, gehört, im nachhinein gesehen, zu den aufregendsten positiven Vorgängen der Moderne. Das Wohnen aber sollte erst mit gewaltiger Zeitverzögerung von der schrittweise erfolgenden Verbesserung der sozialen Zustände profitieren. Zunächst müssen wir für die Unterschichten, sowohl die ländlichen als auch für die fabrik-industriellen und, etwas eingeschränk34

ter, die gewerblichen, Hausen der schlimmsten Art konstatieren. Die Überbelegung aller in Frage kommenden Behausungen war, trotz nie zuvor dagewesener spekulativer Stadtbauexplosion, ungeheuerlich. Die Situation war derart miserabel, daß sich zuerst der staatliche Sicherheitsapparat, die Polizei, um Besserung bemühte. Der Ruf der Besitzenden nach dem Staat wurde immer lauter, da private Mildtätigkeit, aber auch herkömmliche kommunale Armenfürsorge dem Massenelend nicht im entferntesten gewachsen waren. Während im süddeutschen Bereich noch durch Beibehaltung des Heimatrechtes wenigstens irgendwelche sozialen Zuständigkeiten bestanden, was zu üblen Abschiebepraktiken und entwürdigender Behandlung führte, kümmerte sich im liberal verfaßten Preußen überhaupt niemand, vor allem nicht die leitende Staatsbürokratie, um die Probleme der Pauperisierten. Erst als im Gefolge der Ereignisse von 1848 und mit dem Aufstieg des europäischen Sozialismus Eigentumsbedrohung durch jene Menschen greifbar wurde, die „außer ihren Ketten nichts zu verlieren hatten", begann man sich um die Belange der Massen zu kümmern. Deren elendes Hausen wurde Gegenstand vieler, manchmal zweckbestimmter, oft aber auch von ehrlicher Anteilnahme und Erschütterung getragener Äußerungen. Verbesserung entstand zunächst sehr partiell unter patriarchalischfürsorglichen Gesichtspunkten, so zwischen 1863 bis 1875, als Friedrich Krupp rund um Essen die ersten Arbeiterkolonien (Westend, Nordhof, Kronenberg) errichten ließ. Diesen folgten weitere, immer solche der Montanindustrie. Bei der Bereitstellung von Wohnung ging es zunächst um die Bindung fluktuierender Facharbeiter und ihrer Familien, dabei auch insbesondere um die Gesundheit der Belegschaften. Der Gedanke entsprach entfernt dem der Hausgemeinschaft adliger Grundherrschaften. In relativ frühen Baubeispielen, so am Oberrhein, der dortigen frühen Textilindustrie zugehörig, finden sich kompakte Wohnanlagen, das Wohnhaus des Fabrikanten im Zentrum, die Laborantenhäuser als Flügelbauten angeschlossen oder in der Art von Vorwer35

Ì

Kolonie Cronenburg, Essen, 1572 Wohnungen

ken gruppiert. Langjährige Betriebszugehörigkeit verhalf so einer schmalen Elite der Arbeiterschaft zu einfachem Wohnen. Beispiele von Wohnsiedlungen der Großindustrie sind oft eher wie Militärkasernen angelegt. Nicht von ungefähr sprach man von „Mietskasernen", ein Begriff, der heute fast ganz aus dem Sprachgebrauch gefallen ist. Immerhin gab es für die frühen Beispiele des sozialen Bauens schon festgelegte Raumprogramme, die dem Regelsozialverhalten und den minimalen Bedürfnissen einer Kleinfamilie, deren Ernährer in festem Lohn stand, während die Frau Hausarbeit leistete und die Kinder aufzog, Rechnung trug. Dazu kommt rasch die Idee, die Bewohner zu verselbständigen durch Gewährung eines eigenen Stück Landes, das als Garten genutzt werden konnte und zusätzlichen Unterhalt ermöglichte. So entstand etwas, was man, obwohl es unter gänzlich anderen Prämissen geschah, als „naturnahes Wohnen" bezeichnen könnte. Politisch war solche Fürsorge erwünscht, schließlich befinden wir uns ja im Zeitraum der Gründung des Zweiten Deutschen Kaiserreiches, des Bismarckschen Sozialistengesetzes von 1878 und auch in demjenigen — das ist das wichtigste — der ebenfalls zur Eindämmung revolutionärer Entwicklungen erlassenen Bismarckschen Sozialgesetzgebung. War im Bereich von Großbetrieben in meist ländlichen Gebieten patriarchalische Fürsorge zu sehen, so fehlte diese in den explodierenden Städten vollständig. Nirgends läßt sich die liberalistische Wirtschaftsauffassung deutlicher ablesen als an innenstädtischen Wohnballungen. Da beim Bau von städtischen Häusern die Rentierlichkeit der Bauobjekte vor jeder anderen Überlegung rangierte, spielte deren Bewohnbarkeit eine nachrangige Rolle. Die schiere Nützlichkeit mit der straßenseitig aufgeklebten „Reputations- und Würdetapete" wurde einzig durch die von Bau- und Feuerpolizei auferlegten Minimalforderungen gebändigt. Wegen des gewaltigen Bevölkerungswachstums und 37

der mit diesem verbundenen Übernachfrage nach Obdach und Arbeit war es keinen Tag lang dringlich, daß sich Bauspekulanten und Grundbesitzer Gedanken über die Qualität von Massenquartieren gemacht hätten. Da immer Wohnungsmangel herrschte, konnte sich eine Tyrannei der Vermieter, aber auch der Untervermieter entwickeln, die für weite Kreise jede Form wirklicher Emanzipation zunichte machte. Erst das Genossenschaftswesen, Selbsthilfe also, brachte Aussicht auf Verbesserung. In England war 1836 die rechtliche Stellung der benefit building societies geregelt worden, und von dort sprang die Bewegung über. Deutsche Baugenossenschaften waren entweder reine Selbsthilfegruppen, die selbst bauten und von der Genossenschaft langfristig rückzahlbare Darlehen erhielten, oder in den meisten Fällen Baugesellschaften auf Anteil, die an ihre Mitglieder vermieteten. Startzeit dieser Bewegungen wie auch der Konsumvereine war die Mitte der sechziger Jahre. Damals dachte man daran, daß die Arbeiter selbst Kapitalisten werden müßten, um zu menschenwürdigen Daseinsformen zu gelangen. Interessant ist, daß man bereits von sozialistischer Seite auf dem Baseler Kongreß von 1869 für eine Abschaffung des Privateigentums an Grund und Boden eintrat, um Gemeineigentum zu bilden. Damals ging es noch um eine Besserstellung des Landproletariats, im Dezember 1871 aber erhob sich die Forderung nach Gemeineigentum des Bodens, um endlich der Wohnungsnot der breiten Massen ein Ende zu machen. Dieses kurze Schlaglicht auf eine komplizierte Entwicklung soll nur verdeutlichen, daß die Frage der Baulandrefom nun schon seit 120 Jahren offen ist. Aus der Genossenschaftsbewegung heraus entwickelte sich der Wohnungsbau für die einkommensschwachen Klassen insgesamt, ob er nun kommunal oder weiterhin unter veränderten Bedingungen genossenschaftlich war. Andererseits ist unverkennbar, daß man auch sehr früh, nicht zuletzt im Gefolge der Garten38

Stadtbewegung, an Landsiedlungsprogramme dachte, welche dem Massenelend begegnen sollten, da das Stadtwohnen inzwischen als völlig demoralisierend und ungesund verschrieen war. Vereinfachend kann man sagen, daß sich aus dieser Zeit zwei große Ströme des in Aussicht gestellten Massenwohnens durch die Zeit ziehen: das eher sozialistisch bevorzugte Mietwohnen und das eher konservative, als Stabilisierung gedachte, landnehmende Siedeln in unterschiedlichster Form. - Entsprechend den unterschiedlichen sozialreformerischen oder gesellschaftsverändernden Überlegungen fielen auch die Bemühungen ums Massenwohnen aus. Dies alles läuft bis an den Rand des Ersten Weltkrieges und kehrt in der Weimarer Republik wieder. Den eigentlichen Aufschwung nahmen damals die Wohnbaugenossenschaften, als sie in der ersten deutschen Republik zu Trägern der öffentlichen Wohnbaupolitik wurden und nicht mehr nach Schulze-Delitzschen oder Lasalleschen Ideen, sondern als staatliche Subsidiärorgane funktionierten. Das ländliche oder stadträndische Kleinsiedlungswesen hatte indes schon in den Kriegsbauprogrammen des Ersten Weltkrieges große Erfolge gefeiert. Dies war aber, obwohl teilweise sehr erfolgreich, weniger spektakulär. Zum ersten Mal in der Geschichte, dies gilt mindestens für Deutschland, wurde in den zwanziger Jahren der Versuch unternommen, breiten Bevölkerungsmassen zu gesundem, vernünftigem Mietwohnen zu verhelfen. Daß auch dieser Versuch nur einer Elite zugute kam, lag im wesentlichen am beinahe totalen Kollaps der Weltwirtschaft, die mit erheblicher Verspätung auf die grundsätzlichen Veränderungen der Welt durch den Ersten Weltkrieg reagierte. Immerhin waren im Zeitraum der „goldenen" Zwanziger, also von 1924 bis Ende 1929, mit 18 Milliarden Reichsmark insgesamt 1,8 Millionen Wohnungen gebaut worden, bevor die Wohnbaugesellschaften sich, nicht

39

4 Wohnsiedlung „Weiße Stadt", Berlin-Reinickendorf, Brückenhaus über der Aroser Allee, 1930, Architekt: Otto Rudolf Salvisberg 5 Großsiedlung Siemensstadt, Berlin 1930, Architekt: Hans Scharoun

mehr erträglicher Kosten wegen, auf Kleinsiedlungen zurückzogen. Es ist wichtig anzumerken, daß das vor allem in vielen sozialdemokratisch, aber auch liberal-demokratisch regierten Kommunen hervorragend zustande gekommene sozialhumane Wohnen nur durch allgemeine Umlage oder Abschöpfungsmaßnahmen zu erreichen war, durch Teile der sogenannten „Hauszinssteuer" (genauer: „Gebäudeentschuldungssteuer"). Als deren Beträge zurückgingen und vor allem die Wirtschaftskrise den Kommunen eine anderweitige Verwendung dieser Erträge aufzwang, versandete der Wohnungsbau. Während der Zeit relativer wirtschaftlicher Prosperität nahm das Wohnen, leider nicht der Massen, sondern einer eher gehobenen sozialen Schicht von Angestellten und kleinen Selbständigen, einen ungeahnten Aufschwung. Noch immer stand zwar das bürgerliche Wohnen Pate. Die neuen, aus der Vorkriegsmoderne von Gartenstadtbewegung, Reformideen, Jugend- und Arbeiterbewegung stammenden Ideale der Natürlichkeit, Gesundheit, der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung des Individuums wurden indes gebaut - im Stil technischer Ästhetik mit Hervorkehrung des Gedankens industrieller Präzision und Perfektion. Leider gelangte damals die Baufabrikation - wir würden heute von „industrialisiertem Bauen" sprechen, später werden wir immer wieder auf dieses Problem zurückkommen - nach vielen Fehlleistungen, die sich als Finanzierungshemmnisse auswirkten, nicht über rudimentäre Anfänge hinaus. Das rasche Steigen der Löhne und Baustoffpreise seit Mitte der zwanziger Jahre, ungünstige Finanzierungsbedingungen, das Versiegen oder das Umlenken der Erträge der Hauszinssteuer sowie das Scheitern wirklicher Wohnbausystematik und -rationalisierung führten zu Unbezahlbarkeit in der Krise. Zum ersten Mal in der Geschichte betrieb man Wohnforschung, als die 1927 gegründete Reichsforschungsgesellschaft im Bau- und Wohnungswesen tätig wurde. Unter dem Druck steigender 41

Kosten, die auch von der sich verweigernden, meist mittelständischen Bauindustrie und konservativer Mentalität des Handwerks verursacht waren, wurden viele bedeutende AvantgardeArchitekten der Zeit damit beauftragt, Minimalwohnungsgrundrisse zu erarbeiten. Vorgaben für die Stufe 1 waren lediglich die Wohnungsgrößen sowie die allgemeinen Bauvorschriften, während in Stufe 2 der Untersuchung reine Wohnforschung betrieben werden konnte und jegliche Intervention entfiel. Was dabei herauskam, war teilweise raffinierter Substandard. Zukunftsweisend waren nur einige wenige Gedanken der Flexibilität, kaum aber die Minimalflächenzuweisungen. Deutlich zeigte sich schon damals die ungenügende Wohnverhaltensforschung. So wurde im wesentlichen von einer statistischen Kleinfamilie, bestehend aus Eltern und 2,5 Kindern, ausgegangen oder, im anderen minimierten Ansatz, von Eltern mit Erstkind. Bei der Flächenzuweisung zeigte sich dann, daß zum Beispiel bei der Minimalwohnung für Eltern mit Kind jedem Erwachsenen 13,6 Quadratmeter zugewiesen wurden, dem Kind aber nur rund 7 Quadratmeter. Diese Verteilung erfolgte rein schematisch über den Stellflächenbedarf und entspricht höchstens den Bedürfnissen der Kleinfamilie für die ersten zwölf bis vierzehn Lebensmonate des Kindes. Die größere Wohnung entsprach ebenso einem erwarteten und vor allem von konservativ-militärischer Seite empfohlenen Familienverhalten. Im Wohnbaukonzept finden wir weder die Vorkehrung für Großfamilien noch Generationsfolge, auch nicht solche für Einzelstehende. Wohnungsflexibilität, wie sie noch manche bürgerliche oder kleinbürgerliche Wohnung der Gründerzeit aufwies, durch abgehängte Wohnflächen, gleiche Raumgrößen, gibt es überhaupt nicht. Die erreichte Funktionalität war eine nur scheinbare; im Grunde handelt es sich um eine Notminimierung, und diese Grundeinstellung ist dem Mietwohnungsbau bis heute eigen, obwohl von Not längst keine Rede mehr sein kann und die Raumgrößen proportional gewachsen 42

sind. Die angebahnte Wohnentwicklung zielte auf ein relativ enges Segment der Gesellschaft, auf den etablierten Duchschnittsangestellten oder den qualifizierten Industriearbeiter jeweils nach Familiengründung. Angesichts der aus der Vorweltkriegszeit herüberreichenden, durch kriegsbedingte Erhöhung der Mobilität und Emanzipation sogar gewachsenen Wohnungsnot waren die erheblichen, und vor allem architektonisch unerhört fortschrittlichen Wohnbaulösungen innerhalb der sechs guten Jahre der Republik fast geringfügig. Als das sozial-humane Wohnbauen 1930 zusammenbrach, geriet auch diese Art des Wohnens in Mißkredit. Widerstandslos wandte sich die Architektenschaft dem Entwurf von minimierten Siedlungshäusern, sogenannten „Wirtschaftsheimstätten" zu, die auch im Fall von Arbeitslosigkeit der Subsistenzsicherung dienen sollten. Durch ländliches Siedeln sollten Arbeitslose gebunden werden. Alles, was damals geplant und errichtet wurde, gehört in den Bereich der Substandards. Es ist heute trotz hoher Arbeitslosenzahl nicht mehr vorstellbar, in welche Krise die Republik nach dem Bankenkrach im Juli 1931 geraten war, während gleichzeitig sechs Millionen Arbeitslose zu Anfang 1932 unterhalb des Existenzminimums lebten und die extreme Linke sowie auf der Rechten die sogenannte „Harzburger Front" die bereits angeschlagene Republik beseitigen wollten. In solcher Not kam es verbreitet zu wilden Siedlungen, zur Verweigerung von Mietzahlungen. Der konservative Haß auf die Großstädte als Zentren des republikanischen Lebens war enorm. In dieses vielschichtig verursachte Chaos brach die sogenannte Machtergreifung Hitlers mit all ihren Folgen. Für den Wohnungsbau trat, überspitzt gesagt, für fast zwanzig Jahre eine nur propagandistisch und an Schwerpunkten unterbrochene Pause ein. Wenn während der Zeit des „Dritten Reiches" Wohnungsbau in größerem Stil betrieben wurde, so geschah dies im Zuge der

43

6, 7 Grundrisse von Ludwig Mies van der Rohe, Weißenhofsiedlung, Stuttgart 1927

Beispiel aus Königsberg-Liep, Anfang der dreißiger Jahre

Beispiel aus der Westfälischen Heimstätte, Anfang der dreißiger Jahre

11 11

'—"»

1

!

! i

1

C3

fi FF7

^ η