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German Pages [385] Year 2021
Petr Elbel, Alexandra Kaar, Jiří Němec, Martin Wihoda (Hg.)
HISTORIKER ZWISCHEN DEN ZEITEN Festschrift für Karel Hruza zum 60. Geburtstag
Petr Elbel · Alexandra Kaar · Jiří Němec · Martin Wihoda (Hg.)
HISTORIKER ZWISCHEN DEN ZEITEN Festschrift für Karel Hruza zum 60. Geburtstag
Böhlau Verlag Wien Köln Weimar
Das Buch erscheint mit finanzieller Unterstützung der Philosophischen Fakultät der Masaryk-Universität Brünn/Filozofická fakulta Masarykovy univerzity, des durch die Tschechische Forschungsgemeinschaft/ Grantová agentura České republiky geförderten EXPRO-Projektes Nr. 19-28415X »From Performativity to Institutionalization: Handling Conflict in the Late Middle Ages (Strategies, Agents, Communication)« sowie des durch die Tschechische Forschungsgemeinschaft/Grantová agentura České republiky und den Österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung geförderten internationalen Forschungsprojektes Nr. GF19-29622L bzw. I-4076 »Grey Eminences in Action: Personal Structures of Informal Decision-Making at Late Medieval Courts (GREMIA)«.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildungen : Siegel König Konrads III. (WikiCommons) ; Szepter des Rektorats der Karlsuniversität (Unsere alma mater. Die sudetendeutschen Hochschulen, hg. von Kurt Brass, Erwin Lohr, Josef Pfitzner, Ernst Swoboda, Wilhelm Weizsäcker [Böhmisch Leipa 1938] 84) ; Porträtfoto Wilhelm Wostrys (Privatsammlung) ; Porträt Käthe Spiegels (Tel Aviv University, The Online Wiener Archiv, Alfred Wiener Document Collection, Käthe Spiegel) ; Federzeichnung des Wiener Judenmeisters Lesir im »Judenbuch« der Wiener Vorstadt »Scheffstraße« aus den Jahren 1389–1420 (Wien, Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv – Finanz- und Hofkammerarchiv, AHK VDA Urbare 1067b, fol. 109r) ; älteste Darstellung der Verbrennung Jan Hus’ aus der Zeit um 1430 in der sog. Martinitz-Bibel/Martinická Bible (Prag, Knihovna Akademie věd České republiky/Bibliothek der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Sign. 1 TB 3, fol. 11v) ; Heinz Zatschek (Masarykův ústav a Archiv Akademie věd České republiky/Masaryk-Institut und Archiv der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Osobní fond Heinz Zatschek/Nachlass Heinz Zatschek) ; Plastik König Wenzels [IV.] auf dem Altstädter Brückenturm in Prag (WikiCommons) ; sog. Wiener Portrait Kaiser Sigismunds aus der Zeit um 1436/37 (Wien, KHM-Museumsverband); sog. Sizilische Goldene Bulle König Friedrichs II. für König Přemysl I. Ottokar von Böhmen vom 26. September 1212 (Prag, Národní archiv/Nationalarchiv, Archiv České koruny/Böhmisches Kronarchiv, Inv. Nr. 2). © 2021 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien, Zeltgasse 1, A-1080 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Übersetzung aus dem Tschechischen: Dirk Dahlberg (Beitrag von Jiří Němec), Jiří Knap (Beiträge von Stanislav Bárta und Martin Čapský), Thomas Krzenck (Beiträge von Robert Novotný und Ondřej Schmidt) und Bernd Magar (Beiträge von Přemysl Bar und Vojtěch Šustek). Satz : Michael Rauscher, Wien Einbandgestaltung : Michael Haderer, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISBN 978-3-205-21352-9
Inhalt Vorwort.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. K AR EL HRUZA: HISTOR IK ER ZW ISCHEN DEN ZEITEN
Martin Wihoda Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jiří Němec Erstaunen über wissenschaftliche Erblindung. Hruzas Expeditionen in die Geschichte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . .
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Bibliographie der Arbeiten von Karel Hruza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. UR KU NDEN U ND HER R SCHAFTSPR A XIS IM HOHEN U ND SPÄTEN MITTELA LTER
Andrea Rzihacek Zwei Herrscher – zwei Kanzleien? Urkundenausstellung in Zeiten der Doppelherrschaft.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christian Lackner Rund um den Brünner Erbvertrag vom 10. Februar 1364. Zu einem bemerkenswerten Urkundenkomplex im böhmischen Kronarchiv. . . . . . . . . .
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Michael Lindner Ulrich der Rote von Kronberg. Ein edelfreier Ritter aus dem Taunus als Finanzier, Rat und Hofgesinde Kaiser Karls IV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stanislav Bárta Die Tätigkeit der böhmischen Revisionskommission von 1453/54 unter besonderer Berücksichtigung der von ihr verzeichneten Urkunden König Wenzels IV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Petra Heinicker … ain hochwirdig gelid des heiligen reichs … oder: Wer darf zu Recht sitzen über die Reichslandvogtei in Schwaben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Daniel Luger Mich erbarmit, das das loblich haws Österreich allerweg so cleglich sol berupfet werden. Neue Quellen zum Konflikt zwischen Kaiser Friedrich III. und der Republik Venedig im Jahr 1463 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
III. JUDEN U ND JUDEN V ER FOLGU NG IM SPÄTMITTELA LTER LICHEN R EICH
Alexandra Kaar König Sigismund und seine Regensburger Kammerknechte, oder: Wessen »neue Kleider« bezahlte eine verpfändete jüdische Gemeinde?. . . . . . . . . . . . . . . 119 Petr Elbel Im Zeichen der Wiener Gesera ? Die Judenpolitik Herzog Albrechts V. von Österreich in Mähren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
IV. PROPAGA NDA U ND KOMMU NIK ATION IM SPÄTMITTELA LTER
Klara Hübner Am Anfang war Propaganda. Vom widerspenstigen Begriff zu den Umrissen einer politischen Kommunikationskultur in der Zeit Wenzels IV. Ein Erfahrungsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Dušan Coufal »Erben des Königreichs« und »Kuttenberger Ausländer«. Das politische und nationale Denken einer hussitischen Invektive von 1416. Analyse und Edition . . . 181 Pavel Soukup Kreuzzug und Universitätsmesse. Zwei Leipziger Predigten aus der Zeit der Hussitenkriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
Inhalt
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Přemysl Bar Auf der Suche nach den Ursachen des Misserfolgs. Überlegungen zur politischen Propaganda des Deutschen Ordens im Streit mit der polnischlitauischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Martin Čapský Zum Frustukh gangen mit andern Weiber der Tuchmacher. Die Repräsentation einer ungehorsamen städtischen Gemeinde in der Iglauer Chronik des Martin Leupold von Löwenthal. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
V. R EPR ÄSENTATION A M HOF W ENZELS IV.
Robert Novotný Das Mäzenatentum am Hof Wenzels IV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Maria Theisen König Wenzels Ritt über den Werd. Die Wiener Zeit Wenzels IV. mit Blick auf seine illuminierten Handschriften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
V I. K R A NK HEIT U ND TOD DER MÄCHTIGEN
Olaf B. Rader he hadde de podagere an den voten. Karl IV. und die Gicht . . . . . . . . . . . . . . 285 Ondřej Schmidt Der Tod der Königin Johanna von Bayern (1386). Prolegomena zur Erforschung einer neu entdeckten italienischen Quelle.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
V II. DIE LA NGEN SCHATTEN DES MODER NEN NATIONA LISMUS
Andreas Hermenegild Zajic Vaterländisches Altertum, »deutsches« Identifikationsobjekt und tschechisches Nationales Kulturdenkmal. Wissenschaftsgeschichtliche Schlaglichter auf das Luditzer Gesangbuch/Žlutický kancionál . . . . . . . . . . . 315
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Inhalt
Martina Hartmann Margarete Kühn und die MGH-Materialien im Salzbergwerk von Staßfurt. . . . . 349 Vojtěch Šustek Ein Instrument des Terrors. Das sog. Standgericht in Brünn 28. 5.–3. 7. 1942. . . . 359 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
Vorwort
Seit dem Mittelalter bildete Mitteleuropa einen gemeinsamen historischen und kulturellen Raum, der dementsprechend auch in der Geschichtsforschung einen Gegenstand grenzübergreifender Diskussionen darstellte. Durch die bekannten Tragödien des 20. Jahrhunderts wurde diese Tradition zerbrochen und nach der Wende im Jahr 1989 nur allmählich und unter Hindernissen wiederaufgebaut. Dabei ist es zwar rasch gelungen, die physischen Barrieren von den Grenzen zu beseitigen ; die mentalen Trenn linien des historischen Unrechts, der gegenseitigen Vorurteile und Verständnislosigkeit erwiesen sich jedoch trotz großer Bemühungen von verschiedenen Seiten weniger leicht überwindbar. Unter den Historikerinnen und Historikern, die sich um die Wiederbelebung der mitteleuropäischen Forschungsdiskussion wesentliche Verdienste erworben haben, nimmt Karel Hruza eine auf den ersten Blick zwar unauffällige, umso aber bedeutendere Position ein. Dabei geht es nicht nur um die von ihm aufgerollten Themen, die sich in der breiten Spanne von Urkunden und Briefen des Hoch- und Spätmittelalters über mittelalterliche Adelskultur, Herrschaftspraxis, Kommunikation und Propaganda, Hussitenbekämpfung und Judenverfolgung bis hin zur Geschichte des 20. Jahrhunderts erstrecken. Es geht ebenso um Hruzas organisatorische Aktivität, die Veranstaltung von Tagungen, Leitung von grenzüberschreitenden Forschungsprojekten sowie Vermittlung von ausländischen Forschungs- und Studienaufenthalten, und nicht zuletzt um seinen wesentlichen pädagogischen Beitrag, sprich regelmäßige Lehrtätigkeit an der MasarykUniversität in Brünn. Auf die Bedeutung Karel Hruzas bei der Entwicklung der mitteleuropäischen, die nationalen Diskurse überschreitenden Forschungskultur wurden wir in Diskussionen über den Stand der tschechischen, aber auch österreichischen und deutschen Historiographie zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehrmals hingewiesen. Er gilt als derjenige, der Defizite brisant benennen und damit schon einen wesentlichen Schritt zu ihrer Überwindung setzen kann, was sich besonders in seinem monumentalen Buchprojekt Öster reichische Historiker, oder aber in seiner breiten Rezensionstätigkeit zeigte und zeigt. In dem Wunsch, diese Rolle Karel Hruzas aus Anlass seines 60. Geburtstags zu würdigen, haben wir uns entschlossen, eine Festschrift vorzubereiten, die die Verdienste des Jubilars für die Wiederentdeckung Mitteleuropas als eines jahrhundertelang geformten
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Vorwort
Kulturraums widerspiegeln, aber auch auf seine zahlreichen thematischen und methodischen Impulse im Bereich der Mediävistik und der Quellenforschung klar hinweisen sollte. Die vorliegende Festschrift gliedert sich in Themenfelder, die den wissenschaftlichen Interessen Karel Hruzas entsprechen. Auf den ersten Blick überraschend finden sich darunter auch Krankheiten und Tod der Mächtigen ; da aber der Jubilar aus einer Arztfamilie stammt, selbst in medizinischen Belangen beschlagen ist und am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften seit vielen Jahren die arbeitsrechtlich vorgeschriebene Funktion eines Ersthelfers innehat, ist dies schon weniger abwegig. Die Bibliographie des Jubilars wurde aufgrund der offiziellen Unterlagen auf der Homepage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zusammengestellt und wurde nur geringfügig ergänzt beziehungsweise redigiert. Die URL-Zitate sind, soweit nicht anders angeführt, zum 31. 12. 2020 aktuell. An der Entstehung der Festschrift haben sich mehrere Personen beteiligt. Neben den Autorinnen und Autoren möchten wir auch den Übersetzern und Lektoren von einzelnen Aufsätzen unseren Dank ausdrücken (Dirk Dalberg, Jiří Knap, Thomas Krzenck und Bernd Magar). Dem Böhlau Verlag sind wir für die Betreuung des Sammelbandes und Frau Eva Buchberger für die entsprechende freundliche Unterstützung dankbar verpflichtet. Abschließend möchten wir aber, auch im Namen von einzelnen Autorinnen und Autoren sowie anderen seiner Kollegen, Freunde und Schüler, dem Jubilar für die langjährige Zusammenarbeit, für alle Diskussionen, Impulse und Anregungen sowie für seine hochwertigen Bücher und Aufsätze danken und ihm zu seinem 60. Jubiläum herzlich gratulieren. Ad multos annos ! Brno – Wien, im Januar 2021 Die Herausgeber
I. K AR EL HRUZA: HISTOR IK ER ZWISCHEN DEN ZEITEN
Martin Wihoda
Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens
Würde eine Rangliste der undankbarsten Posten der Arbeit eines Historikers erstellt werden, würden die Vorworte zu Jubiläumssammelbänden sicherlich einen der vorderen Ränge einnehmen. Wenn man die runden Anlässe von Erinnerungsorten oder juristischen Personen mal außer Acht lässt, kann man sich der Vorgabe aus offensichtlichen Gründen nicht durch einfaches Ausfragen des Gefeierten entledigen. Der Autor ist deshalb für gewöhnlich auf zufällige Erinnerungen angewiesen und bringt die Gedanken in dem Bewusstsein zu Papier, dass sie den Jubilar bestenfalls treffen und schlimmerenfalls einen ungewollten Punkt hinter eine Freundschaft setzen. Beginnen wir also mit dem Unbestrittenen : Der Held unserer Geschichte wurde am 4. Juni 1961 in Asch/Aš geboren. Bekannt ist ebenfalls, dass er in den Jahren 1981–1988 an der Konstanzer Universität studiert hat, von wo er für zwei Semester einen Abstecher nach Wien machte, und obwohl er in den darauffolgenden Jahren Konstanz die Treue gehalten hat, wo er unter der Leitung von Helmut Maurer im Jahr 1994 eine Dissertation über die Herren von Wallsee verteidigte, war es letztendlich die österreichische Metropole, die zu seinem verlässlichen Umfeld wurde. Nach einer Ausbildung am Institut für Österreichische Geschichtsforschung und der im Jahr 1995 abgelegten Staatsprüfung, zu der er eine Arbeit über die Hussitischen Manifeste vorlegte, wurde er nach einem kurzen Aufenthalt in Leipzig mit der Leitung der Arbeitsgruppe des Editionsprojekts Regesta Imperii an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften betraut. Einer nach allen Seiten hin korrekten Aufzählung fehlt es nicht an Aussagekraft, es genügt jedoch, der Überschrift einen Namen hinzuzufügen, in unserem Fall den von Karel Hruza, und es beschleichen einen direkt Zweifel, ob von unserer Geschichte nicht etwas Wesentliches verloren gegangen ist. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass sich den öffentlich zugänglichen Quellen die Gründe entziehen, die eine abgesicherte mittelständische Familie nach Asch führten, einem abgelegenen Nest in Westböhmen, wo sich vor dem Jahr 1989 noch nicht einmal die sprichwörtlichen Füchse und Hasen gute Nacht gesagt haben. Unbeantwortet bleibt ebenfalls die Frage, warum aufrechte tschechische Patrioten, die sich mit der ersten Tschechoslowakischen Republik identifizierten und deren nächste Verwandte nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich das höchste Opfer brachten, in Bad Waldsee eine Heimat fanden. Wir können uns fragen, wie Helmut Maurer Karel Hruza beeinflusst hat, was dieser aus Leipzig mitnahm und mit welchen Gefühlen er sich in Wien in Form der bereits in Angriff genommenen Re-
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Martin Wihoda
gesten der römisch-deutschen Könige Konrad III. und Wenzel eines komplizierten Erbes angenommen hat. Dass offizielle biographische Angaben bei weitem nicht alles enthalten, belegen die Reflexionen über die Vergangenheit von Bad Waldsee, in denen Karel Hruza die Fähigkeit unter Beweis stellte, Lokales sensibel mit dem Allgemeinen, die Kunst eleganter Übertreibung und einen feinen Sinn für Humor miteinander zu verbinden1. Ein schelmisches Gesicht setzte Karel übrigens auch bei unseren Gesprächen auf, die wir Ende der neunziger Jahre aufgenommen und die nach 2005 eine systematischere Form angenommen haben. Als ich in der Sizilischen Goldenen Bulle dem langbärtigen Paradigma der tschechischen Historiographie, dass der »Tschechische Staat« im Mittelalter ein unabhängiges, bzw. fast unabhängiges Subjekt des europäischen Geschehens gewesen sei, zum Abschied gewinkt habe, hat Karel Hruza meine Schlussfolgerungen dem deutschen Leser vorgestellt2. In der anschließenden Hexenjagd brachte er in die zugespitzte Diskussion eine professionelle Sichtweise ein3 und zögerte auch nicht, sich auf tschechischem Terrain gegen irreführende Argumente zu verwahren4. Gleichzeitig hat er aufgezeigt, dass die Geschichte der Böhmischen Länder lediglich in ihrem mitteleuropäischen Rahmen verstanden werden kann und dass ein systematischer Dialog mit dem Ausland die Voraussetzung dafür ist, zu wissenschaftlichen Erkenntnissen zu gelangen. Es ist jedoch nicht allein bei Worten geblieben. Er setzte sich persönlich für eine Übertragung der Sizilischen Goldenen Bulle ins Deutsche ein5 und empfahl mich an gute wissenschaftliche Adressen in Österreich und Deutschland weiter. Soweit ich beurteilen kann, bin ich diesbezüglich nicht der Einzige, und rückblickend kann nicht unbemerkt bleiben, dass Karel Hruza bewusst zu der Welt zurückgekehrt ist, die 1945 auseinanderfiel. Erinnerungen an das alte Mitteleuropa rief er auch als geistiger 1 Leben mit der Straße, Leben an der Straße (Bad Waldsee von gestern, für Leute von heute. Der History Blog). URL : https://www.youtube.com/watch?v=sGHNoEAW3yU [letzter Zugriff : 19.09.2020]. 2 Karel Hruza, Martin Wihoda, Zlatá bula sicilská. Podivuhodný příběh ve vrstvách paměti [Die Sizilische Goldene Bulle. Ein bemerkenswertes Ereignis in den Schichten der Erinnerung] (Edice historické myšlení 26, Praha 2005), in : H-Soz-u-kult Rezensionen 11.05.2006. URL : https://www.h-net.org/re views/showrev.php?id=20823 [letzter Zugriff : 21.09.2020]. 3 Karel Hruza, Die drei »sizilischen Goldenen Bullen« Friedrichs II. von 1212 für die Přemysliden. Zu einem neuen Buch, diplomatischen Fragen und einer »Historikerdebatte« in der tschechischen Forschung, in : Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 53 (2007) 213–249. 4 Ders., »Hrůza neví či nechce vědět«. Několik poznámek k diskusi nad souborem basilejských listin [»Hrůza weiß es nicht oder will es nicht wissen«. Einige Anmerkungen zur Diskussion über die Gruppe der Basler Urkunden vom 26. September 1212 und den Charakter der Přemyslidenherrschaft], in : Časopis Matice moravské 126 (2007) 403–408. 5 Martin Wihoda, Die Sizilischen Goldenen Bullen von 1212. Kaiser Friedrichs Privilegien für die Přemysliden im Erinnerungsdiskurs (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer Regesta Imperii 33, Wien–Köln–Mainz 2012).
Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens
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Vater des Projekts wieder wach, das in drei voluminösen Bänden das Schicksal österreichischer Historiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts porträtierte. Die umfangreichen, Monographien fast gleichkommenden und auf redlicher Archivforschung basierenden Studien benennen offen auch die dunkelsten Stellen der mitteleuropäischen Geschichte, und gleich der erste Sammelband aus dem Jahr 2008 wurde zu etwas, was man als Ereignis bezeichnet. Karel Hruza gab sich jedoch nicht mit der Stellung des Herausgebers zufrieden und hat außer den fundierten Vorworten auch einen Beitrag als Autor geliefert. Er war von Heinz Zatschek eingenommen, einem österreichischen Historiker mit erstklassiger Ausbildung, tschechischen Wurzeln und österreichischer, danach tschechoslowakischer Staatsbürgerschaft, Reichsangehörigkeit und wieder österreichischer Staatsbürgerschaft. Es sei kurz daran erinnert, dass sich Heinz Zatschek bereits mit 26 Jahren habilitierte, ein Jahr später an der Prager Deutschen Universität zum außerordentlichen Professor ernannt und mit 33 Jahren ordentlicher Professor wurde. In der gesicherten Stellung musste er sich nicht zu unwürdigen Vereinbarungen und Kompromissen erniedrigen. Trotzdem ließ er sich mit dem Naziregime ein und gesellte sich zu den politischen Historikern, die vor einer jüdischen Weltverschwörung warnten. Nach einer kurzen Internierung in Prag konnte er im Frühjahr 1945 nach Wien zurückkehren, und obwohl er den Direktorenposten des Heeresgeschichtlichen Museums bekleidete und an der Wiener Universität lehrte, konnte er nicht mehr an die Vorkriegslaufbahn eines respektierten Universitätsprofessors anknüpfen. Es wäre einfach, Heinz Zatschek zu richten und in dem Bewusstsein zu verurteilen, dass er selbst über die Ungunst der Zeit und die Intrigen von vermeintlichen und wirklichen Konkurrenten klagte, jedoch hat er nie, auch nicht in seiner nach 1945 geführten Privatkorrespondenz Bedauern über die begangenen Verbrechen geäußert. Karel Hruza verließ dennoch nicht die Position eines gefesselten Beobachters und hat mithilfe der reichen Archivbestände Zatscheks Geschichte ohne Beschönigungen und ohne etwas zu verschweigen in einem spannenden, fast atemberaubenden Rhythmus nacherzählt. Wohl nur zwischen den Zeilen hat er sich bemüht, eine Antwort auf die unausgesprochene Frage zu geben, wie gebildete intellektuelle Eliten haben versagen können6. Karel Hruza widmete seine Studie Helmut Maurer und erinnerte in einem weiteren Beitrag an seinen Konstanzer Professor, in welchem er das Verhältnis des römisch-deutschen Königs Sigismund zu den Juden erörterte. Anhand von bisher nicht herausgegebenen Quellen hat er belegt, dass Sigismund mit einer pragmatischen Rücksichtslosig6 Karel Hruza, Heinz Zatschek (1901–1965). »Radikales Ordnungsdenken« und »gründliche, zielgesteuerte Forschungsarbeit«, in : Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftlichen Porträts, hg. v. Karel Hruza (Wien–Köln–Weimar 2008) 677–792.
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Martin Wihoda
keit handelte und dass er, ähnlich wie sein Vater Karl IV., einen kurzfristigen Vorteil dem Recht und gegebenen Garantien übergeordnet hat7. Mit der letzten Zeile der vorbildlich ausgearbeiteten Studie stellt sich wieder das Gefühl ein, dass uns der Autor mehr mitteilt, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Von hier aus bleibt ein kleiner Schritt zu den allgemeiner gestimmten Überlegungen über den Charakter und das Wesen von Machtordnungen, welche im Namen einer strahlenden Zukunft das absolute Recht usurpierten, zu entscheiden, und welche Bürger zweiter Klasse aus der Gesellschaft verstießen. Über das ambivalente Verhältnis zum Heimatland und die schwierige Suche nach einer neuen Heimat. Über die wiederholte Rückkehr nach Bad Waldsee, wo Karels Mutter immer noch wohnt. Kurz, über den Lauf des Lebens, der Johann Amos Comenius Recht gibt, dass die einzige Gewissheit im Labyrinth der irdischen Dinge das Paradies des Herzens bleibt …
7 Ders., König Sigismund und seine jüdischen Kammerknechte, oder Wer bezahlte »des Königs neue Kleider« ? Mit einem Quellenanhang, in : Kaiser Sigismund (1368–1437). Zur Herrschaftspraxis eines europäischen Monarchen, hg. v. dems., Alexandra Kaar (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer Regesta Imperii 31, Wien–Köln–Weimar 2012) 75–135.
Jiří Němec
Erstaunen über wissenschaftliche Erblindung Hruzas Expeditionen in die Geschichte des 20. Jahrhunderts
Der flüchtige Blick in die Bibliografie der Arbeiten von Karel Hruza könnte den etwas unaufmerksamen Leser zu der irrigen Annahme führen, dass sich der ausgewiesene Mediävist erst irgendwann im Jahre 2004 für das 20. Jahrhundert zu interessieren begann. In František Šmahels und Pavel Soukups Buch »Německá medievistika v českých zemích do roku 1945« [Die Deutsche Mediävistik in den böhmischen Ländern bis zum Jahre 1945] erschien damals seine biografische Studie zu zwei Historikern, Wilhelm Weizsäcker (1886–1961) und Wilhelm Wostry (1877–1951), die in den Jahren 1939– 1945 zu den führenden Vertretern der nationalsozialistischen Geschichtsschreibung im Protektorat Böhmen und Mähren gehörten1. Betrachtet der Leser Hruzas Publikationsverzeichnis jedoch genauer, so enthüllt gleich der zweite Eintrag, dass sein historisches Interesse am 20. Jahrhundert viel älter ist. Im März 1987 kommentierte Hruza auf den Seiten des alternativen Konstanzer Monatsblattes »Nebelhorn« den »Historikerstreit«, die geschichtspolitische Schlüsseldebatte in der Bonner Republik in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts2. Dann, nach fast einem Jahrzehnt rein mediävistischer Texte erschien im Jahr 1996 eine Rezension zur Biografie des Rechtshistorikers Heinrich Mitteis (1889–1952)3. An dieser ist für unser Thema wesentlich, dass sich ihr Autor hauptsächlich mit Mitteis’ wissenschaftlichem Wirken während der nationalsozialistischen Diktatur befasste. Hruza publizierte auch Buchrezensionen zu tschechischen Historikern aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zu Jaroslav Marek (1926–2011) und Josef Macek (1922–1991), aber auch zu František 1 Karel Hruza, Wilhelm Wostry a Wilhelm Weizsäcker. Vzorní mužové, řádní učenci a věrní vlasti synové ? [Wilhelm Wostry und Wilhelm Weizsäcker : Vorbildliche Menschen, gründliche Gelehrte und treue Söhne der Heimat ?], in : Německá medievistika v českých zemích do roku 1945 [Deutsche Mediävistik in den böhmischen Ländern bis 1945], hg. v. Pavel Soukup, František Šmahel (Práce z dějin vědy 18, Praha 2004) 305–352. 2 Karel Hruza, Wo die Geister sich scheiden, die Vergangenheit nicht vergeht und die Sache auf den Kopf gestellt wird. Die Historikerdebatte, in : Nebelhorn. Magazin für Politik und Kultur in der Region Konstanz, Radolfzell, Singen Nr. 70 (März 1987) 24–27. 3 Ders., Georg Brun, Leben und Werk des Rechtshistorikers Heinrich Mitteis unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zum Nationalsozialismus (Rechtshistorische Reihe 83, Frankfurt/M. 1991), in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 104 (1996) 435–437.
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Jiří Němec
Palacký (1798–1876) und der Geschichte der Karls-Universität in der modernen Zeit. Die Rezensionen verrieten erneut, dass ihr Autor nicht nur eingeschlossen in der mediävistischen Blase lebt und dass ihn die breiten Zusammenhänge der Entwicklung der modernen Wissenschaft und Bildung interessieren. Machen wir uns dann bewusst, dass nach der erwähnten Studie aus dem Jahr 2004, die in überarbeiteter Form ein Jahr später in Zeitschriftenform auch für den deutschen Leser erschien4, eine fast fortlaufende Reihe kleinerer und auch größerer Beiträge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft in der Epoche der zwei Weltkriege folgte, ist es nicht übertrieben, zu sagen, dass Hruzas Expeditionen in die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht nur gelegentliche Ausflüge sind. Erinnern wir uns zum Beispiel an einen kleineren Text über das tragische Schicksal der begabten deutschen Historikerin jüdischer Herkunft, Käthe Spiegel (1898–zwischen 1941 und 1945), die zunächst von ihren älteren männlichen Lehrern und Kollegen von der Deutschen Universität in Prag beim Versuch, sich zur allgemeinen modernen Geschichte zu habilitieren, abgelehnt wurde. Später, während des Protektorates, wurde sie der abartigen Maschinerie des Holocausts hilflos überlassen5. Aus dem Blick verlieren sollten wir ebensowenig zwei Studien zu den Gründungsdokumenten und Insignien der Karlsuniversität als einem einstmals erstklassigen, heute jedoch vergessenen Symbol des tschechischen und (sudeten)deutschen kollektiven Gedächtnisses. In der ersten Studie wurde der durch den Nationalismus überformte hundert Jahre andauernde tschechisch-deutsche Diskurs über die Gründungsakte der Universität seit der Teilung der Karl-Ferdinands-Universität im Jahre 1882 in einen deutschen und tschechischen Teil bis zum Jahre 1980 analysiert6. Während der Vorbereitung der zweiten Studie, in der er nach dem Schicksal von am Ende des Zweiten Weltkriegs verlorenen Universitätsinsignien und den Gründungsurkunden fahndete, eignete sich Hruza eine fast detektivische Methode an, für die sich nicht einmal Detektive vom Typ eines Sherlock Holmes schämen müssten7. Nach anfänglichen Hoffnungen endete das Fahnden des Autors im 4 Ders., »Wissenschaftliches Rüstzeug für aktuelle politische Fragen.« Kritische Anmerkungen zu Werk und Wirken der Historiker Wilhelm Weizsäcker und Wilhelm Wostry, in : Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 54 (2005) 475–526. 5 Ders., Ein vergeblicher Hilferuf. Der Brief Käthe Spiegels an den Rektor der Deutschen Karls-Universität in Prag vom 11. Oktober 1941, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 48 (2008) 203–210. Vgl. auch Hruzas Würdigung des Buches von Oberkofler, Gerhard : Käthe Spiegel. Aus dem Leben einer altösterreichischen Historikerin und Frauenrechtlerin in Prag. Studienverlag, Innsbruck 2005, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 48 (2008) 301–303. 6 Ders., Der tschechisch-deutsche Diskurs über die Gründungsurkunde der Universität in Prag vom 7. April 1348 während der Jahre 1882–1989, in : Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 56 (2010) 209–271. 7 Ders., Der deutsche Insignien- und Archivalienraub aus der Prager Universität 1945. Mit einem Briefwechsel zwischen dem Universitätsarchivar Heinz Zatschek und dem Präsidenten der Monumenta Ger-
Erstaunen über wissenschaftliche Erblindung
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Abb. 1 : Vor dem Tor eines fiktiven NS-Konzentrationslagers auf dem Karlsplatz in Prag (2012).
Unterschied zu den von Holmes immer tadellos gelösten Fällen mit einem Misserfolg. Sorgfältige Archivrecherche zeigte mit höchster Wahrscheinlichkeit, dass die kostbaren Dokumente der ältesten Geschichte der Prager Universität während des erfolglosen Versuchs der Nazis, sie aus Böhmen abzutransportieren, tatsächlich unwiederbringlich verloren oder zerstört wurden. Und in der Aufzählung der Studien zum 20. Jahrhundert sollte auch nicht Hruzas bemerkenswerte »Reportage« über die Gestalt der zeitgenössischen tschechischen Geschichtskultur und der Geschichtspolitik im Spiegel der Feier lichkeiten zum 70. Jahrestag des Attentats auf den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich vergessen werden8. Dieses ungewöhnliche geschichtswissenschaftliche Genre zeigte durch seine kontextuelle Kritik auf, dass Historiker sich unnötigermaniae Historica Theodor Mayer, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 48 (2008) 349–411. Vgl. auch Hruzas Kritik des Buches Syruček, Milan / Svoboda, Josef : Proč zmizely insignie Karlovy univerzity. 70 let pátrání po 700 let starých symbolech české historie [Warum verschwanden die Insignien der Karlsuniversität ? 70 Jahre Suche nach den 700 Jahren alten Symbolen tschechischer Geschichte] Grada Publishing, Praha 2015, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 56 (2016) 486–488. 8 Ders., Arbeiten am »Gedächtnis der Nation«. Wissenschaft, Medien und Events anlässlich des 70. Jahrestags des Attentats auf Reinhard Heydrich in Prag, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 53 (2013) 3–45.
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weise ihrer öffentlichen Stimme und ihrer Verantwortung vor der Öffentlichkeit entledigen, indem sie Journalisten, Politikwissenschaftlern oder Soziologen den Blick auf die aktuellste Gegenwart überlassen. Die Exkursionen in das 20. Jahrhundert gehören entschieden zu Hruzas wissenschaftlichem Naturell. Immer war es vor allem das Interesse an der dunklen Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland. Versteckt hinter konzentrierter mediävistischer Forschung und intensiver Arbeit an editorischen Projekten zur Reichsgeschichte des Spätmittelalters, entwickelte sich dieses wissenschaftliche Interesse schrittweise und vielleicht ein wenig ungeplant von kleineren Studien hin zu einer großen Edition mit Biografien von Persönlichkeiten der »österreichischen« Geschichtsschreibung in den Jahren von 1900 bis 1945. Von Beginn an war Hruza der geistige Vater der »Österreichischen Historiker«, ihr Editor, Haupt- und einziger Organisator des Autorenteams und zu einem großen Teil auch Redakteur des Projekts. Der erste Band erschien vor dreizehn Jahren, der zweite Band folgte vier Jahre später, und im Jahre 2019 schloss der dritte Band die gesamte Serie kritischer Porträts ab. Zu jedem Band schrieb Hruza programmatische Einführungen. Im ersten porträtierte er den gebürtigen Wiener, den Universitätsprofessor für mittelalterliche Geschichte und historische Hilfswissenschaften in Prag und Wien sowie dogmatischen Nationalsozialisten Heinz Zatschek (1901–1965)9. Das Ergebnis war einer der umfassendsten und ausführlichsten Beiträge der gesamten Serie. Während des gesamten Projektes wurden insgesamt 47 Repräsentanten der österreichischen Geschichtswissenschaft und verwandter Fächer portraitiert. Es fehlen hier auch nicht drei Frauen (Erna Patzelt, Mathilde Uhlirz, Lucie Varga), auch wenn im damaligen Wissenschaftsmilieu Männer dominierten. Bis auf einige Persönlichkeiten, die keinen Biografen fanden, wurden natürlich auch im Fach bis heute bekannte Namen nicht vergessen (ich nenne nur vier – Otto Brunner, Alfons Dopsch, Heinrich Srbik, Oswald Redlich). In Zusammenarbeit mit österreichischen, deutschen und tschechischen Autoren änderte Hruza seinen ursprünglichen Plan, weil er – wie er im Vorwort des letzten Bandes bekannte – am Anfang entschieden nicht daran dachte, drei Bände mit einem Umfang von mehr als zweitausend Druckseiten herauszugeben. Dank der meist positiven, wenn auch kritischen Resonanz auf den Einführungsband und des anhaltenden Interesses des Wiener Verlages Böhlau entschied er sich, die Arbeit nach dem ersten Band fortzuset9 Ders., Heinz Zatschek (1901–1965). »Radikales Ordnungsdenken« und »gründliche, zielgesteuerte Forschungsarbeit«, in : Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, hg. v. dems. (Wien– Köln–Weimar 2008) 677–792.
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zen10. Das Konzept der kritischen Biografien erwies sich als tragfähig. Aber nicht alle wirklich bedeutenden Persönlichkeiten fanden im ersten Band Platz, als dass bereits dieser einen repräsentativen Charakter hätte bekommen können. Letztlich entstand ein Werk, das durch die individuellen Schicksale einzelner Akteure die Transformation einer europäischen nationalen Geschichtsschreibung zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert darstellt und im europäischen Kontext keine Parallele hat. Die Reihe »österreichische Historiker« ist nicht nur durch ihren Umfang, sondern auch durch ihr Konzept außergewöhnlich. Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft lässt sich auf verschiedene Weise darstellen. Man kann ein biografisches Lexikon herausgeben, das alle Vertreter des Faches in knappen, aber durch biografische Daten aufgequollenen Artikeln vorstellt11. Man kann aber auch einen Sammelband mit umfassenden Portraits großer Persönlichkeiten erstellen, in denen mit leichter essayistischer Hand die Bedeutung ihrer Werke für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft skizziert wird12. Die Absicht von Karel Hruza war nicht ein Handbuch, sondern eine kritische historisch-biografische Analyse13, die es ermöglichen sollte, den Einfluss politischer, sozialer und wirtschaftlicher Umbrüche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Entwicklung der österreichischen und allgemein mitteleuropäischen Geschichtsschreibung zwischen der späten Habsburgermonarchie und der Geburt des »zeitgenössischen« Österreichs im Jahr 1945 zu beleuchten. Hruzas Zugang kann man als Beispiel der soziokulturellen Geschichtsschreibung bezeichnen. Die biografische Forschung persönlicher Schicksale, beruflicher Karrieren, sozialer Rollen und Netzwerke und des öffentlichen Engagements vervollständigt hier die Analyse der wissenschaftlichen Produktion und des wissenschaftlichen Potenzials der untersuchten Persönlichkeiten in einem breiten soziokulturellen Kontext. 10 Kritisch ablehnend wegen angeblich ideologischem Ahistorismus des Herausgebers und seiner Mitarbeiter war nur Fritz Fellner in Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 118 (2010) 274–276. Vgl. die Reaktion von Karel Hruza, Eine Einleitung, in : Österreichische Historiker. Lebensläufe und Karrieren 1900–1945 2, hg. v. dems. (Wien–Köln–Weimar 2012) 9–21, hier 16f. 11 Zum Beispiel Wolfgang Weber, Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800–1970 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 3. Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 216, Frankfurt am Main–Bern–New York–Nancy 1984) ; Fritz Fellner, Doris A. Corradini, Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon (Veröffentlichun gen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 99, Wien–Köln–Weimar 2006) ; Lexikon současných českých historiků [Lexikon der tschechischen Historiker der Gegenwart], hg. v. Jaroslav Pánek, Petr Vorel (Praha 1999), Lexikon českých historiků 2010 [Lexikon der tschechischen Historiker 2010], hg. v. Radek Lipovski, Lumír Dokoupil, Aleš Zářický (Ostrava 2012). 12 Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch 1–3, hg. v. Heinz Duchhardt, Małgorzata Morawiec, Wolfgang Schmale, Winfried Schulze (Göttingen 2006–2007). 13 In einigen Zügen ähnelt Hruzas Konzept der großen Reihe Deutsche Historiker 1–9, hg. v. Hans Ulrich Wehler (Göttingen 1971–1982).
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Dieser Zugang zur Geschichte der Geschichtsschreibung reiht sich erst in den letzten Jahrzehnten in das Repertoire historiografischer Studien ein14. Der Historiker begrenzt beim Blick in die Vergangenheit seines Fachs seine Fragen nicht auf die fachliche und die methodologische Seite der Entwicklung der Historiografie. Er fragt systematisch auch nach dem öffentlichen Wirken der Historiker und nach ihrem Anteil an der Veränderung der Geschichtskultur seiner Zeit. Die Portraits haben manchmal einen fast monografischen Charakter und sind mit einem breiten Anmerkungsapparat und einer Reihe von Quellenzitaten ausgestattet. Nach den Anweisungen des Herausgebers und im Geiste seines wissenschaftlichen modus ope randi wurden die Beiträge auf noch nicht verwendetem Archivmaterial aufgebaut. Die Autoren wurden angewiesen, neben der Beschreibung traditioneller Probleme der historischen Biographik, ihre Aufmerksamkeit auf bisher vernachlässigte oder trivialisierte Fragen zum politischen und öffentlichen Engagement der Historiker zu richten. Dem Autorenteam gelang es dank dessen, die Hauptkoordinaten der Veränderungen in der österreichischen Geschichtsschreibung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erfassen. Wir können sagen, dass es sich gerade deshalb um einen bedeutenden Teil dieses spezifischen soziokulturellen Feldes handelte, weil in die Sammlung neben richtungsgebenden und über dem professionellen Durchschnitt stehenden Persönlichkeiten auch aus der Perspektive der Entwicklung der Historiographie als wissenschaftliches Feld eher unbedeutende Persönlichkeiten (z. B. Taras Borodajkewycz) einbezogen wurden. Hruza ging jedoch von der Überlegung aus, dass die sogenannten Riesen das Ergebnis des Wirkens eines wissenschaftlichen Feldes sind, das alle Akteure formten, die sich mit ihrer Tätigkeit an der Institutionalisierung von Werten und Prinzipien beteiligten, unabhängig davon, ob sie von Traditionen oder umgekehrt von wissenschaftlichen Innovationen getragen oder vom politischen Engagement der Wende- und sehr ideologischen Epoche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beeinflusst wurden. Ich möchte hier nicht die Auswahlkriterien diskutieren, die Hruza gegenüber der relativ komplexen Frage wählte, wer zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein »österreichischer« Historiker war. Ebensowenig möchte ich die kritische Reaktion bewerten, die die einzelnen Bände hervorgerufen haben. Der Editor widmete der Reflexion jedes vor14 Besonders Biographien der in der NS-Zeit wirkenden Historiker wurden nach dem Frankfurter Historikertag von 1998 verstärkt veröffentlicht. Z. B. Christoph Cornelissen, Gerhart Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert (Düsseldorf 2001) ; Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 (München 2001) ; Eduard Mühle, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung (Düsseldorf 2005) ; Jan Eike Dunkhase, Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert (Göttingen 2010) ; Christoph Nonn, Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert (Düsseldorf 2013) ; Matthias Berg, Karl Alexander von Müller. Historiker für den Nationalsozialismus (Göttingen 2014).
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Abb. 2 : Auf der Straße, auf der das Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich verübt wurde (2006).
herigen Bandes in der Einführung des nächstfolgenden Bandes ausreichend Platz. Ich habe bereits konstatiert, dass mit einer Ausnahme die Resonanzen kritisch, aber positiv angenommen wurden. Was für die vorherigen Bände galt, gilt auch für den dritten Band. Hier registriere ich bereits mehrere ähnlich lobende Bewertungen15. In den folgenden Abschnitten werde ich jedoch kurz versuchen, die Antwort auf die Frage nach der letztlich endscheidenden Motivation von Hruzas Erkenntniszielen zu skizzieren. Auf der Suche nach der Antwort muss ich mit einer gewissen Überraschung direkt bei Hruzas Juvenile aus dem Jahre 1987 Halt machen. Enttäuscht vom Desinteresse der Universitätshistoriker an seiner Alma Mater, die sich im »Historikerstreit« über die Interpretation der deutschen Geschichte während der nationalsozialistischen Ära mit öffentlichen Äußerungen zurückhielten16, machte der damals 26-Jährige, noch nicht 15 Heinz Duchhardt in : sehepunkte 19 (2019), Nr. 10 [15.10.2019], URL : http://www.sehepunkte.de/ 2019/10/33483.html [letzter Zugriff : 03.01.2021], Matthias Berg in : H-Soz-Kult, 11.02.2020, URL : https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28239 [letzter Zugriff : 03.01.2021] ; Wolfgang E. J. Weber in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 128 (2020) 484–486 ; Stefan Jordan in : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 68 (2020) 874f. 16 Die wichtigsten Texte der Kontroverse wurden wieder veröffentlicht in »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung (Mün-
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graduierte Historiker auf die Gefahr einer weitreichenden konservativ-nationalistischen Revision der Zeitgeschichte für die politische und demokratische Kultur der Bundesrepublik Deutschland aufmerksam. Erinnern wir uns kurz daran, dass Ernst Nolte (1923–2016), ein berühmter Historiker und seit den 1960er-Jahren führender Experte für den europäischen Faschismus17, am 6. Juni 1986 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine provokative Interpretation der Geschichte des Nationalsozialismus und seines massenhaften Mordens vorlegte18. Den rassistisch begründeten Genozid während des Zweiten Weltkriegs verglich Nolte nicht allein mit dem kommunistischen Terror, wie es die Totalitarismustheorie schon lange tat. Er interpretierte ihn überdies als ein direkt durch die Angst vor dem russischen Bolschewismus bedingtes Phänomen. Symbolisch ausgedrückt stellte Nolte zwischen dem Archipel Gulag und dem Holocaust einen Kausalzusammenhang her (»kausaler Nexus«). Die Historisierung des National sozialismus bedeutete in seiner Darstellung, dass der Holocaust nicht als singuläres historisches Phänomen erschien, das in der Weltgeschichte seinesgleichen sucht. Nolte interpretierte ihn jedoch nicht als ein mit ähnlichen Völkermorden im 20. Jahrhundert formal oder strukturell vergleichbares Ereignis. Er interpretierte ihn vor allem als ein abgeleitetes Phänomen, das als eine unmittelbare Reaktion auf die Monstrositäten des bolschewistischen revolutionären Terrors und des Gulags erwuchs. Der deutsche Nationalsozialismus war laut Nolte daher primär die antimarxistische und antikommunistische Antwort auf die bolschewistische Bedrohung Europas, keineswegs ein nationalistisches, rassistisch-antisemitisches Projekt einer deutschen Zukunft. Hruza widmete in seinem Aufsatz Nolte den größten Raum, denn dieser war der prominenteste Vertreter einer größeren Gruppe von Historikern (Klaus Hildebrand, Andreas Hillgruber, Michael Stürmer). Die Historiker standen meinungsmäßig der konservativen Regierung von Helmut Kohl (1930–2017) nahe. Ihr Hauptanliegen war es, mit Hilfe der geschichtlichen Interpretation den deutschen Nationalstolz zu stärken. chen 1987). Zur Deutung der Kontroverse und ihrem Einfluss in der deutschen Geschichtskultur siehe Richard J. Evans, Im Schatten Hitlers ? Historikerstreit und Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik (Frankfurt an Main 1989) ; Steffen Kailitz, Die politische Deutungskultur im Spiegel des »Historikerstreites«. What’s right, what’s left ? (Wiesbaden 2001) ; Ulrich Herbert, Der Historikerstreit. Politische, wissenschaftliche, biographische Aspekte, in : Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, hg. v. Martin Sabrow, Ralph Jessen, Klaus Grosse Kracht (München 2003) 94–113 ; Klaus Grosse Kracht, Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945 (Göttingen 2005) ; Die Gegenwart der Vergangenheit. Der »Historikerstreit« und die deutsche Geschichtspolitik, hg. v. Steffen Kailitz (Wiesbaden 2008) ; Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik. Der »Historikerstreit« – 20 Jahre danach, hg. v. Volker Kronenberg (Wiesbaden 2008). 17 Zur Person und Werk von Ernst Nolte siehe Volker Kronenberg, Ernst Nolte und das totalitäre Zeitalter. Versuch um Verständigung (Bonn 1999). 18 Ernst Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte, in : »Historikerstreit« (wie Anm. 16) 39–47.
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Die angeblich überbetonte, sogar selbstzerstörerische Kritik an den Verbrechen des Hitlerischen Nationalsozialismus trug nicht zur Schaffung einer »normalen« nationalen Beziehung der Deutschen zu ihrer Geschichte bei19. Laut Nolte handelte es sich um eine Vergangenheit, die nicht vergehen wollte20. Die dunkle Zeit des Nationalsozialismus sollte endlich historisiert werden. Sie sollte sozusagen ihre Ausnahme verlieren und »historisch relativiert« werden. Zum liberalen oder linken Spektrum der deutschen Gesellschaft neigende Kritiker befürchteten jedoch, dass eine solche historische Relativierung politisch motiviert sei und zur Manipulation der historischen Wirklichkeit führt. Auch Hruza schloss sich den Kritikern an. Ironisch merkte er an, dass die Gültigkeit des Satzes von Vergangenheit, die nicht vergehen will der Tatsache entsprach, da viele damalige Akteure und Vertreter des Nationalsozialismus nach dem Krieg bedeutende Stellen in der Verwaltung und der wirtschaftlichen Sphäre der Bonner Republik besetzten. Als eines der Merkmale dieser Manipulation betrachtet er die ostentative Konzentration auf die Persönlichkeit Adolf Hitlers und andere Mitglieder seiner Machtclique. Die Konzentration auf die kleine Schicht der höchsten Repräsentanten der Macht ermöglichte seiner Meinung nach, in der deutschen Gesellschaft die Illusion einer sonst unbescholtenen Nation aufrechtzuerhalten. Neun Jahre vor dem amerikanischen Politikwissenschaftler Daniel Goldhagen, dessen kontroverses, vereinfachendes und dennoch anregende Fragen stellendes Buch Hitler’s Willing Executioners : Ordinary Germans and the Holocaust Mitte der 90er-Jahre in Deutschland eine leidenschaftliche Debatte über den Anteil der breiten deutschen Gesellschaft an den Verbrechen des Naziregimes hervorrief21, sprach Hruza den Gedanken aus, dass wir ohne die Analyse des breiten gesellschaftlichen Kontexts der Vernichtungspolitik das Phänomen des Nationalsozialismus nie richtig verstehen werden. Als besonders wichtig betrachtete Hruza die Frage, warum die deutsche Öffentlichkeit nicht gegen das durch Vertreter des großdeutschen Reiches begangene Unrecht und deren Unmenschlichkeit protestierte. Sich dessen bewusst, dass der amorphe Begriff »Öffentlichkeit« eine allzu anonyme Entität bezeichnet, vereinfachte Hruza sein Fragen nach der konkreten Frage – nach dem Handeln der gesellschaftlichen Eliten. Warum erhob niemand von den maßgebenden Positionsinhabern die Stimme des Widerstands ? Es ist nicht völlig klar, an wen Hruza mit der Bezeichnung maßgebende Positionsin haber dachte. Wahrscheinlich betrachtete er das Problem vorwiegend aus einer linken 19 Hajo Funke, Der Kampf um die Erinnerung. Hitlers Erlösungswahn und seine Opfer (Hamburg 2019) 226f. 20 Siehe den Titel des Aufsatzes von Nolte, Vergangenheit (wie Anm. 18). 21 Daniel Jonah Goldhagen, Hitler’s Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust (New York 1996). Deutsch ders., Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust (Berlin 1996).
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Perspektive. Seine Aufmerksamkeit wandte er den kapitalistisch-unternehmerischen Schichten zu. Möglicherweise dachte er auch schon an die Vertreter des Bildungsbürger tums. Wenn wir nur für einen Augenblick in der Zeit voranschreiten, so zeigt sich, dass Hruza im Jahre 1996 Mitteis’ Entscheidung anzweifelte, sich in einer Epoche allgemeiner Politisierung und Ideologisierung des gesellschaftlichen Lebens den Habitus eines »unpolitischen« Gelehrten zu bewahren22. Erwies sich Mitteis’ edles Ideal von der unpolitischen Natur des Wissenschaftlers angesichts der Realität des nationalsozialistischen Regimes nicht nur als ein illusorisches Relikt des liberalen 19. Jahrhunderts ? Traurig konstatierte Hruza, dass der vielen Hindernisse zu Trotz, die das Regime M itteis in den Weg stellte, es nicht einmal dieser große Rechtshistoriker verhindern konnte, dass nationalsozialistische ideologische Schemata in seine Arbeit eindrangen. Kehren wir jedoch zurück zum Text aus dem Jahre 1987. Dieser war durch Hruzas Überzeugung charakterisiert, dass die verbrecherischen Aktivitäten des Nationalsozialismus für niemanden ein wirkliches Geheimnis waren, der darüber etwas wissen wollte. Er konnte zum Beispiel die Studien von Robert Gallately oder Peter Longerich nicht kennen23. Sie entstanden erst in Reaktion auf Goldhagens Buch. Die Studien zeigten, wie sich die deutsche »Gemeinschaft« nach dem Jahr 1933 an die Existenz der Konzentrationslager gewöhnte und wieviel sie über den Holocaust wusste. Aber Hruza schien es intuitiv einfach unmöglich, nichts über die dunkle Seite des nationalsozialistischen Regimes zu wissen. Seine Ansichten bestätigten später die Tagebücher des deutschen Sprachwissenschaftlers und Opfers des Regimes Viktor Klemperer24. Im Jahre 1987 fügte er hinzu, dass das Schweigen der Eliten nicht das Ergebnis der Überraschung von etwas Unerwartetem sein konnte. Das Schweigen dauerte die zwölf langen Jahre der Existenz des Regimes. Und viele für die Formierung gesellschaftlicher Haltungen entscheidende Persönlichkeiten schwiegen auch nach dem Jahre 1945 viele Jahrzehnte. Sollte in einer solchen Situation ein dicker Schlussstrich unter den Nationalsozialismus gezogen werden ? Erlauben wir uns ein kurzes Zitat : Das Übel begann 1933, einge bettet in einen fruchtbaren Schoß und bis 1945 versagten die Bürgertugenden in allen ent scheidenden Momenten. Der Faschismus ist beileibe nicht vom Himmel gefallen, war nicht eine »Heimsuchung« ([Helmut] Kohl), sondern hatte konkrete Helfer (u. a. Industrie kreise) gehabt. Mit einem fragwürdigen »kausalen Nexus« zum heutigen und damaligen politischen Feind kann die Verantwortung der deutschen Gesellschaft nicht verdrängt wer den. […] Die Verantwortung verschwindet auch nicht automatisch mit dem Aussterben der 22 Hruza, Georg Brun, Leben und Werk (wie Anm. 3). 23 Robert Gellately, Backing Hitler. Consent and coercion in Nazi Germany (Oxford 2001) ; Peter Longerich, Davon haben wir nichts gewusst ! Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945 (München 2006). 24 Hruza, Arbeiten (wie Anm. 8) 3.
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»Tätergeneration«25. Sobald der letzte Täter der Verbrechen des Nationalsozialismus stirbt, sobald mit dem Fluss der Zeit die direkte Zeugenschaft und die Erinnerungen der Opfer, die den Terror überlebt haben, verschwinden, geht die Verantwortung für die früheren Handlungen der Vorfahren auf ihre Erben und Nachkommen über. Hruza spricht in diesem Zusammenhang deshalb über die politische Verantwortung des Historikers in der Gegenwart26. Auch Historiker – und gerade sie – müssen die politische Verantwortung für die Auslegung der Vergangenheit übernehmen. Hruzas kritischer Kommentar zum »Historikerstreit« deutet an, dass die Aufgabe der Historiker nicht die Schaffung feierlich erhebender nationaler Geschichten sein kann. Die Vergangenheit darf unter keinen Umständen retuschiert werden, sondern muss immer in ihrer Nacktheit enthüllt werden, wie unangenehm dies auch immer sein mag. Natürlich ist ein Historiker wie jeder Bürger mit bestimmten politischen Werten verbunden. Aber die politische Verantwortung des Historikers beim Studium der Geschichte bedeutet nicht, die Geschichte entsprechend einer politischen Meinung zu interpretieren. Des Historikers Verantwortung gegenüber der Gegenwart und in dieser erfordert von ihm vielmehr, sich stets des Fakts bewusst zu sein, dass die Geschichte und ihre Erforschung mehr ist als nur eine Form des Verstehens der Situation des Menschen in der Welt. Die Geschichte ist Inhalt der politischen Kommunikation in den Debatten über die gemeinsame Gegenwart und Ausgangspunkt der Betrachtungen der Zukunft. Folglich wird sie Gegenstand gezielter Instrumentalisierung in aktuellen politischen Kämpfen. Der verantwortungsbewusste Historiker begegnet diesem Missbrauch der Geschichte unter bewusster Ausklammerung seiner politischen Überzeugung, indem er sich an die einzig verfügbare Realität der Vergangenheit, d. h. an die Quellenaussagen, hält und an diese geeignete Fragen stellt. Und so sind wir schon bei der ursprünglichen Motivation von Hruzas Expeditionen in die Geschichte nicht allein des 20. Jahrhunderts angelangt. In den Grundlagen seines dreibändigen Werkes über die österreichischen Historiker finden wir die Frage nach der politischen Verantwortung des Historikers und allgemein des Geisteswissenschaftlers. Hruza fragt nach der Möglichkeit der Erfüllung dieser Verantwortung in den turbulenten Zeiten des 20. Jahrhunderts. Warum versagten sie angesichts der offensichtlichen Amoralität des Nationalsozialismus so oft ? Der Historiker ist erstaunt ob der Erblindung österreichischer und sudetendeutscher Historiker in den Jahren 1938/39. Warum begrüßte ihre absolute Mehrheit den Einzug Hitlers in Österreich und der Tschechoslowakei mit unverhüllter Begeisterung ? Waren für das Versagen ihre Herkunft, Bildung oder die starken Generationserlebnisse des Weltkrieges verantwortlich ? Konnten, ja sollten nicht gerade sie nach fünf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft in Deutsch25 Ders., Wo die Geister sich scheiden (wie Anm. 2) 26. 26 Ebd. 27.
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land den Dr. Jekyll and Mr. Hyde-Charakter des Hitler-Regimes erkennen, wie es dem zur fast selben Generation gehörenden Journalist Sebastian Haffner (1907–1999) gelang27 ? Stand ein geläufiger Karrierismus und Opportunismus dahinter ? Oder waren sie eher einer bestimmten Ideologie und dem prometheischen Verlangen verfallen, eine bessere Welt aufzubauen ? Oder ging es bloß um die Angst um sich und die Nächsten ? Oder letztlich nur um egoistische Gleichgültigkeit ? Hruza studiert das Phänomen der Verblendung der Gebildeten, nicht um den Gebildeten zu verurteilen, sondern um das Phänomen im Diltheyschen Sinne zu verstehen. Die Herausgabe der Serie kritischer Portraits österreichischer Historiker hat Hruza zwar schon abgeschlossen. Das Suchen einer mehrschichtigen Antwort, die eine Schwarz-Weiß-Sicht, der wir in ähnlich gelagerten Fällen so oft unterliegen, überwindet, setzt er aber intensiv mit dem vertieften Studium von Zatschecks Biographie fort. Aus Vorbereitungsstudien erwächst wohl schon bald eine inspirative Monografie. Wenn dies geschieht und das Buch glücklich zu seinen Lesern gelangt, wird es ein weiterer Beweis dafür sein, wie Hruza selbst seinen schon lange ausgesprochenen Anspruch nach der politischen Verantwortung des Historikers in der Gegenwart erfüllt.
27 Sebastian Haffner : Germany : Jekyll&Hyde : 1939. Deutschland von innen betrachtet (Berlin 1996). Englische Erstausgabe 1940 in London. Vgl. auch Haffners berühmtes Buch (ursprünglich aus dem Jahr 1939) ders., Geschichte eines Deutschen. Erinnerungen 1914–1933 (München 2002).
Bibliographie der Arbeiten von Karel Hruza (A) Zeitschriftenaufsatz oder Sammelbandbeitrag (B) Buch (HB) Handbuchbeitrag (Hrsg.) Herausgeberschaft (Online) Online-Publikation (KB) Kleinere Beiträge (R) Rezension (M) Multimedia Die URL-Zitate sind zum 31.12.2020 aktuell.
1986 (B) Der Haistergau. Zur Geschichte einer oberschwäbischen Siedlungslandschaft (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bad Waldsee 6, Bad Waldsee 1986) 83 S.
1987 (A) Wo die Geister sich scheiden, die Vergangenheit nicht vergeht und die Sache auf den Kopf gestellt wird. Die Historikerdebatte, in : Nebelhorn. Magazin für Politik und Kultur in der Region Konstanz, Radolfzell, Singen Nr. 70 (März 1987) 24–27.
1989 (KB) »Wir Rudolf von Walse, lantvogt des heiligen Roemschen richs in Elsas … ze Swaben …«, in : Unser Gast. Das Gästemagazin der Städt. Kurverwaltung Bad Waldsee Nr. 96 (4. August 1989) 4. (KB) Kloster Schlierbach, Österreich : Eine Gründung der Herren von Walsee, in : Unser Gast. Das Gästemagazin der Städt. Kurverwaltung Bad Waldsee Nr. 91 (22. April 1989) 3.
1990 (A) Die Herren von Walsee und Kloster Baindt, in : Baindt – Hortus Floridus. Festschrift zur 750-Jahrfeier der Klostergründung 1240–1990, hg. v. Otto Beck (Großer Kunstführer Schnell und Steiner 173, München–Zürich 1990) 73–79.
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Bibliographie der Arbeiten von Karel Hruza
(KB) Ein scheinbar religiöses Anliegen wird zu einem Stück Machtpolitik. Über den Übergang Waldsees von den Welfen zu den Staufern, in : Unser Gast. Das Gästemagazin der Städt. Kurverwaltung Bad Waldsee Nr. 104 (16. Februar 1990) 8f.
1993 (R) Mayer, Thomas, Waldsee. Das Werden einer Stadt (Bad Waldsee 1992), in : Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 111 (1993) 227.
1995 (B) Die Herren von Wallsee. Geschichte eines schwäbisch-österreichischen Adelsgeschlechts (1171–1331) (Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs 18, Linz 1995) 630 S.
1996 (R) Husitství – Reformace – Renesance. Sborník k 60. narozeninám Františka Šmahela Uspořádali Jaroslav Pánek, Miroslav Polívka, Noemi Rejchrtová [Hussitentum – Reformation – Renaissance. Festschrift zum 60. Geburtstag von František Šmahel] Herausg. v. Jaroslav Pánek, Miloslav Polívka, Noemi Rejchrtová (Opera Instituti Historici Pragae C – Miscellanea 9.), Historisches Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Prag 1994. 3 Bände, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 104 (1996) 340–344. (R) Miroslav Flodr, Právní kniha města Brna z poloviny 14. století. I Úvod a edice. II Komentář. III Rejstříky a přehledy [Das Rechtsbuch der Stadt Brünn aus der Mitte des 14. Jhs. 3 Bände : I Einleitung und Edition. II Kommentar. III Register und Übersichten] Stadtarchiv Brünn, Museale und Heimatkundliche Gesellschaft Brünn, Brünn 1990, 1992, 1993, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 104 (1996) 379–381. (R) Dějiny univerzity Karlovy, I : 1347/8–1622 [Geschichte der Karlsuniversität 1 : 1347/8– 1622] Herausg. v. Michal Svatoš. Karolinum, Prag 1995, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 104 (1996) 377–379. (R) Georg Brun, Leben und Werk des Rechtshistorikers Heinrich Mitteis unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zum Nationalsozialismus (Rechtshistorische Reihe 83, Frankfurt/Main 1991), in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 104 (1996) 435–437.
1997 (A) Die hussitischen Manifeste vom April 1420, in : Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 53 (1997) 119–177.
Bibliographie der Arbeiten von Karel Hruza
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(R) Dějiny univerzity Karlovy, II : 1622–1802 [Geschichte der Karlsuniversität 2 : 1622–1802]. Herausg. v. František Kavka, Josef Petráň, Ivana Čornejová. Karolinum, Prag 1996, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 105 (1997) 515f.
1998 (A) Der Codex 4557 der Österreichischen Nationalbibliothek. Herausragendes Beispiel einer hussitischen Sammelhandschrift, in : Codices Manuscripti 26 (1999) 3–31. (A) 700 Jahre Stadtrecht in Waldsee. Die Stadtrechtsverleihung König Albrechts I. von 1298, in : Im Oberland. Kultur – Geschichte – Natur. Beiträge aus Oberschwaben und dem Allgäu (1998 Heft 1) 3–7. (R) K poctě Jaroslava Marka. Sborník prácí k 70. narozeninám prof. dr. Jaroslava Marka [Zu Ehren von Jaroslav Marek. Festschrift für Professor Dr. Jaroslav Marek zum 70. Geburtstag (Opera Instituti Historici Pragae C – Miscellanea 13)] Herausg. v. Lubomír Slezák, Radomír Vlček, Historisches Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Prag 1996, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 106 (1998) 183–185. (R) František Šmahel, Husitská revoluce. 1. Doba vymknutá z kloubů. 2. Kořeny české reformace. 3. Kronika válečných let. 4. Epilog bouřlivého věku [Die Hussitische Revolution. 1. Eine ausgerenkte Zeit. 2. Die Wurzeln der böhmischen Reformation. 3. Chronik der Kriegsjahre. 4. Epilog eines stürmischen Zeitalters] Karolinum. Prag 1995–1996, 4 Bände, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 106 (1998) 487–490. (R) Burmeister, Karl Heinz, Die Grafen von Montfort. Geschichte, Recht, Kultur. Festgabe zum 60. Geburtstag, hg. v. Alois Niederstätter (Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs N. F. 2, Konstanz 1996), in : Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 116 (1998) 197–200. (R) Marie Bláhová, Staročeská kronika tak řečeného Dalimila (3). Historický komentář, Rejstřík [Die altschechische Chronik des sogenannten Dalimil, Band 3. Historischer Kommentar, Register]. (Akademie věd České republiky – Texty a studie k dějinám českého jazyka a literatury 6, [Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik – Texte und Studien zur Geschichte der tschech. Sprache und Literatur 6].) Academia, Prag 1995, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 106 (1998) 485–487.
1999 (A) Ein Empfehlungsschreiben des böhmisch-mährischen Landkomturs Albrecht von Dubá von 1428, in : Táborský archiv 9 (1999) 103–107. (A) »Audite et cum speciali diligencia attendite verba litere huius.« Hussitische Manifeste : Objekt – Methode – Definition, in : Text – Schrift – Codex. Quellenkundliche Arbeiten aus dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung, hg. v. Christoph Egger, Herwig Weigl (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 35, 1999) 345–384.
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(A) Schrift und Rebellion. Die hussitischen Manifeste von 1415–1431 aus Prag, in : Geist, Gesellschaft, Kirche im 13.–16. Jahrhundert, hg. v. František Šmahel (Colloquia Mediaevalia Pragensia 1, Praha 1999) 81–108. (R) Eschatologie und Hussitismus (Historica, Series Nova, Supplementum 1). Herausg. v. Ale xander Patschovsky und František Šmahel. Historisches Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Prag 1996, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 107 (1999) 211–213. (R) Miscellanea husitica Ioannis Sedlák. Herausg. v. Jaroslav V. Polc u. Stanislav Přibyl. Karolinum, Prag 1996, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 107 (1999) 213f.
2000 (A) Keine »herrliche Fahrt«. Kritische Anmerkungen zu einem neuen Buch über die Hussitische Revolution, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 41 (2000) 85–96. (R) Václav Bůžek, Rytíři renesančních Čech. [Die Ritter im renaissancezeitlichen B öhmen.] Akropolis, Praha 1995. Václav Bůžek, Nižší šlechta v politickém systému a kultuře předbělohorských Čech [Der niedere Adel im politischen System und in der Kultur in Böhmen in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg.] (Opera Instituti Historici Pragae A – Monographia 13.) Historický ústav AVČR, Prag 1996, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 108 (2000) 432f. (R) Dějiny univerzity Karlovy, III : 1802–1918 und IV : 1918–1990. [Geschichte der Karlsuniversität 3 : 1802–1918 und 4 : 1918–1990.] Herausg. v. Jan Havránek, František Kavka, Josef Petráň und Zdeněk Pousta (nur Bd. IV), Karolinum, Prag 1997 und 1998, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 108 (2000) 446–448. (R) Jan Hus – Zwischen Zeiten, Völkern, Konfessionen. Herausg. v. Ferdinand Seibt unter Mitwirkung von Zdeněk Dietrich, Karl Josef Hahn, František J. Holeček, Norbert Kotowski, Zdeněk Kučera, Jan Lášek und Willem Rood (†) (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 85.) München 1997, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 108 (2000) 472f.
2001 (HB) Paul von Miličín und Talmberk, Bischof von Olmütz (seit 1435), * um 1400, † 2. 5. 1450, in : Neue Deutsche Biographie, Bd. 20 (Berlin 2001) 107f. (HB) Petr genannt Jelito (Gelyto, Wurst), auch P. von Brünn, Erzbischof von Magdeburg (1371– 1381), * um 1325/30 in Dolní Třešnovec (Bezirk Ústí nad Orlicí), † 13. 2. 1387 (?), in : Neue Deutsche Biographie, Bd. 20 (Berlin 2001) 221f. (HB) Peter (Angeli/Angelův) von Pontecorvo, genannt Bradavice, Bischof von Olmütz (seit 1311), † 7. 6. 1316 in Prag, in : Neue Deutsche Biographie, Bd. 20 (Berlin 2001) 225.
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(HB) Prokop, Markgraf von Mähren (1375–1405), * um 1355, † 24. 9. 1405 in Brünn, in : Neue Deutsche Biographie, Bd. 20 (Berlin 2001) 740f. (R) In memoriam Josefa Macka (1922–1991). Herausg. v. Miloslav Polívka, František Šmahel (Opera Instituti Historici Pragae C – Miscellanea 14.) Historický ústav AV ČR, Praha 1996, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 109 (2001) 256f. (R) Helena Krmíčková, Studie a texty k počátkům kalicha v Čechách [Studien und Texte zu den Anfängen des (Laien-)Kelchs in Böhmen] (Opera Universitatis Masarykianae Brunensis, Facultas Philosophica 310.) Vydavatelství MU, Brno 1997, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 109 (2001) 265. (R) Derschka, Harald Rainer, Die Ministerialen des Hochstiftes Konstanz (Vorträge und Forschungen Sonderband 45, Stuttgart 1999), in : Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 119 (2001) 333–336. (R) Adelige Welt und familiäre Beziehung. Aspekte der »privaten Welt« des Adels in böhmischen, polnischen und deutschen Beispielen vom 14. bis zum 16. Jahrhundert, hg. v. HeinzDieter Heimann (Potsdam 2000), in : Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 57 (2001) 334f.
2002 (Hrsg.) Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11.–16. Jahrhundert) (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 6, Wien 2002) 274 S. (A) Liber Pauli de Slauikouicz. Der hussitische Codex 4937 der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien und sein ursprünglicher Besitzer, in : Handschriften, Historiographie und Recht. Winfried Stelzer zum 60. Geburtstag, hg. v. Gustav Pfeifer (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 42, Wien–München 2002) 128–152. (A) Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit im Mittelalter, in : Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11.–16. Jahrhundert), hg. v. Karel Hruza (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 6, Wien 2002) 9–25. (A) Mit gewundenen Fernrohren gegen die mentalen Folgen einer Katastrophe. Kritische Anmerkungen zu einer Neuerscheinung, in : Husitský Tábor 13 (2002) 495–521. (R) Kopičková, Božena – Vidmanová, Anežka : Listy na Husovu obranu z let 1410–1412. Konec jedné legendy ? [Briefe zu Hussens Verteidigung aus den Jahren 1410–1412. Das Ende einer Legende ?] Karolinum, Praha 1999, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 43 (2002) 265–267. (R) Peter Hilsch, Johannes Hus (um 1370–1415). Prediger Gottes und Ketzer. Pustet, Regensburg 1999, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 110 (2002) 210f. (R) Jan Hus ve Vatikánu. Mezinárodní rozprava o českém reformátoru 15. století a o jeho recepci na prahu třetího tisíciletí. [ Jan Hus im Vatikan. Internationales Kolloquium über den tschechischen Reformator des 15. Jahrhunderts und seine Rezeption an der Schwelle zum dritten Jahrtausend] Herausg. v. Jaroslav Pánek, Miloslav Polívka. Historisches Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Praha 2000, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 110 (2002) 252.
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(R) František Palacký 1798/1998. Dějiny a dnešek. Sborník z jubilejní konference [František Palacký 1798/1998. Geschichte und Gegenwart. Sammelband der Jubiläumstagung.] Herausg. v. František Šmahel unter Mitarbeit von Eva Doležalová. Historisches Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Praha 1999, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 110 (2002) 258f. (R) Paul A. Herold, Die Herren von Seefeld-Feldsberg. Geschichte eines (nieder-)österreichischen Adelsgeschlechtes im Mittelalter (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 27.) St. Pölten 2000, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 110 (2002) 407–410.
2003 (HB) Robert, Bischof von Olmütz (1201–1240) † 17.10. 240, in : Neue Deutsche Biographie, Bd. 21 (Berlin 2003), 676f. (R) Rosario, Iva : Art and Propaganda : Charles IV of Bohemia 1346–1378. The Boydell Press, Woodbridge 2000, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 44 (2003) 223–225. (R) Bernd-Ulrich Hergemöller, Cogor adversum te. Drei Studien zum literarisch-theologischen Profil Karls IV. und seiner Kanzlei (Studien zu den Luxemburgern und ihrer Zeit 7.) Fahlbusch, Warendorf 1999, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 111 (2003) 209–211.
2004 (A) Wilhelm Wostry a Wilhelm Weizsäcker : vzorní mužové, řádní učenci a věrní vlasti synové ? [Wilhelm Wostry und Wilhelm Weizsäcker : Vorbildliche Menschen, gründliche Gelehrte und treue Söhne der Heimat ?], in : Německá medievistika v českých zemích do roku 1945 [Deutsche Mediävistik in Böhmen und in der Tschechoslowakei bis 1945], hg. v. Pavel Soukup, František Šmahel (Práce z dějin vědy 18, Praha 2004) 305–352. (A) Zwischen Budweis, Freistadt, Litschau und Wien. Fünf unbeachtete Urkundenkonzepte König Wenzels (IV.) für die Herzöge von Österreich aus dem Jahr 1396, in : Evropa a Čechy na konci středověku. Sborník příspěvků věnovaných Františku Šmahelovi [Europa und Böhmen am Ausgang des Mittelalters. Festschrift für František Šmahel], hg. v. Eva Doležalová, Robert Novotný, Pavel Soukup (Praha 2004) 59–83. (A) Rettet Neuwaldsee ! Zu den oberschwäbischen Burgen der Herren von Wallsee, in : Im Oberland. Kultur – Geschichte – Natur. Beiträge aus Oberschwaben und dem Allgäu (2004, Heft 2) 20–27. (A) Die Verbrennung von Jan Hus auf dem Konstanzer Konzil 1415, in : Höhepunkte des Mittelalters, hg. v. Georg Scheibelreiter (Darmstadt 2004) 202–220. (A) Omne patrimonium suum cum ministerialibus. Zur Herkunft welfischer Dienstmannen in Oberschwaben am Beispiel der Herren von Wallsee, in : Welf IV. – Schlüsselfigur einer Wendezeit. Regionale und europäische Perspektiven, hg. v. Dieter Bauer, Matthias Becher un-
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ter Mitarbeit v. Alheydis Plassmann (Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte Beiheft 24 [Reihe B], 2004) 382–419. (A) Ghostwriter Ihrer Majestät, der Krone von Böhmen. Fingierte Mündlichkeit, reale Schriftlichkeit und Legitimation satirischer hussitischer Propaganda, in : The Development of Literate Mentalities in East Central Europe, hg. v. Anna Adamska, Marco Mostert (Utrecht Studies in Medieval Literacy 9, Turnhout 2004) 415–429.
2005 (Hrsg.) (mit Paul Herold) Wege zur Urkunde – Wege der Urkunde – Wege der Forschung. Beiträge zur europäischen Diplomatik des Mittelalters (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J.F. Böhmer, Regesta Imperii 24, Wien–Köln–Weimar 2005) 307 S. (A) »Damit beide Länder in Frieden verbleiben.« Ein ferner Blick in die Verhandlungspapiere mährisch-österreichischer Konsultationen der Jahre 1398 und 1400, in : Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 51 (2005) 305–329. (A) »Wissenschaftliches Rüstzeug für aktuelle politische Fragen.« Kritische Anmerkungen zu Werk und Wirken der Historiker Wilhelm Weizsäcker und Wilhelm Wostry, in : Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 54 (2005) 475–526. (A) 1200 Jahre Haisterkirch. Die Frühzeit Haisterkirchs und des Haistergaues bis ins 11. Jahrhundert, in : Haisterkirch. Beiträge zur Geschichte des Haistergaus 805–2005 (Bad Waldsee 2005) 5–26. (A) Anno domini 1385 do burden die iuden … gevangen. Die vorweggenommene Wirkung skandalöser Urkunden König Wenzels (IV.), in : Wege zur Urkunde – Wege der Urkunde – Wege der Forschung. Beiträge zur europäischen Diplomatik des Mittelalters, hg. v. Karel Hruza, Paul Herold (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J.F. Böhmer, Regesta Imperii 24, Wien–Köln–Weimar 2005) 117–167. (R) Libor Jan, Vznik zemského soudu a správa středověké Moravy [Die Entstehung des Landgerichts und die Verwaltung im mittelalterlichen Mähren] (Knižnice Matice moravské 6 = Opera Universitatis Masarykianae Brunensis Facultas Philosophica 334. Paginae Historiae Mediaevalis II/1 – Historica.) Masarykova univerzita Brno / Matice moravká, Brno 2000, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 113 (2005) 460f. (R) Boeselager, Elke Frfr. von, Schriftkunde (Hahnsche Historische Hilfswissenschaften 1, Hannover 2004), in : H-Soz-u-Kult Rezensionen 28.07.2005, URL : https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-7599.
2006 (A) Zlatá bula sicilská : sic transit gloria ? K nové knize Martina Wihody [Die Sizilische Goldene Bulle : sic transit gloria ? Zu einem neuen Buch von Martin Wihoda], in : Časopis Matice moravské 125 (2006) 145–157. (R) Schubert, Ernst, Königsabsetzung im deutschen Mittelalter. Eine Studie zum Werden der
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2007 (A) »Hrůza neví či nechce vědět«. Několik poznámek k diskusi nad souborem basilejských listin z 26. září roku 1212 a charakterem přemyslovské vlády [»Hrůza weiß es nicht oder will es nicht wissen”. Einige Anmerkungen zur Diskussion über die Gruppe der Basler Urkunden vom 26. September 1212 und den Charakter der Přemyslidenherrschaft], in : Časopis Matice moravské 126 (2007) 403–408. (A) Die drei »Sizilischen Goldenen Bullen« Friedrichs II. von 1212 für die Přemysliden. Zu einem neuen Buch, diplomatischen Fragen und einer »Historikerdebatte« in der tschechischen Forschung, in : Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 53 (2007) 213–249. (R) Friedrich Reiser und die »waldensisch-hussitische Internationale« im 15. Jahrhundert. Hrsg. v. Albert de Lange, Kathrin Utz Tremp. (Waldenserstudien, Bd. 3.) Verlag Regionalkultur, Heidelberg u. a. 2006, in : Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 56 (2007) 436f. (R) Stoy, Manfred, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 1929–1945 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Erg.-Bd. 50, Wien/München 2007), in : H-Soz-u-Kult Rezensionen 09.08.2007, URL : https://www.hsozkult.de/publica tionreview/id/reb-9686. (R) Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch 1–3, hg. v. Heinz Duchhardt, Małgorzata Morawiec, Wolfgang Schmale, Winfried Schulze (Göttingen 2006/7), in : H-Soz-u-Kult Rezensionen 08.08.2007, URL : https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-9285. (R) Jan, Libor : Václav II. a struktury panovnické moci [Wenzel II. und die Strukturen königlicher Herrschaft] (Knižnice Matice moravské 18) Matice moravská, Brno 2006, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 47 (2006/7) 206–209. (R) Lohmann, Nina : Wilhelm Wostry und die »sudetendeutsche« Geschichtsschreibung bis 1938. In : Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 44 (2004) Praha 2006, 45–145. Dies.: »Eingedenk der Väter, unerschütterlich treu unserem Volke !« : Der Verein für Geschichte der Deutschen in den Sudetenländern im Protektorat Böhmen und
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Mähren, in : Neutatz, Dietmar / Zimmermann, Volker (Hgg.) : Die Deutschen und das östliche Europa. Aspekte einer vielfältigen Beziehungsgeschichte. Festschrift für Detlef Brandes zum 65. Geburtstag. Klartext Verlag, Essen 2006, 25–46, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 47 (2006/7) 224–227. (R) Šmahel, František, Cesta Karla IV. do Francie 1377–1378 [Die Reise Karls IV. nach Frankreich 1377–1378] (Praha 2005), in : H-Soz-u-Kult Rezensionen 09.05.2007, URL : https:// www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-8924. (R) Klassiker der Geschichtswissenschaft 1–2. 1 : Von Edward Gibbon bis Marc Bloch. 2 : Von Fernand Braudel bis Natalie Z. Davis, hg. v. Lutz Raphael (München 2006), in : H-Soz-uKult Rezensionen 2006 26.02.2007, URL : https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/ reb-9354. (R) Thomas A. Fudge, The Crusade against Heretics in Bohemia, 1418–1437. Sources and Documents for the Hussite Crusades. (Crusade Texts in Translations 9.) Ashgate, Burlington [USA] 2002), in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 115 (2007) 174–176. (R) Universitäten in nationaler Konkurrenz. Zur Geschichte der Prager Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Hans Lemberg (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 86.) Oldenbourg, München 2003, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 115 (2007) 186f. (R) Miroslav Flodr, Brněnské městské právo. Zakladatelské období (–1359) [Das Brünner Stadtrecht. Die Zeit der Entstehung (–1359)] (Knižnice Matice moravské 7.) Matice moravská, Brno 2001, in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 115 (2007) 199f.
2008 (Hrsg.) Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts (Wien–Köln– Weimar 2008) 859 S. (B) J. F. Böhmer, Regesta Imperii IV. Die Regesten des Kaiserreiches unter Lothar III. und Konrad III. 2. Teil. Konrad III. 1093/94 (1138) – 1152, bearbeitet von Jan Paul Niederkorn unter Mitarbeit von Karel Hruza (Wien–Köln–Weimar 2008) 453 S. (A) Ein vergeblicher Hilferuf. Der Brief Käthe Spiegels an den Rektor der Deutschen Karls-Universität in Prag vom 11. Oktober 1941, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 48 (2008) 203–210. (A) Die Burg Neuwaldsee. Der letzte Rest verschwindet im Wald, in : Bewehren und bewahren. Burgen und Burgruinen im Landkreis Ravensburg (Zeitzeichen 5, Ravensburg 2008) 32–35. (A) Heinz Zatschek (1901–1965). »Radikales Ordnungsdenken« und »gründliche, zielgesteuerte Forschungsarbeit«, in : Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, hg. v. Karel Hruza (Wien 2008) 677–792. (A) Der deutsche Insignien- und Archivalienraub aus der Prager Universität 1945. Mit einem Briefwechsel zwischen dem Universitätsarchivar Heinz Zatschek und dem Präsidenten der
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Monumenta Germaniae Historica Theodor Mayer, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 48 (2008) 349–411. (A) Österreichische Historiker 1900–1945. Zum Stand der Forschung, in : Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, hg. v. Karel Hruza (Wien 2008) 13–37. (HB) Heinz Zatschek (1901–1965), in : Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, hg. v. Ingo Haar, Michael Fahlbusch, Matthias Berg (München 2008) 783–786. (HB) Wihelm Wostry (1877–1951), in : Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, hg. v. Ingo Haar, Michael Fahlbusch, Matthias Berg (München 2008) 772–776. (KB) Für immer verloren. Der deutsch-tschechische Streit um die Insignien der Prager Universität, in : Süddeutsche Zeitung Nr. 265, 14. November 2008, 15. (R) Hundert Jahre sudetendeutsche Geschichte. Eine völkische Bewegung in drei Staaten, hg. v. Hans Henning Hahn (Die Deutschen und das östliche Europa 1, Frankfurt/M. 2007), in : H-Soz-u-Kult Rezensionen 23.12.2008, URL : https://www.hsozkult.de/publicationreview/ id/reb-11849. (R) Kubů, František : Chebský městský stát. Počátky a vrcholné období do počátku 16. století [Der Stadtstaat von Eger. Anfänge und Blütezeit bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts] Veduta, České Budějovice 2006, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 48 (2008) 276–278. (R) Oberkofler, Gerhard : Käthe Spiegel. Aus dem Leben einer altösterreichischen Historikerin und Frauenrechtlerin in Prag. Studienverlag, Innsbruck 2005, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 48 (2008) 301–303. (R) Die »sudetendeutsche Geschichtsschreibung« 1918–1960. Zur Vorgeschichte und Gründung der Historischen Kommission der Sudetenländer, hg. v. Stefan Albrecht, Jiří Malíř, Ralph Melville (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 114, München 2008), in : HSoz-u-Kult Rezensionen 30.06.2008, URL : https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/ reb-10808 ; tschechisch in : Časopis Matice moravské 127 (2008) 490–494.
2009 (A) »Einige Deutsche habe ich auch wirklich gern empfangen«. Ein Bericht des tschechischen Historikers Václav Vojtíšek aus dem Jahr 1966 über Deutsche Fachkollegen in Prag, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 49 (2009) 96–163. (A) »Unsere beiden Länder Österreich und Mähren sollen künftig friedlich gegeneinander stehen«. Vier Urkunden der Jahre 1405, 1414 und 1415 zu mährisch-österreichischen Landfrieden aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu Wien, in : Historik na Moravě. Profesoru Jiřímu Malířovi […] věnují jeho kolegové, přátelé a žáci k šedesátinám [Historiker in Mähren. Festschrift für Prof. Jiří Malíř zum 60. Geburtstag], hg. v. Hana Ambrožová, Bronislav Chocholáč, Libor Jan, Pavel Pumpr (Brno 2009) 251–262. (R) Dějiny českých zemí [Geschichte der Böhmischen Länder], hg. v. Jaroslav Pánek, Oldřich Tůma (Praha 2008), in : Střed. Časopis pro mezioborová studia střední Evropy 19. a 20. století /
Bibliographie der Arbeiten von Karel Hruza
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2012 (Hrsg.) (mit Alexandra Kaar) Kaiser Sigismund (1368–1437). Zur Herrschaftspraxis eines europäischen Monarchen (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J.F. Böhmer, Regesta Imperii 31, Wien–Köln–Weimar 2012) 564 S. (Hrsg.) Österreichische Historiker. Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 2 (Wien–Köln– Weimar 2012) 673 S. (Hrsg.) J. F. Böhmer, Regesta Imperii XI. Regesten Kaiser Sigismunds (1410–1437) nach Archiven und Bibliotheken geordnet. Band 1. Die Urkunden und Briefe aus den Archiven und Bibliotheken Mährens und Tschechisch-Schlesiens, nach Wilhelm Altmann neubearbeitet von Petr Elbel (Wien–Köln–Weimar 2012) 303 S. (A) Eine Einleitung, in : Österreichische Historiker. Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 2 (Wien–Köln–Weimar 2012) 9–21. (R) Krzenck, Thomas, Johannes Hus. Theologe, Kirchenreformer, Märtyrer (Persönlichkeit und Geschichte 170, Gleichen u. a. 2011), in : Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 68 (2012) 757–759. (R) Fudge, Thomas A., Jan Hus. Religious Reform und Social Revolution in Bohemia (International Library of Historical Studies 73, London u. a. 2010), in : Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 68 (2012) 757–759 ; tschechisch in : Časopis Matice moravské 132 (2013) 506–510. (R) Konrád, Ota : Dějepisectví, germanistika a slavistika na německé univerzitě v Praze 1918– 1945 [Geschichtsschreibung, Germanistik und Slawistik an der Deutschen Universität in Prag 1918–1945] Karolinum, Praha 2011, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 52 (2012) 182–185. (R) Nodl, Martin : Dekret Kutnohorský [Das Kuttenberger Dekret] (Edice Česká historie 23) Nakladatelství Lidové noviny, Praha 2010, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur
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2015 (Hrsg.) J. F. Böhmer, Regesta Imperii XI. Regesten Kaiser Sigismunds (1410–1437) nach Archiven und Bibliotheken geordnet. Band 2 : Die Urkunden und Briefe aus den Archiven und Bibliotheken West-, Nord- und Mittelböhmens, nach Wilhelm Altmann neubearbeitet von
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(R) Šustek, Vojtěch (Hg.) : Atentát na Reinharda Heydricha a druhé stanné právo na území tzv. protektorátu Čechy a Morava. Edice historických dokumentů II. [Das Attentat auf Reinhard Heydrich und das zweite Standrecht auf dem Gebiet des sog. Protektorats Böhmen und Mähren. Edition historischer Dokumente II.) (Archiv Hlavního města Prahy. Documenta Pragensia Monographia Vol. 26/2) Archiv Hlavního města Prahy/Scriptorium, Praha 2014, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 56 (2016) ; tschechisch in : Časopis Matice moravské 135 (2016) 171f. (R) Syruček, Milan / Svoboda, Josef : Proč zmizely insignie Karlovy univerzity. 70 let pátrání po 700 let starých symbolech české historie [Warum verschwanden die Insignien der Karlsuniversität ? 70 Jahre Suche nach den 700 Jahren alten Symbolen tschechischer Geschichte] Grada Publishing, Praha 2015, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 56 (2016) 486–488.
2017 (A) Reform, Konzil und Korrespondenz. Böhmen und die Kirche, in : Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Quellen und Methoden zur Geschichte Mittel- und Südosteuropas, hg. v. Elisabeth Gruber, Christina Lutter, Oliver Jens Schmitt (UTB Band 4554, Köln–Weimar–Wien 2017) 439–446. (Online) König Wenzel (1361–1419), der Ehre beraubt ? Eine kommentierte Skizze seines Lebens (MIR Texte 6, 2017, URL : https://www.oeaw.ac.at/fileadmin/Institute/imafo/pdf/for schung/MIR/timelab/MIR_Text_6.pdf ) 19 S. (HB) Harold Steinacker (1875–1965), in : Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme 1 : Biographien, hg. v. Michael Fahlbusch, Ingo Haar, Alexander Pinwinkler, unter Mitarbeit v. David Hamann (Berlin–Boston 22017) 795– 798. (HB) Josef Pfitzner (1901–1945), in : Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme 1 : Biographien, hg. v. Michael Fahlbusch, Ingo Haar, Alex ander Pinwinkler, unter Mitarbeit v. David Hamann (Berlin–Boston 22017) 596–600. (HB) Heinz Zatschek (1901–1965), in : Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme 1 : Biographien, hg. v. Michael Fahlbusch, Ingo Haar, Alexander Pinwinkler, unter Mitarbeit v. David Hamann (Berlin–Boston 22017) 934–938. (HB) Wihelm Wostry (1877–1951), in : Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme 1 : Biographien, hg. v. Michael Fahlbusch, Ingo Haar, Alexander Pinwinkler, unter Mitarbeit v. David Hamann (Berlin–Boston 22017) 919– 924. (R) A Companion to Jan Hus, hg. v. František Šmahel, Ota Pavlíček (Brill’s Companions to the Christian Tradition 54, Leiden 2015), in : Zeitschrift für Historische Forschung 44 (2017) 103f. (R) Internationale Tagung Universität Erfurt 29. März–1. April 2017. Wenzel IV. (1361–1419) Neue Wege zu einem verschütteten König. Wenceslas IV (1361–1419) New Approaches to a Superimposed King. Tagungsbericht, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 57 (2017) 193–197.
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2019 (Hrsg.) Österreichische Historiker. Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 3 (Wien–Köln– Weimar 2019) 627 S. (A) Einleitung und Kommentar zum dritten Band, in : Österreichische Historiker. Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 3, hg. v. Karel Hruza (Wien–Köln–Weimar 2019) 9–27. (R) Němec, Jiří : Eduard Winter 1896–1982. Zpráva o originalitě a přizpůsobení se sudetoněmeckého historika [Eduard Winter 1896-1982. Bericht über die Originalität und die Selbstanpassung eines sudetendeutschen Historikers] (Opera Facultatis philosophicae Universitatis Masarykianae = Spisy Filozifické fakulty Masarykovy univerzity 475) Munipress, Brno 2017, in : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 59 (2019) 221–227.
2020 (A) Volumus, quod ministeriales de Waltse ad ducatum pertinent. Der Übergang der Herrschaft und der Ministerialen von Waldsee von den Welfen zu den Staufern 1181, in : Von den Welfen zu den Staufern. Der Tod Welfs VII. 1167 und die Grundlegung Oberschwabens im Mittelalter, hg. v. Thomas Zotz, Andreas Schmauder, Johannes Kuber (Oberschwaben. Forschungen zu Landschaft, Geschichte und Kultur 4, Stuttgart 2020) 109–136. (HB) Wenzel (IV.), König, in : Neue Deutsche Biographie, Bd. 27 (Berlin 2020) 794–797. (M) Leben mit der Straße, Leben an der Straße (Bad Waldsee von gestern, für Leute von heute. Der History Blog) 11 Min, URL : https://www.youtube.com/watch?v=sGHNoEAW3yU (Online) Ordnung muss sein, auch im Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde. Über einen ausdrücklichen Wunsch Wilhelm Engels von 1936. (URL : https://www.mgh.de/sto rage/app/media/Blog-PDF/Hruza_Ordnung%20muss%20sein.pdf ) 4 S. (Online) »Unser gewaltigstes Geschichtswerk«. Drei denk- und merkwürdige Zeitungsartikel über die MGH aus den Jahren 1934 und 1937. Mit Transkriptionen. (URL : https://www.mgh.de/ storage/app/media/Blog-PDF/Hruza_Unser%20gewaltigstes%20Geschichtswerk.pdf )16 S. (R) Proske, Veronika, Der Romzug Kaiser Sigismunds (1431–1433). Politische Kommunikation, Herrschaftsrepräsentation und -rezeption (Forschungen zu Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 44) Böhlau, Wien – Köln – Weimar 2018, in: Zeitschrift für Historische Forschung 47 (2020) 707–709.
2021 (A) »Mit dem arischen Flügel«. Heinz Zatschek und seine Abkehr von der MGH-Edition der Epistolae Wibaldi, in : Das Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde 1935 bis 1945. Ein »Kriegsbeitrag der Geisteswissenschaften« ? Beiträge des Symposium am 28. und 29. November 2019 in Rom, hg. v. Arno Mentzel-Reuters, Martin Baumeister, Martina Hartmann (Studien zur Geschichte der Mittelalterforschung 1) 135–177. (A) Ein »Historiker des Unbedingten« ? Über Habitus und Generation des sudetendeutschen Mediävisten Heinz Zatschek (1901–1965) (in Vorbereitung)
II. UR KUNDEN UND HER RSCHAFTSPR A XIS IM HOHEN UND SPÄTEN MITTELALTER
Andrea Rzihacek
Zwei Herrscher – zwei Kanzleien?* Urkundenausstellung in Zeiten der Doppelherrschaft 1
Le roi est mort ! Vive le roi ! Der König ist tot, es lebe der König !2 Seit jeher waren Herrschende und Dynastien an reibungslosen Regierungswechseln interessiert, die den Übergang der Macht an den natürlichen Thronfolger oder einen sorgfältig ausgewählten Nachfolger sicherstellen sollten, um die Krone innerhalb der Dynastie zu bewahren. In der Antike schreckten Aspiranten auf den römischen Kaiserthron mitunter sogar nicht davor zurück, dem Freiwerden des Throns aktiv nachzuhelfen, um sich einen Vorsprung vor anderen Anwärtern zu sichern und nach dem Tod des Kaisers rechtzeitig zur Stelle zu sein und den Palast mit seinem politischen Apparat in Besitz nehmen zu können3. Im mittelalterlichen Römischen Reich suchte der regierende Kaiser den Übergang an den gewünschten Nachfolger durch dessen noch zu seinen eigenen Lebzeiten erfolgende Wahl zum römischen König zu erreichen4, die nicht nur die Nachfolge im Wahlkö1 Beim vorliegenden Beitrag handelt es sich um einen Werkstattbericht im Rahmen der Vorbereitung der Edition der Urkunden Kaiser Ottos IV., die in der Diplomata-Reihe der Monumenta Germaniae Historica erscheinen wird. – Die Urkunden Ottos IV. sind im vorliegenden Beitrag zitiert nach : Die Regesten des Kaiserreichs unter Philipp, Otto IV, Friedrich II, Heinrich (VII), Conrad IV, Heinrich Raspe, Wilhelm und Richard (1198–1272), nach der Neubearbeitung und dem Nachlasse Johann Friedrich Böhmers neu hg. und ergänzt v. Julius Ficker, Eduard Winkelmann V/1 (Innsbruck 1881), unter Verwendung der Abkürzung BFW. Im Thronstreitregister Innocenz’ III. verzeichnete Stücke sind zitiert nach : Regestum Innocentii III papae super negotio Romani imperii, hg.v. Friedrich Kempf (Miscellanea Historiae Pontificiae XII/21, Roma 1947), unter Verwendung der Abkürzung RNI. Urkunden Philipps von Schwaben sind nach ihrer Edition zitiert : Die Urkunden Philipps von Schwaben, hg. v. Andrea Rzihacek, Renate Spreitzer (Monumenta Germaniae Historica. Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser 12, Wiesbaden 2014), unter Verwendung der Abkürzung DPh bzw. DDPh. 2 Dieser Ausruf des Duc d’Uzès, Pair de France, erscholl erstmals beim Begräbnis des französischen Königs Ludwig XII. 1515. Es handelt sich dabei um die verkürzte Version einer älteren Formel, die schon bei den Begräbnisfeierlichkeiten für Karl VI. 1422 in St. Denis zu hören war und aus einem Gebet für den verstorbenen König und der unmittelbar darauffolgenden Proklamation des neuen Königs Heinrich VI. bestand, vgl. Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. »The King’s Two Bodies«. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, bearb. v. Josef Fleckenstein (München 1990) 405– 415. 3 Vgl. dazu etwa Mary Beard, SPQM. A History of Ancient Rome (London 2016) 414–416. 4 Erstmals wandte im Jahr 961 Otto I. mit der Erhebung seines Sohnes Ottos II. zum Mitkönig diese Strategie an, die bis zum Ende des Heiligen Römischen Reichs wiederholt zur Anwendung kam, vgl. Gerhard Theuerkauf, Art. Königswahl, in : Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 3 (Berlin 22016) Sp. 80–86. Herrscher versuchten auch, durch Designation ihre Nachfolge zu regeln, vgl. dazu allgemein
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nigtum sicherte, sondern spätestens seit den Bestimmungen der Goldenen Bulle 1356 auch die Kaiserkrönung durch den Papst präjudizierte. Denn nach dem Herrschaftsverständnis des Spätmittelalters nahm der gewählte König mit seinem Regierungsantritt auch alle kaiserlichen Rechte wahr und war daher in der Folge zum Kaiser zu krönen (electio regis Romanorum in imperatorem promovendi5). Um nach dem Tod des Kaisers auch tatsächlich die Macht übernehmen zu können, war es für eine Dynastie daher von höchster Wichtigkeit, zunächst nicht nur die Königswähler und den spätestens seit der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts für die Krönung zuständigen Erzbischof von Köln für sich zu gewinnen, um die Krönung vom rechten Mann (dem Kölner Erzbischof ) am rechten Ort (Aachen) vornehmen zu lassen. Besonders in Zeiten, in welchen die zur Wahl berechtigten Fürsten, deren Kreis freilich im Hochmittelalter noch nicht definitiv festgelegt war, gespalten waren und eine Doppelwahl drohte, scheinen diese Fragen von höchster Bedeutung, nicht zuletzt, weil man damit auch gegenüber dem Papst, dem die Kaiserkrönung vorbehalten war (und der sich naturgemäß gegen jede Vorentscheidung der kaiserlichen Nachfolge durch die deutschen Fürsten wehrte), die Rechtmäßigkeit des gewählten Königs argumentieren konnte6. Wenig beachtet wurde bisher in diesem Zusammenhang die Frage, welche Rolle die »Kanzlei«, die in der älteren Forschung – durchaus ideologisch hinterlegt – sogar als »Reichskanzlei« bezeichnet wurde7, beim Übergang der Regierung vom verstorbenen zum neuen Herrscher spielte8. Immerhin verfügte nur sie über genaue Kenntnisse, wie eine Herrscherurkunde auszusehen und formuliert zu sein hatte, bzw. verfügte ein Herrscher über Notare, die dieses Wissen besaßen. Im Falle eines vorhersehbaren und geord-
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Peter-Johannes Schuler, Art. Designation (Designatio) III. Im Rahmen der deutschen Königswahl, in : Lexikon des Mittelalters 3 (München–Zürich 1986) Sp. 728f., sowie Ulrich Schmidt, Königswahl und Thronfolge im 12. Jh. (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 7, Köln–Wien 1987) 18–26. Vgl. Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. vom Jahre 1356, hg. v. Wolfgang D. Fritz (Monumenta Germaniae Historica. Fontes iuris Germanici antiqui in usum scholarum separatim editi 11, Weimar 1972) cap. I. [1] 46 Z. 12. Zu den Königskrönungen im Mittelalter vgl. allgemein Andreas Büttner, Art. Königskrönung, in : Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte 3 (Berlin 22016) Sp. 52–58, sowie den Band Krönungen. Könige in Aachen. Geschichte und Mythos. Katalog der Ausstellung 1, hg. v. Mario Kramp (Mainz 2000), darin besonders die Beiträge von Silvinus Müller, Die Königskrönungen in Aachen (936–1531). Ein Überblick, ebd. 49–58, Klaus Militzer, Der Erzbischof von Köln und die Krönungen der deutschen Könige (936–1531), ebd. 105–111, und Hans-Martin Schaller, Der deutsche Thronstreit und Europa 1198–1218. Philipp von Schwaben, Otto IV. und Friedrich II., ebd. 398–406. Vgl. etwa Anton Julius Walter, Die deutsche Reichskanzlei während des Endkampfes zwischen Staufern und Welfen (Innsbruck 1938). Zum mittlerweile zu Recht nur noch mit Vorbehalt verwendeten Begriff der »Kanzlei«, der im 19. Jahrhundert geprägt wurde und die hierarchische Behördenstruktur moderner Bürokratien auf die Urkundenproduktion mittelalterlicher Höfe übertrug, siehe die *Anm. am Ende des Beitrages.
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neten Regierungswechsels konnte auch der Übertritt von Kanzleikräften in den Dienst des neuen Herrschers bruchlos vor sich gehen. Selbst wenn dieser in der Regel seine Vertrauten und Ratgeber, die ihn vielleicht schon während der Regierungszeit seines Vorgängers umgaben, persönlich auswählte, traf dies für die Angehörigen der Kanzlei nicht oder nur bedingt zu. So bekleideten die Erzkanzler für Deutschland, Italien und Burgund, die traditionell aus den Reihen der Erzbischöfe von Mainz, Köln und Vienne gestellt wurden9, diese Würden – so wie ihre bischöflichen Ämter – unter verschiedenen Herrschern. Auch die königlichen bzw. kaiserlichen Kanzler behielten nach einem Regierungswechsel ihre Funktion bei. So blieb der letzte Kanzler während der Regierungszeit Friedrichs I., Diether von Katzenellenbogen, der in Abwesenheit des kreuzfahrenden Kaisers bereits von Heinrich VI. ernannt und vermutlich in den letzten Monaten des Jahres 1189 sein Amt angetreten hatte, unter Heinrich VI. noch bis zu seinem Tod im Jahr 1191 in dieser Funktion tätig. Auch der letzte Kanzler Heinrichs, Konrad von Querfurt, behielt die Kanzlerwürde, die er spätestens seit Jahresbeginn 1195 bis in den Herbst 1201 innehatte, auch unter Heinrichs Bruder, König Philipp. Philipp, der vormalige Herzog von Schwaben, war nach dem unerwarteten Tod seines älteren Bruders Heinrich 1198 von einem Großteil der deutschen Fürsten zum römischdeutschen König gewählt worden, während eine Minderheit nur kurze Zeit später ihre Wahl des Welfen Ottos IV. proklamierte10. Die Doppelwahl zeigt sehr deutlich, dass in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Wahl weniger mit den Wählerzahlen, sondern vor allem mit der Rechtmäßigkeit des Wahlortes und des Koronators argumentiert wurde. Die Wahl Philipps hatte am 8. März 1198 in Mühlhausen stattgefunden. Da jedoch der Erzbischof von Köln, Adolf von Altena, gemeinsam mit der Stadt Köln, deren Kaufleute enge Beziehungen zu England unterhielten und vom englischen König Richard I., einem Onkel Ottos, bedeutende Geldzahlungen erhalten hatten, die Wahl des Welfen unterstützten, konnte Philipps Krönung nicht durch den Kölner Erzbischof erfolgen. An seiner Stelle nahm Erzbischof Aimo von Tarantaise, ein Anhänger Philipps, am 8. September die Krönung vor. Krönungsort war zudem Mainz anstelle von Aachen, wo sich Otto zuvor bereits am 8. Juli vom Erzbischof von Köln krönen hatte lassen. Jedoch wies auch Ottos Krönung einen Mangel auf, den besonders die Propaganda für Philipp thematisierte : Da sich die Krönungsinsignien im Besitz Philipps befanden, konnte dieser mit der altehrwürdigen Reichskrone gekrönt werden, während Otto nur auf einen Ersatz zurückgreifen konnte11. Die folgenden Jahre waren geprägt von militärischen und 9 Vgl. die Einleitung zur Edition der Urkunden Friedrichs I.: Die Urkunden Friedrichs I/5. Einleitung und Verzeichnisse, hg. v. Heinrich Appelt (Monumenta Germaniae Historica. Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser X, 5, Hannover 1990) 12. 10 Vgl. ein entsprechendes Schreiben an den Papst BFW 203, ediert RNI Nr. 10. 11 Dass der Besitz der Reichsinsignien bei der Legitimität der Wahl tatsächlich eine Rolle gespielt hat, wie
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diplomatischen Auseinandersetzungen um die Erlangung der Alleinherrschaft, die vom Papst, der von Anfang an massiv die Partei Ottos ergriffen hatte und dessen Anerkennung bei den Anhängern Philipps aktiv betrieb12, befeuert wurden. Während dieser Zeit stellte Philipp mit Hilfe der von seinem verstorbenen Bruder übernommenen Notare (PhB, PhC und PhE) und neuer, von ihnen eingewiesener Kräfte, Königsurkunden aus, die ganz in der Tradition seiner Vorgänger standen13. Hier sollen nun jene beiden Perioden im Fokus stehen, in welchen Otto als gewähltem König die Notare der Herrscherkanzlei nicht zur Verfügung standen, also einerseits von seiner Wahl am 12. Juli 1198 bis zur Ermordung König Philipps und andererseits von der Wahl Friedrichs II. zum römisch-deutschen König am 5. Dezember 1212 bis zu seinem eigenen Tod am 19. Mai 1218. Auch wenn, wie bereits gezeigt wurde, Otto während dieser beiden Perioden vergleichsweise wenig urkundete, so stellte er damals doch mehrere Urkunden unter dem Titel eines römisch-deutschen Königs, im zweiten Zeitraum eines römisch-deutschen Kaisers, aus und hielt damit zumindest de iure seinen Anspruch auf die Alleinherrschaft im Reich aufrecht. Er bediente sich dabei einer kleinen Gruppe von Notaren, die für ihn Urkunden mundierten und verfassten, wobei einer von ihnen sowohl vor dem Juni 1208 als auch nach dem Dezember 1212 für ihn tätig war. Während der Zeit bis zum Tod Philipps kann die Urkundenausstellung als Indikator für die Handlungsfähigkeit der beiden Kontrahenten zwischen 1198 und 1208 herangezogen werden. Sie zeigt, dass trotz der Unterstützung durch den Papst der Handlungsradius Ottos im Reich während der gesamten Zeit des Doppelkönigtums sehr beschränkt war. Aus den ersten sechs Regierungsjahren vom Frühjahr 1198 bis zum Frühjahr 1204 dies in der älteren Forschung vertreten wurde, trifft nach heutigem Stand nicht zu, vgl. Jürgen Petersohn, »Echte« und »falsche« Insignien im deutschen Krönungsbrauch des Mittelalters ? Kritik eines Forschungsstereotyps (Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 30/3, Stuttgart 1993) 74–82. Vgl. dazu auch Bernd Schütte, Das Königtum Philipps von Schwaben im Spiegel zeitgenössischer Quellen, in : Philipp von Schwaben. Beiträge der internationalen Tagung anlässlich seines 800. Todestages, Wien 29. bis 30. Mai 2008, hg. v. Andrea Rzihacek, Renate Spreitzer (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 19 = Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Denkschriften 399, Wien 2010) 113–128, hier 124–127, und Martin Wihoda, Ein schwieriges Bündnis. Philipp von Schwaben, die Przemysliden und die Veränderungen im Osten des Reiches, ebd. 227–244, hier 228–232. 12 Siehe dazu eine Reihe von Schreiben des Papstes aus den Jahren 1201 und 1202 mit entsprechenden Aufforderungen, vgl. RNI Nr. 34–36, 38, 42–45, 47, 58, 68, 98–101 und 113. Anfang Oktober 1202 lud er sogar mehrere Bischöfe und Erzbischöfe wegen ihrer Haltung im Thronstreit nach Rom (RNI Nr. 70–72 und 75). Noch in den Jahren 1205 und 1206 forderte Innocenz mehrere Fürsten nachdrücklich auf, Otto die Treue zu halten bzw. zu diesem zurückzukehren (RNI Nr. 119–122, 126 und 135). 13 Zum Urkundenwesen und zu den Notaren Philipps vgl. Paul Zinsmaier, Die Urkunden Philipps von Schwaben und Ottos IV. (1198–1212) (Veröffentlichungen der Kommission für Landesgeschichte in Baden-Württemberg, Reihe B – Forschungen 53, Stuttgart 1969) 4–58, und die Einleitung zu den Urkunden Philipps von Schwaben : DDPh XI–CVII.
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haben sich etwas mehr als 60 Urkunden Philipps von Schwaben erhalten14, während man von Otto aus demselben Zeitraum kaum 30 Dokumente kennt, unter denen nur nicht ganz 20 Herrscherurkunden sind15. Mehrere Urkundenempfänger sind den welfischen Kerngebieten zuzurechnen. Neben Ottos Brüdern Heinrich und Wilhelm16 und der Stadt Braunschweig17 handelt es sich dabei um die Klöster Riddagshausen, Hamersleben, Mariental und Homburg18. Abgesehen von insgesamt neun Schreiben an den Papst, darunter auch jenes, mit welchen er dessen Besitzungen, besonders die vom Heiligen Stuhl rekuperierten, zu schützen versprach und Gehorsam gelobte19, und drei Diplomen für seinen Koronator, den Erzbischof von Köln20, urkundete Otto in diesem Zeitraum sonst nur noch für den gewählten Bischof von Cambrai und den Grafen Heinrich von Sayn21. Lediglich in den Sommermonaten des Jahres 1198, also unmittelbar nach seiner Wahl, hatte Otto noch mehrfach für andere im Westen des Reiches ansässige Empfänger geurkundet, wie die Reichsabteien Werden, Corvey und Herford, die beiden westflandrischen Zisterzienserklöster Ten Duinen und Ter Doest, sowie das Marienstift in Aachen22. Mit den zunehmenden militärischen Erfolgen Philipps, die den Übertritt des Landgrafen Hermanns von Thüringen23 und bedeutender Potentaten wie des Erzbischofs von Köln sowie einer Reihe niederrheinischer Fürsten24, ebenso wie schließlich die neuerliche Königskrönung am Dreikönigstag des Jahres 1205 – nun in Aachen und durch den Kölner Erzbischof – zur Folge hatte25, verändert sich das Bild immer mehr zugunsten Philipps. Aus seinen letzten vier Regierungsjahren sind von ihm ca. 110 Urkunden überliefert26, während von Otto aus der Zeit nach dem Frühjahr des Jahres 1204 und bis 14 DDPh, Nr. 16–78. 15 Die Regesta imperii verzeichnen exakt 29 Schriftstücke (BFW 200–BFW 231), davon handelt es sich bei neun Stücken um Schreiben an den Papst (BFW 14625, BFW 202, BFW 212, BFW 213, BFW 217, BFW 218, BFW 220, BFW 228, BFW 230) und bei einem um ein Schreiben an König Johann von England (BFW 231). 16 BFW 222 und BFW 223, mit beiden bestätigte Otto die Heinrich und Wilhelm nach dem zwischen den Brüdern geschlossenen Teilungsvertrag zugefallenen Anteile. 17 BFW 211. 18 BFW 210, BFW 229 und BFW 232 (Riddagshausen), BFW 214 (Hamersleben), BFW 215 (Mariental) und BFW 224 (Homburg). 19 BFW 217, mit diesem Schreiben wiederholte er ein bereits im Juni 1198 an den Papst gesandtes Schreiben (BFW 14625), 20 BFW 200, BFW 216 und BFW 227. 21 BFW 219 (Cambrai) BZ 34 (Sayn). 22 BFW 200 (Köln), BFW 201 (Werden), BFW 209 (Corvey), BFW 221 (Herford), BFW 208 (Ten Duinen), BZ 33 (Ter Doest), BFW 207 (Aachen, Marienstift). 23 BFW 85b. 24 BFW 86b. 25 BFW 89a. 26 DDPh, Nr. 79–191
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zum Juni 1208 lediglich sechs Urkunden überliefert sind. Ein Blick auf die geographische Verteilung der Urkundenempfänger zeigt, dass diese ausschließlich dem welfischen Herrschaftsbereich im Nordosten des Reiches zuzuordnen sind27. Die Kontakte zur Kurie lagen auf Eis, Otto richtete in dieser Zeit keine Schreiben mehr an den Papst. Während der zweiten Periode, zwischen Anfang Dezember 1212 und dem Tod O ttos am 19. Mai 1218 bietet sich ein ähnliches Bild. Otto stellte während dieser Jahre noch knapp 30 Urkunden aus. Entfiel bis Mitte des Jahres 1213 unter den 14 bis dahin ausgestellten Urkunden noch der überwiegende Teil auf Empfänger, die sich auf das gesamte Reich verteilten28, urkundete Otto seit dem Beginn des Jahres 1214 tatsächlich nur noch für Empfänger im Kernbereich der welfischen Herrschaft, wie die bischöfliche Kirche von Hildesheim und deren Angehörige29, die Klöster Scheverlingenburg, Riddagshausen, Walkenried, Volkmarode, Gandersheim und Osterode30, sowie die Herren von Harbke31 und Kirchen in Braunschweig32. Bei der letzten von ihm ausgestellten Urkunde handelt es sich um sein Testament, übrigens das älteste im Original erhaltene Testament eines römisch-deutschen Herrschers33. Auch während der gesamten zweiten Periode unterhielt der bereits seit dem 18. November 1210 exkommunizierte Otto keine Beziehungen mehr zum Papst34. Als nächstes stellt sich nun die Frage nach der »Kanzlei« Ottos, also nach dem Kreis von Notaren, die für ihn tätig waren und Urkunden ausfertigten. Wie bereits gezeigt wurde, traten von Beginn der Wahl Philipps an – auch wenn seine Urkundenproduktion aus bisher ungeklärten Gründen erst mit einiger Verzögerung, nämlich erst Ende Juni 119835, einsetzte – die Inhaber der höchsten Kanzleifunktionen unter Heinrich VI. auch in der Kanzlei Philipps auf, wurden von diesem also offenbar mehr oder weniger bruchlos übernommen. Dies trifft übrigens in ähnlicher Weise auf Kanzleinotare zu, die nach der Königswahl Friedrichs II. am 5. Dezember 1212 nicht mehr für Otto, sondern
27 BFW 233–BFW 239. Die Diplome wurden für die Stadt und die Kirche von Braunschweig, die Klöster Marienborn, Katlenburg und Marienwerder, sowie für Erzbischof Albert von Magdeburg ausgestellt. 28 Mainz (BFW 482), Markgraf Albrecht von Brandenburg (BFW 486), Kloster Bildhausen (BFW 487 und BFW 488), die Rektoren von Mailand (BFW 489), Alberto von Mandello und Galino von Alliate (BFW 490), die Bürger von Köln (BFW 491), die Kapelle Landskron (BFW 492), Graf Wilhelm von Holland (BFW 493), die Stadt Duisburg (BFW 494), Kloster Cappenberg (BFW 495) und den Schwert orden (BFW 496). 29 BFW 483, BFW 484, BFW 508, BFW 509. 30 BFW 497, BFW 499, BFW 502, BFW 500, BFW 503, BFW 505 und BFW 506. 31 BFW 507. 32 BFW 505 und BFW 510. 33 BFW 511. 34 BFW 443e. 35 DPh, Nr. 16.
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für Friedrich arbeiteten36. Zu beiden Zeitpunkten, nach dem Tod Philipps und nach der Königswahl Friedrichs, ging der Wechsel offenbar glatt und einmütig vonstatten. Weder vor dem Tod Philipps noch nach der Wahl Friedrichs war jemals auch nur einer der Notare der Herrscherkanzlei für Otto tätig. Es muss demnach allen Beteiligten klar gewesen zu sein, welcher der jeweils zwei Kontrahenten de facto der Herrscher war, dem die alleinige Verfügungsgewalt über das »Kanzleipersonal« zukam. Genauso wie es offenbar auch selbstverständlich war, während der Zeit der Alleinherrschaft Ottos nun für diesen zu arbeiten. Mit den Notaren der beiden Perioden des Doppelkönigtums Ottos IV. befasste sich bisher nur Anton Julius Walter in seiner 1938 erschienenen Arbeit »Die deutsche Reichskanzlei während des Endkampfes zwischen Staufern und Welfen«37. Paul Zinsmaier, der 30 Jahre später seine eingehende Studie der Urkunden Philipps von Schwaben und Ottos IV. vorlegte38, beschränkte sich auf die Alleinherrschaft Ottos zwischen 1208 und 1212 und äußerte sich nicht zu den Notaren, die außerhalb dieses Zeitraumes für Otto arbeiteten. Ausgangspunkt für die folgenden Untersuchungen sind daher die Ergebnisse Walters, denen – wenngleich nicht immer ganz stichhaltig und in Einzelfällen zu korrigieren – im Großen und Ganzen gefolgt werden kann. Für die Zeit zwischen den Sommern der Jahre 1198 und 1208 stellte Walter drei Notare fest, die wiederholt an der Herstellung von Urkunden Ottos beteiligt waren. Er bezeichnete diese drei Notare mit den Siglen Otto B, Otto C und Otto D39. Letzterer – und nur er – arbeitete auch über den gesamten Zeitraum zwischen Anfang Dezember 1212 bis zum Tod Ottos im Mai 1218 noch für den Kaiser. Dazu treten in diesen letzten Jahren Ottos zwei weitere Notare, Otto F und Otto G, die beide ebenfalls beinahe über diese gesamte zweite Periode des Doppelkönigtums nachweisbar sind40. 36 Es sind dies die als Anonymus E (bei Otto OC), Anonymus I (OA) und Anonymus J (OB) bezeichnete Notare, vgl. dazu die Einleitung Walter Kochs zum 2. und 3. Band der Urkunden Friedrichs II. (wie *Anm. am Schluss des Beitrages) XXf. 37 Walter, Reichskanzlei (wie Anm. 7). Ein für Otto ausschließlich in dessen Funktion als Herzog von Poitou tätiger Notar, Otto A, bei dem es sich laut Walter um einen Engländer gehandelt haben dürfte, kann hier außer Betracht bleiben, zu ihm ebd. 176f. 38 Zinsmaier, Urkunden (wie Anm. 13). 39 Beim von Walter, Reichskanzlei (wie Anm. 7) 177 als Notar Otto B bezeichneten Schreiber, von dessen Hand zwar BFW 200 für den Erzbischof von Köln, nicht jedoch Elongata und Monogramm der Urkunde BFW 209 für Corvey, wie Walter vorsichtig vermutete, stammten, dürfte es sich in Wirklichkeit um einen Notar aus dem Umkreis des Erzbischofs von Köln handeln, da ihm auch die Schrift von BFW 216, einer weiteren Urkunde für den Kölner Erzbischof, zuzuschreiben ist. – Otto D bildet insofern einen Sonderfall, als Walter die Hand dieses Notars in keinem der überlieferten Originale nachweisen kann. Die Zuschreibungen an ihn beziehen sich ausschließlich auf das Diktat der Urkunden ; vgl. ebd. 177–183. 40 Vom Notar Otto G, der in der Spätzeit Ottos für diesen tätig war, wurden über BFW 504, BFW 505 und BFW 507 hinaus, die zwischen Oktober 1216 und Juni 1217 ausgestellt wurden, zwischen Oktober 1212
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Doch wie gut waren diese neuen Kräfte den Anforderungen ihrer Aufgabe gewachsen ? Wie aus allen einschlägigen Arbeiten zu den Kanzleien römisch-deutscher Herrscher eindeutig hervorgeht, war die Ausbildung zum »Kanzleinotar« in hohem Maß ein »on-the-job-training«. Den Notaren des Betrachtungszeitraumes standen – zumindest soweit wir wissen – weder Handbücher noch »offizielle« Konzept-, Formel- oder Registerbücher zur Verfügung, mit deren Hilfe sie sich mit den äußeren Merkmalen, dem Formular und dem sprachlichen Formelgut vertraut machen konnten41. Empfängerübergreifende Sammlungen von Urkundenabschriften, die ihnen ein Bild vermitteln hätten können, existierten nicht. Dass zwischen den Notaren der »Kanzleien« der beiden Herrscher Beziehungen bestanden, die einen Informationsaustausch in Fragen des Urkundenwesens ermöglichten, ist – nicht nur wegen der räumlichen Trennung der Höfe – wohl auszuschließen. Um die oben gestellte Frage beantworten zu können, soll ein Blick auf das äußere Erscheinungsbild der in den beiden Untersuchungszeiträumen ausgestellten Urkunden Ottos IV. weiterhelfen. Es muss dabei vorausgeschickt – und betont – werden, dass die hochmittelalterlichen Herrscherurkunden weder ein einheitliches Bild bieten noch eine strenge Systematisierung zulassen. Abgesehen von den gemeinhin unterschiedenen Urkundentypen des feierlichen Privilegs, der gehobenen Ausfertigung und des einfachen Diploms, die sich nicht immer scharf voneinander abgrenzen lassen42, existiert, besonders bei den nicht von Kanzleinotaren hergestellten Urkunden, eine große Bandbreite an Formen, die nichtsdestoweniger durch die ordnungsgemäße Besiegelung vom und Februar 1213 bereits BFW 490, BFW 493 und BFW 494 geschrieben. Für eine Analyse der Zuschreibungen, besonders jener, die das Diktat betreffen, muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch auf die erst im Entstehen begriffene, der Edition der Urkunden Ottos IV. voranzustellende kanzleigeschichtliche Einleitung verwiesen werden, da sich endgültige Aussagen erst nach Bearbeitung und genauer Untersuchung des gesamten Urkundenmaterials treffen lassen. Die hier getroffenen Aussagen stützen sich daher notwendiger Weise auf die anhand der Originale und des Formulars der nur abschriftlich überlieferten Urkunden erkennbaren äußeren Merkmale, vorzugsweise jener, die traditionell in den hochmittelalterlichen Herrscherurkunden relativ strikt eingehalten wurden und deren homogenes Erscheinungsbild prägen. 41 In der Kanzlei Barbarossas verwendeten vor allem die Notare Arnold H, Rainald C und Rainald D zur Abfassung von Urkunden den Codex Udalrici, vgl. Die Einleitung zur Edition der Urkunden Friedrichs I. (wie Anm. 9) 118–121. Aber auch schon früher standen Formelsammlungen in Gebrauch, wie etwa in der Kanzlei Ludwigs des Frommen die unsystematisch gesammelten und nur von Angehörigen seiner Kanzlei verwendeten Formulae Imperiales. Zu deren Entstehung und Gebrauch vgl. Sarah Patt, Studien zu den »Formulae imperiales«. Urkundenkonzeption und Formulargebrauch in der Kanzlei Ludwigs des Frommen (814–840) (Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte 59, Wiesbaden 2016), hier 21–43 auch zu anderen frühmittelalterlichen Formelsammlungen. Dass einzelne Notare für den eigenen Gebrauch individuelle Formelsammlungen anlegten und vielleicht auch an neueintretende Kollegen weitergaben, ist auch für die spätstaufische Zeit zu vermuten. 42 Vgl. DDPh XXVI–XXIX zur Charakterisierung des Urkundenbestands.
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Herrscher und seiner Kanzlei beglaubigt und dem Empfänger als vollgültiger Rechtsbeweis ausgehändigt wurden. In den meisten Fällen ist die Varianz dem individuellen Ausdruck einzelner Notare geschuldet, in vielen Fällen aber auch älteren Vorbildern43 oder den Funktionen, die ein Dokument zu erfüllen hatte44. Vor diesem Hintergrund stechen anhand der erhaltenen Originale daher nur einige wenige Kriterien hervor, die das Urkundenwesen Ottos in den beiden Perioden des Doppelkönigtums zu charakterisieren vermögen. Hier wird sich zudem zeigen, dass die Charakteristika, die während der ersten der beiden zu untersuchenden Perioden auftreten, nicht auch auf die zweite zutreffen und vice versa. Aus der Zeit nach der Doppelwahl Ottos und Philipps von Schwaben, zwischen dem 12. Juli 1198 und dem 21. Juni 1208, sind 15 Urkunden Ottos im Original erhalten. Drei von ihnen sind als feierliche Privilegien zu bezeichnen45, sechs als einfache Diplome46, bei weiteren sechs handelt es sich um gehobene Ausfertigungen47. Aus der Zeit des Doppelkönigtums mit Friedrich II. vom 5. Dezember 1212 bis zum 19. Mai 1218 kennt man 17 Originale. Unter ihnen sind sieben feierliche Privilegien48 und acht gehobene Ausfertigungen49, nur zwei sind einfache Diplome50. Während zwei von den drei feierlichen Privilegien der Frühzeit (BFW 201 und BFW 209) – zumindest auf den ersten Blick ganz »klassisch« nach dem Chrismon als monogrammatischer Invocatio verlängerte Schrift (Elongata) für die gesamte erste Zeile sowie für die Signumzeile aufweisen, erstreckt sich die Elongata in BFW 200 nur auf die verbale Invocatio (In nomine sancte et individue trinitatis). Für die Signumzeile wurde nicht, wie eigentlich üblich, eine neue Zeile begonnen, sondern die dafür verwendete Elongata beginnt am Schluss der vorletzten Zeile unmittelbar nach dem Ende der Zeugenliste. In der gleichen Höhe wie die Signumzeile folgt das Monogramm, ist also ver43 Als Beispiel seien hier etwa Vorurkunden oder Vorlagen genannt, die als Muster herangezogen wurden und die aus früheren Epochen stammten, bei denen es sich aber auch um Papst- oder Privaturkunden handeln konnte. 44 Etwa wenn mit der Übertragung und Bestätigung von Besitzungen oder Rechten auch ein Befehl verbunden war und so die Urkunde inhaltlich zugleich Privileg und Mandat war, oder wenn mit einem Privileg auch vertragliche Vereinbarungen beurkundet wurden, deren Formulierungen sich in der Dispositio niederschlugen. 45 BFW 200, BFW 201, BFW 209. 46 BFW 207, BFW 208, BFW 229, BFW 232, BFW 14625, BZ 33. 47 BFW 211 (in zwei Ausfertigungen), BFW 216, BFW 233, BFW 234, BFW 236. Zur Definition der Bezeichnung »gehobene Ausfertigung« siehe DDPh XXVIIf. 48 BFW 490, BFW 491, BFW 493, BFW 497, BFW 498, BFW 500 und BFW 505. 49 BFW 494, BFW 499, BFW 502, BFW 504, BFW 506, BFW 507, BFW 510 und BFW 511 (das Testament Ottos). 50 BFW 486 (es handelt sich hier um einen von Markgraf Albrecht von Brandenburg beurkundeten Vertrag zwischen diesem und Otto IV.) und BFW 509.
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hältnismäßig sehr klein, da sich dieses sonst meist über mehrere Zeilen erstreckt. Die Form des Monogramms dieser drei feierlichen Privilegien ist auffällig. Während das von Philipp – und von Otto selbst dann in der Zeit seiner Alleinherrschaft – verwendete Monogramm im Wesentlichen identisch mit jenem Heinrichs VI. ist51, das seinerseits wieder auf der Gestaltung des Monogramms unter Friedrich I. basiert52, unterscheidet sich das Monogramm der drei bis 1208 ausgestellten feierlichen Privilegien Ottos davon deutlich (Abb. 1). Anstatt der gewohnten in die Breite gezogenen N-Form mit zusätzlichem vertikalen Schaft durch die Mitte der Diagonale wird das Grundgerüst hier von zwei vertikalen Schäften gebildet, die durch zwei an den Endpunkten ansetzende, X-förmig gekreuzte Diagonallinien verbunden sind. Um den Kreuzungspunkt herum ist der Buchstabe O gezeichnet. Der linke Längsschaft wird oben durch einen Deckbalken (für T) begrenzt und weist in der Mitte und unten zwei nach rechts führende horizontale Balken (für E) auf, links unten ist der Buchstabe A mit geschwungenem linken Schaft angebracht. Der rechte Längsschaft bildet den Buchstaben P mit dessen Bogen am oberen Ende und einem kleinen Querstrich darunter für die per-Kürzung, unten ist der Buchstabe R angefügt. Ganz neu sind die im oberen, rechten und unteren Feld zwischen den Längs- und Schrägschäften gewissermaßen »frei schwebenden«, also nicht an den Gerüstlinien »befestigten« Buchstaben G, Q und S. Weder zuvor noch danach erscheinen im Hochmittelalter derartige, vom Gerüst losgelöste Buchstaben in Herrschermonogrammen römisch-deutscher Könige oder Kaiser53. Jedenfalls ist es dem Schöpfer des Monogramms mit dieser neuen Gestaltungsform gelungen, alle den Herrschernamen Ottos bildenden Buchstaben einzubeziehen (Otto quartus Romanorum rex), wobei die Diagonalschäfte gleichzeitig X und V sowie Teile des M bilden und damit auch noch den Zusatz et semper augustus abdecken. Das Monogramm erscheint erstmals in BFW 200, einer vermutlich von einem Kölner Notar als Empfänger- oder Gelegenheitsschreiber hergestellten Urkunde. Dass es tatsächlich auch von diesem kreiert wurde, ist höchst unwahrscheinlich. Bei näherer Betrachtung zeigt sich dann auch, dass das Monogramm von einer anderen Hand mit dunklerer Tinte nachgetragen worden sein dürfte und zwar nach dem Ende der Signumzeile und nicht, wie vom Schreiber der Elongata offenbar intendiert, in dem dafür freigelassenen, aber anscheinend nicht genügend breiten Zwischenraum zwischen den Wörtern quarti und romanorum. Die Hand, die das Monogramm nachtrug, lässt sich nicht mit Bestimmtheit identifizieren, ein Vergleich mit 51 Vgl. dazu DDPh LXXIII, zu den spezifischen Variationen dieser Form bei einzelnen Kanzleinotaren ebd. XLII und LVf. 52 Vgl. dazu die kanzleigeschichtliche Einleitung zu den Urkunden Friedrichs I. (wie Anm. 9) 86f. 53 Vgl. dazu etwa die Zusammenstellung der Herrschermonogramme von Heinrich II. bis Friedrich I. in : Peter Rück, Bildberichte vom König. Kanzleizeichen, königliche Monogramme und das Signet der salischen Dynastie (Elementa diplomatica 4, Marburg an der Lahn 1994) 120–173.
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dem vom Notar Otto C gezeichneten Monogramm in BFW 201 lässt es aber durchaus als möglich erscheinen, dass beide Monogramme von seiner Hand stammen und somit er als Urheber der neuen Monogrammform gelten darf. Das Motiv für die Neuschöpfung dürfte zum einen im Bedürfnis zu sehen sein, die den Herrschernamen Ottos bildenden Buchstaben auch tatsächlich im Monogramm abzubilden. Andererseits war man vielleicht auch der Meinung, dass die Monogramme der beiden rivalisierenden Könige nicht gut identisch sein könnten, sondern sich voneinander zu unterscheiden hätten – ein Anspruch, der allerdings in der zweiten Periode, während welcher Otto seine Herrschaft mit einem zweiten König zu teilen hatte, offenbar nicht mehr bestand, da Otto während dieser Zeit das – nun in der Tradition Friedrichs I., Heinrichs VI. und König Philipps stehende – Monogramm, das er in der Zeit seiner Alleinherrschaft übernommen hatte, weiter verwendete54 (Abb. 2). Eine Ausnahme bildet in dieser Zeit lediglich das von einem Walkenrieder Empfängerschreiber mundierte BFW 500, der hier seine auch in BFW 33855, BFW 339 und später in DF.II. 330 begegnende sowohl in Buchstabenbestand als auch -anordnung höchst eigenwillige Form des Herrschermonogramms verwendete, die zwar vom Notar Otto G auch für BFW 505 übernommen wurde, bei der es sich aber um eine rein individuelle Variante zu handeln scheint. Eine weitere mehrfach zu beobachtende und daher signifikante Abweichung von den zeitgenössischen Herrscherurkunden betrifft die Verwendung einer der Papsturkunde entlehnten Verewigungsformel während dieser früheren Periode. Während an ihrer Stelle in Herrscherurkunden häufig eine Salutatio stand, die für deutsche Empfänger in der Regel salutem et omne bonum lautete, wird in der frühen Königszeit Ottos immer wieder die Formel in perpetuum bzw. imperpetuum verwendet. Ebenfalls den Usancen der Herrscherurkunde zuwiderlaufend erstreckt sich dabei die Elongata der ersten Zeile, die sonst auf die verbale Invocatio und die Intitulatio beschränkt ist, mitunter auch auf diese Verewigungsformel56. Auch im Falle der Wendung in perpetuum zeigt sich, dass 54 Vgl. BFW 490, BFW 491, BFW 493, BFW 497 und BFW 498, in den letzten beiden allerdings mit leicht variierender Anordnung der Buchstaben an den Schäften (auch die Nachzeichnung des Monogramms in der Überlieferung C des BFW 487 entspricht dem Normaltypus dieser Form). 55 Das Monogramm des BFW 338 ist in roter Tinte ausgeführt. 56 Das betrifft zwei feierliche Privilegien, BFW 201 : universis regni fidelibus in perpetuum (in Elongata) und BFW 209 : regni fidelibus in perpetuum (in Elongata), und zwei gehobene Ausfertigungen : BFW 211 (in zwei Ausfertigungen) : universis regni fidelibus in perpetuum (in Kontextschrift) und BFW 216 : omnibus Christi fidelibus imperpetuum (in Kontextschrift). Diese Verewigungsformel findet sich auch in den nur kopial überlieferten gehobenen Ausfertigungen oder einfachen Diplomen BFW 214, BFW 223 und BZ 34. – Dagegen erscheint in den im Original überlieferten einfachen Diplomen BFW 207, BFW 232 und BZ 33, und in zwei nur mehr abschriftlich erhaltenen Stücken (gehobene Ausfertigungen oder einfache Diplome), BFW 215 und BFW 221, die für deutsche Empfänger gewohnte Grußformel gratiam suam et omne bonum. Einmal, in BFW 208, begegnet eine verkürzte Form : omnibus … salutem, in einem weiteren
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ihr Auftreten auf die frühe Periode des Doppelkönigtums beschränkt bleibt. Nur ein einziges Mal, in einer Urkunde für die Stadt Köln (BFW 491), erscheint sie in der Phase nach der Alleinherrschaft Ottos, ansonsten werden in dieser Zeit fast ausschließlich die für deutsche und italienische Empfänger üblichen Grußformeln verwendet57. Sehr auffällig ist auch der Befund, wenn der Verwendung der während der Regierungsjahre Heinrichs VI. und König Philipps außer Gebrauch gekommenen A pprecatio nachgegangen wird. Nicht weniger als sechs von 26 Urkunden Ottos58 aus der Zeit des Doppelkönigtums mit Philipp von Schwaben, also beinahe ein Viertel – übrigens durchwegs gehobene Ausfertigungen bzw. feierliche Privilegien – enthalten die Apprecatio feliciter59 am Schluss der Urkunde. Im Gegensatz dazu begegnet die Formel in den zwischen 1212 und 1218 ausgestellten Urkunden kein einziges Mal. Die Gestaltung des Eschatokolls, also der Schlussformeln einer Urkunde, unterliegt während beider Doppelherrschaften Ottos keinen festen Regeln60. Die Signumzeile steht in fast allen feierlichen Privilegien der beiden Perioden zwischen den beiden T eilen der Datierung61, wobei die Datum-per-manus-Formel in mehreren Fällen den ersten Teil bildet, der keine chronologischen Angaben enthält62. Lediglich in BFW 497 und BFW 498 verwendet der Schreiber Otto F die althergebrachte Teilung in Actum mit Inkarnationsjahr und den Regierungsjahren sowie Datum mit Ausstellungsort und Tagesdatierung, in BFW 498 folgt ganz am Schluss noch die Indiktionsangabe. Eine Datum-permanus-Formel fehlt beiden Stücken. Einen Sonderfall stellt die von einem Walkenrieder Empfängerschreiber mundierte Urkunde BFW 500 dar. Hier folgt der in Elongata geSonderfall (BFW 229) folgt nach der Intitulatio wohl eine Adresse (universis Christi fidelibus), aber keine Grußformel. 57 Allerdings erscheint in den letzten, kurz vor seinem Tod ausgestellten, Urkunden Ottos zweimal (in laut Walter vom Notar Otto D verfassten Urkunden, BFW 509 und BFW 510) die ungewöhnliche Formel omnibus … in presenti gratiam, (et) in futuro gloriam. Derselbe Notar formulierte im Testament Ottos (BFW 511) eine Grußformel, welche die göttliche Heilserwartung ins Zentrum stellt : omnibus … salu tem in eo, qui est salus omnium. 58 Es sind dies BFW 209, BFW 233, BFW 234, BFW 236, BFW 238 und BZ 34. Die sämtlich undatierten Schreiben an den Papst und an den König von England bleiben hier außer Betracht, da die Apprecatio gewöhnlich im Verband mit der Datierung erscheint, deren Schluss sie bildet. 59 Unter Heinrich VI. und Philipp von Schwaben war die Formel bereits völlig außer Gebrauch gekommen, vgl. dazu DDPh XCIV. Zur Apprecatio in den Urkunden Friedrichs I. siehe die kanzleigeschichtliche Einleitung Heinrich Appelts zu den Diplomen Friedrichs (wie Anm. 9) 107. Dort lautete sie in der Regel In Christi nomine feliciter amen oder feliciter amen. 60 Auch unter König Philipp zeigt die Gestaltung des Eschatokolls mitunter große Variabilität, vgl. dazu allgemein DDPh LXXXVI–XCIV, insbesondere zu den vom Notar PhA mundierten Stücken ebd. XLIf. 61 BFW 201, BFW 209, BFW 490, BFW 491, BFW 493, BFW 497, BFW 498 und BFW 505. 62 So in BFW 490, BFW 491 und BFW 493. In BFW 201 und BFW 209 folgt die bloße Datum-per-manusFormel allerdings der Signumzeile, während dieser der Actum-Teil mit allen chronologischen Elementen vorausgeht.
Zwei Herrscher – zwei Kanzleien?
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schriebenen Signumzeile nur der mit Acta eingeleitete Teil mit dem Inkarnationsjahr und den königlichen und kaiserlichen Herrscherjahren, wobei bei letzteren die Eintragung der Zahlen zunächst unterblieb und erst von einer späteren Hand ergänzt wurde ; möglicherweise war geplant, dass die fehlenden Teile der zweiteiligen Datierung – vielleicht anlässlich der Befestigung des Siegels – noch nachgetragen werden sollten. Nicht in allen Fällen ist die Signumzeile in Elongata geschrieben63. Das in seinem Formular vom Notar Otto F ganz »korrekt« traditionell gestaltete feierliche Privileg BFW 497 weist allerdings weitere Besonderheiten auf : es ist durchgehend in diplomatischer Minuskel geschrieben und verzichtet völlig auf die Verwendung von Elongata. Zudem zeigt das Pergamentblatt, für feierliche Privilegien ungewöhnlich im Querformat, deutlich mit breiter Feder in Tinte gezogene Zeilenlinien. Eine der auffälligsten und am häufigsten zu beobachtenden Abweichungen vom herkömmlichen Formular der Herrscherurkunde in der Zeit des Doppelkönigtums mit Friedrich II. betrifft die Devotionsformel dei gratia, die in der Spätzeit Ottos, etwa seit dem Juni 1212, beinahe ausnahmslos vor dem Herrschernamen Otto (quartus) steht. Nur in einem einzigen Diplom dieser Zeit (BFW 509) findet sich die gewohnte Wortstellung Otto dei gratia64. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass einer der damals für Otto tätigen Notare, Otto G, diese Formel offenbar missverstand oder aber bewusst umdeutete, indem es bei ihm regelmäßig In nomine sancte et individue trinitatis eiusque gratia Otto … heißt. Nur in zwei von ihm geschriebenen Urkunden, BFW 494 und BFW 507, verwendete er die Formel dei gratia, in beiden fehlt eine verbale Invocatio, was darauf schließen lässt, dass Otto G die Gnade, aus welcher heraus Otto regierte, explizit auf die heilige und ungeteilte Dreifaltigkeit bezog65, während in Urkunden ohne Invocatio dieser Bezug fehlte und allgemein durch die Nennung Gottes ersetzt wurde. Insgesamt zeigt sich, dass die Notare, die für Otto während der beiden Betrachtungszeiträume arbeiteten, in welchen er seinen Anspruch auf den römisch-deutschen Königsthron mit mächtigen staufischen Kontrahenten teilen musste, Urkunden herstellten, die meist gleich in mehrfacher Hinsicht von den »Kanzleigewohnheiten« abwichen. Diese Notare hatten ihre Ausbildung ganz offensichtlich nicht von Personen in Umfeldern erfahren, in welchen man mit Herrscherurkunden bestens vertraut war. Auch 63 Die diplomatische Minuskel des Kontexts wurde für die Signumzeilen der Diplome BFW 490, BFW 491, BFW 493, BFW 498 und BFW 505 verwendet. Mit Ausnahme von BFW 491 wurden diese Urkunden von den Notaren Otto F und Otto G mundiert. 64 Laut Walter, Reichskanzlei (wie Anm. 7) 183f., stammt die Schrift dieses noch im Original erhaltenen Stückes vom Notar Otto F. 65 Dies lässt sich auch durch das nur kopial überlieferte Diplom BFW 487 für das Kloster Bildhausen bestätigen, in dem es – bei Vorhandensein einer verbalen Invocatio – ebenfalls eiusque gratia heißt, was sich durchaus als Hinweis darauf deuten lässt, dass das verlorene Original dieser Urkunde wohl von Otto G geschrieben wurde.
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wenn Walter nicht zugestimmt werden kann, wenn er von »primitiven Verhältnissen in der königlichen Kanzlei Ottos vor 1208« spricht66, so ist doch offensichtlich, dass Otto in diesen beiden Phasen seiner Regierung, wie es scheint, nur auf Kräfte Zugriff hatte, die mitunter große Unsicherheiten betreffend das äußere Erscheinungsbild und das Formular von Herrscherurkunden erkennen lassen. Dennoch waren die von ihnen hergestellten und von Otto ausgehändigten Urkunden – zumindest in der Sichtweise ihrer Empfänger – vollgültige und verbindliche Rechtstitel, die sorgsam aufbewahrt und zur Sicherung des Rechtsinhaltes, wie andere Herrscherurkunden auch, abgeschrieben und weiter überliefert wurden. 66 Vgl. Walter, Reichskanzlei (wie Anm. 7) 187. * Im Bewusstsein der Problematik des traditionellen Kanzleibegriffs wird hier der Ausdruck »Kanzlei« in Ermangelung einer zutreffenderen Bezeichnung verwendet. Er darf jedoch keinesfalls als bürokratische Behörde im modernen Sinn verstanden werden. Was hier zusammenfassend als »Kanzlei« bezeichnet wird, umfasst im Prinzip mehrere Funktionen, die dem Hof eines Herrschers angehörende Personen im Zusammenhang mit der Urkundenausstellung nominell und praktisch ausübten. Da es sich sowohl bei den Erzkanzlern als auch beim Kanzler um hochrangige Geistliche handelte, die zur Zeit der Stauferkönige und -kaiser offenbar vor allem diplomatische Aufgaben erfüllten und mit der Urkundenausstellung konkret nichts mehr zu tun hatten, dürfte es der Protonotar gewesen sein, der eine gewisse Oberaufsicht über die Urkundenproduktion wahrnahm und die Urkunden den Empfängern aushändigte ; siehe dazu die Einleitung Walter Kochs zum 2. und 3. Band der Urkunden Friedrichs II.: Die Urkunden Friedrichs II., hg. v. Walter Koch unter Mitwirkung von Klaus Höflinger, Joachim Spiegel, Christian Friedl (Monumenta Germaniae Historica. Die Urkunden der deutschen Kaiser und Könige XIV/3, Hannover 2010) XXI. Die eigentliche Herstellung der Urkunden lag in den Händen von Notaren, die zumindest über einen bestimmten Zeitraum hinweg wiederholt für den Herrscher Diplome schrieben und/oder verfassten und dabei die Usancen der Herrscherurkunden übernahmen und wieder weiter tradierten. Die späte Stauferzeit ist gekennzeichnet durch eine zunehmende Vereinheitlichung der formelhaften Teile und eine damit einhergehende Zurückdrängung individueller sprachlicher Eigenheiten, andererseits gleichzeitig aber infolge der besonders im 13. Jahrhundert zunehmenden Schriftlichkeit durch eine breitere Varianz der hergebrachten Urkundentypen und stärkere Interferenzen zwischen diesen. Die Anwendbarkeit des Kriteriums der »Kanzleimäßigkeit« erstreckt sich demnach über ein breites Spektrum von verschiedenartigen »Kanzleiausfertigungen« (Urkunden, an deren Produktion »Kanzleinotare« beteiligt waren) und Ausfertigungen, die von Empfänger- oder Gelegenheitsschreibern hergestellt wurden und mitunter krass vom früheren, stärker formalisierten Bild der Herrscherurkunde abweichen konnten, und trotzdem ohne weiteres besiegelt und ausgehändigt wurden. Zur Kritik des traditionellen Kanzleibegriffs und dem Modell einer hierarchisch strukturierten »Kanzlei« vgl. besonders Wolfgang Huschner, Transalpine Kommunikation im Mittelalter. Diplomatische, kulturelle und politische Wechselwirkungen zwischen Italien und dem nordalpinen Reich (9.–11. Jahrhundert) (Monumenta Germaniae Historica. Schriften 52/1, Hannover 2003) 63–94. Huschner bezieht sich hier auf die liudolfingisch-ottonischen und frühsalischen Diplome, die Kritik an dem an einer modernen Behördenorganisation des 19. Jahrhunderts orientierten Begriff trifft aber in ihren wesentlichen Punkten auch für das hochmittelalterliche staufische Urkundenwesen zu. Wie Huschner ebenda 94–198 zeigen konnte, gehörten die überregionalen Hofnotare, die bis dahin als subalterne Kräfte niedrigeren Ranges gesehen wurden, durchaus zur kirchlichen, politischen und intellektuellen Elite des Ottonenreiches und bekleideten in der Folge häufig hohe geistliche Ämter.
Zwei Herrscher – zwei Kanzleien?
Bildanhang
Abb. 1: Monogramm der Urkunde Ottos IV. für das Kloster Corvey (1198 VIII 9, BFW 209; Münster, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, W 701/Urkundenselekt Nr. KU 113). Abb. 2: Monogramm der Urkunde Ottos IV. für Alberto von Mandello und Galino von Alliate (1212 X 18, BFW 490; Como, Archivio storico della diocesi, Fabbrica del Duomo, Eredità, fasc. 15, 1212 ottobre 18).
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Rund um den Brünner Erbvertrag vom 10. Februar 1364 Zu einem bemerkenswerten Urkundenkomplex im böhmischen Kronarchiv
Im böhmischen Kronarchiv (Prag, Národní archiv, Archiv České koruny) erliegt zum Jahre 1364 ein Bestand von insgesamt 35 Urkunden österreichischer Aussteller, der in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Brünner Erbvertrag zwischen Habsburgern und Luxemburgern vom 10. Februar dieses Jahres steht. Die höchst auffällige Urkundengruppe hat, und das überrascht doch einigermaßen, in der österreichischen Forschung bis in allerjüngste Zeit kaum nennenswerte Aufmerksamkeit erfahren. Alfons Huber schrieb in seiner Gesamtdarstellung der österreichischen Geschichte 1885 bezüglich des Brünner Erbvertrages : »Die Genehmigung des Adels und der Städte der österreichischen Länder wäre zwar rechtlich nicht notwendig gewesen, aber der größeren Sicherheit wegen holte man doch auch diese ein«1. Ganz ähnlich hatte Huber dies schon 1865 in seiner Biographie Herzog Rudolfs IV. formuliert, damals allerdings in einer Anmerkung mit Berufung auf die Regesten Lichnowskys von einer »Menge solcher Urkunden« gesprochen und die Aussteller, Landherren, Landleute und Städte der Länder Österreich, Steiermark, Kärnten und Krain auch aufgelistet2. Tatsächlich hatte Fürst Lichnowsky schon zwei Jahrzehnte zuvor sämtliche Urkunden dieses Komplexes in Regestenform wiedergegeben3. Eines der Stücke, die Garantieerklärung verschiedener Herren und Ritter aus den österreichischen Ländern vom 23. Februar 1364, war im Übrigen durch einen Druck Anton Steyerers aus dem Jahre 1725 auch im Volltext bekannt4. 1 Alfons Huber, Geschichte Österreichs 2 (Gotha 1885) 280. 2 Alfons Huber, Geschichte des Herzogs Rudolf IV. von Oesterreich (Innsbruck 1865) 108 Anm. 5 : »Eine Menge solcher Urkunden verzeichnet Lichnowsky : von den Landherrn ob und unter der Enns und einzelnen aus Steiermark und Kärnthen n. 557 und n. 558, von den Landherrn und Landleuten von Kärnthen n. 572, von den Burggrafen und Landleuten von Windischgräz n. 571, von den Städten Wien, Haimburg, Bruck an der Leitha, W. Neustadt, Marcheck, Laa, Weitra, Egenburg, Krems, Stein, Korneuburg und Klosterneuburg in Oesterreich, Graz, Hartberg, Friedberg, Bruck an der Mur, Leoben, Judenburg, Rottenmann, Aussee, Sebnick (Schladming ?), Voitsberg, Windischgräz, Feistritz, Marburg, Radkersburg und Fürstenfeld in Steiermark, Klagenfurth und St. Veit in Kärnthen, Laibach, Stein und Krainburg in Krain n. 556, 564–566, 570, 573, 574, 580–582, 589«. 3 Eduard Maria Fürst Lichnowsky, Geschichte des Hauses Habsburg 4 (Wien 1839) Nr. 556, 557, 564– 566, 570, 572–574, 577, 580–582, 588–589. 4 Anton Steyerer, Commentarii pro historia Alberti II. Ducis Austriae cognomento Sapientis (Lipsiae 1725) 388f. – Die von Steyerer im Druck mitgeteilte Urkunde scheint heute nicht mehr erhalten zu sein.
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Ein weiterer Druck folgte 1895 durch Ernst von Schwind und Alphons Dopsch, die die von der Stadt Graz ausgefertigte Urkunde de dato 18. Februar 1364 in ihre Urkundenauswahl zur österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte aufnahmen5. Bei diesen beiden Drucken sollte es bleiben, bis heute ist der Volltext nur in den Drucken von Steyerer und Schwind/Dopsch zugänglich. Die Rückführung des böhmischen Kronarchivs nach Prag nach Ende des ersten Weltkrieges scheint den Bestand dann ganz aus dem Gesichtsfeld der österreichischen Forschung haben entschwinden lassen. Und so notierte Otto Brunner, als er die Kremser Rechtsquellen für die neu begründete dritte Reihe der Fontes rerum Austriacarum 1953 bearbeitete, bezüglich der Kremser Urkunde vom 27. Februar 1364, diese sei derzeit im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien nicht auffindbar, und begnügte sich mit einem kurzen Regest auf Grundlage Lichnowskys6. Ein Impuls zur neuerlichen Beschäftigung mit dem Urkundenkomplex aus dem böhmischen Kronarchiv ging sodann in den frühen 1970er Jahren von der ständegeschichtlichen Forschung aus. Herbert Knittler machte 1973 in dem von ihm verfassten zweiten, den Städten und Märkten gewidmeten Teil des dreibändigen Werkes »Herrschaftsstruktur und Ständebildung« nachdrücklich auf die im Gefolge des Brünner Erbvertrages von österreichischen, steirischen und Kärntner Städten ausgestellten zahlreichen Urkunden aufmerksam7. In allgemeinen Darstellungen der spätmittelalterlichen österreichischen Geschichte oder biographischen Arbeiten zu Herzog Rudolf IV. fand dieser Urkundenkomplex freilich auch weiterhin kaum Berücksichtigung. In seiner 1996 veröffentlichten Biographie Herzog Rudolfs IV. hielt es Wilhelm Baum immerhin für erwähnenswert, dass der Steyerer selbst zog seinen Abdruck nach eigenen Angaben aus einer Handschrift Reichhard Streuns von Schwarzenau. 5 Ernst von Schwind, Alphons Dopsch, Ausgewählte Urkunden zur Verfassungs-Geschichte der Deutsch-Österreichischen Erblande im Mittelalter (Innsbruck 1895) Nr. 115. 6 Die Rechtsquellen der Städte Krems und Stein, hg. v. Otto Brunner (Fontes Rerum Austriacarum III/1, Graz–Köln 1953) Nr. 52. Erst bei Herbert Knittlers Fontesband zu den Rechtsquellen der Stadt Weitra aus dem Jahre 1975 findet man dann den Hinweis, dass das Original der von der Bürgerschaft von Weitra unter dem 29. Februar 1364 ausgestellten Urkunde zum Brünner Erbvertrag »1921 an die Tschechoslowakische Republik ausgeliefert« worden sei. Auch Knittler verzichtet im Übrigen auf eine volltextliche Wiedergabe des Stücks (Die Rechtsquellen der Stadt Weitra, hg. v. Herbert Knittler [Fontes Rerum Austriacarum III/4, Wien–Köln–Graz 1975] Nr.11). Nachfolgend haben Peter Csendes (Die Rechtsquellen der Stadt Wien [Fontes Rerum Austriacarum III/11, Wien–Köln–Weimar 1997]) und Christa Schillinger-Prassl (Die Rechtsquellen der Stadt Leoben [Fontes Rerum Austriacarum III/14, Wien–Köln–Weimar 1997]) in ihren Fontesbänden die jeweiligen Urkunden aus dem Jahre 1364 nicht berücksichtigt. 7 Herbert Knittler, Herrschaftsstruktur und Ständebildung. Beiträge zur Typologie der österreichischen Länder aus ihren mittelalterlichen Grundlagen 2. Städte und Märkte (Sozial- und Wirtschaftshistorische Studien, Wien 1973) 19 und Anm. 8, 65 und Anm. 8, 90f.
Rund um den Brünner Erbvertrag vom 10. Februar 1364
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Brünner Erbvertrag von »32 Städten in Niederösterreich, der Steiermark, Kärnten und Krain […] ebenso von den Adeligen der Länder« beschworen wurde und die diesbezüglichen »Reverse« noch im böhmischen Kronarchiv vorlägen. Im Unterschied zu Alfons Huber schrieb Baum die Initiative zur Einholung dieser Garantieerklärungen übrigens klar dem Luxemburger Kaiser zu, der sich dergestalt abzusichern beabsichtigt habe8. Noch in der jüngsten großen Gesamtdarstellung zur Österreichischen Geschichte des 14. Jahrhunderts, jener Alois Niederstätters im Rahmen der von Herwig Wolfram herausgegebenen vielbändigen Österreichischen Geschichte, fehlt dagegen ein Hinweis auf diesen bemerkenswerten Urkundenkomplex9. Der Erschließungsstand und die Zugänglichkeit der Urkunden hat sich unterdessen seit den 1980er Jahren durch die Herausgabe eines großangelegten Faksimilewerks zu den Beständen des böhmischen Kronarchivs entscheidend verbessert. Abbildungen aller hier interessierenden 35 Urkunden sind in dem 1986 veröffentlichten Teilband IV/4 des Tafelwerks enthalten10. Trotzdem hat erst die jüngst erfolgte Digitalisierung des Bestandes, der nunmehr über die Plattform monasterium.net online verfügbar ist11, diesen der österreichischen Mediävistik wieder nachdrücklich ins Bewusstsein gerufen. Es war in der Folge Ferdinand Opll, der das Thema als erster aufgriff und sich 2016 in einem Aufsatz, welcher den ältesten Stadtsiegeln der steirischen Stadt Rottenmann galt, mit diesem Komplex von Originalurkunden aus dem Jahre 1364 im böhmischen Kronarchiv intensiv auseinandersetzte12. Ausgehend von dem hier belegten Rottenmanner Stadtsiegel analysierte Opll den gesamten Urkundenkomplex in diplomatisch-hilfswissenschaftlicher Hinsicht und bemühte sich gleichzeitig um eine verfassungsgeschichtliche Einordnung der Garantieurkunden. Das Wichtigste zu diesem bemerkenswerten Urkundenkomplex im böhmischen Kronarchiv ist damit zweifellos gesagt worden. Die erwähnten 35 Originalurkunden 8 Wilhelm Baum, Rudolf IV. der Stifter. Seine Welt und seine Zeit (Graz–Wien–Köln 1996) 300. 9 Alois Niederstätter, Die Herrschaft Österreich. Fürst und Land im Spätmittelalter (Österreichische Geschichte 1278–1411, Wien 2001) 157. 10 Archiv České koruny. Edice faksimilií = Archivum Coronae regni Bohemiae editio diplomatum phototypica IV/3,4. 1361–1368 (Praha 1984–1987). 11 URL : https://www.monasterium.net/mom/CZ-NA/ACK/fond [letzter Zugriff : 15.10.2020]. 12 Ferdinand Opll, Die ältesten überlieferten Stadtsiegel von Rottenmann und andere frühe Stadtsiegel, in : Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark 107 (2016) 9–36, hier bes. 24–36. – Einige Jahre zuvor war der Urkundenkomplex im böhmischen Kronarchiv schon von tschechischer Seite in den Blick genommen und zum Gegenstand eines Aufsatzes, der vor allem rechtshistorische Aspekte behandelt, gemacht worden : Marek Starý, K otázce závaznosti lucembursko-habsburských dědických smluv ze 14. a 15. století [Zur Frage der Verbindlichkeit der luxemburgisch-habsburgischen Erbverträge aus dem 14. und 15. Jahrhundert], in : Pocta Stanislavu Balíkovi k 80. narozeninám, ed. Vilém Knoll (Acta historicoiuridica Pilsnensia 2008, Plzeň 2008) 323–343. Petr Elbel hat mich auf diese wichtige neuere Publikation aufmerksam gemacht, wofür ich ihm ganz herzlich danke.
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stellen freilich ein höchst vielschichtiges Thema dar. Ein Aspekt, auf den Ferdinand Opll selbst hinwies und den er in seinem Aufsatz 2016 nicht weiter diskutieren konnte, ist die gleichsam technische Seite der Entstehung dieser Urkundengruppe. Tatsächlich muss es eine beachtliche logistische Herausforderung gewesen sein, von einer derart großen Zahl unterschiedlicher Aussteller innerhalb weniger Wochen Garantieurkunden einzuholen13. Wie erfolgte die Kommunikation zwischen Herzog Rudolf IV. und den Adeligen und Städten, deren urkundliche Zustimmung zum Brünner Vertrag beigebracht werden sollte ? Verfügten die potentiellen Urkundenaussteller damals überhaupt über die erforderliche Kanzleilogistik bzw. -kapazität, um derartige Urkunden herzustellen ? Oder hat man auf die Hilfe der fürstlichen Kanzlei zurückgegriffen ? Ein systematischer Schriftvergleich ist bislang noch nicht unternommen worden. Diesen möchte ich hier versuchen, wiewohl ich mir bewusst bin, dass das hilfswissenschaftliche Methoden instrumentarium dabei an seine Grenzen stoßen könnte14. Doch zunächst nochmals ein knappes Ereignisprotokoll : Ausgangspunkt sind die Brünner Vereinbarungen vom 10. Februar 1364, welche zwischen den Luxemburgern und den Habsburgern unter Einbeziehung auch König Ludwigs von Ungarn getroffen wurden und als deren Kernstück die Erbeinigung zwischen Kaiser Karl IV., seinem Sohn, König Wenzel von Böhmen, und seinem jüngeren Bruder Markgraf Johann Heinrich von Mähren einerseits sowie den drei Habsburger Brüdern Rudolf IV., Albrecht III. und Leopold III. andererseits zu gelten hat15. Flankierend hinzu traten zwei Tage später, am 12. Februar, immer noch in Brünn, wechselseitige Erklärungen der Luxemburger bzw. der Habsburger, im Erbfall alle Rechte der Landleute, Städte und Märkte des jeweils anderen unverändert zu bewahren16. Unverzüglich sorgte der Kaiser auch für die Einho13 Opll, Stadtsiegel (wie Anm. 12) 30f. 14 So schreibt Ferdinand Opll, Stadtsiegel (wie Anm. 12) 33 : »Die Schriften aller Dokumente ähneln einander stark, entsprechen damit freilich zugleich dem allgemeinen Kanon von Urkundenschriften in der Mitte des 14. Jahrhunderts«. 15 Národní archiv, Archiv České koruny Nr. 882 (URL : https://www.monasterium.net/mom/CZ-NA/ ACK/882/charter) und 883 (https://www.monasterium.net/mom/CZ-NA/ACK/883/charter [ letzter Zugriff : 18.10.2020]) ; Österr, Staatsarchiv HHStA AUR 1364 II 10 (URL : https://www.monasterium.net/mom/AT-HHStA/AUR/AUR_1364_II_10/charter [letzter Zugriff : 18.10.2020]). Druck : Schwind, Dopsch, Ausgewählte Urkunden (wie Anm. 5) Nr. 114. Vgl. auch Christiane Thomas, in : Ostarrîchi – Österreich 996–1996. Menschen, Mythen, Meilensteine. Katalog der Österreichischen Länderausstellung in Neuhofen an der Ybbs und St. Pölten, hg. v. Ernst Bruckmüller, Peter Urba nitsch (Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums NF 388, Horn 1996) 659–661, Kat.Nr. 17.10a und zuletzt. Opll, Stadtsiegel (wie Anm. 12) 25. 16 Strenge Symmetrie scheint hier beobachtet worden zu sein : Die von luxemburgischer Seite ausgestellte Urkunde liegt heute im Wiener Stadt- und Landesarchiv ; URL : https://www.monasterium.net/mom/ AT-WStLA/HAUrk/623/charter [letzter Zugriff : 15.10.2020], das habsburgische Pendant scheint im Prager Stadtarchiv hinterlegt worden zu sein (vgl. Franz Martin Pelzel, Kaiser Karl IV., König in Böhmen 1–2 [Prag 1780–1781] Urkundenbuch 335).
Rund um den Brünner Erbvertrag vom 10. Februar 1364
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lung von Garantieerklärungen jener Personen, deren Zustimmung zu diesem Erbvertrag als erforderlich erachtet wurde. Schon am Tag des Erbvertrages, dem 10. Februar 1364, ließ sich Karl IV. durch etliche böhmische Herren, an der Spitze seinen Hofmeister Johann Burggraf von Maidburg und Graf von Hardegg, eine solche Garantieerklärung beurkunden und dem österreichischen Herzog Rudolf IV. übergeben. Am 11. Februar folgten kurfürstliche Willebriefe von König Wenzel als böhmischem König und dem sächsischen Kurfürsten Rudolf17. Es darf wohl davon ausgegangen werden, dass der Kaiser die Beibringung ähnlicher Garantieerklärungen auch von der anderen Vertragspartei, also den Habsburgern erwartete. Und damit sind wir bei jenem Komplex von 35 Urkunden, der noch heute im böhmischen Kronarchiv verwahrt wird und im Mittelpunkt dieser kleinen dem Jubilar gewidmeten Studie stehen soll. Gemessen an den gerade einmal vier heute bekannten Garantieerklärungen bzw. Willebriefen, die von Seiten des Kaisers an die Habsburger übergeben wurden, mutet die Anzahl von 35 Urkunden unverhältnismäßig hoch an. Und sie könnte ursprünglich sogar noch höher gewesen sein. Darauf deutet hin, dass Anton Steyerer mit Berufung auf abschriftliche Überlieferung eine heute verlorene Garantieerklärung durch verschiedene österreichische, steirische und Kärntner Herren de dato 23. Februar 1364 im Druck wiedergab18. Dennoch wird man von einem strikten Prinzip der Reziprozität bei den Garantieerklärungen auszugehen haben, heißt es doch in einem Schreiben Herzog Rudolfs IV. vom 24. Februar 1364, mit welchem die Stadt Weitra zur Ausfertigung einer Garantieerklärung aufgefordert wurde, ganz explizit, wan der egenanten des keysers, des kunigs von Behem und des margrafen von Merhern stett und purger uns ouch semlich brief gebent und dasselb swerent und verhaiz zent19. Die Chronologie der von habsburgisch-österreichischer Seite ausgestellten Garantie urkunden hat bereits Ferdinand Opll herausgearbeitet. Er spricht in diesem Zusammen17 Die Originale sind heute verloren. Im Haus-, Hof- und Staatsarchiv erliegen aber heute noch unter dem Datum 10. Februar 1364 Vidimierungen der Stücke, die am 12. November 1437 durch Bischof Nikodemus von Freising und Propst Wilhelm von St. Stephan ausgestellt wurden (Österr. Staatsarchiv HHStA AUR 1364 II 10). Vgl. Lichnowsky, Geschichte 4 (wie. Anm. 3) Nr. 551–553 ; Drucke bei Steyerer, Commentarii (wie Anm. 4) Sp. 387f. – Sehr ausführlich werden die Stücke besprochen bei Starý, K otázce závaznosti (wie Anm.12) 333–340. 18 Steyerer, Commentarii (wie. Anm. 4) Sp. 388f.; vgl. Lichnowsky, Geschichte 4 (wie. Anm. 3) Nr. 557. – Im Codex diplomaticus et epistolaris Moraviae hg. v. Vincenz Brandl, Bd. IX (Brünn 1875) Nr. 366 wird noch auf eine Urkunde der Stadt Ybbs, die sich fragmentarisch auf einem Bucheinband der Nikolsburger Bibliothek erhalten hat, verwiesen (für den Hinweis danke ich Petr Elbel). 19 Rechtsquellen der Stadt Weitra (wie. Anm. 6) Nr.10. – Die zahlenmäßige Diskrepanz bei den Garantie urkunden lässt verschiedene Deutungen zu. Vgl. Starý, K otázce závaznosti (wie Anm. 12). Eher wird man vielleicht aber doch ein höheres Interesse des Habsburgers an dem Vertragswerk vermuten können. Dies mag den österreichischen Herzog bewogen haben, bei Adel und Städten seiner Länder auf Beurkundungen bzw. Garantieerklärungen zu drängen.
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hang von »konzertierte[n] Beurkundungsaktionen«20. 12 der 35 Urkunden datieren vom 18. Februar, sind also in kurzem zeitlichem Abstand zum Brünner Vertragswerk ausgestellt. Ein weiterer Schub an Garantieerklärungen (9 städtische Beurkundungen) folgte am 3. März, auf den im Jahre 1364 der vierte Fastensonntag »Letare« fiel. Dazwischen liegen die Daten der Garantieurkunden der Städte Klosterneuburg (26. Februar), Krems/Stein (27. Februar) und Weitra (29. Februar) sowie jener durch Steyerer überlieferten, heute verlorenen Erklärung zahlreicher österreichischer, steirischer und Kärntner Adliger (23. Februar). Aus dem Zeitraum vom 10. bis zum 18. März datieren 7 Beurkundungen, die von Kärntner, krainischen und steirischen Städten und Landleuten herrühren. Den Schlusspunkt setzte am 4. April ein letzter Block von 4 Urkunden österreichischer Aussteller (österreichische Landherren und die Städte Bruck a. d. Leitha, Laa a. d. Thaya und Marchegg). Zwischen Ausstellungsort und Aussteller besteht weitgehende Übereinstimmung, d. h. die Urkunden geben sich als am Ort des/der Austeller/s gefertigt, die städtischen Garantierklärungen in der jeweiligen Stadt, jene der Kärntner adeligen Landesgemeinde in St. Veit oder jene der österreichischen Landherren in Wien. Nur in drei Fällen, und zwar bei den Urkunden der Städte Radkersburg, Fürstenfeld und Landstrass/Kostanjevica, erscheint Graz als Ausstellungsort, während die Ausfertigungen der Städte Leoben und Marburg/Maribor eines Ausstellungsortes entbehren21. So könnte insgesamt gesehen durchaus der Eindruck entstehen, das Gros der Garantieurkunden sei vor Ort von städtischen bzw. lokalen oder regionalen Kanzleien hergestellt worden. Für eine gewisse Individualität der einzelnen Urkunden spricht auch, was Ferdinand Opll über die Gestaltung der W-Initiale etlicher Garantieurkunden mitteilte. Während die W-Initiale bei den österreichischen Städten weitgehend schmucklos blieb, weist diese in den Urkunden einiger kleinerer steirischer Städte eine detailreiche dekorative Ausschmückung auf. Dies reicht von Kronenaufsätzen (Windisch-Feistritz) bis hin zu karikaturartigen Zeichnungen eines Kopfes und Armes, der einer Verweishand gleich die Initiale umfängt (Radkersburg, Schladming)22. Wie ist diese große Beurkundungsaktion nun tatsächlich von Statten gegangen ? Ich verweise nochmals auf das schon zitierte Schreiben Herzog Rudolfs IV. an das niederösterreichische Weitra vom 24. Februar 1364. Hier ließ der Landesfürst Richter, Rat und Bürger der Stadt wissen : Wir senten eu ein hantvest von eurn wegen geschriben und mit unserm haimlichen zaichen gemerkt. Herzog Rudolf fordert die Bürgerschaft auf, daz ir dieselben hantvest mit eurm insigel unverczogenlich sigelt und ouch alles des sweret, das 20 Opll, Stadtsiegel (wie. Anm. 12) 29. 21 Opll, Stadtsiegel (wie. Anm. 12) 30. 22 Opll, Stadtsiegel (wie. Anm. 12) 34.
Rund um den Brünner Erbvertrag vom 10. Februar 1364
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daran geschriben stet23. Hinsichtlich der Bedeutung dieser Formulierungen ist kaum Zweifel angebracht. Allem Anschein nach lag dem Schreiben an die Stadt Weitra eine in der landesfürstlichen Kanzlei geschriebene Garantieurkunde bei, die von der Stadt zu siegeln und nachfolgend an den Herzog zu retournieren war. So das vom Herzog vorgegebene Procedere. Das muss natürlich nicht zwangsläufig bedeuten, dass alle im Februar, März und April 1364 ausgefertigten Garantieurkunden solcherart entstanden sind, oder anders gewendet, dass die landesfürstliche Kanzlei die logistische Hauptarbeit geleistet und die Urkundenaussteller einzig den Vollzug der Beurkundung durch Anhängen ihrer Siegel sicherzustellen hatten. Es könnte sogar sein, dass Weitra ein Ausnahmefall war – wie schon oben erwähnt, datiert die Garantieerklärung der niederösterreichischen Stadt nicht von einem jener »Sammeltermine« (18. Februar oder 3. März), bei welchen es zu einer quasi seriellen Urkundenausfertigung von bis zu einem Dutzend Garantieerklärungen an einem Tag kam. Um etwas Licht in die Genese der 35 Garantieurkunden zu bringen, habe ich versucht, eine Bestimmung der Schreiberhände vorzunehmen. Die schon von Ferdinand Opll konstatierte große Ähnlichkeit der Hände bedeutete dabei eine erhebliche Schwierigkeit und Unsicherheiten bei der Zuweisung einzelner Stücke bleiben natürlich bestehen. Dennoch erbrachte die paläographische Analyse auf das Ganze gesehen durchaus belastbare Ergebnisse, die ich im Anhang tabellarisch wiedergebe. So hat sich gezeigt, dass die 12 unter dem Datum 18. 2. gegebenen Garantieurkunden von gerade einmal wahrscheinlich fünf verschiedenen Schreiberhänden herrühren. Die von mir als A bezeichnete Schreiberhand mundierte die Garantieerklärungen der Städte Wien, Korneuburg und Wiener Neustadt. Von Hand B stammen die Urkunden des niederösterreichischen Eggenburg, des untersteirischen Marburg/Maribor sowie des Kärntner St. Veit. Ein und dieselben Hand (C) schrieb die Exemplare für Hainburg und Laibach/Ljubljana. Hand E, welche beim ersten Sammeltermin, dem 18. Februar, die Urkunden der steirischen Städte Judenburg und Bruck a. d. Mur ins Reine schrieb, hatte auch wesentlichen Anteil am zweiten großen Beurkundungstermin, dem 3. März. Ihr können die Garantieerklärungen der Städte Windisch-Feistritz/Slovenska Bistrica und Fürstenfeld zugewiesen werden. Gleichsam Hauptschreiber dieses vor allem steirische Aussteller erfassenden zweiten Sammeltermins war jene Hand H, welche die Garantieerklärungen von Aussee, Hartberg, Rottenmann und Schladming mundierte. Interessant ist auch die Beobachtung, dass derselben Hand, die das Weitraer Exemplar de dato 29. Februar ins Reine schrieb, auch die Garantieurkunde der Stadt Klagenfurt vom 18. März zuzuweisen ist. Es scheint also der Vorgang in der Regel so gewesen zu sein, wie es das herzogliche Schreiben an die Stadt Weitra nahelegt : die Garantieurkunden dürften von landesfürstlichen Kanzleischreibern mundiert und sodann an die 23 Rechtsquellen der Stadt Weitra (wie. Anm. 6) Nr.10.
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Christian Lackner
jeweiligen Aussteller zur Besiegelung übersandt worden sein. Demgegenüber dürfte es bloß ausnahmsweise vorgekommen sein, dass Aussteller auf eigene Kanzleiressourcen zurückgriffen bzw. zurückgreifen konnten. Es fällt auf, dass die beiden aus Windischgraz/Slovenj Gradec stammenden Garantieerklärungen von ein und derselben Hand stammen. Stadt und Landleute von Windischgraz mögen hier denselben lokalen Schreiber herangezogen haben. Zusammenfassend bleibt festzuhalten : Der paläographische Befund bestätigt, was das oft zitierte Schreiben Herzog Rudolfs IV. an das niederösterreichische Weitra über die Genese der Garantieerklärungen suggeriert. Die 35 noch heute im böhmischen Kronarchiv erhaltenen Originalurkunden österreichischer, steirischer, Kärntner und Krainer Aussteller dürften zum ganz überwiegenden Teil das Werk der herzoglichen Kanzlei gewesen sein. Vom Fürsten ging die Initiative zu dieser großen Beurkundungsaktion aus und dieser sorgte auch für die reibungslose logistische Umsetzung, welche ohne das Zutun der Fürstenkanzlei für die meisten der städtischen und adeligen Urkundenaussteller damals wahrscheinlich nicht oder jedenfalls nicht in so kurzer Zeit zu bewerkstelligen gewesen wäre.
Anhang Datum
Sign.
Aussteller
A.O.
Hand
18.02.
885
Wien (Stadt)
Wien
A
18.02.
886
Eggenburg (Stadt)
Eggenburg
B
18.02.
887
Hainburg (Stadt)
Hainburg
C
18.02.
888
Korneuburg (Stadt)
Korneuburg
A
18.02
889
Wiener Neustadt (Stadt)
Wiener Neustadt
A
18.02.
890
Graz (Stadt)
Graz
D
18.02.
891
Judenburg (Stadt)
Judenburg
E
18.02.
892
Marburg/Maribor (Stadt)
–
B
18.02.
893
Bruck/Mur (Stadt)
Bruck/Mur
E
18.02.
894
Radkersburg (Stadt)
Graz
D
18.02.
895
St. Veit (Stadt)
St. Veit
B
18.02.
896
Laibach/Ljubljana (Stadt)
Laibach
C
26.02.
897
Klosterneuburg (Stadt)
Klosterneuburg
F
27.02.
898
Krems/Stein (Stadt)
Krems
F
29.02.
899
Weitra (Stadt)
Weitra
G
03.03.
900
Aussee
Aussee
H
03.03.
901
Windisch-Feistritz/Slovenska Bistrica (Stadt)
Windisch-Feistritz
B
Rund um den Brünner Erbvertrag vom 10. Februar 1364 Datum
Sign.
Aussteller
A.O.
03.03.
902
Friedberg (Stadt)
Friedberg
03.03.
903
Fürstenfeld (Stadt)
Graz
B
03.03.
904
Hartberg (Stadt)
Hartberg
H
03.03.
905
Leoben (Stadt)
–
03.03.
906
Rottenmann (Stadt)
Rottenmann
H H
03.03.
907
Schladming (Stadt)
Schladming
03.03.
908
Landstrass/Kostanjevica
Graz
Hand
10.03.
909
Kärntner Landleute
St. Veit
10.03
910
Voitsberg (Stadt)
Voitsberg
I
11.03.
911
Windischgraz/Slovenj Gradec (Stadt)
Windischgraz
16.03.
912
Windischgraz/Slovenj Gradec (Landleute, Bgfen.)
Windischgraz
J
18.03.
913
Krainburg/Kranj (Stadt)
Krainburg
F
18.03.
914
Stein/Kamnik (Stadt)
Stein
18.03.
915
Klagenfurt (Stadt)
Klagenfurt
04.04.
916
Bruck/Leitha (Stadt)
Bruck/Leitha
04.04.
917
Laa/Thaya (Stadt)
Laa
K
04.04.
918
Marchegg (Stadt)
Marchegg
K
04.04.
919
Österr. Landherren
Wien
J
G
Verzeichnis der im Böhmischen Kronarchiv verwahrten Zustimmungserklärungen von Adeligen und Städten aus den österreichischen Ländern zum habsburgisch-luxemburgischen Hausvertrag 1364. Die angeführten Signaturen bezie hen sich auf diesen Bestand im Nationalarchiv in Prag.
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Michael Lindner
Ulrich der Rote von Kronberg Ein edelfreier Ritter aus dem Taunus als Finanzier, Rat und Hofgesinde Kaiser Karls IV.
Phönix aus der Asch(e) : Aus Asch im Egerland, einer staufischen Kreation, die Pfand der böhmischen Könige wurde bis ein anderer Karel, der vierte seines Namens, viel weniger sympathisch als der Jubilar, das Land seinem Königreich einverleibte, zog er in die Welt. Karel Hruza begeht seinen 60. Geburtstag – ein austro-bohemikal-teutonischer Brückenbauer, ein echter Mitteleuropäer und Pontifex maximus also, und ich möchte ihm, als einem langjährigen und verlässlichen Freund, herzlich gratulieren. Mit einem kleinen Text über einen Herrn aus dem Rhein-Main-Gebiet : Ulrich II. von Kronberg, der vorübergehend einen umgekehrten Weg ging – aus dem Taunus an die Moldau. Die Beziehungen zwischen Ulrich, der den Beinamen Rufus trägt, und Kaiser Karl IV. beginnen mit einem Paukenschlag. Am 25. September 1366, Ulrich ist das erste Mal am kaiserlichen Hofe nachweisbar, erhält er eine Urkunde des Herrschers, die Überraschendes bereithält : Karl IV. nimmt Ulrich, den edelfreien Herrn aus dem Taunus, zum Lehnsmann des Königs von Böhmen, desselben Königreiches und der Krone Böhmen an. Das Lehen besteht nicht wie üblich aus einem Stück Land oder einer Burg, sondern aus jährlich 100 Florentiner Gulden. Die Summe soll der Kronberger von der Stadt Sulzbach erhalten, die damals zu den Ländern der böhmischen Krone gehörte und die vom Herrscher zur Zahlung an jedem 11. November (St. Martin) angewiesen wird. Mit 1.000 Gulden können Karl oder seine Nachfolger als Könige von Böhmen die jährliche Zahlung bei Ulrich oder dessen Lehnserben ablösen. Diese Summe muss dann auf Ulrichs Eigengut umgelegt werden, wofür er und seine Lehenserben ebenso böhmische Lehnsträger sein sollen1. Lehen dieser Art werden als Kammerlehen bezeichnet. 1 Druck : Regesta Bohemiae et Moraviae diplomatica nec non epistolaria. Pars VIII. 1364–1378. Fasciculus 2. 1364–1366, hg. v. Lenka Blechová (Praha 2014) Nr. 470 ; Regesten : Otto Frhr. von Stotzingen, Cronberg’sches Diplomatarium, in : Nassauische Annalen 37 (1907) 180–227, hier Nr. 36 ; Wolfgang Ronner, Die Herren von Kronberg und ihr Reichslehen 1189–1704. Regesten und ergänzende Texte (Frankfurt am Main 1999) Nr. 2750 ; Johannes Mötsch, Regesten des Archivs der Herrschaft Winneburg-Beilstein im Gesamtarchiv der Fürsten von Metternich im Staatlichen Zentralarchiv zu Prag 2 (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz Bd. 90, Koblenz 2001) Nr. 164. Abkürzungen : RI 8 = J. F. Böhmer, Regesta Imperii 8. Die Regesten des Kaiserreichs unter Kaiser Karl IV. Aus dem Nachlasse Johann Friedrich Böhmer’s hg. und ergänzt von Alfons Huber (Innsbruck 1877) ; Ergänzungsheft (Innsbruck 1889).
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Michael Lindner
Der Kronberger wird Vasall des böhmischen Königs und erhält dafür 100 Gulden pro Jahr. Er erwirbt damit die Rechte und Pflichten anderer böhmischer Kronvasallen. Das beinhaltet auch den Schutz durch den König, der zugleich ein Kurfürst des Reiches ist, und Unterstützung. Wozu er die brauchte, werden wir noch sehen. Karl IV. baut auf diesem Weg außerdem Schulden ab, die er bei Ulrich hatte. Das wird aus einer zweiten kaiserlichen Urkunde sichtbar, die am selben Tag erging. In ihr werden Ulrich, dem Vitztum des Rheingaus, 1.000 Florentiner von den jährlichen Einkünften des Kaisers aus der Landvogtei Niederschwaben verschrieben. Als Vitztum des Rheingaus war Ulrich der höchste weltliche Amtsträger des Mainzer Erzbischofs in diesem fruchtbaren und ertragreichen Landstrich entlang des Rheins. Schon die Römer schätzten dieses Gebiet. Der Kronberger soll die unmittelbar nächste fällig werdende Zahlung erhalten und seine Berechtigung anderen vom Kaiser gewährten vorangehen2. Der Schuldendruck dürfte hoch gewesen sein, sonst wäre der Kronberger nicht so bevorzugt worden. Ulrichs Forderungen an den Kaiser müssen beträchtlich gewesen sein. Schon ein halbes Jahr später fand er sich in Prag ein, der Hauptstadt des Königreichs, dessen Mann er nun wahr. Der Kaiser konnte – wie zumeist – nicht bar zahlen und stellte erneut eine Verschreibung aus3. Diesmal auf die jährlich zu Martini fällig werdende Reichssteuer der Stadt Donauwörth. Aber Ulrich war nicht nur auf Geld aus. Er wandelte seine finanziellen Forderungen in politisches und symbolisches Kapital um, indem er zum kaiserlichen geheimen Rat aufstieg und der Erbengemeinschaft der Kronberger ein sehr wichtiges Privileg erwarb4. In beiden Urkunden vom 31. März 1367 wird der Edle Ulrich von Kronberg als Rat des Kaisers bezeichnet. Ein Rang, der ihn berechtigte an den geheimen Beratungen des kaiserlichen Hofes teilzunehmen und dort Einfluss auszuüben. Das bedeutete aber auch, dass er Aufträge des Herrschers im Reich übernehmen musste. Dazu gleich mehr. Zuvor müssen wir uns noch mit dem Privileg beschäftigen, das Ulrich für sich und die Ganerbengemeinschaft der Kronberger, von denen es reichlich gab, für ihre Burg Kron2 Regesten : Stotzingen, Cronberg’sches Diplomatarium (wie Anm. 1) Nr. 37 ; Ronner, Herren von Kronberg (wie Anm. 1) Nr. 2751. 3 Regesten : Stotzingen, Cronberg’sches Diplomatarium (wie Anm. 1) 189 Nr. 39 ; Ronner, Herren von Kronberg (wie Anm. 1) Nr. 2755. 4 Druck : Friedrich Eckert, Die Geschichte der Stadt Kronberg im Taunus (Kronberg 1930) 14f.; Regesten : RI 8, Nr. 4517 ; Codex diplomaticus Nassoicus. Nassauisches Urkundenbuch I/3. Die Urkunden des ehemals kurmainzischen Gebiets, einschließlich der Herrschaften Eppenstein, Königstein und Falkenstein ; der Niedergrafschaft Katzenelnbogen und des kurpfälzischen Amts Caub, hg. v. Wilhelm Sauer (Wiesbaden 1887) Nr. 3218 ; Ronner, Herren von Kronberg (wie Anm. 1) Nr. 2754 ; Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich, hg. v. Alfred Haverkamp, Jörg R. Müller (Trier–Mainz 2016) FW02, Nr. 543, URL : http://www.medieval-ashkenaz.org/FW02/FWc1-01ct.html [letzter Zugriff : 18.09.2019].
Ulrich der Rote von Kronberg
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berg, die nach Aussage des Schriftstücks ein Reichslehen war, vom Kaiser erhielt5. Es ist eine der wichtigsten Urkunden der Kronberger, denen insgesamt die Hochgerichtsbarkeit gewährt wird mit dem Recht auf ihrer Burg mit einem siebenköpfigen Schöffenkollegium Gericht zu halten. Den Burgfrieden, den die Mitglieder der Erbengemeinschaft am 24. Februar 1367 untereinander geschlossen hatten6, bestätigt und bekräftigt der Herrscher ausdrücklich mit der Begründung : wann wir alle czeit gerne sehen, daz die ganerben zu Cronemberg […] in fruntlicher liebe mit ein[ander] leben. Und auch die Bürger zu Füßen der Burg wurden auf Bitten Ulrichs bedacht. Ihnen erlaubte Karl IV., jeden Mittwoch einen wöchentlichen Markt in Kronberg abzuhalten mit den Rechten und Gewohnheiten Frankfurts am Main, und gewährte ihnen – geistlichen oder weltlichen, Christen oder Juden – die Freiheiten der Frankfurter Bürger7. Das Privileg ergänzte die Stadtrechtsurkunde Kaiser Ludwigs IV. von 1330 um das Marktrecht und war gleich im doppelten Sinne eine kaiserliche Handfeste. Sie wurde im Namen Karls IV. ausgestellt und der Kaiser hatte sich persönlich im Hofrat dafür eingesetzt, dass Ulrich diese Vergünstigungen erhielt, wie der Kanzleivermerk unter dem Text verrät : Dominus imperator ita commisit. Das war selten und zeigt den Stellenwert, den der Luxemburger seinem Getreuen zubilligte. Mit der praktischen Umsetzung des herrscherlichen Urkundenwunsches beauftragte er Bischof Rudolf von Verden, hinter dem sich der Friedberger Rudolf Rule verbarg – ein mit den politischen Gegebenheiten dieses Raumes und den diplomatischen Gepflogenheiten des Hofes bestens vertrauter Mann, der allerdings schon bald darauf starb († 3. Juli 1367)8. Am folgenden Tag, dem 1. April 1367 erfahren wir, was Karl IV. von Ulrich von Kronberg als Gegenleistung erwartete. Karl IV. hatte zusammen mit seinem Halbbruder Herzog Wenzel von Brabant, Luxemburg und Limburg und Erzbischof Gerlach von Mainz den Plan entwickelt, dass Oppenheimer Reichsgut, das für 71.000 Gulden der Stadt Mainz verpfändet war, bei der Stadt auszulösen. Dann sollte der Kaiser von Wenzel und Gerlach 11.000 Gulden erhalten, wofür den beiden Fürsten das Oppenheimer 5 Vgl. die vorige Anm. 6 Ausführliche Regesten dazu im Codex diplomaticus Nassoicus I/3 (wie Anm. 4) Nr. 3213 und bei Ronner, Herren von Kronberg (wie Anm. 1) Nr. 709 ; vgl. Ludwig von Ompteda, Die von Kronberg und ihr Herrensitz (Frankfurt am Main 1899) 228–232 ; Eckert, Geschichte Kronberg (wie Anm. 4) 14–16, Helmut Bode, Kronberg als reichsritterschaftliche Stadt, in : Kronberg im Taunus. Beiträge zur Geschichte, Kultur und Kunst, hg. v. dems. (Frankfurt am Main 1980) 21–107, hier 50f. 7 Vgl. Eckert, Geschichte Kronberg (wie Anm. 4) 14–16 ; Josef Kaltenhäuser, Taunusrandstädte im Frankfurter Raum. Funktion, Struktur und Bild der Städte Bad Homburg, Oberursel, Kronberg und Königstein (Rhein-Mainische Forschungen 43, Frankfurt am Main 1955) 37f.; Bode, Kronberg (wie Anm. 6) 30–32, 49–51. 8 Vgl. Waldemar Küther, Rudolf Rule von Friedberg, Propst zu Wetzlar, Bischof von Verden und Notar Kaiser Karls IV., in : Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde NF 37 (1979) 79–151.
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Michael Lindner
Reichsgut, zu dem die Stadt Oppenheim mit der Burg Landskron, Gau-Odernheim, Schwabsburg, Ober- und Nieder-Ingelheim, Groß-Winternheim und Nierstein mit allem Zubehör gehörte, für 82.000 Gulden verpfändet werden sollte. Der Kronberger erhielt den Auftrag zum Mainzer Bürger und Reichsschultheißen von Oppenheim, Heinz II. zum Jungen, zu gehen, um die Auslösung der umfangreichen Pfandschaft der Stadt zu verkünden, sie durchzusetzen und die darüber existierenden Urkunden einzuziehen9. Heinz II. war der Sohn und Nachfolger Heinz I. zum Jungen († vor 30. August 1366), der lange eng mit Karl IV. zusammengearbeitet hatte, und als Erbe seines Vaters anteilig am Pfand beteiligt10. Angekündigt wird Ulrich als Edler von Kronberg, Vitztum des Rheingaus, lieber Getreuer und Rat des Kaisers. Ulrichs Aufgabe dürfte schwierig gewesen sein. Er konnte dabei leicht in die Mühlen der großen Politik geraten, denn die Beteiligten waren reichsfürstliche Schwergewichte, ihre Stellung zum Kaiser schwankend. Und auch die Stadt Mainz wollte sich der Vitztum des Rheingaus sicher nicht zum Feind machen. Am Ende, nach längerem Hin und Her, gelang der kaiserliche Plan nicht. Herzog Wenzel – der Mainzer Erzbischof wurde im Januar 1368 vom Kaiser aus dem Verbund entlassen – vermochte sich nicht in den Besitz der Pfandschaft zu setzen. Die Stadt Mainz blieb bis 1375 Pfandherr über das Reichsgut in und um Oppenheim. Offenbar waren die Beteiligten nicht in der Lage, die notwendigen Geldsummen aufzubringen oder die Stadt Mainz fand zusammen mit ihrem führenden Patrizier Heinz II. zum Jungen einen Weg, im Pfandbesitz zu verbleiben11. Wie der Kronberger seinen anspruchsvollen Auftrag im Detail zu erfüllen suchte, wissen wir nicht. Karl IV. war offenbar trotz des Misserfolgs zufrieden mit ihm. Denn acht Monate später, am 2. Januar 1368, begegneten sich der Kaiser und Ulrich II. von Kronberg in Nürnberg erneut. Und wieder erhielt der Kronberger eine kaiserliche Urkunde, die auf Schulden Karls IV. bei ihm hinweist. Der Luxemburger verpfändete das Schultheißenamt der Reichsstadt Heilbronn mit allen Gefällen und Zubehör an Ulrich, der erneut als sein Rat und Vitztum des Rheingaus erscheint12. Außerdem wurde er in dem Gebot an die Stadt, das ihr verpfändete Amt für die Summe zur Auslösung zu geben, für die sie es selbst bis dahin innehatte, als Mitglied des kaiserlichen adligen Hofgesindes 9 RI 8, Nr. 4519 ; vgl. dazu Heinrich Schrohe, Das Mainzer Geschlecht zum Jungen in Diensten des deutschen Königtums und der Stadt Mainz (1353–1437) (Beiträge zur Geschichte der Stadt Mainz 10, Mainz 1933) 36f. 10 Vgl. Schrohe, Zum Jungen (wie Anm. 9) 30–40 ; Heidrun Kreutzer, Auf dem Weg vom Patriziat zum Niederadel. Die Familie zum Jungen und ihre Beziehungen zu den Königen im 14. und 15. Jahrhundert, in : Bausteine zur Mainzer Stadtgeschichte, hg. v. Michael Matheus, Walter Gerd Rödel (Geschichtliche Landeskunde 55, Stuttgart 2002) 47-69, hier 58–61. 11 Schrohe, zum Jungen (wie Anm. 9) 37. 12 Regest : Stotzingen, Cronberg’sches Diplomatarium (wie Anm. 1) Nr. 42 ; Ronner, Herren von Kronberg (wie Anm. 1) Nr. 2758.
Ulrich der Rote von Kronberg
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bezeichnet. Damit hatte Ulrich Rufus den Höhepunkt seiner Geltung bei Hofe erreicht. Es folgten noch zwei Beurkundungen aus den frühen 1370ern von Bedeutung. Am 9. Juni 1372 ergeht von Eltville aus ein Gebot Kaiser Karl IV. an die Reichsstadt Wetzlar in der Wetterau mit der Anordnung, seinen Schiedsspruch, den er neulich in Mainz bezüglich der Wetzlarer Verhältnisse gefällt und schriftlich festgehalten hat, umzusetzen. Für den Fall, dass die Ausführung seines Entscheids in der Stadt weiterhin verweigert wird, hat er seinen Vogt zu Wetzlar, den Edlen Ulrich II. von Kronberg, bevollmächtigt mit Hilfe der anderen Reichsstädte der Wetterau seine Anordnungen in Wetzlar durchzusetzen. Außerdem fordert er die Stadt auf, über ihr finanzielles Gebaren in der Zeit der innerstädtischen Auseinandersetzung vor seinem Vogt Rechenschaft abzulegen13. Ulrich wird in diesem Schriftstück nicht als Vitztum des Rheingaus bezeichnet. Das fällt besonders auf, weil Eltville der Sitz dieses mainzischen Amtes war, das sich nördlich des Rheinknies in etwa von Neudorf im Osten bis Assmannshausen und Lorch im Westen sowie Ramsel im Norden erstreckte. Ereignisse von 1369, über die sogleich noch berichtet wird, führten dazu, dass er dieses Amt zeitweise ruhen lassen musste. Dafür erscheint er plötzlich als kaiserlicher Vogt für Wetzlar, sein Ansehen bei Hofe war also noch intakt. Ob es wirklich zum persönlichen Eingreifen Ulrichs und der drei anderen wetterauischen Reichsstädte im kaiserlichen Auftrag kam, ist unbekannt. Die schon länger schwelenden Auseinandersetzungen in Wetzlar verschärften sich Jahr für Jahr. Die Versuche des Kaisers über verschiedene Personen – Erzbischof Johann von Mainz, Ulrich II. von Kronberg, die Landgrafen von Leuchtenberg – darauf Einfluss zu nehmen, hatten kaum Erfolg14. Der Kronberger blieb dennoch beim Herrscher wohlgelitten. Am 29. September 1374 verlieh Karl IV. dem Edlen Ulrich II. von Kronberg, Vitztum in Rheingau, und dessen Lehenserben in Nürnberg alle die Rechte an dem Hof, den einst Philipp von Bellersheim innehatte, und der wegen Philipps und dessen Söhnen Tod an Kaiser und Reich gefallen ist. Außerdem gebietet er dem Burggrafen und den Burgmannen von Friedberg, Ulrich nicht an diesen Rechten zu beeinträchtigen, sondern zu schützen15. Ulrich beerbte seinen Schwiegervater Philipp von Bellersheim, 13 Regest : RI 8, Nr. 5077 ; Urkundenregesten zur Tätigkeit des Deutschen Königs- und Hofgerichts bis 1451 10. Die Zeit Karls IV. 1372–1378, hg. v. Ekkehart Rotter (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Sonderreihe 10, Köln–Weimar–Wien 2014) Nr. 44 (mit weiteren Hinweisen). 14 Vgl. Eva-Marie Felschow, Wetzlar in der Krise des Spätmittelalters (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 63, Darmstadt–Marburg 1985) 179–186. 15 Regesten : RI 8, Nr. 5379 ; Regesten der bis jetzt gedruckten Urkunden zur Landes- und Ortsgeschichte des Grossherzogtums Hessen 2 : Die Regesten der Provinz Oberhessen, hg. v. Heinrich Eduard Scriba (Darmstadt 1849) Nr. 1702 ; Stotzingen, Cronberg’sches Diplomatarium (wie Anm. 1) Nr. 52 ; Die Reichsburg Friedberg im Mittelalter. Regesten der Urkunden 1216–1410, hg. v. Thomas Schilp (Veröf-
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Michael Lindner
dessen Tochter Gertrud er Anfang 1348 geheiratet hatte. Beide hatten mindestens sechs Söhne und eine Tochter und fanden ihre letzte Ruhe im Kloster Eberbach16. Ulrich erhält mit dem nicht genau benannten Hof – lag er in Bellersheim ? – ein weiteres Reichslehen. Er wird in diesem Text als Vitztum des Rheingaus angesprochen, ein Amt, in dem er seit Ende des vergangenen Jahres nach mehrjähriger Pause wiedererschien. Mit dieser Urkunde enden seine Hofbeziehungen. Offenbar hat er sich nun wieder stärker auf seine Aufgaben vor Ort, im Rheingau und im Taunusgebiet konzentriert, denn er lebte noch bis 1386. Ulrich der Rote, aus der Familie der Herren von Kronberg, war ein vielbeschäftigter Mann. Er diente den Mainzer Erzbischöfen seiner Zeit, war einige Jahre am Hofe Kaiser Karls IV. präsent, sorgte sich um den familiären Frieden auf der Stammburg Kronberg und versuchte diese wie die gleichnamige Siedlung am Fuße der Feste auszubauen. Dazu stiftete er eindrucksvolle Kunstwerke, erwarb wichtige kaiserliche Privilegien und erhielt lukrative Gunsterweise vom Kaiser. Er führte hunderte Ritter in die Schlacht, übernahm diffizile diplomatische Aufträge und bewegte große Geldsummen. Nicht alles gelang. Es ist bisher nur wenigen aufgefallen : Ulricus Rufus de Cronenberg war eine eminente Gestalt unter den Edlen von Kronberg17, einem der zahlreichen niederadligen Geschlechter der Taunus-Region. Ulrichs Karriere bestand nicht nur aus Höhepunkten : Als im Jahre 1369 der Sommer zu Ende ging, trafen am 18. September beim Dorfe Sprendlingen nahe Kreuznach zwei Heere aufeinander. Die Schlacht war Teil der sogenannten Bolandener Fehde zwischen Graf Walram von Sponheim-Kreuznach und Philipp von Bolanden, dem Herrn zu Altenbaumberg. Ulrich von Kronberg griff aufseiten des Sponheimers in das Geschehen ein und führte ein Kontingent von mehr als 600 Bewaffneten in den Kampf. Er tat dies als Vitztum des Mainzer Erzbischofs und Feldhauptmann (capitaneus) des Rheingaus. Die Sache ging gründlich schief. Der Herr von Bolanden behauptete wider Erwarten das Feld und trug einen überwältigenden Sieg davon. Die unterlegene Seite erlitt große Verluste – zwischen 200 und 300 Tote. Sechzehn Ritter und Graf Walram gerieten in Gefangenschaft und mussten später für viel Geld ausgelöst werden. Ulrich kehrte mit nur wenigen Begleitern aber voller Schande über die Niederlage nach Kronberg zu-
fentlichungen der historischen Kommission für Hessen III/2, Marburg 1987) Nr. 395 ; Ronner, Herren von Kronberg (wie Anm. 1) 629 Nr. 2761. 16 Ompteda, Kronberg (wie Anm. 6) 98 ; Hellmuth Gensicke, Zur Geschichte des nassauischen Adels. Die von Kronberg, in : Nassauische Annalen 98 (1987) 297–318, hier 313f. Nr. 63. 17 Einen speziellen, nur Ulrich gewidmeten Text gibt es bisher nicht. Seine herausragende Bedeutung wird aber bereits bei Ompteda, Kronberg (wie Anm. 6) 97–110, und Bode, Kronberg (wie Anm. 6) 49–51, sichtbar.
Ulrich der Rote von Kronberg
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rück18. Damit nicht genug wurde er von den Leuten des Rheingaus, die ihn für einen Verräter hielten, vor aller Welt beschimpft und geschmäht und beim Mainzer Erzbischof Gerlach angeklagt19. Die relativ detaillierten Überlieferungen dreier Quellen, die sich teils ergänzen, teils gegenseitig bestätigen, lassen die Sorge Winfried Dotzauers über eine Kontamination der Berichte mit den Ereignissen der Schlacht bei Sprendlingen von 1279 als unnötig erscheinen. Dass es sogar Gedenkverse zur Schlacht gibt, zeugt noch zusätzlich von ihrer Bekanntheit20. Die Fehde zog sich noch eine Weile hin. Von einer weiteren Beteiligung des Kronbergers hören wir nichts mehr. Er dürfte erst einmal genug von derartigen ritterlichen »Spielen« gehabt haben. Am Ende zogen vor allem der rheinische Pfalzgraf und der Trierer Erzbischof Gewinn aus diesen kriegerischen Auseinandersetzungen21. Auf dem Höhepunkt seiner Macht und seines Ansehens hatte der Ritter Ulrich von Kronberg einen schweren Rückschlag erlitten. Unmittelbar nach der Niederlage von Sprendlingen scheint er das Vertrauen Erzbischof Gerlachs verloren zu haben. Das Vitztumamt für den Rheingau musste er ruhen lassen. Fünf Wochen nach der Schlacht, am 25. Oktober 1369, war Ulrich gezwungen dem Mainzer Prälaten zu versprechen, bei Kaiser Karl IV. mit vollem Einsatz darauf hinzuwirken, dass sowohl dem Erzbischof wie auch dem Grafen Johann von Nassau-Merenberg die kaiserliche Huld erhalten bliebe. 18 Chronicon Moguntinum, hg. v. Carl Hegel (MGH Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 20, Hannover 1885) 22 : Item circa idem tempus captus est Walramus comes de Span heim a domino de Bolandia, et occisi sunt et captivati sunt de incolis Rinckgauwie, quos vicedominus domini Moguntini illuc in auxilium predicti comitis destinaverat. Et prelium fuit circa Sprendlingen villam, ubi multi, circa 300 homines de Ringauwia corruerunt in prelio. Narratio de rebus gestis archiepiscoporum Moguntinorum 1138–1410, hg. v. Alfons Huber, in : Fontes rerum Germanicarum 4. Heinricus de Diessenhofen und andere Geschichtsquellen Deutschlands im späteren Mittelalter, hg. aus dem Nachlasse Johann Friedrich Boehmers von Alfons Huber (Stuttgart 1868) 363–367, hier 365 : Cui [ML : dem Herrn von Bolanden] processit in occursum dominus Ulricus de Cronberch vicedominus et capitaneus terre Ringaugie cum armatis ultra sex centum hominibus terre predicte, fuitque clades magna apud villam Sprendlingen prope opidum Crucenach, sed non prevaluit. Namque occisis plus quam trecentis illis de Ring augia, captivati sunt de genere militari sedecim, qui postea larga pecunia inde sese redemerunt. Rediit autem ex hac clade non sine rubore ad suos cum paucis Ulricus predictus. Die Limburger Chronik des Tileman Elhen von Wolfhagen, hg. v. Arthur Wyss (MGH Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters IV/1, Hannover 1883) 56 cap. 78 : Item in diser zit was der strit ze Sprengelingen zuschen Bingen unde Cruzenach. Da bleben doit me dan zweihondert man. Unde den strit vurlois ein grebe von Spanhem genant Walrabe, der wart auch gevangen, unde der herre von Bolanden behilt daz velt. 19 Narratio de rebus, hg. Huber (wie Anm. 18) : Unde illi de terra Rincaugie predicta contristati, iactis in eundem probris et conviciis, eundem pro ribaldo et proditore vulgo passim habuerunt, facinus illius apud archiepiscopum incusantes […]. 20 Handschriftenverzeichnisse, in : Archiv der Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtskunde 8 (1843) 284–860, hier 615. 21 Vgl. Winfried Dotzauer, Geschichte des Nahe-Hunsrück-Raumes von den Anfängen bis zur Französischen Revolution (Stuttgart 2001) 239f.
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Außerdem verpflichtete er sich, das Amt des Vitztums nun gewissenhaft zu versehen und sich gegen Klagen über seine Amtsführung vor dem Erzbischof und dem Grafen zu verantworten. Zuletzt mussten er und seine Söhne schwören, nicht nach der Würde eines Mainzer Erzbischofs zu streben22. Kurz vor Erzbischof Gerlachs Tod ist das ein deutlicher Hinweis auf die Ambitionen Ulrichs und seiner Söhne, von denen zwei – Ulrich als Propst zu St. Viktor vor Mainz und Walther als Konventuale zu St. Alban in Mainz – Geistliche waren. Trotz dieser Vereinbarung wird Ulrich über mehrere Jahre nicht mehr als erzbischöflicher Vitztum genannt. Vielleicht ist es ihm nicht gelungen, seine Versprechen zu halten. Unter Adolf von Nassau, der im April 1373 zum Administrator, Vormund und Verweser des Erzstifts eingesetzt wurde, begegnet er im Dezember desselben Jahres wieder mit diesem Titel23. Ulrich und der Kaiser : Warum glaubten die beiden Nassauer, Erzbischof Gerlach und Graf Johann, dass der Kronberger ihnen bei Karl IV. die Huld erhalten könne ? Wieso sollte der kleine edelfreie Ritter beim Herrscher mehr vermögen, als der Erzbischof von Mainz und erste Kurfürst des Reiches oder der seit dem 25. September 1366 gefürstete Graf ? Innerhalb weniger Jahre hatte der Kronberger Ritter Ulrich einen schnellen Aufstieg am kaiserlichen Hofe genommen. Von allen Familienmitgliedern trat nur er dort in Erscheinung. Seine Haupttätigkeit dürfte die eines kaiserlichen Geldgebers gewesen sein. Das hat er sicher nicht alleine bewerkstelligt. Er wird – wir haben keine Belege dafür – von den anderen Kronbergern unterstützt worden sein. Sein Engagement brachten ihm und der gesamten dreigeteilten Familie vielfältigen Nutzen ein. Ihr Ansehen unter den edelfreien Geschlechtern der Region wuchs. Auf das kulturelle Niveau in und auf Kronberg hatten die Beziehungen zum Kaiser und seinem Umfeld ebenfalls nachhaltige Wirkung24. Die Lebenszeit Ulrichs II. brachte auch für die inneren Verhältnisse der Kronberger Herren und ihr Zusammenleben auf der Burg wichtige Entwicklungen. Gleich sechs Regelungen der Beziehungen und Streitfälle sowie der Koordination zwischen den drei Linien, sogenannte Burgfrieden der Erbengemeinschaft (Ganerben), fallen in seine Ära25. 22 Regesten der Erzbischöfe von Mainz von 1289–1396. Zweite Abteilung (1354–1396). Erster Band 1354–1371, hg. v. Fritz Vigener (Leipzig 1913) Nr. 2574. 23 Regesten der Erzbischöfe von Mainz von 1289–1396. Zweite Abteilung (1354–1396). Zweiter Band 1371–1374, hg. v. Fritz Vigener (Leipzig 1914) Nr. 3131. 24 Vgl. Sofie Bauer, Kunstdenkmäler der Herren von Kronberg, in : Kronberg im Taunus, hg. Bode (wie Anm. 6) 217–332, hier 223–227, 266 Abb. 2 ; Jiří Fajt, Nürnberg als Kunstzentrum des Heiligen Römischen Reichs. Höfische und städtische Malerei in der Zeit Kaiser Karls IV. 1346–1378 (Berlin–München 2019) 512–521, 536f., 612f. 25 Codex diplomaticus Nassoicus I/3 (wie Anm. 4) Nr. 2354, 3213, 3339 ; Ronner, Herren von Kronberg (wie Anm. 1) Nr. 689, 693, 694, 709, 716, 721 ; vgl. Ompteda, Kronberg (wie Anm. 6) 86–88, 228–233 ; Eckert, Geschichte Kronberg (wie Anm. 4) 11–16, Bode, Kronberg (wie Anm. 6) 47–52.
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Zwischen 1339 und 1378 versuchte die Großfamilie wiederholt, ihre Differenzen und die ihres Personals zu regulieren, die bauliche Ausgestaltung der gemeinsamen Burg zu steuern, Güter- und Rechtetransaktionen zu gestalten und die Graslock von Kronberg, Nachkommen der Kronberger aus weiblichen Linien, die nicht in die Gemeinschaft der Ganerben aufgenommen wurden, aus ihren Anteilen an der Burg auszukaufen. In den ersten Verträgen wurde die Koordination der notwendigen Maßnahmen jährlich wechselnden Verwaltern überantwortet. Diese sogenannten Baumeister verfügten auch über das Siegel und verwahrten die erworbenen Urkunden. Außerdem wurden für Streitfälle Schiedsrichter, wie Merklin von Rödelheim, Johann Brendel von Homburg oder Gottfried von Stockheim, aus dem regionalen Umfeld benannt. Bis zu sieben Kronberger Herren aus drei Familienzweigen schlossen diese bis zu 30 Punkte umfassenden Abmachungen. In diesen sechs Burgfrieden wird unter anderem sehr genau geregelt, wer, was, wo auf dem Burgberg bauen darf, wem was gehört und wie die gegenseitige Abgrenzung im Burgareal sein solle. Die detaillierten Vorgaben haben Nina Strickhausen-Bode und Gerd Strickhausen genutzt, um ein Bild der Burg in dieser Zeit zu zeichnen26. Ulrichs Interessen werden in fast allen Punkten berührt, einer sei jedoch herausgegriffen : der Vitztum soll über die sogenannte Judenschule verfügen und, wenn sich wieder Juden in Kronberg ansiedeln, sie ihnen überlassen. Ansonsten lebten die drei Stämme jeweils in einer eigenen Wohnanlage. Innerhalb von 34 Jahren führte die dynamische Entwicklung des Geschehens auf dem Kronberg, hervorgerufen durch strittige Besitz- und Rechteverhältnisse, das ständige Baugeschehen, den Umgang mit dem Graslockschen Gütern, das Sterben und Nachrücken von Ganerben, zu mehreren Verträgen, die uns tiefen Einblick in die Probleme der Familie und deren Umgang damit sowie in die bauliche Gestalt der eindrucksvollen Burg gewähren. Nachdem die Familienverhältnisse geordnet und der kaiserliche Hof nicht mehr von erstrangigem Interesse für Ulrich war, hatte er zusammen mit den anderen Kronbergern wieder Zeit sich mit Frankfurt am Main zu befassen. Das wechselseitige Verhältnis war konfliktanfällig. Von der Kronberger Burg aus konnte man den Bürgern der Mainmetropole quasi auf den Tisch gucken. Bereits vor der legendären Schlacht von Kronberg von 1389, die Ulrich nicht mehr miterlebte, gerieten die Kronberger, die unter anderen von den Reifenbergern unterstützt wurden, mit der Stadt aneinander. Vom April 1377 bis zum November 1380 zog sich die Fehde hin.27 Im April 1377 versuchten die Frankfurter 26 Gabriele Nina Strickhausen-Bode, Gerd Strickhausen, Rekonstruktion der Burg Kronberg im 14. Jahrhundert, in : Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 60 (2010) 1–29 ; dieselben, Das große Haus auf Burg Kronberg im Taunus. Ein Wohnbau des 14. Jahrhunderts, in : Denkmalpflege und Kulturgeschichte 3 (2013) 10–15. 27 Hierzu und zum Folgenden : Ronner, Herren von Kronberg (wie Anm. 1) Nr. 3028–3036.
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Kronberg zu erobern. Am 15. Juni 1377 schrieb der Rat der Stadt ein Kopfgeld für die Gefangennahme Ulrichs II. und weiterer Kron- und Reifenberger aus. Im Januar 1378 werden wechselseitige Klagen über die schlechte Behandlung der Gefangenen laut. Im Mai des Jahres versuchte Pfalzgraf Ruprecht I. auf einem Tag in Oppenheim einen Ausgleich zwischen beiden Seiten herbeizuführen. Offenbar vergebens, denn im Sommer 1380 nahm sich Erzbischof Adolf von Mainz der Fehde an. Am 11. November 1380 gelang es ihm endlich, die Feindschaft beizulegen. Frankfurt schloss Frieden mit den Kron- und Reifenbergern. Alle Gefangenen wurden ausgetauscht. Einige der adligen Herren – Ulrich war nicht dabei – erhielten jährliche Zahlungen von der Stadt, deren Rechte ungehindert bleiben sollen.28 Wenigstens für kurze Zeit herrschte nun Frieden.
28 Ebd. Nr. 3036 mit weiteren Hinweisen.
Stanislav Bárta
Die Tätigkeit der böhmischen Revisionskommission von 1453/54 unter besonderer Berücksichtigung der von ihr verzeichneten Urkunden König Wenzels IV.1 Am 23. November 1453 trat in Prag jene Ständekommission zum ersten Mal zusammen, deren Aufgabe es war, sämtliche königlichen Verschreibungen der vorangegangenen Jahre einer Revision zu unterziehen2. An diesem Tag wurde nicht nur ein Beschluss des Landtages verwirklicht, der bald nach der Krönung König Ladislaus Postumus’ zusammengetreten war, sondern auch ein altes Vorhaben Kaiser Sigismunds aus der Spätzeit von dessen Herrschaft. Das unmittelbar an die Krönung des neuen Herrschers anschließende Bemühen um eine Revision der Besitzverhältnisse im Land ist Ausdruck eines Versuchs, nach der vorangehenden Instabilität die Ordnung im Königreich wiederherzustellen. Von den Sitzungsprotokollen dieser Ständekommission sind unvollständige Abschriften erhalten geblieben, welche František Palacký in den Jahren 1840 und 1842 veröffentlichte3. Bislang sind diese Protokolle vor allem im Hinblick auf die Verpfändungen von Kirchen- und Kammergütern unter Sigismund von Luxemburg ausgewertet worden4. 1 Abkürzungen : AČ = Archiv český, čili Staré písemné památky české i morawské [Böhmisches Archiv oder alte Schriftdenkmäler aus Böhmen und Mähren] I–IV, hg. v. František Palacký (Praha 1840, 1842, 1844, 1846) ; VII, hg. v. Josef Kalousek (Praha 1887) ; XXXVI, hg. v. Gustav Friedrich (Praha 1941). 2 Rudolf Urbánek, České dějiny III. Věk poděbradský 2 [Böhmische Geschichte III. Das Zeitalter Georgs von Podiebrad] (Praha 1918) 782f.; Karel Beránek, Věra Beránková, Zur Tätigkeit einer in den Jahren 1453–1454 zur Revision von Pfandurkunden in Böhmen eingesetzten Kommission, in : Folia diplomatica 2 (Brno 1976) 187–197. 3 AČ I, 93–546, AČ II, 175–208, 444–481. 4 Vgl. z. B. Zbytky register králův římských a českých z let 1361–1480, hg. v. August Sedláček [Die Reste der ehemaligen Register der römischen und böhmischen Könige aus den Jahren 1361–1480] (Praha 1914, Historický archiv 39) ; August Sedláček, Die Reste der ehemaligen Reichs- u. k. böhm. Register [I–IV], in : Věstník Královské české společnosti nauk, Třída Filosoficko-historicko-jazykozpytná / Sitzungsberichte der Königl. böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften, Klasse für Philosophie, Geschichte u. Philologie 1916/1 (Prag 1917) 1–116 ; 1917/1 (Prag 1918) 1–48 ; Věstník Královské české společnosti nauk, Třída Filosoficko-historicko-jazykozpytná / Mémoires de la Société Royale des Sciences de Bohême, Classe des Lettres 1918/1 (Prague 1919) 1–25 ; 1919/1 (Prague 1921) 1–53 ; Milan Moravec, Zástavy a zástavní listiny Zikmunda Lucemburského v českých zemích z let 1420–1437 [Die Verpfändungen und Pfandurkunden Sigismunds von Luxemburg in den Böhmischen Ländern 1420–1437], in : Folia historica Bohemica 9 (1985) 89–173 ; Stanislav Bárta, Zástavní listiny Zikmunda Lucemburského na církevní statky (1420–1437) [Die Verpfändungsurkunden Sigismunds von Luxemburg über Kirchengü-
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Diese Schwerpunktsetzung erklärt sich u. a. durch den zahlenmäßigen Vorrang der Urkunden dieses Herrschers vor den Urkunden aller übrigen böhmischen Könige, die in die Protokolle Eingang gefunden haben5. Aber immerhin ein Fünftel der Einträge gehen auf Urkunden von Sigismunds Bruder, Wenzel IV., zurück. In diesem Beitrag konzen trieren wir uns auf folgende Fragen : Auf Basis welcher Landtagsbeschlüsse arbeitete die Kommission und was war ihre Aufgabe ? Welcher Teil der Arbeit der Revisionskommission hat sich erhalten und was können wir daraus über ihre Tätigkeit lernen ? Warum wurden der Kommission auch Urkunden Wenzels IV., seiner Vorgänger auf dem böhmischen Thron und eventuell sogar weiterer Aussteller vorgelegt ? Welche Typen von Urkunden Wenzels IV. überprüfte die Kommission und in welchen Zusammenhängen ? Seine Absicht, alle vorangegangenen Verschreibungen von Krongütern überprüfen zu lassen, kündigte Sigismund bereits im sog. großen Freiheitsprivileg für die böhmischen Stände vom 20. Juli 1436 an6. Die 25 Artikel dieser Urkunde sind im Grunde eine Wahlkapitulation, mit der Sigismund den böhmischen Ständen eine ganze Reihe von Vorrechten bestätigte7. Viele davon berühren die damaligen Besitzverhältnisse. Für eine Revision dieser Verhältnisse war Artikel 11 entscheidend. In diesem wurde festgelegt, dass alle, die über königliche Verschreibungen verfügten, die während der Hussitischen Revolution ausgestellt worden waren, diese einem noch zu bildenden Rat vorzulegen hatten, welcher über deren Rechtmäßigkeit entscheiden sollte. Taten sie dies nicht, büßten die betreffenden Urkunden ihre Gültigkeit ein8. Auch andere Artikel berührten besitzrechtliche Fragen, seien es private Verpfändungen und Verfügungen über Besitz, Kammerzinse, Steuern, jüdische Darlehen oder das königliche Heimfallsrecht.
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ter (1420–1437)] (Spisy Filozofické fakulty Masarykovy univerzity = Opera Facultatis philosophicae Universitatis Masarykinanae 457, Brno 2016). In den erhaltenen Protokollen bilden die Urkunden Sigismunds 51 % aller aufgezeichneten Stücke. AČ III, 446–449, Nr. 21. Siehe dazu František Kavka, Poslední Lucemburk na českém trůně [Der letzte Luxemburger auf dem böhmischen Thron] (Praha 1998) 202–207, wo auch der hier behandelte Artikel 11 kurz erwähnt wird. Zum breiteren Kontext von Sigismunds Wahlkapitulation vgl. Winfried Eberhard, Der Weg zur Koexistenz : Kaiser Sigmund und das Ende der Hussitischen Revolution, in : Bohemia 33 (1992) 1–43, hier 35–42 ; Josef Válka, Sigismund und die Hussiten, oder : wie eine Revolution beenden ? In : Kaiser Sigismund. Zur Herrschaftspraxis eines europäischen Monarchen (1368–1437), hg. v. Karel Hruza, Ale xandra Kaar (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters ; Beihefte zu J. F. Böhmer – Regesta Imperii Beihefte 31, Wien–Köln–Weimar 2012) 21–56, hier 48–52. Hier würde sich ein Vergleich mit der Überprüfung sämtlicher Besitzurkunden nach der Niederwerfung des Aufstandes gegen Sigismund in Ungarn nach dem Georgstag 1405 anbieten. Siehe Jörg K. Höensch, Kaiser Sigismund. Herrscher an der Schwelle zur Neuzeit 1368–1437 (München 1996) 126 ; vgl. Decreta regni Hungariae. Gesetze und Verordnungen Ungarns 1301–1457, hg. v. Franciscus Döry, Georgius Bónis, Vera Bácskai (Budapest 1976) 214f. Leider gibt es nur wenige Belege für die Überprüfung von Verschreibungen unter Sigismund in Böhmen in den Jahren 1436–1437, siehe unten.
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Es ist wichtig zu betonen, dass der Artikel 11 ausschließlich Verschreibungen von Krongütern unter Sigismund betraf. Durch eine Verwirklichung seiner Bestimmungen hätte sich der Weg zu einer zumindest partiellen Erneuerung der Krondomäne geöffnet. Andererseits wären dadurch aber diverse in den Revolutionsjahren erzielte Besitzzuwächse gefährdet gewesen. Während die überwiegende Mehrheit der Anhänger Sigismunds es geschafft hatte, ihre Erwerbungen rechtlich abzusichern, konnten viele seiner bisherigen Gegner nur eher fragwürdigen Besitztitel vorweisen. Die utraquistischen Stände hätten sich also kaum auf eine Revision der während der Revolution erworbenen Besitzungen eingelassen, wenn sie nicht über ein Instrument verfügt hätten, mit dem sie ihre Besitztümer nachträglich legalisieren konnten. Die Lösung lag in weiteren Verschreibungen, insbesondere in umfangreichen Verpfändungen. Sigismunds Kanzlei begann sofort nach der Ankunft des Herrschers in Prag, wie am Fließband Pfandurkunden sowohl für seine langjährigen Anhänger, als auch für seine einstigen Gegner auszustellen. Im Fall der Anhänger des Kaisers handelte es sich um genau festgesetzte Summen, welche mit Sigismunds Schulden für geleistete Dienste und Aufwendungen aus den Revolutionsjahren korrespondierten. Die ehemaligen Gegner des Kaisers erwarben im Gegensatz dazu Pfänder auf Gütern, die sie infolge von Kriegsgewinnen ohnehin faktisch innehatten. Die Pfandsummen waren dabei völlig fiktiv und brachten im Grunde jene Summe zum Ausdruck, für die Sigismund sich die Loyalität der betreffenden Pfandnehmer erkaufen musste. Das Rechtsinstitut der Verpfändung wurde also zur Bestätigung des Status quo und zur nachträglichen Legalisierung von Besitzerwerbungen genutzt9. Nach seiner allgemeinen Anerkennung als König von Böhmen im Jahr 1436 war Sigismund bemüht, das Land nach den Erschütterungen der Hussitischen Revolution zu stabilisieren. Die Tätigkeit des Landes- und des Hofgerichts wurde erneuert und langsam wurde auch die Revision der Krondomäne in Angriff genommen. Einen ersten Schritt stellte die Bestellung eines Prokurators dar, welcher die Ansprüche des Königs auf heimgefallene Güter verteidigen sollte. In dieses Amt wurden Wilhelm von Luditz/ Žlutice und Matthias Louda von Chlumčany berufen, welche jeweils den Titel eines commissarius devolucionum regalium führten10. Ihre Aufgabe war es, alle Güter ausfindig zu machen, welche während der Revolutionsjahre aufgrund des Heimfallrechts an den 9 Vgl. Stanislav Bárta, Pfand im Krieg und Frieden. Die Verpfändungen von böhmischen Kron- und Kirchengütern unter Sigismund von Luxemburg (Manuskript abgeschlossen). 10 Vgl. Jaroslav Demel, Dějiny fiskálního úřadu v zemích Českých [Geschichte des Fiskalamtes in den Böhmischen Ländern] 1 (Praha 1905) 28f.; Jaroslav Dřímal, Královský prokurátor a jeho úřad do roku 1745 [Der Prokurator des Königs und sein Amt bis zum Jahr 1745], in : Sborník archivních prací 19 (1969) 348–385, hier 350f. Beide sind aber – im Gegensatz zu Palacký – der Meinung, Matthias Louda habe dieses Amt nie bekleidet. Vgl. aber AČ XXXVI, 463f., Nr. 39.
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König heimgefallen waren. Zusätzlich wurde die Einsetzung einer Revisionskommission vorbereitet. Über diese Kommission wissen wir nicht viel, denn ihre Tätigkeit liegt im Schatten jener Revisionskommission, die in den Jahren 1453/1454 amtierte. Dennoch verfügen wir über einige Indizien, die darauf hindeuten, dass kurz vor Sigismunds Tod Ende 1437 versucht wurde, eine solche Kommission einzusetzen, und dass erste Schritte zu einer Revision der älteren Verpfändungen von Kirchen- und Kammergütern unternommen wurden. Wir kennen nur einige Beschlüsse jener Landtage, an denen der Herrscher persönlich teilnahm, und welche die Absicht erkennen lassen, jene Vorsätze umzusetzen, die Sigismund in dem genannten großen Ständeprivileg vom 20. Juli 1436 angekündigt hatte. Bereits der auf den Wenzelstag von 1436 einberufene Landtag beschloss, dass zu Unrecht einbehaltene Güter zurückgegeben werden sollten11. Die Bestimmungen betrafen auch privatrechtliche Verfügungen, welche durch den Eintrag in die wiedereröffneten Landtafeln nachträglich legalisiert werden mussten. Im März 1437 erließ das Landesgericht ein Urteil, demgemäß alle, die in den vorangegangenen Jahren Urkunden erworben hatten, diese dem Prager Burggrafen zur Beglaubigung vorzulegen hatten12. Dies betraf auch Schuldbriefe und andere besitzrechtliche Verfügungen. Dass es nicht bei leeren Absichtserklärungen des Landtags und der Gerichte blieb, belegen einige – wenige – Nachrichten aus späteren Prozessen, in denen Beteiligte die Gültigkeit älterer Grundstückstransaktionen mit dem Argument anzweifelten, die entsprechenden Urkunden seien nicht unter Kaiser Sigismund zur Revision vorgelegt worden. Ein Beispiel für so eine Nachricht stellt ein Urteil über die Verjährung der Ansprüche eines gewissen Hans Hofman von Neisse/Nysa dar, welches die Register des Kammergerichts zum Jahr 1480 überliefern13. Hans verlangte von der Prager Altstadt die Auszahlung eines angeblich ausständigen Zinses. Die Altstädter Bürger wiesen seine Ansprüche mit dem Argument zurück, Hans habe bis zum Zeitpunkt seiner Klage nie die – anscheinend bis in die Zeit Wenzels IV. zurückreichende – königliche Verschreibung vorgelegt, die die Basis seiner Forderungen bildete. Sie beriefen sich dabei auf Kaiser Sigismund, welcher in der Friedenszeit nach seinem Herrschaftsantritt in den Ländern der Böhmischen Krone sowohl in Böhmen, als auch in Schlesien verkünden lassen hatte, dass die Inhaber königlicher Verschreibungen und anderer Urkunden über Krongut diese dem königlichen Rat vorlegen sollten. Bis hierher erfahren wir nichts, was nicht ohnehin im großen Ständeprivileg Sigismunds zu finden ist. Die Prager Bürger gingen jedoch in ihrer Argumentation noch weiter. Ihnen zufolge hatte Sigismund tatsächlich konkrete 11 AČ II, 380, Nr. 152. 12 AČ II, 387f., Nr. 169. 13 AČ VII, 532f., Nr. 322.
Die Tätigkeit der böhmischen Revisionskommission von 1453/54
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Herren mit der Überprüfung und Registrierung der besagten Schriftstücke beauftragt. Dabei sollten Urkunden, die für authentisch befunden wurden, ihre Gültigkeit behalten, wohingegen jene Briefe, die die Räte als unanständig und falsch erkannten, geschmäht und verdorben werden sollten. Es wurde eine ausreichend lange Frist gesetzt ; Urkunden, die nicht rechtzeitig vorgelegt wurden, sollten nach Ablauf dieser Frist automatisch ihre Gültigkeit verlieren. Eine Verwechslung mit der Tätigkeit der Revisionskommission von 1453/54 können wir trotz der sehr späten Nachricht ausschließen, denn in ihrer weiteren Argumentation verwiesen die Altstädter Bürger darauf, dass es eine ähnliche Möglichkeit, alte Rechte geltend zu machen, auch in der Regierungszeit König Ladislaus’ gegeben habe. Die zweite Quelle, welche eine Revision älterer Verschreibungen bereits unter Kaiser Sigismund bezeugt, ist noch wertvoller, da sie ins Jahr 1442 zurückreicht. Sie stammt aus dem sog. Slánský kopiář (Kopialbuch der Stadt Schlan/Slaný) aus den Jahren 1440– 144214. In einem dort überlieferten Brief an Aleš von Sternberg/Šternberk machen die Bürger von Schlan darauf aufmerksam, dass eine Urkunde, auf die sich der Koch Aleš Panošek berief, eben deshalb ungültig sei, weil er sie nicht unter Kaiser Sigismund zur Prüfung vorgelegt hatte15. Weitere Belege für die tatsächliche Überprüfung von Verschreibungen noch unter Sigismund fehlen allerdings. Dies erklärt sich wahrscheinlich auch daraus, dass für eine systematische Revision kaum genug Zeit blieb, da die Ansätze, die Ansprüche der Kammer ernsthaft durchzusetzen, in die Schlussphase von Sigismunds Herrschaft fallen. Eine neue Gelegenheit für eine Revision der königlichen Verschreibungen tat sich erst nach der Thronbesteigung des jungen Ladislaus Postumus im Jahr 1453 auf. Ladislaus bestätigte nach seiner Krönung im Oktober 1453 als erstes den Landesverweser Georg von Podiebrad in seinem Amt. Im Anschluss an die Krönung fand auch eine Sitzung des Landtages statt, welcher im November 1453 das Thema »Revision des Grundbesitzes« wieder auf die Agenda setzte16. Gleich zu Anfang des Landtagsbeschlusses wird auf den Umstand hingewiesen, dass es dem frisch gekrönten König 14 Státní oblastní archiv v Praze [Staatliches Gebietsarchiv Prag] – Stání okresní archiv Kladno [Staatliches Bezirksarchiv Kladno], Bestand Archiv města Slaný [Archiv der Stadt Schlan], ohne Sign., fol. 12. Vgl. Urbánek, České dějiny III/2 (wie Anm. 2) 783, Anm. 2. Zum Charakter und zur Überlieferung dieser Quelle siehe Jan Mareš, Vztahy mezi městem Slaným a Louny v polovině 15. století ve světle slánského kopiáře [Die Beziehungen zwischen den Städten Schlan und Laun in der Mitte des 15. Jahrhunderts im Licht des Schlaner Kopiars], in : Slánské rozhovory 2006, 14–17, hier 14, Anm. 1. 15 Die fragliche Urkunde für den Koch Aleš Panošek stammte noch von Wenzel IV. Sie wurde zusammen mit einer Urkunde über einen jährlichen Zins der Schlaner Bürger der Revisionskommission von 1453 vorgelegt, welche die Ansprüche als authentisch anerkannte. Vgl. AČ I, 495, Nr. 4. 16 Zur Aufzeichnung des Landtagsbeschlusses siehe AČ IV, 419–423, Nr. 4. Zur Sitzung des Landtages vgl. Urbánek, České dějiny III/2 (wie Anm. 2) 779–787.
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an einer Stütze in Form einer starken Krondomäne fehle, weshalb jedermann, welcher Kirchen- oder Kammergut ohne gültige Besitzurkunden innehabe, diese Güter in die Hände des Landesverwesers, also Georgs von Podiebrad, übergeben sollte. Ziel war es, alle königlichen Einnahmen aus Ämtern und Zinsen und alle Steuern wieder der ordnungsgemäßen Verwaltung des Landes zuzuführen. Der folgende zweite Artikel ist grundlegend für unsere Frage. Darin wird die vier Herren umfassende Kommission, bestehend aus Jaroslav Plichta von Žerotín, Johann von Kolowrat/Kolovraty und Weseritz/Bezdružice, Johann Čabelický von Soutice und Johann dem Älteren von Rabenstein/Rabštejn, ergänzt um den böhmischen Unterkämmerer Václav Valečovský, offiziell eingesetzt. Bis zum Georgstag des Folgejahres (23. April 1454) sollten zwei jeweils vierwöchige Sitzungsperioden dieser Kommission abgehalten werden. Ihre Aufgabe war es, sämtliche königlichen bzw. kaiserlichen Verschreibungen von Kirchen- und Kammergütern in Böhmen zu überprüfen. Alle Urkunden, welche der Kommission nicht fristgerecht vorgelegt wurden, sollten ihre Gültigkeit verlieren. Dadurch eröffnete sich der königlichen Kammer und den geistlichen Institu tionen ein vielversprechender Weg zur Wiedererlangung von Gütern. Gleichzeitig wurde bereits hier der Tatsache gedacht, dass über manche Güter mehrere Verschreibungen existieren, was immer wieder zu Streitigkeiten führte. Die Kommission sollte solche Streitigkeiten ein für alle Mal entscheiden, um so ein friedliches Zusammenleben im Land zu ermöglichen. Der Landtagsbeschluss sah auch eine Revision privatrechtlicher Verfügungen vor. Alle Urkunden, welche Vermögensübertragungen betrafen, die seit dem Tod König Wenzels IV. erfolgt waren, sollten parallel einer zweiten Kommission, bestehend aus Johann Hase von Hasenburg auf Kost, Friedrich von Dohna/Donín, Nikolaus von Lobkowitz/Lobkovice und Matěj Dubec von Dubeč vorgelegt werden. Nach ihrer Überprüfung sollten diese Urkunden in die Landtafeln eingelegt werden, um dadurch ihre Rechtsgültigkeit sicherzustellen. Wie bereits bemerkt wurde nahm die Revisionskommission ihre Tätigkeit am 23. November 1453 auf. Ab diesem Zeitpunkt begannen die Inhaber einschlägiger Urkunden, ihr entweder persönlich oder durch einen bevollmächtigten Vertreter ihre Schriftstücke zur Überprüfung vorzulegen17. Die einzelnen Dokumente wurden systematisch und relativ ausführlich in Augenschein genommen. In dem erhaltenen Protokoll wird meist verzeichnet, wer die Urkunde vorlegte. Dann folgt ein knappes Regest, also welcher Herrscher den Pfandbrief ausgestellt hatte, wer der Empfänger war und was genau ihm um welchen Betrag verpfändet wurde. Manchmal wurden auch weitere Bestimmungen der Urkunde erfasst, welche die Pfand- oder Nutzungsbedingungen regelten. Bis auf wenige Ausnahmen wird auch das vollständige Ausstellungsdatum angegeben. 17 Ausführlich zur Arbeitsweise der Kommission Beránek, Beránková, Zur Tätigkeit (wie Anm. 2).
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Die Kommission überprüfte sorgfältig Beglaubigungsmittel und äußere Merkmale. Bei Königsurkunden wurde beinahe in allen Fällen der Typ des Siegels und manchmal auch der Beschreibstoff erfasst. Bei Zweifeln an der Authentizität der Urkunde verzeichneten die Schreiber auch weitere Informationen (z. B. »es scheint uns, dass das Wachs [auf dem Siegel] neu ist und es gibt auf der Urkunde keine Kanzleivermerke« oder »überprüft diese Urkunde sorgfältig, ob sie tatsächlich aus der königlichen Kanzlei stammt«). Außerdem suchte die Kommission die ihr vorgelegten Urkunden in den königlichen Registerbüchern, wenn auch bloß in jenen Bänden, die ihr zur Verfügung standen. So wurde auch vermerkt, ob eine vorgelegte Urkunde in den Registern gefunden werden konnte. Manchmal wurde sogar ein Textvergleich zwischen dem Original und der Kopie angestellt und gelegentlich begegnet tatsächlich der Hinweis, dass sich das Original in einzelnen Bestimmungen oder der Pfandsumme vom Text im Registerbuch unterschied. Das reine Vorlegen der Urkunden reichte jedoch nicht aus. Falls eine Pfandurkunde nicht explizit auf den Namen ihres Inhabers ausgestellt war, musste deren rechtmäßiger Erwerb nachgewiesen werden. Dieser Nachweis konnte auf zwei Arten erfolgen : Entweder es handelte sich beim Inhaber der Urkunde um einen direkten Nachkommen des ursprünglichen Empfängers (in diesem Fall musste aber in der Urkunde ausdrücklich festgehalten sein, dass die Verpfändung auch die Erben des Pfandnehmers umfasste), oder der Inhaber konnte eine Zessionsurkunde (dobrá vuole) vorlegen, also eine Urkunde, die den rechtmäßigen Erwerb der Pfandurkunde bezeugte. Manchmal begegnen ganze Serien von Zessionsurkunden, welche die sukzessive Weitergabe der Pfandurkunde von einem Pfandinhaber zum nächsten dokumentieren. Die Einträge enthalten häufig auch Bemerkungen darüber, ob der Inhaber der Urkunde die Bestimmungen der Verpfändung respektierte (also z. B. Untertanen nicht mit unangemessenen Abgaben zu belasten, die ordentlichen Abgaben an die königliche Kammer zu leisten u. ä.). Falls die Verpfändung als Gegenleistung für gewisse Dienste erfolgt war, versuchten die Kommissare festzustellen, ob diese Dienste tatsächlich geleistet wurden bzw. geleistet worden waren. Zu den Urkunden wurde in Übereinstimmung mit den Landtagsbeschlüssen auch verzeichnet, ob es Beschwerden oder Streitigkeiten über die jeweilige Verpfändung gab. Am häufigsten waren Beschwerden des Inhabers einer Urkunde, dass jemand anderer das Gut oder die daraus fließenden Einkünfte innehatte. Manchmal meldeten sich umgekehrt auch Personen, die der Meinung waren, ihnen stehe eine vorgelegte Pfandurkunde zu, da sie ein besseres Recht auf die Urkunde und das damit verpfändete Gut hätten, als deren gegenwärtiger Inhaber. Kurze Notizen zu den Regesten, etwa, dass jemand eine von ihm geforderte Zessionsurkunde erst bei der dritten Sitzung vorgelegt habe, belegen, dass es innerhalb der Sitzungsperioden einzelne Sitzungen gab, bei denen die Kommissare jeweils gestützt auf ihre Protokolle arbeiteten.
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Die ursprünglichen Protokolle der Kommissionssitzungen sind nicht erhalten geblieben. Wir verfügen lediglich über zwei späte Abschriften. Mittels einer gründlichen Analyse konnten Karel und Věra Beránek viele Details hinsichtlich der Arbeitsweise der Kommission und ihrer Schreiber aufdecken. Dank der Beobachtung, dass die Kommissare die Urkunden in einzelnen Faszikeln verzeichneten, welche mit Siglen aus je einer Zahl und einem Buchstaben versehen waren (z. B. 6B), und sie dieselben Siglen auch auf den Presseln der vorgelegten Originalurkunden notierten, konnten Karel und Věra Beránek nachweisen, dass die erhaltenen Abschriften nicht vollständig sind18. Beide Abschriften der Protokolle der Revisionskommission stammen aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und sind offenbar entstanden, nachdem Ferdinand I. den böhmischen Thron bestiegen und 1527 die sog. Böhmische Kammer gegründet hatte19. Sie unterscheiden sich nur wenig voneinander. Aus der ersten Sitzungsperiode sind 81 Urkundenregesten enthalten, aus der zweiten, die am 2. Februar 1454 begann, gibt es Abschriften von 650 Schriftstücken20. Es gibt jedoch noch eine Quelle, welche einen Auszug aus der Tätigkeit der Revisionskommission bietet, und die bislang der Aufmerksamkeit der Forschung entgangen ist. Dabei handelt es sich um einen Aktenfaszikel mit dem Titel »Auszug aus Stiftungen und Majestäts[briefen]«, welcher 1549 im Kloster Sedletz zusammengestellt wurde21. Josef Nuhlíček führte diesen Faszikel in einem anderen Zusammenhang in die Forschung ein, ohne aber auf jenen Teil einzugehen, welcher die Auszüge aus den Protokollen der Revisionskommission enthält22. Außer einem Verzeichnis der Sedletzer Güter auf Basis der alten Schenkungsurkunden des Klosters umfasst der Faszikel auch Abschriften jener Einträge in den Protokollen der Revisionskommission, welche die Güter des Klosters betreffen. Ihre Reihenfolge stimmt mit der Abfolge der Einträge in den beiden bekannten Abschriften überein. Der Sedletzer »Auszug« enthält darüber hinaus auch eine Passage, die in den beiden be18 Vgl. die Konkordanz bei Beránek, Beránková, Zur Tätigkeit (wie Anm. 2) 193f. 19 Národní archiv [Nationalarchiv Prag], Bestand Česká dvorská kancelář [Böhmische Hofkanzlei], Sign. RKP 2450, Buch Nr. 148, und Národní knihovna České republiky [Nationalbibliothek der Tschechischen Republik Prag], Hds. UK XVII A 15. 20 Diese Zahlen korrespondieren nicht mit der Edition Palackýs (siehe Anm. 3), die 73 bzw. 611 Nummern ausweist. Die Diskrepanz ergibt sich daraus, dass Palacký manchmal mehrere Urkunden, welche dasselbe Gut betreffen, unter einer Nummer zusammenzog. Insgesamt gibt es aber noch viel mehr Urkunden, da in unserer Zählung die Zessionsurkunden, welche die Weitergabe von einzelnen Pfandurkunden dokumentieren, nicht separat gezählt werden. 21 Národní archiv, Bestand Stará manipulace [Alte Manipulation], Inv. Nr. 580, Kart. 337, Sign. C 104/6/1. 22 Josef Nuhlíček, Sedlecký klášter a jeho statky od válek husitských do zrušení r. 1783. I. část. 1420–1564 [Das Kloster Sedletz und seine Güter vom Hussitenkrieg bis zur Aufhebung des Klosters im Jahr 1783. Teil I. 1420–1564], in : Středočeský sborník historický 9 (1974) 163–182.
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kannten Handschriften weggelassen wurde23. Zudem gibt er im Schlussteil Einträge zu acht weiteren Urkunden, die in den besagten Handschriften fehlen24. Der Faszikel dokumentiert also einen verlorenen Teil der Protokolle der Revisionskommission, dessen Existenz Karel und Věra Beránek bereits anhand der Analyse der Siglen auf den Presseln der im Nationalarchiv verwahrten Originalurkunden wahrscheinlich gemacht hatten. Allem Anschein nach arbeitete also der Verfasser des Sedletzer »Auszugs« nicht mit den beiden bekannten Abschriften der Protokolle, sondern ihm stand das vollständige Original zur Verfügung. Obwohl die Kommission insbesondere jene Verschreibungen von Krongütern überprüfen sollte, zu denen es in den Revolutionsjahren gekommen war, finden wir in den Protokollen auch viele andere Urkunden. Am zahlreichsten sind naturgemäß die Pfand urkunden Sigismunds über Kirchen- und Kammergüter aus den Jahren 1420 bis 1437. Es finden sich aber auch viele ältere Verschreibungen aus der Zeit vor der Hussitischen Revolution, namentlich von Wenzel IV., Karl IV. und sogar von dessen Vater, Johann dem Blinden. In äußerst seltenen Fällen wurden der Kommission auch Urkunden der přemyslidischen Könige vorgelegt, d. h. es gibt sogar Schriftstücke vom Ende des 13. Jahrhunderts. Andererseits beinhalten die Einträge auch Urkunden von Sigismunds Schwiegersohn und Nachfolger auf dem böhmischen Thron, Albrecht von Österreich, und einige Urkunden anderer Aussteller, vor allem von Repräsentanten verschiedener geistlicher Institutionen. Es ist zudem lehrreich zu verfolgen, wie die Zahl anderer Aussteller allmählich zunimmt. In der ersten Sitzungsperiode stellten Urkunden Sigismunds ganze 85 % der insgesamt vorgelegten Schriftstücke. In der zweiten Sitzungsperiode ab Lichtmess 1454 überwiegen zunächst neuerlich die Urkunden Sigismunds, und nur ab und zu erscheinen Urkunden seines Bruders Wenzel. Etwa ab der Mitte der überlieferten Handschriften begegnen dann mehr und mehr Urkunden anderer Aussteller. Die ursprüngliche Absicht, nur die königlichen Verschreibungen der Revolutionsjahre zu überprüfen, wurde offenbar allmählich fallengelassen, und immer mehr privatrechtliche Verfügungen fanden ihren Weg vor die Kommission. Es scheint, dass die Revisionskommission Agenden der parallel eingesetzten Kommission für die privatrechtlichen Verfügungen an sich zog. Diese sollte eigentlich zeitgleich mit der Revisionskommission tagen, über deren Tätigkeit liegt uns aber keine den Revisionsprotokollen vergleichbare Quelle vor.
23 Es handelt sich um eine Passage, die unmittelbar an AČ II, 205, Nr. 451, anknüpft und weder in der Edition, noch in den zugrunde liegenden Handschriften dokumentiert ist. 24 Einschließlich einer nur aus diesem Zusammenhang bekannten Urkunde Sigismunds von Luxemburg, siehe Bárta, Zástavní listiny (wie Anm. 4) 177, Nr. 142a.
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andere böhmischen Könige und Königinnen sowie Angehörige des luxemburgischen Hauses*
Wenzel IV.
Sigismund von Luxemburg
kirchliche Institutionen
Städte
17 Adelige
Grafik 1: Urkunden, die der Revisionskommission zur Überprüfung vorgelegt wurden, nach Ausstellern geordnet. * Karl IV. (28), Johann der Blinde (10), Albrecht II. (6), böhmische Königinnen (6), diverse Angehörige des luxemburgischen Hauses (4), Wenzel II. (3), Ladislaus Postumus (1).
Die Revisionskommission hatte wohl ursprünglich nicht damit gerechnet, auch Urkunden Wenzels IV. zur Überprüfung vorgelegt zu bekommen. Darauf weisen etwa einige Notizen zu den ersten Urkunden Wenzels IV. hin, die angeben, dass die Kommissare die Registerbücher König Wenzels nicht vorliegen hatten25. Deshalb verzichtete man im Unterschied zur Praxis bei den Urkunden Sigismunds vollkommen darauf, anzugeben, ob eine vorgelegte Wenzel-Urkunde in den Registern gefunden werden konnte oder nicht. Dessen ungeachtet stellen die Urkunden Wenzels IV. immerhin ein ganzes Fünftel der Einträge im erhaltenen Teil der Protokolle der Revisionskommission. Insgesamt handelt es sich um 145 Stück, wobei 50 nicht, und fünf augenscheinlich falsch datiert sind, d. h. das Ausstellungsjahr liegt außerhalb der Regierung Wenzels. In der ersten Sitzungsperiode wurden 10 Wenzel-Urkunden erfasst, alle übrigen stammen aus der zweiten Sitzungsperiode. Hinsichtlich des Inhalts findet man zunächst ausschließlich Pfand urkunden oder mit Verpfändungen zusammenhängende Mandate und Schuldbriefe. Erst später tauchen auch andere Urkundentypen auf, vor allem Konfirmationsurkunden. Der Großteil betrifft verständlicherweise verschiedene Arten von Besitztransaktionen. Die folgende Grafik zeigt das Verhältnis zwischen den einzelnen Urkundentypen, die ich im Anschluss näher behandeln werde.
25 AČ I, 495, Nr. 3, 4 ; 501f., Nr. 38.
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Verpfändungen und damit verbundene Urkunden (68)
Schuldbriefe (9)
48
68
Lehenbriefe (11)
Schenkungen und andere Veräußerungen (9) 9 11
9
Konfirmationen, Bewilligungen, Freiheits‐ oder Privilegienerteilungen (48)
Grafik 2: Die Urkunden Wenzels IV. in den Protokollen der Revisionskommission, nach Urkundentyp geordnet.
Die erste, umfangreiche Gruppe umfasst verschiedene Typen von Pfandurkunden und damit verbundene Schriftstücke. Von insgesamt 68 Stück entfallen 60 auf Verpfändungen (54 Regesten enthalten das Verb verpfänden, fünf die Wendung Verschreibung auf, was ebenfalls auf einen Pfandbrief hinweist, und ein Eintrag wird als Bestätigung bezeichnet, welche mit der Erhöhung einer Pfandsumme verbunden war). Weitere drei Stücke betreffen die Auslösung verpfändeter Güter, wobei einmal explizit angegeben wird, dass die ausgelösten Güter sofort wieder für eine höhere Summe an einen neuen Pfandnehmer verpfändet wurden. Hierher gehören schließlich auch fünf Mandate, welche unmittelbar im Zusammenhang mit Pfandurkunden entstanden und den Empfängern befahlen, die in den Urkunden festgesetzten Pfandsummen zu bezahlen. Was den Charakter der Pfandobjekte betrifft, gibt es ein leichtes Übergewicht von direkten Verpfändungen von Kammergütern gegenüber Pfandbriefen über Steuern und andere königliche Einnahmen. Völlig allein steht ein Beleg für die direkte Verpfändung von Kirchengut, und zwar die Verpfändung des der Melniker Propstei gehörigen Dorfes Třemošná an Peter von Chrast26. Es handelt sich um den einzigen erhaltenen Beleg für die direkte Verpfändung von Kirchengut aus der Zeit Wenzels IV. Paradoxerweise stützt diese Quelle allerdings gleichzeitig die These, dass die direkte Verpfändung von Kir-
26 AČ II, 448f., Nr. 518.
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chengut erst unter Sigismund aufkam27, da gerade dieser Eintrag – und nur er alleine – in den Protokollen der Revisionskommission mit der Anmerkung versehen wurde, dass es zweifelhaft sei, ob König Wenzel tatsächlich Kirchengut veräußert habe28. In der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde diese Tatsache also zumindest kritisch hinterfragt. Nicht ganz eindeutig einem bestimmten Urkundentyp zuordnen lässt sich eine Gruppe von Schenkungen und anderen Besitzveräußerungen. Außer zwei expliziten Schenkungsurkunden gehören hierher auch einige Urkunden unklaren Charakters. Diese Einträge werden eingeleitet mit Wendungen vom Typ »[Die Urkunde] bezeugt« oder »Verschreibung auf«, gefolgt von der Aufzählung bestimmter Ländereien oder Güter. Manchmal geht es ganz offenkundig etwa um die Schenkung eines Heimfalls, in anderen Fällen ist die Art der Besitzübertragung weniger klar. Das Fehlen einer Pfandsumme deutet darauf hin, dass es sich eher nicht um Verpfändungen handelt, aufgrund der Knappheit der Einträge kann die Frage aber kaum endgültig entschieden werden. Klarer ist die Situation hingegen bei jenen Einträgen, die Schuldbriefe und Lehen betreffen. Gerade die Schuldbriefe enthalten in manchen Fällen viele interessante Details, besonders wenn sie mit ausführlichen Abrechnungen über geleistete Dienste einhergehen. Ins Auge sticht hier besonders eine Gruppe von Urkunden für Peter von Svojšín, den Kuttenberger Münzmeister29. Die letzte Gruppe von Urkunden ist relativ uneinheitlich, umfasst aber Großteils Urkunden über diverse Formen des Besitztransfers. Am zahlreichsten sind Bestätigungsurkunden in Verbindung mit der Bewilligung von Güterkäufen bzw. -verkäufen oder dem Tausch von Gütern (20 Stück). Sieben weitere Wenzel-Urkunden betreffen die Bestätigung älteren Besitzes, in manchen Fällen auch verbunden mit der Konfirmation inserierter Urkunden. 15 Urkunden verleihen verschiedenste Vorrechte und Freiheiten (Befreiung von Steuern oder Abgaben, Verfügungsfreiheit über einen bestimmten Besitz, königliche Bewilligungen für ein Bündnis, die Einrichtung eines Zolles oder den Edelmetallbergbau, usw.). Schließlich gibt es sechs Konfirmationsurkunden verschiedenen Inhalts, deren interessanteste die beiden Bestätigungen für Beneš von Wartenberg sind, die dessen durch einen Brand vernichtete Lehenbriefe ersetzen sollten30. Bei der Auswertung der in den Protokollen der Revisionskommission verzeichneten Urkunden Wenzels IV. zeigt sich, dass deren überwiegende Mehrheit Besitztitel betrifft, 27 Vgl. Bárta, Zástavní listiny (wie Anm. 4). 28 AČ II, 448f., Nr. 518 : »Račte se na to ptáti, zapisowalli jest král Wáclav w sumě dluhu peněžitého kněžská zboží k odcizení od nich, čili nic.« [Fragt, ob König Wenzel auch geistliche Güter für eine Schuldsumme verschrieben und damit veräußert hat oder nicht]. Die Verpfändung von Třemošná würde eine eigene Fallstudie verdienen. 29 AČ II, 186, Nr. 325–327 ; 187, Nr. 332. 30 AČ II, 455, Nr. 548e, 548f.
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so wie es der Zielsetzung der Kommission entsprach. Verglichen mit den Verpfändungen Sigismunds gibt es nur wenige Fälle, in denen es zu Besitzstreitigkeiten kam (nur in fünf Fällen ist explizit von solchen Auseinandersetzungen die Rede). Die erhaltenen Protokolle zeigen zudem, dass sich die Tätigkeit der Revisionskommission allmählich ausweitete. Die Kommission wuchs über die ihr ursprünglich gesetzte Aufgabe hinaus, sodass in den Protokollen neben den Urkunden Sigismunds auch immer mehr Urkunden anderer Aussteller, so auch Wenzels IV. begegnen. Während die erste Sitzungsperiode kein besonderes Echo hervorrief, wurde während der zweiten Sitzungsperiode eine viel höhere Zahl von Urkunden vorgelegt. Gleichzeitig kam es offenbar zu einer Vermischung der Tätigkeit der Revisionskommission mit den Aufgaben jener Kommission, die privatrechtliche Verfügungen beglaubigen sollte. Was die Urkunden Wenzels betrifft, ist ein vergleichsweise großer Teil derselben Urkunden im Original erhalten. Es wäre daher möglich, die Regesten in den Protokollen mit deren Vorlagen zu vergleichen. Es kann zudem nicht ausgeschlossen werden, dass sich unter den Aufzeichnungen der Revisionskommission unbekannte oder von der Forschung bislang übersehene WenzelUrkunden finden. Deshalb sollten die in den Protokollen der Revisionskommission überlieferten Urkunden Wenzels IV. von den Forschern, die sich mit diesem Herrscher oder dessen Urkunden beschäftigen, nicht länger übergangen werden, war doch Jaromír Čelakovský der bislang Einzige, der bei seiner Bearbeitung der Urkunden für die böhmischen Städte für den Codex iuris municipalis dieses Material systematisch für die Zeit Wenzels IV. auswertete31.
31 Codex iuris municipalis regni Bohemiae. Sbírka pramenů práva městského království českého [Quellensammlung der städtischen Rechte im Königreich Böhmen] I–IV/3, hg. v. Jaromír Čelakovský, Gustav Friedrich, Antonín Haas (Praha 1886–1961). Diese Studie wurde von der Tschechischen Forschungsgemeinschaft (GA ČR) im Rahmen des Projekts EXPRO 19-28415X »From Performativity to Institutionalization : Handling Conflict in the Late Middle Ages (Strategies, Agents, Communication)« gefördert.
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… ain hochwirdig gelid des heiligen reichs … oder: Wer darf zu Recht sitzen über die Reichslandvogtei in Schwaben?
Am 11. Dezember 1453 erschienen drei Anwälte Herzog Albrechts III. von BayernMünchen vor dem kaiserlichen Kammergericht in Wiener Neustadt1. Sie waren beauftragt, die Ansprüche des Wittelsbachers auf die Reichslandvogtei in Schwaben zu verteidigen2. Der bayerische Herzog selbst hatte um diesen Rechttag gebeten3. Kaiser Friedrich III. nämlich hatte 1447 und noch einmal 1452 seinem Bruder Herzog Albrecht VI. von Österreich die Auslösung der verpfändeten Landvogtei gestattet4. Der bayerische Herzog aber sah sich ebenfalls zur Pfandlösung berechtigt5. 1434 hatte Kaiser Sigismund Albrechts Onkel Wilhelm von Bayern die Reichslandvogtei für dessen Dienste als Statthalter auf dem Basler Konzil verschrieben6. Die Wittelsbacher hatten zwar bislang das Pfand nicht ausgelöst, aber Albrecht III. beharrte auf den geerbten Anrechten. Im Sommer endlich war die Ladung vor das Kammergericht ausgegangen mit der Zusage, der Kaiser wolle ihm in den sachen ergen lassen […] was recht ist7. Doch die Anwälte Albrechts III. erlebten eine Überraschung : Am Ende der unter persönlichem Vorsitz des Kaisers geführten Verhandlung kamen die Gerichtsbeisitzer zu dem Urteil, 1 Die nachfolgenden Ausführungen (einschließlich der Quellenzitate) folgen, sofern nicht anders angegeben, dem Kammergerichtsurteil Friedrichs III. für Herzog Albrecht III. von Bayern-München von 1453 Dezember 11, BayHStA, Kurbayern Urkunden, Nr. 13565. Die Auseinandersetzung mit diesem Urteil ist eine, wenngleich bescheidene, Antwort auf eine Anregung Karel Hruzas, der mich unter Hinweis auf die grundlegende Arbeit von Hans-Georg Hofacker, Die schwäbischen Reichslandvogteien im späten Mittelalter (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit 8, Stuttgart 1980) darauf aufmerksam machte, dass eine daran anschließende Untersuchung für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts ein lohnenswertes Unterfangen wäre. – Abkürzungen : BayHStA = Bayerisches Hauptstaatsarchiv München ; Regg.F.III. 13 = Regesten Kaiser Friedrichs III. (1440–1493). Nach Archiven und Bibliotheken geordnet. Heft 13 : Die Urkunden und Briefe des Österreichischen Staatsarchivs in Wien, Abt. Haus-, Hof- und Staatsarchiv : Allgemeine Urkundenreihe, Familienurkunden und Abschriftensammlungen (1447–1457), bearb. von Paul Herold und Kornelia Holzner-Tobisch (Wien–Köln–Weimar 2001). 2 BayHStA, Kurbayern Urkunden, Nr. 13564. 3 Das ergibt sich aus der Vollmacht für seine Anwälte, s. Anm. 2. 4 Regg.F.III. 13, Nr. 1 und 246. 5 Zu den im Folgenden skizzierten Bemühungen Albrechts III. um die Reichslandvogtei s. Wilhelm Baum, Die Habsburger in den Vorlanden 1386–1486. Krise und Höhepunkt der habsburgischen Machtstellung in Schwaben am Ausgang des Mittelalters (Wien–Köln–Weimar 1993) 297f. und 333. 6 Urkunde von 1434 März 17, BayHStA, Kurbayern Urkunden, Nr. 13541. 7 Kaiserliche Ladung von 1453 Juli 23, überliefert im BayHStA, Kurbayern Urkunden, Nr. 13563.
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dass sie zu rechtlichen Entscheidungen in Angelegenheit der schwäbischen Reichslandvogtei nicht befugt seien. Die Sache müsse vor Kaiser, Kurfürsten und Fürsten verhandelt werden. Komplexität und Brisanz des Kammergerichtsverfahrens bestanden unübersehbar darin, dass Friedrich III. als Kaiser Anrechte auf Reichsgut an seine eigene Dynastie vergeben hatte8 und nun in seiner richterlichen Funktion von einem Dritten zur Geltendmachung der gleichen Anrechte auf dieselbe Sache angerufen wurde. Er war Partei und Richter zugleich. Es war nicht das erste Mal, dass Friedrichs Begünstigung des eigenen Hauses Konflikt provozierte. 1447 hatte er die Reichsstadt Rheinfelden an die eigene Dynastie verpfändet9. Die Stadt erkannte dies jedoch nicht an mit der Begründung, der aus dem Haus Österreich stammende König habe nicht die Macht, eine solche Entscheidung ohne Zustimmung der Kurfürsten zu treffen. Der Streit wurde schließlich zur Entscheidung an den Erzbischof von Mainz und den Pfalzgrafen bei Rhein delegiert. Im Streit mit dem Wittelsbacher um die Reichslandvogtei aber war es der habsburgische Kaiser selbst, der auf der Mitwirkung von Kurfürsten und Fürsten bei der Urteilsfindung bestand. Die Forderung wirkt kontraintuitiv. Es verwundert, dass Friedrich III. an diesem 11. Dezember die Ansprüche des Wittelsbachers nicht kraft seiner Autorität als oberster Richter10 einfach abwies (wie übrigens von der Forschung bislang angenommen11). Das Kammergerichtsverfahren als bloßes Instrument zur Durchsetzung habsburgischer Hausmachtinteressen deuten zu wollen12, greift also zu kurz. Was aber bezweckte der Kaiser mit der Forderung nach einem Fürstengericht ? War es wirklich nur die ihm von der Gegenpartei vorgeworfene Prozessverschleppung ? Anlage des Verfahrens, Argumentationsführung der kaiserlichen Partei und das von dieser vorgegebene Urteil lassen vielmehr erkennen, dass das Motiv Friedrichs III. weniger in einer dem Prozess unmittelbar folgenden praktischen politischen bzw. juristischen Konsequenz lag, sondern vielmehr in der mit dem Verfahren verbundenen Möglichkeit, dem bayerischen Herzog seine Herrschafts- und Rechtsvorstellung zu kommunizieren und zu 8 Die Verpfändung von Reichsgut »für offensichtlich dynastische Zwecke« war eine durchaus gängige Praxis römisch-deutscher Könige, s. Götz Landwehr, Die Verpfändung der deutschen Reichsstädte im Mittelalter (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 5, Köln–Graz 1967) 157–160. 9 Ebd. 185. 10 Zur Ausdeutung dieser den römisch-deutschen Königen von der Forschung zugewiesenen, aber erst unter Friedrich III. in Autorität und Funktion voll ausgefüllten Rolle s. zuletzt Bernhard Diestelkamp, Der deutsche König als oberster Richter im Hoch- und Spätmittelalter. Eine neue Positionsbestimmung, in : Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 136 (2019) 94–129. 11 Davon geht Baum, Habsburger in den Vorlanden (wie Anm. 5) 337, aus, der zugleich konstatiert, Herzog Albrecht III. habe im Jahr 1454 versucht, den Streitfall vor ein Fürstengericht zu bringen, wofür er allerdings einen Beleg schuldig bleibt. 12 Ebd. 338.
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demonstrieren. Die folgende Untersuchung soll zeigen : Das Kammergerichtsverfahren Friedrichs III. gegen Albrecht III. von Bayern-München war ein Akt kaiserlicher Selbstbehauptung13. Mit ihrer Auseinandersetzung standen Friedrich III. und Albrecht III. in einer langen Tradition der Konkurrenz ihrer Häuser um die schwäbische Reichslandvogtei14. Diese umfasste ein ganzes Bündel attraktiver Rechte, darunter Klostervogtei, die hohe Gerichtsbarkeit »vom Allgäu und vom Bodensee bis ins nördliche Oberschwaben« sowie weitläufige Geleitrechte. Für die Habsburger bot sich dieses »Relikt aus vorterritorialer Zeit« als Verbindung ihrer Besitzungen in Vorarlberg und Schwaben an, für die Wittelsbacher war sie »das Vorfeld vor ihrem Hegemonialraum zwischen Iller und Lech«. Beide Dynastien hatten bis zum Ende des 14. Jahrhunderts im Wechsel von der seit Karl IV. fortwährend neu aufgelegten Verpfändung der Landvogtei durch die römischdeutschen Könige profitiert. Zuletzt aber war diese 1415 von Kaiser Sigismund für wenig Geld an die mindermächtigen Truchsesse von Waldburg versetzt worden, sie hatte zunehmend an Bedeutung verloren15. Die Ernennung seines Bruders zum Reichslandvogt im Jahr 1452 dürfte eine direkte Antwort Friedrichs III. auf einen neuerlichen Vorstoß Herzog Albrechts III. von Bayern zur Anerkennung seiner Rechte auf die Landvogtei gewesen sein16. Deren Verpfändung an den österreichischen Herzog erfolgte »unter bewußter Wiederaufnahme der an Wilhelm verliehenen Rechte«17. Albrecht VI. bekam zudem Anfang 1453 von Friedrich III. die Herrschaft über die habsburgischen Vorlande auf Lebenszeit und mit der neuerli-
13 Die These gründet wesentlich auf Paul-Joachims Heinigs Charakterisierung Friedrichs III. als eines Herrschers mit einem ausgeprägten Majestätsbewusstsein und einem dezidiert monarchischen Herrschaftsverständnis, s. Paul-Joachim Heinig, Monarchismus und Monarchisten am Hof Friedrichs III., in : König und Kanzlist, Kaiser und Papst. Friedrich III. und Enea Silvio Piccolomini in Wiener Neustadt, hg. v. Franz Fuchs, Paul-Joachim Heinig, Martin Wagendorfer (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J.F. Böhmer. Regesta Imperii 32, Wien–Köln–Weimar 2012) 151– 179. 14 Der folgende Absatz nach Hans-Georg Hofacker, Landvogteien in Schwaben, publiziert am 21.01.2015 ; in : Historisches Lexikon Bayerns, URL : http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Landvogteien_in_Schwaben [letzter Zugriff : 02.12.2020], vgl. dazu grundlegend ders., Reichslandvogteien (wie Anm. 1). 15 Ernst Schubert, König und Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 63, Göttingen 1979) 199. 16 Albrecht III. hatte zuletzt im April 1452 versucht, sich die Rechte seines Onkels an der Landvogtei durch Friedrich III. anerkennen zu lassen, woraufhin dieser im August seinem Bruder erneut die Auslösung der Reichslandvogtei erlaubte, s. Baum, Habsburger in den Vorlanden (wie Anm. 5) 333. 17 Der Reichslandvogt war aufgrund der von Sigismund konkretisierten Kompetenzen »als Träger der königlichen Friedensgewalt […] Richter über alle zwischenständischen Streitigkeiten in Schwaben geworden«, s. Hofacker, Reichslandvogteien (wie Anm. 1) 309.
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chen Bestätigung der österreichischen Freiheitsbriefe (Privilegium maius) das Recht zugesprochen, fortan den Titel eines Erzherzoges zu führen18. Friedrich III. hatte für diese vorländisch akzentuierte Hausmachtpolitik der Jahre 1452/53 die Unterstützung der (Kur-)Fürsten gesucht. Das Recht zur Auslösung der Reichslandvogtei hatte er seinem Bruder nach Rat der Fürsten erteilt19, was üblicher spätmittelalterlicher Praxis bei Verpfändung von Reichsgut durch den König entsprach20. Für die Bestätigung der österreichischen Freiheitsbriefe suchte Friedrich III. ebenfalls die Zustimmung der (Kur-)Fürsten21. Schließlich war auch die Mitwirkung der Kurfürsten und Fürsten an der Lösung des Konflikts zwischen dem Habsburger und dem Wittelsbacher um die Reichslandvogtei, das ist dem Kammergerichtsprotokoll zu entnehmen, in Abstimmung mit einer mercklich anczal geistlicher und weltlicher Fürsten beschlossen und Albrecht III. zur Kenntnis gebracht worden. Doch dieser drängte – sicherlich sah er aufgrund der politischen Stärkung seines Konkurrenten Albrechts VI. akuten Handlungsbedarf – auf ein Verfahren vor dem Kammergericht, von dem er sich offensichtlich eine rasche Entscheidung versprach. Mit seiner Klage vor dem Kaiser aber überging er den von diesem im Konsens mit den Fürsten vorgegebenen Modus der Konfliktlösung. Dass der bayerische Herzog aus aygnem willen den Rechtsweg gegen ihn beschritt, empfand der Kaiser als Affront. Und diesen retournierte er, indem er das Kammergerichtsverfahren zu einem Akt der Demütigung des Wittelsbachers werden ließ. Als Beisitzer des Verfahrens hatte Friedrich III., abgesehen vom Bischof von Siena, Enea Silvio Piccolomini22, und dem Abt des Neuklosters zu Wiener Neustadt, ausschließlich Räte gewählt, die aus in (Inner-)Österreich ansässigen Herrengeschlechtern oder rittermäßigen Familien stammten23. Dies war ein 18 Regg.F.III. 13, Nr. 259 bzw. Nr. 258, s. dazu auch Konstantin Moritz A. Langmaier, Erzherzog Albrecht VI. von Österreich (1418–1463). Ein Fürst im Spannungsfeld von Dynastie, Regionen und Reich (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J.F. Böhmer, Regesta Imperii 38, Köln–Weimar–Wien 2015) 339–343. 19 Regg.F.III. 13, Nr. 246. 20 Landwehr, Verpfändung (wie Anm. 8) 171–207 beschreibt die Mitwirkung der (Kur-)Fürsten an Pfandgeschäften des Königs als üblich, aber verfassungsmäßig nicht zwingend notwendig. 21 Daniel Luger, Daz… unser gedechtnuß dest lennger und seligclicher gehalten werde. Die Bestätigung des Privilegium maius durch Kaiser Friedrich III., in : Privilegium maius. Autopsie, Kontext und Karriere der Fälschungen Rudolfs IV. von Österreich, hrsg. von Thomas Just u. a., 245–258, hier 255f. 22 Zum Herrscherdienst des späteren Papst Pius II. s. Paul-Joachim Heinig, Kaiser Friedrich III. (1440– 1493). Hof, Regierung und Politik 1–3 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J.F. Böhmer. Regesta Imperii 17, Köln–Weimar–Wien 1997) 531. 23 Das waren Ulrich von Starhemberg (ebd. 252f.), Jörg von Volkersdorf (ebd. 272f.), Jörg von Saurau (ebd. 197), Ulrich Fladnitzer (ebd. 202f.), Sigmund Weißpriacher (ebd. 223), Leopold Aspach (ebd. 192–194), Hans Neidegger (ebd. 258f.), der Vizedom des Stifts Bamberg in Kärnten, Hans Stubner, sowie Hans Hautzinger, Walter Zebinger und Bernhard Praun.
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durchaus übliches Kammergerichtsgremium24, aber natürlich das Gegenteil von der ausschließlich (kur-)fürstlichen Besetzung, die Friedrich III. selbst forderte. Er lud den Wittelsbacher also ganz bewusst vor seine mindermächtigen Räte und ließ ihn durch deren Urteil über ihre Nichtzuständigkeit ins offene Messer laufen. Selbst das Ersuchen der bayerischen Anwälte um eine Terminierung des Fürstengerichts, das sie schließlich akzeptierten, wurde abschlägig beschieden. Die Notwendigkeit der Weisung des Streits an ein Fürstengericht leitete der kaiserliche Anwalt aus dem überkommenen Vorrecht der Fürsten her, sich ausschließlich vor Standesgenossen rechtfertigen zu müssen. In der Forschung allerdings ist strittig, ob bzw. ab wann es im Spätmittelalter ein solches Fürstengericht als feste praktische Verfassungsgröße gegeben hat25. Zwar gab es wohl eine Tendenz, dass im Fall von Streitigkeiten, welche weltliche Fürsten betrafen, »in bestimmten causis maximis«26, also wenn über »wichtige Interessen der Kurfürsten zu entscheiden war, offensichtlich großer Wert darauf gelegt wurde, daß sich die Urteiler nur aus Kurfürsten und Fürsten zusammensetzten«, aber bis in die Zeit König Sigismunds gab es »keine einheitliche Linie« in der Prozesspraxis27. Üblich war lediglich, Streitfälle, bei denen der König selbst als Partei betroffen war, an Reichsfürsten zu delegieren, die jedoch ohne Beteiligung des Königs verhandelten und urteilten.28 In der Regierungszeit Friedrichs III. nun scheint sich eine Wende in der rechtlichen Behandlung von »Fürstensachen« abzuzeichnen, deren Ausgangspunkt Krieger im Prozess Kaiser Sigismunds gegen Herzog Ludwig von Bayern-Ingolstadt im Jahr 1434 ausmacht29. Im Rahmen dieses Prozesses setzte sich das Hofgericht konkret mit den bis dahin »noch weitgehend offenen Fragen des fürstengerichtlichen Verfahrens« auseinander30. In einem so genannten »Fürstenweistum« 24 Ebd. 101. 25 Otto Franklin sieht es als gesichert an, dass ab Beginn des 14. Jahrhunderts »in Sachen, welche der Fürsten Leben, Ehre und Reichslehen betreffen, nur Fürsten oder Fürstengenossen« urteilen durften, s. Otto Franklin, Das Reichshofgericht im Mittelalter 2 (Weimar 1868 ; Nachdruck Hildesheim 1967) 97–107, 134–157, hier v.a. 151. Hendrik Baumbach hingegen will in Abgrenzung zu Franklin und Ute Rödel vor der Proklamierung der Existenz eines Fürstengerichts für diese Zeit warnen, s. Hendrik Baumbach, Königliche Gerichtsbarkeit und Landfriedenssorge im deutschen Spätmittelalter. Eine Geschichte der Verfahren und Delegationsformen zur Konfliktbehandlung (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 68, Köln–Weimar–Wien 2017) 52–57, 354–360, v.a. 56 ; auch Karl-Friedrich Krieger will dem Schluss Franklins nicht vorbehaltlos folgen, s. Karl-Friedrich Krieger, Fürstliche Standesvorrechte im Spätmittelalter, in : Blätter für deutsche Landesgeschichte 122 (1986) 91–116, hier 103f. 26 Zu fürstlichen causis maioribus, deren gerichtliche Behandlung dem König vorbehalten war, s. auch Franklin, Reichshofgericht (wie Anm. 25) 97–107. 27 Krieger, Standesvorrechte (wie Anm. 25) 103f. 28 Baumbach, Gerichtsbarkeit (wie Anm. 25) 56. 29 Krieger, Standesvorrechte (wie Anm. 25) 105–109. Systematische Untersuchungen zum Fürstengericht in der Prozesspraxis fehlen allerdings auch für die Regierungszeit Friedrichs III. 30 Krieger, Standesvorrechte (wie Anm. 25) 107 ; einen Druck des »Weistum[s] des Hofgerichts über
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wurden nun die angemessene Ladung eines Fürsten behandelt sowie die personelle Zusammensetzung von Fürstengerichten und diejenigen Fälle, die ein solches überhaupt notwendig machten, konkretisiert. Letztere seien solche, in denen eines Fürsten leib, ere oder die lehen dez furstentumbs betroffen seien31. Krieger sieht dieses »Fürstenweistum« in Folge nicht nur verstärkt in der Argumentation von Prozessparteien, sondern bereits in den 1440er-Jahren in der Friedrichs III. selbst rezipiert32. Auch im hier betrachteten Kammergerichtsverfahren adaptierte der kaiserliche Anwalt offensichtlich die im Weistum als notwendig erachteten Voraussetzungen für ein Fürstengericht : Es sei bekannt, dass sich Fürsten in Fällen, wo das ire lehenn fursten tumb oder ere berurt nyndert mainen zu rechtfertig(e)n lassen wenn vor iren gnossen. Der Streit um die Reichslandvogtei sei nach natur der sach(e)n und alt(e)m loblich(em) her komen vor dem Kaiser, den Kurfürsten und Fürsten zu verhandeln. Doch schon mit dieser Schlussfolgerung löst sich die Argumentation, zwangsläufig, wieder von dem »Fürstenweistum«, da dieses Verfahren, in welche der Kaiser als Partei involviert war, nicht regelte. Der Kaiser bestand also darauf, an der Urteilsfindung in einem eigenen Streit mit einem Reichsfürsten selbst mitzuwirken. Er verlangte demnach nicht die Delegierung der Sache an ein kurfürstliches Schiedsgericht, wie es im Konflikt mit der Stadt Rheinfelden geschehen war, sondern forderte im Prinzip ein (kur-)fürstlich besetztes Kammergericht. Es fällt auf, dass zu dessen Legitimierung nicht die Rolle des Reichsoberhaupts als oberster Richter herangezogen wird. Friedrich III. war der erste römisch-deutsche König, bei dem dieses Attribut nicht mehr nur überwiegend legitimatorischer Natur war, sondern eine reale Funktion beschrieb33. Er wurde damit zur obersten Instanz einer hierarchisierten Gerichtsverfassung und blieb zugleich als oberster Herr und Richter alleine zuständig für Streitigkeiten zwischen Reichsunmittelbaren34. Das hier beanspruchte Recht zur Bestimmung eines Verfahrens, das ihn selbst als Fürst und Verfahrenspartei involvierte, hingegen leitete er aus der Dualität seiner Rollen als Kaiser und »Haupt der Fürsten« bzw. direkt aus seiner kaiserlichen Majestät35 ab : … nachdem und wir ain romischer kays(er) und das haubt der furst(e)n wern so die Vorladung eines Reichsfürsten« bietet : Hugo Kleber, Der Reichshofgerichtsprocess gegen Herzog Ludwig den Gebarteten von Ingolstadt (1434) und die Bedeutung des gleichzeitigen Basler Weistums über Vorladung eines Fürsten für die Geschichte des Prozessverfahrens am Reichshofgericht (Diss. masch. Erlangen 1922) Beilage 10. 31 Kleber, Reichshofgerichtsprocess (wie Anm. 30) Beilage 10. 32 Krieger, Standesvorrechte (wie Anm. 25) 108f., vgl. dazu auch Franklin, Reichshofgericht 2 (wie Anm. 25), 154–157. 33 Diestelkamp, König (wie Anm. 10) 113–128. 34 Ebd. 121–123, 127. 35 Zum Begriff der »Majestät« als einem der »Argumentationselemente eines gesteigerten monarchischen Herrschaftsverständnisses« s. Heinig, Monarchismus (wie Anm. 13) 161.
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gebürt unser kayserlich(e)n maiestat wol uns und dem reich die ere wirde und gerechtikait römisch(e)n kaysern nach all(e)m loblich(e)m herkomen zu gehorende wie sy [P.H.: die Fürsten] in solh(e)m gerechtfertigt sull(e)n werd(e)n also liederlich nit entfall(e)n zu lassen dann wir wern wol phlichtig dy zu mer(e)n und in ir(e)n recht(e)n wirdenn zu hallt(e)n. Er garantierte also als Kaiser die Standesvorrechte und Würden der Reichsfürsten36 und nahm diese Rechte als »oberster Fürst« gleichzeitig selbst in Anspruch37. Das Vorecht, vor Standesgenossen zu Recht zu stehen, rechtfertigte sich jedoch nicht allein durch die persönliche Würde eines Fürsten, sondern war, wie erwähnt, an eine gewisse Bedeutung des Streitobjekts geknüpft. Wenn die bayerischen Anwälte also argumentierten, der Herzog erhebe keine dauerhaften, ewigen Ansprüche auf die schwäbische Reichslandvogtei, wollten sie damit nicht in Selbstschädigung des Wittelsbachers den Streitwert mindern, sondern belastbare Gründe für die Abwendung eines Fürstengerichts liefern. Denn das genannte »Fürstenweistum« von 1434 nahm Streitigkeiten um geltschuld ausdrücklich von einem solchen aus38. Der kaiserliche Anwalt hielt diesem Argument entgegen, alle verfahrensrelevanten Urkunden hätten nicht eine Geldschuld, sondern die Reichslandvogtei selbst zum Gegenstand, und diese wiederum sei ain mercklich bzw. ain hochwirdig gelid des heilig(e)n reichs. Mit der Vergabe des Prädikats »hochwürdig« für rechtlich-materielle Entitäten (»Stücke«) ging die kaiserliche Kanzlei sparsam um39. Was dieses Attribut im Fall der Reichslandvogtei mit substantiellem Gehalt füllte, waren die mit ihr verbundenen hoheitlichen Rechte : Die Landvogtei sei ein solich stuck das in im hohe gelaitt lehenschafft vogtey der gotzhawser zoll willpönn gericht und ander regalia hab. Kurz gesagt : Sie war Reichsgut und wies damit eine Qualität auf, die eine Verhandlung vor Kaiser, Kurfürsten und Fürsten aus 36 Einen vehementen Verteidiger dieser fürstlichen Standesvorrechte in Rechtsangelegenheiten finden wir übrigens im Hintergrund des Kammergerichtsverfahrens in der Person Markgraf Albrechts Achilles von Brandenburg (er hatte den Herzog von Bayern vom kaiserlichen Beschluss eines Fürstengerichtes in Kenntnis gesetzt), vgl. Krieger, Standesvorrechte (wie Anm. 25) 91–93 und Schubert, König und Reich (wie Anm. 15) 314. 37 Vgl. dazu auch das von Heinig, Monarchismus (wie Anm. 13) 163 angeführte Beispiel aus dem Reichskrieg gegen die Wittelsbacher 1461 : Der Habsburger konterte hier das Argument des Herzogs von Niederbayern, dieser habe Friedrich nicht als Kaiser, sondern als Herzog von Österreich angegriffen, mit der Bemerkung, als Fürst stehe ihm der kaiserliche Schutz ebenso zu wie jedem anderen Glied des Reiches auch. 38 Kleber, Reichshofgerichtsprocess (wie Anm. 30) Beilage 10. 39 In den Regesten Friedrichs III. findet er sich nur zwei Mal, und zwar im Zusammenhang mit dem Erzstift Trier bzw. dem Kloster Echternach, s. Regesten Kaiser Friedrichs III. (1440–1493). Nach Archiven und Bibliotheken geordnet. Heft 9. Die Urkunden und Briefe aus den Archiven und Bibliotheken der Regierungsbezirke Koblenz und Trier, bearb. von Ronald Neumann (Wien–Köln–Weimar 1996) Nr. 113 bzw. Nr. 34. Dieser Befund kann freilich nur ein vorläufiger sein, da die den Urkundentext verkürzenden, modern formulierten Regesten nicht alle Details einer Urkunde wiedergeben.
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Perspektive des Reichsoberhaupts unabdingbar machte. Der Kaiser wiederum fand in seiner Rolle als Garant eines angemessenen Verfahrens für bedeutende Angelegenheiten (Lehen, Fürstentum oder Ehre) der Fürsten nicht nur seine kaiserliche Pflicht erfüllt, diese (und damit auch sich selbst) zu meren. Im Fall der Reichslandvogtei kam er damit auch der ihm als Reichsoberhaupt obliegenden Aufgabe nach, »Würde« und Wert des in seiner Verfügungsgewalt befindlichen Reichsgutes und damit der materiellen Grundlage seines Kaisertums zu wahren. Mit Blick auf die Verpfändung an Albrecht VI. betont der Anwalt, der Kaiser habe dem reich zubechrenckung seines recht(e)ns kein ändrung mit der lanndvogtey noch damit unbillichs gen yemand getan. Friedrich III., das machte sein Anwalt gleich zu Beginn des Verfahrens deutlich, betrachtete die aus einem zwanzig Jahre zurückliegenden Geschäft abgeleiteten Anrechte Albrechts III. von Bayern-München auf die schwäbische Reichslandvogtei als verjährt. Er beanspruchte als Reichsoberhaupt die freie Verfügungsgewalt über die Landvogtei. Dennoch ließ sich Friedrich III. durch die vom Herzog vorgebrachte Klage nicht dazu verleiten, die bayerischen Ansprüche auf die Reichslandvogtei von seinem Kammergericht rechtswirksam negieren zu lassen, womit er auf einfache Weise seine habsburgischen Hausmachtinteressen hätte bedienen können. Friedrich III. tat hier stattdessen mittels seiner komplexen Argumentation für ein Fürstengericht etwas, was er im späteren Verlauf seiner Regierung im Zusammenhang mit der Reichslandvogtei auf andere Weise wiederholen würde : Er gab »seiner Stellung als Reichsoberhaupt den Vorzug vor seiner Rolle als Senior der Dynastie«40. Dies sollte er vor allem dann tun, wenn es ihm darum ging, die Begehrlichkeiten einzuhegen, welche die Reichslandvogtei im Hinblick auf eine Erneuerung eines schwäbischen Herzogtums vor allem auch in seiner eigenen Dynastie weckte41. »Schwaben« verstand er als ihm als Kaiser unmittelbar unterstellt42. In den ersten zwei Regierungsjahrzehnten zwar war die Schwabenpolitik Friedrichs III. blass, gleichwohl blieb für ihn (Ober-)Schwaben, der ehemalige Kernraum staufischer Herrschaft, trotz aller Bedeutungsverluste, aufgrund seiner für das Königtum erschließbaren materiellen wie personellen Potentiale eine wichtige Bezugsgröße43. 40 Paul-Joachim Heinig, Die Bedeutung des Raumes Oberschwaben für das spätmittelalterliche Königtum, in : Von den Welfen zu den Staufern. Der Tod Welfs VII. 1167 und die Grundlegung Oberschwabens im Mittelalter, hg. v. Thomas Zotz, Andreas Schmauder, Johannes Kuber (Stuttgart 2020) 249–273, hier 269. 41 Siehe die Auseinandersetzungen Friedrichs III. mit seinem Vetter Sigmund von Österreich, s. HansGeorg Hofacker, Die schwäbische Herzogswürde. Untersuchungen zur landesfürstlichen und kaiserlichen Politik im deutschen Südwesten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in : Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 47 (1988) 71–148, hier v.a. 73–98, vgl. dazu Heinig, Oberschwaben (wie Anm. 40) 269. 42 Ebd. 270. 43 Siehe Paul-Joachim Heinig, Oberschwaben (wie Anm. 40) passim und in Ergänzung dazu Alois Nie-
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Neben den ihm in Schwaben von Reichs wegen zustehenden Rechten verteidigte Friedrich III. in diesem Kammergerichtsverfahren zugleich die von ihm als Kaiser beanspruchte Hoheit über die Ausgestaltung einer Herrschafts- und Rechtsordnung. Mit der durch das Kammergericht erfolgten Demütigung des Wittelsbachers verwies der Kaiser einen der mächtigsten Fürsten des Reiches auf seinen Platz. Hier demonstrierte Friedrich III. einen seiner Herrschaftsgrundsätze, nämlich die »Wiederherstellung des Rangabstands zu den ›Gliedern‹ des Reiches«44. Die Forderung nach (kur-)fürstlicher Beteiligung an der Konfliktlösung ist also nicht als Zugeständnis an eine Machtteilung im Sinne »konsensualer Herrschaft« zu verstehen, sondern ist im Gegenteil Ausdruck des »monarchisch-monistischen« Herrschaftsverständnisses des Habsburgers45. Es dürfte auch kein Zufall sein, dass Enea Silvio Piccolomini als einer der Vertreter dieser monarchischen Herrschaftsauffassung am kaiserlichen Hof im Verfahren als Beisitzer auftrat46. Wieder einmal diente dem Habsburger »sein Kammergericht als Steuerungsinstrument seines monarchischen Herrschaftsverständnisses«47, wenngleich sich dessen Wirksamkeit in diesem Fall paradoxerweise in seiner Nichtzuständigkeit entfaltete. Auf die Geschicke der Reichslandvogtei übrigens hatte das Verfahren keine konkreten Folgen. Sie blieb unverändert bis 1486 in der Hand der Truchsesse von Waldburg48.
derstätter, Die ersten Regierungsjahre Friedrichs III. und der Südwesten des Reiches, in : Die Eidgenossen und ihre Nachbarn im Deutschen Reich des Mittelalters, hg. v. Peter Rück (Marburg an der Lahn 1991) 111–129. 44 Heinig, Monarchismus (wie Anm. 13) 158. 45 Vgl. dazu ebd. 153, in der Auseinandersetzung mit Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in : Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, hg. v. Paul-Joachim Heinig, Sigrid Jahns, Hans-Joachim Schmidt, Rainer Christoph Schwinges, Sabine Wefers (Historische Forschungen 67, Berlin 2000) 53–87. 46 Heinig, Monarchismus (wie Anm. 13) 155f. 47 Ebd. 173. 48 Hofacker, Landvogtei (wie Anm. 14), unpag.
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Mich erbarmit, das das loblich haws Österreich allerweg so cleglich sol berupfet werden Neue Quellen zum Konflikt zwischen Kaiser Friedrich III. und der Republik Venedig im Jahr 1463
Eine fundamentale Studie unseres Jubilars ist bekanntlich den Herren von Wallsee und deren weitreichendem Wirkungsbereich gewidmet1. Diese ursprünglich dem schwäbisch-österreichischen Raum entstammende Familie konnte im Laufe des Spätmittel alters ihre Besitzungen bis an den Golf von Triest, nach Istrien und an die Kvarner Bucht ausdehnen, ehe diese im 15. Jahrhundert schrittweise an die Habsburger verloren gingen und damit wesentlich zur Expansion und Festigung der habsburgischen Herrschaft an der oberen Adria beitrugen2. In ebendieser Region verschlechterte sich ab Mitte des 15. Jahrhunderts das Verhältnis Kaiser Friedrichs III. zur Republik Venedig, wobei eine Ursache in dem Konflikt zwischen der Serenissima und der habsburgischen Stadt Triest lag. Während letztere in späteren Jahrhunderten unter habsburgischer Herrschaft zu einer der wichtigsten Hafenstädte des Mittelmeers heranwachsen sollte, stellte die Stadt Triest im Spätmittelalter mit ihren etwa 5.000 Einwohnern bestenfalls ein Gemeinwesen mittleren Ranges und damit für die mächtige Seerepublik Venedig einen höchst ungleichen Gegner dar. In erster Linie aufgrund von konkurrierenden Interessen in mehreren W irtschaftssektoren verlief das Verhältnis zwischen diesen beiden Hafenstädten an der oberen Adria im Laufe des Spätmittelalters höchst konfliktreich. So erfolgte etwa im Sommer 1368 ein bewaffneter Überfall der Triestiner auf eine venezianische Galeere, wobei deren Besat1 Karel Hruza, Die Herren von Wallsee. Geschichte eines schwäbisch-österreichischen Adelsgeschlechts (1171–1331) (Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs 18, Linz 1995). 2 Die Wallseer wurden von den im Jahr 1399 erloschenen Herren von Duino/Tybein als Haupterben eingesetzt. Wolfgang V. von Wallsee vermachte am 1. September 1465 Kaiser Friedrich III. testamentarisch die Herrschaften Rijeka (Fiume/St. Veit am Pflaum), Kastav (Castua/Köstau), Mošćenice/Moschenizza), Sabinich/Subiach am Karst, Veprinaz und Gotnik/Guteneck, die ihm im Zuge der Erbteilung mit seinem Bruder Reinprecht V. zugefallen sind. Letzterer trat am 19. März 1472 dem Habsburger das obere und untere Schloß Duino, die Burg Senožeče (Senosècchia/Senosetsch) samt dortiger Maut, die Herrschaft Prem sowie einige Dörfer in Istrien und am Karst ab. Siehe Max Doblinger, Die Herren von Walsee. Ein Beitrag zur österreichischen Adelsgeschichte, in : Archiv für österreichische Geschichte 95 (1906) 235–578, hier 477–491 ; sowie Kamillo Trotter, Die Burggrafen von Lienz und zum Lueg (Innsbruck 1954) 53.
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zung teilweise verletzt, der venezianische Kapitän jedoch getötet wurde. Die rasche und entschlossene Reaktion der Serenissima kulminierte in einer Belagerung Triests durch venezianische Truppen Ende Dezember 1368. Daraufhin wandte sich die bedrohte Hafenstadt an die österreichischen Herzöge Albrecht III. und Leopold III. um militärische Unterstützung, die von letzteren nach der nahezu bedingungslosen Unterstellung der Triestiner unter ihre Herrschaft auch zugesichert wurde. Die nunmehr als domini natu rales et hereditarii Triests agierenden habsburgischen Herzöge entsandten daraufhin ein Entsatzheer an die obere Adria, welches Anfang November 1369 jedoch eine schwere Niederlage erlitt. Triest war daraufhin gezwungen, sich der Herrschaft Venedigs zu unterwerfen, die österreichischen Herzöge erhielten von der Seerepublik für ihren Verzicht auf die Hafenstadt die Summe von 75.000 Goldgulden3. Die endgültige Unterstellung Triests unter die habsburgische Herrschaft erfolgte schließlich am 30. September 1382, wobei die konkreten politischen Hintergründe dieser neuerlichen deditio im Dunkeln liegen. Jedenfalls führte dieser Akt nicht zu einer direkten Herrschaft der Habsburger über Triest, sondern beließ der Hafenstadt eine weitgehende Autonomie in außen- und innenpolitischen Fragen, band diese jedoch wirtschaftlich stärker an das von den österreichischen Herzögen dominierte Hinterland und sollte der Stadt wohl auch einen gewissen Schutz vor bewaffneten Übergriffen benachbarter Mächte bieten4. Als eine der Säulen der Triestiner Wirtschaft im Spätmittelalter stellte die Salzgewin nung ein zentrales Konfliktfeld zwischen den beiden ungleichen Hafenstädten an der oberen Adria dar. Der Verkauf des dabei gewonnenen Überschusses verstieß gegen das von der Serenissima beanspruchte Salzmonopol. Weiteres Konfliktpotential bot der Warenverkehr aus Zentraleuropa über den Krainer Karst an die obere Adria. Die Stadt Triest versuchte insbesondere den Handel mit Getreide an den eigenen Markt und Hafen zu binden, aufgrund günstigerer Handelsbedingungen und einer stabileren Währung bevorzugten Kaufleute aus dem Hinterland jedoch zuweilen die benachbarten venezianischen Häfen in Muggia/Milje und Capodistria/Koper. Triest reagierte darauf ab den 1450er Jahren mit dem Erwerb der ehemals wallseeischen, nunmehr an den habsburgischen Landesfürsten Friedrich III. gefallenen Burg Castelnuovo/Podgrad am
3 Christian Lackner, Hof und Herrschaft. Rat, Kanzlei und Regierung der österreichischen Herzoge (1365–1406) (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 41, Wien–München 2002) 30f. 4 Diese deditio des Jahres 1382 bot der modernen Forschung in Österreich und Italien breiten Raum für unterschiedliche Deutungen. Siehe dazu Lackner, Hof (wie Anm. 3) 34f.; sowie Anja Thaller, Graz 1382. Ein Wendepunkt der Triestiner Geschichte, in : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 38–39 (2009) 191–221.
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Karst, deren Kontrolle es der Stadt ermöglichte, Kaufleute zur Weiterreise nach Triest, zum Verkauf ihrer Waren vor Ort oder zur Leistung von Abgaben zu zwingen5. Der schwelende Konflikt mit der Seerepublik entzündete sich schließlich im Jahr 1461, als Kaiser Friedrich III. die beiden landesfürstlichen Mautstationen von Moccò/ Muckau und San Pietro di Madrasso (Klanec pri Kozini/Petersglanet) bis auf Widerruf nach Triest transferierte, wodurch die Bündelung der Warenströme aus dem Hinterland unter Ausschluss der venezianischen Küstenorte Istriens nach Triest verstärkt werden sollte6. Als Reaktion auf diesen Straßenzwang verbot der Doge Pasquale Malipiero am 4. August 1461 allen venezianischen Untertanen sämtliche Kontakte mit Angehörigen der Stadt Triest. Auch eine Blockade des Triestiner Hafens wurde angeordnet, die sich allerdings als mangelhaft ausgeführt und somit wenig wirkungsvoll erwies. Die Serenissima war aufgrund zeitgleicher Auseinandersetzungen mit den Osmanen in Griechenland und der Levante zunächst zu keinem entschlosseneren bewaffneten Einschreiten bereit, entsandte jedoch auf Drängen der durch den Straßenzwang schwer geschädigten Hafenstadt Capodistria/Koper den venezianischen Diplomaten Alvise Foscarini zu Verhandlungen an den kaiserlichen Hof. Ende des Jahres 1462 berichtete dieser von positiven Signalen aus dem Umfeld des Kaisers, der sich – durch den zeitgleichen Konflikt mit seinem Bruder Albrecht VI. schwer in die Defensive geraten – zu einem Verkauf Triests an Venedig bereit erklärt habe. Allerdings wurden die Verhandlungen am habsburgischen Hof in weiterer Folge aus unbekannten Gründen ergebnislos abgebrochen7. Daraufhin begann die Seerepublik im Frühjahr 1463 mit den Vorbereitungen zur Belagerung der Stadt. Es erfolgte die Sperre des Triestiner Hafens, der Angriff auf die für die Kontrolle der Handelswege über den Karst bedeutsame Burg Castelnuovo sowie ab Juli dieses Jahres die Belagerung der Stadt durch ein Heer unter Führung der venezianischen Provveditori Vitale Lando und Iacopo Antonio Marcello8. 5 Siehe dazu Daniel Luger, L’imperatore lontano ? La prassi della sovranità e dell’amministrazione nel tardo medioevo : l’esempio di Trieste, in : Quaderni Giuliani di Storia 32 (2011) 173–256 ; sowie ders., Städtische Kommunikation und Nachrichtenübermittlung am Beispiel des »Assedio di Trieste« im Jahr 1463, in : Zwischen Feinden und Freunden. Kommunikation im spätmittelalterlichen Krieg, hg. von Petr Elbel, Alexandra Kaar, Robert Novotný (erscheint 2021) mit weiterführender Literatur. 6 Über dieses Privileg vom 12. Juni 1461 siehe Luger, L’imperatore (wie Anm. 5) 182–190 ; zur Herrschaft Moccò siehe Luigi Foscan, Erwin Vecchiet, I castelli della Carsia Giulia. Le castellanie del mare e dell’altopiano triestino (Triest 2001) 103–114. 7 Luger, L’imperatore (wie Anm. 5) 190f. 8 Zum militärischen Verlauf dieser Belagerung siehe allgemein Giovanni Cesca, L’Assedio di Trieste nel 1463. Ventuno Documenti Inediti (Verona–Padua 1883) ; Fabio Cusin, Il confine orientale d’Italia nella politica europea del XIV e XV secolo 2 (Milano 1937) 373–383 ; Aldo Stella, Il comune di Trieste, in : Storia d’Italia 17, hg. von Giuseppe Galasso (Torino 1979, Nachdr. 1992) 609–693, hier 636 ; sowie Attilio Tamaro, Storia di Trieste 1 (Roma 1924) 351–354.
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In Venedig trat Kardinal Bessarion im Auftrag des Papstes als Vermittler in diesem Streit auf, im August 1463 traf auch der kaiserliche Gesandte Johannes Hinderbach zu Friedensverhandlungen in der Lagunenstadt ein. Letzterem wurde von Seiten der Serenissima versichert, keinesfalls die Rechte Friedrichs III. an der Stadt und deren Verbleib im Reich bestreiten zu wollen. Es ginge in diesem Konflikt lediglich um den Schutz legitimer venezianischer Handelsinteressen, die durch die aggressive Politik Triests, nicht zuletzt angetrieben durch die feindselige Haltung des örtlichen Bischofs Antonio Goppo, bedroht seien. Im Auftrag des Kaisers legte Hinderbach dennoch Protest gegen das Vorgehen Venedigs ein, die Seerepublik verweigerte zu diesem Zeitpunkt jedoch sämtliche Friedensverhandlungen9. Während somit die Position Venedigs in diesem für die politische und wirtschaftliche Entwicklung der gesamten Region höchst bedeutsamen Konflikt sowie der militärische Ablauf der bis November 1463 andauernden Belagerung bekannt sind, blieben Positionen und Argumente der Stadt Triest bislang weitgehend im Dunkeln. Die überlieferten Rechnungsbücher der Triestiner Kommune belegen zwar in den Wochen nach Beginn der Belagerung einen regen Schriftverkehr der Stadt mit dem kaiserlichen Hof, den umliegenden Kommunen und Herrschaften sowie der Republik Venedig10, über die konkreten Zwecke und Inhalte dieser Botengänge und Gesandtschaften erfahren wir in diesen Aufzeichnungen jedoch wenig. So verzeichnen die städtischen Rechnungs bücher für August 1463 unter anderem die Reise des Triestiner Bürgers Marin Trauner in die Lagunenstadt, um dem kaiserlichen Gesandten Johannes Hinderbach – über dessen Mission man in Triest offenkundig gut informiert war – ein Schreiben der Stadt zu überbringen11. Dieses Schriftstück aus der belagerten Gemeinde ist nicht überliefert, jedoch kann die Argumentationsstrategie der Stadt Triest in diesem Konflikt durch die Auswertung bislang in diesem Zusammenhang unberücksichtigt gebliebener Archivalien detailliert 9 Zu Hinderbach und Bessarion in Venedig siehe Daniela Rando, Johannes Hinderbach (1418–1486). Eine »Selbst«-Biographie (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 21, Berlin 2008) 131 ; sowie Panagiotis Kourniakos, Die Kreuzzugslegation Kardinal Bessarions in Venedig (1463–1464) (Diss. Köln 2009). Insbesondere zur bislang wenig beachteten Rolle Antonio Goppos in diesem Konflikt siehe Luger, L’imperatore (wie Anm. 5) 184–187. 10 Noch im August 1463 übernahmen die städtische Kämmerer die Kosten für 34 Botengänge ; 16 davon wurden in die landesfürstlichen Herrschaften Wippach/Vipava, Adelsberg/Postojna, Laibach und Mitterburg/Pazin gesandt ; siehe Triest, Archivio Diplomatico, AD 3B/Proc. e Cam. XIII fol. 140r–155r. Zu einer vergleichenden Auswertung der Triestiner Rechnungsbücher aus kommunikationsgeschichtlicher Sicht siehe Luger, Kommunikation (wie Anm. 5). 11 Triest, Archivio Diplomatico 3B/Proc. e Cam. XIII fol. 141v : lire V dadi a Marin Traunar, lo qual ando a Viniessa a portar una leterra a misser Cuhan Inderbach. Zu Martin Trauner als Bürger der Stadt siehe Pietro Kandler, Codice diplomatico istriano Bd. 5 (Triest 1866) s.d. 1505 II 18.
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nachvollzogen werden. Denn in Venedig traf die Triestiner Gesandtschaft im August 1463 nicht nur auf den Unterhändler Kaiser Friedrichs III., sondern auch auf Laurentius Blumenau, den humanistisch gebildeten Juristen und Geschichtsschreiber, der sich in diesen Tagen im Auftrag Herzog Sigmunds (des Münzreichen) von Österreich an der Adria aufhielt, um mit der Serenissima im Konflikt des Tiroler Landesfürsten mit dem Bischof von Brixen, Nikolaus von Kues, sowie über die Beilegung eines Grenzstreites in der Gegend von Grigno an der Brenta zu verhandeln12. In drei heute im Tiroler Landesarchiv verwahrten Schriftstücken berichtet Laurentius Blumenau seinem habsburgischen Auftraggeber nicht nur vom Fortschritt seiner Verhandlungen mit der Republik Venedig, sondern beschreibt darüber hinaus ausführlich sein Zusammentreffen mit einer Gesandtschaft der Stadt Triest13. In seinem ersten Schreiben vom 2. August 1463 informierte Blumenau Herzog Sigmund zunächst über ein Gespräch mit venezianischen Gesandten sowie einem Juristen aus Vicenza, welches jedoch ohne Ergebnis auf einen späteren Zeitpunkt vertagt wurde14. Es folgen weitere Nachrichten aus Venedig ; im Markusdom habe der päpstliche Legat Bessarion am vergangenen Sonntag das Hochamt gefeiert, woraus man schließen könne, dass der Papst die Venezianer bislang nicht mit einem Interdikt belegt habe. Allerdings befände sich die Seerepublik gegenwärtig in großer Furcht vor den Türken. Nach der Besetzung Bosniens erwarte man weitere osmanische Eroberungsversuche, weshalb die Venezianer teglich volk obirschickn. Außerdem hätte die Serenissima sämtliche vor der Stadt Triest gelegene Weinstöcke und Salinen zerstören lassen15. Diese letztgenannte Nachricht verknüpft Blumenau nun mit seinem eigenen Auftrag und rät seinem fürstlichen Dienstherrn, in diesem günstigen Augenblick die Einigkeit des Hauses Österreich zu suchen. Dann nämlich wären die Venezianer gezwungen, sowohl im erwähnten Grenzkonflikt Herzog Sigmunds einzulenken wie auch in der Auseinandersetzung mit den Triestinern anders zu handeln. Nähere Hinweise zu den Beweggründen dieser Themenverknüpfung bietet Blumenau wenige Tage später in seinem zweiten Bericht an den Tiroler Dienstherrn vom 7. August16. Nach aktuellen Informationen über den Stand der ihm übertragenen Verhandlungen kommt der Gesandte erneut auf den Konflikt der Seerepublik mit der Stadt 12 Zur Person Blumenaus und dessen Mission in Venedig siehe allgemein Hartmut Boockmann, Laurentius Blumenau. Fürstlicher Rat – Jurist – Humanist (ca. 1415–1484) (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 37, Göttingen 1965). 13 Innsbruck, Tiroler Landesarchiv, Sigmundiana 4b.36.1–3. Blumenaus Schreiben vom 7. August 1463 (ebd. Sigmundiana 4b.36.1) gedruckt in Boockmann, Blumenau (wie Anm. 12) 246–251. 14 Innsbruck, Tiroler Landesarchiv, Sigmundiana 4b.36.2. 15 Si haben den von Trist ir reben auch die stete, da man das salcz macht, abgehawen und zubrochen etc. 16 Innsbruck, Tiroler Landesarchiv, Sigmundiana 4b.36.1. Weitere Aufzeichnungen Blumenaus in dieser Angelegenheit in lateinischer Sprache ebd. Sigmundiana 4b.36.3.
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Triest zu sprechen. Letztere habe eine merklich botschaft nach Venedig gesandt, die sich auch an Blumenau mit folgenden Worten gewandt habe : Wir gehoren dem gantzen hawse17 Österreich zu und sein gruntlich itzunder von den Venediger verterbit worden und nach swerlich von inn belegen. Nu hab wir vernomen, das ir von unsers gnedigen heren herzog Sigmunden wegen hie seit, dorumb bitt wir euch, ir welt mit der herschaft [Venedig] reden und ir zu erkennen geben, wie Triest das zum hawß Österreich gehore18 und umb das sie19 nicht verrer20 durch die iren wellen besweren21. Die Triestiner vertraten gegenüber Blumenau somit den Standpunkt, durch den Unterwerfungsakt des Jahres 1382 ungeachtet späterer habsburgischer Herrschaftsteilungen Untertanen des gesamten Hauses Österreich und damit auch der übrigen habsburgischen Landesfürsten zu sein22. Daran schlossen die Gesandten aus Triest eine Bitte um Vermittlung des herzoglichen Unterhändlers bei der Serenissima an. Die gewünschte Einrede Blumenaus müsse jedoch möglichst bald, jedenfalls noch vor der kommenden Senatssitzung (concilium rogatorum) erfolgen, denn was in dem concilio beslossen wurde, das mochte hart darnach geendert werden23. Blumenau habe den Triestinern mit dem dilatorischen Hinweis geantwortet, von seinem Dienstherrn keinerlei Auftrag in dieser Sache erhalten zu haben, ja Herzog Sigmund sei diese Angelegenheit bislang gar nicht bekannt. Er versprach den Triestinern jedoch, bei einem seiner venezianischen Bekannten Informationen über die weiteren Pläne der Seerepublik in diesem Konflikt einzuholen. Außerdem habe Blumenau die Gesandten aus Triest befragt, was deren Stadtherr Kaiser Friedrich III. in dieser Angelegenheit zu unternehmen gedenke. Darauf erwiderten sie : nichts, denn sein lantlewt von Steir und Craen etc. im nicht gehorsam dahin zu zihen weren. Auch trosten sich die 17 Danach gestrichen : von. 18 Danach gestrichen : das umb. 19 Interlinear ergänzt. 20 Danach gestrichen : sie. 21 Danach gestrichen : Ich hab solhens nach nicht gethan all si sprochen. 22 Zum zeitgenössischen Verständnis und dem Wandel des Begriffs »Haus Österreich« siehe Christian Lackner, Das Haus Österreich und seine Länder im Spätmittelalter. Dynastische Integration und regionale Identitäten, in : Fragen der politischen Integration im mittelalterlichen Europa, hg. v. Werner Maleczek (Vorträge und Forschungen 63, Ostfildern 2005) 273–301 ; Heinrich Koller, Zur Vorgeschichte und Entstehung des Begriffs »Haus Österreich«, in : Verdrängter Humanismus. Verzögerte Aufklärung. Bd. 1 Teilbd. 1. Philosophie in Österreich (1400–1650). Vom Konstanzer Konzil zum Auftreten Luthers. Vom Beginn der Reformation bis zum westfälischen Frieden, hg. v. Michael Benedikt, Reinhold Knoll, Josef Rupitz, (Klausen-Leopoldsdorf 1996) 221–247 ; Günther Hödl, Das ganze Haus Österreich. Elemente eines österreichischen Landesbewußtseins im Spätmittelalter, in : Brennpunkt Mitteleuropa. Festschrift für Helmut Rumpler zum 65. Geburtstag, hg. v. Ulfried Burz, Michael Derndarsky, Werner Drobesch (Klagenfurt 2000) 157–172. 23 Innsbruck, Tiroler Landesarchiv, Sigmundiana 4b.36.1 fol. 1r.
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Venediger das, das die hern von Osterrrich [!] nicht ein[i]g weren, darumb sie itzunder mußen laiden24. Nichtsdestotrotz hätten die Triestiner gegenüber dem herzoglichen Gesandten versichert, weiterhin gern bey dem haws25 Österreich bleiben zu wollen, wenn dies möglich wäre. Daher bat Blumenau schließlich seinen fürstlichen Auftraggeber um Instruktionen in dieser Sache, denn er habe Sorge, Triest könne im Zuge dieser Auseinandersetzung vom Haus Österreich gelöst werden. Got gebe, das es nicht gesche26. Wie oben ausgeführt belegen die überlieferten Rechnungsbücher der Triestiner Kämmerer in den Monaten vor Beginn der Belagerung tatsächlich eine intensive Kommunikation der Stadt mit dem Stadtherrn Friedrich III., und noch im August 1463 reiste der einflussreiche Triestiner Bürger Pietro Paduino als Gesandter an den kaiserlichen Hof. Auch die umliegenden, von landesfürstlichen Hauptleuten verwalteten Herrschaften wurden von der Stadt Triest um die Übersendung von Truppen und Mehl ersucht27. Bereits am 8. März 1463 befahl Kaiser Friedrich III. seinem Landesverweser in Krain, Kaspar Melz, zusammen mit anderen Krainer Adeligen Vorsorge für die Verteidigung seiner Länder zu treffen28. Jedoch blieb diese Anordnung offenkundig ohne unmittelbaren Erfolg, weshalb die von Blumenau übermittelten Klagen der Triestiner über die fehlende Hilfsbereitschaft der Krainer und Steirer Landstände sicherlich berechtigt waren. In Triest war man offenkundig über die politischen Vorgänge in den habsburgischen Erblanden bestens informiert. So sprachen die städtischen Gesandten gegenüber Blumenau wohl zu Recht als wesentliche Ursache für die beschränkten Handlungsmöglichkeiten des Reichsoberhauptes die Uneinigkeit der habsburgischen Regenten an. Dieser Konflikt verschärfte sich insbesondere seit Jahresende 1457 aufgrund von Erbstreitigkeiten nach dem Tod des letzten Vertreters der Albertinischen Linie des Hauses Habsburg, Ladislaus Postumus, führte in weiterer Folge zu einer erneuten bewaffneten Auseinandersetzung Friedrichs III. mit seinem Bruder Herzog Albrecht VI. und mündete schließlich in der demütigenden Belagerung des Kaisers in der Wiener Burg. Erst nach dem Tod seines Bruders im Dezember 1463 konnte Friedrich III. seine höchst prekäre landesfürstliche Herrschaft schrittweise stabilisieren und einen politischen Ausgleich mit dem gleichfalls in Opposition zum Reichs- und Familienoberhaupt befindlichen Tiroler Landesfürsten Herzog Sigmund finden29. 24 Ebd. fol. 1r–v. 25 Am Rand hinzugefügt. 26 Innsbruck, Tiroler Landesarchiv, Sigmundiana 4b.36.1 fol. 1v. 27 Siehe oben Anm. 10 bzw. Triest, Archivio Diplomatico 3B/Proc. e Cam. XIII fol. 155r : Item lire 210 dado a ser Piero Paduin lo qual fo in Alemagna per inbasedor per nome del comun. 28 Eduard Marie Fürst von Lichnowsky, Geschichte des Hauses Habsburg 7 (Nachdruck Osnabrück 1973) Nr. 752. 29 Siehe dazu jüngst Konstantin Moritz A. Langmaier, Erzherzog Albrecht VI. von Österreich (1418– 1463) : Ein Fürst im Spannungsfeld von Dynastie, Regionen und Reich (Forschungen zur Kaiser- und
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Angesichts dieses höchst ungünstigen Zeitpunktes für ihren Hilferuf wollten die Gesandten der belagerten Stadt Triest in Venedig offenkundig keine Möglichkeit ungenützt lassen, auf ihre gegenwärtige Notlage hinzuweisen. So berichtete Laurentius Blumenau seinem Tiroler Dienstherrn noch von einem weiteren Besuch der Triestiner Gesandtschaft, die sich nun über die fehlende Bereitschaft Venedigs zu Friedensverhandlungen beklagt habe30. Die Seerepublik werde sich überdies nicht mit der Eroberung einiger Burgen begnügen, sondern strebe mit Verweis auf den oben erwähnten Kaufvertrag mit Herzog Leopold III.31 gar die Herrschaft über die Hafenstadt selbst an. Zu diesem Zweck werden die Venezianer Triest so lange belagern, bis sich die ausgehungerte Stadt unterwerfen müsse. Schließlich werden die Angreifer – wohl um einen gänzlichen Bruch mit dem Kaiser zu vermeiden – behaupten, sie haben Trist nicht von dem haws Österrich gewunnen, sunder die von Trist haben sich mit gutten willen wedir dahin geben, da32 sie33 mit rechte gehoren. Das Haus Österreich regiere nach Blumenau über keine andere Stadt am Meer, insbesondere das Land Krain sei bei einem Verlust Triests hart getroffen, nachdem es alls vast windisch ist. Daher rät der Gesandte seinem fürstlichen Auftraggeber, unverzüglich den Kaiser, dessen Bruder Albrecht und sust, wo es not thun wurde, schriftlich oder durch einen Gesandten aufzufordern, alles Notwendige zu unternehmen, damit die Hafenstadt nicht den Venezianern in die Hände falle und die fromen lewt geret mochten werden. Weiters empfiehlt Blumenau, Herzog Sigmund möge von stund an einen seiner Räte, nämlich Hans von Metz oder Hans von Spaur, zu Verhandlungen mit der Serenissima entsenden, da die Triestiner – deren Standpunkt Blumenau hier offensichtlich teilt – undertan des ganzen hawß Österreich seien. Da dieses in gutter fruntschaft mit der Serenissima verbunden sei, dürfe Triest nicht weiter von den Venezianern bedrängt werden. Was der Herzog darüber hinaus veranlassen wolle, um Triest auch in Zukunft an das Haus Österreich zu binden, möge er snell tun, denn in der belagerten Stadt seien die Reserven an Nahrungsmitteln knapp34. Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 38, Köln–Weimar–Wien 2015) bes. 569–645 ; zum Konflikt mit Herzog Sigmund siehe Daniel Luger, Daz … unser gedecht nuß dest lennger und seligclicher gehalten werde. Die Bestätigung des Privilegium maius durch Kaiser Friedrich III., in : Privilegium maius. Autopsie, Kontext und Karriere der Fälschungen Rudolfs IV. von Österreich, hg. v. Thomas Just, Kathrin Kininger, Andrea Sommerlechner, Herwig Weigl (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 69, Wien–Köln–Weimar 2018) 245–258, hier 253–258 (mit weiterführenden Literaturangaben). 30 Innsbruck, Tiroler Landesarchiv, Sigmundiana 4b.36.1 fol. 1v–2r. 31 Die herschaft [DL : Venedig] hab etwan Trist von herzog Lewpoldt vor LXXII [!] tusent ducaten gekauft. 32 Danach gestrichen : sie hin. 33 Danach gestrichen : geh. 34 Innsbruck, Tiroler Landesarchiv, Sigmundiana 4b.36.1 fol. 2r.
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Diese umfassenden und weitgehenden Ratschläge Blumenaus an seinen Tiroler Dienstherrn in Angelegenheiten, die über sein Gesandtschaftsmandat hinausgingen, empfand offenkundig auch der Gesandte selbst als erklärungswürdig. Daher schloss Blumenau an seine diesbezüglichen Ausführungen eine Entschuldigung an, die wiederum in eine Klage über die Venezianer und den inneren Zwist der habsburgischen Regenten mündete : Vergeb mir ewer gnad, das ich35 also meinen ratt schreibe, wenn ich es thu aus ganzen trewen und das mich erbarmit, das das loblich haws Österreich allerweg so cleglich sol berupfet werden, und besunder von dissen lewten, dervor sich ein j[e]der billich vorsehen mag36. Ich traw, das solhes37 und ander unrecht, so dem haws Osterrich beschit, sol ein ursach sein, das ir drei heren von Osterreich ein[i]g werdt, und so das bescheg, so hab38 kainen zweivil39, solher gewalt wurde an euch nicht versucht. Blumenaus wortreiche Intervention bei Herzog Sigmund, aus der vielleicht auch eine persönliche Anteilnahme am Schicksal der Triestiner spricht, scheint allerdings keine Reaktion seitens des Tiroler Landesfürsten veranlasst zu haben. Am Hof Kaiser Friedrichs III. hingegen führten die Hilferufe Triests im August 1463 zur Einberufung der Krainer Stände für den 14. September nach Laibach, um Hilfsmaßnahmen für die belagerte Stadt bereitzustellen40. Überdies versuchte das Reichsoberhaupt nach dem Vorbild Sigismunds von Luxemburg, seine kaiserliche Autorität für die Durchsetzung eines Handelsverbots mit Venedig für sämtliche deutsche Kaufleute sowie für die Organisation eines Reichskrieges gegen die Lagunenstadt einzusetzen41. Ende August leisteten dem neuerlichen kaiserlichen Aufruf zum Entsatz Triests tatsächlich einzelne Krainer Adeligen folge, in den darauffolgenden Wochen erreichten weitere Hilfskontingente aus Krain und Kärnten die Hafenstadt. Auf diesem Weg gelang es Triest, der Belagerung durch die Venezianer bis November standzuhalten. Ehe jedoch die Nachricht über ein heranziehendes, etwa 4.000 Mann starkes kaiserliches Entsatzheer die Stadt erreichte, waren in Venedig unter Vermittlung des päpstlichen Gesandten Bessarion wie auch König Georgs von Böhmen Friedensverhandlungen zwischen Vertretern der beiden Hafenstädte im Gange, die schließlich in den Abschluss eines Friedensvertrags am 17. November 1463 mündeten. Aufgrund einiger darin enthaltener, für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung Triests äußerst nachteiliger Be35 Danach gestrichen : s. 36 Danach gestrichen : Ich maine, sie verziehen mich mit fleis der sachen halb. 37 Interlinear ergänzt. 38 Überschrieben : hett ich. 39 Danach gestrichen : j. 40 Lichnowsky, Geschichte 7 (wie Anm. 28) Nr. 803 (1463 VIII 16, Wiener Neustadt). 41 Adolf Bachmann, Deutsche Reichsgeschichte im Zeitalter Friedrichs III. und Max I. Mit besonderer Berücksichtigung der österreichischen Staatengeschichte 1 (Leipzig 1884) 529.
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stimmungen, wertete die örtliche Stadtgeschichtsschreibung diesen Friedensschluss als Niederlage Triests, die durch die konfliktscheue oder gleichgültige Haltung des Kaisers ausgelöst worden sei42. Zeitgenössische Quellen hingegen interpretieren das Ende dieses Konflikts in anderer Weise. So berichten Gesandte aus dem Reich am Hof Friedrichs III. zum Jahreswechsel 1463/64 an ihre Auftraggeber, kaiserliche Truppen hätten Triest befreit und der Kaiser versorge nun die notleidende Stadt ein Jahr lang mit allem Notwendigen43. Selbst auf venezianischer Seite sprechen Zeitgenossen von einem Misserfolg der Belagerung Triests44. Diese Interpretation wird durch eine in diesem Zusammenhang bislang unberücksichtigt gebliebene Nachricht über das Ende dieser Belagerung gestützt, die der oben angesprochene kaiserliche Gesandte in Venedig, Johannes Hinderbach, überliefert. Einige Jahre nach dem Ende seiner Mission an der oberen Adria vermerkte der Humanist am Blattrand einer in seinem Besitz befindlichen Handschrift einige Details zu Verlauf und Ende dieser Belagerung. So hätten im Jahr 1463 kaiserliche Soldaten in Triest gekämpft, die aus Hunger das Fleisch von Pferden, Eseln, Hunden, Katzen und Mäusen gegessen und sogar minderwertige und verdorbene Fleischstücke nicht verschmäht hätten. Die Entschlossenheit dieser Truppe sei so groß gewesen, dass sie selbst vor dem Verzehr von Menschenfleisch nicht zurückgeschreckt hätte und bereits Juden, Gefangene und Gefallene dafür ausgewählt habe, um Triest keinesfalls aus Hunger verlassen oder den Venezianern übergeben zu müssen. Den Verteidigern sei es schließlich gelungen, diese Stadt und ihre Einwohner für das Haus Österreich und den Kaiser zu halten45.
42 Siehe Cesca, Assedio (wie Anm. 8) 12 ; Cusin, Confine (wie Anm. 8) 103f.; Stella, Comune (wie Anm. 8) 636 ; Tamaro, Storia (wie Anm. 8) 353 und zuletzt Stefano di Brazzano, Pietro Bonomo (1458–1546). Diplomatico, umanista e vescovo di Trieste (Triest 2005) 16. 43 Adolf Bachmann, Urkundliche Nachträge zur österreichisch-deutschen Geschichte im Zeitalter Kaiser Friedrichs III. (Fontes rerum Austriacarum II/46, Wien 1892) Nr. 18 ; Johannes Janssen, Frankfurts Reichscorrespondenz nebst andern verwandten Aktenstücken von 1376–1519. Bd. 2. Aus der Zeit Kaiser Friedrichs III. bis zum Tode Kaiser Maximilians I. 1440–1519. Abt. 1. Aus der Zeit Kaiser Friedrichs III. bis zur Wahl König Maximilians I. 1440–1486 (Freiburg 1866) Nr. 365. 44 Michael Edward Mallett, John Rigby Hale, The Military Organization of a Renaissance State. Venice c. 1400 to 1617 (Cambridge 1984) 109. 45 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Ser. n. 2960 fol. 20v (Zitat nach Rando, Hinderbach [wie Anm. 9] 131). Die Studie entstand im Rahmen des vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und der Forschungsagentur der Tschechischen Republik finanzierten internationalen Projekts I 4076 : »Grey Eminences in Action: Personal Structures of Informal Decision-Making at Late Medieval Courts«.
III. JUDEN UND JUDENVER FOLGUNG IM SPÄTMITTELALTER LICHEN R EICH
Alexandra Kaar
König Sigismund und seine Regensburger Kammerknechte, oder: Wessen »neue Kleider« bezahlte eine verpfändete jüdische Gemeinde?
In seinem Aufsatz »König Sigismund und seine jüdischen Kammerknechte, oder : Wer bezahlte ›des Königs neue Kleider‹ ?« führte Karel Hruza 2012 eindrücklich vor, wie beharrlich dieser Herrscher Zeit seiner Regierung versuchte, die königlichen Rechte an der jüdischen Bevölkerung des Reiches in Einnahmen für seine eigene Kammer zu verwandeln1. Bei der Erhebung ordentlicher bzw. außerordentlicher Abgaben von seinen jüdischen Kammerknechten stand der König allerdings häufig vor dem Problem, dass sich mit der zunehmenden Kommerzialisierung königlicher Herrschaftsrechte seit dem 13. Jahrhundert zwischen etliche Judengemeinden und den Herrscher ein oder sogar mehrere Pfandherren geschoben hatten, die die vom Jubilar so detailliert beschriebenen, komplexen Beziehungen zwischen Herrscher, Städten und jüdischen Gemeinden noch weiter verkomplizierten2. 1 Karel Hruza, König Sigismund und seine jüdischen Kammerknechte, oder : Wer bezahlte »des Königs neue Kleider« ? In : Kaiser Sigismund (1368–1437). Zur Herrschaftspraxis eines europäischen Monarchen, hg. v. dems., Alexandra Kaar (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 31, Wien–Köln–Weimar 2012) 75–135. Abkürzungen : BayHStA RRU = Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Reichsstadt Regensburg Urkunden ; Gemeiner, Chronik 2 = Carl Theodor Gemeiner, Regensburgische Chronik 2 (Regensburg 1803) ; RegBoi 12 = Regesta sive rerum boicarum authographa 12, hg. v. Maximilian von Freyberg (München 1849) ; RI XI/1–2 = J. F. Böhmer, Regesta Imperii XI. Die Urkunden Kaiser Sigmunds 1410–1437 1–2, hg. v. Wilhelm Altmann (Innsbruck 1896–1900, Nachdruck Hildesheim 1968) ; RI XI NB/3 = J. F. Böhmer, Regesta Imperii XI. Regesten Kaiser Sigismunds (1410–1437) nach Archiven und Bibliotheken geordnet, hg. v. Karel Hruza. Bd. 3 : Die Urkunden und Briefe aus den Archiven und Bibliotheken Südböhmens. Nach Wilhelm Altmann neubearb. v. Petr Elbel u. a. (Wien–Köln–Weimar 2016) ; RTA 7–12 = Deutsche Reichstagsakten 7–12 : Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund, hg. v. Dietrich Kerler, Hermann Herre, Gustav Beckmann (München–Gotha–Göttingen 1883–1901) ; RUB 1 = Regensburger Urkundenbuch 1, hg. v. Fritz Bastian (Monumenta Boica 53 = Neue Folge 7, München 1912) ; »Schwarzes Stadtbuch«, hg. Kropač = Das »Schwarze Stadtbuch« der Reichsstadt Regensburg. Quellenkritische Studien und Edition, hg. v. Susanne Kropač (Regensburger Studien 23, Regensburg 2016) ; StAReg, Cam. 7–12 = Stadtarchiv Regensburg, Cameralia Nr. 7–12 (Ausgebbücher). 2 Michael Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich (Enzyklopädie deutscher Geschichte 44, München 31998) 49. Konkrete Beispiele bei Paul-Joachim Heinig, Reichsstädte, Freie Städte und Königtum 1389–1450. Ein Beitrag zur deutschen Verfassungsgeschichte (Veröffentlichungen des Instituts für Euro-
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Ein Paradebeispiel für eine solche verpfändete jüdische Gemeinde stellen die Regensburger Juden dar3. Wahrscheinlich im Oktober 1322 verpfändete Ludwig der Bayer in seiner Funktion als römisch-deutscher König die gewöhnliche Steuer der Gemeinde zusammen mit der Gerichtshoheit über dieselbe an seine niederbayerischen Großneffen, die ihm in der Schlacht bei Mühldorf wichtige Militärhilfe geleistet hatten4. Aus einer weiteren Urkunde Ludwigs wird ersichtlich, dass das Pfand 6.400 Mark Silber besichern sollte, die die Pfandnehmer ihm geliehen hatten5 ; eine Summe, die in den beiden folgenden Jahrhunderten kein König fähig und/oder willig aufzubringen war. Die Steuer der Regensburger Juden und das sogenannte Judengericht verblieben daher in den Händen der Wittelsbacher Herzöge, bis das Pfand 1503 im Erbgang an die Habsburger gelangte6. Im Zuge dieser Verpfändung garantierte Ludwig sowohl der Judengemeinde als auch den Herzögen, dass nur die Pfandherren Anspruch auf Abgaben haben sollten ; Reich und König sollten keinerlei Forderung an die Regensburger Juden stellen dürfen7. In späteren Verträgen verpflichtete die Stadt sich außerdem dezidiert, die Rechte der Pfandherren an den Juden zu schützen8. In der Praxis zog das Reichsoberhaupt allerdings nichtsdestotrotz regelmäßig unter verschiedenen Titeln außerordentliche Abgaben von seinen Regensburger Kammerknechten ein9. Es wird kaum überraschen, dass König Sigismund darin keine Ausnahme bildete, auch wenn er am 30. Juli 1414 die traditionellen Rechte und Freiheiten der Regensburger Judengemeinde einschließlich der Befreiung von allen außerordentlipäische Geschichte Mainz, Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 3, Wiesbaden 1983) 81–101. 3 Zur rechtlichen Stellung der Regensburger Juden im Spätmittelalter vgl. unter vielen lediglich die aktuelle Überblicksdarstellung bei Veronika Nickel, Widerstand durch Recht. Der Weg der Regensburger Juden bis zu ihrer Vertreibung (1519) und der Innsbrucker Prozess (1516–1522) (Forschungen zur Geschichte der Juden. Abt. A. Abhandlungen 28, Wiesbaden 2018) 1–123. 4 Ebd. 32. Zum Judengericht ebd. 82–100 ; Christoph Cluse, Stadt und Judengemeinde in Regensburg im späten Mittelalter. Das »Judengericht« und sein Ende, in : Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichender Betrachtung von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert, hg. v. Dems., Alfred Haverkamp, Isreal J. Yuval (Forschungen zur Geschichte der Juden. Abt. A. Abhandlungen 13, Hannover 2003) 365–386. 5 RUB 1, Nr. 579 (Ludwig der Bayer für Heinrich XIV., Otto IV. und Heinrich XV. von Niederbayern, 1329, August 9, Pavia) ; Nickel, Widerstand (wie Anm. 3) 34f. 6 Ebd. 39. 7 RUB 1, Nr. 461 (Ludwig der Bayer für die Regensburger Juden, 1323, Juli 25, Nürnberg) ; Ebd. Nr. 579 (wie Anm. 5). 8 BayHStA RRU, sub dato ( Johann von Bayern-Straubing für Regensburg, 1410, November 3) ; erneuert durch BayHStA RRU, sub dato (Ludwig von Bayern-Ingolstadt für Regensburg, 1429, Juli 1). Vgl. auch die Rechtfertigung der Stadt in BayHStA RRU, sub dato (RI XI/2, Nr. 11696) (Sigismund für Ulrich Kamerauer und Alban Closner, 1437, März 5, Prag). 9 So erlaubte schon Ludwig der Bayer 1333 der Stadt Regensburg, sich für ein ihm gewährtes Darlehen an den städtischen Juden schadlos zu halten, RUB 1, Nr. 697 (1333, Mai 24, Nürnberg).
König Sigismund und seine Regensburger Kammerknechte
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chen Steuern bestätigte10. Ungeachtet dieser Versicherung hat – mit Ausnahme der vom Frankfurter Reichstag beschlossenen Hussitensteuer von 1427 – jede der bekannten Kampagnen Sigismunds zur reichsweiten Erhebung einer außerordentlichen Abgabe von den Juden Spuren in Regensburg hinterlassen11. Aufgrund des beschränkten Platzes können hier nur der sogenannte dritte Pfennig von 1414/15 und die Erhebung der Krönungssteuer von 1434 ausführlicher besprochen werden. Dabei wird versucht, beispielhaft die Handlungsspielräume des Herrschers im Kräftedreieck König–Pfandherr–Stadt12 zu beleuchten und Sigismunds Erfolge bzw. Misserfolge bei der Erhebung außerordentlicher Abgaben von den Regensburger Juden in den breiteren politischen Kontext einzubetten13. Einen ersten Anlauf zur Erhebung einer Sondersteuer unternahm Sigismund schon kurz nach der Privilegienbestätigung für die Regensburger Juden vom Sommer 1414. In den Jahren 1414/15 forderte er zur Abdeckung seiner Aufwendungen im Reich, in Italien und für das Konstanzer Konzil den dritten Pfennig von sämtlichen jüdischen Vermögen, sowie für die Ausstellung eines pauschalen Juden-Privilegs den zehnten Pfennig14. Im Januar 1415 wurde zunächst der königliche Rat Erkinger von Seinsheim ermächtigt, diese Sondersteuer im Straubinger Land und in Regensburg einzuheben15. Allerdings trat der Erbkämmerer Konrad von Weinsberg bei der Organisation dieser Steuerkampagne rasch in den Vordergrund, sodass ihm im Sommer 1415 auch die Aufgabe zufiel, die damals noch offene Steuer der Regensburger Juden einzuheben16. Nach Carl Theodor 10 BayHStA RRU, sub dato (RI XI/1, Nr. 1111). Zu den finanziellen Forderungen der Reichskanzlei für die Ausfolgerung gerade dieses Privilegs vgl. die zeitgenössische Notiz im »Schwarzen Stadtbuch«, hg. Kropač Nr. 147. 11 Vgl. die Übersicht bei Hruza, König Sigismund (wie Anm. 1) 76, 81f., sowie die Aufstellung bei Peter Herde, Regensburg, in : Germania Judaica 3. 1350–1519. Teilbd. 2. Ortschaftsartikel MährischBudwitz – Zwolle, hg. v. Arye Maimon, Mordechai Breuer, Yacov Guggenheim (Tübingen 1995) 1178–1230, hier 1185. 12 Die Regensburger Judengemeinde selbst tritt in den hier untersuchten Quellen – mit einer Ausnahme – nirgendwo als Akteur in Erscheinung, weshalb ihre Rolle in den Steuerverhandlungen mit dem König unberücksichtigt bleibt. 13 Zur Frage der Handlungsspielräume Sigismunds im Rahmen seiner »Judenpolitik« vgl. Hruza, König Sigismund (wie Anm. 1) 79, 83f., 109–116. 14 Zum dritten Pfennig von 1414/15 Karl Schumm, Konrad von Weinsberg und die Judensteuer unter Kaiser Sigismund, in : Württembergisch Franken. Jahrbuch des Historischen Vereins für Württembergisch Franken 54 (= Neue Folge 44) (1970) 20–58, hier 27–30, 49 ; Arthur J. Zuckerman, Unpublished materials on the relationship of early fifteenth-century Jewry to the central governments, in : Salo Wittmayer Baron Jubilee Volume on the Occasion of his 80th Birthday 2, hg. v. American Academy for Jewish Research ( Jerusalem 1974) 1059–1095, hier 1064–1073. 15 BayHStA RRU, sub dato (RI XI/1, Nr. 1379) (1415, Januar 7, Konstanz). 16 Dieter Karasek, Konrad von Weinsberg. Studien zur Reichspolitik im Zeitalter Sigismunds (Diss. Erlangen 1967) 17–21.
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Gemeiner hatte Sigismund bereits vor der Entsendung Seinsheims die Zustimmung des damaligen Pfandinhabers, Johanns III. von Bayern-Straubing, zur Besteuerung von dessen Juden eingeholt17. Dessen ungeachtet stieß Weinsberg in Regensburg auf Widerstand, einerseits von Seiten der Stadt, andererseits von Seiten des einflussreichen niederbayerischen Viztums, Heinrich Nothaft zu Wernberg, der das Straubinger Land im Namen Herzog Johanns verwaltete18. Weinsberg lud Nothaft im September 1415 zu Verhandlungen nach Regensburg19. Der Viztum wich dem Treffen jedoch aus und spielte den Ball eine Ebene höher : In seinem Antwortschreiben an Weinsberg erklärte er, soeben zusammen mit einer königlichen Botschaft bei Johann von Bayern-Straubing gewesen zu sein20. Dort habe er von seinem Herrn Briefe für Sigismund erhalten, die er dem König vorlegen werde. Damit sei die Sache der Regensburger Juden nicht mehr Weinsbergs Angelegenheit und der Erbkämmerer verschwende seine Zeit, wenn er auf Nothaft warte. In einem zeitgleichen Brief an die Stadt wies der Viztum weiters die Regensburger an, gemäß ihren Verpflichtungen gegenüber dem Herzog zu verhindern, dass die städtischen Juden auf Versprechungen Weinsbergs hin irgendwelche Zahlungen leisteten21. Nothafts Obstruktion war offensichtlich erfolgreich. Der dritte Pfennig scheint erst ein dreiviertel Jahr später wieder in den Regensburger Quellen auf, als Herzog Johann im April 1416 der Stadt mitteilte, auf Ansuchen Sigismunds dessen Bitte stattgegeben zu haben, von seinen Juden eine Steuer einzuheben22. Solche Willebriefe werfen ein Schlaglicht auf das Kräfteverhältnis zwischen den Beteiligten, daher lohnt ein Blick auf die Umstände ihrer Ausstellung. Johann von Bayern-Straubing, damals erwählter, 17 Gemeiner, Chronik 2, 414 berichtet von Verhandlungen Sigismunds in Konstanz mit Johanns Beauftragtem, dem Abt von Windberg, allerdings ohne Angabe von Quellen. Da Gemeiner teilweise aus später verlorenen Archivalien schöpfte, haben seine Angaben für die Regensburger Geschichte häufig den Wert von Primärquellen. Zu Johann vgl. Friedrich Schneider, Herzog Johann von Baiern, erwählter Bischof von Lüttich und Graf von Holland (1373–1425). Ein Kirchenfürst und Staatsmann am Anfang des XV. Jahrhunderts (Historische Studien 104, Berlin 1913). 18 Zu Heinrich Nothaft ebd. 169f.; Laetitia Boehm, Das Haus Wittelsbach in den Niederlanden, in : Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 44 (1981) 93–130, hier 127f.; Michaela Bleicher, Das Herzogtum Niederbayern-Straubing in den Hussitenkriegen. Kriegsalltag und Kriegsführung im Spiegel der Landschreiberrechnungen (ungedr. Diss. Regensburg 2006) 46–51. 19 Gemeiner, Chronik 2, 416. Dass Weinsberg im ausdrücklichen Auftrag Sigismunds handelte geht hervor aus BayHStA RRU, sub dato (Heinrich Nothaft an Konrad von Weinsberg, 1415, September 24, Straubing). 20 BayHStA RRU, 1415 IX 24 (wie Anm. 19). 21 BayHStA RRU, 1415 IX 24 (cedula interclusa) : Dann sunder bit ich ewer fruntschaft, ob der von Weins perg mit vorteiln und leffygen wortten an di juden km, daz ir dann mit den juden redet, daz si sich daran nicht kern und nichtz davon hallden. Und seit in auch darynnen vor, alls ir schulldig seit. 22 Erwähnt bei Gemeiner, Chronik 2, 418 zum 25. April 1416, Lüttich. Dies gegen die Darstellung Heinigs, Reichsstädte (wie Anm. 2) 92, der – Karasek folgend – Konrad von Weinsberg als treibende Kraft in den Verhandlungen mit Johann von Bayern-Straubing ansieht.
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aber nicht geweihter Bischof von Lüttich, war mit Sigismund wohl schon seit dessen Aachener Krönung im November 1414 persönlich bekannt23. Wahrscheinlich trafen die beiden im März 1416 anlässlich von Sigismunds feierlichem Einzug in Paris wieder zusammen24, nachdem sie bereits zuvor diplomatische Kontakte gepflegt hatten25. Die Chronologie legt nahe, dass in Paris neben anderen Dingen auch die von den Regensburger Juden geforderte Sondersteuer zur Sprache gekommen sein dürfte. Johanns Entgegenkommen in dieser Frage könnte ein Anzeichen dafür sein, dass er schon damals versuchte, den ständig von Geldnöten geplagten König mittels finanzieller Hilfen für sich einzunehmen, so wie er es in den folgenden Jahren in großem Stil betrieb26. Die Verbindung mit Sigismund versprach Johann Rückhalt in einer für ihn äußerst wichtigen Angelegenheit : der Frage des Erbes nach seinem Bruder, Herzog Wilhelm II. von Bayern-Straubing-Holland27. Dieser hatte eine einzige Tochter, Jakobäa, deren Erbrecht umstritten war28. Aufgrund ihrer damaligen Ehe mit dem französischen Kronprinzen hatte Jakobäas Nachfolge potentiell weitreichende Implikationen für die Reichspolitik. Johanns Interessen, sich als rechtmäßiger Erbe seines Bruders zu positionieren, trafen sich mit den Bestrebungen Sigismunds, einer weiteren Ausdehnung des französischburgundischen Einflusses im Nordwesten des Reichs zuvorzukommen. Entsprechend trat der König in späteren Jahren nachdrücklich für Johanns Ansprüche ein. Diese enge Allianz bahnte sich im Frühling 1416 zwar gerade erst an. Eine Geste des guten Willens, wie die offizielle Einwilligung zur Besteuerung seiner Juden, konnte den hochfliegenden Plänen des Herzogs damals allerdings nur zugutekommen. Ausgestattet mit dieser Einwilligungserklärung kehrte Konrad von Weinsberg nach Regensburg zurück, um nun tatsächlich den dritten Pfennig von den städtischen Juden einzuheben29. Dieses Mal hatte der Erbkämmerer auch zumindest teilweise Erfolg, wie aus einem Schadlosbrief hervorgeht, den Johann von Bayern-Straubing der Stadt im Juni 23 Jörg K. Hoensch, Kaiser Sigismund. Herrscher an der Schwelle zur Neuzeit 1368–1437 (München 1996) 188. 24 Schneider, Johann (wie Anm. 17) 66. 25 Vgl. oben, Anm. 20. 26 RI XI/1, Nr. 2604 (Sigismund für Johann von Bayern-Straubing, 1417, Oktober 11, Konstanz). Vgl. auch unten, Anm. 27 und 33. 27 Vgl. Schneider, Johann (wie Anm. 17) 67–72, 87–91, 102f.; Hoensch, Sigismund (wie Anm. 23) 231, 236f., 272f.; Attila Bárány, Koning Sigismund en zijn gevolg in de Lage Landen. Nederlanders in Hongarije, in : Acta Neerlandica. Bijdragen tot de Neerlandistiek Debrecen 14 (2017) 23–63, hier 34, 37–41. 28 Boehm, Haus Wittelsbach (wie Anm. 18) 117–130. 29 Gemeiner, Chronik 2, 416 (ohne Angabe von Quellen). Karasek, Weinsberg (wie Anm. 16) 20f. erwähnt diesen Aufenthalt nicht. Sigismund rechnete aber jedenfalls damit, dass Weinsberg damals im Begriff war, im Namen des Königs Abgaben von jüdischen Steuerschuldnern einzuheben, vgl. RI XI/1, Nr. 1965 (Sigismund an Konrad von Weinsberg, 1416, Juni 30, Leeds).
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1416 ausstellte. Darin heißt es, die Bürger hätten dem König dem Willen des Herzogs gemäß bei der Erhebung der Steuer geholfen30. Die vollständige Abwicklung des dritten Pfennigs zog sich allerdings noch bis in den Februar des Folgejahres, da nun die Stadt weitere Sicherstellungen verlangte. Am 7. Januar 1417 – kurz nach einem Aufenthalt bei Johann von Bayern-Straubing in Lüttich – bekräftigte Sigismund auf Fürsprache Konrads von Weinsberg, dass die dem Erbkämmerer geleistete Unterstützung sowohl den Bürgern, als auch der Judengemeinde an ihren Rechten unschädlich sein sollte31. Darüber hinaus bestätigte er nochmals explizit die Freiheiten der Regensburger Juden32, nicht ohne gleich darauf Herzog Johann einen Teil der soeben erhobenen Sondersteuer anzuweisen33. Die Stadt wünschte jedoch noch weitere Garantien. Als Druckmittel behielt sie offenbar einen Teil der Steuer ein, wie aus einer Aufforderung Weinsbergs von Anfang Februar 1417 geschlossen werden kann, seinem Bevollmächtigten die noch ausständigen Gelder auszufolgen34. Drei Wochen später stellte Sigismund schließlich einen Schadlosbrief für Herzog Johann aus, in dem er auch das Judengericht bestätigte35. Auf den ersten Blick geht es in der Urkunde zuvorderst darum, die Rechte des Herzogs sicherzustellen. Tatsächlich entstand das Stück allerdings wohl auf Betreiben der Stadt bzw. der jüdischen Gemeinde, auch wenn Heinrich Nothaft wahrscheinlich in die Verhandlungen eingebunden war36. Dafür spricht – neben der verzögerten Aushändigung
30 BayHStA RRU, sub dato ( Johann von Bayern-Straubing für Regensburg, 1416, Juni 21) : Und was di von Regenspurg […] hilffig und beygestendig sind gewesen, dieselben juden darczu [= die von Johann genehmigte Steuer ; AK] cze hanthaben, das ist unser guter wille und wolgevallen. Johann versicherte der Stadt weiter, sie nicht für die Beihilfe zur königlichen Steuererhebung zur Rechenschaft zu ziehen. Dieser Schadlosbrief ist also keineswegs eine Sicherstellung gegen künftige Steuerforderungen des Herzogs oder des Königs, wie die bisherige Forschung ausgehend von Gemeiner, Chronik 2, 418 angibt. 31 BayHStA RRU, sub dato (RI XI/1, Nr. 2024). 32 RI XI/1, Nr. 2023 (Sigismund für die Regensburger Juden, 1417, Januar 7, Luxemburg). Schon Altmann kannte die Urkunde lediglich aus RegBoi 12, 243. Das angebliche Original konnte bisher weder in München, noch in Nürnberg ausfindig gemacht werden, sodass es nicht ganz ausgeschlossen scheint, dass sich das Regest ebd. eigentlich auf RI XI/1, Nr. 2024 bezieht. Ich danke Klara Hübner und Stanislav Bárta für Unterstützung bei der Archivrecherche. 33 RI XI/1, Nr. 2026 (Sigismund an Konrad von Weinsberg, 1417, Januar 8, Luxemburg). Weinsberg sollte dem Herzog 1.000 französische Kronen ausbezahlen, die Johann Sigismund bei dessen Aufenthalt in Lüttich geliehen hatte. 34 BayHStA RRU, sub dato (Konrad von Weinsberg an Regensburg, 1417, Februar 3, Konstanz). 35 Tiroler Landesarchiv, Kaiserurkunden Nr. 108 (RI XI/1, Nr. 2072) (Sigismund für Johann von BayernStraubing, 1417, Februar 18, Konstanz). Zum Judengericht vgl. oben, Anm. 4. 36 Darauf deutet ein ins Jahr 1416/17 gehöriger Eintrag in StAReg Cam. 8, fol. 116v hin, demzufolge der Regensburger Schultheiß, der damals gleichzeitig das Amt des Judenrichters bekleidete, umb den judenprf mit dem grossen sigl zum Viztum nach Straubing reiste. Möglicherweise ist damit RI XI, Nr. 1111 (wie Anm. 10) gemeint. Die Urkunde, in der u. a. das Judengericht bestätigt wird, ist mit dem römischen Majestätssiegel besiegelt.
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der Steuer – einerseits, dass das Stück ursprünglich in Regensburg aufbewahrt wurde37. Andererseits haben sich im Archiv der Stadt mehrere Konzepte erhalten, die mutmaßlich die Grundlage für die Verhandlungen der Stadt mit Weinsberg bzw. dem König über den Inhalt des Schadlosbriefes bildeten38. Diese zeigen, dass die Regensburger versuchten, eine neuerliche, ausdrückliche Garantie zu erlangen, dass Sigismund der Judengemeinde keine weiteren Sondersteuern mehr auferlegen, und dies auch niemand anderem, Jude oder Christ, gestatten werde39. Königliche Sanktion erlangte aber lediglich das schon 1414 bestätigte Judengericht, das Teil des herzoglichen Pfandes war. Da dasselbe ohnehin im Zentrum der Verhandlungen gestanden hatte40, fand die Stadt sich schließlich auch bereit, Weinsbergs Abgesandtem den Rest der Steuer auszuhändigen41. Die Judensteuerkampagne von 1414/15 kam damit in Regensburg nach mehr als zwei Jahren endlich zum Abschluss. Wie schon angedeutet, blieb es nicht bei dieser einen Sondersteuer. In den folgenden Jahren versuchte Sigismund noch mehrfach, außerordentliche Abgaben von den Regens burger Juden einzuheben. Die Versuche scheinen allerdings durchweg gescheitert zu sein42. Das sogenannte Bullengeld von 1418 wurde von Johann von Bayern-Straubing blockiert43. Die vom Nürnberger Reichstag im Herbst 1422 beschlossene jüdische Abgabe zur Unterstützung des Kampfes gegen die Hussiten wurde trotz Druck vonseiten des zur Einziehung bevollmächtigten Pfalzgrafen Johann von Pfalz-Neumarkt von Heinrich Nothaft und der Stadt abgeblockt44. Der im Mai 1431 mit Verhandlungen über 37 Zu den Umständen der Überführung eines Teiles der auf die Regensburger Judengemeinde bezogenen Urkunden nach Innsbruck Nickel, Widerstand (wie Anm. 3) 291–310. 38 BayHStA RRU, 1417 II 18 (Sigismund für Regensburg/Johann von Bayern-Straubing, ohne Datum und Ort. Drei Versionen, jeweils durchgestrichen, zwei davon mit dem Vermerk »gehe alles nicht«). 39 Ebd.: Und [AK : die Juden] sullen auch dieselb czeit mit stewer, noch mit chainerlai andrer beswerung noch voderung nicht gechrenkcht, noch angesuchet werden von uns, noch dez reichs wegen, noch dez niemant ande ren gunnen, erlauben, noch verhengen, weder cristen noch juden, daz in schaden oder irrung pringen mocht. 40 Während die drei Konzepte ansonst inhaltlich variieren, enthält jede Version die Passage zur Bestätigung des Judengerichts. 41 BayHStA RRU, sub dato (Konrad von Weinsberg für Regensburg, 1417, Februar 21, Konstanz). 42 Nach dem Februar 1417 finden sich jedenfalls im Regensburger Archiv keine weiteren Schadlosbriefe oder Quittungen über an den König geleistete außerordentliche Steuern der Judengemeinde. 43 Landesarchiv Baden-Württemberg, Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein, GA 15, Schublade E, Nr. 55/ 1/18 ( Johann von Bayern-Straubing an Konrad von Weinsberg, 1418, kurz vor oder genau September 8, Dordrecht) ; vgl. auch RI XI NB/3, Nr. 15 (Sigismund für Erkinger von Seinsheim, 1418, Dezember 15, Passau) und RI XI/1, Nr. 3810 (Sigismund für Peter Auer zu Brennberg, 1419, Januar). 44 RI XI/1, Nr. 4973 (Sigismund für Johann von Pfalz-Neumarkt, 1422, August 14, Nürnberg) ; BayHStA RRU, sub dato (RI XI/1, Nr. 5298) (Sigismund für Johann von Bayern-Straubing, 1422, September 26, Regensburg) ; RI XI/1, Nr. 5318 (Sigismund für Johann von Pfalz-Neumarkt, 1422, Oktober 4, Regensburg) ; RTA 8, Nr. 232 (Augsburg an Regensburg, 1423, April 14, Augsburg) ; Bleicher, Niederbayern-
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eine Abschlagszahlung, mit der die Juden des Reichs eine allgemeine Schuldentilgung abwenden sollten, beauftragte königliche Rat Niklas von Redwitz nahm schließlich von der Erhebung dieser Abgabe in Regensburg Abstand, nachdem die Stadt den Nachfolger Johanns von Bayern-Straubing als Pfandherrn der städtischen Juden, Herzog Ludwig VII. von Bayern-Ingolstadt, Heinrich Nothaft und – zumindest auf dem Papier – sogar den Papst zu Hilfe gerufen hatte45. Angesichts dieses geeinten Auftretens von Stadt und Pfandherrn war der Handlungsspielraum Sigismunds bzw. seiner Vertreter bei der Erhebung außerordentlicher Steuern in der Regel sehr begrenzt. Die Pfandherren besaßen eine gefestigte Position im Land und konnten rasch vor Ort gegen Verletzungen ihrer Rechte protestieren und Druck auf die ihnen vertraglich verpflichtete Stadt ausüben. Johann von Bayern-Straubing wurde von einem durchsetzungskräftigen, ja skrupellosen Viztum vertreten, der als einer der größten Gläubiger des Herzogs gleichzeitig ein handfestes persönliches Interesse daran hatte, die Steuerkraft der Regensburger Juden zu erhalten46. Der um nichts weniger durchsetzungskräftige Ludwig von Bayern-Ingolstadt war ein unmittelbarer Nachbar Regensburgs, mit dem es die Stadt noch viel weniger auf einen Konflikt ankommen lassen wollte47. Dem stets peinlich auf die Wahrung seiner Rechte und Würden bedachten Ludwig wurde von seinen Gegnern wohl nicht umsonst – mutmaßlich im Zusammenhang mit der Steuererhebung von 1431 – vorgeworfen, er hindere den König widerrechtlich an der Besteuerung der in seinen Territorien ansässigen Juden48. Es verwundert Straubing (wie Anm. 18) 125 (Verhandlungen Heinrich Nothafts mit Sigismund). Erst im Jahr zuvor hatte sich die Stadt anlässlich einer unter dem Titel der Hussitenabwehr von den Juden erpressten herzoglichen Sondersteuer von Johann von Bayern-Straubing bestätigen lassen, sie künftig gegen jegliche Forderungen des Königs oder sonst eines Fürsten zu verteidigen, BayHStA RRU, sub dato ( Johann von Bayern-Straubing für Regensburg, 1421, Juni 27, Straubing). 45 RI XI/2, Nr. 8573 (Sigismund für Niklas von Redwitz, 1431, Mai 7, Nürnberg) ; BayHStA RRU, sub dato (RI XI/2, Nr. 8649) (Sigismund an den Bischof von Regensburg, 1431, Juni 27, Nürnberg) ; StAReg Cam. 11, fol. 50v, 51v und 64r (städtische Gesandtschaften an Herzog Ludwig und den Bischof, 1431, Mai bis August) ; »Schwarzes Stadtbuch«, hg. Kropač Nr. 556 (undatierte Bittschrift der Stadt an Papst Eugen IV.) ; BayHStA RRU, sub dato (Niklas von Redwitz für die Regensburger Juden, 1432, Februar 3, Regensburg, mitbesiegelt von Heinrich Nothaft). 46 Hier sei lediglich auf die von Nothaft mit Waffengewalt durchgesetzte Sondersteuer zur Hussitenbekämpfung verwiesen, vgl. Bleicher, Niederbayern-Straubing (wie Anm. 18) 105f., sowie oben, Anm. 18 und 44. 47 Zu Ludwig von Bayern-Ingolstadt Theodor Straub, Bayern im Zeichen der Teilungen und Teilherzogtümer (1347–1450), in : Handbuch der Bayerischen Geschichte 2, hg. v. Max Spindler (München 21988) 199–287, hier 246–249, 252–259 ; ders., Ludwig der Bärtige. Mythos und Wirklichkeit, in : Sammelblatt des Historischen Vereins Ingolstadt 110 (2001) 75–90. Zur Sorge der Regensburger, der Juden wegen zwischen König und Herzog zu geraten, vgl. etwa die Schilderung im »Schwarzen Stadtbuch«, hg. Kropač Nr. 556 (wie Anm. 45). 48 BayHStA RRU, 1429 VI 29 bis 1433 V 30 (Fragment eines Protokolls aus Verhandlungen zwischen den
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also nicht, dass die Steuerkampagnen von 1418, 1422 und 1431 in Regensburg ins Leere liefen. Gerade am Beispiel Ludwigs von Bayern-Ingolstadt lässt sich jedoch auch zeigen, dass Sigismund sofort entschlossen zugriff, sobald sich eine Lücke in dem festen Gefüge Pfandherr – Stadt auftat. Eine solche Gelegenheit bot der 1434 gegen Ludwig geführte Prozess vor dem Hofgericht49. Der Zeit seines Lebens in zahlreiche Konflikte verwickelte Herzog war im Zuge einer Auseinandersetzung mit diversen bayerischen Klöstern im Herbst 1433 vom Basler Konzil exkommuniziert worden. Anschließend baten die Konzilsväter den nunmehrigen Kaiser, den Delinquenten zu ächten und seine Reichslehen einzuziehen. Im Zuge des aufgrund des Klosterprozesses und diverser anderer angeblicher Rechtsverletzungen angestrengten Hofgerichtsverfahrens wurde Ludwig im Februar 1434 tatsächlich geächtet50. Zwei Monate später, am 28. April 1434, wurde diese Acht durch die sofortige Friedloslegung verschärft51. Ludwig wurde all seiner Titel und Würden für verlustig erklärt, seine Güter und Lehen verfielen dem Reich. Dies schloss natürlich auch die wittelsbachischen Rechte an den Regensburger Juden ein. Sigismund unternahm im Folgenden auch tatsächlich zwei Versuche, diese Rechte an sich zu ziehen. Schon im November 1433 werden sie in einer Urkunde erwähnt, mit der der Kaiser versprach, Ludwigs verfallene Lehen dessen Neffen, Wilhelm III. von Bayern-München, zu übertragen52. Die Regensburger Judengemeinde sollte – neben einigen anderen, symbolisch bedeutsamen Gütern – hiervor allerdings ausdrücklich ausgenommen sein53. Dieses Belehnungsversprechen wurde zwar nie umgesetzt54, Sigismund war es aber durchaus ernst mit der Absicht, sich direkten Zugriff auf die jüdische bayerischen Herzögen) : Item, so undercziech sich mein herr, herczog Ludwig, seiner konigklichen herlicheit, nämlich so hinder er sein gnad an der judischeit in seinen lannden gesessen, die dem reich mit recht zugeho ren, und lasse im der nicht volgen, als andre fursten und herren tun etc. Der Herzog wies den Vorwurf für Regensburg unter Berufung auf seine Pfandrechte zurück. 49 Vgl. Straub, Bayern (wie Anm. 47) 265f.; Hoensch, Sigismund (wie Anm. 23) 410 ; Werner Müller, Bayern und Basel. Studien zu Herzogshaus, Kirche und Konzil (1431–1449), in : Annuarium Historiae Conciliorum 29 (1997) 1–164, 335–500, hier 117–123, 129–132. Ausführlich Hugo Kleber, Der Reichshofgerichtsprozeß gegen Herzog Ludwig den Gebarteten von Ingolstadt (1434) und die Bedeutung des gleichzeitigen Basler Weistums über Vorladung eines Fürsten für die Geschichte des Prozessverfahrens am Reichsgericht (Diss. Masch. Erlangen 1922). 50 RI XI/2, Nr. 10053 (1434, Februar 24, Basel). 51 Ebd. Nr. 10311 (1434, April 28, Basel). 52 BayHStA, Bayern Urkunden, Nr. 58 (RI XI/2, Nr. 9832) (Sigismund für Wilhelm von Bayern-München, 1433, November 26, Basel). 53 Ebd.: Wir nehmen ouch dorynne nemlich usz die judischeit zu Regenspurg. 54 Zur Interpretation dieser Vorgänge Kleber, Reichshofgerichtsprozeß (wie Anm. 49) 7 ; Straub, Bayern (wie Anm. 47) 265 ; Müller, Bayern (wie Anm. 49) 112–114. Eine ausführliche Studie Uwe Tresps zu diesem Thema befindet sich derzeit in Vorbereitung.
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Gemeinde von Regensburg zu verschaffen. Nur zwei Tage nachdem der zweite Achtbrief gegen Ludwig ergangen war, ordnete der Kaiser am 30. April 1434 Konrad von Weinsberg der städtischen Juden wegen nach Regensburg ab55. Das Regest in den Regesta Imperii XI suggeriert einen Zusammenhang mit der seit Herbst 1433 von Sigismund und Weinsberg betriebenen außerordentlichen Judensteuer anlässlich der Kaiserkrönung56. Dies trifft jedoch nicht zu, auch wenn die Regensburger Juden aufgefordert worden waren, zusammen mit ihren übrigen Glaubensgenossen im Februar 1434 in Basel zu erscheinen, um über die Krönungssteuer zu verhandeln57. Tatsächlich teilte Sigismund der Stadt mit, der Erbkämmerer käme nach Regensburg, um sich von Reichs wegen der Judengemeinde zu unterwinden, die aufgrund des Hofgerichtsentscheids gegen Herzog Ludwig dem Reich verfallen war58. Es ging dem Kaiser also eindeutig um eine Revindikation der ordentlichen Steuer der Regensburger Juden. Die Ausschaltung des herzoglichen Pfandherrn ebnete allerdings natürlich gleichzeitig auch den Weg zur Erhebung außerordentlicher Steuern. Entsprechend eifrig disponierte Sigismund in den nächsten Monaten über die erwarteten Regensburger Gelder59. Die Stadt glaubte allerdings nicht an eine tatsächliche Exekution der Reichsacht gegen Ludwig von Bayern-Ingolstadt und bemühte sich, die Judengemeinde bis zur Klärung der Lage vor Forderungen zu schützen. Sie hielt den Erbkämmerer bei seinem Aufenthalt in der Stadt im Frühling 1434 55 BayHStA RRU, sub dato (RI XI/2, Nr. 10328). 56 Siehe das Regest ebd. Nr. 10327 (Sigismund erlaubt Konrad von Weinsberg, für ihm geliehene 1.000 rheinische Gulden dieselbe Summe von den Regensburger Juden einzuheben, 1434, April 30, Basel). Der Editor Wilhelm Altmann stellt Nr. 10328 als Ausführungsanweisung an die Stadt Regensburg dar. Da ein von Altmann zitierter nachträglicher Vermerk Weinsbergs auf Nr. 10327 diese Vollmacht mit der von Sigismund im September 1434 unter dem Titel der Krönungssteuer erhobenen außerordentlichen Abgabe verbindet, entsteht der falsche Eindruck, auch Nr. 10328 beziehe sich auf die Krönungssteuer. Entsprechend hat auch Karasek, Weinsberg (wie Anm. 16) 163 Probleme, Weinsbergs damaligen Aufenthalt in Regensburg korrekt einzuordnen. Zur Krönungssteuer Schumm, Weinsberg (wie Anm. 14) 36–38. 57 RTA 11, Nr. 164, hier 300 (Verzeichnis der nach Basel bestellten jüdischen Gemeinden, 1434, ad Februar 2). 58 BayHStA RRU, 1434 IV 30 (wie Anm. 55) : Und ist das recht so verre gegangen, das [AK : Ludwig von Bayern-Ingolstadt] uns und dem reiche aller seiner lannd und leut, erbes, lehen und eigens verfallen ist. […] Darumb senden wir ietzund zu euch gen Regenspurg den edeln Cunraden, herren zu Weinsperg, […] sich der judischeit daselbs von unsern und desselben reichs wegen zu underwinden, die zu unsern hennden zu nehmen und zu tun. 59 Vgl. RI XI/2, Nr. 10327 (wie Anm. 56), Nr. 10343 (Sigismund für Basel, 1434, Mai 2, Basel), Nr. 10372 (Sigismund an Konrad von Weinsberg, 1434, Mai 6, Basel) sowie BayHStA RRU, sub dato (Hans von Lupfen, kaiserlicher Hofrichter, weist die Stadt Regensburg an, Alban Closner zu Dingolfing bei der Einhebung von 2.000 Mark Gold von den städtischen Juden zu unterstützen, 1434, Juni 26, Ulm). Closner, Hofmeister Heinrichs XVI. von Bayern-Landshut, des großen Konkurrenten Ludwigs von Bayern-Ingolstadt, hatte diese Summe in einem Hofgerichtsprozess gegen den Ingolstädter Herzog zugesprochen bekommen.
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hin60 und sandte stattdessen Gesandte an den Kaiser, Herzog Ludwig und die übrigen bayerischen Herzöge61. Die Stadtväter sollten Recht behalten : am 10. August 1434 unterwarf der Ingolstädter sich und wurde wieder in Gnaden aufgenommen62. Die Frage der ordentlichen Steuer der Regensburger Juden war damit vom Tisch, nicht jedoch die Krönungssteuer. Diese Sonderabgabe setzte Sigismund erstmals seit 1417 wieder erfolgreich durch. Obwohl Ludwig von Bayern-Ingolstadt am 4. September 1434 noch von der Stadt verlangt hatte, die Juden gemäß ihrer vertraglichen Verpflichtungen vor der vorderung des Kaisers zu schützen63, bestätigte Sigismund, der im Herbst 1434 mehrere Wochen lang in Regensburg Hof hielt, der jüdischen Gemeinde sechs Tage später im Gegenzug für die ihm als Kaiser zustehende erung ihre traditionellen Privilegien64. Die Tatsache, dass Sigismund einige Tage später auch die Krönungssteuer von den übrigen in den Territorien Ludwigs von Bayern-Ingolstadt ansässigen Juden entgegennahm, legt nahe, dass der Herzog, den der Kaiser damals in Regensburg mit seinen zahlreichen Gegnern aussöhnen sollte, der außerordentlichen Steuer schließlich trotz seines ursprünglichen Widerstandes zugestimmt hatte65. Die jüdische Gemeinde von Regensburg war also zweimal, 1416/17 und 1434, nachweislich gezwungen, entgegen ihrer Privilegien Sondersteuern an den König abzuführen66. Dem stehen drei gescheiterte Versuche Sigismunds gegenüber, in seinem Namen 60 Zu Weinsbergs Aufenthalt in Regensburg vgl. RTA 11, Nr. 171, hier 322 (Abrechnung Konrads von Weinsberg über die Krönungssteuer, ad 1435, Januar 1). Der Erbkämmerer verbrachte sieben Wochen in Regensburg, was die Ernsthaftigkeit von Sigismunds Revindikationsversuch unterstreicht. Dass damals keine Zahlung erfolgte erschließt sich aus Weinsbergs Anmerkung zu RI XI/2, Nr. 10327 (wie Anm. 56) sowie aus BayHStA RRU, sub dato (das Konzil von Basel an Regensburg, 1435, Februar 28, Basel). 61 StAReg Cam. 11, fol. 161v–162r (1434, Juni). 62 Straub, Bayern (wie Anm. 47) 266 ; Hoensch, Sigismund (wie Anm. 23) 410f. 63 BayHStA RRU, sub dato. 64 BayHStA RRU, 1434 IX 10 (RI XI/2, Nr. 10776). Bei Heinig, Reichsstädte (wie Anm. 2) 93, sowie Nickel, Widerstand (wie Anm. 3) 67 ist – Gemeiner folgend – irrig von der ordentlichen Steuer der Regensburger Juden die Rede, es handelt sich jedoch eindeutig um die Krönungssteuer. Nach den Aufzeichnungen Konrads von Weinsberg belief sich diese auf 1.400 Gulden, vgl. RTA 11, Nr. 164, hier 300 (wie Anm. 57). 65 Nickel, Widerstand (wie Anm. 3) Quelle 13 (Sigismund für die Juden in Regensburg und den Landen Ludwigs von Bayern-Ingolstadt, 1434, September 15, Regensburg). Hierbei kam es mutmaßlich auch zu einer persönlichen Begegnung zwischen Sigismund und seinen Regensburger Kammerknechten, heißt es doch in der Urkunde, dass zumindest Herzog Ludwigs Juden dem Kaiser ihr Ehrgeschenk persönlich übergaben. Zu Sigismunds damaligen Ausgleichsbemühungen Hoensch, Sigismund (wie Anm. 23) 431. 66 Der Gesamterlös des dritten Pfennigs ist unklar ; bekannt ist lediglich eine Teilsumme von 1.000 französischen Kronen (vgl. oben, Anm. 33). An Krönungssteuer gingen 1.400 Gulden direkt an Sigismund (vgl. oben, Anm. 64), dazu kamen möglicherweise noch spätere Zahlungen an Konrad von Weinsberg (vgl. oben, Anm. 60).
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außerordentliche Abgaben einheben zu lassen. Bei jedem dieser Versuche standen der Herrscher und seine Beauftragten einer nur schwer auszuhebelnden, rechtlich gut abgesicherten Allianz zwischen den wittelsbachischen Herzögen und der Stadt Regensburg gegenüber. Angesichts der starken lokalen Präsenz der fürstlichen Pfandinhaber und des potentiellen Schadens für die weitgehende Unabhängigkeit der Stadt vom Königtum war diese nur schwer zu bewegen, aus dieser Allianz auszuscheren. Zu frisch war möglicherweise auch die Erinnerung an einen heftigen Rechtsstreit, den die Stadt 1410 mit Johann von Bayern-Straubing über die beiderseitigen Rechte an der jüdischen Gemeinde ausgefochten, und bei dem sich der Herzog weitgehend durchgesetzt hatte67. Diese Erfahrung dürfte die Stadtväter noch vorsichtiger gemacht haben, Forderungen des Königs nachzugeben, die im Widerspruch zu den Rechten der Herzöge standen. Darüber hinaus scheint zumindest ein Teil der städtischen Entscheidungsträger der Auffassung gewesen zu sein, die Privilegien ihrer Stadt würden diese generell von der Verpflichtung befreien, den königlichen Forderungen an die Judengemeinde nachzukommen68. Angesichts dieser Widerstände stellt sich eigentlich weniger die Frage nach den Gründen für das Scheitern der Judensteuerkampagnen, sondern eher, warum es Sigismund nichtsdestotrotz zweimal gelang, außerordentliche Abgaben von seinen Regensburger Kammerknechten einzuziehen. Wie gezeigt werden konnte, waren neben der Beharrlichkeit des königlichen Beauftragten Konrad von Weinsberg vor allem die politischen Interessen der herzoglichen Pfandherren ausschlaggebend. Johann von BayernStraubing sah in Sigismund einen attraktiven Schirmherrn, dem er sich u. a. durch die Zustimmung zur Besteuerung der Regensburger Juden anzudienen versuchte. Ludwig von Bayern-Ingolstadt wiederum hatte erst kurz vor der Erhebung der Krönungssteuer die Gnade des Kaisers wiedererlangt und konnte es sich mutmaßlich nicht leisten, dem Druck, den Sigismunds Prestigegewinn durch die Kaiserkrönung und seine persönliche Anwesenheit in Regensburg kreierten, allzu großen Widerstand entgegenzusetzen. In beiden Fällen tritt Sigismund als der von der Forschung schon vielfach beschriebene – und auch vom Jubilar wieder als solcher bestätigte – geschickte politische Spieler in Erscheinung, stets bereit, sich bietende Chancen zu ergreifen und in Einkünfte für seine Kammer zu verwandeln ; ein Zug, der auch dem durchaus ernstzunehmenden Revindikationsversuch anlässlich der Ächtung Ludwigs innewohnt69. Wie bei anderen Gelegen67 Gemeiner, Chronik 2, 390–393. 68 Vgl. die folgende, nicht in die Ausfertigung aufgenommene Passage aus einem der Konzepte zu RI XI/1, Nr. 2072 (wie Anm. 35), BayHStA RRU, 1417 II 18 (wie Anm. 38) : Rat und Bürger hätten die Erhebung des dritten Pfennigs gewährt, wiewol […] uns dez […] die von Regensburg von irer burgerrecht und brif wegen nicht schuldig gewesen wern. 69 Vgl. die inzwischen klassische Charakterisierung Hermann Heimpels, Deutschland im späteren Mittelalter (Handbuch der deutschen Geschichte 1/5, Konstanz 1957) 93, sowie die abschließende Wertung
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heiten auch stieß er jedoch bei der Besteuerung der Regensburger Juden regelmäßig an die Grenzen seiner Durchsetzungsfähigkeit, sodass es ihm nur bei Vorliegen besonders günstiger Konstellationen gelang, seine verpfändeten Kammerknechte für seine Zwecke heranzuziehen70.
Hruzas, König Sigismund (wie Anm. 1) 115f. Ein besonderes Geschick Sigismunds gerade für die Einhebung außerordentlicher Judensteuern konstatiert auch Heinig, Reichsstädte (wie Anm. 2) 100f. 70 Der Beitrag entstand im Rahmen des am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München durchgeführten DACH-Projektes I 4176-G28 »Kaiser Sigismund und Bayern«.
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Im Zeichen der Wiener Gesera ? Die Judenpolitik Herzog Albrechts V. von Österreich in Mähren
Vorwort Im Zentrum des vorliegenden Beitrags steht die Judenpolitik Herzog Albrechts V. (II.) von Österreich in Mähren, wo der Habsburger von 1423/24 bis 1439 als Markgraf regierte (Abschnitt 3). Da sich unter Albrechts österreichischer Herrschaft das wohl größte Pogrom des mitteleuropäischen Spätmittelalters – die Wiener Gesera – ereignete, muss die Lage in Mähren mit jener in Österreich verglichen werden (Abschnitt 1), was neue Einsichten in die in mancher Hinsicht noch unklare Geschichte der Wiener Gesera erhoffen lässt (Abschnitt 4). Beides wäre nicht möglich ohne Berücksichtigung der mährischen Regierung König Sigismunds, der unmittelbar vor seinem Schwiegersohn in der Markgrafschaft herrschte (Abschnitt 2). Als besonders aufschlussreich erweist sich aber auch der Vergleich mit der Judenpolitik Sigismunds im Reich, die Karel Hruza vor einigen Jahren besonders inspirierend analysiert hat (Abschnitt 4).
1. Einleitung: Die Wiener Geser a Die Wiener Gesera (1420/21), die Vernichtung der mittelalterlichen jüdischen Bevölkerung des Herzogtums Österreich ob und unter der Enns (mit Ausnahme des damals zur innerösterreichischen Ländergruppe gehörenden Gebietes um Wiener Neustadt), die sich vor genau sechshundert Jahren zutrug, zählt zu den größten Judenpogromen im spätmittelalterlichen Mitteleuropa. Von oben initiiert, i.e. von Herzog Albrecht V. und seinem Hof geplant und vollzogen, führte die Gesera zum grausamen Tod hunderter Juden. Andere durften das Land verlassen, wurden jedoch ihres Hab und Gutes beraubt. Der einzige Ausweg war die Taufe, wobei die Neuchristen vom Herzog ostentativ gefördert wurden. Diese Möglichkeit scheinen dennoch insgesamt eher wenige Juden genutzt zu haben ; für die meisten war es keine Option, den eigenen Glauben zu verlassen, was bei etlichen Wiener Juden sogar im Kiddusch ha-Schem, dem rituellen Selbstmord zur Heiligung Gottes, gegipfelt haben soll. Der Verlauf der Wiener Gesera ist durch eine gleichnamige jüdische Quelle aus dem 16. Jahrhundert ziemlich detailliert dokumentiert. Diese basiert wahrscheinlich auf
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einem zeitgenössischen Sendschreiben, enthält aber auch viele literarische topoi. Die christlichen erzählenden Quellen sind insgesamt viel informationsärmer. Außerdem widersprechen sie einander teilweise. Die Forschung hat schon mehrfach versucht, den Verlauf der Wiener Gesera auf Basis der bekannten Quellen zu rekonstruieren, wobei die einzelnen HistorikerInnen das Bild schrittweise präzisierten1. 1 Das Thema wurde von der älteren österreichischen Geschichtsschreibung traditionell als kontrovers angesehen und lange eher nur am Rande erwähnt. Wichtige Pionierarbeit leisteten erst die österreichischen jüdischen Historiker des frühen 20. Jahrhunderts : Arthur Goldmann, Das Judenbuch der Scheffstraße zu Wien (1389–1420) (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutsch-Österreich 1, Wien–Leipzig 1908), mit Edition der Wiener Geserah auf S. 112–132 sowie der Urteilssprüche aus dem Frühjahr 1421 auf S. 112f.; Ignaz Schwarz, Das Wiener Ghetto. Seine Häuser und seine Bewohner (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutsch-Österreich 2, Wien–Leipzig 1909) ; ders., Geschichte der Juden in Wien bis zum Jahre 1625 (Wien 1913) 37–42 und vor allem Samuel Krauss, Die Wiener Geserah vom Jahre 1421 (Wien–Leipzig 1920). Für den Mainstream der österreichischen Geschichtsforschung blieb die Gesera jedoch nach wie vor am Rande des Forschungsinteresses. Selbst abseits der nationalsozialistisch geprägten Geschichtsschreibung wurde die Gesera in der Handbuchliteratur oft entweder verschwiegen oder marginalisiert. – Die systematische Erforschung jüdischer Geschichte in Österreich setzte vor allem seit den 1970er Jahren wieder ein und wurde durch die Gründung des Jüdischen Museums in Wien und des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs wesentlich befördert. Mit der mittelalterlichen jüdischen Geschichte beschäftigte sich hauptsächlich Klaus Lohrmann, Gründungsdirektor des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs, der auch der Wiener Gesera viel Aufmerksamkeit widmete : s. besonders Klaus Lohrmann, Die Judenverfolgungen zwischen 1290 und 1420 als theologisches und soziales Problem, in : Wellen der Verfolgung in der österreichischen Geschichte, hg. v. Erich Zöllner (Wien 1986) 40–51, hier 47–49 ; ders., Judenrecht und Judenpolitik im mittelalterlichen Österreich (Handbuch zur Geschichte der Juden in Österreich. Reihe B 1, Wien–Köln 1990), zur Gesera S. 298–309 ; ders., Die Wiener Juden im Mittelalter (Geschichte der Juden in Wien 1, Berlin–Wien 2000) 155–173 ; ders., Fürsten zwischen Recht und Raub. Zu den finanziellen Aspekten von Judenvertreibungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in : Österreich in Geschichte und Literatur 46 (2002) 141–150, hier 145–147 ; ders., Im Vorfeld des Gedenkens an 1420/21, in : Wiener Geschichtsblätter 73/74 (2018) 277–279. Von den weiteren AutorInnen s. vor allem Anna Maria Drabek, Judentum und christliche Gesellschaft im hohen und späten Mittelalter, in : Das österreichische Judentum. Voraussetzungen und Geschichte, hg. v. Nikolaus Vielmetti (Wien–München 31988 [die erste Auflage erschien 1974]) 25–57, hier 52 ; Shlomo Spitzer, Bne Chet. Die österreichischen Juden im Mittelalter. Eine Sozial- und Kulturgeschichte (Wien–Köln–Weimar 1997) 79–88 ; Kurt Schubert, Die Wiener Gesera und der Freitod von Wiener Juden zur »Heiligung Gottes«, in : Memoria – Wege jüdischen Erinnerns. Festschrift für Michael Brocke zum 65. Geburtstag, hg. v. Birgit E. Klein, Christiane E. Müller (Berlin 2005) 541–551 ; Eveline Brugger, Von der Ansiedlung bis zur Vertreibung. Juden in Österreich im Mittelalter, in : dies., Martha Keil, Albert Lichtblau, Christoph Lind, Barbara Staudinger, Geschichte der Juden in Österreich (Wien 2006) 123–228, hier 221–224 ; Martha Keil, What Happened to the ”New Christians” ? The ”Viennese Geserah” of 1420/21 and the Forced Baptism of the Jews, in : Jews and Christians in Medieval Europe. The historiographical legacy of Bernhard Blumenkranz, hg. v. Philippe Buc, Martha Keil, John Victor Tolan (Turnhout 2015) 97–114 ; Petr Elbel, Wolfram Ziegler, Am schwarczen suntag mardert man dieselben Juden, all die zaigten vill guets an under der erden… Die Wiener Gesera : eine Neubetrachtung, in : Avigdor, Benesch, Gitl. Juden in Böhmen, Mähren und Schlesien im Mittelalter. Samuel Steinherz zum Gedenken (1857 Güssing – 1942 The-
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Unzweifelhaft ist, dass das Pogrom in zwei Phasen zerfiel. In der ersten Phase, die mit der Gefangennahme aller österreichischen Juden und Jüdinnen am 23. Mai 1420 begann, wurden die Juden zur Taufe gezwungen. Mit denjenigen, die die Taufe ablehnten – die absolute Mehrheit –, wurde unterschiedlich verfahren : die Ärmeren sollen vertrieben, die Reichen jedoch festgehalten und gefoltert worden sein. In der zweiten Phase, nach einem päpstlichen Einspruch gegen die Zwangstaufe, wurde von weiteren Taufen Abstand genommen. Die gefangenen Juden wurden nun der Schändung zahlreicher, angeblich vor etlichen Jahren in Enns erworbener und systematisch unter den jüdischen Gemeinden Österreichs verbreiteter Hostien beschuldigt und auf der Grundlage dieses konstruierten Verbrechens zum Tod durch Verbrennen verurteilt. Die Hinrichtung erfolgte am 12. März 1421 auf der Gänseweide in Erdberg bei Wien. Obwohl der Verlauf des Pogroms also in groben Zügen bekannt ist, wird über dessen Ursachen, und vor allem über die tatsächlichen Beweggründe Herzog Albrechts V. bis heute intensiv diskutiert2. Unter bewusstem Abrücken von traditionellen Erklärungsmustern, namentlich der Annahme, dass es dem Herzog von Anfang an vor allem um die Enteignung des jüdischen Besitzes in seinen Ländern ging, oder dass er den wirtschaftlichen Interessen des christlichen Bürgertums entgegenkommen wollte3, begann die jüngere Forschung seit den resienstadt), hg. v. Helmut Teufel, Pavel Kocman, Milan Řepa (Brünn–Prag–Essen 2016) 201–268 ; Simon Neuberg, Die jiddischen Texte über die Wiener Gesera von 1420/21, in : The Jews of Europe around 1400. Disruption, Crisis, and Resilience, hg. v. Lukas Clemens, Christoph Cluse (Wiesbaden 2018) 145–156 ; jüngst mit Schwerpunkt auf die angebliche Ennser Hostienschändung Norbert Haslhofer, Politik mit Ennser Geschichte 1419–1421. Passauer Kirchenpolitik und Wiener Judenpolitik. Hintergründe der Wiener Geserah (Forschungen zur Geschichte der Stadt Enns im Mittelalter 2, o. O. 2019). Abkürzungen : RI XI NB/1 = J. F. Böhmer, Regesta Imperii XI. Regesten Kaiser Sigismunds (1410– 1437) nach Archiven und Bibliotheken geordnet, hg. v. Karel Hruza. Bd. 1 : Die Urkunden und Briefe aus den Archiven und Bibliotheken Mährens und Tschechisch-Schlesiens. Nach Wilhelm Altmann neubearb. v. Petr Elbel (Wien–Köln–Weimar 2012) ; MZA = Moravský zemský archiv v Brně [Mährisches Landesarchiv Brünn] ; SOkA = Státní okresní archiv [Staatliches Bezirksarchiv] ; AM = Archiv města [Stadtarchiv] ; AMB = Archiv města Brna [Stadtarchiv Brünn]. 2 Die unterschiedlichen Meinungen werden in einer rezenten Publikation des Jüdischen Museums in Wien nebeneinandergestellt : Marta Keil, Klaus Lohrmann, Simon Neuberg, Petr Elbel, Wolfram Ziegler, Q&A zur Wiener Gesera. Vier Perspektiven auf die Geschichte der Beraubung, Vertreibung und Ermordung der Wiener jüdischen Gemeinde 1420/21, hg. v. Danielle Spera, Astrid Peterle, Domaqoj Akrap, Adina Seeger (Wien 2021) 103–109. 3 Auch die wirtschaftlichen Erklärungen für die Gesera variieren also bedeutend. Kraus, Wiener Geserah (wie Anm. 1) 57f. suchte den Grund für das Pogrom in wirtschaftlichen Problemen der Wiener Juden nach dem Brand der Judenstadt im Jahr 1406, wodurch die Juden angeblich verarmt seien und für den Herzog an Attraktivität verloren hätten. Diese Vermutung lehnte bereits Otto Stowasser in seiner Rezension von Kraus’ Buch dezidiert ab und postulierte, dass sich die Wiener Gemeinde nach 1406 schnell erholt hätte – s. Otto Stowasser, Zur Geschichte der Wiener Geserah. Samuel Kraus, Die Wiener
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1980er Jahren andere Erklärungen zu suchen. Der religiöse Aspekt wurde nun verstärkt betont, u. a. mit dem Argument, der Herzog habe durch die Gesera wesentlich weniger lukriert, als er langfristig verloren habe4. Das Pogrom wurde daher hauptsächlich religiös, als Ergebnis der engen Zusammenarbeit Herzog Albrechts mit seinen geistlichen Beratern aus den Reihen der Wiener Universitätstheologen sowie der Melker Klosterreformer gedeutet5. Diese Kreise strebten bekanntlich danach, Österreich mithilfe des Herzogs in ein vorbildliches christliches Land, das rein von Ketzern war, zu verwandeln, was dazu führte, dass auch die jüdische Bevölkerung nicht mehr länger erwünscht war. Dass einige österreichische Theologen und Klosterreformer jener Zeit eine stark antijüdische Haltung einnahmen, steht außer Zweifel ; diese lässt sich durch mehrere Quellenzeugnisse belegen. Mit diesem allgemeinen Judenhass hing auch die Vorstellung zusammen, es gäbe ein geheimes Bündnis (confederacio) zwischen den österreichischen Juden, den böhmischen Hussiten und den Waldensern. Dieser Verdacht wurde am 9. Juni 1419 in einer Versammlung der Universität besprochen. Weitere Schritte wurden allerdings wegen der Abwesenheit mehrerer Magister und insbesondere des Beichtvaters Herzog Albrechts, vertagt (falls es sich nach einer weiteren Besprechung als notwendig erweisen
Geserah vom Jahre 1421, Wien : Brandmüller 1921, in : Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 16 (1922) 104–118, hier 115. Schwarz, Juden in Wien (wie Anm. 1) 37f., aber auch einige andere Forscher, sahen den Hauptgrund für die Wiener Gesera hingegen eindeutig im Wunsch Herzog Albrechts, den jüdischen Besitz zu konfiszieren, und postulierten einen Zusammenhang zwischen dem Pogrom und den politischen Ereignissen der Jahre 1420/21. 4 Dieses Argument brachte besonders Lohrmann, Judenrecht (wie Anm. 1) 309 vor : »Bei Betrachtung all dieser Folgen kann man nur zum Schluss kommen, daß der Nutzen, den Albrecht V. aus der Vertreibung zog, äußerst gering war. Die Gesamteinnahmen aus den Verkäufen brachten zwar einige tausend Pfund ein, doch allein die Judensteuer von drei Jahren hätte diesen Betrag abgedeckt«. Später revidierte Lohrmann diese Ansicht (s. unten Anm. 13). 5 Allgemein zur Kirchenpolitik Herzog Albrechts s. Gerda Koller, Princeps in ecclesia. Untersuchungen zur Kirchenpolitik Herzog Albrechts V. von Österreich (Archiv für österreichische Geschichte 124, Graz–Wien–Köln 1964) ; zur Melker Reformbewegung besonders Meta Niederkorn-Bruck, Die Melker Reform im Spiegel der Visitationen (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband 30, Wien–München 1994) und übersichtlich Christine Glassner, Stift Melk und die Melker Reform im 15. Jahrhundert, in : Die benediktinische Klosterreform im 15. Jahrhundert, hg. v. Franz Xaver Bischof, Martin Thurner (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie 56, Berlin 2012) 75–92. Zur Wiener Universität und ihren Theologen s. besonders Christina Traxler, Firmiter velitis resistere. Die Auseinandersetzung der Wiener Universität mit dem Hussitismus vom Konstanzer Konzil (1414–1418) bis zum Beginn des Basler Konzils (1431–1449) (Schriften des Archivs der Universität Wien 27, Göttingen– Wien 2019) ; in Bezug auf die Juden Iris Palenik, Zeugen, Wucherer, Christusmörder. Ambivalente Bilder des Jüdischen in deutschsprachigen Predigten Wiener Theologen am Beginn des 15. Jahrhunderts, in : Tagungsbericht des 26. Österreichischen Historikertages. Krems/Stein, 24. bis 28. September 2012, hg. v. Reinelde Motz-Linhart (St. Pölten 2015) 597–603.
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sollte, sollte dieser den Herzog informieren)6. Nach der Wiener Geserah sollen die Juden 1420 ganz konkret beschuldigt worden sein, Waffen an die Hussiten geliefert zu haben7. Mehrere Forscher betrachteten die angebliche Verschwörung der österreichischen Juden mit den Hussiten bzw. den Verdacht einer solchen als das ausschlaggebende Moment für die Entscheidung Herzog Albrechts, das flächendeckende Pogrom durchzuführen ; die Gesera wurde und wird somit als Bestandteil von Albrechts antihussitischer Politik gedeutet8. Allerdings fehlt es bis dato an Erklärungen, warum der mutmaßlich so bedeutende Hussiten-Aspekt in keiner christlichen annalistischen Quelle erwähnt wird, und vor allem, warum Herzog Albrecht in den überlieferten »Urteilsbriefen« vom März 1421 das angebliche jüdisch-hussitische Bündnis mit keinem Wort erwähnt9. 6 Die Akten der Theologischen Fakultät der Universität Wien. 1396–1508. 1, hg. v. Paul Uiblein (Wien 1978) 37. Lohrmann, Judenrecht (wie Anm. 1) 304f., maß der Universitätsbesprechung über ein mögliches jüdisch-hussitisches Bündnis große Bedeutung zu und hielt diese angebliche Verschwörung für den wohl wichtigsten Impuls für das Pogrom ; Traxler, Firmiter velitis resistere (wie Anm. 5) 121–124, kam jedoch jüngst zum Schluss, dass diese Gerüchte an der Universität eher zögerlich rezipiert wurden. Traxler bezweifelt sogar, dass Herzog Albrecht tatsächlich über die durchaus umstrittenen Verdächtigungen informiert wurde. 7 Goldmann, Judenbuch (wie Anm. 1) 125. Während die meisten Autoren sich eher skeptisch zeigten, dass es tatsächlich zu dieser Art von jüdisch-hussitischer Kollaboration gekommen sein könnte, versuchte jüngst Alexandra Kaar, Wirtschaft, Krieg und Seelenheil. Papst Martin V., Kaiser Sigismund und das Handelsverbot gegen die Hussiten in Böhmen (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 46, Wien–Köln–Weimar 2020) 231–238, zu zeigen, dass solche Vorwürfe zumindest auf der Ebene allgemeiner Gerüchte sehr wohl in Umlauf gewesen sein könnten ; sie hält es jedoch ebenfalls nicht für sonderlich wahrscheinlich, dass solche Gerüchte die Gesera ausgelöst haben könnten (ebd. 238). Die jüdisch-hussitischen Beziehungen thematisierte besonders Israel Jacob Yuval, Juden, Hussiten und Deutsche. Nach einer hebräischen Chronik, in : Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters, hg. v. Alfred Haverkamp, Franz Josef Ziwes (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 13, Berlin 1992) 59–102. Für die Frühphase der hussitischen Bewegung konnte Yuval gewisse jüdische Erwartungen den Hussiten gegenüber feststellen, die sich jedoch bald als unbegründet erweisen sollten. Umgekehrt lässt sich bei manchen hussitischen Theologen und Predigern der übliche mittelalterliche Judenhass belegen, den gelegentlich auch die hussitischen Feldheere zeigten – s. übersichtlich Petr Čornej, Velké dějiny zemí Koruny české 5 (1402–1437) [Große Geschichte der Länder der Böhmischen Krone 5 (1402–1437)] (Praha 2000) 422–427. 8 S. vor allem Lohrmann, Judenverfolgungen (wie Anm. 1) 48f ; ders., Judenrecht (wie Anm. 1) 304f.; ders., Wiener Juden (wie Anm. 1) 157–159) ; ders., Fürsten (wie Anm. 1) 145f.; jüngst s. auch dessen Bemerkungen in Keil u. a., Q&A zur Wiener Gesera (wie Anm. 2) ; Schubert, Wiener Gesera (wie Anm. 1) 542f. Dagegen betrachteten Spitz, Bne chet (wie Anm. 1) 81–85, sowie Brugger, Von der Ansiedlung (wie Anm. 1) 221f., die angebliche jüdisch-hussitische Verbindung als wichtigen Bestandteil des breiteren Hintergrunds der Gesera. Sie halten sie jedoch nicht für den tatsächlichen Auslöser des Pogroms. Eveline Bruger, ebd. 222, bemerkt dazu : »Trotz dieses Hintergrundes ist die tatsächliche Motivation Albrechts V. für das Vorgehen gegen die österreichischen Juden 1420/21 ungeklärt«. 9 Lohrmann, Judenverfolgungen (wie Anm. 1) 49 vermutet, dass das Fehlen des Hussiten-Vorwurfs im Urteil vom März 1421 sich dadurch erklären lässt, dass die Kollaboration mit den Hussiten zwar ein ausreichendes Argument für die Vertreibungen des Jahres 1420 gewesen wäre, dass sie aber für die Hin-
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Vor einigen Jahren kehrte der Autor dieses Beitrages gemeinsam mit Wolfram Ziegler – ohne die antijüdische Haltung einiger Wiener Theologen in Frage stellen zu wollen – zu einer hauptsächlich finanziellen Interpretation des Pogroms zurück. Ihnen zufolge lagen die Beweggründe Herzog Albrechts in seinem enormen Geldbedarf im Zusammenhang mit den ersten Hussitenkreuzzügen und seiner Heirat mit Elisabeth von Luxemburg10. Schon vor dem Zustandekommen dieser Heirat forderte nämlich Kaiser Sigismund von seinem präsumtiven Schwiegersohn massive – und sehr kostspielige – militärische Unterstützung für den ersten Hussitenkreuzzug. Zudem verlangte er von Albrecht eine enorme Widerlage (100.000 ungarische Gulden), die der Habsburger seiner Gattin im Gegensatz zur damaligen Praxis nicht über bestimmte Güter verschreiben durfte, sondern schrittweise bar ausbezahlen musste. Sigismund lieh sich in weiterer Folge die gesamte Widerlage von seiner Tochter und verschrieb ihr diese Schuld über einige Güter in Böhmen und Mähren, auf denen er Albrecht bereits dessen Ausgaben für den Hussitenkrieg (200.000 Gulden) und Elisabeths Heimsteuer (100.000 Gulden) verschrieben hatte. Albrecht wollte die Verhandlungen über die Heirat keineswegs gefährden und musste daher sowohl die militärischen, als auch die finanziellen Erwartungen des Königs, der für seine einzige Tochter auch noch andere Heiratsprojekte erwog, bedingungslos erfüllen. Albrecht war daher gezwungen – auch wenn dies bei fürstlichen Heiraten eigentlich unüblich war – eine riesige Summe in bar auszubezahlen, die er auch – bzw. vor allem – durch das Judenpogrom aufgebracht haben dürfte11.
richtung der reichen Juden und die Konfiskation ihres Besitzes im Frühjahr 1421 nicht mehr ausgereicht hätte. Dafür hätte eine andere Begründung gefunden werden müssen, nämlich die Hostienschändung, die auch tatsächlich in dem Urteilsspruch erscheint. Diese Erklärung erscheint uns jedoch nicht völlig schlüssig, denn zumindest im Kirchenrecht war Unterstützung von Häretikern der Häresie gleichgestellt. Auch erklärt sie nicht das Fehlen des Hussiten-Vorwurfs in den zeitgenössischen Chroniken. 10 Elbel, Ziegler, Am schwarczen suntag (wie Anm. 1) ; zur Heirat s. Petr Elbel, Stanislav Bárta, Wolfram Ziegler, Die Heirat zwischen Elisabeth von Luxemburg und Herzog Albrecht V. von Österreich. Rechtliche, finanzielle und machtpolitische Zusammenhänge (mit einem Quellenanhang), in : Manželství v pozdním středověku. Rituály a obyčeje [Die Ehe im Spätmittelalter. Rituale und Gebräuche], hg. v. Martin Nodl, Paweł Kras (Colloquia mediaevalia Pragensia 14, Praha 2014) 79–152. 11 Die These Elbels und Zieglers weist hier eine Schwachstelle auf, derer sich die beiden Autoren bewusst sind – s. Elbel, Ziegler, Am schwarczen suntag (wie Anm. 1) 260. Die Endfassung des Heiratsvertrages, der die für Albrecht sehr ungünstigen Regelungen hinsichtlich der Widerlegung enthielt, stammt erst vom September 1421 – i.e. bereits einige Zeit nach der Wiener Gesera. Die Verhandlungen zwischen Albrecht und Sigismund liefen – mit gewissen Unterbrechungen – jedoch nachweislich schon seit dem Frühjahr 1419, wobei es sehr wahrscheinlich ist, dass sie sich schon damals in eine für Albrecht ungünstige Richtung entwickelten. Auch wurde bald bekannt, dass Sigismund von seinem künftigen Schwiegersohn massive militärische Hilfe gegen die Hussiten erwarten würde. Die enormen Kosten für die Heirat und besonders des bevorstehenden Hussitenkreuzzugs dürften sich somit im Frühjahr 1420 schon mehr als deutlich abgezeichnet haben.
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In der Forschung überwog spätestens seit den 1980er Jahren die Überzeugung, dass die Wiener Gesera dem Herzog nur eher bescheidene Gewinne eingebracht hätte12. Allerdings revidierte bereits Klaus Lohrmann in seinen jüngeren Arbeiten zu diesem Thema diese Annahme. Darin gelangte er zu der groben Schätzung, der herzogliche Gewinn habe sich zwischen ca. 250.000 und 300.000 Pfund Wiener Pfennige bewegt, i.e. ca. 330.000 bis 400.000 ungarische Gulden13. Anschließend versuchten Elbel und Ziegler durch die Analyse der für die Jahre 1412–1416, 1423–1425 und 1431–1435 erhaltenen raitbriefe des herzoglichen Hubmeisters Bertold von Mangen zu zeigen, dass sich die Finanzen des Herzogs nach der Gesera wesentlich verbesserten. Der Verkauf jüdischer Immobilien und die Einlösung jüdischer Schuldbriefe stellte noch bis in die 1430er Jahre einen regelmäßigen Posten unter den außerordentlichen Einkommen der herzoglichen Kasse dar14. Es ist zudem auffällig, dass die herzogliche Kasse in den Jahren 1423–1425 bedeutende Überschüsse aufwies ; dies besonders im Jahr 1423, was vor allem auf einen großen Überschuss aus dem Jahr 1422 in Höhe von über 22.000 Pfund zurückzuführen ist (aus den Jahren 1420–1422 sind leider keine raitbriefe überliefert)15. Dank der Beschlagnahme sämtlicher Immobilien, Schuldbriefe, Kleinodien und des Bargeldes der Juden – inklusive der unter der Folter verratenen vergrabenen Schätze – dürfte Herzog Albrecht durch die Wiener Gesera tatsächlich sehr viele Vermögenswerte lukriert haben16. Die Investition dieser Gelder in die Beziehungen zu König Sigismund und die dynastische Heirat mit dessen einziger Tochter, Elisabeth von Luxemburg, der Erbin Ungarns und Böhmens, könnte erklären, warum der Herzog in der gegebenen Situation dem kurzfristigen Gewinn den Vorzug vor der Pflege einer stabilen, langfristigen Einnahmequelle gab17. Die religiöse Argumentation von Albrechts Hof bei der öffentlichen Darstellung des Pogroms und vor allem bei der Begründung des Todesurteils gegen die verbleibenden Juden deuteten Elbel und Ziegler als nachträgliche Legitimation, die die tatsächlichen
12 S. die oben in Anm. 4 zitierte Schätzung Lohrmanns. 13 Lohrmann, Wiener Juden (wie Anm. 1) 172f.; ders., Fürsten (wie Anm. 1) 146. 14 S. Elbel, Ziegler, Wiener Gesera (wie Anm. 1) 233–254 ; die Analyse basiert auf der Studie Karl Schalks, Oesterreichs Finanzverwaltung unter Berthold von Mangen 1412–1436, in : Blätter des Vereines für Landeskunde von Niederösterreich NF 15 (1881) 277–299, wo auch die meisten raitbriefe ediert sind. 15 Elbel, Ziegler, Wiener Gesera (wie Anm. 1) 239. 16 Die herzogliche Kammer legte mindestens vier Handschriften an, in denen die durch das Pogrom lukrierten Güter und Einkommen verzeichnet wurden. Diese befanden sich laut dem Inventar Wilhelm Putschs noch im 16. Jahrhundert im landesherrlichen Archiv – s. ebd. 208 und die Abbildung des Inventars auf S. 216. 17 Ebd. 226–232, 254–260.
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Motive des Landesfürsten verhüllen und den – eindeutig rechtswidrigen – Raub rechtfertigen sollte. Diese neue Interpretation der Motive Herzog Albrechts V. sollte nicht in Abrede stellen, dass die damaligen finanziellen Interessen des Herzogs sich mit den religiösen Interessen etlicher Theologen trafen, die den Herzog aus eigenen Gründen ermunterten, die jüdische Minderheit zu vernichten, und ihm die dafür notwendige Legitimation lieferten. Sie sollte jedoch zeigen, dass für Herzog Albrecht andere als religiöse Motive maßgeblich waren. Der vorliegende Beitrag möchte die soeben präsentierten Thesen aus einer in diesem Zusammenhang bisher nur wenig berücksichtigten Perspektive überprüfen : jener der mährischen Juden. In den Arbeiten zur Wiener Gesera wurde bisher nicht ausreichend berücksichtigt, dass Herzog Albrecht im selben Jahr, in dem die Erdberger Scheiterhaufen brannten, die mährischen Städte Iglau/Jihlava, Znaim/Znojmo, Jamnitz/Jemnice und Pohrlitz/Pohořelice, ebenso wie das böhmische Budweis/České Budějovice pfandweise übernahm. Diese Städte verfügten zum Teil über bedeutende jüdische Gemeinden. Zwei Jahre später, im Oktober 1423, übergab Sigismund seinem Schwiegersohn und seiner Tochter die gesamte Markgrafschaft Mähren. Im Frühjahr 1424 trat Albrecht schließlich die Regierung in Mähren an, wo er bis zu seinem Tod als Markgraf herrschte. Es lohnt sich daher, bei der Bewertung der Wiener Gesera auch die Judenpolitik Albrechts in Mähren in Betracht zu ziehen. Lassen sich aus dieser Schlüsse auf Albrechts Motive für das vorangehende österreichische Pogrom ziehen ?
2. Exkurs: Die Judenpolitik König Sigismunds in Mähren (1419–1423/24) Bevor jedoch die Politik Albrechts den mährischen Juden gegenüber besprochen werden kann, muss zunächst auf die Lage unter König Sigismund – und somit genau auf die Zeit der Wiener Gesera – eingegangen werden. Die Juden lebten hauptsächlich in den landesherrlichen Städten, wobei die wichtigsten Gemeinden in Brünn, Olmütz, Znaim und Iglau ansässig waren. Nur ein kleiner Teil der jüdischen Bevölkerung lebte in grundherrlichen Städten, z. B. in jenen der Bischöfe von Olmütz18. 18 Zu den jüdischen Gemeinden in Mähren in der vorhussitischen Zeit s. Jaroslav Mezník, Lucemburská Morava 1310–1423 [Mähren im Zeitalter der Luxemburger 1310–1423] (Praha 1999) 152–155, 361– 362 ; zu Brünn František Graus, Art. Brünn, in : Germania Judaica III. 1350–1519. 1. Ortschaftsartikel Aach – Lychen, hg. v. Arye Maimon (Tübingen 1987) 178–183 ; Iva Grünbaumová, Židé ve středověkém Brně [Die Juden im mittelalterlichen Brünn], in : Židé a Morava 13 (2007) 7–24 ; dies., Židé [Die Juden], in : Dějiny Brna 2. Středověké město [Geschichte der Stadt Brünn 2. Die mittelalterli-
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Als Sigismund 1419 nach dem Tod seines Halbbruders Wenzels IV. auch die Markgrafschaft Mähren erbte, scheint in den dortigen katholischen, vorwiegend deutschsprachigen königlichen Städten bereits große Angst vor den Anhängern des Hussitismus innerhalb und außerhalb der Stadtmauer geherrscht zu haben. Verdächtigt wurden vor allem der tschechische Teil der Stadtbevölkerung sowie einzelne Bürgersöhne, die in Prag studierten. Bereits vor dem Tod von Jan Hus in Konstanz wurden zwei junge »Wiklifiten« in Olmütz verbrannt19 ; im Jahr 1421 wurde in Znaim das hussitische Bekenntnis des Bürgers Věrduňk und dessen Sohnes Johann bekannt, woraufhin sie ebenfalls zum Feuertod verurteilt wurden20. Die größten Sorgen der mährischen Bürger galten jedoch den mächtigen mährischen Landherren, die sich größtenteils zur böhmischen Reformbewegung bekannten. In den letzten Jahren der Regierung Wenzels hatten sie die mährische Politik vollkommen bestimmt und konnten mit ihren bewaffneten Gefolgschaften den katholischen Städten sehr gefährlich werden. Die Angst der mährischen Städte vor hussitischen Angreifern dokumentiert vor allem eine undatierte Supplik der Stadt Znaim an den neuen Herrscher, die frühestens im Frühjahr 1420, spätestens im Frühjahr des Folgejahres entstand21. Die Repräsentanten der Stadt, die Sigismund die Bittschrift vorlegten oder vortrugen, betonten zunächst che Stadt], hg. v. Libor Jan (Brno 2013) 297–302 ; zu Olmütz František Graus, Art. Olmütz, in : Germania Judaica. III. 1350–1519. 2. Ortschaftsartikel Mährisch-Budwitz – Zwolle, hg. v. Arye Maimon, Mordechai Breuer, Yacov Guggenheim (Tübingen 1995) 1064–1067 ; Dějiny Olomouce 1 [Geschichte der Stadt Olmütz 1], hg. v. Jindřich Schulz (Olomouc 2009) 142f., 193, 207f.; zu Iglau František Graus, Art. Iglau, in : Germania Judaica III/1, 579–581 ; zu Znaim František Graus, Art. Znaim, in : Germania Judaica III/2, 1721–1725. Pavel Kocman publizierte einen wichtigen Aufsatz über die Vertreibung der Juden aus den mährischen königlichen Städten in den Jahren ca. 1426, 1454 und 1514, in dem er sich auch mit der Situation am Vorabend der Hussitischen Revolution sowie während deren Anfangsphase befasste – s. Pavel Kocman, Die Ausweisung der Juden aus den mährischen königlichen Städten 1426–1514. Verlauf, Anlässe, Folgen, in : Avigdor, Benesch, Gitl (wie Anm. 1) 269–345. 19 Vgl. Dějiny Olomouce 1 (wie Anm. 18) 187f. 20 S. Lubomír Emil Havlík, Dějiny královského města Znojma a Znojemského kraje od nejstarších dob do 70. let 19. století [Geschichte der königlichen Stadt Znaim und des Znaimer Kreises von den ältesten Zeiten bis in die 1870er Jahre] (Brno 1998) 73. 21 Ivan Hlaváček entdeckte diese Quelle, edierte sie und besprach sie kurz – s. Ivan Hlaváček, Znojemští a král Zikmund v počátcích husitské revoluce. Skromný příspěvek k typologii městských písemností pozdního středověku [Die Znaimer und König Sigismund in den Anfängen der Hussitischen Revolution. Ein bescheidener Beitrag zur Typologie des spätmittelalterlichen Amtsschriftgutes], in : Per saecula ad tempora nostra. Sborník prací k šedesátým narozeninám prof. Jaroslava Pánka [Festschrift für Jaroslav Pánek zum 60. Geburtstag] 1, hg. v. Jiří Mikulec, Miloslav Polívka (Praha 2007) 94–99 ; jüngst analysierte der Autor dieses Beitrags sie vertieft im Kontext des (städtischen) Supplikenwesens in Böhmen – s. Petr Elbel, Das Supplikenwesen am böhmischen Hof im Spätmittelalter, in : Modus supplicandi. Zwischen herrschaftlicher Gnade und importunitas petentium, hg. v. Christian Lackner, Daniel Luger (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 72, Wien–Köln–Weimar 2019) 93–122, hier 108–117.
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die traditionelle Treue Znaims den böhmischen Königen gegenüber, hoben dann die strategische Lage ihrer Stadt an der Grenze als einen Schild des Landes hervor und betonten ihre Ergebenheit dem rechten Glauben gegenüber sowie die daraus resultierende Bedrohung durch die Häretiker. In diesem Zusammenhang beklagten die Znaimer dann u. a., dass ihre Stadtmauer im Bereich des jüdischen Viertels sehr schwach sei und leicht vom Feind überwunden werden könne, u. a. deswegen, weil die jüdischen Häuser und Ställe unmittelbar an die Mauer stießen. Sie gaben auch zu bedenken, dass die Juden ein wandelwartig volkl seien, dem nicht zu glauben sei. Deswegen baten die Bürger den König, den Juden zu befehlen, bei ihrem Teil der Stadtmauer einen Parkan zu errichten, den die Stadt mit Wachen besetzen könne, um sich nicht auf die Juden verlassen zu müssen22. Eine Tatsache fällt hier besonders ins Auge : obwohl die Znaimer die Juden für unzuverlässig hielten, beschuldigten sie sie nicht der Sympathie den Hussiten gegenüber, geschweige denn eines Bündnisses mit denselben ; die Errichtung eines Parkans reichte in den Augen der Znaimer aus, um das Problem zu lösen23. Es ist nicht bekannt, ob König Sigismund ein entsprechendes Mandat an die Znaimer Juden richtete. In der überlieferten städtischen Rechnung aus dem Rechnungsjahr 1421/22 heißt es jedoch, die Juden hätten 25 Schock Prager Groschen an den Stadtrat entrichtet, wovon der Bau eines Grabens bei jener Mauer finanziert werden sollte, die an den jüdischen Friedhof grenzte24. Ein späterer Eintrag betrifft eine weitere Zahlung von vier Schock Groschen für die Reparatur wohl eben dieser Mauer25. Es könnte sich in beiden Fällen um einen Nachhall der oben besprochen Supplik bzw. eines verlorenen königlichen Mandates, das den Juden die Finanzierung der notwendigen Befestigungsarbeiten auftrug, gehandelt haben. Da aber die Rechnungen keinen königlichen Befehl erwähnen und die Mauer in der Supplik und in den Rechnungen leicht unterschiedlich beschrieben wird, kann dies nur eine Vermutung bleiben. 22 Die betreffende Stelle sei hier wörtlich zitiert : Item alz man vor unser ist gelegen, do ist an uns meniger mal von unsern veynden darnach warnung kumen und auch von den dy sich zu sturmen verwissen, das man uns nicht leichter ein nhent mcht angewÿnnen, wenn under den Juden des das mirt ein mawr do ist. So ist das Judenvolk gar ein wandelwartig volkl das in gar wenik zu trawn ist. Auch ir hewser, gemach, stal und helder gar an der mawr sein, durch dy sy machten dy stat durchholen, das ewr ganad umb das gezlozz qwam und wir in mü und arbeÿt und umb trew und umb er. Darumb bitten wir ewr k. genad das ir gerucht mit in czu schaffen, das sy ein parkraben mawr doselbs vom Tarras bis an ir mawr fur unser frawn chr mawren und machen, das wir unser czyrker do haben, das wir durch sy nicht verwarlast worden – Hlaváček, Znojemští (wie Anm. 21) 95. 23 So interpretiert auch Kocman, Ausweisung (wie Anm. 18) 308, die entsprechende Stelle der Petition. 24 MZA – SOkA Znojmo, Bestand AM Znojmo, Buch II/239, fol. 31v : Item circa festum Penthecostes de anno presenti [PE : 11. Mai 1421] percepimus a iudeis nobis commanentibus in subsidium defense et fossato rum, que fecimus in et iuxta murum, ubi adiacet cimiterium ipsorum, XXV sexagenas. 25 Ebd.: Item anno Domini M CCCCo XXIIo circa festum sancti Urbani [PE : 25. Mai 1422] percepimus ab ipsis pro reformacione cuiusdam muri in cimiterio ipsorum IIII sexagenas grossorum.
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Nicht lange nachdem ihm die Znaimer Supplik vorgelegt worden war stellte Sigismund jedenfalls zwei wichtige Urkunden aus, die die Znaimer bzw. die mährischen Juden im Allgemeinen betrafen. Die erste Urkunde datiert vom 6. April 1421 in Brünn26. Nicht einmal einen Monat nach dem traurigen Höhepunkt der Wiener Gesera, i.e. nach der Verbrennung der letzten österreichischen Jüdinnen und Juden in Erdberg, bestätigte Sigismund alle Rechte und Freiheiten, die die mährischen Juden und insbesondere die Juden von Brünn von seinen Vorfahren erhalten hatten. Er behielt sich auch sämtliche Abgaben der mährischen Juden vor, die sie ihm gemeinsam abführten, selbst wenn er die eine oder andere Stadt an bestimmte Fürsten und Herren verpfändet bzw. übergeben hatte. Diese neuen Stadtherren sollten den Juden keine Befehle erteilen und von ihnen keine Abgaben fordern dürfen. Das Schutzprivileg Sigismunds für die mährischen Juden beinhaltet einige Unklarheiten. Vor allem ist offen, um welche Fürsten und Herren es sich bei den angesprochenen Pfandinhabern von mährischen Städten gehandelt haben könnte. Vor der Ausstellung des Judenprivilegs hatte Sigismund etwa die kleine Stadt Pohrlitz/Pohořelice an Vok von Holstein/Holštejn verpfändet, aber nach Voks baldigem Tod löste er dieselbe Anfang April 1421 von dessen Söhnen wieder aus27. Über andere Städte wurden kleinere Schuldsummen verschrieben28. Ende März 1421 übergab Sigismund jedoch die Städte Olmütz, Mährisch Neustadt und Littau vorübergehend an Bischof Johann von Olmütz29. In der Übergabeurkunde vom 30. März 1421 gibt es keinen die Juden betreffenden Vorbehalt. Dennoch könnte man annehmen, dass in dem Judenprivileg vom 6. April eben an die an Bischof Johann abgetretenen Städte gedacht wurde. Die Urkunde für die mährischen Juden würde somit die Urkunde vom 30. März für den Olmützer Bischof in dem Sinne einschränken, dass ein Teil der aus den ihm übertragenen Städten fließenden Einkommen dem König vorbehalten blieb30. Es drängt sich jedoch noch eine andere mögliche Erklärung auf. Drei Monate nach der Ausstellung des Schutzprivilegs für die mährischen Juden, am 7. Juli 1421, verpfän26 AMB, Bestand A I/1 – Sbírka listin, mandátů a listů [Urkunden-, Mandaten- und Briefsammlung], 1421 IV 6. Ediert von Thomas Peter, Die Juden in Böhmen und Mähren im 15./16. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Vertreibung aus den königlichen Städten Mährens im Jahre 1454 (ungedr. Magisterarbeit Leipzig 1998) 58f.; Regest in RI XI NB/1, Nr. 42. 27 Vgl. Archiv český čili staré památky české a moravské, sebrané z archivů domácích i cizích [Böhmisches Archiv oder alte Schriftdenkmäler aus Böhmen und Mähren, in einheimischen sowie ausländischen Archiven gesammelt] 7, hg. v. Josef Kalousek u. a. (Praha 1887) 581f., Nr. 33. 28 S. etwa die partiellen Verschreibungen über den Kammerzins der Städte Brünn und Znaim (ebd. und RI XI NB/1, Nr. 39, 44 und 48) ; im April kamen noch Verschreibungen über Mährisch Neustadt/Uničov und Olmütz hinzu (RI XI NB/1, Nr. 60 ; Archiv český 7 [wie Anm. 27], 570f., Nr. 3). 29 RI XI NB/1, Nr. 36. 30 S. dazu bereits den Kommentar zum Regest des Judenprivilegs ebd. Nr. 42.
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dete Sigismund die Städte Znaim, Iglau, Pohrlitz und Jamnitz zusammen mit dem südböhmischen Budweis um 200.000 Gulden an seinen künftigen Schwiegersohn, Herzog Albrecht von Österreich, und zwar zunächst, um Albrechts Ausgaben für den Hussitenkrieg zu besichern31. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Anfang April bereits über diese Verpfändung nachgedacht wurde, was die mährischen Juden – ein Monat nach dem traurigen Ende der Wiener Gesera – sehr beunruhigt haben muss. Das wirft die Frage auf, ob das Privileg vom 6. April nicht auch als Sicherstellung für jene Städte dienen sollte, die in Zukunft an Albrecht verpfändet werden sollten. Die diesbezügliche Klausel steht allerdings im Perfekt und bezieht sich daher ziemlich sicher rein auf die bereits verpfändeten bzw. dem Olmützer Bischof überantworteten Städte (… wyewol das ist, das wir etliche unsere stete zu Merherren vorweysen und zu behutten befolhn haben …). Nichtsdestotrotz : Selbst wenn das Judenprivileg vom 6. April nicht auf die künftige Verpfändung der genannten mährischen Städte an Albrecht zielt, ist es trotzdem wahrscheinlich, dass die Ausstellung des Privilegs mit den Ereignissen in Österreich zusammenhing. Nach dem tragischen Ende des Judentums im Nachbarland musste es den mährischen Juden mehr als geraten scheinen, sich ihre alten Rechte und Privilegien bestätigen zu lassen. Laut der Wiener Geserah soll Herzog Albrecht 1421 sogar versucht haben, König Sigismund dazu zu bewegen, in seinen Ländern ein ähnliches Pogrom durchzuführen, was der König aber deutlich abgelehnt, und vielmehr die geflüchteten Juden unterstützt haben soll32. Obwohl sich diese Nachricht nicht im vollen Umfang verifizieren lässt, liegt es nahe, dass die vertriebenen österreichischen Juden sich vor allem in den Nachbarländern niederließen. Die Wiener Geserah nennt explizit Ungarn und Mähren als Zielländer der Exulanten33, was für Mähren erst durch gründliche prosopographische und topographische Forschungen überprüft werden müsste34. 31 Österr. Staatsarchiv, HHStA, Cod. Weiß 13, fol. 109r–112r. Diese wichtige Urkunde wurde bisher weder ediert, noch in Regestenform publiziert. In die Forschung wurde sie erst durch Karl Rudolf, Die Markgrafschaft Mähren und Herzog Albrecht V. von Österreich (Diss. Masch. Salzburg 1973) 80–85, eingeführt ; s. auch Elbel u.a, Heirat (wie Anm. 10) 103–105. 32 Goldmann, Judenbuch (wie Anm. 1) 131f.: Nach dem alen war gros forcht un’ angst auf di andern םידוהי, den der סוכודwar mechtig un’ war das [des] ungarschen ךלמeiden [Eidam], un’ begert von im, er solt seinen untertanen םידוהיach aso ton, er richtet aber niks aus. Der nach schikt er sein weib, des [ שיכלמKönigs] toch ter, si solt in munitlich [mündlich] biten ; er wolt ir ach nit zu hören, [ הברדאim Gegenteil], er lis ausrufen, das man keine juden solt kein hor krümen ; ach die juden, die aus Östreich waren kumen, solten sich besezen, wo es inen wol gefil, un’ haten gros ןחun’ [ דסחGnade] ins שיכלמaugen. 33 S. die Angaben über die aus Klosterneuburg und Krems vertriebenen Juden, ebd. 127 : Di helft zogen di אינודhinab, die andern besezten sich in Merren. Got mit seiner derbarmung macht, dasen [das] si haten ןח [Gunst] in di [ םירשFürsten] augen, un’ antfingen si mit grosem [ דובכEhre]. 34 Die Literatur vermutet oft z. B. einen Zusammenhang mit den Anfängen der jüdischen Gemeinde in der liechtensteinischen Stadt Nikolsburg/Mikulov, auch wenn eindeutige Quellenbelege dafür fehlen. In den Fußstapfen älterer Forschungen s. jüngst Soňa Nezhodová, Židovský Mikulov [Das jüdische
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An dieser Stelle lässt sich wohl festhalten, dass die mährischen Juden Anfang April 1421 bestimmt über die Katastrophe in Österreich informiert waren und deswegen gute Gründe hatten, sich von Sigismund ihre Freiheiten bestätigen zu lassen. Pavel Kocman verband das Privileg vom 6. April 1421 jedoch nicht mit der Wiener Gesera, sondern mit der zweiten Urkunde Sigismunds vom Frühling 1421, die die mährischen Juden betraf : der wohl bereits früher vereinbarten und am 6. Mai 1421 beurkundeten Begleichung der Kosten des Aufenthalts des Königs in Znaim in Höhe von 905 ungarischen Gulden. Die Stadt bekam diese Summe über die mährischen Juden verschrieben, wobei die Znaimer Juden 400, jene in Brünn 300 und jene in Olmütz 205 Gulden bezahlen sollten35. Alles deutet darauf hin, dass es sich hierbei nicht um eine befristete Verschreibung über die regelmäßige Judensteuer, sondern um eine zusätzliche, außerordentliche Zahlung handelte36, deren Höhe zudem bei weitem nicht der Größe der betroffenen Judengemeinden und der Höhe ihrer jeweiligen Judensteuer entsprach37 (die Znaimer Juden wurden wohl nur deshalb mit der höchsten Zahlung beNikolsburg] (Knižnice Matice moravské 19, Brno 2006) 26f. und 30. Dagegen wusste František Graus, Art. Nikolsburg, in : Germania Judaica III/2 (wie Anm. 18) 971 über die jüdische Einwanderung nach Nikolsburg 1420/21 nichts. – Ansonsten kennt die Forschung den späteren Brünner Rabbi Eisik Tyrnau, der 1420 aus Österreich nach Ungarn flüchtete, von wo er später nach Mähren kam – s. Graus, Brünn (wie Anm. 18) 180. 35 Kocman, Ausweisung (wie Anm. 18) 278–280. Das Regest wurde in RI XI NB/1, Nr. 64 abgedruckt ; zu den Umständen der Ausstellung der Urkunde s. auch Petr Elbel, Pobyty vyslanců a poslů města Znojma na dvoře krále Zikmunda a rakouského vévody Albrechta V. ve světle znojemských městských účtů z let 1421–1422. Příspěvek k dvorské každodennosti [Die Aufenthalte von Gesandten und Boten der Stadt Znaim am Hof König Sigismunds und Herzog Albrechts V. von Österreich im Licht der Znaimer Stadtrechnungen der Jahre 1421–1422. Ein Beitrag zur höfischen Alltagsgeschichte], in : Dvory a rezidence ve středověku 3. Všední a sváteční život na středověkých dvorech, hg. v. Dana Dvořáčková-Malá, Jan Zelenka (Mediaevalia Historica Bohemica 12/2009, Supplementum 3, Praha 2009) 475–502, hier 483 und 496. 36 Dies ergibt sich aus den Znaimer Rechnungen zum Rechnungsjahr 1421/22, in dem die Stadt fast die gesamte verschriebene Summe von den städtischen Juden eintrieb (171 Schock 25 Prager Groschen 5 Denare, was nach dem Wechselkurs 1 ungarischer Gulden = 26 Prager Groschen ca. 395 ungarische Gulden ausmacht) – siehe MZA – SOkA Znojmo, Bestand AM Znojmo, Buch II/239, fol. 31v. Der Vollständigkeit halber muss hinzugefügt werden, dass die Znaimer in Brünn und Olmütz auf größere Schwierigkeiten stießen. Von den Juden in Brünn konnten zunächst nur 22 Schock 10 Prager Groschen, i.e. nur 51 ungarische Gulden erhoben werden – s. ebd., fol. 32r. Die Olmützer Juden leisteten offensichtlich im ganzen Rechnungsjahr 1421/22 keine Zahlung. Vor dem 28. Juni 1421 verfasste Sigismund jedoch einen nicht erhaltenen Brief an Bischof Johann von Olmütz als vorläufigen Verweser der Stadt Olmütz 205 Gulden betreffend (propter IIC et V florenos), den die Boten der Stadt Znaim aus Ungarn mitbrachten und dem Bischof aushändigten – s. ebd., fol. 82v ; RI XI NB/1, Nr. 72. Offensichtlich handelte es sich dabei um jene 205 Gulden, die die Olmützer Juden für Sigismund der Stadt Znaim bezahlen sollten. 37 Die Urkunde wurde mehrfach irrig als Beleg für die Höhe der jährlichen Judensteuer in Mähren interpretiert, was sich jedoch nicht aus den betreffenden Formulierungen ableiten lässt. Wie Pavel Kocman zeigte, ist die Höhe der Judensteuer in Brünn, Znaim und Olmütz/Mährisch Neustadt für die Zeit der
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lastet, weil der Znaimer Stadtrat vor Ort das Geld am einfachsten eintreiben konnte38). Der Plan, die mährischen Judengemeinden mit einer Sonderzahlung an die Stadt Znaim zu belasten, könnte nach Pavel Kocman den Wunsch der Juden nach einer Privilegienbestätigung und einer Ausnahmeregelung für die vorläufig Bischof Johann überantwortete Stadt Olmütz erklären, wodurch zumindest weitere Geldforderungen seitens des temporären Stadtherrn vermieden werden sollten. Selbst wenn die Ausstellung des Schutzprivilegs vom 6. April tatsächlich schon mit der Verschreibung vom 6. Mai zusammenhing, ist trotzdem nicht auszuschließen, dass Angst angesichts der Ereignisse in Österreich für die jüdischen Empfänger eine Rolle gespielt haben könnte. Insgesamt spiegeln die beiden Urkunden vom 6. April und 6. Mai sehr anschaulich die typischen Wesenszüge mittelalterlicher fürstlicher Judenpolitik wider : fürstlicher Schutz (hier in Form einer Privilegienbestätigung und der Befreiung von Ansprüchen von Pfandinhabern) musste durch die Abführung ordentlicher und außerordentlicher Steuern (hier in Form einer hohen Sonderzahlung an Stelle des Königs an die Stadt Znaim) erkauft werden39. Von diesen Grundprinzipien der Judenschutzpolitik wichen viele Fürsten – einschließlich Sigismunds – mehr oder weniger stark ab. Zu einer so dramatischen Abkehr von diesem Prinzip, wie in Österreich unter Albrecht V., kam es in den Ländern Sigismunds zwar nicht ; trotzdem begegnen wir auch in Sigismunds Herrschaftsbereich diversen Exzessen, wie z. B. Vertreibungen aus bestimmten Städten oder lokalen Pogromen, wie Karel Hruza in einer wichtigen Studie anhand einiger gut dokumentierter Beispiele sehr anschaulich zeigen konnte40. Vertreibung der Juden aus diesen Städten bekannt, da die Städte damals dauerhaft die Zahlung der Judensteuer übernehmen mussten. Die entsprechenden Summen, i.e. 60 Schock Prager Groschen für Brünn, 40 Schock für Znaim und 40 Schock für Olmütz inklusive Mährisch Neustadt, lassen sich wohl in die Zeit um 1420 zurückprojizieren. Wenn man Iglau, Ungarisch Hradisch und einige kleinere königliche Städte dazu nimmt, für die keine Zahlen überliefert sind, dürfte die jährliche Judensteuer in Mähren ca. 200 Schock Prager Groschen ausgemacht haben – siehe Kocman, Ausweisung (wie Anm. 18) 278–280 (Analyse der Urkunde vom 6. Mai 1421 und Zusammenstellung der irrigen Interpretationen derselben Urkunde hinsichtlich der Judensteuer) sowie 293–295 (Höhe der Judensteuer im Jahr 1454). Dem lässt sich noch hinzufügen, dass im Jahr 1421 200 Schock Prager Groschen ungefähr 460 ungarischen Gulden entsprachen – jedenfalls wesentlich weniger als die 905 Gulden, die Sigismund den Znaimern verschrieb. Besonders bei den Znaimer Juden ist der Unterschied zwischen der jährlichen Judensteuer (40 Schock, i.e. ca. 90 ungarische Gulden) und der ihnen auferlegten Sonderzahlung (400 Gulden) eklatant. 38 Dies sollte sich vollkommen bestätigen – s. die Belege in Anm. 36. 39 Allgemein zur fürstlichen Judenpolitik s. etwa Klaus Lohrmann, Fürstenschutz als Grundlage jüdischer Existenz im Mittelalter. Zur Frage der Toleranz gegenüber Juden im Mittelalter, in : Toleranz im Mittelalter, hg. v. Alexander Patschovsky, Harald Zimmermann (Vorträge und Forschungen 45, Sigmaringen 1998) 75–99. 40 Karel Hruza, König Sigismund und seine jüdischen Kammerknechte, oder : Wer bezahlte »des Königs neue Kleider« ? In : Kaiser Sigismund (1368–1437). Zur Herrschaftspraxis eines europäischen Monar-
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Zu Konfliktsituationen, in denen Sigismund seine Kammerknechte nur unzureichend schützte, kam es offensichtlich auch in Mähren, obwohl die genauen Details unklar sind. Am 25. Mai 1421 stellte Sigismund in Trentschin ein Mandat für die Ratsherren von Znaim aus, denen er befahl, das ir den juden bey euch den inwonern der stat zu Schataw keyns rechten helffen sollet41. Dieses kurze Mandat wurde jüngst so interpretiert, dass der Znaimer Stadtrat den Znaimer Juden nicht helfen soll, Einwohner des Marktes Schattau/Šatov zu werden42. Eine solche Umsiedlung von der königlichen Stadt in einen grundherrlichen Markt könnte durch Angst vor der anstehenden Verpfändung Znaims an Herzog Albrecht motiviert gewesen sein. Allerdings scheint das Mandat eher eine andere Bedeutung zu haben : die Znaimer sollten ihren Juden keine Rechtshilfe bei deren (nicht näher bezeichneten) Streitigkeiten mit den Schattauern leisten. In diese Richtung deutet auch ein späteres Mandat Herzog Albrechts V., das Auseinandersetzungen zwischen den Znaimer Juden und den Bewohnern von Schattau belegt (siehe weiter unten in Abschnitt 3)43. Zu einem ernsthafteren Konflikt, dessen Hintergrund jedoch völlig im Dunklen liegt, kam es ein Jahr später in Brünn. Am 4. Dezember 1422 befahl Sigismund aus Pressburg den Brünner Ratsherren, den städtischen Judenmeister Juda sowie dessen Frau, Sohn und Schwiegersohn gefangen zu nehmen und ihr Vermögen zu beschlagnahmen und zu versiegeln, bis ihre Mitbürger Heinrich und Hans Hase nach Brünn kommen und ihnen die königlichen Absichten näher erklären würden44. Mutmaßlich erging das Mandat aufgrund einer städtischen Beschwerde, die die genannten Gesandten dem König übermittelt hatten. Daraufhin dürfte der König einen Eilboten mit dem besagten Mandat nach Brünn geschickt haben, dem die Gesandten mit näheren Instruktionen folgten. Über die Gründe für die Gefangennahme Judas oder über das weitere Schicksal des Rabbis und dessen Familie ist jedoch nichts bekannt. Auch das Brünner Stadtbuch enthält keine diesbezüglichen Nachrichten45. chen, hg. v. Dems., Alexandra Kaar (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 31, Wien–Köln–Weimar 2012) 75–135 ; siehe dazu weiter unten in Abschnitt 4. 41 MZA, Bestand G 2 – Nová sbírka [Neue Sammlung], Sign. 662/7 ; Regest in RI XI NB/1, Nr. 67. 42 Ebd. 43 Im Kommentar zu demselben Regest wurde dieses Mandat Albrechts fälschlicherweise als Beleg für die jüdische Absiedlung nach Schattau interpretiert ; zu dessen Inhalt s. unten in Abschnitt 3. 44 AMB, Bestand A I/1 – Sbírka listin, mandátů a listů, 1422 XII 4 ; Regest in RI XI NB/1, Nr. 110. 45 Pamětní kniha města Brna z let 1391–1515 [Gedenkbuch der Stadt Brünn aus den Jahren 1391–1515], hg. v. Miroslav Flodr (Prameny dějin moravských 19, Brno 2010) 178–182 (Einträge aus den Jahren 1422/23), 611 (Registerlemma Judei). Weil das Mandat offensichtlich die einzige Nachricht über diese Affäre darstellt und sich bis dato keine weiteren Informationen finden ließen, blieb diese Episode in den Arbeiten zur Geschichte der Juden in Brünn bzw. in Mähren bisher unbeachtet – s. Graus, Brünn (wie Anm. 18) ; Grünbaumová, Židé ve středověkém Brně (wie Anm. 18) ; dies., Židé (wie Anm. 18) ;
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Trotz dieser Vorgänge und dem in Mähren wütenden Hussitenkrieg scheint die verhältnismäßig kurze markgräfliche Regierung Sigismunds in Mähren aus jüdischer Perspektive eine Zeit relativer Ruhe gewesen zu sein ; zumindest kam es zu keinem lokalen Pogrom oder einer Vertreibung. König Sigismund scheint unter den mährischen Juden sogar einen guten Ruf genossen zu haben. Als er im Sommer 1435 anlässlich von Verhandlungen zwischen den Hussiten und den Legaten des Basler Konzils nach Brünn reiste, nahmen die städtischen Juden an der Prozession teil, die dem mittlerweile zum Kaiser gekrönten Luxemburger vor die Stadtmauer entgegen zog46. Die Juden schlossen sich dem feierlichen adventus imperatoris an, obwohl seit elf Jahren nicht mehr Sigismund, sondern Herzog Albrecht V. von Österreich als ihr Stadt- und Landesherr fungierte. Wie entwickelten sich nun die Beziehungen dieses Herrschers zu den mährischen Juden ?
3. Die Judenpolitik Albrechts V. (II.) in Mähren (1423/24–1439) Der eigentlichen markgräflichen Herrschaft Herzog Albrechts V. ging zunächst die bereits erwähnte Verpfändung von vier mährischen Städten – Iglau, Znaim, Jamnitz und Pohrlitz – an diesen voraus. Obwohl bereits am 7. Juli 1421 beurkundet wurde, mündete sie erst um die Jahreswende 1421/22 in die faktische Übergabe der genannten Städte47. Die im ersten Abschnitt bereits beschriebenen ungünstigen finanziellen Tamás Visi, Intelektuální život Židů v Brně v 15. století [Das geistige Leben der Juden in Brünn im 15. Jahrhundert], in : Časopis Matice moravské 127 (2008) 131–140. In der Forschung sind erst Judas Nachfolger im Rabbineramt – die literarisch tätigen Eisik Tyrnau und Israel Brunna – bekannt, s. Graus, Brünn (wie Anm. 18) 180. 46 Die jüdische Delegation bei Sigismunds Einzug wird knapp erwähnt bei Aegidii Carlerii liber de legationibus concilii Basiliensis pro reductione Bohemorum, hg. v. Ernst Birk, in : Monumenta conciliorum generalium seculi decimi quinti, hg. v. Franz Palacky, Ernst Birk 1 (Wien 1857) 359–700, hier 578 : Eodem die post prandium [PE : 1. Juli 1435] venit dominus imperator Brunam et susceptus est honorifice, ecclesiasticis processionaliter, nobis, duce, civibus Brune et Boemis euntibus ei obviam, nec non et Judeis. Eine wesentlich detailliertere Beschreibung bietet Thomae Ebendorferi diarium gestorum per legatos concilii Basiliensis pro reductione Bohemorum, hg. v. Erns Birk, ebd. 701–783, hier 748 : Item prima Julii dominus imperator Brunam intravit, susceptusque prout tantam decuit maiestatem cum gloria per clerum populumque, eciam Judaicum, obviantem extra septa ; longius tamen Judei processerant cum rodalibus suis et cantu turmatim procedentes sub velo. Vgl. dazu Robert Antonín, Tomáš Borovský, Panovnické vjezdy na středověké Moravě [Herrschereinzüge im mittelalterlichen Mähren] (Knižnice Matice moravské 25, Brno 2009) 133. 47 Die Übernahme der Stadt Iglau durch Albrecht ist zum 8. Dezember 1421 belegt, als die Iglauer während des Aufenthaltes König Sigismunds in ihrer Stadt einen Treueeid auf den abwesenden Herzog ablegten. Am selben Tag richtete Sigismund ein Mandat an Znaim, demzufolge auch diese Stadt unverzüglich Herzog Albrecht huldigen solle. In den Znaimer Rechnungen ist zu Anfang 1422 eine große, fünfzigköpfige
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Bedingungen der Heirat Albrechts mit Elisabeth48 führten in der Folge zu intensiven Bemühung Albrechts, die Heiratsverträge zu revidieren und von seinem Schwiegervater doch ein größeres Heiratsgut zu erpressen49. Um Druck auszuüben, scheint Albrecht seine Aktivitäten im Hussitenkrieg spürbar zurückgeschraubt zu haben : in scharfem Gegensatz zu den Jahren 1420/21 und königlicher Aufforderung zum Trotz nahm das österreichische Heer in den Jahren 1422/23 nicht mehr aktiv an Kriegsaktionen in Böhmen und Mähren teil, wenn wir von der Verteidigung der verpfändeten Städte absehen50. Nach einigen Zwischenschritten gelang es Albrecht am 1. Oktober 1423, die Belehnung mit der Markgrafschaft Mähren zu erzielen51. Die tatsächliche Regierung übernahm er am 4. Februar 1424 in Brünn52.
Huldigungsgesandtschaft nach Wien belegt – s. RI XI NB/1, Nr. 84 ; MZA – SOkA Znojmo, Bestand AM Znojmo, Buch II/239, fol. 115v. Kurz nach dem 8. Dezember 1421, gleich nach Erhalt des königlichen Mandats, sandte der Znaimer Rat einen Boten mit einem königlichen Brief nach Pohrlitz. Dabei handelte es sich höchstwahrscheinlich um ein gleichlautendes Mandat an die Adresse dieser Stadt – s. RI XI NB/1, Nr. 85. 48 Kurz zusammengefasst enthielt der Heiratsvertrag vor allem zwei für Albrecht ungünstige Regelungen : 1. Sigismund verschrieb die Heimsteuer (100.000 ungarische Gulden) über dieselben fünf Städte, die er Albrecht bereits zuvor (um 200.000 Gulden) verpfändet hatte ; 2. Albrecht musste die Widerlegung (100.000 Gulden) an Elisabeth in bar ausbezahlen. Elisabeth wiederum musste diese Summe sogleich ihrem Vater leihen, wobei Sigismund ihr diese Schuld nochmals über dieselben fünf Städte verschrieb. So wurden die fünf Städte um insgesamt 400.000 Gulden an Albrecht und Elisabeth verpfändet. Diese Pfandsumme entsprach nicht dem Wert von fünf Städten, sondern eher dem Wert eines größeren Landes. 49 Diese Interpretation, die von der traditionellen Darstellung der Übergabe Mährens an Herzog Albrecht V. von Österreich wesentlich abweicht, wurde bei Elbel u. a., Heirat (wie Anm. 10) 121–133 präsentiert, wo auch die ältere Forschung zusammengefasst ist. 50 Erhalten ist eine umfangreiche Dokumentation der Abrechnung der österreichischen Söldner in Iglau aus dem Jahr 1423 sowie aus Znaim für die Jahre 1429/30 – s. Petr Elbel, Die Verschriftlichung des Kriegsalltags. Die Akten der während des Hussitenkriegs in Znaim und Iglau stationierten österreichischen Söldner, in : Studia historica Brunensia 66/1 (2019) 5–57. 51 Die Schenkungsurkunde vom 1. Oktober sowie deren erste Fassung vom 5. Februar 1423, in der Sigismund sich noch etwa ein Viertel bis ein Drittel Mährens vorbehalten wollte und die offensichtlich aus eben diesem Grund nicht in Kraft trat, wurden von Berthold Bretholz publiziert – s. Berthold Bretholz, Die Übergabe Mährens an Herzog Albrecht V. von Österreich im Jahre 1423. Beiträge zur Geschichte der Hussitenkriege in Mähren, in : Archiv für österreichische Geschichte 80 (1893) 249–349, hier 345f., Nr. 15, und 346–349, Nr. 16. In der Schenkungsurkunde bzw. im anschließenden Lehnbrief (s. Archiv Koruny české 5. Katalog listin z let 1378–1437 [Archiv der Böhmischen Krone 5. Katalog der Urkunden aus den Jahren 1378–1437], hg. v. Antonín Haas [Český zemský archiv. Katalogy, soupisy, regestáře a rozbory 1, Praha 1947] Nr. 310) wird die Heirat bzw. die Heimsteuer mit keinem Wort erwähnt und der Rechtsakt wird als Schenkung präsentiert. Als aber die böhmischen Stände 1436 von Sigismund die Restitution Mährens verlangten, lehnte er mit der ausdrücklichen Begründung ab, Mähren sei Albrecht als Heimsteuer seiner Tochter überreicht worden – s. Thomae Ebendorferi diarium (wie Anm. 46) 782. 52 Dieses Datum nennt die sog. Tribauer Chronik (tatsächlich eine Fortsetzung der Trebitscher Redaktion
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Wie oben gezeigt wurde, lässt sich Sigismunds Urkunde für die mährischen Juden vom 6. April 1421 nicht als Herauslösung der jüdischen Gemeinden in den noch zu verpfändenden Städten aus der Verfügungsgewalt eventueller künftiger Pfandherren deuten. Auch die Verpfändungsurkunde für Albrecht vom 7. Juli 1421 erwähnt die jüdischen Gemeinden mit keinem Wort, d.h. sie wurden offensichtlich als Zubehör der verpfändeten Städte betrachtet. Es sind zwar keine Belege für Beziehungen Albrechts zu den Iglauer oder Znaimer Juden aus den Jahren 1422 und 1423 überliefert, zugleich gibt es jedoch auch keine Belege für eventuelle Beziehungen Sigismunds zu denselben jüdischen Gemeinden. Aus der langen markgräflichen Regierung Albrechts einschließlich seiner kurzen Zeit als böhmischer König gibt es insgesamt nur wenige Nachrichten über Beziehungen zu den mährischen Juden, und diese kommen lediglich aus drei Städten : Iglau, Brünn und Znaim. In Iglau geht es um die Vertreibung der städtischen Juden, was auf den ersten Blick für eine Kontinuität zwischen der österreichischen und der mährischen Judenpolitik Albrechts zu sprechen scheint. Seine Judenpolitik in Znaim und Brünn war hingegen eher konservativ. Sehen wir uns zunächst den Fall Iglau kurz an, der jüngst von Pavel Kocman detailliert analysiert worden ist53. Die Quellen zur Iglauer Vertreibung sind äußerst spärlich. Der erste indirekte Hinweis auf eine Ausweisung der Juden aus der Stadt stammt aus dem Frühjahr 1425, als die ehemalige Judenschule im Iglauer Steuerregister als Zubehör des städtischen Spitals genannt wird54. Mehr erfahren wir erst aus einer Supplik des Iglauer Stadtrates an Papst Martin V., in der die päpstliche Bewilligung zur Umwandlung der Iglauer Synagoge in eine Fronleichnamskapelle erbeten wird, und die am 1. Februar 1427 in Rom unterzeichnet wurde55. In der Narratio führte der Stadtrat an, Markgraf Albrecht hätte befohlen, die Juden aus der Stadt auszuweisen, da sie die Stadt in große Gefahr brächten und ihr zahlreiche Schäden zufügen könnten, und zwar besonders im Zusammenhang mit den der Chronik des Cosmas von Prag) – s. Johann Georg Meinert, Die Tribauer Handschrift, in : Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst 10 (1819) 65f., 90–92, 100–103, hier 92. 53 Kocman, Ausweisung (wie Anm. 18) 281–289, 302–309, wo auch die ältere Forschung gründlich diskutiert wird. Die wichtigsten unter den älteren Titeln sind die Arbeiten František Hoffmanns, Jihlava v husitské revoluci [Iglau in der Hussitischen Revolution] (Havlíčkův Brod 1961) 83f., und Zdeněk Jaroš’, Z nejstarší historie Židů na Jihlavsku [Aus der ältesten Geschichte der Juden in Iglau], in : Dotyky. Židé v dějinách Jihlavska. Sborník k výstavě [Kontakte. Juden in der Geschichte der Region Iglau. Sammelband zur Ausstellung], hg. v. Petr Dvořák ( Jihlava 1998) 9–23, hier 18. 54 Rejstříky městské sbírky jihlavské z let 1425–1442. Registra losungarum ciitatis Iglaviensis 1425–1442, hg. v. František Hoffmann 1–2 (Archiv český XL/1–2, Praha–Jihlava 2004) hier 1, 30 : scola Judeorum libertatur propter pauperes hospitalis. 55 Monumenta Vaticana res gestas Bohemicas illustrantia. VII. Acta Martini V. pontificis Romani 1417– 1431. 2. 1423–1431, hg. v. Jaroslav Eršil (Acta summorum pontificum res gestas Bohemicas aevi praehussitici et hussitici illustrantia 4, Pragae 1998) Nr. 1710.
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Hussiten, die sich unweit der Stadt aufhielten56. Die wenig konkrete Beschuldigung sollte offensichtlich dem stark antihussitischen Papst die Möglichkeit einer jüdisch-hussitischen Kollaboration nahelegen. Hätten die Iglauer Bürger konkrete Belege für eine jüdisch-hussitische Verschwörung vorlegen können, bzw. wäre diese Verschwörung in der nicht überlieferten Einwilligung Herzog Albrechts zur Umwandlung der Synagoge tatsächlich genannt worden, wäre die Supplik wohl konkreter formuliert worden. Die eigentliche päpstliche Urkunde, die dem Propst von Brünn die Erledigung des Iglauer Ansuchens überträgt, ist bei der Angabe von Gründen für die Vertreibung der Juden ähnlich vage. Sie beruft sich auf die Supplik, die Verfügung Herzog Albrechts wird jedoch etwas anders formuliert : der Herzog habe befürchtet, dass der Stadt durch die Juden große Gefahr drohen könnte und ihr viele Schäden aus dem nahen Königreich Böhmen entstehen könnten, wo zahlreiche Ketzer lebten57. Aus dieser Formulierung wird ebenso wenig klar, ob die Juden nun angeblich direkt mit den Hussiten kollaborierten, oder ob sie z. B. die Iglauer Bürger wirtschaftlich schädigten und damit die Verteidigungsfähigkeit der Stadt bedrohten. In denselben Zusammenhang gehört schließlich auch noch eine Urkunde Herzog Albrechts vom 24. April 1427, mit welcher er dem städtischen Spital die ehemalige Synagoge übertrug58. In dieser Urkunde wird die vorangegangene Vertreibung der Juden mit 56 Die betreffende Passage der Narratio lautet : Alias illustris princeps dominus marchio Moravie considerans, quod per Judeos tunc in opido Yglavia Olomucensis diocesis habitantes et certam partem illius occupantes incolis et habitatoribus eiusdem opidi, maxime causantibus perfidis Hussitis hereticis, orthodoxe fidei emulis et christiani nominis persecutoribus ab ipso opido non longe distantibus, gravia possent dampna inferri et pe ricula, eosdem Judeos a prefato opido recedere compulit et domos eorum inter christifideles inibi commorantes distribui mandavit – ebd. Eine Schlüsselrolle für die Interpretation dieser Stelle spielt der unterstrichene Einschub. In der Literatur wurde diese Stelle durchgängig als Beleg für eine (wenn auch nur potentielle) jüdisch-hussitischen Verschwörung interpretiert, bis Pavel Kocman, Ausweisung (wie Anm. 18) 306 richtigerweise darauf hinwies, dass die Juden hier gar nicht der Kollaboration mit den Hussiten beschuldigt werden. Kocman bot zwei Übersetzungen an : »weil die Juden, die in Iglau leben und einen Teil der Stadt bewohnen, den Bürgern und Bewohnern große Schäden verursachen könnten, vor allem wenn sie sich gegen die hussitischen Häretiker verteidigen«, oder »…vor allem wenn Häretiker nahe sind«. Allerdings kann das Verb causari auch die Bedeutung mutuo causam esse, i.e. »in Kausalrelation mit etwas stehen« haben, was noch eine dritte, neutralere Übersetzung erlaubt : »…besonders im Zusammenhang mit den hussitischen Ketzern, die sich unweit der Stadt befinden«. 57 Monumenta Vaticana VII/2 (wie Anm. 55) Nr. 1711 : Sane pro parte dd. ff. magistri civium, consulum et communitatis opidi Yglavia Olomucensis diocesis nobis nuper exhibita peticio continebat, quoad alias nobilis vir Albertus, dux Austrie marchioque Moravie […], provide considerans, quod per Judeos, qui in suis domibus in dicto opido eciam inibi synagogam habentes inter christifideles moram tunc trahebant, communitati hui usmodi ac ipsius opidi habitatoribus et incolis a regno Boemie, quo plerique perfidi et heresum erroribus im plicati christianique nominis inimici versantur, non longe distantibus gravia possent damna animarumque pericula detestabiliter instaurari, Judeos ab ipso opido expulit et domos huiusmodi inter christifideles eosdem distribui et illis assignari mandavit. 58 MZA – SOkA Jihlava, Bestand AM Jihlava, Urkunde Nr. 83 ; s. Die Regesten oder die chronologischen
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keinem Wort erwähnt, geschweige denn begründet. Vermutlich hatte Albrecht schon zuvor (wahrscheinlich 1424) durch eine heute verlorene Urkunde die Vertreibung genehmigt, weswegen er dieses Ereignis 1427 nicht mehr kommentierte und nur noch offiziell Verfügungen über die Synagoge traf, die eigentlich schon seit Anfang 1425 faktisch dem Spital gehörte59. Der Verlust der älteren Urkunde macht es unmöglich zu entscheiden, wie der Herzog die Vertreibung darin ursprünglich begründete, insbesondere ob, und wenn ja in welcher Form dort ein Zusammenhang zwischen Juden und Hussiten hergestellt wurde. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Argument ursprünglich von Herzog Albrecht stammt ; es ist aber ebenso möglich, dass die Hussiten erst in die Supplik an den Papst eingebaut wurden, um denselben dazu zu bewegen, die Supplik zu genehmigen. Pavel Kocman ging noch weiter in diese Richtung und kam zu dem – uns plausibel erscheinenden – Schluss, dass die Vertreibung der Juden aus Iglau höchstwahrscheinlich auf Veranlassung des Iglauer Stadtrates erfolgte, der weniger eine jüdisch-hussitische Verschwörung fürchtete, als vielmehr den jüdischen Besitz konfiszieren wollte, um die kostspielige Verteidigung der Stadt aufrecht erhalten zu können60. Herzog Albrecht dürfte diesem Gesuch entgegengekommen sein, da der Erhalt der Iglauer Verteidigungsfähigkeit auch in seinem Interesse lag61. Wenn diese Neuinterpretation zutrifft, steht die Vertreibung der Juden aus Iglau völlig im Einklang mit anderen, mit Erlaubnis des Königs bzw. des Landesherrn durchgeführten städtischen Judenausweisungen im spätmittelalterlichen Reich. Sie ist allerdings nur schwer mit der Wiener Gesera zu vergleichen, die ein von oben organisiertes und besonders blutiges Pogrom darstellte. Ebenso wenig scheint es tragfähig, die angebliche Begründung der Iglauer Vertreibung mit der Befürchtung einer jüdisch-hussitischen Verzeichnisse der Urkunden in den Archiven zu Iglau, Trebitsch, Triesch, Gross-Bitesch, Gross-Meseritsch und Pirnitz, samt den noch ungedruckten Briefen Kaiser Ferdinand des Zweiten, Albrechts v. Waldstein und Romboalds Grafen Collalto I/1, hg. v. Peter Ritter von Chlumecky (Brünn 1856) 23, Nr. 91. 59 S. den oben in Anm. 54 zitierten Eintrag im Iglauer Steuerregister. Interessant ist, dass Herzog Albrecht die Übertragung der Synagoge an das Spital (offensichtlich nachträglich) billigte, während der Papst bereits deren Umwandlung in eine Fronleichnamskapelle erlaubt hatte. 60 Kocman, Ausweisung (wie Anm. 18) 302–309, mit der treffenden Zusammenfassung auf S. 309 : »Die Ausweisung der Juden hing also mit dem Hussitentum zusammen, aber keineswegs so, daß die Juden heimliche oder öffentliche Verbündete der Hussiten gewesen wären, sondern sie waren eher Opfer der Kämpfe zwischen der katholischen Stadt und den Hussiten und dienten auf ihre Weise als Kriegsentschädigung einer der Kampfparteien«. 61 Albrecht wollte die Stadt offensichtlich für ihre beständige Treue entlohnen und ihre Aufwendungen nachhaltig senken, weshalb er darauf verzichtete, sich die entgangene Judensteuer durch eine entsprechende Erhöhung der Stadtsteuer ersetzen zu lassen, so wie es später sein Sohn Ladislaus Posthumus im Zusammenhang mit der Vertreibung der Juden aus Brünn, Olmütz, Znaim und Mährisch Neustadt halten sollte – s. ebd. 284, 293–295.
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Verschwörung als Argument dafür heranzuziehen, dass dieselbe Begründung der Wiener Gesera zugrunde gelegen habe. Während Herzog Albrecht die Vertreibung der Juden aus Iglau gestattete, gestaltete sich seine Politik den restlichen mährischen Judengemeinden gegenüber ganz anders. Von seinen Beziehungen zur jüdischen Gemeinde von Brünn (und teilweise auch zu anderen Gemeinden des Landes), hören wir das erste Mal am 7. November 1433. An diesem Tag richtete Albrecht ein sehr aufschlussreiches Mandat an den mährischen Unterkämmerer, Jost Hecht von Rossitz/Rosice62. Der Herzog schrieb dem Unterkämmerer bezüglich der Abgaben, die ihm die mährischen Juden an Pauli Bekehrung (25. Januar 1434) bzw. am Georgstag (23. April 1434) leisten sollten (höchstwahrscheinlich handelte es sich um die ordentliche, möglicherweise aber [auch] um eine nicht näher definierte außerordentliche Judensteuer63). Laut der Narratio des Mandats hatte eine Delegation der mährischen Juden Herzog Albrecht in Wien aufgesucht und sich bei ihm beklagt, dass viele Juden nicht imstande wären, die anstehenden Zahlungen in bar zu leisten, ohne ihre Erbgüter zu veräußern, weil viele Schuldner ihnen hohe Summen schuldeten, die ohne gerichtliche Hilfe nicht eingetrieben werden konnten. Albrecht forderte den Unterkämmerer daher auf, Bürgermeister und Rat von Brünn dahingehend zu instruieren, dass alle Juden, die Häuser und Güter verkaufen oder versetzen wollten, diese sowohl an Juden als auch an Christen veräußern durften. Er legte weiters fest, dass alle von Juden angezeigte Schuldner rechtlich belangt werden sollten, damit die Juden die ihm geschuldete Summe schneller abführen konnten. Das ganze Mandat schloss mit einem allgemeinen Befehl, die mährischen Juden bei ihren Rechten und Freiheiten zu belassen. Auch wenn das Stück in Form eines Mandates abgefasst ist, stellt der letzte Punkt eigentlich eine allgemeine Privilegienbestätigung für die mährischen Juden dar ; auch die anderen Bestimmungen des Mandats begünstigen die Juden. Die Verfügung war natürlich vom Interesse des Herzogs motiviert, möglichst rasch an die ihm zustehende Judensteuer 62 AMB, Bestand A I/3 – Sbírka rukopisů a úředních knih [Handschriften- und Amtsbüchersammlung], Handschrift 7329, fol. 359r ; s. Edition in : Zur Geschichte der Juden in Böhmen, Mähren und Schlesien von 906 bis 1620. 1. 906–1576, hg. v. Gottlieb Bondy, Franz Dworský (Prag 1906) Nr. 223. 63 Die ordentliche Judensteuer wurde in den mährischen Städten zweimal im Jahr erhoben, und zwar einmal im Frühling (wohl am Georgstag) und einmal im Herbst (in der Regel wohl am Gallustag, i.e. am 16. Oktober, wie nachweislich in Olmütz und Znaim der Fall – s. Zemský archiv Opava [Landesarchiv Troppau] – SOkA Olomouc, Bestand AM Olomouc, Urkunde Nr. 206 ; MZA – SOkA Znojmo, Bestand AM Znojmo, Urkunde Nr. 104 ; s. Editionen bei Peter, Juden [wie Anm. 26] 61–63, Nr. 4 ; 63–65, Nr. 5). Bei der zu Pauli Bekehrung fälligen Zahlung könnte es sich wohl noch um die verspätete bzw. aufgeschobene Steuer vom Herbst 1433 gehandelt haben (was angesichts der finanziellen Schwierigkeiten der Brünner Judengemeinde durchaus plausibel erscheint) ; es könnte sich aber auch um eine außerordentliche, ad hoc ausgeschriebene Sondersteuer handeln.
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zu kommen. Damit sind wir jedoch wieder bei einer ganz traditionellen fürstlichen Judenpolitik. Zwölf Jahre nach der Wiener Gesera und sechs bis acht Jahre nach der Iglauer Vertreibung mag dies auf den ersten Blick etwas überraschend wirken. Diese Linie kennzeichnete aber vor 1420 auch Albrechts Regierung in Österreich, und sollte nach 1438 seine Königsherrschaft im Reich, in Ungarn und Böhmen charakterisieren. Mit Ausnahme der Vertreibung der Juden aus Iglau trifft sie auch auf die mährische Regierung Albrechts zu. Ein ähnlicher, obgleich weniger eindeutiger Beleg für diese klassische Judenpolitik stammt aus Znaim. 1436 schützte Albrecht die dortige Judengemeinde vor ihren Schat tauer Schuldnern64. Die Einwohner des damals lichtenburgischen Marktes Schattau hatten zuvor von Albrecht eine (heute verlorene) Befreiung von ihren Schulden bei den Znaimer Juden – oder vielleicht nur eine Ermäßigung derselben – erhalten. Nun versuchten auch Personen dieses Privileg auszunutzen, die erst später aus der Herrschaft der Kreuzherren-Propstei Pöltenberg/Hradiště sv. Hypolita und aus anderen Herrschaf ten nach Schattau zugewandert waren (möglicherweise eben um in den Genuss des Schattauer Privilegs zu kommen). Albrecht befand dies für unrechtmäßig und befahl seinem Hauptmann in Znaim, Ulrich Eitzinger, sowie dem dortigen Bürgermeister und Stadtrat, den Znaimer Juden beim Eintreiben alter Schulden von den neu zugewanderten Schattauern behilflich zu sein. Albrecht schützte hier das Kreditgeschäft der Znaimer Juden ; irgendwann früher war er jedoch den Einwohnern von Schattau entgegengekommen, womit er umgekehrt die Znaimer Juden geschädigt hatte65. Zu einer ähnlichen Regelung zuungunsten der Juden kam es auch am 11. Dezember 1437, als Albrecht die Zinszahlungen der bei Juden verschuldeten Znaimer Bürger ermäßigte66. Von jedem Schock Prager Groschen Stammkapital sollten wöchentlich nur mehr dreieinhalb Wiener Pfennige an Zinsen abgeführt werden, was einer Verzinsung von 43 % p.a. (also ungefähr die Hälfte der üblichen Zinsrate) entsprochen haben dürfte67. An dieser Stelle muss noch die etwas unklare Situation in Olmütz kurz erörtert werden. Dort soll es nach einer – wahrscheinlich gefälschten – Urkunde Bischof Johanns des Eisernen von Olmütz vom 1. August 1425 angeblich zur Konversion des Rabbis Mosche gekommen sein68. Die angebliche Bischofsurkunde ist als Insert in einem Notariatsinst64 MZA, Bestand E 6 – Benediktini Rajhrad, Sign. A g 99. 65 Hierbei könnte Albrecht an eine ältere Verfügung König Sigismunds zugunsten der Einwohner von Schattau vom 25. Mai 1421 angeknüpft haben, die oben in Abschnitt 2 besprochen wurde. 66 MZA – SOkA Znojmo, Bestand AM Znojmo, Urk. Nr. 90 ; s. Edition bei Peter, Juden (wie Anm. 26) 60f., Nr. 3. 67 S. Kocman, Ausweisung (wie Anm. 18) 290. 68 Daniel Soukup publizierte diese Quelle und analysierte sie detailliert – s. Daniel Soukup, The Alleged Conversion of the Olomouc Rabbi Moses in 1425. Contribution to the Host Desecration Legends in Mediaeval Literature, in : Judaica Bohemiae 48 (2013) 5–38, mit der Edition auf S. 36–38.
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rument aus dem Jahr 1427 überliefert, das selbst unverdächtig wirkt. Die inserierte Urkunde kann aber kaum echt sein, weil schon die Intitulatio Bischof Johanns dem Jahr 1425 nicht entspricht69 und auch andere Urkundenformeln von den Usancen der bischöflichen Kanzlei abweichen. Der Urkundenkontext besteht lediglich aus einer langen Narratio, sodass es sich eigentlich eher um eine erzählende Quelle in Form einer Urkunde handelt. Dies legt nahe, dass der Autor bewusst die Urkundenform wählte, um seinem Text eine höhere Glaubwürdigkeit zu verleihen. Insofern handelt es sich um eine Fälschung, was jedoch nicht bedeutet, dass die Darstellung – abgesehen von den zahlreichen topoi und den fiktionalen Behauptungen – einen realen Kern besitzen könnte. Möglicherweise konvertierte in Olmütz tatsächlich ein Rabbi zum christlichen Glauben. Der Rest der angeblichen Urkunde dürfte jedoch pure Dichtung sein, handelt es sich doch um ein ganz konventionelles Hostienwunder. Die Olmützer Glaubensgenossen des Rabbis hätten ihn nämlich durch eine Hostienschändung von seiner Entscheidung abbringen wollen, woraufhin die zerbrochene Hostie sich in ein kleines Kind verwandelt hätte. Dieses Wunder habe nicht nur die Bekehrung des Rabbis bekräftigt, sondern auch noch weitere Olmützer Juden zum »rechten Glauben« geführt und schließlich in der Gründung einer Fronleichnamskapelle gegipfelt. Daniel Soukup identifizierte den besagten Rabbi mit Mosche Kohen, dem Lehrer des berühmten Brünner und Regensburger Rabbis Israel Bruna. Kohens Lehrertätigkeit in Olmütz lässt sich nur durch wenige hebräische Quellen belegen. Im Olmützer Judenbuch der Jahre 1413–1428 ist aber ein gewisser Muschel, Musel, Muslinus u. ä. als jüdischer Kreditgeber nachgewiesen, der evtl. mit Rabbi Mosche Kohen ident sein könnte70. Soukup vermutet, dass die Konversion Mosches eine Art damnatio memoriae hervorgerufen haben könnte, weshalb er in den hebräischen Quellen kaum belegt ist71. 69 1425 war Johann seit fünf Jahren nicht mehr Administrator des Bistums Leitomischl/Litomyšl, sondern bereits vier Jahre lang Administrator des Erzbistums Prag. S. Zdeňka Hledíková, Štěpán Kohout, Art. Johann der Eiserne (de Bucca) († 1430). 1388–1418 Bischof von Leitomischl. 1416–1418 Administrator des Bistums Olmütz. 1418–1420 Administrator des Bistums Leitomischl. 1418–1430 Bischof von Olmütz. 1421–1430 Administrator des Erzbistums Prag. 1426 Kardinal. 1430 Bischof von Waitzen, in : Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1198 bis 1448. Ein biographisches Lexikon, hg. v. Erwin Gatz, Clemens Brodkorb (Berlin 2001) 596–598 ; jüngst detailliert Petr Elbel, Olomoucký biskup Jan Železný a Zikmund Lucemburský. Příspěvek k poznání Zikmundovy spojenecké sítě v českých zemích a jeho dvorských struktur [Bischof Johann der Eiserne von Olmütz und Sigismund von Luxemburg. Ein Beitrag zur Erforschung der Anhängerschaft Sigismunds in den böhmischen Ländern und seiner Hofstrukturen], in : Studia Mediaevalia Bohemica 6/1 (2014) 17–68. 70 Soukup, Alleged Conversion (wie Anm. 68) 27. Der Autor geht hier auch auf das Problem ein, dass Muschel an einer Stelle als carnifex bezeichnet wird, was bei einem Rabbi kaum möglich wäre. Soukup vermutet, dass es in Olmütz parallel zwei wirtschaftlich aktive Juden mit dem Namen Mosche gegeben haben könnte. 71 Ebd. 71 : »It is possible that the absence of other reports about the mediaeval Olomouc yeshiva or about
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Schon recht spekulativ ist jedoch seine Vermutung, dass Mosche gerade im Jahr 1425 konvertiert sein könnte, da die Olmützer Juden damals während einer längeren Blockade der Stadt durch die Hussiten verstärktem Druck vonseiten der christlichen Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt gewesen seien72. Für dieses und die folgenden sieben Jahren ist ein umfangreiches Missivbuch der Olmützer Kanzlei überliefert. Darin lassen sich zwar Befürchtungen vor potentiellen Verrätern innerhalb der Stadtmauer finden, es wird jedoch kein Zusammenhang mit den Juden hergestellt. Allgemein zeigen die städtischen Korrespondenzen keine Konflikte zwischen der christlichen und der jüdischen Stadtbevölkerung. Obwohl Rabbi Mosche vielleicht – aus kaum mehr feststellbaren Gründen – tatsächlich zum christlichen Glauben übertrat, kam es offensichtlich zu keinem Pogrom, die Juden wurden nicht aus der Stadt vertrieben und konvertierten auch nicht in Massen zum Christentum. Die Olmützer Stadtbücher belegen vielmehr ein kontinuierliches Bestehen der Olmützer Gemeinde bis zu ihrer Ausweisung im Jahr 145473. Die Konversion des Olmützer Rabbis – wenn sie denn tatsächlich stattfand – könnte natürlich mit gewissen Differenzen zwischen der christlichen und der jüdischen Bevölkerung von Olmütz zusammenhängen und Spannungen innerhalb der jüdischen Gemeinde hervorgerufen haben, aber insgesamt dürften auch die Olmützer Juden den Hussitenkrieg bzw. die mährische Regierung Albrechts V. (II.) ohne größere Einschnitte überstanden haben. Am Ende dieses Abschnitts können wir konstatieren, dass Herzog Albrecht während seiner mährischen Herrschaft zwar höchstwahrscheinlich die Vertreibung der Juden aus Rabbi Moses Kohen in Hebrew sources could actually be due to his conversion. From the time of the first crusades, it was the ethical ideal for Ashkenazy Jews in the case of forced apostasy to prefer martyrdom (known as kidush ha-Shem – the sanctification of God’s name). Voluntary apostasy was considered unforgiveable and specific cases were deliberately eradicated from the collective Jewish memory«. 72 Ebd. 15 : »In the municipal book for entering drafts of the city council’s outgoing correspondence, in 1424 kept by the municipal scribe Wenceslaus of Jihlava, there is a copy of a letter to Albert V Duke of Austria. […] In the letter the Olomouc city council informs the Margrave of the circulation of alarmist reports, that secret allies of the Hussites can be found in the city, intending to start fires inside the ramparts and thus contribute to the occupation of Olomouc by Hussite troops. The letter does not mention who these potential collaborationists might be. However, if we know about the wide-spread contemporary conviction of cooperation between the Jews and the Hussites, we understand the pressure under which the Jewish community must have found itself in 1425«. Dazu sei bemerkt, dass man in solchen Fällen wohl eher an die tschechische Minderheit unter den Bürgern und Einwohnern dachte – siehe die Belege über die Verbrennung einiger Tschechen in Olmütz und Znaim oben in Abschnitt 2. 73 Für die Zeit zwischen 1428 und der Vertreibung der Juden aus Olmütz im Jahr 1454 ist für Olmütz kein Judenbuch mehr überliefert ; allerdings erscheinen die Juden immer wieder im zeitgenössischen Stadtbuch – siehe Památná kniha olomoucká (kodex Václava z Jihlavy) z let 1430–1492, 1528 [Das Gedenkbuch der Stadt Olmütz (Kodex Wenzels von Iglau) aus den Jahren 1430–1492, 1528], hg. v. Libuše Spáčilová, Vladimír Spáčil (Olomouc 2004) Nr. 60, 159, 162, 188, 278f., 308, 893.
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Iglau ermöglichte (offensichtlich jedoch nicht initiierte), den Juden in anderen Städten jedoch ihre hergebrachten Rechte beließ und sie ggf. sogar vor ihren christlichen Nachbarn und Schuldnern schützte, wofür er die ordentliche Judensteuer und möglicherweise auch diverse Sonderzahlungen erhob. Abgesehen von dem Iglauer Fall bewegte sich seine Judenpolitik also insgesamt in traditionellen Bahnen, die auch für seine österreichische Regierung vor 1420 bzw. für seine kurze Königsherrschaft im Reich, in Ungarn und Böhmen bezeichnend war. In Brünn, Znaim und Olmütz, aber auch in einigen kleineren Städten lebten die jüdischen Gemeinden ohne bedeutende Probleme die ganze Regierungszeit Albrechts hindurch in relativem Frieden. Für Olmütz und vor allem für Znaim lässt sich ihre wirtschaftliche Tätigkeit durch die teilweise erhaltenen Judenbücher belegen74 ; in Brünn treten die Juden verhältnismäßig häufig im Gedenkbuch aus dem 15. Jahrhundert sowie in anderen Stadtbüchern in Erscheinung75. Das jüdische Leben in den mährischen Städten kontrastiert so scharf mit der Situation in Österreich nach der Katastrophe von 1420/21, dass aus dieser Tatsache geradezu zwangsläufig einige Schlüsse über die Wiener Gesera gezogen werden müssen.
4. Schlussbetr achtung, oder: Was verr ät die Judenpolitik Herzog Albrechts V. in Mähren über die Wiener Geser a ? Wie im ersten Abschnitt gezeigt, werden in der heutigen Forschung hauptsächlich zwei Ansichten vertreten, die den tiefen Bruch in Albrechts Judenpolitik im Jahr 1420 zu erklären versuchen. Auf der einen Seite eine religiöse Erklärung, wonach Albrecht unter dem Einfluss der Wiener Theologen und der österreichischen Klosterreformer begonnen habe, die Juden im Gegensatz zur päpstlichen Gesetzgebung als unzulässige Ketzer zu betrachten und/oder eine Kollaboration der Juden mit den Hussiten zu befürchten. Diese Überzeugungen sollen derart tief und aufrichtig gewesen sein, dass Albrecht für sie die wirtschaftlichen Nachteile einer dauerhaften Vernichtung des österreichischen Judentums in Kauf nahm. 74 Zum Olmützer Judenbuch von 1413–1428 s. Roman Zaoral, Financial Conditions in Early 15th-Century Olomouc in the Light of the Jewish Register, in : Juden in der mittelalterlichen Stadt. Der städtische Raum im Mittelalter – Ort des Zusammenlebens und des Konflikts, hg. v. Eva Doležalová (Colloquia mediaevalia Pragensia 7, Praha 2015) 131–137 ; zu den Znaimer Judenbüchern Thomas Peter, Judenbücher als Quellengattung und die Znaimer Judenbücher. Typologie und Forschungsstand, in : Räume und Wege. Jüdische Geschichte im alten Reich 1300–1800, hg. v. Rolf Kiessling, Peter Rauscher, Stefan Rohrbacher (Colloquia Augustana 25, Berlin 2007) 307–334 ; ders., Die Znaimer Judenbücher. Eine wichtige Quelle zur Geschichte der mährischen Juden im Spätmittelalter, in : Grenzgängereien, hg. v. Anke Kleine, Christian Irsfeld (Prešov 2007) 139–162. 75 S. vor allem Pamětní kniha (wie Anm. 45) ad indicem.
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Auf der anderen Seite steht eine hauptsächlich finanzielle Erklärung, die die Wiener Gesera als kaltblütigen Raub des Vermögens der österreichischen Juden ansieht, der religiös verbrämt, nicht jedoch religiös motiviert war. Dieser Raub wurde zu einem Zeitpunkt unternommen, als Herzog Albrecht für die Realisierung seiner politischen Pläne riesige Summen baren Geldes benötigte. Der kurzfristige Geldbedarf soll dabei derart akut gewesen sein, dass er den langfristigen Verlust der Judensteuer und des jüdischen Kredits überwogen habe. Die Entwicklung in Mähren spricht eher für letztere Interpretation. Hätte Albrecht die Juden tatsächlich als Häretiker betrachtet und sie ernsthaft der Verschwörung mit den Hussiten verdächtigt, hätte er wohl konsequenterweise dieselbe antijüdische Politik auch in Mähren verfolgen müssen. Besonders eine potentielle jüdisch-hussitische Kollaboration war hier von besonderer Brisanz. Die mährischen königlichen Städte stellten Albrechts hauptsächliche politische Stütze im Land dar und mussten permanent durch starke und sehr kostspielige Söldnertruppen verteidigt werden. Entsprechend hätte der Herzog kaum Juden innerhalb der Mauern seiner Städte geduldet, wenn er tatsächlich an die Gefahr einer jüdisch-hussitischen Verschwörung geglaubt hätte. Zwar kam es tatsächlich zur Vertreibung der Juden aus Iglau, die oft als – allerdings recht bescheidene – mährische Parallele zur Wiener Gesera genannt wird. Diese sollte uns aber nicht täuschen. Ein angeblicher Zusammenhang zwischen der Vertreibung der Juden und der hussitischen Gefahr findet sich lediglich in der Supplik an den Papst, und das recht vage formuliert. Offensichtlich handelt es sich hier eher um eine dem Papst zuliebe eingebaute Begründung der Vertreibung, als um deren tatsächliches Motiv. Pavel Kocman zufolge war der Hintergrund der Iglauer Vertreibung finanzieller Natur : die Stadt wollte durch die Konfiskation des jüdischen Vermögens ihre enormen Ausgaben für den Hussitenkrieg zumindest teilweise decken, und der Herzog stimmte aus strategischen Gründen zu, seine Juden diesem Wunsch zu opfern76. In den restlichen königlichen Städten, die ebenfalls oft von den hussitischen Heeren bedroht wurden, kam es hingegen zu keinen Vertreibungen. Aus der mährischen Perspektive, aber auch aus der Perspektive der späteren Königsherrschaft Albrechts im Reich, in Ungarn und Böhmen, erscheint die Wiener Gesera somit als eine momentane, für die österreichischen Juden jedoch fatale Abweichung von der traditionellen Judenpolitik. In Österreich konnte dieser Schritt nicht mehr rückgängig gemacht werden, ohne die gesamte (religiöse) Legitimation des Raubes in Frage zu stellen. In seinen anderen Ländern musste Albrecht auf seine frühere Politik in Österreich jedoch keine Rücksicht nehmen, wodurch er hier mehr oder weniger eine traditionelle fürstliche Judenpolitik betreiben konnte. 76 Kocman, Ausweisung (wie Anm. 18) 302–309.
Im Zeichen der Wiener Gesera ?
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Es war keineswegs die Absicht des Autors, den Ruf Herzog Albrechts durch eine Untersuchung seiner Beziehungen zu den mährischen Juden zu »rehabilitieren«. Eher im Gegenteil : wir sind der Meinung, dass HistorikerInnen nicht versuchen sollten, die Ereignisse von 1420/21 quasi zu »entschuldigen«, indem sie religiöse Motive wie Häresiebekämpfung oder Angst vor den Hussiten als eine Art »mildernde Umstände« vorbringen. Die Wiener Gesera erscheint dem Autor jetzt noch mehr als zuvor als ein brutaler Raub, für den unterschiedliche religiöse Begründungen vorgeschoben wurden. Während seiner Regierung in Mähren war Albrecht nicht (mehr) auf einen derart massiven Raub wie in Österreich angewiesen, sondern konnte seine jüdischen Kammerknechte auf zu seiner Zeit übliche Weise wirtschaftlich ausnutzen. Aus diesem Grund gewährte er ihnen auch gelegentlich Schutz vor ihren christlichen Nachbarn. Lediglich im Fall von Iglau wurden die Juden zugunsten einer Stadt geopfert, die ein wichtiges katholisches Bollwerk an der Grenze zum hussitischen Böhmen – genauer gesagt zum Gebiet des Taborer Bundes – darstellte. Eine ähnliche »Elastizität« in der Judenpolitik beobachtete auch Karel Hruza bei seiner Untersuchung der Beziehungen Sigismunds zu seinen jüdischen Kammerknechten im Reich77. Er zeigte, wie Sigismund die im Reich ansässigen jüdischen Gemeinden nach seinen jeweils aktuellen finanziellen und politischen Bedürfnissen ganz unterschiedlich behandelte. Daher kam es während seiner Regierung zu solch widersprüchlichen Verfügungen, wie der Vertreibung der Juden aus Eger und der späteren Zustimmung zur neuerlichen Ansiedlung von Juden in derselben Stadt78. In einigen Städten schützte Sigismund die Juden vor den Übergriffen des Stadtrates und der Bürger79, in anderen opferte er sie seinen lokalen politischen Interessen. Dabei begegnen uns Fälle, die den Iglauer Ereignissen ähneln, etwa die vom König genehmigten bzw. von den betreffenden Städten durchgeführten und nachträglich von ihm gebilligten Vertreibungen aus Eger, Freiburg80 und Köln81, aber auch Ereignisse, die in ihrem fatalen Verlauf eher der Wiener Gesera ähneln. Dazu gehört vor allem die Welle der Verfolgung, die nach der Ravensburger Ritualmordbeschuldigung über die Juden des Bodenseeraums hereinbrach. Diese gipfelte in die, zwar nicht von Sigismund initiierte, wohl aber von ihm geduldete Verhaftung und Verbrennung der Konstanzer
77 Hruza, König Sigismund (wie Anm. 40). 78 Ebd. 106–108. 79 Dazu gehört die Verhinderung der Vertreibung der Juden aus den Territorien der Bischöfe von Würzburg und Bamberg, oder aus dem zollern’schen Ansbach-Kulmbach – ebd. 110, Anm. 170. 80 Ebd. 84f. 81 Ebd. 85f.
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und Überlinger Juden, von der Sigismund direkt profitierte, indem er die Städte zu bedeutenden finanziellen Kompensationen zwang82. Im Zusammenhang mit der Wiener Gesera werden in der Forschung (und eigentlich schon im grundlegenden Quellenzeugnis, der Wiener Geserah) immer wieder die Unterschiede zwischen der Judenpolitik Albrechts und Sigismunds herausgestellt, was wohl teilweise ein Resultat der massiven Flucht österreichischer Juden nach Ungarn sein dürfte. Ein oberflächlicher Blick auf die Beziehungen Sigismunds und Albrechts zu den mährischen Juden könnte diese Unterschiede scheinbar bestätigen. Sobald wir uns aber auf das komplexe Bild der Judenpolitik Sigismunds im Reich einlassen, das Karel Hruza so meisterhaft gezeichnet hat, verschwimmen die angeblich so markanten Unterschiede zwischen den beiden Herrschern und ihre Judenpolitik weist plötzlich viele gemeinsame Züge auf. Dennoch gab es in der Judenpolitik Herzog Albrechts viel härtere Extreme, als in derjenigen Sigismunds83.
82 Ebd. 96–105 ; 109–116. Siehe vor allem die abschließende Bewertung ebd. 115f.: »Der König und seine Räte handelten in Judenangelegenheiten erbarmungslos unter kurzzeitigen finanziellen Aspekten und verkauften die wegen des angeblichen Ritualmordes an den König und das Reich gefallenen Juden regelrecht als Handelsware gegen vereinbarte Summen an die Städte genau in dem Augenblick, als die Entkleidung der Juden vom Königsschutz diese in höchste Lebensgefahr brachte. Es kann nur wiederholt werden, dass dieser Aspekt damaligen Zeitgenossen – auch dem König – zu Genüge bewusst gewesen sein muss. […] Die Judenverfolgungen im Bodenseeraum 1429/30 könnten auch in einem Satz abstrahiert werden : Des Königs neue Kleider wurden wissentlich mit dem Blut etlicher Juden bezahlt. […] Sigismunds Konfliktverhalten und vor allem Konfliktlösungen in Judenangelegenheiten waren wie seine ›Judenpolitik‹ überhaupt – und das ist grundsätzlich kein neuer Befund und gilt bekanntlich sowohl für seine Vorgänger als auch seine Nachfolger auf dem römisch-deutschen Thron – primär von kurzfristigen finanziellen Aspekten determiniert«. Diese Charakterisierung lässt sich vorbehaltslos auch auf Albrecht V. (II.) anwenden. 83 Diese Studie wurde von der Tschechischen Forschungsgemeinschaft (GA ČR) im Rahmen des Projekts EXPRO 19-28415X »From Performativity to Institutionalization : Handling Conflict in the Late Middle Ages (Strategies, Agents, Communication)« gefördert. Der Autor dankt Dr. Alexandra Kaar (Wien) für das sprachliche Lektorat, aber auch für wertvolle inhaltliche Hinweise. Für letzteres hat er auch Dr. Wolfram Ziegler (Wien) zu danken.
IV. PROPAGANDA UND KOMMUNIK ATION IM SPÄTMITTELALTER
Klara Hübner
Am Anfang war Propaganda Vom widerspenstigen Begriff zu den Umrissen einer politischen Kommunikationskultur in der Zeit Wenzels IV. Ein Erfahrungsbericht
The owls are not what they seem The log lady, Twin Peaks (1990–2017)
Meine Geschichte mit Karel Hruza beginnt mit einem Scheitern. Im Frühjahr 2013 kämpfte ich mit einem Projektantrag zu einer »Kulturgeschichte des Scheiterns im Mittelalter«, der mich gleich auf mehreren Ebenen in existenzielle Verzweiflung trieb ; nicht nur, dass die sechs Wochen, die mir dafür zur Verfügung standen, zeitlich keine propere Einarbeitung in das komplexe Thema erlaubten. Auch inhaltlich war es voller Fußangeln – angefangen bei der Fragestellung (Was wollte ich eigentlich untersuchen ?) über die gewählten Beispiele (Bankrotteure in Italienischen Kommunen und König Wenzel IV.) bis hin zu Terminologie und Konzept, die wie so manches andere Kulturphänomen auch, keine mittelalterliche Entsprechung hatten. Was nach dem negativen Projektbescheid blieb, war Dreierlei ; zum einen die nicht ganz neue methodische Erkenntnis, dass man vom Fehlen eines Begriffes in der Vormoderne nicht zwingend auf das Nichtvorhandensein des Konzeptes schließen sollte. Zum andern, dass auch moderne, durch den interdisziplinären Feinschliff aufgebrochene Termini durchweg auf mittelalterliche Phänomene angewandt werden können. Und, drittens, König Wenzel IV. Dieser entpuppte sich als Figur, die den Jubilar und mich, wenngleich auf andere Weise, herausforderte. Auf mich wirkte er wie einer jener historischen Akteure, die sich allen liebgewonnenen Denkfiguren zur Gestalt des spätmittelalterlichen Königtums auf verstörende Weise entziehen : In der deutschen Forschungstradition galt Wenzel als Paradebeispiel des gescheiterten Königs. Meistens wurde dies mit seiner Absetzung durch die Allianz der geistlichen Kurfürsten im Jahre 1400 begründet, gelegentlich mit seinem angeblich überhasteten und inkonsequenten Herrschaftsstil, selten, jedoch prominent genug, mit einem unglücklichen Charakter des Königs, der angeblich faul und dem Alkohol zugetan gewesen sei1. Gleichzeitig belegten mehrere Studien, dass dieser Regent, dem das Los zugefallen war, als schwarzes Schaf seiner Dynastie durch die Rezeptions1 Diese Vorstellung wird in der populären Geschichtsdarstellung besonders gerne breitgetreten, vgl. Wil-
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geschichte zu geistern, schon zu Lebzeiten offenkundig Zielscheibe gezielter Schmutzkampagnen geworden war, die bereits lange vor der Deposition gehörig an seinem Ruf kratzten2. Doch das war noch nicht alles ; zu den historiographischen Alleinstellungsmerkmalen des Königs gehörte auch, dass die Motive, die die Initiatoren der Diffamierungskampagnen in Umlauf brachten, eine durchschlagende Wirkmacht entfaltet konnten, weswegen Wenzel in der europäischen Chronistik des 15. Jahrhunderts auch der Ruf eines skurrilen Bösewichts zuteil wurde, der späteren historiographischen Studien oft genug zur Prämisse wurde. Bisweilen wurde Wenzel in verschiedenen historischen Traditionen, allen voran der deutschen wie tschechischen, derart negativ bewertet, dass alle Frage bis weit ins 20. Jahrhundert nicht auf die Analyse seines Herrschaftsstils oder die Umstände seines politischen Handlungsspielraums hinausliefen, sondern zu oft auf das Hinterfragen seiner Herrschaftsfähigkeit und gelegentlich deren Zusammenhang mit seinem Gesundheitszustand, womit vor allem der geistige gemeint war3. Schon am Beginn meiner Recherche war mir daher klar, dass sich diese Gemengelage aus tendenziösen Editionen, isolierter historiographischer Wahrnehmung und zementierten Diskursen, mit dem traditionellen biographisch-verfassungsgeschichtlichen Zugriff nicht auflösen ließ. Einen möglichen Ausweg aus dem perspektivischen Hamsterrad boten die Manifestationen übler Nachrede aber doch. Denn, so dachte ich damals, wenn die gegenwärtige Quellenbasis nur unvollständige Schlussfolgerungen zu den politischen Wirrnissen seiner Zeit erlaubte, könnte Wenzels Beispiel zumindest helfen, die Mechanismen und Möglichkeiten politischer Diffamierung auf höchster Herrschaftsebene zu beleuchten : Wenn nämlich Interessensgruppen im 14. Jahrhundert in der Lage waren, mit ihren Mitteln so starke Narrative zu schaffen, dass sich Historiker noch Jahrhunderte später an ihnen abarbeiten mussten, scheint die Herabwürdigung politischer Gegner schon damals ein weites Feld mit gut entwickeltem Instrumentarium gewesen zu sein. Natürlich hing dabei auch der Begriff »Propaganda« in der Luft. Doch ließ sich die Verleumdung Wenzels wirklich als Propaganda im modernen Sinne interpretieren ?
helm Hanisch, Wenzel der IV. König von Böhmen (und Deutschland), in : Lebensbilder zur Geschichte der böhmischen Länder 3, hg. v. Karl Bosl (München 1978) 251–279. 2 Dazu zuletzt bei Klara Hübner, Mord und Rufmord. Politische Propaganda und die Anfänge der schwarzen Legende König Wenzels IV., in : Reformverlierer 1000–1800. Zum Umgang mit Niederlagen in der europäischen Vormoderne, hg. v. Andreas Bihrer, Dietmar Schiersner (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 35, Berlin 2016) 57–95, Dies., Herrscher der Krise – Die Krise des Herrschers. König Wenzel IV. als Projektionsfläche zeitgenössischer Propaganda, in : Biuletyn Polskiej Misji Hystorycznej – Bulletin der polnischen Historischen Mission 11 (2016) 294–320. 3 Wilhelm Hanisch, König Wenzel von Böhmen. Studien zur Geschichte seiner Regierung. 4. Seine Persönlichkeit, in : Ostbairische Grenzmarken 13 (1971) 198–233.
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Noch in den Jahren, als meine »Kulturgeschichte des Scheiterns« unterging, galt der Begriff in der Mediävistik als umstritten. Obwohl im protestantischen Kulturkampf der Frühen Neuzeit entstanden, hatte ihn vor allem die Moderne inhaltlich stark überformt : Von der Bezeichnung für die oft eingebildete Angst protestantischer Aufklärer vor katholischer Indoktrinierung war er zum Synonym für die totalitäre Beherrschung von Massen mit Hilfe entsprechender Medien mutiert, was ein Sachverhalt war, für den man im 15. Jahrhundert sicherlich vergeblich Entsprechungen suchte4. War es also wissenschaftlich vertretbar, diesen Propagandabegriff aufgrund seiner offenkundigen terminologischen Ahistorizität, dem Fehlen moderner Massenmedien im Spätmittelalter bzw. seiner Prägung durch die Nazi-Herrschaft gänzlich für vormoderne Phänomene zu sperren ? Hätte Karel Hruza 2002 nicht seinen Sammelband mit dem kühnen Titel »Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11.–16. Jahrhundert)« vorgelegt, wäre vor allem die deutsche Mediävistik deutlich länger um diese Frage gekreist5. Hruza, der in seiner Einleitung wenig Scheu vor der dunklen Seite der Begriffsgeschichte zeigte, erkannte das Hauptproblem nicht nur in der – typisch deutschen – Fixierung auf den Begriff selber, sondern in seiner modernen, an totalitären Strukturen geformten Auslegung, die dann oft nur auf mittelalterliche Phänomene aufgepfropft wurde6. Damit käme man natürlich nur auf eine minimale Übereinstimmung zwischen Mittelalter und Moderne, die dem zeitspezifischen Charakter der vormodernen Erscheinungsformen keinesfalls gerecht werden würde. Feind jeder neuen Perspektivierung sei nebst der dichotomen Dauerfrage, ob es im Mittelalter Propaganda gegeben habe oder nicht, vor allem eine enge Begriffsauslegung, welcher man allein mit einem dynamischen, diskursanalytischen Verständnis von »Propaganda« begegnen könne. Denn als Kommunika4 Wolfgang Schieder, Christoph Dipper, Art. Propaganda, in : Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache 5, hg. Von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Stuttgart 1984) 69–112, hier insbesondere 71f., »von der religiösen zur politischen Propaganda«. 5 In der französischen und italienischen Forschung fällt die Zurückhaltung vor dem Begriff deutlich geringer aus, vgl. Bernard Guenée, Information et propagande politique en France à la fin du Moyen Âge (Institut du France. Séance publique annuelle de cinq Académies, 22 octobre 1991, Paris 1991) ; Le forme della propaganda politica nel Due e nel Trecento. Relazioni tenute al convegno internazionale di Trieste (2–5 marzo 1993), hg. v. Paolo Camorosano (Publications de l’École française de Rome 201, Rome 1994) ; La propaganda politica nel basso Medioevo. Atti del XXXVIII Convegno Storico Internazionale, Todi, 14–17 ottobre 2001 (Spoleto 2002) ; Communicazione e propaganda nei secoli XII e XIII. Atti del convegno internazionale Messina 2007, hg. v. Rossana Castano (Roma 2007). 6 Karel Hruza, Einleitung : Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit im Mittelalter, in : Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11. – 16. Jahrhundert), hg. v. Karel Hruza (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Denkschriften 307 – Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 6, Wien 2002) 9–28, hier 11.
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tionsprozess sei sie zweifelsohne auch im Mittelalter nachweisbar, zumal der Versuch die Meinung und Wahrnehmung einer Zielgruppe so zu beeinflussen, dass »diese eine Reaktion hervorruft, die die vom Propagandisten erwünschte Zielsetzung unterstützt«, ein überzeitliches Phänomen ist, das praktisch in allen Epochen in Erscheinung tritt7. Für eine große Verbreitung und ein tieferes Verständnis von Propaganda spricht vor allem die erstaunlich große Bandbreite an Quellennachweisen aus dem spätmittelalterlichen Europa, die nicht nur persuasive Akte dokumentiert, sondern auch Texte umfasst, die ausschließlich zum Zweck der Rufschädigung verfasst wurden : Flugblätter, Manifeste, Pamphlete, Chroniken und Urkunden einerseits, andererseits literarische Genres wie Satiren und Klagelieder, allerdings auch materielle Überreste wie Schadbilder oder Berichte über Gerüchte, deren gesellschaftliche Sprengkraft schon damals bekannt und gefürchtet war8. Die Vielfalt der Kontexte, in denen Diffamierendes auftaucht, weisen Propaganda und propagandistische Aktionen somit auch einen festen Platz in der spätmittelalterlichen Kommunikationskultur zu. Nebst dem Umfang der Überlieferung dokumentierte die Vielfalt der sprachlichen und sprachgebundenen Möglichkeiten, mit denen ein Gegner beschrieben und beschimpft werden konnte, für den regen Gebrauch abwertender Schriften – von despektierlichen Bild- und Sprachcodes über Verweise auf differenzierte Diskursregister bis hin zu Hinweisen auf konkrete Strategien, für den Fall, dass die Zielgruppe den Wünschen des Auftraggebers oder Autors nicht Folge leisten wollte9. 7 Hruza Einleitung (wie Anm. 6) 25, Anm. 69. Hruza schlägt eine berechtigte Anwendung des Begriffes vor, wenn : 1. die intendierte Wirkung auf den politischen, sozialen oder religiösen Bereich bezogen von »gesellschaftspolitischer« Relevanz ist. 2. Die intendierte Wirkung des Handlungsappells ist, der oppositionelle, aufrührerische, mitunter sogar revolutionäre oder aber integrative Handlungen erkennen lässt. Um diese Wirkung zu erreichen, muss nicht nur direkte bzw. offensichtliche, sondern auch subtile und »unauffällige« Überzeugungsarbeit geleistet werden 3. Das anvisierte Publikum aus einer Gruppe von Menschen besteht. Werden Einzelpersonen angesprochen, so verfügen diese meistens über Möglichkeiten, von ihnen abhängige Gruppen zu beeinflussen. 4. Die Vermittlung propagandistischer Kanäle zumindest vorrangig über »öffentliche« Kommunikationskanäle stattfindet, also unter Beanspruchung der Öffentlichkeit. 8 Ebd. 22. Zur Wirkung von Gerüchten siehe Werner Wunderlich, »Der Wesen flüchtigstes, die schnellste aller Plagen«. Fama in antiker und mittelalterlicher Sprache und Literatur. Stimme, Gerücht, Ruhm, in : Mittellateinisches Jahrbuch 39 (2004) 329–370 ; Francesco Migliorino, »La Grande Hache de l’histoire«. Semantica della fama e dell’infamia, in : Fama e publica vox nel Medioevo. Atti del convegno di studio svoltosi in occasione della XXI edizione del Premio internazionale Ascoli Piceno, 3–5 dicembre 2009, hg. v. Isa Lori Sanfilippo, Antonio Rigon (Atti del Premio internazionale Ascoli Piceno 21/3, Roma 2011) 3–22. Christopher David Fletcher, Rumour, clamour, murmur and rebellion. Public opinion and its uses before and after the Peasants’ Revolt (1381), in : La comunidad medieval como esfera pública, hg. v. Herrer Oliva, Rafael Hipólito (Historia y geografia, Sevilla 2014) 193–210. 9 Birgit Studt, Geplante Öffentlichkeiten : Propaganda, in : Politische Öffentlichkeit im Spätmittelalter,
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Gestützt wird dieser Befund durch die gesellschaftlichen Strukturen ; gerade im 15. Jahrhundert galt der Informationsaustausch über soziale Grenzen hinweg als Norm, weswegen nicht nur Öffentlichkeiten entstanden, welche an die moderne Vorstellung von anonymer Masse heranreichten ; sondern auch ein allgemein fassbares Bewusstsein für die einstweilen gefürchtete Schlagkraft einer »öffentlichen Meinung«10. Groß ist daher die Versuchung, diese vermeintliche Modernität vormoderner Kommunikation – und somit auch propagandistischer Akte – mit modernen Kommunikationsmodellen zu erklären. Hier mahnte Karel Hruza allerdings zur Vorsicht : Das alleinige Vorhandensein vormoderner Propaganda-Manifestationen, die zufällig in moderne Schemata passen, sage recht wenig über ihre Stellung in einer Kommunikationskultur aus, die selbst am Ende des Mittelalters nur über kleinteilige Öffentlichkeiten sichtbar gemacht werden kann. Die griffige Kurzformel, mit welcher etwa Harold Laswell moderne öffentliche Kommunikation zusammenzufassen suchte – »who says it in which channel to whom with what effect«11– gilt prinzipiell auch für die Funktionsweise spätmittelalterlicher Propaganda. Bei ihrer Anwendung sind jedoch Vorbehalte angebracht : Diese beginnen bereits bei der Schriftüberlieferung, deren großer Umfang nicht darüber hinwegtäuschen dürfe, dass sie unter den Zeitgenossen nur wenige, sozial höher gestellte Leser hatte, da die damalige, auf mündliche Informationen eingestellte Gesellschaft vor allem den Zuhörer kannte12. Die größten Einschränkungen gibt es allerdings bei der Bewertung und dem besagten »effect« der Manifestationen : Weder können wir im Mittelalter gültige Aussagen zur Reichweite diffamierender Akte formulieren, noch ihre Wirkung abschätzen. Ob die Bemühungen der Initiatoren bei der Zielgruppe tatsächlich zu einem Umdenken, bzw. zu einer Verhaltensänderung geführt haben, wie es die moderne Wirkungsforschung einzuschätzen vermeint, ist selbst für das aussagereiche
hg. v. Martin Kintzinger, Bernd Schneidmüller (Vorträge und Forschungen 75, Ostfildern 2011) 203–236, hier 209. 10 Charles W. Connell, Popular Opinion in the Middle Ages. Channeling Public Ideas and Attitudes (Berlin–Boston 2016) ; Ders., A Neglected Aspect of the Study of Popular Culture. «Public Opinion” in the Middle Ages, in : Medieval Perspectives 3 (1988) 38–65 ; James Alexander Doig, Political communication and public opinion in Lancastrian England (1399–1450) (Swansea 1993). Vgl. den Beitrag von René Küpper, Größter Tscheche aller Zeiten. Deutscher, großer Europäer ? Das Bild Karls IV. in Geschichtsschreibung und Öffentlichkeit, in : Kaiser Karl IV. 1316–2016. Erste Bayerisch-Tschechische Landesausstellung. Ausstellungskatalog, hg. v Jiří Fajt, Markus Hörsch (Augsburg 2016) 267–276. 11 Harold D. Lasswell, The Structure and Function of Communication in Society, in : The communication of Ideas, hg. v. Lyman Bryson (New York 1948 ; ND 1964) 37. 12 Promulgationes spätmittelalterlicher Privaturkunden, z. B. allgemein : Notum sit omnibus tam presentibus quam futuris […] oder spezifisch bezüglich der Schriftform (D) : Allen die diesen brief ansehent oder hö rent lesen […].
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15. Jahrhundert nicht zu bemessen, da sich keine unmittelbaren schriftlichen Reaktionen auf Propagandatexte überliefert haben13. Da uns die Quellen also keine Möglichkeit geben, den gesamten Kommunikationsprozess mittelalterlicher Propagandaakte naht- und bruchlos vom Initiator, über die Medien und Zielgruppe bis hin zu ihren gesellschaftlichen Nachwirkungen verfolgen zu können, drängt sich die Frage auf, wie man an das disparate Material herantreten sollte um diesem heterogenen Mosaik aus flüchtigen Einblicken den größtmöglichen Aussagewert zu entlocken14. Karel Hruza entschied sich auch hier für Wege auf mehreren Ebenen : Zunächst einmal klassisch und mit Bedacht ; über Einzeldokumente, in denen sich mittelalterliche Propaganda unmittelbar manifestiert. Dabei würde es sich anbieten, auf die im Text oder Bild verborgenen diskursiven Intentionen des Verfassers oder Auftraggebers einzugehen und offenzulegen mit welchen semantischen Methoden und Strategien er seinen Gegner angegriffen hat und welches Zielpublikum damit angesprochen werde sollte15. Ferner könne man den allgemeinen Kontext der Dokumente aufschlüsseln und festhalten, welche Faktoren wirtschaftlicher, politischer, sozialer oder religiöser Natur auf seine Entstehung eingewirkt haben. Denn Propaganda gilt, damals wie heute, als Indikator und Symptom für eine aus dem Gleichgewicht geratene Ordnung. Als solche ist Propaganda natürlich auch im Mittelalter mit weiteren orts-, zeitund gesellschaftsgebundenen Kommunikationssystemen verbandelt, in erster Linie mit Formen und Foren der Repräsentation und Symbolik, die ihrerseits spezifische Machtverhältnisse abbilden und so zumindest punktuell Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Einordung dieses Kommunikationsinstruments geben können. Nach mehrfacher Lektüre von Hruzas Einleitung wurde mir klar, dass die Auseinandersetzung mit dem komplexen Gebilde Propaganda ein ähnlich steiniges Unterfangen werden würde, wie die »Kulturgeschichte des Scheiterns«. Klar war dabei nur die Tatsache, dass Wenzel IV. als besonders gut dokumentiertes Ziel spätmittelalterlicher Diffamierung galt. Doch wo anfangen ? Bei Wenzel und dem historischen Kontext ? Dem Aktionsradius seiner Gegner und ihrer Motivation, den König zu diffamieren ? Bei einer Typologie und sprachlichen Detailanalyse der diffamierenden Quelle oder etwa gleich bei der Frage, worauf Manifestationen von Propaganda im Mittelelter eigent13 Hruza, Einleitung (wie Anm. 6) 15f. 14 Ansätze aus der Publizistik und weitere Literatur bei Studt, Öffentlichkeiten (wie Anm. 9) 203, Anm. 1 ; Sarah K. Gaunt, English Political Propaganda, 1377–1485 (unpublished Doctoral thesis, University of Huddersfield 2018) ; Klaus Merten, Struktur und Funktion von Propaganda, in : Publizistik 45 (2000) 143–162, hier 161. 15 Dazu detailliert bei Karel Hruza, Audite celi ! Ein satirischer hussitischer Propagandatext gegen König Sigismund, in : Kommunikation und Öffentlichkeit (wie Anm. 6) 129–152.
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lich hindeuten, bzw. abzielen ? Und welche Formen hat Propaganda im Böhmen des frühen 15. Jahrhunderts überhaupt angenommen ? Mit vieler dieser Fragen betrat ich Neuland, weswegen ich zunächst einmal mehrere Studien zu Rate zog, die zumindest für die Vorstellung einstanden, dass Wenzels politische Instabilität in Reich und Böhmen nicht nur auf diffamierende Weise kommentiert worden war, sondern bisweilen durch Propaganda aktiv gefördert wurde16. Noch war allerdings mein Drang, die Ereignisse vor allem faktographisch zu deuten, stärker als die Frage, was die Quellen über die Erscheinungsformen der damaligen politischen Kommunikation oder die ihr zugrunde liegenden ideellen Voraussetzungen aussagen könnten. Hinzu kam, dass insbesondere die Studien von Petr Čornej und Petra Roschek Wenzels unvergleichlichem Fall eine zusätzliche Rückfallebene attestierten, die den Blick auf die zeitgenössischen kommunikativen Prozesse erst einmal gehörig verbaute : Bis heute stellt die jahrhundertelange Überformung mit allerlei Zuschreibungen eines der größten Probleme bei der Annäherung an Person und Wirkungsgeschichte des Königs dar17. Viele davon gehen auf historiographische Anlagerungen auf einen faktographischen Kern zurück, der sich manchmal nur schwer verorten lässt oder sie sind teilweise ganz erfunden. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Sicht auf Wenzel IV. immer noch vom Geschichtsbild des 19. Jahrhunderts geprägt ist, als die Historiographie bisweilen unkritisch in den Dienst nationaler Identitätsbildung gestellt, es mit der Trennung von Fiktions- und Tatsachenebene nicht so genau nahm. Dabei entstand auch die überwiegend ereignisgeschichtlich argumentierende Forschungssicht auf Wenzel. Im deutschen Sprachraum ist diese Haltung mit der Denkschule Theodor Lindners verbunden, der ab den 1890er Jahren zusammen mit seinen Doktoranden an der Universität Halle, Wenzels Absetzung als Reichsoberhaupt, zum Dreh- und Angelpunkt des wissenschaftlichen Interesses erkor18. Die intensive Auseinandersetzung dieser Gruppe mit den verfas16 Kerstin Dürschner, Der wacklige Thron. Politische Opposition im Reich von 1378 bis 1438. (Diss. Erlangen-Nürnberg – Europäische Hochschulschriften Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 959, Frankfurt am Main– Berlin–Bern–Bruxelles–New York–Oxford–Wien 2003) ; Petra Roschek, König Wenzel IV. Opfer einer Schwarzen Legende und ihrer Strahlkraft, in : Regionen Europas – Europa der Regionen. Festschrift für Kurt-Ulrich Jäschke zum 65. Geburtstag, hg. v. Peter Thorau, Sabine Penth, Rüdiger Fuchs (Köln–Weimar–Wien 2003) 207–229, Petr Čornej, Tajemství českých kronik. Ke kořenům husitské tradice [Die Geheimnisse der Böhmischen Chronistik. Zu den Wurzeln der hussitischen Tradition] (Historická paměť. Velká řada 7, Praha 22003) 67–115, 390–401. 17 Diese Grundlagenarbeit wurde im Rahmen des GAČR-Projektes »Jak zníčit královo renomé. Utváření a šíření (proti)královské propagandy – příklad českého a římskéo krále Václava IV (1361–1419)« [Wie zerstört man den Ruf des Königs ? Bildung und Verbreitung (anti)königlicher Propaganda – das Beispiel des Böhmischen und Römischen Königs Wenzel IV. (1361–1419)], Nr. 16-14990S an der Universität Opava/Troppau (2016–2018) geleistet. 18 Theodor Lindner, Geschichte des deutschen Reiches unter König Wenzel 1–2 (Braunschweig 1875– 1880).
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sungshistorischen Anomalien entsprach dem Zeitgeist und schuf einen Quellenkorpus, der bis heute unerreicht ist. Allerdings führte die thematische Konzentration auch zur Engführung der Fragestellungen auf die politischen Ursachen, Folgen und Akteure im Umfeld seiner Absetzung19. Die tschechische Forschung zum König differenzierte zunächst stärker. Während Wenzels erster moderner Biograph, Franz Martin Pelzel mit seinem Werk im ausgehenden 18. Jahrhundert den Rahmen für ein Gesamtbild des Königs absteckte20, setzte František Palacký dauerhafte Akzente. Diese liefen auf einen Vergleich der gesellschaftspolitischen und institutionellen Wirkmacht von Karl IV. und Wenzel IV. hinaus und fielen – wie zu erwarten war – zu Ungunsten des Letzteren aus. Palackýs Wenzel bleibt eine undurchsichtige Gestalt, deren »historischer Zugewinn« letztlich marginal ist. Zum tragischen Ton der Zeit, das in seinem Werk durch das Schicksal Jan Hus’ verkörpert wird, will der König nicht passen. Letztlich interessierte ihn der Reformator deutlich mehr21. Doch war er der erste, der die Ambivalenz des Königs mit dem historiographischen Überbau aus Fakten und Fiktion zu erklären versuchte und damit auch auf die Diffamierung durch Wenzels katholische Gegner einging. Seiner akribischen Lektüre ist es zu verdanken, dass die Vorstellung des Königs als Tyrann schon früh auf ihre Legendenhaftigkeit zurückgeführt werden konnte. Damit wurde er auch der Erste, der übler Nachrede einen Platz unter den Instrumenten des politischen Machtkampfes um 1400 zuwies22. Für Fragen nach der Bedeutung der Legenden und ihrer Motive in einem breiteren Kommunikationskontext war es allerdings noch zu früh. Ebenfalls zu früh war es für weitere Perspektivierungen Wenzels, welcher in der tschechischen Nationalhistoriographie, in welcher fortan Akteure von der Strahlkraft eines Jan Hus und Ausnahmeereignisse wie die Hussitische Revolution über Fragestellungen und Methoden bestimmten, zu einem Nischendasein verdammt blieb, aus welcher ihn im 20. Jahrhundert nur wenige Studien, mit unterschiedlichem Erfolg zu befreien versuchten23. 19 Vgl. dazu die Arbeiten seiner Schüler ; Otto Dienemann, Die Besitzpolitik König Wenzels (Diss. Halle 1910) ; John J. Heeren, Das Bündnis zwischen König Richard II. von England und König Wenzel vom Jahre 1381 (Diss Halle 1910) ; Rudolf Helmke, König Wenzel und seine böhmischen Günstlinge im Reiche (Diss. Halle 1913). 20 Franz Martin Pelzel, Lebensgeschichte des Römischen und Böhmischen Königs Wenceslaus 1–2 (Prag 1788–1790). 21 Kamil Činátl, Dějiny a vyprávění. Palackého Dějiny jako zdroj historické obraznosti národa [Geschichte und historisches Erzählen. Palackýs »Geschichte von Böhmen« als Quelle nationaler Geschichtsbilder] (Praha 2011) 75f. 22 Čornej, Tajemství (wie Anm. 16.) 67–71. 23 Die quellennaheste Darstellung in der tschechischen Mediävistik stammt von František M. Bartoš : Husův král [Hussen’s König], in : Jihočeský sborník historický 13 (1940) 1–15 ; ders.: Čechy v době
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Gegen die historiographische Übermacht und die ebenso festgefahrenen Perspektivierungen, die der langfristigen archivalischen Grundlagenarbeit eines ganzen Forscherteams bedurft hätten, konnte ich nicht mit gutem Gewissen anschreiben24. Wieso sollte ich mich auch am widerspenstigen und fragmentierten Ansatz aus Ereignisgeschichte, Verfassungssicht und Rezeption abarbeiten, wenn doch die Propagandamanifestationen gerade dazu aufforderten, die Aufmerksamkeit auf die politische Kommunikationskultur von Wenzels Zeit zu lenken ?25 Aus der Polyphonie des Austausches zwischen Herrscher und Adel, Kirche und den neuen Öffentlichkeit im städtischen Raum, ließen sich nämlich ideelle und institutionelle Querverbindungen herausfiltern, die oft nur kurze Zeit Bestand hatten, dafür aber in übergeordnete Diskurse des 14. Jahrhundert eingepasst werden können – etwa den Wandel königlicher Legitimation und Herrschaft, die zunehmende Forderung nach Mitsprache und Teilhabe neuer Akteursgruppen, die Verrechtlichung gesellschaftlicher Prozesse oder die Sehnsucht nach geistiger Erneuerung26. Husově, 1378–1415 [Das Königreich Böhmen im Zeitalter Hussens] (České dějiny II/6, Praha 1947). Biographische Abhandlungen scheiterten bisher an einer perspektivischen Einseitigkeit, vgl. Jiří Spěváček, Václav IV. (1361–1419). K předpokladům husitské revoluce [Zu den Voraussetzungen der hussitischen Revolution] (Praha 1986). Bemerkenswert ist in diesem Werk allerdings die umfassende Bibliographie. Für Fragen rund um Kanzlei und Kanzleipersonal, s. Ivan Hlaváček, Das Urkunden- und Kanzleiwesen des böhmischen und römischen Königs Wenzel (IV.) 1376–1419. Ein Beitrag zur spätmittelalterlichen Diplomatik. (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 23, Stuttgart 1970), ders., Studie k diplomatice Václava IV. 4. Itinerář krále Václava IV. (1361–1419) [Studien zur Diplomatik Wenzels IV. 4. Das Itinerar König Wenzels IV.], in : Československý časopis historický 10/1 (1962) 64–94. 24 Aktuelle Detailstudien liegen in Kürze als Resultate der Tagung »Wenzel IV. (1361–1419). Neue Wege zu einem verschütteten König« an der Universität Erfurt (Organisation : Klara Hübner, Christian Oertel, 2017) vor. 25 Barbara Stollberg-Rilinger, Was heißt Kulturgeschichte des Politischen ? Einleitung, in : Was heißt Kulturgeschichte des Politischen ? Hg. v. Barbara Stollberg-Rilinger (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 35, Berlin 2005) 9–24. 26 Frank Rexroth, Dauerhaft untauglich. Die symbolische Inversion von Königsherrschaft im Rahmen der spätmittelalterlichen europäischen Königsabsetzungen, in : Idoneität – Genealogie – Legitimation. Begründung und Akzeptanz von dynastischer Herrschaft im Mittelalter, hg. v. Christina Andenna, Gert Melville (Köln–Weimar–Wien 2015) 77–98 ; Walter Prevenier, Utilitas communis in the Low Countries (thirteenth–fifteenth centuries). From Social Mobilisation to Legitimation of Power, in : De bono communi. The discourse and practice of the common good in the European City, hg. v. Anne-Laure van Bruaene, Élodie Lecuppre-Desjardin (Studies in European Urban History 22, Turnhout 2010) 205–216 ; Gerhard Krieger, Vom charisma zur ratio. Zur Legitimation politischer Herrschaft im Spätmittelalter, in : Das Charisma. Funktionen und symbolische Repräsentation, hg. v. Pavlina Rychterová, Stefan Seit, Raphaela Veit (Berlin 2008) 405–428 ; Paul Strohm, England’s Empty Throne. Usurpation and the Language of Legitimation 1399–1422 (Notre Dame, Indiana 22006) ; Helmut G. Walther, Die Macht der Gelehrsamkeit. Über die Meßbarkeit des Einflusses politischer Theorien gelehrter Juristen des Spätmittelalters, in : Political Thought and the Realities of Power in the Middle Ages. Politisches Denken und die Wirklichkeit der Macht im Mittelalter, hg. v. Joseph P. Canning, Otto Gerhard Oexle (Göttingen 1998) 241–267 ; Reinhard Schneider, »Macht verträgt keine Teilhabe«.
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Vor diesem Hintergrund erschienen die propagandistischen Angriffe auf Wenzel aus der Zeit um 1400 plötzlich nicht mehr als eine national-ideologische Anomalie, sondern als Ausdruck tiefgreifender herrschaftlich-gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, die sich im gesamten 14. Jahrhundert in vergleichbaren Formen auch in anderen europäischen Königreichen nachweisen lassen. Verbindung schuf die Erfahrung von Krise, Krieg und Kontingenz, die nicht nur einen höheren Kommunikationsbedarf zeitigte, sondern auch die Wahrscheinlichkeit einer direkten oder indirekten Überlieferung von »atypischer« Schriftlichkeit27. In England brachte der Machtkampf zwischen Krone und Parlament seit der Mitte des 13. Jahrhundert immer wieder kritische bis polemische Anklagen gegen den König hervor : So etwa ein um 1265 verfasstes Pamphlet, welches König Heinrich III. ganz zeittypisch als Tyrannen überführt28. Ergiebiger ist freilich das 14. Jahrhundert, wo sich propagandistische Schriften gegen die Krone kritisch aber auch didaktisch mit den Gründen und Folgen von Königsabsetzungen auseinandersetzen. Unmittelbar nach der Deposition Eduard II. im Jahr 1327 taucht etwa ein literarisches »Lamento« auf, in welchem der Abgesetzte in moralisch-theologischen Kategorien über seinen tiefen Fall nachsinnt29. In der Zeit von Wenzels Zeitgenossen und Schwager Richard II. veränderte sich freilich nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der anti-königlichen Propaganda. Seine Absetzung 1399 wurde von einer bislang beispiellosen, medial breit angelegten und stilistisch geschickt abgestützten Diffamierungskampagne begleitet, die für den Thronusurpator Heinrich IV. sogar überlebensnotwendig war, musste er doch Richards Unterstützer nicht nur politisch, sondern auch medial ins Abseits stellen30. Wie gegenwärtig politische Propaganda um 1400 war, zeigt auch ein Blick nach Frankreich, wo sie vor allem von königsnahen Kreisen und universitär gebildeten Experten getragen wurde ; auch hier galt sie als Mittel des politischen Eine Anmerkung zum politischen Denken im Mittelalter, in : Lenaika. Festschrift für Carl Werner Müller zum 65. Geburtstag am 28. Januar 1996, hg. v. Christian Mueller-Goldingen, Kurt Sier, Heike Becker (Beiträge zur Altertumskunde 89, Stuttgart 1996) 307–318 ; Klaus Unterburger, »Reform der ganzen Kirche«. Konturen, Ursachen und Wirkungen einer Leitidee und Zwangsvorstellung im Spätmittelalter, in : Reformen in der Kirche. Historische Perspektiven, hg. v. Andreas Merkt, Günther Wassilowsky, Gregor Wurst (Quaestiones disputatiae 260, Freiburg 2014) 109–137. 27 Studt, Öffentlichkeiten (wie Anm. 9) 212. 28 Frédérique Lachaud, De tyranno et principe (Cambridge, Corpus Christi College, ms. 469) : un pamphlet »britannique« contre la tyrannie d’Henri III ? In : Les îles Britanniques. Espaces et identités, Cahiers de Recherches Médiévales et Humanistes, hg. v. Jean-Philippe Genet (A Journal of Medieval and Humanistic Studies 19, 2010) 87–104. 29 Claire Valente, The »Lamento of Edward II.«. Religious Lyric, Political Propaganda, in : Speculum 77/2 (2002) 422–439. 30 Wie essenziell und gleichzeitig subtil dieser Angriff umgesetzt wurde, welcher sich der öffentlich anerkannten Sprachmittel und Motive seiner Zeit bediente, beschreibt etwa Strohm, Throne (wie Anm. 26) 1–31.
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Parteienkampfes, wobei das Feindbild allerdings niemals der König war31. Stilistisch wie medial sind ihre nachgewiesenen Formen zur Zeit Karls VI. äußerst differenziert und reichen von Gebeten über politische Erklärungen über Prophetien und Schmähschriften bis hin zu programmatisch formulierten Nachrichten aus den Kriegsgebieten. Die Kreuzzüge, vor allem aber der Hundertjährige Krieg scheinen ihre Funktion und Inhalte nachhaltig geformt zu haben32. Mit dem Französischen Bürgerkrieg zwischen Valois und Orleans tritt hier auch das Motiv der Ehre der Französischen Krone als nationale Komponente in Erscheinung. Zugleich taucht in der Französischen Propaganda ein abgestuftes Bild politisch relevanter Öffentlichkeiten auf, zu denen nicht nur König, Fürsten und Adelige gezählt wurden, sondern auch Kleriker sowie die nicht näher präzisierte Manövriermasse des »französischen Volkes«33. Auch wenn die Situation in Böhmen mit ihren vier ineinander verflochtenen Konfliktebenen – dem Kampf des Hochadels um Mitbestimmung im Inland, dem innerdynastischen Streit unter den Luxemburger Erben, der Ausweitung Kurfürstlicher Kompetenzen und der geistigen Reformströmung um Jan Hus – einen vergleichbar fruchtbaren Nährboden für politische Propaganda bot, war František Graus bislang der einzige, der es wagte, den Begriff im Zusammenhang mit Wenzel IV. zu brauchen34. Belege für Propaganda in dieser Zeit gab es wohl ; doch die Forschung zu den Böhmischen Ländern konzentrierte sich auch in diesem Fall abermals auf die Hussitischen Manifeste aus den frühen 1420er Jahren. Funktional lassen sich diese zur politischen Propaganda zählen, denn sie bilden einen verhältnismäßig kompakten Korpus von rund dreißig Texten, der in einem engen Zeitrahmen entstand35. Bei aller inhaltlicher Diver31 Nicole Grévy-Pons, Propaganda et sentiment national pendant le regne de Charles VI. L’exemple de Jean de Montreuil, in : Francia 8 (1979) 191–199. 32 Philippe Contamine, Apercus sur la propagande de guerre, de la fin du XIIe au début du XVe siecle. Les croisades, la guerre de Cent ans. In : Forme della propaganda (wie Anm. 5) 1–27, hier 8–12. 33 Diese Sicht geben etwa die Traktate des Sekretär Karls VI., Jean de Montreuil (1353–1418) wieder, vgl. Opera II. L’oeuvre historique et polémique, hg. v. Nicole Grévy, Ezio Ornato, Gilbert Ouy (Torino 1975) 89–149, hier insbesondere sein anti-englischer Aufruf »a toute la chevalerie de France« ; zum Problem des »Volkes« zwischen realpolitisch beinflussbare Masse und ideeller Entität siehe Bernard Guenée, L’opinion publique à la fin du Moyen Âge. D’après la chronique de Charles VI du religieux de Saint-Denis (Paris 2002) 181–196. 34 František Graus, Das Scheitern von Königen. Karl VI., Richard II., Wenzel IV., in : Das spätmittelalterliche Königtum im europäischen Vergleich, hg. v. Reinhard Schneider (Vorträge und Forschungen 32, Sigmaringen 1987) 17–39. 35 Grundlegend dazu etwa : Karel Hruza, Die Hussitischen Manifeste vom April 1420, in : Deutsches Archiv 53 (1997) 119–177 ; ders., Schrift und Rebellion. Die hussitischen Manifeste von 1415−1431 aus Prag, in : Geist, Gesellschaft, Kirche im 13.−16. Jahrhundert, hg. v. František Šmahel (Colloquia Mediaevalia Pragensia 1, Praha 1999) 81–108 ; ders., »Audite et cum speciali diligencia attendite verba litere huius«. Hussitische Manifeste. Objekt – Methode – Definition, in : Text – Schrift – Codex. Quellenkundliche Arbeiten aus dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung, hg. v. Chris-
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sifizierung hatten die Texte das gemeinsame Ziel, die Hussitische Position aus dem Rahmen gelehrter Traktatliteratur in eine öffentlich wirkmächtigere Form zu überführen, die den kriegerischen Konflikt mit einer zusätzlichen Ebene der Auseinandersetzung versah36. Als solches waren die Manifeste Abbild einer sehr spezifischen Konfliktkommunikation zur Zeit der Hussitenkriege. Ihre appellative, deklarative und informative Argumentation versprach zudem eine bessere Vergleichbarkeit auf der Textebene. Dem gegenüber sind die Quellen zur Diffamierung Wenzels keine Dokumentensammlung, die einen bestimmten Zeitpunkt in seinen kommunikativen Zusammenhängen abbilden könnte. Sie erstrecken sich auf seine ganze Herrschaftszeit und danach. Spezifische Diskurse – etwa jene der Historiographie – reichten allerdings bis in die Gegenwart37. Auch räumlich konzentrieren sich die Quellen mehrheitlich auf Böhmen und die sie umgebenden tütschen landen. Doch manche Spuren lassen sich bis nach Polen und Preußen, Frankreich, England oder auch den norditalienischen Raum beobachten. Hinzu kommt eine ausgesprochen vielfältige Typologie : Den größten Einfluss auf die Imagebildung hatte die überwiegend geistliche Chronistik, deren Vormacht in den Jahren zwischen Wenzels Absetzung und dem Basler Konzil am stärksten war : Etwa der Tractatus de longevo schismate, in welchem der Abt und Kirchenpolitiker Ludolf von Sagan eine geradezu vernichtende Abrechnung mit dem Luxemburger formulierte, die nicht minder polemische Betrachtung Wenzels durch den Chronisten Johannes Posilge in seiner Preußischen Chronik oder die abwertende Darstellung Wenzels in der 1415 abgeschlossenen Straßburger Chronik des Jakob Twinger von Königshofen, deren stilbildender Charakter für die stätische Chronistik im gesamten süddeutsch-eidgenössischen Raum zu einer breiten Rezeption des negativen Bildes des Königs führte38. Und selbsttoph Egger – Herwig Weigel (Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 35, Wien–München 2000) 345–384. Für die Weiterentwicklung und Anwendung des Ansatzes auf Propagandabestrebungen Sigismunds v. Luxemburg siehe : Přemysl Bar, Protihusitská Propaganda v písemnostech Zikmunda Lucemburského. Definice – dochování – texty [Antihussitische Propaganda in den Schriften Sigismunds von Luxemburg. Definition – Überlieferung – Textedition], in : Český časopis historický 114 (2016) 612–649, hier 617. 36 Karel Hruza erkannte im Bestreben der Hussitischen Seite die spätmittelalterliche Form einer »totalen Propaganda«, vgl. Hruza, audite celi ! (wie Anm. 15) 129. 37 Letzteres gilt vor allem für die populäre Wahrnehmung Wenzels, die mangels eines wissenschaftlichen Korrektivs teilweise seltsame Blüten treibt, vgl. Hübner, Herrscher (wie Anm. 2) 294–298. 38 Ludolf von Sagan. Tractatus de longevo schismate, hg. v. Johann Loserth, in : Archiv für österreichische Geschichte 60 (1880) 345–561 ; Johans von Posilge, Officials von Pomesanien, Chronik des Landes Preussen zugleich mit den auf Preussen bezüglichen Abschnitten aus der Chronik Detmar’s von Lübeck, hg. v. Ernst Strehlke, in : Scriptores rerum Prussicarum 3 (Leipzig 1866) 13–57, 79–397 ; Jakob Twinger von Königshofen, Die älteste Teutsche so wol Allgemeine, als insbesondere Elsässische und Strassburgische Chronicke, hg. v. Karl Hegel (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 8, Leipzig 1870).
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verständlich darf auch der Verweis auf die sarkastisch-zynische Skizze Wenzels aus der Chronica Bohemica des Aenea Silvio Piccolomini nicht fehlen, welche Wenzels Bild in der Chronistik der Frühen Neuzeit vorprägte39. Neben den Chroniken sind auch literarische Quellen Teil dieser Dokumentensammlung, etwa das tschechische Reimgedicht Nová rada [Neuer Rat] des Adeligen Smil Flaška von Pardubitz/Pardubice aus den frühen 1390er Jahren, in welchem eine Versammlung heraldisch codierter Tiere einem jungen Löwenkönig rät, seine Berater doch bitte aus dem Landesadel zu wählen40. Dieses bekommt seine polemische Dimension erst durch den Herrschaftskontext : König Wenzel hatte dem Autor nämlich e inen existenziellen Teil seiner Budweiser Lehen abgenommen, worauf sich dieser seinen Gegnern, dem böhmischen Herrenbund, anschloss41. Besonders scharf wurde in Pamphle ten und Flugschriften, die oft mit konkreten Ereignissen zusammenhängen, über den König geurteilt ; Etwa das Lamento der Geistlichkeit von 1394, welches dem späteren Hus-Lehrer Štěpán von Kolín zugeordnet werden konnte42. Dieser ereiferte sich vor allem über die Eskalation der Fehde zwischen König und Erzbischof im Jahr 1393, der nicht nur Priesterleben gekostet hatte, sondern beide Ämter in Verruf brachte43. Bedauern beherrscht indes im 1401 verfassten anonymen Lamento der Böhmischen Krone, in welchem deren Personifizierung vor allem den Bedeutungsverlust des Königreichs nach Wenzels Absetzung betrauert44. Ohne jede Zurückhaltung ist jedoch das Pamphlet eines anonym gebliebenen Klerikers am Kapitel von Vyšehrad aus dem Jahr 1416, welcher König Wenzel, ohne ihn explizit zu nennen, ganz im Sinne des vorherrschen-
39 Vgl. dazu : Aeneas Silvius Piccolomini, Historia Bohemica, hg. v. Joseph Hejnic, Hans Rothe, Peter Eschenloer, Václav Bok (Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte Reihe B, Editionen N.F. 20/2, Köln–Weimar–Wien 2005), 95–293. 40 Smil Flaška z Pardubic a Rychmburku, Nová rada, hg. v. Jiří Daňhelka (Památky staré literatury české 9, Praha 1950). 41 Martin Nejedlý, Fortuny kolo vrtkavé [Das launische Rad der Fortuna] (Praha 2003) 389. 42 Otakar Odložilík, leták M. Stěpána z Kolína o pronásledování kněží z roku 1393 [Die Flugschrift des Magister Stepán von Kolin über die Verfolgung der Priester aus dem Jahr 1393], in : Věstník Královské České Společnosti Nauk 1926/I (1927) 1–18.; František Šmahel, Jan Hus. Život a dílo [ Jan Hus. Leben und Werk] (Praha 2013) 31. 43 Mehr dazu bei : Aleš Pořízka, Kdy a proč byl napsán Planctus cleri ? K zákulisí střetnutí v roce 1393 [Wann und wieso wurde der ›Planctus cleri‹ verfasst ? Zu den Hintergründen des Zusammenstoßes im Jahre 1393], in : Medieavalia Historica Bohemica 6 (1999) 111–128 ; Eva Doležalová, Spor krále Václava s arcibiskupem Janem z Jenštějna [Der Streit König Wenzels mit Erzbischof Johann von Jentzenstein], in : Lucemburkové. Česká koruna uprostřed Evropy [Die Luxemburger. Die böhmische Krone in der Mitte Europas], hg. v. Lenka Bobková, František Šmahel (Praha 2012) 656–663. 44 Aněžka Vidmanová, Latinský pamflet na Václava IV. Rozbor nálezu na předsádce rukopisu vratislavské universitní knihovny I O 49 [Befundanalyse des Vorsatzblattes der Handschrift I O 49 aus der Bibliothek der Universität Wrocław], in : Zprávy Jednoty klasických filologů 4 (1962) 71–77.
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den Zeitgeistes mit dem Antichristen gleichsetzt und dabei auch Königin Sophie von Bayern mit meint45. Das einzige, was diesen grob umrissenen Quellenkorpus aus Chronistik, Versdichtung und Pamphleten zusammenhält, der beliebig um weitere Kategorien erweitert werden kann46, ist die Tatsache, dass alle Quellen über unterschiedliche Kommunikationsregister Kritik an König Wenzel IV. übten. Doch wie weiter mit dieser Kakophonie literarisch überformter Intentionalität ? Zum einen schien es sinnvoll, das Material mit den klassischen Fragen der Propagandaforschung zu konfrontieren, um eine Ahnung von ihrer gesellschaftlichen Reichweite zu bekommen : Dazu gehörte jene nach dem Autor und seinem Verhältnis zu den Trägern von Macht und Herrschaft oder dem Entstehungskontext, den Stilmitteln und dem späteren Gebrauch der Texte und ihrer Verbreitung47. Zum anderen wurde mir deutlich, dass ich mit diesem Ansatz nicht würde klären können, wieso es um 1400 offensichtlich keineswegs ungewöhnlich war, einen römischen König öffentlich zu diffamieren. Dafür musste im Kommunikationsprozess neben der gesellschaftlichen und ideellen Dynamik auch die Rolle des Rechts berücksichtigt werden. Hierbei handelte es sich um mehrere, miteinander verwobene Diskurse, die sich alle auf dem Hintergrund abspielten, dass in der vormodernen Rechtsauffassung Normen existierten, die je nach situativer Notwendigkeit angepasst werden konnten. Damaliges Recht hatte einen ausgesprochen fluiden Charakter, in welchem die Grenzen zwischen Auslegung, politischer Vereinnahmung und öffentlicher Inszenierung sehr oft verschwammen48. Dies zeigt sich etwa an der Entstehung einer Vorstellung von politischer Öffentlichkeit, welche von den neuen Akteursgruppen, die im Spätmittelalter die bisherigen Strukturen von Herrschaft und Macht aufbrachen, durch ihre legistisch unterlegte Forderung nach Mitsprache ermöglicht wurden49. 45 Vgl. František M. Bartoš, Předvečer husitské revoluce v osvětlení pražského duchovního [Der Vorabend der Hussitischen Revolution nach den Erläuterungen des Prager Geistlichen], in : Jihočeský sborník historický 8 (1935) 43–49, Edition des Pamphlets S. 45–47. 46 Für eine vorläufige Gesamtschau der diffamierenden Quellen siehe : Spěváček, Václav IV. (wie Anm. 23) hier insbesondere 577–610. 47 Eine Geschichte der Hussitenzeit, welche ihre kommunikativen Aspekte in den Vordergrund stellt, ist bis heute ein Desiderat. Bisherige Studien sind vor allem auf die Übermittlungspraxis eingegangen : František Šmahel, Reformatio und Receptio. Publikum, Massenmedien und Kommunikationshindernisse zu Beginn der hussitischen Revolution, in : Das Publikum politischer Theorie im 14. Jahrhundert, hg. v. Jürgen Miethke (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 21, München 1992) 255–268. 48 Barbara Stollberg-Rilinger, Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte, in : Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 127/2 (2010) 1–32, hier 12. 49 Es handelt sich um die seit dem 13. Jahrhundert vermehrt angewandte, Römischrechtliche Maxime Quod omnes tangit ab omnibus approbari debet (CIC II, 5.59.5.2, Berlin 71900), vgl. dazu v.a. Gaines Post, A Romano-Canonical Maxim »Quod omnes tangit«, in : Studies in Medieval Legal Thought. Public Law
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Bereits Karel Hruza hatte darauf hingewiesen, dass dieser Form von »öffentlicher Meinung« bisweilen göttlich-wahrhaftiger Charakter beschieden wurde, was etwa der Englische König Richard II. schmerzlich erfahren musste, als die Parlamentarische Bewegung in den 1380er Jahren mit ebendieser Begründung gegen ihn rebellierte50. Doch den Rekurs auf die vermeintliche Wahrhaftigkeit und Rechtmäßigkeit des offenbaren, offensichtlichen und öffentlichen bekam auch Wenzel IV. zu spüren51 : Man findet den entsprechend formulierten Passus fast wortwörtlich in seinem Absetzungsdekret vom 20. August 140052. Ein Nebensatz aus der lateinischen Dekret-Übersetzung verweist freilich auf einen weiteren, deutlich weniger sichtbaren Diskurs. Er dreht sich um die moraltheologische Kategorie des scandalum, die um 1400 mit der Vorstellung von rechtlicher, gesellschaftlicher und öffentlicher Verantwortung verknüpft wurde53. Verkürzt gesagt, lag ihr die zunächst rein theologische, seit dem 13. Jahrhundert auch im Kirchenrecht verankerte Maxime zugrunde, dass das Wissen um die heimlich begangene Todsünde eines anderen, einen selbst zum Sünder machte, wenn man ihn nicht der dafür zuständigen Obrigkeit meldete. Diese Vorstellung ist mit Jan Hus’ Doktrin von der göttlichen Gnade verwandt, die man weder durch Geburt, Amt noch Stellung erlangen konnte, sondern einzig durch die Abwesenheit von Todsünde54. Sie hatte auch handfeste politische Implikationen : Ihre Macht- und ordnungsgefährdende Brisanz ermächtige das Konstanzer Konzil, den and the State, 1100–1322, hg. v. Gaines Post (Princeton–New Jersey 1964) 163–238 ; Hruza, Einleitung (wie Anm. 6) 20f. 50 Vgl. E. Caspary, The Deposition of Richard II and the Canon Law, In : Proceedings of the Second International Congress of Medieval Canon Law. Boston College, 12 – 16 August 1963, hg. v. Stephan Kuttner, John Joseph Ryan (Monumenta iuris canonici Series C 1, Citta del Vaticano 1965) 189–201. 51 Dazu auch Mathias Schmoeckel, Excessus notorius examinatione non indiget. Die Entstehung der Lehre der Notorietät, in : Panta rei. Studi dedicati a Manlio Bellomo, hg. v. Orazio Condorelli (Roma 2004) 133–164. 52 Hierin betonten die Kurfürsten, dass sie bloß als »Hüter der Reichsinteressen« gehandelt hätten, vgl. Karl Schnith, Gedanken zu den Königsabsetzungen im Spätmittelalter, in : Historisches Jahrbuch 91 (1971) 309–326. 53 Absetzungsdekret Wenzels IV. (20. August 1400, Oberlahnstein) in : Deutsche Reichstagsakten unter König Wenzel 3. 1397–1400, hg. v. Julius Weizsäcker (München 1877), Nr. 204, hier S. 256 : […] Prescripti eciam articuli pluraque alia naphanda maleficia et magni defectus adeo sunt quod nulla poss unt tergiversacione celari […] ; Grundlegend für die theologische Herleitung im 12. und 13. Jahrhundert : Lindsey Bryan. »Vae mundo a scandalis«. The sin of scandal in medieval England (unpublished Doctoral thesis, University of Toronto 1998) ; Studien zur gesellschaftlich-rechtlichen Relevanz des scandalum findet man bislang v.a. in Frankreich : Arnaud Fossier, Propter vitandum scandalum. Histoire d’une catégorie juridique (XIIe–XVe siècle), in : Mélanges de l’Ecole française de Rome. Moyen-Âge 121 (2009) No. 2, 317–348 ; Damien de Blix, Cyril Lemieux, Le scandale comme épreuve. Éléments de sociologie pragmatique, in : Politix 71 (2005) Nr. 3, 9–38. 54 Reginald R. Betts, Richard FitzRalph, Archbishop of Armagh, and the Doctrine of Dominion, in : ders., Essays in Czech History (London 1969) 160–175, hier 161.
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Vorwurf der Häresie gegen Hus zu erhärten und bot ihm zugleich ein willkommenes Instrument, um Papst Johannes XXIII. unzeremoniös loszuwerden. Wortwörtlich führt dessen Dekret nämlich auf, dass er aufgrund seines schändlichen skandalösen Lebenswan dels dringend abgesetzt werden musste55. Dahinter stand – wie fünfzehn Jahre zuvor bei Wenzel – der moralische Imperativ, den Sünder öffentlich zu machen und entsprechend abzustrafen, wollte man das eigene Seelenheil nicht aufs Spiel setzen. Noch fehlt es schlicht an vergleichenden Forschungen, um beantworten zu können – ob und wenn ja – welche Zeitgenossen um den machtpolitischen Zündstoff dieser zwischen den Diskursen verorteten Kategorie wussten. Für die Wahrnehmung öffentlicher Diffamierung am Übergang vom 14. zum 15. Jahrhundert und für die Bewertung spätmittelalterlicher Propaganda könnte dieser marginale Aspekt jedenfalls noch so manche Überraschung bergen56. Mit dieser Feststellung war ich an einem Ziel angelangt, der mir zugleich ein Anfang wurde. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass das propagandistische Konstrukt von Wenzels schlechtem Ruf auch in bislang kaum erforschte kirchenrechtliche Bereiche führte, schien es sinnlos, nur an der kommunikationshistorischen Perspektive festzuhalten. Das epistemologische Versprechen, dass sich hinter der Rechtskategorie des Scan dalum abzeichnete, bot trotz beschränktem Forschungsstand jenes mittlerweile selten gewordene »Dazwischen« an, mit welchem sich bewährte Methoden und bekannte Themen auf mehreren Ebene neu verknüpfen ließen : Etwa gesellschaftliche Diskurse mit den Manifestationen politischer Kommunikation oder weltliche Macht- und Legitimationsfragen mit der Reichweite und Wirkmächtigkeit kanonischen Rechts. Damit wurde es Zeit für eine größere Studie. Vordergründig würde es darin zwar um die Diffamierung König Wenzel IV. gehen, doch würde man diese weniger phänomenologisch, als mittels thematischer und methodischer Überschneidungen erschließen – oder konkreter ; über die nachfolgenden Ebenen : 1. Historiographie : Wer über Wenzel arbeitet, kommt nicht um seine Imagebildung umhin. Bislang geschah dies vor allem über die Analyse einzelner Narrative, wie etwa den Schurken, den Tyrannen, den Häretiker, die jedoch selten in ihrem dynamischen Funktionszusammenhang betrachtet wurden, geschweige denn als Teil eines übergeordneten, in viele Stimmen zerfallenden Diskursgewirrs, in welchem sich die Funktionen der Nar55 Absetzungsdekret Johannes XXIII. (29. Mai 1415), in : Magnum oecumenicum Constanciense concilium 4, hg. v. Hermann von der Hardt (Frankfurt–Leipzig 1699) 185f. 56 Diese Studie wurde von der Tschechischen Forschungsgemeinschaft (GA ČR) im Rahmen des Projekts EXPRO 19-28415X »From Performativity to Institutionalization : Handling Conflict in the Late Middle Ages (Strategies, Agents, Communication)« gefördert.
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rative laufend ändern. Dazu muss man sich zunächst einmal über ihre Themenstränge (z. B. Rechtsbruch, Häresie, Nationalismus) von der Gegenwart bis zu den Quellen des 15. Jahrhunderts zurückarbeiten. 2. Narrativität : Soll helfen, Propaganda makrotextuell und stilistisch zu verorten. Dabei steht insbesondere die Konstruktion politischer Narrative im Vordergrund, die in der historischen Mediävistik zumeist in die Ecke der Sprachwissenschaftler verbannt wird. Aus politischer wie medialer Sicht kommt ihnen indes große Bedeutung zu, da sie nicht nur für die formale Wiedererkennung bestimmter Inhalte eingesetzt werden, sondern deren Interpretierbarkeit in einem vom Propagandisten beabsichtigen Sinn überprüfen. Im Falle Wenzel IV. kann man hier nicht nur auf reiche, eng ineinander verflochtene literarische wie populäre Erzähltraditionen zurückgreifen, sondern auch auf eine Medienvielfalt die auf unterschiedliche Weise auf die literarische Tradition eingewirkt hat. 3. Gelebtes Recht : Soll ganz im Zeichen seiner um 1400 manifesten sozialen Tragweite stehen, d.h. in den Prozessen, die mitunter im Scandalum ein Instrument der (weltlichen und geistlichen) Gesellschaftskontrolle formten. Darauf eingewirkt haben freilich ältere Vorstellungen und rechtliche Kategorien aus dem Schnittbereich von Gesellschaft, Königsmacht und Öffentlichkeit : Das Mitspracherecht, das Investiturrecht, vor allem aber die öffentlichkeitswirksame Dimension von übler Nachrede, die im Diskurs um den guten Ruf – die bona fama – und ihrem Gegenteil – der Infamie –, soziale Grenzen überspringt und damit auf die gesellschaftliche Relevanz von Diffamierung verweist. 4. Räume : Werden hier nur am Rande geographisch, sondern in erster Linie als Bühne sozialer und ideeller Interaktion verstanden. Entsprechend stehen die Akteure, ihre Nähe zum Königtum, allerdings auch eventuelle Netzwerke zwischen ihnen zur Debatte. Damit könnte auch erörtert werden, wie Ideen zu Recht und Herrschaft gewandert sind und welche Wandlungen sie dabei durchgemacht haben. Es wird also noch etwas dauern, bis die skizzierten Ebenen in Buchform greifbar sind. Ohne den initialen Denkanstoß, den mir Karel Hruzas Auseinandersetzung mit dem widerspenstigen Propagandabegriff vor Jahren versetzte, hätte ich meinen Weg zu Wenzel IV. vermutlich nicht gefunden. Dafür sei ihm gedankt.
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Dušan Coufal
»Erben des Königreichs« und »Kuttenberger Ausländer« Das politische und nationale Denken einer hussitischen Invektive von 1416 Analyse und Edition
Die Untersuchung der hussitischen literarischen Propaganda ist eines der seit langem in der Forschung zur böhmischen Reformbewegung fest etablierten Themen. In jüngerer Zeit bereicherte vor allem Karel Hruza diese Forschung erheblich, insbesondere durch seine Analyse von 17 Texten aus den Jahren 1415–14311. Er ließ jedoch eine hussitische Invektive aus der frühen Periode gegen einen gewissen Magister Hermann, Prediger in Kuttenberg/Kutná Hora, unberücksichtigt, obwohl diese eindeutig die charakteristischen Merkmale eines hussitischen Manifestes aufweist. Stellen wir zunächst kurz deren Inhalt vor2. Die Autoren des agitatorischen Briefes werfen Hermann vor, er habe die rohen Kuttenberger dazu gebracht, sowohl in Malin/ Malín, als auch in der Bergstadt selbst Gewalt auszuüben, obwohl er zuvor als Ausländer im Königreich Böhmen herzlich aufgenommen worden war und dort eine beachtliche Karriere gemacht hatte. In Malin töteten und verbrannten die Bergleute Ende Juli 1412 nach einem Zusammenstoß mit tschechischen Bauern bis zu 200 Menschen. In Kuttenberg griff das wütende Volk im Februar 1416 eine fast zwanzigköpfige Gesandtschaft König Wenzels IV. an und ermordete sie mitsamt dem Vyšehrader Burggrafen Racek Kobyla von Dvorec. Die Autoren hielten das hussitische Bekenntnis der Getöteten für den Grund für Hermanns hasserfüllte Hetze, wie sich aus ihrem Tadel für dessen aktive Rolle beim Tod von Jan Hus und bei der Verhaftung von Hieronymus von Prag ergibt. Als (Universitäts-)Magister und Doktor könne Hermann eigentlich stolz auf seine Ausbildung sein. Er sei aber nicht ein Prediger Christi, sondern ein Vorläufer des Antichristen, da er gegen Gottes Gebote verstoße. Er fördere nicht nur die Ermordung seiner Mitmenschen, sondern ignoriere auch Diebstähle an der Krone und den Bergleuten. Insbesondere jedoch halte er die Kuttenberger davon ab, ihren Eid dem König und dessen Amtsträgern gegenüber einzuhalten, und bringe sie dazu, dem Papst und anderen Geistlichen zu gehorchen. 1 Karel Hruza, Schrift und Rebellion. Die hussitischen Manifeste von 1415−1431 aus Prag, in : Geist, Gesellschaft, Kirche im 13.−16. Jahrhundert, hg. v. František Šmahel (Colloquia Mediaevalia Pragensia 1, Praha 1999) 81–108. 2 S. die Edition der Invektive unten im Anhang.
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Die Autoren des Briefes begnügen sich jedoch nicht damit, heftige Kritik an Hermann zu üben, sondern sprechen auch dessen Zuhörer an, die Kuttenberger Bürger. Diese sollten aufhören, den gefährlichen Prediger zu beschützen, sondern ihn möglichst schnell loswerden. Am Ende wird Hermann selbst aufgerufen, sein Verhalten zu ändern. Es ist verständlich, dass der Text in Karel Hruzas Aufsatz unberücksichtigt blieb. Seine vollständige Fassung und damit sein appellativer Charakter sind bisher in dem einzigen bekannten Manuskript verborgen geblieben. Constantin Höfler und František Palacký druckten lediglich den einleitenden Teil mit der Beschreibung der Gewalttaten in Malin und Kuttenberg. Der Rest blieb unveröffentlicht und entging so bisher der Aufmerksamkeit der Hussitenforschung3. Die Invektive ist stark literarisch und metaphorisch geprägt, was auf die offensichtlichen Bemühungen der Autoren zurückzuführen ist, ein gebildetes Publikum anzusprechen und zu beeinflussen. Bei anderer Gelegenheit habe ich gezeigt, dass neben Magister Hermann wohl hauptsächlich die Mitglieder jener Kuttenberger Bruderschaft angesprochen werden sollten, die außerhalb der Stadtmauer die Fronleichnams- und BarbaraKirche gegründet und erbaut hat. Einerseits war die Kapelle vermutlich die Wirkungsstätte Hermanns, anderseits sind in den Reihen der Bruderschaft nicht nur die Schreiber der Kuttenberger Bergverwaltung und der Münze, sondern auch einige Personen mit Universitätsabschlüssen sowie einige Priester zu finden. Aus einer Reihe unabhängiger Hinweise ergibt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei Magister Hermann um den Prager Doktor der Theologie und Weihbischof schwäbischer Herkunft Hermann von Mindelheim handelte, der 1421 von radikalen Taboriten ertränkt wurde4. In diesem Aufsatz konzentriere ich mich auf die Argumentation der Invektive, insbesondere auf das politische Denken der anonymen Autoren und deren Nationalbewusstsein. Dies gibt uns die Möglichkeit, auch mehr über ihre Identität in Erfahrung zu bringen.
3 Národní knihovna České republiky [Nationalbibliothek der Tschechischen Republik], Hs. XIV G 20, fol. 139r–149r. Etwa das erste Fünftel des Textes veröffentlicht in : Geschichtschreiber der husitischen Bewegung in Böhmen 2, hg. v. Constantin Höfler (Fontes rerum Austriacarum I, Scriptores 6, Wien 1865) 304–306, Nr. 12, nachgedruckt in : Documenta Mag. Joannis Hus vitam, doctrinam, causam in Constantiensi concilio actam et controversias de religione in Bohemia annis 1403–1418 motas illustrantia, quae partim adhuc inedita, partim mendose vulgata, nunc ex ipsis fontibus hausta, hg. v. František Palacký (Pragae 1869) 631–633, Nr. 102. 4 Ich beschäftige mich ausführlich mit Hermanns Identität und seiner Wirkung in Kuttenberg in der Studie Dušan Coufal, Kutná Hora pod vládou kazatele. Husitská invektiva z roku 1416 a Heřman z Mindelheimu [Kuttenberg unter der Herrschaft eines Predigers. Eine hussitische Invektive von 1416 und Hermann von Mindelheim], in : Český časopis historický 119 (2021 ; im Druck). Dort auch die übrige relevante Literatur.
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Erben versus Ausländer Die Leitthese des agitatorischen Briefes bildet die Annahme, Magister Hermann habe als Prediger darin versagt, das Volk auf den Weg der Gottesgebote zu führen. Obwohl die Zehn Gebote die Tötung seines Nächsten, Diebstahl und Meineid untersagen, unterrichte Hermann seine Zuhörer eben darin5. Daraus ergeben sich die Hauptthemen des Textes. Bemerkenswert ist bereits, wie die Autoren das Konzept des Nächsten (proximi) definieren. In ihrer Wahrnehmung des Gemeinwesens (politia, res publica) stehen die wahren Erben, Söhne und Kinder des Königreichs (veri heredes, filii, liberi regni) bzw. das Volk der Böhmen (gens Bohemorum) den Kuttenberger Ausländern (alienigenae) bzw. dem Volk von Kuttenberg (populus, plebs, gens Montanorum) gegenüber6. Die Autoren beschreiben diese beiden Gruppen als Brüder (fratres), unter denen Hermann jedoch mit seinen Predigten Zwiespalt und Hass säe7. Finden wir für diese Terminologie in anderen hussitischen Texten eine Parallele ? Zum Vergleich bieten sich drei Schriften aus dem Jahr 1409 an : die Recommendatio artium liberalium, also das Lob der freien Künste von Hieronymus von Prag, die Verteidigung des berühmten Kuttenberger Dekrets aus der Feder Magister Johannes’ von Jessenitz, die sogenannte Defensio mandati, und natürlich das Dekret selbst. In der berühmten Urkunde interessiert uns speziell der Ausdruck »Erben des Königreichs«8. Obwohl der König laut dem Verfasser des Dekrets verpflichtet ist, sich um das Wohl aller Menschen zu kümmern, dürfe er Ausländern keinen Vorzug vor 5 Vgl. unten den Editionsanhang 199 : Salvator quippe noster de via veritatis querenti dicebat : »Si vis vitam ingredi, serva mandata,« aperte insinuans hanc artam esse viam deducentem ad vitam, scilicet divinorum observanciam preceptorum, in quibus iubetur proximos diligi, vetantur homicidia, furta et periuria. Tu vero, seductor simplicium populorum, huic tuis sinistris adversaris doctrinis swadens, ut non tantum odiantur pro ximi, sed eciam crudeliter occidantur. Furta non corrigis in dampnum corone vergencia, sed ut canis obiecto alimento mutescis. 6 Ebd. 192 : Tu vero, tantorum beneficiorum munificencie oblitus, omni fera crudeli crudelior, in eiusdem beneficiatricis tue liberos et heredes pietatis specie ceu ovina pelle contectus desevire non cessas ; 195f.: Tu vero, sceleste orator, perswades oportunius fore, si mille huius regni pervese interimerentur heredes, quoniam unus alienigena iuste occideretur Montanus. Quo fit, ut iam regnicole cum Montanis conversantes in maiori ver sentur periculo ; 200 : Et in cuius regni gremio, licet alienigene, tamquam proprii confoventur heredes ; 202 : Eicite [d.h. die Kuttenberger Bürger] hunc perversissimum susurronem [d.h. Hermann] et gentis vestre corruptorem pestilentem, ut iurgia inter vos et tocius regni filios conquiescant ; 204 : Tu Boemorum gentem, ymmo et ipsam Montanorum plebem, odis et persequaris. 7 Ebd. 196 : O abhominabilis Deo et hominibus susurro, qui inter infinitos fratres, puta inter tocius regni veros heredes et Montanorum populum, iurgia et discordias temeriter seminasti. 8 Gustav Friedrich, Dekret Kutnohorský. Poměr jeho rukopisných textů [Das Kuttenberger Dekret. Das Verhältnis seiner handschriflichen Texte], in : Dekret Kutnohorský. Přednášky a stati [Das Kuttenberger Dekret. Vorträge und Aufsätze] (Praha 1909) 58–72 ; die Edition auf S. 67f., hier 67.
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Einheimischen geben. Daher kann die deutsche Universitätsnation, die im Königreich Böhmen kein Inkolat besitzt, nicht auf Kosten der böhmischen Nation, die der »rechtmäßige Erbe desselben Königreichs« (eiusdem regni iusta heres) ist, drei Stimmen in der Verwaltung der Universität besitzen. Die Defensio mandati reagiert auf eine Bitte der Prager deutschen Magister vom 6. Februar 1409 an den König, der damals erwog, das Dekret zu widerrufen, sie bei ihren ursprünglichen Rechten zu belassen9. Die Defensio argumentiert, dass der König der Souverän des Königreichs Böhmen sei, und sich daher nach göttlichem und weltlichem Recht in erster Linie um die Förderung der ursprünglichen Einwohner seines Königreichs zu kümmern habe, d.h. der wahren Böhmen (veri Bohemi), und nicht der Ausländer (exteri, alienigenae). Da die Universität dem König untersteht, dürfen die »deutschen Nationen« ihm nicht den Gehorsam verweigern, denn der Apostel Petrus sagt : »Seid untertan aller menschlichen Ordnung um des Herrn willen« (1. Petrus 2,13). Jessenitz zweifelt nicht, dass die böhmische Universitätsnation dem König gehorcht. Deshalb muss er das Haupt im Königreich und nicht der Schwanz sein, die Herrschaft über die deutschen Nationen ausüben und sie zur Dienstbarkeit zwingen, weil »diese Nationen weder Erben noch Herren der (bluts-)verwandten Einwohner des Königreichs Böhmen sind«. Gott teilte die Erde unter den einzelnen Völkern auf, sodass ein Teil an die Böhmen fiel, ein anderer an die Bayern, usw. In Böhmen lebten also ursprünglich nur Bohemi ohne Vermischung mit anderen Völkern10. Die Einwohner des Königreichs seien auch von Kaiser Karl IV. bei der Gründung der Universität hervorgehoben worden, da er wollte, dass sie nicht anderswo aus Sehnsucht nach Wissen betteln mussten. Er habe nämlich gewusst, dass sie aus natürlicher Zuneigung den Herrschern treu rieten und das Wohl des Königreichs förderten11. Der Autor der Defensio nennt die »wahren Böhmen« nicht nur Erben, sondern auch Söhne des Königreichs ( filii regni). Dabei hat er einen Abschnitt aus dem Brief des Apostels Paulus an die Galater über die Knechte, die zu Kindern werden (Galater 3,26–4,7) vor Augen, der ihm dazu dient, die Behauptung zu belegen, dass seine Ausführungen nicht nur dem weltlichen, sondern auch dem göttlichen Gesetz entsprechen. Vor dem Kommen Jesu waren die Gläubigen jugendliche Knechte des Gesetzes, aber nach seinem erlösenden Tod wurden sie als seine Kinder und Erben getauft. Daher waren laut 9 Die Defensio wurde nach dem einzigen, heute vermissten Manuskript erstmals veröffentlicht in : Geschichtschreiber 2 (wie Anm. 3) 156–165, Nr. 13 ; nachgedruckt in : Documenta (wie in Anm. 3) 355– 363, Nr. 15. 10 Documenta (wie Anm. 3) 355–358, hier bes. 357 : Natio Bohemica debet in regno Bohemiae regere na tiones exteras, ipsis praesidere, et eos tamquam servos incolarum compati, cum non sint heredes et dominae nationes hujusmodi regni Bohemiae incolarum connatarum. 11 Ebd. 358–360.
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Jessenitz die Böhmen an der Universität eine Zeit lang die Diener der Deutschen, aber bald übertrafen die böhmischen Magister die deutschen Gelehrten an Zahl und erhoben sich in allen Wissenschaften über dieselben. Seitdem seien sie keine Knechte mehr, »sondern Kinder ; wenn aber Kinder, dann auch Erben durch Gott« (Galater 4,7). Die Vormünder und Beschützer sollten daher hinter die Erben des Königreichs zurücktreten, die auf ewig regieren sollten12. An dieser Stelle ist nicht von Bedeutung, dass Jessenitz’ Behauptung von der zahlenmäßigen Überlegenheit der böhmischen Magister gegenüber den deutschen nicht der Realität entsprach. Für uns ist seine Interpretation wertvoll, um den ideologischen Hintergrund der Invektive gegen Magister Hermann beleuchten zu können. Die Parallele zwischen den veri Bohemi, heredes regni und filii regni in der Defensio und den veri heredes, filii und liberi regni im hier edierten Brief ist klar, ebenso wie ihre Definition als diejenigen, die Sorge tragen für das Wohlergehen und den guten Ruf des Königs und des Königreichs. Die Defensio vertritt dabei eine naturrechtliche Auffassung : nur diejenigen, die (seit jeher) im Königreich zu Hause sind, sorgen sich von Natur aus um dessen Nutzen und das Wohlergehen des Königs. Daher sollen sie Vorrang vor allen Ausländern genießen, die jedoch um Hilfe gebeten werden können. Die Argumentation der Invektive ist anders gelagert. Selbst die Ausländer im Königreich, wie die Kuttenberger oder der Prediger Hermann, werden von demselben als seine Erben genährt. Deshalb sind sie ebenfalls verpflichtet, dem König eidgemäß Liebe, Respekt und Gehorsam entgegenzubringen. Andernfalls wird das Gemeinwesen, also »die Verfassung des Staates« (ordo politiae et rei publicae) verletzt13. Verschiedene Kontexte, unterschiedliche Schwerpunkte, aber die ideologischen Grundlagen sind dieselben. In der Invektive sind die Erben des Königreichs aber auch durch den Glauben von Hermann und dem von ihm manipulierten Volk von Kuttenberg geschieden. Hermann beleidige die Erben und Kinder des Königreichs als Schismatiker und Ketzer, obwohl sie ausschließlich die menschlichen Erfindungen zurückweisen und dem Gesetz Gottes treu sind. Umgekehrt halte er für wahre Christen diejenigen, die den Laienkelch ablehnen und dem Konstanzer Konzil und seinen Verordnungen gehorchen. Indem Herman die Erben des Königreichs ihres Glaubens wegen angreife, besudle er automatisch den Ruf des Königs und seines Landes, sodass er sich des Ungehorsams gegenüber dem 12 Ebd. 361–363. 13 S. unten den Editionsanhang, 200f., bes.: Et in cuius regni gremio, licet alienigene, tamquam proprii confo ventur heredes, regi itaque tamquam patri patere debetur amor a subditis, tamquam domino honor et timor, tamquam capiti debetur obediencia et fides. Alias turbaretur ordo pollicie et rei publice, qui est bonum eius proprium, quo servato unitur, augetur et firmatur res publica ipsoque deficiente turbatur, debilitatur, minu itur, dissolvitur et cassatur.
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König schuldig mache, und mit ihm alle, die auf seine Lehren hören und danach handeln14. Auch für diese Argumentationskette finden wir eine Parallele in einem der oben erwähnten Texte von 1409. Vor dem Hintergrund der Kontroverse über das Werk John Wycliffs forderte Hieronymus von Prag in seiner Recommendatio diejenigen, denen der böhmische und römische König Wenzel, aber auch der gute Ruf der Stadt Prag teuer sei, auf, den guten Namen der letzteren vor allen Lügnern zu schützen, insbesondere vor den deutschen Magistern, die jeden »reinen Böhmen« (purus Bohemus) zum Ketzer erklären würden. Hieronymus listet alle wichtigen sozialen und ständischen Gruppen des Königreichs auf und fügt hinzu, dass im Gegensatz zu vielen Menschen aus fremden Völkern noch kein »reiner Böhme« jemals wegen Häresie verbrannt worden sei15. Das heißt, dass der Prager Philosoph der naturrechtlichen Definition des »Böhmentums« im Geiste Jessenitz’ den kulturellen Aspekt des Glaubens hinzufügt. Auch er lässt sich jedoch von einem etatistischen Ethos leiten, denn als »reinen Böhmen« betrachtet er jeden Einwohner des Königreichs, der den guten Ruf des Königs und der Heimat schützt16. Die Invektive birgt somit nicht nur den wertvollen Nachweis einer Synthese von Jessenitz’ und Hieronymus’ Überlegungen, sondern auch ihrer argumentativen Anwendung außerhalb des Universitätsumfeldes, obwohl klar ist, dass sowohl die Autoren des Briefes, als auch dessen Objekt, Magister Hermann, aus diesem Umfeld hervorgegangen sind. Eine charakteristische Triebkraft dieser Art von Denken ist die leidenschaftliche Verteidigung des guten Rufes des Herrschers und des Königreichs. Hieronymus’ purus Bohemus, Jessenitz’ verus Bohemus, ebenso wie der verus heres regni Bohemiae der Verfasser der Invektive sorgt sich beständig um den guten Ruf des Königs und des Landes, sei es aufgrund seiner einheimischen Abstammung, der Reinheit seines Glaubens oder aus beiden Gründen. Es ist klar, dass dadurch eine besondere Bindung der Autoren an die königliche Macht konstruiert wird. 14 Ebd. 198 und 199–201. 15 Recommendatio artium liberalium, in : Magistri Hieronymi de Praga Quaestiones, Polemica, Epistulae, hg. v. František Šmahel, Gabriel Silagi (Corpus Christianorum, Continuatio mediaevalis 222 ; Magistri Iohannis Hus Opera omnia 27a, Supplementum 1, Turnhout 2010) 199–222, hier 212–214. 16 Schon Martin Nodl, Puri Bohemi Jeronýma Pražského. K podobám českého národního vědomí a nacionalismu [Die puri Bohemi des Hieronymus von Prag. Über Formen des tschechischen Nationalbewusstseins und Nationalismus], in : Jeroným Pražský. Středověký intelektuál, mučedník české reformace a hrdina národní tradice [Hieronymus von Prag. Mittelalterlicher Intellektueller, Märtyrer der böhmischen Reformation und Held der nationalen Tradition], hg. v. Ota Pavlíček (Praha 2018) 35–47, hier 39, Anm. 23, wies zurecht darauf hin, dass der Ausdruck purus Bohemus nicht eine tschechische Abstammung von beiden Eltern (sanguis) voraussetzt, wie František Šmahel glaubt, s. František Šmahel, Einleitung, in : Magistri Hieronymi de Praga Quaestiones (wie Anm. 15) IX–CXXVIII, hier XXXVIII– XXXIX. Davon ist in der Recommendatio an keiner Stelle die Rede.
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Deshalb ist es beachtenswert, dass weder die Texte von Anfang 1409, noch die sieben Jahre jüngere Invektive bei der Unterscheidung zwischen Böhmen und Ausländern auf die Kategorie der Sprache (lingua, linguagium) zurückgreifen, obwohl dies im tschechischen Nationalbewusstsein seit der Chronik des sogenannten Dalimil häufig vorkommt, gerade auch in der Literatur der Hussitenzeit und insbesondere anlässlich der ersten Kreuzzüge gegen das hussitische Böhmen17. Bereits Martin Nodl wies in einem Aufsatz über die Texte vom Januar 1409 auf diese Tatsache hin, die er mit den Spezifika der Kontroversen zwischen den Universitätsnationen in Verbindung bringt. Da die nacio Bohemorum auch zweisprachige einheimische Deutsche umfasste, war es ihm zufolge nicht möglich, die Sprache als Kriterium zu verwenden. Die zuverlässigere Trennlinie bildeten territoriale Zugehörigkeit (Landesprinzip, Inkolat) und Glauben18. Aber wie die Verteidigung des Königs und seiner Amtsträger in der den Universitätsstreitigkeiten fernstehenden Invektive belegt, müssen wir auch an das zweisprachige Milieu des Königshofes denken. Die enge Verbindung des Nationalbewusstseins mit der Überhöhung der königlichen Macht und Ehre scheint daher typisch für die reformorientierten Universitätsmagister und die ihnen nahestehenden Kreise des Hofes zu sein. Die Kategorie der Sprache, die in der Umgebung des Königs, seines Hofes oder der Universität eher zweitrangig war, stand dem Nationalbewusstsein des Adels, insbesondere der Herren, viel näher. Dies wird durch eine Reihe von Adeligen ausgestellten Protestbriefen in der Causa Hus belegt, in denen nicht nur die Diffamierung des Landes bzw. der Krone durch das Konzil beklagt wird, sondern auch jene der Sprache (lingua)19. Da aber mit der Thronbesteigung Sigismunds von Luxemburg Anfang der 1420er Jahre eine Überhöhung des Königtums für die Hussiten nicht mehr in Frage kam, setzte sich neben dem Glauben die vom Königtum abgelöste Kategorie der Sprache in der hussitischen Propagandaliteratur durch. Das oben erwähnte Maliner Massaker gilt im Prager Manifest an Venedig vom 17 Vgl. Petr Čornej, Idea národa v husitských Čechách [Die Idee der Nation im hussitischen Böhmen], in : Jan Hus na přelomu tisíciletí [ Jan Hus an der Jahrtausendwende], hg. v. Miloš Drda, František J. Holeček, Zdeněk Vybíral (Husitský Tábor, Supplementum 1, Ústí nad Labem 2001) 379–394, hier 380 und 384. 18 Nodl, Puri Bohemi (wie Anm. 16) 45f. In diesem Licht wird auch klarer, warum Jessenitz’ Argumentation in der Defensio auf dem Landesprinzip beruht. In Anbetracht der Tatsache, dass der Name seines Vaters Konrad war und Jessenitz selbst den deutschen Spitznamen »Puttertopf« trug, kann eine teilweise deutschsprachige Abstammung von Jessenitz nicht ausgeschlossen werden. Vgl. Dušan Coufal, Pražský kapitulní kodex K 16. Netušený sborník M. Jana z Jesenice ? [Die Handschrift K 16 der Prager Kapitelbibliothek. Ein unbekannter Sammelband des Mag. Johannes von Jessenitz ?], in : Studie o rukopisech 44 (2014) 85–139, hier 106–108. 19 František Šmahel, Idea národa v husitských Čechách [Die Idee der Nation im hussitischen Böhmen] (Praha 22000) 58–61.
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Juli 1420 bereits als Ausdruck einer Feindschaft der Deutschen gegen die tschechische »Sprache« (also das Volk der Tschechen), wovon in der Invektive (noch) nicht die Rede ist20.
König versus Papst und Konzil Von den drei oben genannten Verfehlungen des Kuttenberger Predigers ist die Behauptung der Autoren, Hermann stifte die Kuttenberger Bürger zum Meineid an, für unsere Fragestellung von größter Bedeutung. Hermann bringe das Volk, das dem König und seinen Amtsträgern Treue geschworen hatte, von seiner freiwilligen, feierlichen Verpflichtung ab und überrede es, stattdessen dem inexistenten Papst zu gehorchen und auch anderen, die die Kuttenberger nicht kennen oder denen sie nicht verpflichtet sind zu gehorchen, weil sie anderen Diözesen vorstehen. Außerdem wurde derjenige, von dem die genannten Prälaten ihre Macht ableiten, seiner Ehre und seines Ranges beraubt. Darüber hinaus seien viele von ihnen Schismatiker, da sie vor Zeiten dem Gegenpapst Clemens (VII.) gefolgt waren. Aus diesem Grund wurden sie vom wahren römischen Papst Urban VI. und seinen Nachfolgern abberufen, exkommuniziert und aller ihrer Ränge und Privilegien beraubt, die ihnen nie zurückgegeben worden seien. Nicht einmal die Absolution hätten sie akzeptiert21. Deshalb fragen die Verfasser des Briefes, warum man denjenigen gehorchen solle, die nicht nur vom Gehorsam gegenüber ihrem Papst abfielen, sondern ihn sogar als Sünder gefangen hielten ? Der Apostel sage im 1. Petrus-Brief 2,13 nicht »unterwerft euch Päpsten oder Bischöfen«, sondern Königen und Herzögen, obwohl er nicht leugne, dass dem Papst und anderen implizit gehorcht werden soll in dem, was erlaubt und tugendhaft sei (in licitis et honestis)22. 20 František Michálek Bartoš, Manifesty města Prahy z doby husitské [Die Manifeste der Stadt Prag aus der Hussitenzeit], in : Sborník příspěvků k dějinám hlavního města Prahy 7 (1933) 253–309, hier 279 bes.: In Malyn, oppido regni nostri, [suffocatorum] ex nudo linguagii odio. 21 S. unten den Editionsanhang, 199: O quantos tu, inique seductor, effecisti periuros, cum populum Monta norum, qui domino nostro regi suisque officialibus iuraverunt obedienciam et fidem inconcussam et illiba tam servare, ab obediencie et fidei sacramentis detestabiliter abduxisti tuis eloquiis venenosis et inducis ad obediendum pape, qui non est, et quibusdam aliis, quos nec ipsi norunt nec ad obediendum illis sunt aliquo promisso aut divino precepto astricti, cum illi non sint huius, sed aliarum diocesim preceptores, et a quo robur sue congregacionis susceperant, ipsum honore et ordine enormiter spoliarunt. Pluresque sunt in eodem recen situ scismatici, qualiter Clementi antipontifici Romano iugiter adheserunt, propter quod a vero Romanorum pontifice, puta Urbano Sexto, eiusdemque successoribus suspensi, excommunicati et interdicti et ab omnibus dignitatibus, ordinibus et beneficiis iusta animadversione destituti nec umquam sunt ad illa restituti neque beneficium absolucionis susceperunt. 22 Ebd. 200, bes.: Quo igitur pacto est illis obediendum, qui ab obediencia sui summi pontificis non solum reces
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Obwohl die Autoren es bei Anspielungen belassen und keine Namen nennen, ist deutlich genug, was und wen sie meinen. Zweifel an der Autorität des Konstanzer Konzils und des Papsttums aufgrund der Causa Johannes XXIII. und dessen Absetzung sind auch aus der nachfolgenden hussitischen Propaganda der frühen 1420er und 30er Jahre bekannt23. Spezifisch ist jedoch, dass die Verfasser ihre Aufmerksamkeit auf die Anfänge des Großen Abendländischen Schismas richten und die Autorität des Konzils mit dem Argument in Zweifel ziehen, es gebe dort Prälaten, die zuvor Clemens VII. und nicht dem »wahren« römischen Papst, Urban VI., anhingen. Die Verteidigung der Obödienz Urbans VI., d.h. des römischen Papsttums, entsprach der Politik Wenzels IV. vor 140924. Die Tatsache, dass die Verfasser der Invektive ihr auch im Jahr 1416 noch anhingen, hatte gute Gründe. Nach der Diskreditierung des pisanischen Papsttums und der von König Sigismund unterstützten Etablierung des Konstanzer Konzils bot sich eine reservierte Position Wenzels IV. gegenüber diesem neuen, ohne Rücksicht auf ihn entwickelten Kurs der europäischen Kirchenpolitik an. Für uns ist jedoch interessant, dass auch der Autor des berühmten adligen Beschwerdebriefs gegen die Verbrennung von Jan Hus die langjährige Politik Wenzels in Bezug auf das Konstanzer Konzil thematisierte. Ihm zufolge fügte der Tod des böhmischen Märtyrers den Ländern der Böhmischen Krone auch deswegen Unrecht zu, weil Böhmen und Mähren in jenen Tagen, als fast alle Königreiche oft schwankten und Schismatiker und Antipäpste unterstützten, an der heiligen römischen Kirche festhielten25, womit die Obödienz des römischen Papstes gemeint ist. Wir finden jedoch noch eine serunt, sed eciam ipsum tamquam maleficum detinent in sua captivitate captivum ? Nescis o pollute sacerdos, quid ille sacerdotum princeps, beatus Petrus, ait : Subditi estote fratres omni creature propter Deum, sive regi tamquam precellenti sive ducibus tamquam ab eo missis in vindictam malorum, in laudem vero bonorum. Ecce non dicit »pape« aut »pontificibus«, sed »regi« et »ducibus«, quamvis per hoc non neget implicite eciam pape, ymmo omnibus, in licitis et honestis fore parendum. 23 Mehr dazu Dušan Coufal, Polemika o kalich mezi teologií a politikou 1414–1431. Předpoklady basilejské disputace o prvním z pražských artikulů [Die Polemik um den Laienkelch zwischen Theologie und Politik 1414–1431. Die Voraussetzungen der Basler Disputation um den ersten der Prager Artikel] (Praha 2012) 136f., und ders., Ludus calamorum. Husité, Cesarini a Zikmund před bitvou u Domažlic v novém světle zapadlého pražského manifestu [Die Hussiten, Cesarini und Sigismund vor der Schlacht bei Taus im neuen Licht eines vergessenen Prager Manifestes], in : Studia Mediaevalia Bohemica 5 (2013) 39–73, hier 47. 24 Zur Kirchenpolitik Wenzels vgl. Antonín Polák, Církevní politika krále Václava IV. [Die Kirchenpolitik König Wenzels IV.] I. 1378–1400, in : 19. Výroční zpráva c. k. českého vyššího gymnasia v Uherském Hradišti za školní rok 1902/03 (Uherské Hradiště 1903) 3–26 ; II. 1400–1409, in : Časopis Matice moravské 28 (1904) 1–14, 164–186 ; Jiří Spěváček, Václav IV. (1361–1419). K předpokladům husitské revoluce [Wenzel IV. 1361–1419. Zu den Voraussetzungen der Hussitischen Revolution] (Praha 1986) 110–123, 398–408. 25 Die Edition des Briefs in : Václav Novotný, Hus v Kostnici a česká šlechta [Hus in Konstanz und der böhmische Adel] (Praha 1915) 59–71, hier 63.
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weitere interessante Parallele zwischen dem Beschwerdebrief und der hier untersuchten Invektive. Deren Autoren stellten die Gehorsamspflicht gegenüber den kirchlichen Oberen absolut nicht in Abrede, da es ihnen zufolge rechtens war, nicht nur dem Papst, sondern auch anderen in licitis et honestis zu gehorchen26. Ebenso deklarieren die Unterzeichner des Beschwerdebriefes, dass sie dem künftigen Papst in allem, was erlaubt, tugendhaft und im Einklang mit der Vernunft und dem Gesetz Gottes sei, gehorsam sein würden27. Bereits Hus sprach über einen solchen bedingten Gehorsam28. Dies ruft uns jedoch hauptsächlich die Tatsache in Erinnerung, dass sich die ideologischen Parallelen zwischen der Invektive und dem Beschwerdebrief bzw. den Texten von 1409 auf ein gemeinsames Umfeld beziehen, aus dem sich ihre Verfasser rekrutierten – den Kreis der reformorientierten Magister der Prager Universität. Jiří Kejř schrieb die Defensio mandati Johannes von Jessenitz zu. Als Adressaten schlug er gewisse königsnahe Kreise, insbesondere Nikolaus Augustini, genannt der Reiche, vor29. Kejř verband Jessenitz auch mit dem Beschwerdebrief von 1415 und anderen verwandten Texten des böhmisch-mährischen Adels zur Unterstützung des in Konstanz eingekerkerten Hus30. Obwohl Petr Čornej bei der Identifizierung des Verfassers des Protestschreibens des böhmischen Adels vorsichtiger vorgeht, sucht auch er ihn im Kreis der Prager Reformmagister. Gleichzeitig glaubt er, dass das Schreiben auch als Stellungnahme des aus taktischen Gründen schweigenden Königs zu verstehen ist31.
26 S. oben Anm. 22. 27 Novotný, Hus v Kostnici (wie Anm. 25) 64 : Cui deo volente tamquam fideles filii, in hiis, que sunt licita et honesta, racioni et legi divine consona, reverenciam et obedienciam debitam exhibentes. 28 Iohannes Hus, Responsiones ad articulos Páleč, in : Magistri Iohannis Hus Constantiensia, hg. v. Helena Krmíčková, Jana Nechutová, Dušan Coufal, Jana Fuksová, Lucie Mazalová, Petra Mutlová, Libor Švanda, Soňa Žákovská, Amedeo Molnár (Corpus Christianorum, Continuatio mediaevalis 274 ; Magistri Iohannis Hus Opera omnia 24, Turnhout 2016) 251–290, hier 276f. Vgl. auch die polemische Aussage einer katholischen Anonymi invectiva contra hussitas von 1432, in : Geschichtschreiber der husitischen Bewegung in Böhmen 1, hg. v. Constantin Höfler (Fontes rerum Austriacarum I, Scriptores 2, Wien 1856) 621–632, hier 623. 29 Jiří Kejř, Husitský právník M. Jan z Jesenice [Der hussitische Jurist Mag. Johannes von Jessenitz] (Praha 1965) 18f. 30 Ebd. 139–150. 31 Petr Čornej, »Prozatím poroučíme zmíněné křivdy Pánu Bohu, jehož je pomsta…« Stížný list české a moravské šlechty proti Husovu upálení v historických souvislostech [»Einstweilen empfehlen wir besagtes Unrecht dem Herrn, unserm Gott, dem die Rache gebührt…« Der Beschwerdebrief des böhmischen und mährischen Adels gegen die Verbrennung von Jan Hus im historischen Zusammenhang], in : Stížný list české a moravské šlechty proti upálení mistra Jana Husa [Der Beschwerdebrief des böhmischen und mährischen Adels gegen die Verbrennung von Mag. Jan Hus], hg. v. Ladislav Langpaul (Okrouhlice 2015) 17–43, hier 38.
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Ob wir auch hinter der Invektive gegen Magister Hermann dieselben reformorientierten Magister, insbesondere den Juristen Johannes von Jessenitz, vermuten dürfen, muss spekulativ bleiben. Tatsache ist aber, dass dieser sich trotz des gegen ihn verhängten Kirchenbannes in der ersten Jahreshälfte 1416 in Prag aufhielt und offensichtlich dem König und dem Hof nahestand. In den dem Konstanzer Konzil vorgelegten Anklageschriften werden Wenzel IV. und seine Gattin Sophie als Unterstützer Jessenitz’ bezeichnet, mit dem sie sich trotz des Bannes angeblich trafen und ihm gerne zuhörten32. Die Autoren des agitatorischen Briefes weisen weiters mindestens dreimal auf das kanonische Recht, besonders die Dekretalen hin33. In jedem Fall bot es sich für die Verfasser an, für die Abfassung der Invektive gegen Magister Hermann ihre Kräfte mit jenen ihrer Anhänger am Königshof zu verbinden. Nach der Ermordung Racek Kobylas und der anderen Höflinge hatten beide Gruppen großes Interesse daran, den unbequemen, ja gefährlichen Prediger aus der königlichen Stadt zu entfernen. Die Invektive gegen den Kuttenberger Prediger Hermann, in dem wir Hermann von Mindelheim erkennen dürfen, ist eine bemerkenswerte frühe Frucht der hussitischen Propaganda. Der Text hilft uns, den Aufstieg Kuttenbergs zu einem antihussitischen Zentrum besser zu erfassen. Des Weiteren stellt er ein neues, wertvolles Zeugnis für das politische und nationale Denken der hussitischen Eliten in der Zeit zwischen dem Kuttenberger Dekret und dem Ausbruch der Hussitischen Revolution dar34.
Der Editionsanhang: Epistola Isr aelis ad sicofagam Montanorum Der Text ist in einer einzigen Abschrift im Kodex XIV G 20 der ehemaligen Prager Universitätsbibliothek (heute Nationalbibliothek) aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts überliefert. Die Handschrift gehörte dem Prager Magister Wenzel von Chrudim35. Auf Folio 149r findet sich eine Schlussrubrik : Explicit epistola Israelis ad sico 32 Vgl. Documenta (wie Anm. 3) 638–642, Nr. 105, hier 639 und 640–642. Dazu Kejř, Husitský právník (wie Anm. 29) 102 und František Šmahel, Die Hussitische Revolution 2 (Monumenta Germaniae Historica, Schriften 43, Hannover 2002) 956. 33 S. unten den Editionsanhang 198 und 202f. 34 Diese Studie wurde von der Tschechischen Forschungsgemeinschaft (GA ČR) im Rahmen des Projekts EXPRO 19-28415X »From Performativity to Institutionalization : Handling Conflict in the Late Middle Ages (Strategies, Agents, Communication)« gefördert. Der Autor bedankt sich bei Alexandra Kaar (Wien) für Hilfe bei der sprachlichen Korrektur des Textes. 35 Vgl. Josef Truhlář, Catalogus codicum manu scriptorum latinorum, qui in c. r. bibliotheca publica atque universitatis Pragensis asservantur 2 (Pragae 1906) Nr. 2628. Über Wenzel von Chrudim František
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fagam Montanorum. Dieser Rubrik folgend fügte ein unbekannter Barockschreiber dem Text die Überschrift Epistola Israelis ad sicofagam Montanorum (fol. 139r) an. Das wenig gebräuchliche Wort sicofaga bzw. Sycophaga bezeichnet ursprünglich eine parasitär auf Feigenbäumen lebende Wespenart. Daher kann es wohl im Sinne von »Parasit, Schädling« verstanden. An den Rändern des Manuskripts deutet eine gotische Hand auf ausgewählte biblische Zitate oder Auszüge aus dem kanonischen Recht, die direkt oder indirekt im Haupttext vorkommen, hin. Da es sich um sekundäre Notizen handelt, werden sie nicht in die Edition einbezogen. Bei der Transkription des Manuskripts gehe ich von den in Tschechien benutzten Regeln Bohumil Rybas aus36. Das erste Fünftel der Invektive wurde bereits von Constantin Höfler unter dem Titel De caede Kuttenbergen sium gedruckt. Diese Ausgabe übernahm später František Palacký in seine Documenta37. Hier wird erstmals der Volltext veröffentlicht. Ich gebe die im Text enthaltenen Zitate in Anführungszeichen wieder und identifiziere die Bibelstellen nach dem Wortlaut der Vulgata. Ich danke Jana Zachová (Prag) für das sorgfältige Lektorat der Edition und nützliche Empfehlungen zur Textverbesserung. Abschrift: Nationalbibliothek der Tschechischen Republik Prag, XIV G 20, fol. 139r–149r
Magister Hermanne, predicator, ymmo verius prevaricator divini sermonis ! Sane olim te pusillum et pannosum vidimus et audivimus de natalis soli tui specu, ut verisimiliter presumitur, fama38 aut enormi reatu expulsum ad nobilis regni Boemie fecundam pervenisse provinciam, ubi revera caritatis fraterne ulnis blande susceptus, plus quam proprie matris ablactatus uberibus, in virum, quem heus nunc turpiter agis, succrevisti et hactenus in tue malignitatis livore necifero pacientissime tolleraris. Tu vero, tantorum beneficiorum munificencie oblitus, omni fera crudeli crudelior, in eiusdem beneficiatricis tue liberos et heredes pietatis specie ceu ovina pelle contectus desevire non cessas divino postposito et humano timore ipsorum celebrem famam, quantum poteris, vertens in infamiam, et quod detestabilius est ac piis auribus offensivum, ipsos tamquam fidei katholice corruptores, scismaticos et hereticos populo rudi et ceco dolose
Šmahel, Počátky humanismu na pražské universitě v době poděbradské [Anfänge des Humanismus an der Prager Universität in der Zeit des Georgs von Podiebrad], in : ders., Alma mater Pragensis. Studie k počátkům Univerzity Karlovy [Studien zu den Anfängen der Karlsuniversität] (Praha 2016) 527–549, hier 546–548. 36 Die Regeln wurden in einer umfassenden Auswahl zur Verfügung gestellt von Dalibor Havel, Helena Krmíčková, Paleografická čítanka. Literární texty [Paläographisches Lesebuch. Literarische Texte] (Brno 2014) 89−93. 37 S. oben, Anm. 3. 38 fame Hs.
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perswades occidi polluti oris tui laxatis habenis, tamquam eo ipso acceptum Domino obsequium prestaturus. Ex cuius persuasionis viperino39 genimine, quanta iam prodiere flagicia, tu ipse, utpote auctor sceleris, nosti plenius et nemo sane mentis ignorat terrigena, cum eciam nulla queant tergiversacione celari. Nescisne, caput mali|[fol. 139v]gnancium ac fidelium Cristi exterminator acerrime, quid olim in sinu alitricis tue, Boemorum provincie, tuo dogmate pernicioso egisti, cum ille incultus et agrestis ac divine legis ignarus populus Montanorum tuis pestiferis suggestionibus concitatus utriusque sexus fideles amico federe congregatos in Malyna occidit immaniter ac flammis vibrantibus exussit ? Ymmo, quod humanitatis natura exhorret, nonnullos infantes, matris adhuc archano conclusos, qui nondum mundum aspexerant, de mundi climate necis crudelitate decerpsit. O effrenata rabies omnem beluarum ferocitatem transscendens, que nec sexui nec etati nec virginitatis decori pepercit, sed iuvenem simul ac virginem lactentem cum homine sene pervenit. Quanti ibidem ullulatus et clamores, dolores et tremores, dum in medium convivantis et tripudiantis plebis subito et inopinate numerosa hostium turba corwo velocior40 sevo clamore, minacibus oculis, manu armata ac pede veloci tamquam luporum exercitus in gregem ovium truculenter irruit. Nonnullas iuvenculas eciam solius horroris rigore periisse putamus. Quantique inde processere luctus consangwineorum, amicorum planctus, notorum manavere lacrime ac cunctorum fidelium gemitus ? Tam efferam innocentum percipiencium stragem mens non capit humana, nullius eciam lingue | [fol. 140r] dissertitudo potest eloqui nec ullius calami ministerium designare. Quid plura ? Ridet homicidarum cohors inquinata cruoribus. Ut iniquus suggestor aplaudens confirmas facinora teque eo ipso attrociorem homicidam constituis in manibus singulorum, quorum manus in hoc opus nepharium lingue tue armasti framea eorumque immortales animas cruencius occidisti. Nec enim Montanorum vulgus poterat illos innocuos trucidare fideles, nisi per te pridem in animis peremti ipsi homicide fuissent. Praeterea, num oblitus es, o armiductor sceleris, quam grande et horrendum crimen, eciam lese divine et humane maiestatis, in ipsa urbe Montanorum die solempni purificacionis beatissime virginis Marie41 patratum est ex tue perverse doctrine amara radice fel et amaritudinem germinante subortum ? Cum ipsa gens dura Montanorum humani federis iugo reiecto tuis suggestionibus irritata conspicuos ac nobiles illustrissimi Romanorum et Boemie regis nunccios, officiales et ministros – quibus ex speciali et in scripto redacto mandato ipsius domini regis Montani cives corporibus et rebus 39 viperina Hs. 40 veloci Hs. 41 2. Februar.
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fideliter tenebantur astare quosque assecuraverant per suos concives quasi precipuos et ad se accersierant et accersitos honeste tractaverant ut amicos – prescitam treugarum et assecuracionis fidem irregulariter disrumpens in plathea hostiliter | [fol. 140v] invasit, in confugii domo trucidavit crudeliter et ferocium ferarum more dissectos et discerptos eiecit in publicum et eiectorum membra dire dispersit ac dispersa tripudiando calcavit. Et quidem inhumanum est, auditu et visu horribile ! Nec erat presbiter, nec erat levita, nec erat scolaris, nec erat religiosus, qui misericordia motus occisorum aut cadaverum horrore aut certe honore dignitatis regalis, que in se et suis est merito colenda ab omnibus, morticinia servorum eius fidelium ecclesiastice sepulture mandasset. In tanta plebe et clero copioso urbis, in tanto conventu cenobii Zedlicensis non est inventa Thobiana miseracio, que interfectorum corpora sepelisset42. Quousque seniores urbis predicte oculis suis parcentes et naribus aut metu servili perculsi crastine diei vespera in unius fosse tumulo humari preceperunt eosdem, ut quos unius provincie alvus ediderat, confoverat sinus uniusque principis adunaverat servicium, unius eciam plebis cruenta manus uno die occiderat, una dumtaxat fovea sepulture foveret. Tam horrende stragis plebs rea tripudiat et extenso quasi belli banderio tamquam triumpho potita victorie succinit carmina, fundit obprobria et ad lares clericorum tota madens sangwinibus catervatim declinat, gratum illis nuncciatura flagicium et solarium tam nephandi operis | [fol. 141r] susceptura. Conletatur clerus sui status immemor tamquam de suorum adversariorum ruina43. Tu, cruenta belua, auctor facinoris »thesaurizans tibi iram in die ire secundum tuam duriciam et cor tuum impenitens«44, Romanorum IIo. Facinus laudando approbas, ne male swasisse, ymmo patravisse, videaris, malis sic peiora acumulans innumera hominum pernicie maculatus. Nam non solum occisos, sed eciam occisores occisorum atrociter occidisti. Neque enim David in Uriam gladium suum vibraverat. Quia tamen sua epistola ipsius procuraverat interitum, Dominus per vatem suum Nathan ipsum occisorem appellat45. Occidisti, inquit, eum in gladio oris tui. Quantoque anima prestancior est corpore, tanto ipsius occisor quam corporis graviori reatu tenetur astrictus. Intuere, o inique carnifex, quot homines, ymmo quot animas, tui contaminatissimi oris peremisti mucrone. Audes, o inquinate sacerdos, pollutas innoxio cruore manus extendere ad sacrosancta contrectanda misteria, que omnium contagionum purgativa noscimur. Nescis, quid Dominus dicat per Malachiam prophetam : »Munus,« iniquit, »non suscipiam de manu 42 Vgl. Tob. 1,19–21. 43 Vgl. Prov. 24,17. 44 Rom. 2,5. 45 Vgl. 2 Reg. 11,14f.; 12,1.9.
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vestra«46, quia »manus vestre plene sunt sangwine«47. Quo eciam pacto legem Domini immaculatam ore tuo sangwinolento presumis assumere eamque plebi proferre, cum peccatori dicat Deus : »Quare tu enarras iusticias meas et assumis testamentum meum per os tuum ? Tu enim odisti disciplinam | [fol. 141v] et proiecisti omnes sermones meos retrorsum. Si videbas furem, currebas cum eo et cum adulteris porcionem tuam ponebas. Os tuum habundavit malicia et lingua tua concinnabat dolos. Sedens adversus fratrem tuum loquebaris et adversus filium matris tue ponebas scandalum« etc48. O sceleratissime proditor, Iuda Scariothis longe deterior ! Ille quippe acceptis triginta argenteis unam dumtaxat personam ad hoc venientem in mundum in mortem tradidit49, ex cuius morte sanctissima vita mortuis, langwidis salus ac gloria miseris sempiterna manavit. Tu, ut arbitramur, nullius denarii mercede preventus quamplurimos ad interitum perduxisti, ex quorum morte mors sequetur plurium et ipsius urbis Montanorum tociusque regni obprobrium quasi indelibile sempiternum. Iudas preterea, priusquam Dominus Ihesus addiceretur cruci, penitencia ductus restituta quoque scribis et phariseis ac sacerdotibus innoxii cruoris mercede laqueo se suspendit50. Tu de occisorum sangwine premia suscipis ac de ipsorum exterminio cum homicidis assidue convivando letaris ipsosque animare non desinis ad similia et peiora patranda. Ille denique loculos habebat et de parce oblatis muneribus aliquantulum furabatur51. Tu in eodem populo furta toti regno illata non corripiendo, ut teneris, approbas et partem furti suscipiens aut laudando aut tacendo furta promoves sicque te furem regni ceteris furibus maiorem | [fol. 142r] ostendis. Tu es Pilato gentili iniquior. Ille siquidem accusatum Dominum Iesum et quasi testibus vulgique clamore convictum multipliciter conabatur absolvere52, tu turbas tacentes in occisionem multorum nec accusatorum in iudicio nec convictorum testimonio tua lingua mortifera suscitasti. Tu crimen Caiphe tuo ore criminoso transcendis. Ille nimirum patrie, in qua versabatur, inflammatus amore dicebat : »Expedit, ut unus moriatur, quam tota gens pereat« Iudeorum53. Tu vero, sceleste orator, perswades oportunius fore, si mille huius regni perverse interimerentur heredes, quoniam unus alienigena iuste occideretur Montanus. Quo fit, ut iam regnicole cum Montanis conversantes in maiori versentur periculo, 46 Mal. 1,10. 47 Is. 59,3. 48 Ps. 49,16–20. 49 Vgl. Matth. 26,14–16.47–50. 50 Vgl. ebd. 27,3–5. 51 Vgl. Ioh. 12,6. 52 Vgl. Matth. 27,11–26. 53 Ioh. 11,50.
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quam olim Hebrei inter Egipcios, Medos aut Assirios aut nunc cristiani inter gentium barbarissimas naciones. O abhominabilis Deo et hominibus susurro, qui inter infinitos fratres, puta inter tocius regni veros heredes et Montanorum populum, iurgia et discordias temeriter seminasti54. O fons carens signaculo caritatis, fons profecto empyricus55, in tuis pestilentibus undis faces fraterno amore flagrantes extingwuntur et extincte rursus odii inflammantur livore. Taceo nunc de ampliori enormis gratitudinis tue vice, quam tue beneficiatrici, corone Boemie ac Morawie marchionatui, in morte felicis memorie magistri Iohannis et in dira captivitate reverendi magistri Ieronimi cooperative ac per media tibi oportuna nequiter impendisti. | [fol. 142v] In quibus tu, nequam, dampnare nisus es et niteris legis divine veritatem, quam unigenitus Dei filius, qui est eternaliter in sinu Patris eterni, forma nostre humanitatis indutus in terris ore suo sanctissimo revelavit, vita probavit et moribus suis reliquit discipulis ac membris suis fidelibus ipsorum ministerio studioso infudit. Hanc nempe veritatis viam recto tramite perducentem ad vitam hii felices viri magno studio ac divine revelacionis dono invenerunt inventamque Dei populo ore et manu pandentes fideliter, per te tuosque in hac parte complices insidiosis fraudibus ex hoc regno sunt expulsi, ut olim apostoli a populo Hebreorum, ne illucesceret veritas ewangelii vestris lippientibus56, ymmo noctualibus oculis neque via veritatis panderetur tendentibus ad salutem. Quam tamen auctor vite, Cristus, suo ortu mirifico tenebroso orbi invexit, eam non solum in templis aut domibus, sed in mari, campis et montibus ac eciam supra tecta vulgari mandavit. Cumque illis egregiis viris sic erectis et in perniciem dumtaxat corporalem adductis vos triumphasse putaretis, ecce seges Dei vestre crudelitatis falce succisa repululavit densius invalescitque cottidie vigor eius, utpote in terra bona non ab homine, sed a natura naturante Deo rite plantata57, qui semina virtutum spargit in cordibus augere, quoque incrementa frugum iusticie solita benignitate conswevit58. Nunc gladius vester intrat in corda vestra et arcus vester machinacionis |[fol. 143r] dinoscitur esse confractus59. Nam sagitte parvulorum ex faretra summi Iovis assumpte facte sunt plage iniquitatis vestre infirmateque sunt lingue doctrine vestre commixte erroribus contra vos ipsos. Defecistis scrutantes scrutinio60, quo putabatis lumen ewangelii obumbrari posse ac iter precludi
54 Vgl. Prov. 6,16.19. 55 epiricus Hs. 56 limpientibus Hs. 57 Vgl. Ez. 17,8. 58 Vgl. II Cor. 9,10. 59 Vgl. Ps. 36,15. 60 Vgl. Ps. 63,7–9.
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salutis. »O insensati Galathe«61, qui non vultis dirigere iuxta Deum cor vestrum pravum. Conamini natare contra impetum fluminis urbem Dei letificantis62 ? Submergemini. Nitimini resistere Omnipotentis voluntati63 ? Succumbetis64. Laboratis destruere, quod dextera divina construxit ? Deficietis. Falsificare sudatis, quod Veritas eterna in semetipsa iustificavit65 ? Illudemini. Illusores enim, sicut scriptum est, ipse deludet et dabit verbum ewangelisantibus virtute multa66. »Dabo,« inquit Salvator, »vobis os et sapien ciam, cui non poterint omnes resistere adversarii vestri«67. »Non enim vos estis, qui loquimini, sed Spiritus Patris vestri, qui loquitur in vobis«68. Quid dicemus de vobis, nisi quod beatus Stephanus sacerdotibus Iudeorum legitur improperando dixisse : »Sicut,« iniquit, »patres vestri, ita et vos dura cervice et incircumcisis69 auribus et cordibus semper Spiritui sancto restitistis«70. Vos more peccorum viam veri deserentes pastoris precedencium et errancium gregum sequimini vestigia, attendentes solum, quo per multos precessores vestros dudum perrectum est et adhuc heu per vobis similes passim et inconsulte pergitur, non quo aut qua sit rite pergendum | [fol. 143v] ad caulas sacietatis et tranquilitatis eterne. Unde contingit vobis, quemadmodum in valida strage turbis se mutuo prementibus precedencium cadaverum casus sequentibus eciam vivis causa fit ruine et necis. »Ve autem vobis scribe et pharisei, qui clauditis regnum celorum ! Vos enim non intratis nec introeuntes sinitis intrare«71, sed errantes. In invio et non in via72 errare facitis gregem Domini vobis conmissum73. De quorum infelici numero tu, Hermanne, evidenti racione probaris, qui agnitam veritatem in ipso auctore eiusque membris fidelibus clam et palam persequaris et tamquam dux cecus errancium erroris amfractibus involutus quam plurimos ydiotas te sequentes errare facis, ut cecos et ebrios tecumque in eiusdem facinoris foveam absque base temeriter introducis74. Nescis, o cece, cuius equidem oculos malignitatis proprie caligo aut 61 Gal. 3,1. 62 Vgl. Ps. 45,5. 63 Vgl. Est. 13,9. 64 Succumbentis Hs. 65 Vgl. Ps. 10,18. 66 Vgl. Prov. 3,34. 67 Luc. 21,15. 68 Matth. 10,20. 69 incircumcisi Hs. 70 Act. 7,51. 71 Matth. 23,13. 72 invia Hs. 73 Vgl. Ps. 106,40. 74 Vgl. Matth. 15,14.
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dyabolice yrundinis supra te iugiter girantis stercus calidum totaliter excecavit, peccatum in Spiritum sanctum, quale est inpugnacio veritatis agnite, nec in presenti nec in futuro remitti75 ? Melius erat sicquidem tibi viam veritatis non cognoscere quam deserere cognitam et ad humanas adinvenciones et supersticiones gracia temporalis lucri converti76. Nescis, quod omne opus corruptibile cum suo operatore peribit,77 »consilium autem Domini in eternum manet«78 ? Nam celum et terra transibunt, verba autem Domini transire non possunt79. Fundata quippe sunt supra firmam petram, que nec flumine passionum allisa nec vento temptacionum perflata a sue rectitudinis regula queunt | [fol. 144r] quomodolibet commoveri80. Quid autem stulcius quam creaturam Creatori preponere et legem hominis eciam peccatoris multis vanitatibus inquinatam legi Dei immaculate convertenti animas et testimonio Domini fideli sapienciam prestanti parvulis anteferre ? Quod tu, pharisee, spiritu circumacte vertiginis81, omni nisu, fraude et dolo facere stulte conaris hos asserens fore scismaticos et hereticos, qui adinvencionibus hominum pravis obmissis nudam ewangelii legem ac sanctorum prophetarum et apostolorum doctrinas observant et ad observacionem huiusmodi gregem fidelium fideliter introducunt facientes, quod Cristus faciendum instituit, quod apostoli et omnis ecclesia primitiva servavit, non advertentes, quod per iniquam consuetudinem, ymmo verius corruptelam, dudum erat obmissum, scientes, quod tanto sunt graviora crimina, quanto diucius animam infelicem detinent alligatam. Diuturnitas enim peccatum non minuere, sed magis perhibetur augeri82. Et ut vestra iura astruunt, »quamvis longeve consuetudinis non sit levis auctoritas, non tamen est adeo valitura, ut iuri positivo valeat preiudicium generare«83, quanto minus putandum est, quod possit ius dominii sempiterni delere. Illos autem asseris fideles cristianos, qui abiecto Salvatoris testamento, quod morte propria ipse sanctivit84, decreta hominum et plebiscita multis vanitatibus infecta observare nituntur quique invalescente iniqua consuetudine errorem tamquam legem custodiunt85 ipsumque divine legi non erubescunt preferre.
75 Vgl. Marc. 3,29. 76 Vgl. II Pet. 2,21. 77 Vgl. Eccli. 14,20. 78 Ps. 32,11. 79 Vgl. Marc. 13,31 ; Luc. 21,33. 80 Vgl. Matth. 7,24f.; Luc. 6,48. 81 Vgl. Is. 19,14. 82 Vgl. Corpus iuris canonici 2. Decretalium collectiones, hg. v. Emil Friedberg (Graz 21959) 37. 83 Ebd. 41. 84 Vgl. Luc. 22,20 ; I Cor. 11,25. 85 Vgl. Sap. 14,16.
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Heu timeo, quod | [fol. 144v] vere nunc posset tibi dici, o vecors spiritu phitonico illuse, quod olim beatus Paulus adorsus Elimam magum fertur dixisse : »O plene omni dolo et omni fallacia, fili diaboli et inimice omnis iusticie, non desinis subvertere vias Domini rectas«86. Ve tibi serve nequam, qui talento tibi credito enormiter abuteris, cum illud in creditoris tui contumeliam familieque eius in obprobrium, persecucionem et exterminium inprudenter dispensas87 dicens malum bonum et bonum malum, ponens lucem in tenebras et tenebras in lucem. O magister ! Magis ter malis deterior, qui non tantum in se malus existis, sed malos facis et attollis supprimisque bonos ac in idipsum simplices seducendo inducis. Qui doctrine Salvatoris margaritam veluti sus cenosa88 luti fedata in volutabro tuo contaminato rostro fedasti eamque ante porcos proicis89 ampliori newo fedandam. O doctor et preco, non Cristi, sed pocius Anticristi precursor, cui viam in populo rudi tamquam in heremo preparas, viam veritatis sinistra persuasione aut certe muta taciturnitate corrumpens. Salvator quippe noster de via veritatis querenti dicebat : »Si vis vitam ingredi, serva mandata«90, aperte insinuans hanc artam esse viam deducentem ad vitam, scilicet divinorum observanciam preceptorum, in quibus iubetur proximos diligi, vetantur homicidia, furta et periuria91. Tu vero, seductor simplicium populorum, huic tuis sinistris adversaris doctrinis swadens, ut non tantum odiantur proximi, sed eciam crudeliter occidantur. Furta non | [fol. 145r] corrigis in dampnum corone vergencia, sed ut canis obiecto alimento mutescis. O quantos tu, inique seductor, effecisti periuros, cum populum Montanorum, qui domino nostro regi suisque officialibus iuraverunt obedienciam et fidem inconcussam et illibatam servare, ab obediencie et fidei sacramentis detestabiliter abduxisti tuis eloquiis venenosis et inducis ad obediendum pape, qui non est, et quibusdam aliis, quos nec ipsi norunt nec ad obediendum illis sunt aliquo promisso aut divino precepto astricti, cum illi non sint huius, sed aliarum diocesim preceptores, et a quo robur sue congregacionis susceperant, ipsum honore et ordine enormiter spoliarunt. Pluresque sunt in eodem recensitu scismatici, qualiter Clementi antipontifici Romano iugiter adheserunt, propter quod a vero Romanorum pontifice, puta Urbano Sexto, eiusdemque successoribus suspensi, excommunicati et interdicti et ab omnibus dignitatibus, ordinibus et beneficiis iusta animadversione destituti nec umquam sunt ad illa restituti neque beneficium absolucionis susceperunt. 86 Act. 13,10. 87 Vgl. Matth. 25,14–30. 88 scenosa Hs. 89 Vgl. Matth. 7,6. 90 Ebd. 19,17. 91 Ebd. 19,18f.
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Quo igitur pacto est illis obediendum, qui ab obediencia sui summi pontificis non solum recesserunt, sed eciam ipsum tamquam maleficum detinent in sua captivitate captivum ? Nescis o pollute sacerdos, quid ille sacerdotum princeps, beatus Petrus, ait : Subditi estote fratres omni creature propter Deum, sive regi tamquam precellenti sive ducibus tamquam ab eo missis in vindictam malorum, in laudem vero bonorum92. | [fol. 145v] Ecce non dicit »pape« aut »pontificibus«, sed »regi« et »ducibus«, quamvis per hoc non neget implicite eciam pape, ymmo omnibus, in licitis et honestis fore parendum, et hoc idem ibidem innuit dicens : »Castificantes,« inquit, »animas vestras in obediencia caritatis«93. Nam, ut sic secundum beatum Gregorium, obediencia non tantum est virtus, sed mater virtutum94. Similiter beatus Paulus, vas eleccionis divine, ait : »Servi, obedite per omnia dominis vestris carnalibus cum timore et tremore in simplicitate cordis vestri, sicut Cristo, non ad oculum servientes.«95 Et beatus Petrus : »Servi, subditi estote in timore dominis vestris, non tantum bonis, sed eciam discolis«96. Sed quid dicamus de te, o yppocrita et sepulcrum forinsecus dealbatum97, nisi quod Dominus tibi simili fertur dixisse : Eice primum trabem de oculis tuis et tunc poteris eicere festucam de oculis alienis98. Tibi sicquidem dominus archiepiscopus sub pena excomunicacionis preceperat Sacras dumtaxat predicare scripturas, tu vero ipsius mandatum contempnens diabolica et necifera publice predicasti, ex quibus, ut deductum est, mors plurimorum secuta est et de peioribus merito debet timeri. Predicas itaque obediendum et non obedis. Sed non mirum, quia malus homo de thesauro cordis sui profert malum. Predicas timendas sentencias episcoporum et ipse non times. Ceterum nescis, o perniciose seductor, quid agit beatus Augustinus in epistola ad Bonifacium comitem : Fides, inquit, prescita eciam hosti, contra quem bellum assumitur, servanda est99. Quanto magis regi, | [fol. 146r] principi et domino terre naturali, cuius victrici manu protecti in thabernaculis pacis et fiducie conquiescunt, de cuius terre fecunda ubertate ac cottidiano stipendio iugiter nutriuntur. Et in cuius regni gremio, licet alienigene, tamquam proprii confoventur heredes, regi itaque tamquam patri patere debetur amor a subditis, tamquam domino honor et timor, tamquam capiti 92 Vgl. I Pet. 2,13–14. 93 Ebd. 1,22. 94 Vgl. Gregorius Magnus, Moralia in Iob, hg. v. Marc Adriaen (Corpus Cristianorum, Series Latina 143B, Turnhout 1985) 1769. Vgl. auch Guillelmus Peraldus, De eruditione principum, in : Thomas de Aquino, Opera omnia 16 (Parma 1864) 390–476, hier 450. 95 Eph. 6,5–6. 96 I Pet. 2,18. 97 Vgl. Matth. 23,27. 98 Vgl. ebd. 7,5. 99 Vgl. Augustinus, Epistulae IV, hg. v. Albert Goldbacher (Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum 57, Wien–Leipzig 1911) 135.
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debetur obediencia et fides. Alias turbaretur ordo pollicie et rei publice, qui est bonum eius proprium, quo servato unitur, augetur et firmatur res publica ipsoque deficiente turbatur, debilitatur, minuitur, dissolvitur et cassatur. Et similiter illa universa debent exhiberi per subditos officialibus et prepositis, quos regie maiestatis celsitudo in administracione et dirreccione negociorum ipsis preposuit et hoc iubet Apostolus scribens Romanis : »Obedite prepositis vestris et subiacete eis«100. Et idem : »Omnis anima potestatibus sublimioribus subdita sit«101. Et presertim illis tenentur obediendo subici et fidei nexu coniungi, quibus se ad obediendum et fideliter famulandum et adherendum iuramento spontaneo constrinxerunt. Unde beatus Ieronimus in prologo Aggei prophete ait : »Ieremias propheta ob causam periurii Sedechie regis Israel, ut historia libri secundi Paralipomenon indicat, qui fidem promissam Nabochodonosor regi Caldeorum non servaverat, populum Israel refert cum memorato rege Israel expugnata Ierusalem captivum in Babilonem fuisse perductum«102 etc. Intuere aperi oculos tuos et vide, quanta pena irrogata est per iustis|[fol. 146v]simum iudicem Deum fidem prescitam non servanti, eciam pagano ! Putas, quod ipse »Dominus ulcionum«103 ut homo dissimulans transibit inultum, ubi plebs cristiana iuratam obedienciam et fidem domino suo naturali violavit tua suggescione seducta, cum scriptum sit in lege Domini : »Non dimittet,« inquit, »cum peccaveris«104, quique fortis zelotes existens iudicat peccata patrum in filios usque in terciam et quartam generacionem105. Cur ista populo tibi comendato non annunccias, que annuncciare tui ministerii ex debito obligaris ? Iuxta quod ait Dominus per Ysaiam : Ascende in altum tu, qui ewangelisas Sion106. »Quasi tuba exalta vocem tuam et annunccia populo meo scelera eorum«107. Cur ista tenenda non predicas, o canis mute, nesciens latrare ? Cur horum prevaricatores rigide non arguis, ne sangwis ipsorum de manu tua requiratur108 ? Heus, nunc in populo Montanorum illud Ieremie impletur vaticinium : »Grex,« inquit, »perditus factus est populus meus, pastores eius seduxerunt eum«109. Quam ob 100 Hebr. 13,17. 101 Rom. 13,1. 102 Pseudo-Hieronymus, Prologus in Aggaeum, in : Prefaces to the Latin Bible, hg. v. Donatien De Bruyne (Studia Traditionis Theologiae 19, Turnhout 2015) 142 (Nachdruck von Préfaces de la Bible Latine, hg. v. dems., Namur 1920). 103 Ps. 93,1. 104 Ex. 23,21. 105 Vgl. ebd. 20,5. 106 Vgl. Is. 40,9. 107 Ebd. 58,1. 108 Vgl. Ex. 3,18 ; 3,20 ; 33,8. 109 Ier. 50,6.
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rem lucra turpia questusque iniquos in ipsa urbe solitos predicando, ut teneris, non corripis in iacturam atque dampnum vergencia colonorum montana colencium ? Num latet te, qualiter notarii fovearum palam et publice singulos grossos per XII denarios comparant eosdemque ipsis cultoribus moncium per XIIII denarios subputando in solucione mercedis dispensant contra divinas et humanas sancciones, aliorum iactura fructum sibi enormiter vendicantes, cum dicat ille pius Tho|[fol. 147r]bias, »quod ab alio tibi oderis fieri, vide, ne aliquando alteri facias«110. Et Salvator noster ait : »Quecumque vultis, ut faciant vobis homines, et vos facite illis«111. Similiter et per locum ab oppositis : Quecumque non vultis, ut faciant vobis homines et vos non facite illis. In hoc dependent lex et prophete112. Existimas inique, quod hoc scelus per te incorreptum dimissum in caput tuum retor queri non debeat, cum scriptum sit, qui crimina, que corripere debet, non corripit, ipse committit113 ? Unde licet Heli sacerdos in se bonus existeret, quia tamen filiorum excessus efficaciter non corripuit, in se pariter et in ipsis animadversionis divine vindictam excepit, dum filiis eius in bello peremptis ipse corruens de sella fractis cervicibus exspiravit114. Ad vos autem, Montium cives, stilum convertimus de vestra merito lugenda subversione stupentes. Nam cum sitis viri sagacissimi et ab exordio et fundacione loci illius huic regno et corone ultra ceteros iugiter reputati fideles, quibus regalis maiestas de thesauro regni precipue credidit, utpote custodibus non tam armis quam sincera fidelitate armatis, quomodo obscuratum est fidelitatis vestre aurum ac mutatus est vestre fame laudabilis color optimus ? Cur unius stolidi et iniqui sacerdotis seducti estis fictis sermonibus, ut iam male fidei homines ac iugum obediencie iurate abicientes dicamini non tam a regnicolis, verum eciam a circumvicinis terrigenis universis, ad quorum noticiam perveniunt scelera et ex induccione illius seductoris | [fol. 147v] per vos patrata in dedecus atque dampnum vestri domini naturalis ac tocius regni Boemorum ? Memores estote illibate fidei et obediencie predecessorum et patrum vestrorum, in quibus constantissime perstiterunt usque ad mortem et ob hoc ultra alios insigni regio dotati amore felicem et celebrem famam ab omnibus meruerunt. Qui hoc pro vulgari proverbio solebant dicere ac firmissima pro norma servare : dominus noster, rex generosus, si tantum palum in medio nostri figeret, illi honorem, obedienciam et fidem servaremus intactam. Eicite hunc perversissimum susurronem et gentis vestre corruptorem pestilentem, ut iurgia inter vos et tocius regni filios conquiescant115. Eiciatur hec morbida ovis et scab110 Tob. 4,16. 111 Matth. 7,12. 112 Vgl. ebd. 7,12 ; 22,40. 113 Vgl. Corpus iuris canonici 1. Decretum Magistri Gratiani, hg. v. Emil Friedberg (Graz 21959) 956. 114 Vgl. I Reg. 2,13–16 ; 4,10.18. 115 Vgl. Prov. 26,20.
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rosa de vestre civitatis ovili, ne peramplius inficiat oves sanas, et si que iam sunt ipsius pestifero tactu aut anhelitu infecte, congrua medela curentur. Nam sicut »ab una scintilla augetur ignis, sic ab uno doloso augetur sangwis. Homo enim peccator sangwinis insidiator est«116, Ecclesiastici XI. Ipse sicquidem est ille sacerdos et unus de numero seniorum, a quibus in Babilone iniquitas perhibetur egressa117, qui non sacra dos, sed favum demonis ac delubrum, non sacra dat aut docet, sed polluta pariter et prophana. Ipse, prochdolor, est presbiter prebens iter populo tendens proculdubio ad iehennam. Ipse, revera, est pseudopropheta, qui venit ad vos in vestimentis ovium, ypocrisi tamquam pelle ovina contenctus, intrinsecus autem est lupo rapaci rapacior118, qui non tantum oves alienas, sed proprios | [fol. 148r] catulos devorare consuevit. Que singula luce clarius intueri poteritis, si favoris velamen, quod ad ipsum geritis, prudenter sustuleritis, si fructus pensabitis ex ipsius mortifere lingue arido ligno productos119. Nunc, ut estimamus, sentitis, ad quantum discrimen honoris personarum et rerum periculum atque dampnum estis suo sinistrissimo ducatu deducti et de peioribus merito formidare debetis. Quis iam ex regnicolis confidenter habitabit vobiscum aut vestris audebit credere litteris aut promissis, cum secundum regulam iuris semel malus semper malus presumatur120 et hanc maculam vos, oves olim innocue, ab illo sordido contraxistis pastore ? Ipse est pastor et idolum, qui vos in salsuginis supersticionum pascua pestifera cohartando induxit a salutaribus et semper viventibus pratis divine legis abducens. Eicite itaque hoc anathema de medio vestri, ut radice morbi sublata aufferantur et rami vosque viri ingentis prudencie, insigniti ymagine revertimini, revertentes ad obedienciam et fidelitatem, honorem et amorem invictissimi Romanorum et Boemorum regis dominique vestri ac patris generosi ac regni, matris et alitricis vestre, officialiumque ipsius magnifice potestatis, prout hec ipsa inconcussa et illibate servare iurastis, ne irascatur vobis Dominus Deus tamquam nomen eius asumentibus in vanum121 et exacerbetur amplius et suscitetur contra vos regis et domini vestri naturalis manus excelsa ac tocius regni furor exardescere rite cogatur. Porro, ut in eiusdem | [fol. 148v] seductoris perversi redargucionem sibi quasi in presenciarum revertamur loquentes : O mons, inquam, pestifer, qui scienciarum vanitate tumescis, sed dilleccionis fraterne splendore orbatus non solum valles morum habundantes frumento opprimis et a radiis solis iusticie umbram de te falsitatis procurans do116 Eccli. 11,34. 117 Vgl. Dan. 13,5. 118 Vgl. Matth. 7,15. 119 Vgl. ebd. 7,16.20. 120 Vgl. Corpus iuris canonici 2 (wie Anm. 82) 1122. 121 Vgl. Ex 20,7.
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lose secludis, verum eciam montes cum incolis eorum demoliri conaris sathanici spiritus illusione seductus, talem illis, ymmo huic regno, reimpendens graciam, qualem mus in pera et serpens in gremio suis consueverunt hostibus exhibere. O sal infatuatum, quod non amara in dulcia, ut sal Elizei122, sed dulcia in amara aspidis ritu convertes. Nam regni huius suavitatem tibi iugiter exhibitam in acerbitatem ingratitudinis odiose convertisti. Oblitusne es, o inique collusor simplicium populorum, qualiter Cristus legifer noster precepit inimicos diligere, orare pro persequentibus et calumpniantibus ac benefacere hiis, qui nos oderunt123 ? Tu fautores et fotores tuos infamando et corrumpendo deprimis ac perswades demonis swasione occidi. Iubet enim Apostolus nulli malum pro malo reddetur124, tu mala pro bonis odiumque pro dilleccione refundis. O cornuta bestia eciam lamiarum crudelitatem propria ferocitate transiliens125. Ille nempe matres suas sequntur et diligunt, tu Boemorum gentem, ymmo et ipsam Montanorum plebem, odis et persequaris, cum ipsam non modo in animabus eorum ac fama laudabili cruente interimis, verum eciam ad interitum corporum et rerum sub | [fol. 149r] amoris tegimine perducere machinaris. Letargum itaque pateris beneficiorum tibi collatorum, sed insidiarum molimina, quibus in tuos benefactores desevias, memorie tenaci mandasti. Beatus, qui retribuet tibi retribucionem in caput tuum, quam tu nobis retribuisti sceleste. Utinam adhuc saperes et intelligeres ac novissima provideres teque ipsum saltim istis reprehenderes sermonibus et resipiscendo a ceptis, quibus hactenus gradiebaris itineribus impiorum, ad viam veritatis corde, ore et manu redires penitenciamque ageres in cinere et favilla, si forte, licet tarde, velit tui misereri Deus, qui eciam cruentissimum Manassen126, persequentem se suosque Saulum127, Petrum negantem128, se transfigentem Longinum129, sero eciam penitentem latronem130 in sinum sue reconciliacionis suscepit, ne tempore vero tuo tuis moriaris in peccatis etc. Explicit epistola Israelis ad sicofagam Montanorum.
122 Vgl. IV Reg. 2,20f. 123 Vgl. Matth. 5,44. 124 Vgl. Rom. 12,17. 125 Vgl. Lam. 4,3. 126 Vgl. II Par. 33. 127 Vgl. I Reg. 18–31. 128 Vgl. Matth. 26,69–75 ; Marc. 14,66–72 ; Luc. 22,55–62. 129 Vgl. Jacobi a Voragine Legenda aurea vulgo Historia Lombardica dicta, hg. v. Theodor Graesse (Lipsiae 21850) 202f.; Ioh. 19,34. 130 Vgl. Luc. 23,40–43.
Pavel Soukup
Kreuzzug und Universitätsmesse Zwei Leipziger Predigten aus der Zeit der Hussitenkriege
Die Hussitenzeit gilt als eine Blütezeit mittelalterlicher Propaganda. Das Spektrum der von den Hussiten genutzten Kommunikationskanäle macht ihre Außenwirkung zu einem exemplarischen Fall : nicht nur hussitische Satiren und Manifeste, sondern auch gesprochenes Wort und Bilder umreißen die Breite der angewandten Zeichensysteme1. Die Antwort der römischen Kirche und weltlichen Obrigkeiten, vom Papsttum und den Repräsentanten des Heiligen Römischen Reiches gesteuert, wurde jüngst ebenfalls als Kreuzzugs- bzw. Reformpropaganda charakterisiert2. Während die Anwendung des Terminus »Propaganda« als »deskriptive[r] Arbeitsbegriff für die Mittelalterforschung« kaum noch in Zweifel gezogen wird, bleibt das caveat von Karel Hruza zu beachten, von Propaganda nur in begründeten Fällen zu sprechen und so »die Durchsichtigkeit des wissenschaftlichen Diskurses zu erhalten«3. Die Kontroverse um den 1 Zu den Manifesten siehe die grundlegende methodologische Abhandlung von Karel Hruza, »Audite et cum speciali diligencia attendite verba litere huius.« Hussitische Manifeste : Objekt – Methode – Definition, in : Text – Schrift – Codex. Quellenkundliche Arbeiten aus dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung, hg. v. Christoph Egger, Herwig Weigl (MIÖG, Ergänzungsband 35, Wien–München 2000) 345–384. Zu Kommunikationsmedien der Hussitenzeit übersichtlich František Šmahel, Literacy and heresy in Hussite Bohemia, in : Heresy and literacy, 1000–1530, hg. v. Peter Biller, Anne Hudson (Cambridge 1994) 237–254 ; einen Überblick über neuere Studien bietet nun Pavel Soukup, Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck, in : Reformation als Kommunikationsprozess. Böhmische Kronländer und Sachsen, ed. Petr Hrachovec, Gerd Schwerhoff, Winfried Müller, Martina Schattkowsky (Norm und Struktur 51, Wien–Köln–Weimar 2021) 101–125. Für häufiger zitierte Handschriften werden folgende Abkürzungen benutzt : K = Biblioteka Jagiellońska w Krakowie, 2332 ; L = Universitätsbibliothek Leipzig, Ms 865 ; M = Universitätsbibliothek Leipzig, Ms 673 ; U = Uppsala universitetsbibliotek, C 220 ; W = Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu, Mil. II 30 ; Z = Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu, Mil. IV 83. 2 Birgit Studt, Legationen als Instrumente päpstlicher Reform- und Kreuzzugspropaganda im 15. Jahrhundert, in : Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter, hg. v. Gerd Althoff (Vorträge und Forschungen 51, Stuttgart 2001) 421–453 ; dies., …den boesen unglauben gantz vertilgen ? Zur Verknüpfung der causa fidei und der causa reformationis in der antihussitischen Propaganda von Papsttum und Konzil, in : Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11.–16. Jahrhundert), hg. v. Karel Hruza (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 6, Wien 2002) 153–165 ; Přemysl Bar, Protihusitská propaganda v písemnostech Zikmunda Lucemburského. Definice – dochování – texty [Antihussitische Propaganda in den Schriftstücken Sigismunds von Luxemburg. Definition – Überlieferung – Texte], in : Český časopis historický 114 (2016) 614–651. 3 Karel Hruza, Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit im Mittelalter, in : Propaganda, hg. v.
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hussitischen religiös-sozialen Reformentwurf generierte, wie jeder Konflikt, in erhöhtem Maße Gelegenheiten zu kommunikativem Handeln, das auf die Lenkung von Meinungen und Verhaltensweisen abzielte. Das allein berechtigt uns dennoch nicht, jede antihussitische Erklärung von vornherein als propagandistisch zu bezeichnen, zumal Propaganda keineswegs einer polemischen Textsorte entspricht, sondern erst durch eine spezifische Form ihres kommunikativen Einsatzes konstituiert wird4. Deshalb wird auch der Gegenstand dieses Beitrages, die hussitenfeindlichen Universitätspredigten, nicht vorschnell als Propaganda eingestuft. Den Herausforderungen der Quellenarbeit wird man schließlich kaum durch Etikettierung gerecht, sondern vielmehr durch die Einordnung der Texte in die mittelalterlichen Diskurspraktiken und die Beachtung des systemischen Funktionierens der öffentlichen persuasiven Kommunikation5. Die Kreuzzugspredigt zählt zu jenen Erscheinungen, die Historiker seit längerem ohne Bedenken als Propaganda bezeichnen. Nach dem Vierten Laterankonzil erweiterte sich das Wirkungsfeld der Kreuzzugswerbung beträchtlich. Zunehmend wurden Personen als Unterstützer geworben, die nicht tatsächlich in den Kampf zogen, womit man finanzielle Mittel für die Kriegsführung gewinnen wollte und eine möglichst umfassende spirituelle Unterstützung des Kreuzzugsunternehmens durch Gebet und andere Frömmigkeitsleistungen anstrebte6. Für das Spätmittelalter ist neben der freiwilligen Beteiligung der Bevölkerung, auf welche die Kreuzzugskampagnen abzielten, auch die Einbeziehung von verschiedenen Korporationen bezeugt. Die kirchlichen Verwaltungsorgane führten Votivmessen und Prozessionen ein, Ordens- und andere Gemeinschaften setzten sich in regelmäßigen Fürbitten zur Abwehr von »Ungläubigen« ein7. Im Kontext der Hussitenkriege wurde das Engagement der Wiener Universität detailliert untersucht. Nicht nur wurden dortige Theologen – konkret bekannt ist die Beauftragung des Nikolaus von Dinkelsbühl – von Kardinal Branda da Castiglione ab 1421 bis mindestens 1427 als regelrechte Kreuzprediger eingesetzt. Die Universität orDems. (wie Anm. 2) 9–25, hier 12. 4 Siehe ebd. 17f., sowie Birgit Studt, Geplante Öffentlichkeiten : Propaganda, in : Politische Öffentlichkeit im Mittelalter, hg. v. Martin Kintzinger, Bernd Schneidmüller (Vorträge und Forschungen 75, Ostfildern 2011) 203–236, hier 208–209. 5 So beschreibt das Anliegen des Mediävisten Hruza, Propaganda (wie Anm. 3) 14f. 6 Siehe jüngst The Fourth Lateran Council and the Crusade Movement. The Impact of the Council of 1215 on Latin Christendom and the East, hg. v. Jessalynn L. Bird, Damian J. Smith (Outremer 7, Turnhout 2018). 7 Am Beispiel der Hussitenkriege behandelt von Franz Machilek, Kardinal Branda da Castiglione und die Einführung der Votivmesse Contra Hussones (1421). Ein Beitrag zur Geschichte des Antihussitismus in Deutschland, in : Religion, Kultur, Geschichte. Beiträge zur historischen Kulturforschung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Festschrift für Klaus Guth zum 80. Geburtstag, hg. v. Heidrun Alzheimer, Michael Imhof, Ulrich Wirz (Petersberg 2015) 108–134.
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ganisierte darüber hinaus, teils in Zusammenarbeit mit Herzog Albrecht, regelmäßige »Ringveranstaltungen« in den städtischen Kirchen. Diese stationes, ab 1420 bis zum Ende der Hussitenkriege abgehalten, bestanden aus Messen mit kurzen Ansprachen für Volk und Klerus8. Während sich die antihussitischen Predigten der Wiener Magister außerhalb der üblichen Universitätsmessen abspielten, sind aus der Universität Leipzig zwei über den Hussitenkreuzzug handelnde Predigten erhalten, die direkt in missa uni versitatis gehalten wurden. Diese sollen im Folgenden untersucht werden. Der Predigtbetrieb in Leipzig unterschied sich kaum von anderen Universitäten der Zeit9. Gepredigt wurde während der regelmäßigen Universitätsmessen, im Rahmen des Theologiestudiums und bei besonderen Gelegenheiten. Jedem baccalaureus cursor der Theologischen Fakultät oblag die Pflicht, mindestens einmal pro Jahr vor seinen Kollegen zu predigen ; und darüber hinaus eigentlich jedes Mal, wenn es ihm auferlegt wurde (sicut sibi iniunctum fuerit, praedicare). Predigten der Bakkalare sollten den Theologiemagistern zur vorläufigen Korrektur vorgelegt werden, im Fall der sermones ad cle rum musste der Fakultät ein schriftliches Exemplar übergeben werden10. Die Leipziger Universitätspredigten (genauso wie verwandte Redeakte wie principia und recommen dationes) sind in relativ hoher Zahl überliefert und, im Vergleich mit anderen Universitäten des mittelalterlichen Reiches, auch verhältnismäßig gut erschlossen11. Die wohl bedeutendsten Zeugnisse der Universitätspredigt in Leipzig sind zwei lokale Hand 8 Christina Traxler, Firmiter velitis resistere. Die Auseinandersetzung der Wiener Universität mit dem Hussitismus vom Konstanzer Konzil (1414–1418) bis zum Beginn des Basler Konzils (1431–1449) (Wien–Göttingen 2019) 124–130 und 310–324. 9 Zur Gattung siehe Jacqueline Hamesse, La prédication universitaire : éloquence sacrée, éloquence profane ? In : Ephemerides liturgicae 105 (1991) 283–300 ; Phyllis B. Roberts, Medieval University Prea ching. The evidence in the Statutes, in : Medieval Sermons and Society. Cloister, City, University, hg. v. Jacqueline Hamesse, Beverly Mayne Kienzle, Debra L. Stoudt, Anne T. Thayer (Textes et études du Moyen Age 9, Louvain-la-Neuve 1998) 317–328 ; Sita Steckel, Universitätspredigten, in : Universitäre Gelehrtenkultur vom 13.–16. Jahrhundert. Ein interdisziplinäres Quellen- und Methodenhandbuch, hg. v. Jan-Hendryk de Boer, Marian Füssel, Maximilian Schuh (Stuttgart 2018) 539–558. 10 Die Statutenbücher der Universität Leipzig aus den ersten 150 Jahren ihres Bestehens, hg. v. Friederich Zarncke (Leipzig 1861) 549f.; Georg Buchwald, Die Leipziger Universitätspredigt in den ersten Jahrzehnten des Bestehens der Universität, in : Zeitschrift für Kirchengeschichte 36 (1915) 62–98, hier 84. 11 Georg Buchwald, Leipziger Universitätspredigten zu Ehren Friedrichs des Streitbaren und seiner Familie (1420–1428), in : Neues Archiv für sächsische Geschichte und Altertumskunde 35 (1914) 25–38 ; ders., Die Leipziger Universitätspredigt (wie Anm. 10) ; Redeakte bei Erwerbung der akademischen Grade an der Universität Leipzig im 15. Jahrhundert, hg. v. dems., Theo Herrle (Abhandlungen der philologisch-historischen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 36/5, Leipzig 1921) ; Anette Löffler, Alt Bekanntes neu entdeckt. Universitätspredigten Leipziger Theologen im 15. Jahrhundert, in : Jahrbuch für Universitätsgeschichte 9 (2006) 247–260 ; Christopherus Laurentii de Holmis, Sermones, Disputatio in vesperiis et Recommendatio in aula. Academic Sermons and Exercises from the University of Leipzig, 1435–1438, hg v. Alexander Andrée (Stockholm 2012) ; Swedish Students at
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schriften, Ms 865 und Ms 866. Sie stammen aus dem Besitz der Leipziger Theologischen Fakultät bzw. des Großen Fürstenkollegs. Die Angabe am Vorderdeckel charakterisiert den Inhalt der ersten Handschrift als sermones et recommendaciones et aliqua principia in theologia ; sie enthält 95 Texteinheiten. Die zweite Handschrift besteht aus zwei Teilen, einem Liber sermonum facultatis theologice mit 52 Predigten und einem Liber questio num mit 20 Disputationen, sowie aus weiteren Lagen mit gelehrtem Schrifttum12. An die Quellenfülle akademischer Rhetorik in diesen beiden Handschriften kommen, soweit mir bekannt ist, nur wenige andere Codices heran. Der Leipziger Codex Ms 673 stammt aus dem Besitz des dortigen Theologen Johannes Große von Gera, der ihn dem Kleinen Fürstenkolleg 1456 als Legat hinterließ. Im letzten Teil finden sich neben 19 verschiedenen, meist Konzilspredigten, auch 20 Universitätspredigten aus Leipzig13. Die Handschrift Mil. II 30 aus der ehemaligen Milich’schen Bibliothek in Görlitz, heute in der Universitätsbibliothek Breslau aufbewahrt, ist um 1475 im Görlitzer Minoritenkonvent bezeugt und enthält im ersten Teil 44 Universitätspredigten und Festreden14. Der Breslauer Codex Mil. IV 83 blieb in der einschlägigen Forschung bisher fast unbeachtet15. Er gehörte den Leipziger Theologen Andreas Rüdiger und (seit 1496) Paul Schwoffheim von Görlitz ; danach gelangte er über die Bibliothek der Görlitzer Minoriten in die Milich’sche Sammlung. Er beinhaltet Abhandlungen, Exzerpte und Beispiele zur Rhetorik, Reden, Musterbriefe sowie mehrere artes memorandi. Das Briefcorpus schließt neben Leipziger Angelegenheiten auch Briefe Bernhards von Clairvaux, Humberts de Romans an Albert den Großen, Schreiben von und an Johannes Kapistran sowie einen Brief von Hermann Talheim betreffend Nikolaus von Kues ein16. Universitäre Eloquenz wird von über 50 recommendationes und principia vertreten – darunter the University of Leipzig in the Middle Ages. Careers, Books, and Teachings, hg. v. Olle Ferm, Sara Risberg (Stockholm 2014). 12 Zu den Handschriften siehe die vorläufigen Beschreibungen von Almuth Märker unter http://www. manuscripta-mediaevalia.de [letzter Zugriff : 18.12.2020], zu Ms 866 auch Christopherus Laurentii, hg. Andrée (wie Anm. 11) 40–42 und 328–338. 13 Zum Codex siehe Löffler, Alt Bekanntes (wie Anm. 11). 14 Stanisław Kądzielski, Wojciech Mrozowicz, Catalogus codicum Medii Aevi manuscriptorum qui in Bibliotheca Universitatis Wratislawiensis asservantur signa 6055–6124 comprehendens (Codices Milichiani 1, Wrocław 1998) Nr. 6083. 15 Eine Ausnahme bildet der knappe Beitrag von Pavel Spunar, Dvě rukopisná bohemika [Zwei handschriftliche Bohemica], in : Strahovská knihovna 5–6 (1970–1971) 147–153, der die Verse über den Tod von Ladislaus Posthumus edierte. 16 S. Bernardi Opera 7, hg. v. Jean Leclercq, Henri Marie Rochais (Roma 1974) Nr. 98 (zu fol. 344r– 345r) ; Thomas Kaeppeli, Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi 2 (Roma 1975) Nr. 2024 (zu fol. 317r–v) ; Ottokar Bonmann, A Provisional Calendar of St. John Capistran’s Correspondence. Part II, in : Franciscan Studies 50 (1990) 323–403, Nr. 331 und 384 (zu fol. 66r–67v und 327r–v) ; Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues I/3b, hg. v. Erich Meuthen (Hamburg 1996) Nr. 1992 (zu fol. 67v–69r).
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einige aus Padua, die meisten aber aus Leipzig. Hinzu kommen Quaestiones und Sofismata sowie zwei Leipziger Universitätspredigten17. Die Uppsalaer Handschrift C 220, vermutlich von einem Studenten aus Leipzig mitgebracht und in der Folge im Kloster Vadstena aufbewahrt, enthält (neben anderen Schriften) auch über zwanzig sermones ad clerum, darunter viele Leipziger Universitätspredigten, sowie weitere recommendatio nes und principia18. Nach heutigem Erkenntnisstand finden sich kleinere Gruppen von Leipziger Universitätsreden in weiteren Handschriften in Leipzig und Krakau ; vereinzelt auch in Prag19. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand erscheint die Leipziger Universitätspredigt in erheblichem Maße als politisch konnotiert. Eine nicht geringe Anzahl der Kanzelreden wurde aus verschiedenen mit dem Fürstenhaus verbundenen Anlässen gehalten20. Der Markgraf von Meißen, Friedrich der Streitbare, und sein Bruder Wilhelm wurden von den Magistern als Universitätsgründer gepriesen ; akademische Gottesdienste wurden anlässlich der Geburt von Friedrichs Kindern, seiner Beförderung zum sächsischen Kurfürsten 1423, seiner Beisetzung 1428 und anderen Gelegenheiten gefeiert21. In unserem Zusammenhang fällt auf, dass im Lob der beiden Markgrafen oft auch ihre Rolle
17 Neben der Predigt des Georg von Altzelle (siehe unten) handelt es sich um die Ansprache Andreas’ von Brod anlässlich des Besuchs des Kölner Erzbischofs Dietrich von Moers vom Herbst 1422, vgl. Jaroslav Kadlec, Studien und Texte zum Leben und Wirken des Prager Magisters Andreas von Brod (Münster 1982) 76, Nr. 15. 18 Margarete Andersson-Schmitt, Monica Hedlund, Mittelalterliche Handschriften der Universitätsbibliothek Uppsala. Katalog über die C-Sammlung 3 (Stockholm 1990) 72–83 ; Roger Andersson, Sacred Eloquence on Christmas Day at the Universities of Leipzig and Vienna, in : Swedish Students, hg. Ferm, Risberg (wie Anm. 11) 67–91, hier 89. 19 Siehe Universitätsbibliothek Leipzig, Ms 158, 204, 1236 und 1478 ; dazu Buchwald, Die Leipziger Universitätspredigt (wie Anm. 10) 84, sowie Redeakte, hg. Buchwald, Herrle (wie Anm. 11) 9–12. Die Handschrift K, die Ende des 15. Jahrhunderts der Krakauer Universität zufiel, enthält Predigten zur Geistlichkeit aus Leipzig, Krakau, Breslau, Siebenbürgen, Wien und vielleicht auch Prag ; zur Verfügung steht nur die knappe Beschreibung bei Władysław Wisłocki, Catalogus codicum manuscriptorum Bibliothecae Universitatis Jagellonicae Cracoviensis 2 (Kraków 1881) 555f. Der Bestand des Archiv Pražského hradu, Knihovna Metropolitní kapituly bewahrt in den Codices D 18 und F 19 eine Leipziger recommendatio des Andreas von Brod und fünf Universitätspredigten des Prokop von Kladruby : Adolf Patera, Antonín Podlaha, Soupis rukopisů knihovny Metropolitní kapitoly pražské [Verzeichnis der Handschriften der Bibliothek des Prager Metopolitankapitels] 1–2 (Praha 1910–1922) Bd. 1, Nr. 584 ; Bd. 2, Nr. 865 ; vgl. Kadlec, Studien (wie Anm. 17) 76, Nr. 16 ; Pavel Spunar, Repertorium auctorum Bohemorum provectum idearum post universitatem Pragensem conditam illustrans 1 (Studia Copernicana 25, Wrocław u. a. 1985) Nr. 994. 20 Aus anderen Universitäten sind mir solche Predigten nicht bekannt, mit Ausnahme von Seelenmessen für die Gründer. Zu Prag vgl. Pavel Soukup, Reformní kazatelství a Jakoubek ze Stříbra [Die Reformpredigt und Jakobell von Mies] (Praha 2011) 264. 21 Dazu eingehend Buchwald, Universitätspredigten zu Ehren Friedrichs (wie Anm. 11).
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als Streiter gegen die hussitische Ketzerei betont wird22. So stellte Hermann Torgaw in seiner Predigt vom 24. Mai 1422, gehalten anlässlich der Geburt von Friedrichs Sohn Heinrich, den glücklichen Vater als zweiten Judas Makkabäus vor23. Ein Zeichen der »wirksamen Weisheit« (prudencia in effectu), die den Vollkommenen eigen ist, sei nach dem Prediger, dass sie den Glauben verteidigen und, wenn nötig, auch dafür sterben. Genau das habe Markgraf Friedrich getan, wenn er seinen Körper, seinen Besitz und seine Untertanen im Kampf gegen die glaubensbrüchigen Häretiker einsetzte, viele von ihnen vernichtete und mehrere Burgen wie ein alter Machabeus verteidigte24. Kurz ging auch Andreas von Brod in seiner Predigt vom 24. Januar 1423 zu Friedrichs vorläufiger Belehnung mit Sachsen auf den Hussitenkampf ein, wenn er auf des Herzogs erfreuliche Verdienste hinwies25. Bei derselben Gelegenheit, nur drei Wochen später, sprach Peter Storch Friedrichs Kampf gegen die Hussiten erneut an26. Er lieferte die etwas überraschende Information, König Sigismund habe Friedrich zum Statthalter in Böhmen ernannt (gubernator Regni Bohemie constitutus est) – vielleicht ein Hinweis auf Sigismunds Verpfändungen in Nordwestböhmen zugunsten des Markgrafen vom 29. August 142227 ? In dieser Eigenschaft oblag es Friedrich, im Sinne der Worte Isaias (1, 10 : »Am heutigen Tag setze ich dich über Völker und Reiche ; du sollst ausreißen und niederreißen, vernichten und zerstören, aufbauen und einpflanzen«) die ketzerischen Sekten mit Gewalt auszurotten. Er sollte mit der ausgebildeten hussitischen Geistlichkeit beginnen und diese durch katholische Prediger ersetzen28. 22 Zusammenfassend zur wettinischen Auseinandersetzung mit dem Hussitismus Thomas Krzenck, Ad Saxoniam contra catholicos. Leipzig im Fokus der Vier Prager Artikel, in : Das religiöse Leipzig. Stadt und Glauben vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. v. Enno Bünz, Armin Kohnle (Leipzig 2013) 113–142, mit Nennung der Predigten auf S. 130. 23 Überliefert in L, fol. 25v–26v, und W, fol. 101r–103r. Vgl. Buchwald, Universitätspredigten zu Ehren Friedrichs (wie Anm. 11) 29–31. 24 Quod revera fecisse dinoscitur illustris ac gloriosus vir, marchio Fredricus, Misne dominus, qui corpus et res, ymmo et populum strenuum sibi creditum congregando cum fidefragis ac prophanis hereticis audaciter expo suit ac plurimis viarum discriminibus ac periculis in falsis fratribus se submisit, ut Christum lucrifaceret ac plurimos ex eis armata manu prostravit et velud alter Machabeus castra gladio protexit, sicud fama celebris desuper habita longe lateque declarat. L, fol. 102v ; vgl. W, fol. 102v. 25 Quantaque contra hereticos fecerit, tota super hoc christianitas gaudet. K, fol. 155r–158r (Zitat fol. 156v– 157r) ; L, fol. 124v–130v (Zitat fol. 125v) ; M, fol. 284r–285v (Zitat fol. 284v) ; W, fol. 247r–249r (Zitat fol. 248r). Vgl. Kadlec, Studien (wie Anm. 17) 75, Nr. 16 ; Spunar, Repertorium (wie Anm. 19) Nr. 745 ; Löffler, Alt Bekanntes (wie Anm. 11) 254f.; Buchwald, Universitätspredigten zu Ehren Friedrichs (wie Anm. 11) 31–35. 26 K, fol. 150v–154r ; L, fol. 37v–39r. Siehe Buchwald, Universitätspredigten zu Ehren Friedrichs (wie Anm. 11) 35. 27 Urkundliche Beiträge zur Geschichte des Hussitenkrieges 1, hg. v. Franz Palacký (Prag 1873) Nr. 206f. 28 Postremo gubernator Regni Bohemie constitutus est a prefato invictissimo et gloriosissimo rege Sigismundo etc., qui utique eum constituendo potuit dicere illud, quod scribitur Jere. primo : »Ecce constituo te hodie
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Eine Retrospektive der Kreuzzugsbemühungen Friedrich des Streitbaren bietet die universitäre Leichenpredigt auf den verstorbenen Fürsten vom 8. Februar 142829. Sie wurde von einem Bischof gehalten, dessen Identifizierung allerdings nicht eindeutig ist. Georg Buchwald bezog die Überschrift per … episcopum M. auf den Merseburger Bischof Nikolaus Lubich, der lokal für Leipzig zuständig war und die Funktion des Universitätskanzlers innehatte. Die Verbindung Lubichs zur Universität war besonders eng – er war es, der die päpstliche Genehmigung zur Universitätsgründung erwirkte, und später in Konstanz fungierte er unter anderem als Beauftragter der Universität30. Doch der paläographische Befund lässt auch eine andere Deutung zu. Das Zeichen, welches Buchwald als et las, ist in Wirklichkeit eine nicht völlig klare Majuskel, etwa ein J (nicht aber ein N wie Nicolaus). Die Worte per reverendum in Christo patrem, dominum J., episcopum M. könnten also sehr gut auch auf Johannes Hoffmann, Bischof von Meißen deuten. Hoffmanns Verbindung mit der Hochschule war womöglich noch enger als die Lubichs : als Mitglied der Gründungsgeneration und langjähriger Professor an der Universität wurde er erst 1427 Bischof von Meißen31. Von Bedeutung kann allerdings sein, dass Hoffmann nicht in Konstanz gewesen war, wohingegen die Predigt die Herrlichkeit von Friedrichs Einzug am Konzil schildert32. Die Frage der Verfasserschaft muss also offen bleiben. Die Leichenpredigt liest sich als eine Abhandlung über den Tod im Allgemeinen, mit mehrfachen Abfolgen von Fragen und Antworten ; mit dem Verstorbenen befasst sich nur ein kleiner Teil. Nichtsdestoweniger wird dem Kampf gegen die Hussiten viel Aufmerksamkeit gewidmet. Die ganze Christenheit sollte das Ableben des Kurfürsten beklasuper gentes et super regna, ut evellas et destruas et disperdas et edifices et plantas.« … Et vade et interfice et percute contra eos pugnando et non parcas eis. … Primo a capite incipias iuxta illud Eze. IXo[,6] : »A sanctu ario meo incipite,« scilicet a sacerdotibus, magistris et literatis primiceriis et malis et ignaris … »Et plantes« predicatores literatos catholicos ibi ponendo, qui doctrina eorum salubri infirmos et debiles in fide erudiant et doceant. L, fol. 38v–39r ; vgl. K, fol. 152v–153v. 29 L, fol. 252r–262r ; M, fol. 292r–302r. Vgl. Buchwald, Universitätspredigten zu Ehren Friedrichs (wie Anm. 11) 36–38. 30 Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1198 bis 1448. Ein biographisches Lexikon, hg. v. Erwin Gatz, Clemens Brodkorb (Berlin 2001) 437f.; Enno Bünz, Gründung und Entfaltung. Die spätmittelalterliche Universität Leipzig 1409–1539, in : Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009 1, hg. v. dems., Manfed Rudersdorf, Detlef Döring (Leipzig 2009) 21–325, hier 66f., 292f. 31 Franz Machilek, Johannes Hoffmann aus Schweidnitz und die Hussiten, in : Archiv für schlesische Kirchengeschichte 26 (1968) 96–123 ; Blanka Zilynská, Johann Hoffmann. Prager Student, antihussitischer Repräsentant und Bischof von Meißen, in : Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 49 (2009) 81–98. 32 Pro cuius ostensione inter plura sufficit istud et unicum eius factum, quo tam decentissime, tam ornantis sime ac tam solempnissime pro honore fidei christiane civitatem intravit Constanciensem tempore concili ibidem celebrati. Nullus simpliciter principum tam spiritualium quam secularium tantum ecclesie exhibuit apparatum, sicut princeps noster, qui cecidit. L, fol. 257v ; vgl. M, fol. 297v. Zu Hoffmanns Absenz siehe Zilynská, Hoffmann (wie Anm. 31) 92.
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gen, denn es verschied ein »überaus standhafter Bezwinger von Ketzern und Hussiten«. Die Wundertaten, die Friedrich 1420 vor Prag geleistet habe, seien allen bekannt, da er sich als erster von allen Fürsten auf den Kampf eingelassen habe. Dass es die Niederlage der meißnischen Truppe auf dem Berg Vítkov war, die das Scheitern des ersten Kreuzzugs entschied, verschweigt der Prediger33. Er versäumt aber nicht die Gelegenheit, den Sieg der Meißner bei Brüx (Most) 1421 anzupreisen. Wäre der Herzog 1426 in der Schlacht bei Aussig (Ústí nad Labem) anwesend gewesen, hätten die Ketzer kaum triumphiert. Er habe nie einen Waffenstillstand mit den Häretikern abgeschlossen und sei bereit gewesen, im Kampf gegen die Hussiten sogar seine Ländereien wirtschaftlich zu ruinieren34. Auch in der Leichenpredigt für den Markgrafen Wilhelm wurden dessen Verdienste im Abwehrkampf gegen die Hussiten betont. Die Rede des Peter Storch, von der bisherigen Forschung unbeachtet, gehört wohl in den April 1425 (Wilhelm starb am 30. März)35. Aus Liebe zu Gott habe Wilhelm gegen »Wyclifiten und andere Ketzer« gekämpft, entweder persönlich, oder in Vertretung durch seine Leute36. Der Predigt schließen sich Fürbitten an, die wiederum das Thema des Hussitenkriegs aufgreifen. Für König Sigismund habe die Universität gebetet, damit er die Rebellen gegen die Kirche bezwinge. Friedrich dem Streitbaren und seinem Sohn Friedrich solle man ebenso Kriegsglück erbitten ; besonders möge der Herr dem sächsischen Herzog Zuflucht vor den Häretikern gewähren37. 33 Siehe zuletzt Petr Čornej, Jan Žižka. Život a doba husitského válečníka [ Jan Žižka. Leben und Zeitalter eines hussitischen Heerführers] (Praha 2019) 283–287. 34 Nam quam deiector constantissimus hereticorum et Hussitarum fuerit princeps noster, qui cecidit, tota cris tianitas si scire cupit, omnino scire poterit per evidenciam facti, nam contra Hussitas hereticos ante Pragam magnalia cum suo exercitu quasi primus inter alios principes agere attemptavit, ipsos fortiter aggrediendo, et contra eosdem prope civitatem Pontensem stragem perfecit insignem, totam christianitatem letificantem. Et utinam fuisset presens in bello 2o, procul dubio per graciam Christi et per prudenciam nostri principis minime heretici sic traditorie suum intentum obtinuissent. Predictis Hussitisque constantissime repungnavit, defendens contra eos fines, civitates et castra christianorum, ac eciam cum perfidis Hussitis nunquam treugas infidelis pacis finales inire voluit, licet pluries de hiis fuerit attemptatus. Thezaurum quoque suum ingentem contra Hussitas militantibus in dativum et donativum liberaliter erogavit. Insuper pene omnes suarum terra rum homines, tam nobiles quam ignobiles, ac semetipsum exposuit contra dictos heresis propugnatores, nedum in ipsorum corporibus et personis propriis, sed et eorum possessionibus, rebus, pecuniis et substanciis cum omni quasi suppellectili, quam habebant, unde ferme se cum suis terris et subditis pro fide Christi defendendo de pauperavit. L, fol. 257r ; vgl. M, fol. 297r–v. 35 Sie ist in K, fol. 158v–163r, und abermals fol. 447v–451r überliefert. 36 Tantus eciam amor divinus in eo fervebat, ut pro ecclesia Dei orthodoxa et pro fide catholica viriliter ut leo rugiens contra Wiclevistas ceterosque hereticos et fidei obpugnatores se opposuit, nunc propria in persona con tra eos eundo, nunc populum suum contra eos transmittendo. K, fol. 161v. 37 Item oretis pro serenissimo rege, domino Sigismundo, Romanorum et Ungarie et Bohemie etc. rege, quate nus Dominus Ihesus Christus, tocius orbis gubernator, qui fecit ministrum et advocatum ecclesie sue, det ei robore cor accingi fortitudinis et virtutis, qua possit frontosos et rebelles ecclesie debellare et eidem subiacere et victoriam felici successu obtinere. Demum oretis attentissime et cordialissime pro magnificis et illustribus
Kreuzzug und Universitätsmesse
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Zu den möglichen Anlässen einer Universitätsmesse zählte neben politischen und Familienereignissen auch der Ketzerkreuzzug. Zwei akademische Predigten aus Leipzig, eine von dem bereits zweimal erwähnten Peter Storch und die andere von Georg von Altzelle, hängen direkt mit den Kriegsvorbereitungen zusammen. Als am 9. Juni 1420 Hermann Schipmann von Lübeck seine Freude über die Geburt der Prinzessin Anna äußerte, lobte er die Markgrafen für die Stärke ihres Glaubens, die darin zum Ausdruck kam, dass sie sich demnächst persönlich auf den Weg machen wollten, um die Ketzer zu vernichten, die Kirche zu retten und die Ehre des römischen Königs zu rächen38. Eine Woche später stieg Magister Peter Storch von Zwickau auf die Kanzel hinauf, um eine Collacio in recessu marchionum ad regnum Bohemie contra hereticos zu halten. Die Predigt ist mir aus vier Handschriften bekannt ; sie folgt jedes Mal unmittelbar auf die Rede Schipmanns39. Ihr Autor, Peter Storch, studierte und lehrte die freien Künste in Prag (Magister 1397) und schrieb sich auch an der Juristischen Universität ein. 1409 wechselte er nach Leipzig, wo er 1413 das Lizenziat der Theologie und das Bakkalaureat der Rechte erlangte. Er vertrat die Universität am Konstanzer Konzil. Sein umfangreiches aristotelisch-boëthianisches Florilegium zur moralischen Philosophie stellte er bereits in Prag zusammen und las es in Leipzig weiterhin vor. Er hinterließ außerdem einen Kommentar zur Apokalypse40. principibus, domino Fredrico Seniori, pro nunc Dei gracia duce Saxonie, et pro Frederico Iuniori, patruo suo, Thuringie lanthgraviis et Misne dominis, huius alme universitatis fundatoribus, ut Deus fortitudinis et victorie doceat manus ipsorum ad prelium et ponat [ut fehlt] arcum ereum brachia eorum [Ps 17, 35], detque eis proteccionem salutis sue, ut sciant gentes, id est gentiliter viventes, quoniam Deus protector eorum est [vgl. Ps 9, 11]. Et singularissime, ut Dominus Ihesus Christus sit duci Saxonie domino Fredrico Seniori refugium a circumdantibus eum, scilicet a perfidis hereticis, et exaltentur manus eius super omnes hostes eius [Mich 5, 9], et ut illud Scripture sibi efficaciter et effectualiter inspiretur a Deo : »Esto vir fortitudinis et preliare bella Domini« [1 Rg 18, 17], similiter et illud : »Viriliter age et confortetur cor tuum« [Ps 26, 14]. K, fol. 162v–163r. 38 Sed dixi 2o, quod ipsorum bonitas attenditur in fidei strenuitate. Ipsi namque propter fidei katholice defensio nem et sancte ecclesie Dei conservacionem necnon Romanorum regis honorem de proximo in propriis personis terram exibunt, se et omnia sua periculis exponentes, hereticam pravitatem, que hes [!, wohl für hanc (so W)] sanctam ecclesiam in suis membris modernis temporibus nimis graviter perturbavit, viriliter et fortiter extinc turi. L, fol. 86v–87v (Zitat fol. 87v), vgl. K, fol. 281v–282v (Zitat fol. 282v) ; U, fol. 131r–132v (Zitat fol. 132r) ; W, fol. 65v–67r (Zitat fol. 66v). Vgl. Buchwald, Universitätspredigten zu Ehren Friedrichs (wie Anm. 11) 28f.; Löffler, Alt Bekanntes (wie Anm. 11) 253f. 39 K, fol. 282v–284r ; L, fol. 87v–89r ; U, fol. 132v–134r ; W, fol. 96r–97v. Zur Überlieferung siehe Josef Tříška, Příspěvky k středověké literární universitě III [Beiträge zur mittelalterlichen Universitätsliteratur III], in : Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 10/1 (1969) 7–48, hier 39, Nr. 43 ; Pavel Spunar, Z rukopisných bohemik v Uppsale [Aus den handschriftlichen Bohemica in Uppsala], in : Listy filologické 94 (1971) 227–233, hier 230 ; Löffler, Alt Bekanntes (wie Anm. 11) 254 und 259 ; zur Datierung Buchwald, Universitätspredigten zu Ehren Friedrichs (wie Anm. 11) 29. 40 Josef Tříška, Životopisný slovník předhusitské pražské univerzity 1348–1409 [Biographisches Lexikon der vorhussitischen Prager Universität 1348–1409] (Praha 1981) 462 ; Die deutsche Literatur des Mit-
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Die Predigt spiegelt alle diese Interessen des Autors wider : Aristoteles und Boëthius werden schon in der Einleitung zitiert, später kommen auch Rechtsquellen zu Wort. De bemus animas nostras pro fratribus nostris ponere, »wir müssen für unsere Brüder unser Leben (wörtlich : unsere Seelen) hingeben« (1 Joh 3, 16), lautete das Thema des Tages. Ohne eine übliche divisio thematis vorzunehmen, unterschied Peter nichtsdestoweniger eine mehrfache Bedeutung der Schlüsselbegriffe : es gebe zweierlei Brüder – natürliche (leibliche) und geistige ; in die letztgenannte Kategorie gehöre zuerst Christus, dann auch alle Nächsten. Das Leben bzw. die Seele für Christus hinzugeben bedeute – und hier nähert sich Peter bereits dem aktuellen Anlass an – den Glauben zu schützen und dessen Feinde zu zerstören. Das müsse jeder Mensch standesgemäß tun : die Geistlichen durch Gebete, die weltlichen Herren durch physische Macht, das Volk durch allerlei Mithilfe für die Ausrottung der Feinde. So werde die gesellschaftliche Harmonie gewahrt41. Die Feinde werden sogleich als Häretiker, »tote Glieder« der Kirche, identifiziert. Die Aufgabe der Geistlichkeit wird hoch gepriesen, denn im Kampf gegen Amalek habe Mose viel mehr geleistet als Josua. Dieses Motiv ist aus der mittelalterlichen Kreuzpredigt gut bekannt42. Bereits Urban II. ging im allerersten Kreuzzugsaufruf von einer Rollenteilung aus und legte dem Priesterstand das Gebet im Sinne des Mose auf. An dieser Stelle sei ergänzend auf das Handbuch De praedicatione crucis des Humbert de Romans hingewiesen. Das Exodus-Zitat über Amalek (Ex 17, 11) wurde dort gemeinsam mit einem anderen Vers zugunsten des Gebets – Judith 8, 33 – verwendet43. Auch dieses Judith-Zitat, eine Ermunterung vor dem Weg zu Holofernes, verwendete Peter Storch, wenn er die beiden Markgrafen ansprach und Gebete für eine gute Reise zusammentrug44. Nach einem obligatorischen, eher zahnlosen Versuch einer Kritik der Verhältnisse (quid dicam de prelatis modernis ?) kommt Peter Storch im zweiten Teil, der über die Nächstenliebe handelt, rasch wieder auf die Kriegsfertigen meißnischen Markgrafen telalters. Verfasserlexikon 1–14, hg. v. Burghart Wachinger (Berlin–New York 21978–2008) Bd. 9, Sp. 362–364 (F. J. Worstbrock) ; Bünz, Gründung und Entfaltung (wie Anm. 30) 293. 41 Pro primo fratre, scilicet Christo, debemus animas nostras ponere eius fidem defensando et illius fidei inimicos eliminando et exterminando et quilibet secundum suum officium ad hoc cooperando, videlicet persone eccle siastice per devotas oraciones pro illius perfide heresis extinccione Deum suppliciter deprecando ; alii, scilicet seculares principes, comites, barones etc. per potenciam secularem fidem Christi protegendo ; et alii, scilicet populares, aliis aminiculis pro eis exterminacione cooperando. Nam sic singula tunc locum decenter in re publica tenebunt, si non fuerit officiorum confusio, sed distribucio. L, fol. 88r ; vgl. K, fol. 283r ; U, fol. 133r ; W, fol. 96v. 42 Miikka Tamminen, Crusade Preaching and the Ideal Crusader (Sermo 14, Turnhout 2018) 66–70. 43 Humbertus de Romanis, De predicatione crucis, hg. v. Valentin Portnykh (Corpus christianorum. Continuatio mediaevalis 279, Turnhout 2018) 18, zu Urban II. siehe ebd. 170. 44 Hoc enim intimis ex visceribus exoptant vere magnifici principes, domini nostri graciosissimi, marchiones etc., forte scientes fructum oracionis, qui fit pro remerantibus. L, fol. 88v ; vgl. M, fol. 283r ; U, fol. 133v ; W, fol. 96v.
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zu sprechen. Diese seien bereit, für ihre Nächsten, die von Ketzern bedrängten Christen in Böhmen, ihr Leben sowie ihre Güter hinzugeben45. Als Vorbilder werden hier Josef und die Söhne des Matathias genannt – der erste als jemand, der sich seines Bruders erbarmte (Gen 43, 30), die anderen als Brüder des Judas Makkabäus (1 Mcc 3, 4) und zugleich als prominentes Modell für die mittelalterlichen Kreuzfahrer46. Der zur Schau gestellte gelehrte Apparat der Predigt des Peter Storch wurde oben bereits angesprochen. Neben Philosophen und Kirchenvätern werden beispielsweise auch fünf Verse aus dem Speculum stultorum des Nigel de Longchamps angeführt47. Noch interessanter erscheinen jedoch die verschwiegenen Quellen. An mindestens zwei Stellen hat nämlich Peter Storch stillschweigend Konstanzer Konzilspredigten benutzt. Die Bescheidenheitstopik in seiner Einleitung wurde teilweise der Predigt Resistite fortes entnommen, die Stephan Páleč in Konstanz am 5. Juli 1416 vorgetragen hatte48. Peter Storch kannte Páleč zweifelsohne aus Prag ; in Konstanz dürfte die beiden Magister ihre antihussitische Einstellung zusammengeführt haben. Eine weitere Quelle erregte wegen der Prominenz des Predigers und Anlasses Aufmerksamkeit. Als Storch anlässlich der Abreise der Markgrafen nach Böhmen sprechen sollte, kam ihm Jean Gersons Predigt Prosperum iter in den Sinn, die der Pariser Kanzler am 21. Juli 1415 anlässlich der Abreise König Sigismunds aus Konstanz nach Narbonne hielt, und Storch lieh sich daraus einige hübsch formulierte Reisewünsche aus49. Die Benutzung der Konzilsreden in Leipziger Universitätspredigten ist außerdem durch folgendes Beispiel belegt : Kristoffer Larsson, Teilnehmer des Basler Konzils, hat nach seiner Rückkehr nach Leipzig ebenfalls eine Konzilspredigt ausgeschöpft und sogar die Hälfte seiner Weihnachtspredigt von 1435 daraus kopiert50. Die 45 Hac ergo sancta amonicione sancti Iohannis apostoli magnifici et illustrissimi principes, domini nostri gra ciosissimi et fundatores huius universitatis christianissimi, puta dominus Fredericus Senior, germanus suus dominus Wilhelmus, landgravii Doringie et marchiones Misne, … tacti et moniti Spiritus sancti gracia coope rante, animas eorum, id est vitam corporalem, … et eorum omnia dominia et bona exteriora … pro fratribus eorum, scilicet Christo precipue, … et pro proximis eorum christicolis captivis et tribulatis in Regno Bohemie a captivitate perfidorum hereticorum liberando et in tribulacionibus positis eos confortando parati sunt animas eorum ponere, in hoc utique sequentes vestigia beati Ioseph et filiorum Mathathie. L, fol. 88v–89r ; vgl. M, fol. 283v ; U, fol. 134r ; W, fol. 97v. 46 Tamminen, Crusade Preaching (wie Anm. 42) 59–66 ; Christoph Auffahrt, Irdische Wege und himmlischer Lohn. Kreuzzug, Jerusalem und Fegefeuer in religionswissenschaftlicher Perspektive (Göttingen 2002) 123–150. 47 Nigel de Longchamps, Speculum stultorum, hg. v. John H. Mozley, Robert R. Raymo (Berkeley 1960) 48 und 74, Verse 753f. und 1954–1956. 48 Magnum oecumenicum Constantiense concilium 1, hg. v. Hermann von der Hardt (Frankfurt–Leipzig 1697) Sp. 823. 49 Jean Gerson, Œuvres complètes 5, hg. v. Palémon Glorieux (Paris u. a. 1963) 471f. 50 Christopherus Laurentii, hg. Andrée (wie Anm. 11) 15f., vgl. 84–106 ; Andersson, Sacred Eloquence (wie Anm. 18) 83–89.
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breite Überlieferung der Konzilspredigten findet in der sukzessive zutage tretenden Wiederverwendung des konziliaren Predigtgutes ihre Begründung. Auch aus der Predigt Georgs von Altzelle wird ersichtlich, dass die Vorbereitungen zu einem Kreuzzug in vollem Gange waren. Die Predigt über die Worte Parata sunt omnia (»Alles ist bereit,« Lk 14, 17) trägt die Überschrift Sermo contra Hussitas et Viclefistas51. Es handelt sich allerdings um keine Widerlegung von hussitischen Lehren, sondern um eine Invektive, die auf nichts anderem als antihäretischen Klischees und apriorischer Ablehnung beruht52. In der introductio thematis bietet sie eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen den »Gefäßen der Ungerechten«, die zur ewigen Schmach verurteilt seien, und den »Gefäßen der Auserwählten«, die zur ewigen Belohnung vorgesehen seien. Die ersteren seien die böhmischen Hussiten, die letzteren dann »die auserwählten Kreuzfahrer und die mit dem Zeichen des Kreuzes treu Gekennzeichneten«53. Die Häretiker beschreibt Georg mit Worten aus dem Kommentar des heiligen Hieronymus zu Hosea, der ihm übrigens die ganze Predigt hindurch als Wegweiser dient. Das erklärt sich damit, dass der Autor wohl zur selben Zeit, als er predigte, als baccalaureus cursor an der Theologischen Fakultät eben das Buch Hosea las54. In der Tat macht die Predigt den Eindruck eines Anfängerwerkes. Während Georg die Ketzer zunächst mit Johannes Hus und seiner Rezeption der wyclifistischen Lehren verbindet, erwähnt er bei den electi die Kreuzpredigt und Kreuznahme, wobei er das Geschehen mit dem Wort hodie als gleichzeitig charakterisiert55. Weiters spricht er auch von der Auferlegung der Buße, die mit dem Kreuzzugsgelübde 51 Die Predigt ist in vier Handschriften überliefert : L, fol. 199v–201v ; M, fol. 315r–317v ; W, fol. 98r– 101r ; Z, fol. 55r–58v. Erwähnt von Buchwald, Die Leipziger Universitätspredigt (wie Anm. 10) 64 und 88 ; Machilek, Hoffmann (wie Anm. 31) 109 ; Spunar, Dvě rukopisná bohemika (wie Anm. 15) 151 ; Löffler, Alt Bekanntes (wie Anm. 11) 256 und 259. 52 Der einzige hussitische Lehrsatz, den Georg von Altzelle erwähnt, ist die angebliche Verwerfung des kirchlichen Verständnisses des Priestertums, die allerdings vom hl. Hieronymus entlehnt ist (siehe unten Anm. 54) : Possum ipsum Wyclef non incongrue significare et per principes ipsum dampnabilem Iohannem Huß cum socio suo Ieronimo, qui prepositi hereticorum et aliquorum Bohemorum populis falsum sibi vendica verunt sacerdocium, verum sacerdocium Christi abnegantes, quod tamen hodie sancta Romana ecclesia tenet et approbat. L, fol. 200v ; vgl. M, fol. 316r ; W, fol. 99r ; Z, fol. 56v. 53 Prima vasa sunt abscisi heretici et perversi Bohemorum Hussite, 2a vasa sunt electi cruciferi et caractere crucis fideliter insigniti. L, fol. 199v–200r ; vgl. M, fol. 315v ; W, fol. 98v ; Z, fol. 55v. 54 Siehe das Principium magistri Georgii de Cella in cursis prophete Ozee in L, fol. 178v–183r ; dazu Redeakte, hg. Buchwald, Herrle (wie Anm. 11) 10. In der Predigt werden S. Hieronymi Presbyteri Opera 6. Commentarii in prophetas minores, hg. v. Marc Adriaen (Corpus christianorum. Series Latina 69, Turnhout 1969) 12–13, 20, 64, 72–73, 77–81, 86–87 und 129 benutzt. 55 Talis ad instar erat Iohannes Huß nostris temporibus, Wiclephistarum nequiciis inbutus … Sed e contrario beatus Paulus de numero vasorum, qui crucis Christi gloriam predicarunt et hodie insingniti ipsam ferunt … In quo vase sicut et in multis aliis electis vel signo crucis hodie munitis fidei confessione honoratur Christus, L, fol. 200r ; vgl. M, fol. 315v–316r ; W, fol. 98v ; Z, fol. 56r.
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zusammenhängt, und von den Fürbitten der Universitätsgemeinde für den Erfolg der gegen die Hussiten aufbrechenden Truppen. Mögen die Hussiten zu einem »Bogen, der versagt« werden, wünscht sich der Prediger mit Hosea (7, 16) und Hieronymus. Den Kreuzfahrern ausgesetzt hätten die Ketzer nur zwei Möglichkeiten : sich zu bessern oder zu sterben56. Hoffentlich werde Gott zulassen, dass der Bogen der Hussiten »zerbricht in der Ebene Jesreel« (Hos 1, 5), das heißt in der Ebene Jesu Christi, der heute unzählige Soldaten mit dem Kreuz gekennzeichnet habe, damit diese die ketzerischen Hussiten ihrer Wunderkraft beraubten57. Nach dieser Einführung bringt der Hauptteil der Predigt nicht viel Neues mehr. Georg wendet sich hier stärker den Aufgaben des Klerikerstandes zu : wer nicht physisch gegen die Häretiker kämpfe, solle sein Gebet und fromme Werke beitragen58. Jene, die nicht tatsächlich kämpften, hätten es laut Georg schwerer, sich verdient zu machen, denn sie setzten ihr Leben nicht ein59. Die daran anknüpfende Kritik an den eigenen Reihen ist genauso harmlos wie jene des Peter Storch : den Gelehrten und Klerikern mangelte es an Frieden, weil sie nicht genug auf die Gebote Gottes achteten60. Noch schlimmer sei jedoch, dem Glauben ganz zu entsagen, wie es bei den Ketzern der Fall sei. Wiederholt beruft sich also der Prediger auf eine laufende Vorbereitung zum Ketzerkrieg, der offenbar die Form eines regelrechten Kreuzzuges mit Predigt, Gelübden und Ablass haben sollte. Umso interessanter ist daher die Frage, wann und unter welchen Umständen die Predigt gehalten wurde. Ihr Autor, Georgius de Cella, taucht in 56 Que autem vasa de multis sibi hodie elegit et preparavit, hec per crucis et penitencie inpressionem sibi tam quam templum mundum expiare ab eterno decrevit. … turpis hodie omnium nostrum desidia ab humili precum et lacrimarum effusione, ut hanc fidelium omnium intrancium cohortem »Deus pacis et dileccionis«, 2a Chor. 13[,11], cum salute contra perfidos Hussitas ducat et triumpho glorioso potitus ad propria reducat, ut sic ingnominia miserorum Hussitarum in correcionem transeat salutarem aut in mortem prorssus effluat eternalem, L, fol. 200r ; vgl. M, fol. 316r ; W, fol. 99r ; Z, fol. 56r–v. 57 Ideo bene dixi de Hussitis, quod, dummodo divino imperio et celesti placuerit et perquam misericorditer concedat, ut arcus eorum confringatur in valle Iesrahel, id est seminis Dei, hoc est Christi Iesu, qui hodie signo crucis innumerabiles sibi signavit milites, ut hereticos et perversos Hussitas virtutibus exspoliant, quas in ecclesia perceperunt, ad hoc enim parata sunt omnia. L, fol. 200v ; vgl. M, fol. 316r ; W, fol. 99r–v ; Z, fol. 56v–57r. 58 Sed sicud multi divine miseracionis instinctu sunt ad pungnam corporalem contra Hussitas parati, sic omnes nos residui ad divinum auxilium ipsis implorandum oracionibus ac aliis piis operibus sumus parati, ebd. 59 Primis, videlicet corpore pugnare volentibus, necessarium est adiutorium pium, quia merita propter crucis Christi et fidei katholice singnaculum humiliter confidendo possunt pretendere. … Sed 2is, videlicet spiritu ali gladio certare debentibus, necessarium est adiutorium pium, quia merita ex eo, quod nondum usque ad saguinem restiterunt, non valeant tam confidenter ut illi pretendere. L, fol. 201r ; vgl. M, fol. 317r ; W, fol. 100r ; Z, fol. 57v. 60 Qua [d.h. temporum tranquilitate], hew, ut timeo, iusto Dei iudicio nos clerici et litterati seculares seu reli giosi caremus, et hoc propter divinorum mandatorum obmissionem, L, fol. 201r ; vgl. M, fol. 317r ; W, fol. 100v ; Z, fol. 58r.
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den Universitätsquellen im Sommersemester 1421 als examinandus bei einer Prüfung für das Bakkalaureat in artibus auf 61. Er darf wegen seines Beinamens als Mönch des Zisterzienserklosters Altzelle identifiziert werden. Der Entschluss von 1411, in Leipzig ein zisterziensisches Kolleg zu gründen, wurde erst 1427 mit der Errichtung des Bernhardinerkollegs verwirklicht. Als erster Vorstand wird ein Altzeller Bruder und Magister der Künste namens Georg erwähnt, der offensichtlich mit unserem Prediger identisch ist62. Georg setzte seine Studien an der Theologischen Fakultät fort. Für die freien Künste wurde die Studiendauer insgesamt auf mindestens dreieinhalb Jahre festgesetzt, üblicherweise brauchten die Studenten jedoch zwei bis drei Jahre für das Bakkalaureat und ungefähr drei weitere Jahre für den Magistergrad63. Da unsere Predigt, wie erwähnt, nicht den Eindruck macht, dass sie von einem versierten Kanzelredner stammt, kann man davon ausgehen, dass Georg sie am Anfang seines Theologiestudiums hielt. Am ehesten dürfte sie im Sommer 1424 vorgetragen worden sein, höchstwahrscheinlich aber erst ein oder zwei Jahre später. Die kodikologischen Zusammenhänge weisen auf dieselbe Zeit hin. Während in den meisten der oben erwähnten Handschriften die Predigten nach Autoren, thematisch oder ohne ersichtliches Prinzip geordnet sind, weisen die beiden Codices der Theologischen Fakultät, die Leipziger Ms 865 und 866, eine chronologische Reihenfolge auf. Im Fall von Ms 866, die gelegentlich Jahreszahlen angibt, sind die datierten Texte ausnahmsweise chronologisch aufsteigend angeordnet. Die Predigten der Handschrift 865 können lediglich durch ihren Bezug zu historischen Ereignissen datiert werden. Im ersten Teil wurde die chronologische Reihenfolge gestört, die Predigten des Jahres 1420 folgen erst auf jene von 1422–1423. In den übrigen Teilen der Handschrift kann man hingegen schon von einer chronologisch aufsteigenden Abfolge ausgehen64. Der Sermo 61 Die Matrikel der Universität Leipzig 2, hg. v. Georg Erler (Codex diplomaticus Saxoniae regiae II/17, Leipzig 1897) 100. 62 Ludwig Schmidt, Beiträge zur Geschichte der wissenschaftlichen Studien in sächsischen Klöstern 1. Altzelle, in : Neues Archiv für sächsische Geschichte und Altertumskunde 18 (1897) 201–272, hier 218f. Löffler, Alt Bekanntes (wie Anm. 11) 256, bezeichnet den Prediger irrtümlich als Gregor, was zu der falschen Identifizierung führt. 63 Matrikel, hg. Erler 2 (wie Anm. 61) LII und LV ; Siegfried Hoyer, Die scholastische Universität bis 1480, in : Alma mater Lipsiensis. Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig, hg. v. Lothar Rathmann (Leipzig 1984) 9–32, hier 28–30. Olle Ferm, Swedish Students and Teachers, in : Swedish Students, hg. ders., Risberg (wie Anm. 11) 11–65, hier 27, berechnete die durchschnittliche Studienzeit für schwedische Studenten bis zum Magister mit fünf Jahren, bei ausgezeichneten Studenten (künftigen Dozenten) mit 4,25. 64 Georg Buchwald, der die Datierungen anhand historischer Bezüge vornahm, hat eine chronologische Reihenfolge innerhalb der Handschrift 865 hypothetisch vorausgesetzt : Buchwald, Die Leipziger Universitätspredigt (wie Anm. 10) 85 ; ders., Universitätspredigten zu Ehren Friedrichs (wie Anm. 11) 31 ; vgl. auch Löffler, Alt Bekanntes (wie Anm. 11) 252.
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contra Hussitas et Viclefistas befindet sich an einer Stelle, die demgemäß in das Jahr 1426 gehörte. Das bereits erwähnte principium des Autors zu seinem Kurs über Hosea liest man kurz zuvor, in jenem Abschnitt, der dem Jahr 1425 zuzuordnen wäre. Die Perikope des zweiten Sonntags nach Dreifaltigkeit ergibt die wahrscheinliche Datierung der Predigt des Georg von Altzelle auf den 9. Juni 1426. Das passt sehr gut zu den militärischen Ereignissen der Zeit. Seit dem Frühjahr 1426 beunruhigten den sächsisch-meißnischen Hof Nachrichten über Umstellungen der hussitischen Truppen im nordwestlichen Böhmen, wo Kurfürst Friedrich mehrere wichtige Stützpunkte hielt. Wohl am 28. Mai, noch vor dem Abschluss des Nürnberger Reichstages, wo man über einen weiteren Feldzug nach Böhmen verhandelte, belagerten die Hussiten die Stadt Aussig ; am 6. Juni unternahmen sie den ersten Probeangriff auf die Stadt. In Leipzig selbst war man über die Lage gut informiert : am 26. Mai forderte die in Vertretung ihres abwesenden Ehemannes handelnde Kurfürstin Katharina den Leipziger Rat auf, die entsprechenden Kontingente bis zum 11. Juni zu stellen, und vom 7. Juni datiert die letzte erhaltene Mahnung, umgehend Leute und Waffen zum Versammlungsort nahe Freiberg zu entsenden. Georgs Predigt gliedert sich also in die Vorbereitungen zum Kriegszug ein, der mit der für die Katholiken katastrophalen Schlacht vor Aussig am 16. Juni 1426 endete65. Wichtig ist, dass der Prediger wiederholt und eindeutig über die Kreuznahme der Teilnehmer spricht. In der Forschung wird der Status der Expedition gen Aussig als Kreuzzug bestritten, wohl deshalb, weil der päpstliche Legat Giordano Orsini nicht anwesend und die Verhandlungen des Reichstags noch nicht abgeschlossen waren66. Die Leipziger Universitätspredigt liefert einen seltenen Beweis, dass die Expedition von 1426 von den Zeitgenossen als Kreuzzug wahrgenommen und die damit verbundenen spirituellen Vorteile genossen wurden. Insgesamt bleibt die enge Verbindung zwischen Kreuzzug und Universitätspredigt einigermaßen überraschend. Man muss bedenken, dass es sich hier um keine ordentliche, auf Anwerbung von Kämpfern und Gönnern ausgerichtete Kreuzpredigt handelt. Ein »heterogenes und anonymes Publikum zu erreichen« setzte man sich nicht zum Ziel67. Obwohl die Teilnehmerschaft der Universitätsmessen unter Umständen durch65 Die Ereignisse rekonstruierte zuletzt Petr Čornej, Bitva před Ústím nad Labem ve starší české a německé tradici [Die Schlacht bei Aussig in älterer tschechischer und deutscher Tradition], in : Acta Universitatis Carolinae, Philosophica et historica 5, Studia historica 43 (1995) 9–64, hier 13–18 ; zur Situation in Leipzig Thomas Krzenck, Leipzig im Spiegel der Korrespondenz Katharinas »der Streitbaren« (1395–1442). Herrschaftsspielräume und Einflussmöglichkeiten von Kurfürstinnen im Spätmittelalter, in : Frauen in der Geschichte Leipzigs. 150 Jahre Allgemeiner Deutscher Frauenverein, hg. v. Susanne Schötz, Beate Berger (Leipzig 2019) 13–38, hier 27–31. 66 Siehe z. B. Frederick G. Heymann, The Crusades against the Hussites, in : A History of the Crusades 3, hg. v. Keneth M. Setton, Harry W. Hazard (Madison–London 1975) 586–646, hier 611. 67 Hruza, Propaganda (wie Anm. 3) 18.
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aus eine »okkasionelle Öffentlichkeit« entfalten konnte, haben wir es im vorliegenden Fall eher mit »identitätsbildenden Zusammentreffen« zu tun68. Die Zuhörer der lateinisch gehaltenen Ansprachen, Angehörige der Universität Leipzig, brauchten ja nicht von der Verwerflichkeit des Hussitismus überzeugt zu werden. Die Charakterisierung der antihussitischen Universitätspredigten als Propaganda ist daher meiner Meinung nach nur begrenzt möglich. Was für einen Zweck sollte man also in den Veranstaltungen erblicken ? Die beträchtliche Loyalität der Universitätsmitglieder zu ihren Fürsten und jedem ihrer Unterfangen spielte sicher eine Rolle, ebenso wie das begreifliche Interesse an und auch eine Angst vor den Hussiten. Der Inhalt der untersuchten Predigten – und ihr Vortrag als solcher – deuten jedoch vor allem darauf hin, dass die Gelehrten überzeugt waren, dass die Messen tatsächlich halfen und ihnen die Möglichkeit boten, zum Kampf gegen die Ketzer beizutragen. Die erhaltene Einladung des Rektors zur Predigt von Peter Storch betont als Hauptzweck der Messe die Fürbitten (preces) für den Sieg über die Feinde, verlangt die Partizipation aller Magister und fordert diese zu Spenden auf.69 Man fühlt sich damit geradezu in die Zeit Innozenz III. und seiner Auffassung von Suffragien der ganzen Christenheit zurückversetzt. Obwohl man im Spätmittelalter alle Methoden der oralen – und neuerdings auch schriftlichen – Werbung einsetzte, hörte man deshalb nicht auf, an die Macht der kollektiven Fürbitten zu glauben. Das enthüllt etwas von jenem Gemisch von Tradition und (zögerlicher) Innovation, das den Kampf gegen den Hussitismus auszeichnete70.
68 Steckel, Universitätspredigten (wie Anm. 9) 549–550 ; vgl. Studt, Geplante Öffentlichkeiten (wie Anm. 4) 210f. 69 Friedrich Zarncke, Die deutschen Universitäten im Mittelalter. Beiträge zur Geschichte und Charakteristik derselben (Leipzig 1857) 164, Nr. 21. Die formularhafte Anzeige verband mit Storchs Predigt Buchwald, Universitätspredigten zu Ehren Friedrichs (wie Anm. 11) 29. 70 Diese Studie wurde von der Tschechischen Forschungsgemeinschaft (GA ČR) im Rahmen des Projekts EXPRO 19-28415X »From Performativity to Institutionalization : Handling Conflict in the Late Middle Ages (Strategies, Agents, Communication)« gefördert. – Für ihre freundliche Hilfe bei der sprachlichen Korrektur danke ich Christina Traxler (Wien).
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Auf der Suche nach den Ursachen des Misserfolgs Überlegungen zur politischen Propaganda des Deutschen Ordens im Streit mit der polnisch-litauischen Union
Aus welcher Perspektive wir den jahrelangen Konflikt zwischen dem Deutschen Orden, bzw. dem »Ordensstaat« in Preußen einerseits und Polen und Litauen, bzw. der polnisch-litauischen Union andererseits auch immer betrachten, bleibt es unbestritten, dass die Jahrzehnte zwischen der Krönung des litauischen Fürsten Jogaila zum polnischen König und der katholischen Taufe Litauens (1385/1386) und dem Abschluss des Frieden von Brest (1435) einen Schlüsselzeitraum darstellen. In diesem wurde darüber entschieden, wer aus dem Konflikt letztlich als Sieger hervorgehen würde1. Der erwähnte Zeitraum von fast fünfzig Jahren war gesäumt von mehreren Wendeereignissen wie die Schlacht bei Tannenberg (15. Juli 1410), die Christianisierung Samaitens (1416–1417), die Konzile von Konstanz und Basel und die aus Sicht des Ordens unrühmlich geführten Kriege (1409–1411, 1414, 1422, 1432–1435). Nicht minder wichtig, wenn nicht gar wichtiger, waren die langwierigen Prozesse, die gerade damals vorherbestimmten, welche Richtung nicht nur der »Ordensstaat« in Preußen2, sondern das gesamte Baltikum weiter nehmen wird. Aus militärischer Sicht war es der immer größer werdende Anteil von Söldnertruppen an der Gesamtanzahl der militärischen Bereitschaft3. Im wirtschaftlichen und sozialen Bereich hat sich die Position der Ordensführung mit dem Hochmeister als Obrigkeit an der Spitze in Preußen wesentlich verschlechtert. Die aus einem Artikel des Friedens von Thorn (1411) hervorgehende 1 In den Fußnoten werden lediglich die wichtigsten bibliographischen Quellen- und (besonders rezente) Literaturhinweise angeführt. Abkürzungen : CDP = Codex diplomaticus Prussicus. Urkunden-Sammlung zur älteren Geschichte Preussens aus dem Königl. Geheimen Archiv zu Königsberg nebst Regesten 1–6, hg. v. Johannes Voigt (Königsberg 1836–1861) ; QSGDO = Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens ; ZfO = Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung. 2 Tatsächlich gab es keinen einheitlichen und zentralistischen »Ordensstaat«, sondern lediglich eine faktische Oberhoheit des Ordens neben den mehr oder weniger unabhängigen bischöflichen Landesherrschaften, vgl. Zenon Hubert Nowak, Der Deutsche Orden in Preußen. War der Ordensstaat ein moderner Staat ? In : Medieval spirituality in Scandinavia and Europe. A collection of essays in honour of Tore Nyberg, hg. v. Lars Bisgaard (Odense 2001) 157–168. 3 Krzysztof Kwiatkowski, Wojska Zakonu Niemieckiego w Prusach 1230–1525. Korporacja, jej pruskie władztwo, zbrojni, kultura wojny i aktywność militarna [Das Heer des Deutschen Ordens in Preußen 1230–1525. Die Korporation, ihre Herrschaft in Preußen, die Bewaffneten, die Kultur des Krieges und die militärischen Aktivitäten] (Toruń 2016).
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Verpflichtung, der polnisch-litauischen Seite Kriegsreparationen in Höhe von 100.000 Schock Groschen zu zahlen, brachte den Orden langfristig in finanzielle Schwierigkeiten4. Die Unzufriedenheit der Untertanen des wirtschaftlichen Monopols des Ordens und dessen Unfähigkeit, diese vor dem häufigen Wüten feindlicher Armeen zu schützen, führte besonders bei den preußischen Städten (Danzig, Thorn, Elbing u. a.) und der Ritterschaft erneut zu einer Intensivierung oppositioneller Tendenzen5. Auch die Spannung innerhalb der Strukturen des Ordens darf nicht unerwähnt bleiben, als die einzelnen Teile (Landesprovinzen des Ordens im Reich mit dem Deutschmeister an der Spitze und der livländische Zweig des Ordens) immer deutlicher eine gewisse Autonomie anstrengten6. Wenn die beginnende chronische Krise des »Ordensstaates« aus Sicht der bisherigen Forschung unstrittig ist, ist die Beurteilung der ideologischen Kämpfe, die sich in jener Zeit sehr intensivierten, bereits nicht mehr so eindeutig. Grund dafür können unkritische Interpretationen der zeitgenössischen Quellen mit ideologischem und propagandistischem Inhalt sein, mit deren Hilfe es zu einer Legitimierung des politischen Handelns oder von Kriegsoperationen kam. Dies gilt besonders für die ältere Historiographie, die mit einem unreflektierten Ansatz fließend an die mitteleuropäische Polemik anknüpfte und den »Ordensstaat« in den jeweils aktuellen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Konflikten als Propagandainstrument benutzte7. Noch in den sechziger bis zu den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat die polnische Historiographie der Propaganda der polnisch-litauischen Union nur einen partiellen Erfolg zuerkannt. Dem kurz zuvor erst getauften und mit der polnischen Krone geschmückten litauischen Fürsten Jogaila (1386) sei es angeblich nur schwerlich gelungen, die öffentliche Meinung des katholischen Europas über ihn zu ändern. Der Deutsche Orden in Preußen und Livland wurde als das im Osten bis dahin einzige »Bollwerk des Christentums«8 gegen die Heiden (d. h. einschließlich der Litauer) und die Schisma4 Staatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen im 15. Jahrhunderts 1. 1398–1437, hg. v. Erich Weise (Marburg 21970) Nr. 84, 89–90. 5 Państwo zakonu krzyżackiego w Prusach. Władza i społeczeństwo [Der Ordensstaat in Preußen. Herrschaft und Gesellschaft], hg. v. Marian Biskup, Roman Czaja, Wiesław Długokęcki, Marian Dygo, Sławomir Jóźwiak, Andrzej Radzimiński, Janusz Tandecki (Warszawa 2009) 332–356. 6 Klaus Militzer, Die Geschichte des Deutschen Ordens (Stuttgart 22012) 219–284. 7 Wolfgang Wippermann, Der Ordensstaat als Ideologie. Das Bild des Deutschen Ordens in der deutschen Geschichtsschreibung und Publizistik (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 24, Publikationen zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen 2, Berlin 1979), der sich zwar hauptsächlich mit dem Bild des »Ordensstaates« besonders in der deutschen Historiographie beschäftigt, aber auch die polnische Geschichtsschreibung nicht außer Acht lässt (ebd. 337–369). 8 Paul Srodecki, Antemurale Christianitatis. Zur Genese der Bollwerksrhetorik im östlichen Mitteleuropa an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit (Historische Studien 508, Husum 2015).
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tiker angesehen9. Hartmut Boockmann ist in seiner bahnbrechenden und bis heute in vielerlei Hinsicht unübertroffenen Monographie aus dem Jahr 1975 zu dem Schluss gekommen, dass die Ordensführung nur sehr mühsam der militärischen, diplomatischen und propagandistischen Offensive des polnischen Königshofes nach dem Jahr 1386 die Stirn geboten habe10. Bei näherer Betrachtung müssen sich beide Beurteilungen einander nicht ausschließen, wenn man sich die dynamische Entwicklung bewusst macht, die der behandelte Streit damals durchgemacht hat. So problematisch Verallgemeinerungen auch sind, hat sich dessen ungeachtet die allgemeine Wahrnehmung gegenüber dem Orden im katholischen Europa (und zwar besonders im Reich) in den zwanziger und dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts grundsätzlich zu dessen Ungunsten gewandelt. Noch Ende des 14. Jahrhunderts haben die Kurfürsten Wenzel IV. dafür kritisiert, dass er mit dem polnischen König gegen den Hochmeister ein Bündnis schloss, woraus einer der Klageartikel gemacht wurde, mit denen die Absetzung des Luxemburgers vom Thron (1400) begründet wurde11. Die Gunst der Reichseliten gegenüber dem Hochmeister und dem Orden in Preußen wurde eher zu einer symbolischen, und die zu seiner Unterstützung an den Hochmeister, bzw. an den polnischen König, aber auch an den Papst und den römischen König verschickten Schreiben erschöpften sich. Gerade ihm geziemte immer das Ethos eines Förderers und Beschützers des Ordens, wessen sich Sigismund von Luxemburg bewusst war und weswegen er sich im »großen Krieg« 1409–1411 eindeutig auf die Seite des Hochmeisters stellte, bzw. einen für den Orden günstigen Schiedsspruch erließ (1420). Andererseits zögerte er bereits als römischer König nicht, mit dem 9 Andrzej Feliks Grabski, Pogrunwaldzkie polemiki [Die Polemik nach Tannenberg], in : Zeszyty naukowe Uniwersytetu Łódzkiego. Seria I. Nauki Humanistyczno-Społeczne 45 (1966) 45–66 ; ders., Polska w opiniach Europy Zachodniej XIV–XV wieku [Westeuropäische Ansichten über Polen im 13. bis 15. Jahrhundert] (Warszawa 1968) 179–381 ; Zenon Hubert Nowak, Główne aspekty walki ideologicznej Polski i Litwy z Zakonem Krzyżackim na forum europejskim w I poł. XV w. [Die Hauptaspekte des ideologischen Kampfes Polens und Litauens mit dem Deutschen Orden auf dem europäischen Forum in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts], in : Ekspansja niemieckich zakonów rycerskich w strefie Bałtyku od XIII do połowy XVI wieku. Materiały z konferencji historyków radzieckich i polskich w Toruniu z r. 1988 [Die Expansion der deutschen Ritterorden im Baltikum vom 13. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Materialien der Konferenz sowjetischer und polnischer Historiker in Thorn im Jahr 1988], hg. v. Marian Biskup (Toruń 1990) 187–200. 10 Hartmut Boockmann, Johannes Falkenberg, der Deutsche Orden und die polnische Politik. Untersuchungen zur politischen Theorie des späteren Mittelalters. Mit einem Anhang : Die Satira des Johannes Falkenberg (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 45, Göttingen 1975). 11 Deutsche Reichstagsakten unter König Wenzel 3. 1397–1400, hg. v. Julius Weizsäcker (München 1877) Nr. 212, hier S. 272 ; Nr. 215, hier S. 274. Weiter siehe Klara Hübner, Mord und Rufmord. Politische Propaganda und die Anfänge der Schwarzen Legende König Wenzels IV., in : Reformverlierer 1000–1800. Zum Umgang mit Niederlagen in der europäischen Vormoderne, hg. v. Andreas Bihrer, Dietmar Schiersner (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 53, Berlin 2016) 57–96.
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polnischen König einen Bündnisvertrag zu schließen (1412) und zu erneuern (1423), obgleich er damit eher die Interessen seines ungarischen Königreichs verteidigte12. Vorbilder ziehen an, und so war es wohl keine große Überraschung, dass das Bündnis zwischen dem brandenburgischen Kurfürsten Friedrich von Hohenzollern und Władysław Jagiełło (1421) durch einen gemeinsamen Feldzug gegen den Hochmeister und den Orden in Preußen bedingt war.13 Ein nicht minder wichtiger Faktor und gleichzeitig ein Indiz für das schwindende Prestige des Ordens beim westeuropäischen Adel, war deren geringer werdendes Interesse an Reisen gegen die Heiden in Litauen14. Auch die Wahrnehmung des polnischen Königs hat bei den Eliten im Reich und in Westeuropa eine wesentliche Evolution durchgemacht. Nicht lange nach der Taufe und der Annahme der polnischen Krone stieß Władysław Jagiełło auf Misstrauen gegenüber seiner Person, was die Ordenspropaganda bestrebt war ausgiebig zu nähren. Diese sah nach 1386 keine andere Möglichkeit, als auf dem Standpunkt zu beharren, dass die Taufe des litauischen Fürsten keine wirkliche Taufe gewesen sei und deswegen auch keine Christianisierung Litauens erfolgt sei. Andere Alternativen waren, worauf 12 Zenon Hubert Nowak, Międzynarodowe procesy polubowne jako narzędzie polityki Zygmunta Luksemburskiego w północnej i środkowowschodniej Europie (1412–1424) [Internationale Schiedsprozesse als Werkzeug der Politik Sigismunds von Luxemburg in Nord- und Ostmitteleuropa (1412–1424)] (Toruń 1981) ; Jörg K. Hoensch, König/Kaiser Sigismund, der Deutsche Orden und Polen-Litauen. Stationen einer problembeladenen Beziehung, in : ZfO 46 (1997) 1–44 ; Přemysl Bar, A Tortuous Path to Reconciliation and Justice. Sigismund of Luxembourg as Arbiter in the Dispute between the Teutonic Knights and Poland (1412–1420), in : ZfO 66 (2017) 3–40. 13 Codex diplomaticus Brandenburgensis. Sammlung der Urkunden, Chroniken und sonstigen Quellenschriften für die Geschichte der Mark Brandenburg und ihrer Regenten II, Urkunden-Sammlung zur Geschichte der auswärtigen Verhältnisse 3 (Berlin 1846) Nr. 1394, hier S. 399f : Nos Vladislaus, Dei gracia rex Polonie, […] ac Fridericus, Brandenburgensis marchio, sacri imperii Romani archicamerarius et bur grabius Nurembergensis […] pollicemur […] contra cruciferos de Prussia, inimicos nostros et terrarum nos trarum et bonorum multorum occupatores frivolos et pretensos, mutua nobis prestare et facere subsidia, dum et quociens unicuique nostrum opus fuerit vel necesse. Siehe ferner Stanisław Gawęda, Próba osadzenia Fryderyka Hohenzollerna na tronie polskim a sprawa pomorska [Ein Versuch, Friedrich von Hohenzollern auf den polnischen Thron zu setzen, und die Sache Pommerellens], in : Mediaevalia. W 50. roczniczę pracy naukowej Jana Dąbrowskiego [Mediaevalia. Zum 50. Jubiläum der wissenschaftlichen Arbeit von Jan Dąbrowski], hg. v. Józef Garbacik (Warszawa 1960) 177–205. 14 Werner Paravicini, Die Preussenreisen des europäischen Adels 1–2 (Sigmaringen 1989–1995) ; ders., Adlig leben im 14. Jahrhundert. Weshalb sie fuhren. Die Preußenreisen des europäischen Adels 3 (Vestigia Prussica. Forschungen zur ost- und westpreußischen Landesgeschichte 2, Göttingen 2020) 543–607 ; vgl. darüber hinaus auch ders., Von der Preußenfahrt zum Hussitenkreuzzug, in : Beiträge zur Militärgeschichte des Preußenlandes von der Ordenszeit bis zum Zeitalter der Weltkriege, hg. v. Bernhart Jähnig (Tagungsberichte der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung 25, Marburg a. d. Lahn 2010) 121–159, wo die Auffassung vertreten wird, dass der westeuropäische Adel in den zwanziger Jahren des 15. Jahrhunderts lieber an den Hussitenkreuzzügen, als an den Litauenreisen teilgenommen habe.
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H. Boockmann richtigerweise hinwies, offenbar nicht in Betracht gekommen (obwohl sie aus Sicht des kanonischen Rechts möglich gewesen wären), also Preußen zu verlassen und den Orden in ein anderes Territorium zu verlegen, wo der Kampf gegen die Heiden fortgesetzt werden könnte, oder dem Orden wegen den veränderten Umständen eine andere neue Mission zu erteilen15. Deshalb war eines der vom Orden in dem ideologischen Streit gebrauchten Hauptargumente die Anschwärzung von Fürst Jogaila, dessen einzige Motivation, den katholischen Glauben und den Titel des polnischen Königs anzunehmen, angeblich darin bestand, die Ordensherrschaft in Preußen zu vernichten. Um diese Behauptung zu stützen wurden in der Ordenspropaganda konsequent Argumente angeführt, die nicht immer im Widerspruch zur historischen Wirklichkeit standen : Nichteinhaltung der geschlossenen Waffenstillstände und Friedensverträge nicht nur seitens Jogaila16, sondern auch von anderen litauischen Fürsten17 ; Ungültigkeit der Heirat zwischen Fürst Jogaila und der polnischen Königin Hedwig wegen ihrer Verlobung mit Herzog Wilhelm von Österreich18 ; und die Bezichtigung, Ungläubige und Schismatiker zu unterstützen, und besonders ihre Verwendung im Kampf gegen den Orden und andere christliche Fürsten19. Die negative Kampagne gegen den polnischen König hat ihr gewünschtes Ziel offensichtlich nicht erreicht. Ansonsten hätte Władysław Jagiełło nämlich die Befürch15 Boockmann, Johannes Falkenberg (wie Anm. 10) 50–53. 16 Ein Beispiel hierfür ist der Waffenstillstand zwischen dem Hochmeister Konrad Zöllner von Rotenstein und Jogaila vom Oktober des Jahres 1382, in dem der litauische Fürst versprach, die katholische Taufe aus der Hand des Ordens innerhalb einer Frist von vier Jahren anzunehmen. Jogaila unterließ es im Folgenden allerdings, dem nachzukommen, und zwar offensichtlich, weil er um seine politische Unabhängigkeit fürchtete. Siehe Liv-, Esth- und Curländisches Urkundenbuch nebst Regesten 3, hg. v. Friedrich Georg von Bunge (Reval 1857) Nr. 1185 ; vgl. Darius Baronas, Stephan C. Rowell, The Conversion of Lithuania. From Pagan Barbarians to the Late Medieval Christians (Vilnius 2015) 247–249. 17 Sebastian Kubon, Die Außenpolitik des Deutschen Ordens unter Hochmeister Konrad von Jungingen (1393–1407) (Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter 15, Göttingen 2016) 58–192 ; ders., Der Vertrag von Sallinwerder (1398) und sein Bruch aus der Sicht des Deutschen Ordens. Mit einem Quellenanhang, in : Der Bruch des Vertrages. Die Verbindlichkeit spätmittelalterlicher Diplomatie und ihre Grenzen, hg. v. Georg Jostkleigrewe, Gesa Wilangowski (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 55, Berlin 2018) 310–337 ; ders., Die Wahrnehmung der Litauer durch den Deutschen Orden um 1400 und die Rolle des kollektiven Gedächtnisses, in : Studia historica Brunensia 66/2 (2019) 81–92. 18 Dagegen behauptete die polnische Seite stets, die vom Orden ins Treffen geführte Verlobung sei durch einen päpstlichen Spruch rechtmäßig aufgelöst worden, siehe Andrzej Feliks Grabski, Jadwiga – Wilhelm – Jagiełło w opiniach europejskich [Hedwig – Wilhelm – Jagiełło in europäischen Meinungen], in : Nasza przeszłość 23 (1966) 117–166. 19 Dieses Argument tauchte in der Propaganda des Deutschen Ordens insbesondere seit der Schlacht bei Tannenberg (15. Juli 1410) auf, in der auf polnisch-litauischer Seite nicht nur litauische Truppen, sondern auch orthodoxen Christen und Tataren gekämpft hatten, siehe Sven Ekdahl, Die Schlacht bei Tannenberg 1410. Quellenkritische Untersuchungen 1. Einführung und Quellenlage (Berlin 1982) 127–205.
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tung gehegt, dass sein Image eines treuen und wahren katholischen Herrschers durch die Inanspruchnahme der Dienste hussitischer Truppen als Söldner im Kampf gegen den Orden im Sommer 143320 auf irgendeine Weise stark beschädigt wird21. Wenn in der Historiographie mal nach den Ursachen geforscht wurde, warum sich die Ordenspropaganda nicht gegen die der polnisch-litauischen Union durchgesetzt hat, oder warum es dem Orden analog dazu weder auf militärischem noch auf diplomatischem Gebiet gelungen ist erfolgreich zu sein, hat man die Antwort darauf am häufigsten in einer Analyse der in den Gerichtsstreitigkeiten oder in den theoretischen juristischen Texten verwendeten Rechtsargumente, bzw. in den verschiedenen Motiven und narrativen Strategien der Propagandaschriften gesucht. Eine Vermischung von rechtlichen Aspekten und ideologischen Argumenten waren im Streit zwischen Polen und dem Orden völlig üblich. Einige von ihnen wurden oben erwähnt, jedoch waren diese bei weitem nicht die einzigen. Gerichtsstreitigkeiten (sei nun vor der päpstlichen Kurie oder als internationales Schiedsgericht) zwischen dem polnischen Königreich und dem »Ordensstaat« hatten sich bereits seit den zwanziger Jahren des 14. Jahrhunderts hingezogen22. Die polnische Seite erhob Anspruch auf bestimmte Gebiete als unveräußerlichen Bestandteil der polnischen Krone, zu denen der Orden jedoch über unstreitige Schenkungs- oder Kaufurkunden verfügte. Gemäß polnischer Interpretation waren die entsprechenden Schenkungen temporär bedingt und die polnischen Herrscher haben aus diesem Titel die Anerkennung ihrer Patronatsrechte gegenüber dem Orden angestrengt23. Nach dem 20 Paweł Karp, Polsko-husycka wyprawa zbrojna przeciw Zakonowi Krzyżackiemu w roku 1433 [Der polnisch-hussitische Feldzug gegen den Deutschen Orden im Jahr 1433] (Zielona Góra 2017). 21 Dabei war diese Frage keineswegs unerheblich, wie frühere Anschuldigungen gegen den polnischen König, er unterstütze die Ketzer, zeigen, obwohl Władysław Jagiełło die ihm von den Hussiten angebotene böhmische Krone gar nicht angenommen hatte, sondern lediglich sein Cousin Vytautas, der den Fürsten Sigismund Korybut als seinen Stellvertreter nach Böhmen entsandte. Trotzdem musste sich Jagiełło im März 1423 öffentlich vom Verdacht der Ketzerbegünstigung reinwaschen, was eine unerlässliche Bedingung für die Erneuerung des Bündnisses mit Sigismund von Luxemburg darstellte, siehe Přemysl Bar, Husyci i husytyzm w politycznej korespondencji Władysława Jagiełły i Witolda [Die Hussiten und das Hussitentum in der politischen Korrespondenz Władysław Jagiełłos und Vytautas’], in : Jagiellonowie i ich świat. Polityka kościelna i praktyki religijne Jagiellonów [Die Jagiellonen und ihre Welt. Kirchenpolitik und religiöse Praktiken der Jagiellonen], hg. v. Bożena Czwojdrak, Jerzy Sperka, Piotr Węcowski (Studia Jagiellonica 4, Kraków 2020) 339–374, hier 356. 22 Helena Chłopocka, Procesy Polski z Zakonem Krzyżackim w XIV wieku. Studium źródłoznawcze [Die Prozesse Polens gegen den Deutschen Orden im 14. Jahrhundert. Eine Quellenstudie] (Poznań 1967). 23 Andrzej Wojtkowski, Tezy i argumenty polskie w sporach terytorialnych z Krzyżakami [Polnische Thesen und Argumente in den territorialen Streitigkeiten mit den Kreuzrittern] (Olsztyn 1968) ; Arguments and Counter-arguments. The Political Thought of the 14th and 15th Centuries during the PolishTeutonic Order Trials and Disputes, hg. v. Wiesław Sieradzan (Toruń 2012).
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Jahr 1386 kam es auch zur Anzweiflung der päpstlichen und kaiserlichen Privilegien, auf die sich die Existenz und Mission des Ordens an sich gründeten, d.h. einen physischen Kampf gegen Ungläubige zu führen. Aufgrund ihres angeblich betrügerischen Erwerbs (der Papst soll bzgl. des Inhalts der bestätigten Privilegien getäuscht worden sein) und der Rechtsformel cessante causa cessat effectus (»fällt die Ursache weg, entfällt auch die Wirkung«), erhoben die polnischen Juristen (besonders Andrzej Łaskarzyc24 und Paulus Vladimiri25) die Forderung, dem Orden diesen Auftrag zu entziehen, wenn sich in dessen Umgebung (in Preußen, Litauen, auch im gesamten Baltikum) keine Heiden mehr aufhalten. Eine indirekte praktische Auswirkung dieser Rechtsstreitigkeiten war das königliche (Wenzel IV. aus dem Jahr 1394)26 und päpstliche Verbot (Bonifatius IX. aus dem Jahr 1403)27, Kreuzzüge gegen die Litauer zu organisieren. Der Hochmeister reichte gegen das päpstliche Mandat zwar Appellation ein, jedoch ist nicht bekannt, mit welchem Ergebnis. Mit ihr wurde ein »Katalog« aller betrügerischen Taten der litauischen Fürsten ab der Zeit von König Mindaugas (gest. 1263) bis zum damaligen Fürsten Vytautas eingereicht. Ihr gemeinsamer Nenner sei die angeblich nur vorgetäuschte Bereitschaft, den katholischen Glauben anzunehmen28. Auf dem Konstanzer Konzil bezeichnete der polnische Jurist und Rektor der Krakauer Universität Paulus Vladimiri den Deutschen Orden hingegen als secta Prussiana 24 Krzysztof Ożóg, Udział Andrzeja Łaskarzyca w sprawach i sporach polsko-krzyżackich do soboru w Konstancji [Die Beteiligung Andrzej Łaskarzycs an den Verhandlungen und Auseinandersetzungen zwischen dem Orden und Polen bis zum Konzil von Konstanz], in : Polska i jej sąsiedzi w późnym średniowieczu [Polen und seine Nachbarn im Spätmittelalter], hg. v. dems., Stanisław Szczur (Kraków 2000) 159–186. 25 Stanislaus F. Belch, Paulus Vladimiri and His Doctrine Concerning International Law and Politics 1–2 (London 1965) ; Pisma wybrane Pawła Włodkowica = Works of Paul Wladimiri (a selection) 1–3, hg. v. Ludwik Ehrlich (Warszawa 1966–1969). 26 Wenzels Verbot ist nur aus der chronikalischen Überlieferung bekannt, siehe Johann von Posilge, in : Scriptores rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der preussischen Vorzeit bis zum Untergange der Ordensherrschaft 3, hg. v. Theodor Hirsch, Max Töppen, Ernst Strehlke (Leipzig 1866) 79-388, hier S. 196f. 27 Die päpstliche Bulle ist als Insert in der Appellation des Hochmeisters überliefert, siehe CDP 5 Nr. 137, 186–192 ; s. online URL : http://www.spaetmittelalter.uni-hamburg.de/Urkundenbuch/pub/js-fs/jsfs148.htm [letzter Zugriff : 10.11.2020]. 28 CDP 5 Nr. 137, hier S. 189 : […] simile accidit de quodam rege Littuanie et Russie, qui per octo annos se finxit katholicum […]. Vgl. die zum selben Zeitpunkt verfasste Rechtfertigungsschrift an die westeuropäischen Könige und Fürsten ebd. Nr. 135 (lat. Fassung) ; CDP 6 Nr. 146 (dt. Fassung) ; vgl. Boockmann, Johannes Falkenberg (wie Anm. 10) 78–80 ; Andreas Rüther, Geheimdiplomatie – Schauprozess – Medienkrieg. Polen-Litauen und der Deutsche Orden um die Zeit des Konzils von Konstanz (1414–1418), in : Bulletin der Polnischen Historischen Mission 8 (2013) 43–74 ; Kubon, Der Vertrag (wie Anm. 17) 328 Anm. 58.
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oder haeresis Prussiane29. Auch später (1432) trat er mit einer noch radikaleren Forderung als nur mit der bisherigen Argumentation gegen die Ordensprivilegien auf : der Deutsche Orden müsse als gefährliche Sekte abgeschafft werden30. Eine entsprechende Reaktion auf Forderungen dieser Art war das Pamphlet Satira, dessen Autor, der Dominikaner Johannes Falkenberg, alle treuen Christen dazu aufforderte, in den Kreuzzug gegen den polnischen König zu ziehen, der als blutrünstiger Ketzer, Heuchler (ypocrita) und Götze (!) bezeichnet wurde31. Bislang ist es aber nicht gelungen nachzuweisen, dass die Satira auf Initiative des Hochmeisters entstanden wäre, obgleich die Argumente und der ganze Ton des Pamphlets laut H. Boockmann den Vorstellungen der Ordensvertreter entsprach32. Man könnte die Zusammenstellung der entgegengesetzten und propagandistischen Motive zwar fortsetzen, es stellt sich jedoch die Frage, ob es dazu dienlich wäre, die Ursachen des Erfolgs, bzw. Misserfolgs einer der Parteien des ideologischen Konfliktes zu erhellen. Die gegenseitige Bezichtigung, nicht nur Vereinbarungen, Gerichtsurteile, Waffenstillstände und Friedensverträge nicht eingehalten zu haben, sondern auch die verschiedensten Verbrechen begangen zu haben, sind sich häufig einander sehr ähnlich, so als ob die Autoren voneinander abgeschrieben hätten. Ein Beispiel dafür ist etwa die von beiden Seiten vorgebrachte identische Anschuldigung, dreihundert Kirchen niedergebrannt zu haben33.
29 Belch, Paulus Vladimiri 2 (wie Anm. 25) 917 : […] haeresis Prussianae – quae non minor videtur, immo multo maior, horribilior, deterior et damnabilior, quam Wicklephistarum et Hussonistarum […]. 30 Pisma wybrane 3 (wie Anm. 25) 220 : […] hanc sectam tamquam notorie pestiferam non esse per ecclesiam tollerandam sed penitus destruendam […]. Vgl. Jürgen Miethke, Heiliger Heidenkrieg ? Theoretische Kontroversen zwischen Deutschem Orden und dem Königreich Polen vor und auf dem Konstanzer Konzil, in : Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung. Judentum, Christentum und Islam im Vergleich, hg. v. Klaus Schreiner, Elisabeth Müller-Luckner (München 2008) 109–125 ; Thomas Wünsch, Paulus Wladimiri und die Genese des »realistischen Denkens« in der Lehre von den internationalen Beziehungen. Der Krieg zwischen Polen und dem Deutschen Orden als Stimulus für ein neues politiktheoretischen Paradigma, in : Tannenberg – Grunwald – Žalgiris 1410. Krieg und Frieden im späten Mittelalter, hg. v. Werner Paravicini, Rimvydas Petrauskas, Grischa Vercamer (Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien 26, Wiesbaden 2012) 27– 42, dessen Thesen über das »realistische Denken« Paulus Vladimiris allerdings fragwürdig sind. 31 Boockmann, Johannes Falkenberg (wie Anm. 10) 326 : […] Jaghel vere ydolum est dicendus. 32 Ebd. 290f.; vgl. Stefan Kwiatkowski, Der Deutsche Orden im Streit mit Polen-Litauen. Eine theologische Kontroverse über Krieg und Frieden auf dem Konzil von Konstanz (1414–1418) (Stuttgart 2000). 33 Lites ac res gestae inter Polonos ordinemque cruciferorum 3 [hg. v. Adam Tytus Działyński] (Posnaniae 1856) 65 (Responsio ex parte Polonorum) : […] tricenta ecclesias fuerunt concremate […] ; Die Staatsschriften des Deutschen Ordens in Preußen im 15. Jahrhundert 1. Die Traktate vor dem Konstanzer Konzil (1414–1418) über das Recht des Deutschen Ordens am Lande Preußen, hg. v. Erich Weise (Göttingen 1970) 101 : […] drihundert kirchen vorbrant […].
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Neben der inhaltlichen Seite der Anklageartikel und Propagandaschriften ist es wichtig, die Propaganda als spezifischen Kommunikationsprozess zu betrachten34. Aus einer solchen Perspektive können dann einige Situationen (auch die oben erwähnten) in einem anderen Licht erscheinen. Ein typisches Beispiel war das Konstanzer Konzil, das auch für den Streit zwischen Polen und dem Orden zur Schaubühne wurde. Paulus Vladimiris umfangreiche juristische Traktate sind, mit Ausnahme eines kurzen Auszugs aus ihnen mit dem Titel 52 conclusiones, den »Konzilsnationen« überhaupt nicht vorgelegt worden. Ebenso ist die überwiegende Mehrheit der vom Orden in Auftrag gegebenen Fachrepliken auf Vladimiri den Augen der Öffentlichkeit offenbar verborgen geblieben35. Bei den Analysen des Inhalts der theoretischen Traktate wird H. Boockmanns Hinweis, dass eine handschriftliche Überlieferung automatisch nicht auch die Veröffentlichung eines Textes bedeute, von kaum jemandem berücksichtigt36. Eine größere Resonanz bei der Öffentlichkeit können wir im Falle der anonymen Flugblätter voraussetzen, die an den Konstanzer Kirchentüren ausgehängt wurden. Sie enthielten Bezichtigungen der Blasphemie und unmenschlicher Verbrechen, welche die polnisch-litauische Armee auf Ordensgebiet begangen hätte, wie etwa Hostien auf den Boden werfen und auf ihnen rumtrampeln ; das Köpfen von Heiligenstatuen ; und das Herausschneiden von ungeborenen Kindern und diese dann aufessen. Die Ordensdelegation hat sich vergeblich gegen die Anschuldigung gewehrt, sie sei Urheber dieser Flugblattkampagne, die der Ehre von König Władysław Jagiełło und Fürst Vytautas Schaden zufügte37. Ein unumstrittenes Erstaunen in Konstanz erregte die Delegation aus Samaiten, die sich über den Hochmeister und dessen Orden wegen der Unterdrückung und Verhinderung der Christianisierung Samaitens beschwerte und das Konzil gleichzeitig darum ersuchte, die Christianisierungsmission in ihrem Gebiet zu organisieren38. Davon zeugen 34 Birgit Studt, Geplante Öffentlichkeit. Propaganda, in : Politische Öffentlichkeit im Spätmittelalter, hg. v. Martin Kintzinger (Vorträge und Forschungen 75, Ostfildern 2011) 203–236, hier 209. 35 Weise, Die Staatsschriften (wie Anm. 33) ; Paul Srodecki, »Murus et antemurale pollens et propugnaculum tocius christianitatis.« Der Traktatenstreit zwischen dem Deutschen Orden und dem Königreich Polen auf dem Konstanzer Konzil, in : Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte = Revue suisse d’histoire religieuse et culturelle = Rivista svizzera di storia religiosa e culturale 109 (2015) 47–65. 36 Boockmann, Johannes Falkenberg (wie Anm. 10) 258. 37 Přemysl Bar, Eine (un)genutzte Gelegenheit ? Die Polnisch-litauische Union und der Deutsche Orden auf dem Konstanzer Konzil (1414–1418), in : Der Deutsche Orden auf dem Konstanzer Konzil. Pläne – Strategien – Erwartungen, hg. v. Helmut Flachenecker (QSGDO 84, Weimar 2020) 35–54, hier 50–53. 38 Baronas, Rowell, The Conversion (wie Anm. 16) 347–353 ; Přemysl Bar, Der Streit um die Chris-
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nicht nur die Begleitmemoranden und die auf der Plenarsitzung des Konzils verlesenen Ordensrepliken auf sie, sondern auch die Konzilschronik von Ulrich von Richental. Er notierte nämlich nicht nur die Anwesenheit der Gesandtschaft aus Samaiten, sondern auch ihr Ersuchen um die Gewährung der katholischen Taufe39. Später hat eine Messe auf denselben Chronisten und auf die übrigen Anwesenden in Konstanz einen großen Eindruck gemacht, die nach dem orthodoxen Ritus vom orthodoxen Metropoliten von Kiew, Grigorij Camblak, gehalten wurde, der im Auftrag von Fürst Vytautas auf dem Konzil die Kirchenunion aushandeln sollte40. Die Ordensdelegation hat auf diese Aktionen verspätet reagiert, und nicht immer überzeugend. Eine Christianisierung Samaitens unter polnisch-litauischer Leitung war für den Orden eine problematische Angelegenheit. Einerseits war es nicht angebracht, öffentlich gegen sie vorzugehen. Andererseits hat real gedroht, dass der Orden definitiv um dieses letzte heidnische Gebiet in Europa kommt, was auch passierte, da die Delegation aus Samaiten auch die Gründung eines neuen, vom Rigaer Erzbistum unabhängigen Bistums forderte (im Gegensatz zu den Forderungen des Ordens). Im Zusammenhang mit der orthodoxen Gesandtschaft waren die Ordensvertreter (offensichtlich vergeblich) bestrebt, die von den polnisch-litauischen Gesandten verbreitete unwahre Information darüber zu korrigieren, dass der orthodoxe Metropolit angeblich die gesamte orthodoxe Ökumene in Osteuropa repräsentiere41. Die Ordensführung hat die Situation offensichtlich unterschätzt und die Gelegenheit nicht genutzt, ihre Standpunkte in den Konzilsforen aktiver zu propagieren (weder in Konstanz noch in Basel). Dabei stand ihr eine qualitativ gute diplomatische Infrastruktur zur Verfügung, einschließlich eines ständigen Vertreters bei der päpstlichen Kurie in der Person des Generalprokurators des Ordens42. In der Beurteilung der politischen tianisierung Litauens und Samaitens auf dem Konstanzer Konzil (1414–1418), in : Studia historica Brunensia 66/2 (2019) 105–125. 39 Chronik des Konstanzer Konzils 1414–1418 von Ulrich von Richental, hg. v. Thomas Martin Buck (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 41, Ostfildern 32013) 74 [176] : Da brachten für die Sama ritani, daz sind haiden, durch ir erber bottschaft und brief, und batend das concilium, daz man inn sendet zwen bischoff und ettwevil ander gelert lüt, die sy underwißtind cristan globen, dann der mertail under inn wär, die genaigt wärind uff den cristan globen. Vgl. auch die alternativen Versionen in der Online-Edition, URL : https://edition.mgh.de/001/html/edition.html#k279 [letzter Zugriff : 10.11.2020] ; https://edi tion.mgh.de/001/html/edition.html#g166 [letzter Zugriff : 10.11.2020]. 40 Chronik des Konstanzer Konzils, hg. Buck (wie Anm. 39) 122–125 ; vgl. Franz Kohlschein, Die älteste Beschreibung der orthodoxen Liturgie in der Chronik des Ulrich von Richental über das Konzil von Konstanz, in : Archiv für Liturgiewissenschaft 29 (1987) 234–241. 41 Bar, Eine (un)genutzte Gelegenheit (wie Anm. 37) 52–53. 42 Klaus Neitmann, Die Staatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen 1230–1449. Studien zur Diplomatie eines spätmittelalterlichen deutschen Territorialstaates (Köln 1986) ; Die Berichte der Generalprokuratoren des Deutschen Ordens an der Kurie 1–4, hg. v. Kurt Forstreuter, Hans Koeppen (Göttin-
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Situation waren der Hochmeister und seine nächste Umgebung häufig anderer Meinung als der Ordensvertreter am Heiligen Stuhl, der den dramatischen Prestigeverlust des Ordens bei den europäischen Eliten nämlich deutlicher wahrnahm. Die Ordensführung ging hingegen stets von einer kollektiven Überzeugung über die außergewöhnliche und direkt von Gott aufgetragene Mission aus, die den Ordensmitgliedern die Rolle auserwählter Ritter Christi (milites Christi) zuwies43. Bezeichnend ist die Warnung des Ordensprokurators Peter von Wormditt, der den Hochmeister daran erinnerte, dass der Papst den Orden auf einem einzigen Konsistorium auflösen könne, wie dies seinerzeit den Templern geschehen sei44. In der kollektiven Wesenseinheit über die eigene Außergewöhnlichkeit und auch in der (aus Ordenssicht unbestreitbaren) Annahme, dass die Verbreitung des Christentums mit dem Schwert automatisch mit einer Machtvorherrschaft des Ordens verknüpft sei, kann bis zu einem gewissen Grade die Erklärung für die bisweilen unverständliche Politik der Ordensführung gesucht werden, die mit bestimmten litauischen Fürsten (z. B. Mindaugas, Gediminas, Jogaila, Vytautas usw.) mit der Absicht ein Bündnis schloss, Polen oder Litauen bzw. die polnisch-litauische Union zu schwächen, obwohl sich der Hochmeister wiederholt von deren Illoyalität und Ehrlosigkeit überzeugt hat45. Auf den Misserfolg der Ordenspropaganda hatten auch strukturelle Begrenzungen einen gewissen Einfluss, von denen die Ordensführung gewusst haben konnte, aber nicht hatte wissen müssen. Den Ordensbrüdern in Preußen fehlte ein institutionelles intellektuelles Umfeld in Form einer Universität, um die sie sich ab Ende des 14. Jahrhunderts (1386) erfolglos bemüht hatten46. Die Anzahl der an ausländischen Universitäten gen 1960–1976) ; Jan-Erik Beuttel, Der Generalprokurator des Deutschen Ordens an der römischen Kurie. Amt, Funktion, personelles Umfeld und Finanzierung (QSGDO 55, Marburg a. d. Lahn 1999) ; Gabriele Annas, Die Berichte der Generalprokuratoren des Deutschen Ordens an der Kurie des 14. und 15. Jahrhunderts. Überlegungen zu den Quellen, in : Stilus – modus – usus. Regeln der Konflikt- und Verhandlungsführung am Papsthof des Mittelalters, hg. v. Jessika Nowak, Georg Strack (Turnhout 2019) 293–314. 43 Marcus Wüst, Studien zum Selbstverständnis des Deutschen Ordens im Mittelalter (QSGDO 73, Weimar 2013). 44 Die Berichte der Generalprokuratoren, hg. Koeppen 2 (wie Anm. 42) Nr. 84, hier S. 182 : Her [d.h. der Papst] mag in eynem consistorio mit eyner bullen alle des ordens privilegia, friheit und gnade widerrufen […]. Habt ir nicht gehort, wie die Tempelherren von des bobstes gebote an eynen tagen vil, noch alle in allen landen wurden vortylget ? Vgl. Mats Homann, Der Blick des Deutschen Ordens auf das Konstanzer Konzil – die Briefe des Generalprokurators Peter von Wormditt und des Hochmeisters Michael Küchmeister, in : Der Deutsche Orden auf dem Konstanzer Konzil, hg. Flachenecker (wie Anm. 37) 55–88. 45 Vgl. Rimvydas Petrauskas, Litauen und der Deutsche Orden. Vom Feind zum Verbündeten, in : Tannenberg – Grunwald – Žalgiris, hg. Paravicini, Petrauskas, Vercamer (wie Anm. 30) 237–251. 46 Brygida Kürbis, Die mißlungene Gründung einer Universität in Kulm (1386), in : Archiv für Kulturgeschichte 46 (1964) 203–218 ; Zenon Hubert Nowak, Starania o założenie uniwersytetu w Chełmnie w XIV i XV w. [Die Bemühungen um die Universitätsgründung in Kulm (an der Weichsel) im XIV.
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ausgebildeten Ordensmitglieder beschränkte sich auf einige preußische Priester, Kapitelangehörige und Bischöfe47, deren eindeutige Unterstützung der Interessen des Hochmeisters nicht immer selbstverständlich war48. In einer konkurrenzlos besseren Position befand sich Władysław Jagiełło, für dessen Expansionspolitik eine Reihe von Juristen und Theologen der Krakauer Universität nicht nur die Unterlagen für die Gerichtsstreitigkeiten und diplomatischen Verhandlungen vorbereitete, sondern auch theoretische Traktate verfasste, in denen das aristotelische Thema des gerechten Krieges (bellum ius tum) und das Problem der natürlichen Rechte (ius naturale) von Ungläubigen (infideles) ausgearbeitet wurden49. Auch in gesellschaftlicher Hinsicht hatte das polnische Königreich eine bessere Ausgangsposition als der »Ordensstaat«. Aussagen von Zeugen, die aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten stammen, begegnen wir in den Gerichtsprozessen nur auf polnischer Seite. Ihr Inhalt deutet auf ein hohes Maß hin, sich mit den Interessen des Herrschers und der polnischen Krone zu identifizieren. Unter den Ordensuntertanen in Preußen würde man eine ähnliche Haltung vergeblich suchen50.
und XV. Jahrhundert], in : Zapiski historyczne 31/4 (1966) 7–36 ; ders., Bemühungen um die Gründung einer Universität in Kulm im 14. und 15. Jahrhundert, in : Der Deutschordensstaat Preußen in der polnischen Geschichtsschreibung der Gegenwart, hg. v. Udo Arnold, Marian Biskup (QSGDO 30, Marburg a. d. Lahn 1982) 189–217. 47 Vgl. Hartmut Boockmann, Die Rechtsstudenten des Deutschen Ordens. Studium, Studienförderung und gelehrter Beruf im späteren Mittelalter, in : Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag am 19. September 1971, hg. v. Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für Geschichte 2 (Göttingen 1972) 313–375 ; Neitmann, Die Staatsverträge (wie Anm. 42) 39–51. 48 Besonders wenn es sich um hochrangige Prälaten handelte, wie z. B. den Rigaer Erzbischof, siehe Bernhart Jähnig, Johann von Wallenrode O. T. Erzbischof von Riga, königlicher Rat, Deutschordensdiplomat und Bischof von Lüttich im Zeitalter des Schismas und des Konstanzer Konzils (um 1370–1419) (QSGDO 24, Bad Godesberg 1970). 49 Krzysztof Ożóg, Uczeni w monarchii Jadwigi Andegaweńskiej i Władysława Jagiełły (1384–1434) [Die Gelehrten im Königreich Hedwigs von Anjou und Władysław Jagiełłos (1384–1434)] (Kraków 2004) ; ders., The Role of Poland in the Intellectual Development of Europe in the Middle Ages (Kraków 2009) ; Wojciech Świeboda, Innowiercy w opiniach prawnych uczonych polskich w XV wieku. Poganie, żydzi, muzułmanie [Andersgläubige in den Rechtsgutachten polnischer Gelehrter des 15. Jahrhunderts. Heiden, Juden, Muslime] (Kraków 2013). 50 Vgl. Wiesław Sieradzan, Świadomość historyczna świadków w procesach polsko-krzyżackich w XIV– XV wieku [Das historische Bewusstsein der Zeugen in den Rechtsverfahren zwischen dem Orden und Polen im 14.–15. Jahrhundert] (Toruń 1993) ; Lites ac res gestae inter Polonos Ordinemque Cruciferorum = Spory i sprawy pomiędzy Polakami a zakonem krzyżackim. Akta postępowania przed wysłannikiem papieskim Antonim Zeno z Mediolanu w latach 1422–1423 [Streitigkeiten und Rechtsangelegenheiten zwischen Polen und dem Deutschen Orden. Die Akten des Verfahrens vor dem päpstlichen Gesandten Antoni Zeno aus Mailand in den Jahren 1422–1423], hg. v. Sławomir Jóźwiak, Adam Szweda, Sobiesław Szybkowski (Toruń 2015).
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Einen gewissen Indikator kann auch ein Vergleich der historiographischen Tradition liefern. Auf polnischer Seite haben wir das historische Opus von Jan Długosz (1415– 1480), der es fertig brachte, alle Quellen des bisherigen ideologischen Kampfes (Predigten, Traktate, Anklageartikel, Rechtsunterlagen, historiographische Schriften usw.) zu behandeln und aus ihnen auf kreative Weise eine konkurrenzlose Nationalideologie des polnischen Königreiches auszuarbeiten51. Demgegenüber hatte die preußische Historiographie im 15. Jahrhundert begonnen, sich immer mehr in eine des Ordens und in eine des Landes aufzuspalten52. Die zweitgenannte, etwa von Johann Posilge (um 1340–1405) repräsentierte, zeigt auf, dass eine eindeutig negative Haltung zur polnischlitauischen Union nicht automatisch eine positive Beurteilung der Politik des Hochmeisters und der Ordensführung bedeuten muss. Es ist offensichtlich, dass die Suche nach den Ursachen, warum die Ordenspropaganda erfolglos war, für die gegenwärtige und auch die künftige Forschung immer noch eine große Herausforderung darstellt. Ich bin mir dessen bewusst, dass eine Beurteilung von Erfolg oder Misserfolg in vorliegendem Falle problematischer ist, als wenn es um diplomatische Verhandlungen oder um militärische Zusammenstöße ginge. Trotzdem habe ich mich auf den vorhergehenden Seiten bemüht zumindest anzudeuten, dass es bis zu einem gewissen Grad möglich ist und sich die Forschung in Teilfragen dazu auch schon geäußert hat. Man kann sich jedoch nicht allein auf eine Detailanalyse der in den Propagandaschriften verwendeten Argumente beschränken. Wenn wir Propaganda als einen spezifischen Kommunikationsprozess verstehen, dann müssen nicht nur die verschiedenen Quellengattungen (Korrespondenz, Predigten, Anklageartikel, juristische Traktate usw.) herangezogen werden, sondern man muss sich auch auf die verschiedenen Phasen jenes Prozesses konzentrieren ; besonders auf die Wirkung der propagierten Ideen. Auf sie hatten viele Faktoren einen gewissen Einfluss, vor allem materielle, menschliche und intellektuelle Ressourcen, die beiden Seiten zur Verfügung standen, um einen Propagandakrieg zu führen, und der sich verändernde politische, gesellschaftliche und zivilisatorische Kontext Europas im Spätmittelalter53.
51 Vgl. Wojciech Polak, Aprobata i spór. Zakon krzyżacki jako instytucja kościelna w dziełach Jana Długosza [Billigung und Auseinandersetzung. Der Deutsche Orden als kirchliche Institution in den Werken des Jan Długosz] (Lublin 1999). 52 Odilo Engels, Zur Historiographie des Deutschen Ordens im Mittelalter, in : Archiv für Kulturgeschichte 48 (1966) 336–363 ; Udo Arnold, Geschichtsschreibung im Preußenland bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts, in : Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 19 (1970) 74–126. 53 Diese Studie wurde von der Tschechischen Forschungsgemeinschaft (GA ČR) im Rahmen des Projekts EXPRO 19-28415X »From Performativity to Institutionalization : Handling Conflict in the Late Middle Ages (Strategies, Agents, Communication)« gefördert.
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Zum Frustukh gangen mit andern Weiber der Tuchmacher Die Repräsentation einer ungehorsamen städtischen Gemeinde in der Iglauer Chronik des Martin Leupold von Löwenthal
»Und so sagte man überall, dass die Mönche den Brand gelegt hätten.« So kommentierte der anonyme Autor einer der zahlreichen Redaktionen der sog. Alten Böhmischen Annalen die Nachricht über den katastrophalen Brand von Iglau/Jihlava im Jahr 1523, der von der mährischen Stadt nicht mehr als ein paar kleine Häuser übrig ließ1. Der Autor äußerte sich auch zum Motiv für die angebliche Brandstiftung durch die Iglauer Mönche. Diese hätten den Eindruck erwecken wollen, dass Gott die Iglauer für ihr Benehmen bestraft habe, da die Bürger den Prediger Paulus Sperratus, einen frühen Anhänger Martin Luthers, in ihre Stadt eingeladen hatten. Die Aufmerksamkeit, die die Annalen Iglau an dieser Stelle widmen, überrascht und weckt das Interesse des Geschichtsforschers, da der geographische Horizont der Alten Böhmischen Annalen sich gewöhnlich auf Ereignisse beschränkt, die sich in Böhmen zutrugen. Einige Redaktionen konzentrieren sich dermaßen stark auf Prag, dass sie praktisch als Ersatz für eine offizielle Prager Stadtchronik gedeutet werden können2. Die Erwähnung des Iglauer Stadtbrandes durch den anonymen Prager Autor erklärt sich möglicherweise aus dem breiten Echo, welches die Katastrophe in den übrigen Kronländern fand. Vielleicht darf man dem utraquistischen Chronisten auch unterstellen, in der Darstellung der Iglauer Ereignisse eine Gelegenheit für eine Art Abrechnung mit der römischen Kirche gesehen zu haben. Schließlich könnte man vielleicht sogar etwas überspitzt theoretisieren, dass der Autor eine hämische Botschaft an die Adresse der zerstörten Stadt senden wollte, welche damals noch immer zu den antihussitischen Bollwerken zählte und sich nicht lange zuvor bis zum Äußersten geweigert hatte, den »Hussitenkönig« Georg von Podiebrad anzuerkennen. Die Redaktion der Alten Böhmischen Annalen, die die Iglauer Mönche als brandstifterische Lügner zeichnet, ist aber nicht die einzige ausführliche Darstellung, die sich über den Brand in Iglau erhalten hat. Auch der Mährer Martin 1 Národní knihovna České republiky, Oddělení starých tisků a rukopisů, Vyšehradský sborník právní. Staré letopisy, Text Q [Nationalbibliothek der Tschechischen Republik Prag, Abteilung Alte Drucke und Handschriften, Vyšehrader Rechtssammlung. Alte Böhmische Annalen, Text Q], fol. 276v. 2 Petr Čornej, Původní vrstva Starých letopisů českých [Die Urschicht der Alten Böhmischen Annalen], in : Staré letopisy české [Die Alten Böhmischen Annalen], hg. v. Alena M. Černá, Petr Čornej, Markéta klosová (Fontes rerum Bohemicarum. Series nova 2, Praha 2003) VIIf.
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Leupold von Löwenthal widmete der Katastrophe einen umfang- und facettenreichen Text. Seine Chronik ist zwar etwa hundert Jahre nach den Ereignissen entstanden, der Stadtschreiber und Chronist konnte sich jedoch auf die reiche schriftliche Überlieferung des Stadtarchivs sowie auf ältere Familienaufzeichnungen stützen. Allgemein kann festgehalten werden, dass der Chronist der Zeit rund um die Ankunft des protolutherischen Predigers Sperratus erhöhte Aufmerksamkeit widmete. Als Auslöser des Stadtbrandes nennt seine Iglauer Chronik anstelle der zündelnden Mönche des Alten Annalisten eine Gruppe von lokalen Tuchmachergattinnen. Angeblich ließen diese Frauen sich auf ungarischen Wein einladen, den sie nicht gewohnt waren. In betrunkenem Zustand gaben sie sich Ausschweifungen hin, tanzten und beschlossen schließlich, im Haus eines ihrer Ehemänner Pfannkuchen zu backen. In ihrer Leichtfertigkeit verursachten sie einen Brand, dem schließlich die ganze Stadt zum Opfer fiel3. Beide Versionen entspringen höchstwahrscheinlich der puren Fabulierkunst der Chronisten. Dessen ungeachtet haben sie hohen Aussagewert, denn sie zeigen die unterschiedlichen Rezipientenkreise, an die sich die beiden Verfasser wandten. Chronisten des 16. Jahrhunderts waren sich des Stellenwerts einer »guten Geschichte« und ihrer Resonanz bei den Lesern/Zuhörern im Allgemeinen sehr bewusst4. Im vorliegenden Fall war das Ziel aber nicht, das Publikum bloß zu unterhalten. Beide Erzählungen sollten vielmehr Schuldige für die Feuerkatastrophe identifizieren. Im ersten Fall handelte es sich dabei um »die Römer«, wie Geistliche und Kleriker, die die päpstliche Autorität anerkannten, nicht selten bezeichnet wurden. Im zweiten Fall waren es Frauen, welche die Grenzen weiblicher Rollenbilder überschritten – ein Sinnbild des ungeordneten Zustandes, der durch die damalige Rebellion der Iglauer Gemeinde gegen den Rat hervorgerufen worden war. Die einleitende Erzählung über die Iglauer Ereignisse bringt uns somit zu einem allgemeineren Problem – der Frage nach der Rolle von Propaganda in narrativen Quellen des Spätmittelalters. Es geht dabei nicht nur um die Identifikation einschlägiger Passagen, um zu vermeiden, ihnen durch unsere Rezeption quasi wieder neues Leben einzuhauchen. Auch wenn es heute meist nicht mehr um eine Erzählung geht, die Machtverhältnisse festigen soll, besteht die Gefahr, dass wir uns durch die Reduktion dieser und ähnlicher Mikrogeschichten auf eine »gute Story«, welche unsere 3 Die Chronik wurde ediert als Chronik der königlichen Stadt Iglau (1402–1607), hg. v. Christian d’Elwert (Brünn 1861) 60f. (im Folgenden : Martin Leupold, Iglauer Chronik). Der Verfasser fügte noch eine Botschaft an die Adresse der Iglauer Gemeinde hinzu, indem er anmerkte, die »Päpstlichen« hätten behauptet, bei dem Brand handle es sich um die Strafe Gottes für die Unterstützung des prolutherischen Predigers. Ebd. 61. Ausführlich dazu Josef Dřímal, Sociální boje v moravských královských městech ve 20. letech 16. století [Soziale Kämpfe in den mährischen königlichen Städten in den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts], in : Brno v minulosti a dnes 5 (1963) 114–147, hier 135f. 4 Näher dazu Cordelie Hess, Nigra crux mala crux. A comparative perspective on urban conflict in Gdansk in 1411 and 1416, in : Urban History 41 (2014) 565–581, hier 579.
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eigenen Texte beleben soll, oder durch ihr schulterzuckendes Beiseitelegen als »bloße Propaganda« (insbesondere, wenn sie nicht durch andere Quellen gedeckt sind) der Möglichkeit der komplexen Interpretation dieser Erzählungen begeben. Die Frage nach der Interaktion zwischen dem Verfasser und seinem Publikum, d.h. der Interpretationsgemeinschaft, welche derartige »Mikrogeschichten« rezipierte und dekodierte, gehört bereits seit Längerem zu den produktivsten Zweigen der modernen Geschichtsforschung5. Die Analyse narrativer Texte aus der Übergangszeit zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit (aber auch aus anderen Epochen) wirft viele interessante Fragen auf. Dabei muss nach dem Ziel der »Mikrogeschichten« gefragt werden, nach etwaigen Veränderungen und Neuinterpretationen im Fall der späteren Fortsetzung einer Chronik, ebenso wie nach ihrer Rezeption durch das Publikum6. Im Fall der Iglauer Chronik lassen sich zumindest drei Themenfelder erkennen, welche den Verfasser interessierten. Auch wenn die ursprüngliche Handschrift als Ganzes als Stadt-, und nicht als Familienchronik zu bezeichnen ist, blieben in der Erzählung die Familienaufzeichnungen mehrerer Generationen der Familie Leupold erhalten, welche zur Iglauer Bildungselite gehörte. Dass sich in der Chronik Angaben zu Geburts-, Heirats- oder Sterbedaten finden, überrascht daher kaum. Neben traditionellen Familienaufzeichnungen hielt Martin Leupold aber auch das Jahr fest, in dem sein Großvater Lukas zum Rektor der Iglauer Stadtschule ernannt wurde7. Im Grenzgebiet zwischen 5 Karel Hruza, Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit im Mittelalter, in : Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11.–16. Jahrhundert), hg. v. Karel Hruza (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Denkschriften – Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 6, Wien 2002) 9–25. 6 Lisa Demets, Jan Dumolyn, Urban chronicle writing in late medieval Flanders. The case of Bruges during the Flemish Revolt of 1482–1490, in : Urban History 43 (2016) 28–45, hier 34, führten den Terminus »Interpretative Community« in die Analyse urbaner Geschichtsschreibung ein. 7 Dem Herausgeber der Chronik, Christian d’Elvert, zufolge begann die Chronik mit einem lateinischen Gedicht, welches der erfolgreichen Verteidigung der Stadt gegen jenen nächtlichen Überfall im Jahr 1402 gedachte, der auch auf dem bekannten, bis heute im Presbyterium des Iglauer Franziskanerklosters zu besichtigenden Fresko verewigt ist. Der eigentliche Text setzt dann mit einem Bericht über die Belagerung Znaims durch Albrecht IV. von Habsburg, dessen Tod und das Auseinandergehen seines Belagerungsheeres ein. Das Ereignis ist falsch datiert, da der Chronist es ins Jahr 1406 setzte. Der erste Verwandte, den Martin Leupold erwähnt, ist sein Urgroßvater, der angeblich 1418 geboren wurde. Leupold gedenkt diesen Vorfahren zweimal. Zunächst im annalistischen Teil der Chronik und dann auch in einem kurzen Biogramm, in dem er das Jahr der Eheschließung und der Geburt eines Sohnes – also des Großvaters des Verfassers – erwähnt. Dieses Detail belegt aber nicht eine erhöhte Aufmerksamkeit des Chronisten, sondern, im Gegenteil, eher dessen Desinteresse. Leupold bemühte sich nicht, diesen älteren Familienaufzeichnungen eine durchdachte Form zu verleihen. In das genannte Jahr setzte er auch das erste Auftreten Jan Žižkas (sic !). Familienaufzeichnungen und Anmerkungen brisanten Charakters (z. B. über die Fälschung des Stadtsiegels) sowie Exzerpte aus der Böhmischen Chronik des Wenzel Hájek von Libočany werden ab dem Beginn der Herrschaft Georgs von Podiebrad auch durch eingefügte Abschriften von Dokumenten ergänzt. Näher dazu Martin Leupold, Iglauer Chronik (wie Anm. 3) 1f.
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Familien- und städtischer Erinnerung bewegt sich die Darstellung einer gewichtigen Mission des Vaters des Chronisten, welcher gemeinsam mit einem weiteren Ratsherrn nach Wittenberg gesandt wurde. Im Auftrag des Stadtrates besuchten die beiden Delegierten Philipp Melanchton und baten ihn um eine Empfehlung hinsichtlich eines geeigneten evangelischen Predigers, dem sie eine Stelle in Iglau anbieten wollten. Martin Leupold verwendete offenbar Erinnerungen seines Vaters für seine Darstellung der Verhandlungen der Iglauer Abgesandten mit dem informellen Führer der deutschen Protestanten. Die Iglauer verlangten einen reifen und erfahrenen Mann, Melanchton habe ihnen aber nur Albert Cruciger, einen seiner jungen Anhänger, angeboten. Mögliche Bedenken hinsichtlich dieses jungen Mannes zerstreuten sich jedoch rasch und Cruciger eroberte mit seinen Predigten (glaubt man dem Chronisten) schnell die ganze Stadt8. Dieses Ereignis erwähne ich auch deshalb, weil es ein Licht wirft auf das Vorgehen des einstigen Stadtschreibers bei der Darstellung von Ereignissen aus einer Zeit, in der er sich nicht auf eigenes Miterleben stützen konnte. Für umfangreichere Passagen griff er entweder auf andere historiographische Werke, die nicht unmittelbar mit Iglau verbunden waren (z. B. die Chronik Wenzel Hájeks von Libočany), oder auf mündlich tradierte und vielleicht auch schriftlich festgehaltene lokale Erinnerungen (etwa über Skandale, Naturkatastrophen oder die Ankunft Ferdinands I. im Land) und schließlich auch auf heute verlorene Familienaufzeichnungen zurück. Die Deutung der Chronik als ein Werk, welches zwischen Familien- und Stadtchronik steht, oder vielmehr als ein Werk, welches die Geschichte einer Familie in ihrem urbanen Umfeld verortet, wird auch durch die Tatsache unterstrichen, dass Angehörige der Familie Leupold von Löwenthal zumindest noch zweimal zur Feder griffen, um Martins Chronik fortzusetzen. Diese Fortsetzung umfasst die Zeit von 1407 bis 16079. Für das böhmisch-mährische Milieu handelt es sich um eine einzigartige Situation. Die Leupold hingen, so wie der Großteil der Iglauer Elite, früh der lutherischen Reformation an. Der Chronist selbst erfuhr die Konsequenzen schmerzlich am eigenen Leib, da er für seine aktive Teilnahme am Böhmischen Ständeaufstand auf dem Schafott büßen sollte. Das Urteil wurde zwar anschließend vom Kaiser in Haft und Enteignung umgewandelt, Leupold konnte sich jedoch seines geschenkten Lebens nicht lange erfreuen. Zwei Jahre später erlag er der Pest10. Und eben die Verflechtung des Schicksals der Stadt Iglau mit dem Luthertum stellt das zweite Themenfeld dar, welches den ehemaligen Stadtschreiber interessierte. Auch das dritte Themenfeld überrascht wenig, denn es handelt sich um die Geschichte des Stadtregiments, bzw. um die Legitimierung der Autorität des Stadtrates 8 Martin Leupold, Iglauer Chronik (wie Anm. 3) 107f. 9 S. František Hoffmann, Soupis rukopisů Státního okresního archivu v Jihlavě [Verzeichnis der Handschriften des Staatlichen Bezirksarchivs in Iglau] ( Jihlava 2001) 137f. 10 Siehe das Vorwort Christian d’Elverts in : Martin Leupold, Iglauer Chronik (wie Anm. 3) IXf.
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und jener Familien, die schon seit langem an der Stadtregierung teilhatten. Das Interesse für diese politisch-verfassungsrechtlichen Angelegenheiten kommt etwa in der alljährlichen Auflistung der neu gewählten Schöffen, oder in der Abschrift städtischer Privilegien und Zollregulatorien zum Ausdruck. Die ältesten Einträge der Iglauer Chronik reichen bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts zurück, ausführlicher in die Anlage der Darstellung griff der Autor aber erst bei wesentlich jüngeren Ereignissen ein. Eine Änderung des Stils hin zu einem aktiveren Hervortreten des Verfassers kann im Grunde erst bei der Darstellung jener Ereignisse festgestellt werden, welche die gegen den Stadtrat gerichteten Unruhen der Jahre 1520– 1524 begleiteten. Zufällig fiel auch die Ankunft des protolutherischen Predigers Paulus Sperratus in das Jahr 1522. Martin Leupold stand damit vor der Herausforderung, wie er die beiden sich parallel abspielenden Gründungserzählungen der frühneuzeitlichen Iglauer Gesellschaft behandeln sollte. Anstatt einer strikt chronologischen Wiedergabe der Ereignisse entschied er sich dafür, quasi die eine Geschichte in der anderen zu erzählen. Zunächst widmet er sich den Anfängen der Rebellion gegen den Stadtrat, dann unterbricht er die Chronologie dieser Erzählung zugunsten einer Darstellung der Ankunft Paulus Sperratus’, seiner Tätigkeit und der Bemühungen der Stadt, seine Predigttätigkeit zu verteidigen. Danach kehrt er zu einer neuen Phase der Unruhen und ihrer Beendigung durch Ludwig II. Jagiello zurück. Die Art und Weise, wie Martin Leupold in diesem Textabschnitt vorging, zeugt von der durchdachten Arbeitsweise des Chronisten. Er flocht in diesen Abschnitt der Chronik viele Abschriften von Briefen wie auch urkundliche Dokumente ein, wobei er manche davon im ursprünglichen Wortlaut beließ, andere dagegen aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzte. Mit Blick auf die eingangs zitierte Passage beschränke ich mich auf Leupolds Darstellung des großen Stadtbrandes und übergehe absichtlich die diplomatische Offensive des Iglauer Rates am Königshof und bei den Landesbeamten zugunsten von Paulus Sperratus, da es dabei zwar um die Gründungserzählung des lutherischen Iglau geht, nicht jedoch um das Verhältnis zwischen Gemeinde und Stadtrat11. 11 Zur diplomatischen Initiative der Iglauer zugunsten von Paulus Sperratus vgl. Martin Leupold, Iglauer Chronik (wie Anm. 3) 56–59. Viele Schreiben der Stadt an böhmische und mährische Adelige sind in Moravský zemský archiv – Státní okresní archiv Jihlava [Mährisches Landesarchiv – Staatliches Bezirksarchiv Iglau], Bestand Archiv města Jihlava [Stadtarchiv Iglau], Abteilung Spisy [Akten], Sign. II A 9 erhalten. Zur Tätigkeit des Wiener Predigers in Iglau bislang am ausführlichsten Ferdinand Schener, Beiträge zur Geschichte der Reformation in Iglau, in : Zeitschrift des Deutschen Vereines für die Geschichte Mährens und Schlesiens 15 (1911) 222–255 und mit manchen Ergänzungen Ferdinand Hrejsa, K českým dějinám náboženským za prvních let Ferdinanda I. [Zur böhmischen Religionsgeschichte in den ersten Jahren Ferdinands I.], in : Český časopis historický 21 (1915) 161–216. Im Kontext anderer früher Zentren der Reformation in Mitteleuropa Zoltán Csepregi, Bund, Bundschuh, Verbundenheit. Radikales Gemeinschaftsprinzip in der frühen Reformation Ungarns, in : Armed memory. Agency and
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Das Verhältnis der beiden genannten Institutionen zueinander unterlag Änderungen, die von der sozialen und wirtschaftlichen Zusammensetzung der Einwohnerschaft abhingen. Bereits im 13. Jahrhundert erlangte die Stadt Ruhm als Zentrum des Silberbergbaus und wurde bald zum Oberhof eines eigenen Rechtsbezirks. In dieser ältesten Phase der Iglauer Geschichte hatten jene Familien, die im Bergbau engagiert waren, eine dominante Stellung inne. Zusätzlich zu ihren formalen politischen Positionen musste sich die Stadtregierung auch mit den weitgefächerten informalen Einflussmöglichkeiten dieser Familien arrangieren. Die folgenden Veränderungen in der innerstädtischen Machtverteilung spielten sich im historisch üblichen Rahmen ab. Dank der Arbeiten des Iglauer Stadthistorikers František Hoffmann können wir den Prozess der allmählichen Schwächung der Stellung des Erbrichters bis zu dessen Unterordnung unter den Stadtrat detailliert nachvollziehen. Das Symbol der neuen Verhältnisse ist der Ausbau des Rathauses Anfang des 15. Jahrhunderts. Hier gelangen wir bereits in eine Zeit des wirtschaftlichen Wandels und damit auch der gewandelten Machtverhältnisse in der Stadtregierung. Der Bergbau war nun nicht mehr so ertragreich, wie er früher gewesen war. Im Laufe weniger Jahrzehnte setzte sich ein politisches Modell durch, das drei alternierend amtierende Stadträte vorsah, deren soziale Zusammensetzung sich allerdings nur wenig geändert hatte. Versammlungen der Gemeinde wurden häufig durch gemeinsame Sitzungen der drei Räte ersetzt (d.h. des alten, des amtierenden und des künftigen Rates). Zum Kommunikationsinstrument des Stadtrates mit der Gemeinde wurden František Hoffmann zufolge die vier Gemeindeältesten, welche vom Rat ernannt wurden und ihm daher auch untergeordnet waren. Der Wohlstand der Stadt stützte sich nun auf die Tuchmacher und das Lebensmittelgewerbe, unter denen die Brauer eine Vorrangstellung einnahmen. Und es waren eben die Brauer, gegen deren Überrepräsentation in der Stadtregierung sich an der Wende zum 16. Jahrhundert starker Widerstand erhob12. Die bestehenden Spannungen innerhalb der Stadtgesellschaft wurden durch Naturkatastrophen zusätzlich verschärft. 1520 brach in Iglau die Pest aus, der dem Chronisten zufolge etwa zweitausend Personen erlagen. Auch wenn es sich wohl um eine eher symbolische Zahl handelt, schrieb sich das Ereignis doch fest in das kollektive Gedächtnis ein. In seiner Chronik fügte Martin Leupold unter demselben Jahr die knappe Bemerkung hinzu, dass wegen der von der Gemeinde ausgehenden Unruhen weder in diesem noch im folgenden Jahr der Rat ordnungsgemäß erneuert wurde. Die Rebellion als solpeasant revolts in Central and Southern Europe (1450–1700), hg. v. Gabriella Erdélyi (Refo500 Academic Studies 27, Göttingen 2016) 147–168. 12 Ivana Ebelová, Správa města [Die Verwaltung der Stadt], in : Jihlava. Historie, Kultura, Lidé [Iglau. Geschichte, Kultur, Menschen], hg. v. Renata Pisková (Dějiny českých, moravských a slezských měst, Praha 2009) 138f.
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che beschreibt der Autor bis ins Detail. Seine Darstellung entspricht in ihren grundsätzlichen Punkten dem Bild, das sich aus weiteren erhaltenen Quellen gewinnen lässt. Für das Verständnis der Darstellungsabsicht äußerst wichtig ist aber eine Nachricht, die Leupold seinem Bericht über die Rebellion voransetzt, und die sich aus keiner anderen Quelle belegen lässt. Im Jahr 1499 versammelte sich (angeblich) auf Aufforderung des Königs die Iglauer Gemeinde im Rathaus, wo ihr ein königliches Mandat über die künftige Gestalt der Iglauer Stadtverfassung vorgelesen wurde. Zwanzig Bürger, welche die Gemeinde repräsentierten, und einige Ratsherren reisten anschließend nach Brünn, um aus dem Mund des mährischen Landeshauptmanns noch einmal persönlich die diesbezüglichen Anordnungen des Herrschers zu hören. Künftig sollte die Gemeinde bei Verhandlungen mit dem Stadtrat ausschließlich von den vier Gemeindeältesten repräsentiert werden. Die Ratsherren waren nicht mehr verpflichtet, die Zustimmung der gesamten Gemeinde einzuholen. Wenn wir die in Iglau übliche Ernennung der Gemeindeältesten durch den Rat berücksichtigen, sehen wir hier eine restriktive Variante des bunten Spektrums an Möglichkeiten, wie durch Wahl- und Bestellungsmodalitäten der Anteil der Gemeinde an wichtigen, vor allem wirtschaftlichen Entscheidungen entweder gestärkt oder aber geschwächt werden konnte. Der tiefere Sinn hinter der (angeblichen) Entscheidung des Königs von 1499 erschließt sich dabei vor allem aus den folgenden Ereignissen13. Im Herbst 1520 kam es in der Iglauer Vorstadt zu einem Dammbruch. Bei der folgenden Flutwelle kamen mehr als zwei Dutzend Menschen ums Leben. Für die Stadtgesellschaft, welche durch die akuten Folgen der jüngsten Pestwelle bereits destabilisiert war, handelte es sich um einen weiteren fatalen Schlag. Den berühmten letzten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, bildete aber die Entdeckung der Leiche eines bei der Flutwelle zu Tode gekommenen Handwerkergesellen, etwa ein Monat nach dem eigentlichen Unglück. Das Begräbnis im Minoritenkloster verwandelte sich in ein kollektives Aufbegehren gegen den Stadtrat. Dieses heizte der dortige Kustos noch weiter an, indem er den Stadtrat öffentlich der fahrlässigen Vernachlässigung der gebrochenen Dämme beschuldigte. Die folgenden Ereignisse wurden bereits wiederholt beschrieben. Bei ihrer Charakterisierung können wir Cordelie Hess’ Beurteilung ähnlicher Ereignisse im mittelalterlichen Danzig heranziehen : »Transgression is a central aspect of urban rioting ; either the violation of old boundaries or the establishment of new ones.«14 In Iglau kam es weder zu einem Blutbad noch zur Verurteilung eines Ratsherrn. Das Überschreiten realer oder symbolischer Grenzen durch die Aufständischen ist aber zum Thema vieler königlicher Mandate, Entscheidungen von Schiedskommissionen und na13 Martin Leupold, Iglauer Chronik (wie Anm. 3) 24. 14 Hess, Nigra Crux (wie Anm. 4) 577.
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türlich auch der Chronik Martin Leupolds geworden. Der Stadtrat büßte für einige Zeit seine Kontrolle über dem öffentlichen Raum ein. Die rebellierenden Bürger brachten die sterblichen Überreste des toten Gesellen in einer Prozession bis vor das Rathaus. Die Gemeinde begann, auf eigene Initiative zusammenzutreten, wählte Repräsentanten und versuchte sogar, die Stadtverfassung zu ändern, indem sie den vier Gemeindeältesten 24 Helfer zur Seite stellte. Von der Kontrolle des Rates befreiten sich insbesondere die Zünfte, welche angeblich eigene Siegelstempel anfertigen ließen und mit diesen Siegeln einen neu geschlossenen Bund bekräftigten. Spätere Beschwerden des Rates gegen die Aufständischen umfassten 24 Punkte, einschließlich Drohungen und Gewaltanwendung15. Die Gemeinde forderte eine deutliche Verlagerung der Macht, weg vom Rat hin zu einem System, in dem die Gemeinde die Bestellung ihrer vier, mit neuen, zusätzlichen Befugnissen ausgestatteten Repräsentanten kontrollierte. Kandidaten für den Stadtrat sollten die Billigung der Gemeinde benötigen und die Gemeindeältesten sollten Kontrollbefugnisse hinsichtlich der Stadtfinanzen erhalten. Alle drei Forderungen hätten einen deutlichen Eingriff in bisherige Gewohnheiten und einen empfindlichen Machtverlust für die damalige Ratselite bedeutet16. Beide Lager suchten in dem Konflikt Unterstützung von außen. Die Einrichtung einer vom mährischen Unterkämmerer geführten Schiedskommission half, die Auseinandersetzung gewaltlos zu beenden. Die Kommission kam der Gemeinde in vielen Punkten entgegen. Sie legte ein neues Prozedere für die Auswahl von Kandidaten für den Stadtrat fest, ging auf die Forderung der Gemeinde nach verstärkter Kontrolle des städtischen Rechnungswesens ein und regelte schließlich auch die von der Gemeinde kritisierte Weinschankordnung neu. Andererseits trat sie nachdrücklich gegen die neuen Einungen, Bundbriefe und gegen die eigenmächtig eingeführten Zunftsiegel auf17. Der mährische Unterkämmerer argumentierte mit der Notwendigkeit, gemeinsam den »guten Ruf« der Stadt zu wahren. Seine 15 Martin Leupold, Iglauer Chronik (wie Anm. 3) 30–32 ; František Hoffmann, Listy a obrazy z minulosti Jihlavy od počátků do roku 1848 [Urkunde und Bilder aus der Iglauer Vergangenheit von den Anfängen bis 1848] ( Jihlava 1999) 69–71. 16 Martin Leupold, Iglauer Chronik (wie Anm. 3) 34–36 und jüngst Martin Čapský, »Na pranýř jej namalovati dali«. Politická komunikace v pozdně středověké Jihlavě [»Sie ließen ihn an den Pranger malen«. Politische Kommunikation im spätmittelalterlichen Iglau], in : Studia mediaevalia Bohemica 11 (2019 ; im Druck). Damals begegnen wir in ganz Mitteleuropa einer Welle städtischer Unruhen. Wenn wir uns auf die Markgrafschaft Mähren beschränken, müssen jene Konflikte zwischen Gemeinden und Stadträten erwähnt werden, welche sich zeitgleich zu den Iglauer Ereignissen in Znaim, Olmütz und Brünn zutrugen. Näher dazu Josef Macek, Jagellonský věk v českých zemích 3. Město [Das Zeitalter der Jagiellonen in den Böhmischen Ländern 3. Die Stadt] (Praha 1998) hier 47–59 und Dřímal, Sociální boje (wie Anm. 3). 17 Martin Leupold, Iglauer Chronik (wie Anm. 3) 36f.
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Maßnahmen zielten auf eine Erneuerung der Autorität des Stadtrates und der Loyalität der Gemeinde, wofür er die Ratsherren zu Entgegenkommen und die Gemeinde zu Ehrerbietung und Gehorsam aufforderte. Etwaige weitere Eingriffe in die Stadtverfassung überließ er dem König18. Die innere Organisation der Gemeinde bleibt bedauerlicherweise außerhalb des Interesses des Chronisten. František Graus vermutete, dass es im Spätmittelalter – zumeist auf der Grundlage religiöser Triebkräfte – zur Herausbildung »breiter sozialer Koalitionen« kam, wobei er an religiöse Abgrenzungsphänomene (z. B. gegenüber den Juden) oder die Tätigkeit charismatischer Prediger dachte19. Trotz der Rolle des Kustos’ der Minoriten beim Ausbruch der Rebellion standen in Iglau aber eher keine religiösen Triebkräfte hinter der Überwindung des segmentären Charakters der städtischen Gesellschaft. Hintergrund war vielmehr das Versagen des Stadtrates, welcher sich durch wiederholte Untätigkeit in den Augen der Bevölkerung selbst delegitimiert hatte : Untätigkeit oder Fahrlässigkeit, welche zum Bruch der in der Vorstadt gelegenen Teiche führte, die darauffolgende Geringschätzung der Begräbnisfeierlichkeiten für die Opfer und schließlich die Weigerung, die Betroffenen zu entschädigen. Die Überflutung der Vorstadt mit den Betrieben der Bürger und Teilen von Iglau selbst spülte zugleich etablierte rechtliche und soziale Unterschiede zwischen den Vorstädtern und den eigentlichen Bürgern hinweg. Die Einwohner der Vorstadt nahmen am Begräbnis des zuletzt aufgefundenen Gesellen sowie an der demonstrativen Überführung von dessen Leichnam zum Iglauer Rathaus teil. Auch im Kompromissvertrag, der zum Jahr 1522 in das Stadtbuch eingetragen wurde, nahm die Flut großen Raum ein und diente als hauptsächliche Erklärung für die Zwistigkeiten zwischen dem Rat und der Gemeinde20. In der unlängst im Druck erschienen Geschichte Iglaus führte Ivana Ebelová die Fortsetzung der Auseinandersetzungen auch nach den Ausgleichsbemühungen von 1522 einerseits auf das sinkende Prestige des Stadtrates zurück, andererseits auf die Brandkatastrophe von 1523, welche die bereits ins Wanken geratene Gemeinschaft weiter destabilisierte – eben jenes Feuer, welches Martin Leupold, wie wir gesehen haben, den betrunkenen Tuchmachergattinnen anlastete. Diesmal schaltete sich der Herrscher in den neuerlich eskalierenden Streit ein, indem er seinen Gesandten Žibřid von Bobolusky nach Iglau entsandte. Die Gemeinde reagierte aber auf dessen Lösungsvorschläge mit Häme, beschimpfte Bobolusky als »König der Mälzer« und ließ sein Wappen sogar 18 Ebd. 19 František Graus, Struktur und Geschichte. Drei Volksaufstände im mittelalterlichen Prag (Vorträge und Forschungen. Sonderband 7, Sigmaringen 1971) 82f. 20 Moravský zemský archiv – Státní okresní archiv Jihlava, Bestand Archiv města Jihlava, Abteilung Úřední knihy a rukopisy [Amtsbücher und Handschriften], Inv.-Nr. 7, Městská kniha VI. soudní [Stadtbücher VI. Das Gerichtsbuch], fol. 165v und Martin Leupold, Iglauer Chronik (wie Anm. 3) 42–44.
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an den Pranger hängen. Diese Schmähung des königlichen Gesandten markiert einen symbolischen Wendepunkt. Dem Stadtrat gelang es im Folgenden, die Oberhand zu gewinnen und den Streit vor den Herrscher zu bringen. Sieben Ratsherren und fünf Repräsentanten der Gemeinde sollten auf Basis der 24 Klagsartikel, die der Stadtrat vorgelegt hatte, am Königshof den Konflikt endgültig klären. Dem Rat gelang es dabei, die Auseinandersetzung als eine einzige kontinuierliche Rebellion darzustellen und die Gemeindevertreter in die Defensive zu manövrieren. Auch aufgrund des Angriffs gegen seinen Gesandten behandelte der König die Iglauer Gemeinde als ungehorsame Untertanen, welche sich der Majestätsbeleidigung schuldig gemacht hatten. Ihre politischen Forderungen wurden vom Tisch gewischt und strikter Gehorsam gegenüber dem Rat angeordnet. Eine neuberufene Schiedskommission befasste sich nun nicht mehr mit Fragen der innerstädtischen Machtverteilung, sondern ausschließlich mit unpolitischen Angelegenheiten wie der Weinausschankordnung. Die Rebellion als solche wurde niedergeworfen, als einziger Nachhall blieb das Bestreben der Tuchmacherzunft, das Zunftsiegel weiterzuverwenden21. Dieser kurze Exkurs zu den städtischen Unruhen war notwendig, um verstehen zu können, wie Martin Leupold von Löwenthal dieses Thema behandelte. Dessen Großvater, Lukas Leupold, engagierte sich äußerst aktiv auf Seiten des Rates. Im nahen Brünn führte in einer ähnlichen Situation der dortige Stadtschreiber während der Verhandlungen am Königshof eine Art »Tagebuch«22. Es ist nicht auszuschließen, dass Martin Leupold für seine Darstellung der Iglauer Ereignisse auf eine ähnliche Quelle aus der Feder seines Vorfahren zurückgreifen konnte. Leupolds detaillierte Beschreibungen der Verhandlungen am Königshof könnten durchaus in diese Richtung deuten. Die – wenig überraschende – Parteilichkeit der »Iglauer Chronik« zugunsten des Stadtrates trifft sich in diesem Fall mit der Apologie der Handlungen eines unmittelbaren Vorfahren des Verfassers. Bei der Aufteilung der Darstellung der Rebellion auf zwei Kapitel wich der Chronist allerdings vom letztlich siegreichen Narrativ des Stadtrates ab, welcher, wie wir gehört haben, nach 1523 die Vorstellung von einem einzigen, durchgehenden Konflikt durchsetzte. Um Leupolds Motive und seine Vorgehensweise zu verstehen ist es nötig, nicht nur zu berücksichtigen, was den Weg in seine Chronik fand, sondern auch, was er überging. Oben wurde bereits erwähnt, dass der Verfasser die Jahre 1520 und 1521 als eine Zeit der Auflösung der ordentlichen Regierung charakterisiert, in der der Stadtrat nicht erneuert wurde und die Willkür der Gemeinde regierte. Martin Leupold erwähnt keine neuen Ratsherren und ein ähnliches Bild gewinnen wir auch aus dem zeitgenössischen 21 I. Ebelová, Správa města (wie Anm. 12) 199f. und M. Čapský, »Na pranýř« (wie Anm. 16 ; im Druck). 22 J. Dřímal, Sociální boje (wie Anm. 3).
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Stadtbuch. Wenn wir aber von der Tatsache absehen, dass keine repräsentative Liste der neuen Ratsmitglieder überliefert ist, scheinen die Verhältnisse in Iglau durchaus nicht so ungeordnet gewesen zu sein, wie Martin Leupold sie erscheinen lassen möchte. Obwohl es im November 1520 nicht zur Erneuerung des Rates kam, und der Chronist ein Klima von Drohungen und Angriffen auf die Autorität der Ratsherren zeichnet, zeigen die Quellen, dass diese einfach in ihren Ämtern verblieben. Erst im Februar des folgenden Jahres wurde ein neuer Rat eingesetzt – von niemand Geringerem als dem mährischen Unterkämmerer. Dieser Stadtrat übte seine Funktion bis 1522 aus. Allerdings war die Zusammensetzung dieser beiden Räte dem Chronisten möglicherweise ein Dorn im Auge. Beide wurden auf der Basis jenes Schiedsvertrages besetzt, den derselbe Unterkämmerer ausverhandelt hatte, und der der Gemeinde gewisse Rechte zugestand. Die Räte bestanden jeweils zur Hälfte aus alten Ratsherren und Männern, die die Gemeinde vorgeschlagen hatte. Diese Bestellung neuer Ratsmitglieder aus der Gemeinde führte in den Folgejahren zu einer Umstrukturierung der bisherigen Stadtelite. Während die sechs neuen Räte, welche 1521 ernannt wurden, nie mehr in den Rat zurückkehrten, bildeten die Ratsherren der Folgejahre allmählich eine »neue Ratsschicht«, zu der auch Räte aus der Zeit vor dem Ausbruch der Unruhen gehörten. Diese neue Elite nahm hinter dem Rücken der übrigen Stadtbewohner geheime Verhandlungen mit dem König auf. Als im Frühjahr des Jahres 1524 der königliche Gesandte Žibřid von Bobolusky neuerlich nach Iglau kam und der Gemeinde eine neue Entscheidung des Herrschers bezüglich der Stadtverfassung verkündete, waren die Bürger überrascht. Das königliche Dekret machte alle bisherigen Entwicklungen rückgängig und restaurierte die ursprüngliche beherrschende Stellung des Stadtrates. Martin Leupold schweigt aber in seiner Chronik zur Umstrukturierung der Ratselite, welche sich im Hintergrund vollzog, noch äußert er sich zu den Auswirkungen der Maßnahmen des Unterkämmerers auf das Stadtregiment. Der Chronist verfolgte mit der Splittung der Iglauer Unruhen auf zwei Teile entsprechend einen tieferen Sinn, als lediglich Raum für die Geschichte des Paulus Sperratus zu schaffen. Er setzt den Lesern seiner Chronik zwei gegenläufige Geschichten vor. Zunächst die Flutkatastrophe von 1520, die angeblich selbst König Ludwig als Willen Gottes bezeichnete, und für die der Stadtrat somit von aller Verantwortung befreit war. Die zweite Katastrophe hingegen zeichnet Leupold als ein Werk der Menschen. Am Montag vor Pfingsten 1523 (sic !), so der Chronist, brach der schon mehrfach erwähnte Stadtbrand aus, welchen Leupold – wenig subtil – mit der zuvor von der Gemeinde durchgesetzten Liberalisierung des Weinausschanks verknüpft. Die Ehefrauen der Hut- und Tuchmacher – beide Zünfte ein Rückgrat der Gemeinde – hätten sich, so der Verfasser, bei einem gemeinsamen Frühstück betrunken, bei dem sie im Übermaß dem nun schankfreien, ungewohnt kräftigen ungarischen Wein zusprachen. Ihr angebliches zügelloses Benehmen lässt an traditionelle Pfingstvergnügungen denken, einschließlich
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Martin Čapský
des Rollentausches durch das Anlegen von Männerkleidung. Diese »verkehrte Welt« setzte sich in einem der Häuser am Böhmertor fort, wo die angeheiterten Frauen getanzt und Pfannkuchen in Butter herausgebacken hätten. Sie unterließen es jedoch, die heiße Pfanne zu bewachen. Darüber hinaus habe eine Dienerin den fatalen Fehler begangen, die in Brand geratene Butter mit einem Krug Wasser zu übergießen. Ein plötzlicher Windstoß tat das Seinige. Er erfasste die auflodernden Flammen und trug sie fort, sodass schließlich die ganze Stadt niederbrannte, einschließlich der Kirchen, Türme und Uhren, wie der Chronist konstatiert. Auch wenn der Unfall beim Pfannkuchenbacken einen realen Kern haben sollte, ändert das kaum etwas an Martin Leupolds Gewandtheit beim Umgang mit dieser Geschichte. Eben mit dieser Erzählung beginnt der narrative Bogen, welcher mit der Bestrafung der Gemeinde durch den König und der Restauration der Verhältnisse vor den Unruhen endet. Ziel des Textes war es, im Gewand einer einfachen Erzählung von Schuld (Ungehorsam) und Strafe (Einschränkung des Anteils der Gemeinde am Stadtregiment) Grenzüberschreitungen jedweder Art (sei es hinsichtlich der Beherrschung des Raumes, Macht- oder Geschlechterverhältnissen) öffentlich zu tadeln. Der Chronist hob den Ungehorsam der Gemeinde gegen den Stadtrat auf dieselbe Ebene, wie Ungehorsam gegen den König. Die angebliche herrscherliche Entscheidung von 1499, welche die Beziehungen zwischen dem Stadtrat und der Gemeinde betraf, kann dann nicht von der Darstellung der Unruhen getrennt betrachtet werden. Unter diesem Blickwinkel verwandelt sie sich in eine Gründungsgeschichte der Autorität des Stadtrates und auch der Haltung seines einstigen Mitgliedes Lukas Leupold23.
23 Martin Leupold, Iglauer Chronik (wie Anm. 3) 60f. Diese Studie ist im Rahmen des Projektes GA ČR 20-11247S »Reprezentace a praxe sociální kontroly v pozdně středověkých městských komunitách« [Repräsentation und Praxis sozialer Kontrolle in spätmittelalterlichen Stadtgemeinschaften] entstanden.
V. R EPR ÄSENTATION AM HOF WENZELS IV.
Robert Novotný
Das Mäzenatentum am Hof Wenzels IV.
Die Zeit Wenzels IV. wird im tschechischen Geschichtsbewusstsein als sehr widersprüchlich wahrgenommen. Auf der einen Seite finden wir Pestepidemien, einen die ländlichen Gebiete heimsuchenden Kleinkrieg, sich verschlechternde Münzen, Konflikte innerhalb der luxemburgischen Dynastie sowie die durch das Schisma zerrüttete Kirche. Auf der anderen Seite können wir jedoch die gewaltige kulturelle Blüte nicht übersehen, die Hand in Hand ging mit einer Entfaltung der Bildung und einer wachsenden Intensität des religiösen Lebens. Alle diese Seiten flossen mit in den Ausbruch der Revolution ein. Die negativen Erscheinungen riefen Reformbemühungen hervor, die noch ein halbes Jahrhundert zuvor den geschlossenen Kreis der intellektuellen Eliten nicht verlassen hätten. Dank der Laisierung der Bildung, die sich für die Regierungszeit Wenzels IV. als charakteristisch erweist, fanden die Reformer in der Gesellschaft ein gewaltiges Echo und ihre Vorstellungen wurden in der Praxis verwirklicht1. Als ambivalent erweist sich auch die Wahrnehmung des höfischen Milieus Wenzels IV. Auf der einen Seite wird dem Herrscher eine schlechte Personalpolitik vorgehalten, ein Rückzug aus dem öffentlichen Raum und ein Gesamtverlust der höfischen Strahlkraft, insbesondere im Vergleich mit Karl IV. Das hohe kulturelle Niveau des Herrscherhofes erweist sich auf der anderen Seite jedoch als evident. Wenn wir bildlich gesprochen hinter die Dornenmauer der prachtvoll illuminierten Handschriften schauen, die im Zusammenhang mit Wenzels kulturellen Interessen am häufigsten Erwähnung finden, wird klar, dass sich hinter diesen Zimelien ein tiefes Pilzgeflecht verbirgt, das nicht allein durch die königlichen Aktivitäten belebt wurde, sondern zugleich ein zweckdienliches Substrat formte : einerseits entstand dem Herrscher ein Publikum, auf der anderen Seite beteiligte es sich selbst an der Ausformung unstrittiger kultureller Werte. Dabei handelte es sich vielfach um dieselben Personen, die bei anderen Gelegenheiten als königliche Günstlinge mit negativem moralischem und politischem Profil verschrien wurden. 1 Petr Čornej, Velké dějiny zemí Koruny české 5 (1402–1437) [Große Geschichte der Länder der böhmischen Krone 5 (1402–1437)] (Praha–Litomyšl 2000) 11–211. Zur Bewertung Wenzels ders., Tajemství českých kronik. Cesty ke kořenům husitské tradice [Das Geheimnis der böhmischen Chroniken. Zu den Wurzeln der hussitischen Tradition] (Praha–Litomyšl 22003) 67–115. Die folgende Studie ist eine erweiterte Version des Essais Sociokulturní kontext dvora Václava IV. [Der soziokulturelle Kontext des Wenzelshofes], in : Nad slunce krásnější. Plzeňská madona a krásný sloh [Schöner als die Sonne. Die Pilsner Madonna und der schöne Stil], hg. v. Petr Jindra, Michaela Ottová (in Vorbereitung).
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Robert Novotný
Sofern deren kulturellen Taten dennoch eine Qualität zuerkannt wird, geschieht dies häufig mit dem Vermerk, diese hätten der Legitimierung ihres sozialen Aufstiegs und – vielfach ungebührlich – der Demonstration der eigenen Macht gedient. Hinter dieser Meinung verbirgt sich ein Körnchen Wahrheit, doch müssen notwendigerweise auch andere Perspektiven hinzugefügt werden. Die hier skizzierte Übersicht ähnelt nämlich sehr den zeitgenössischen Kritiken, die die soziale Unangemessenheit der genannten Taten unterstrichen. Es gehörte sich beispielsweise nicht, dass ein einfacher Niederadeliger eine prachtvolle Burg errichtete. Die nähere Betrachtung des Hofes Wenzels IV. offenbart ein etwas anderes Bild als uns dies die zeitgenössischen Widersacher des Königs vermitteln und wie dies fließend in die neuzeitliche Bewertung dieses Herrschers einging. Das kritische Bild Wenzels setzte sich peu à peu aus bereits überkommenen Topoi zusammen, die schließlich ein glaubwürdiges Mosaik formten. Viele der entsprechenden Mosaiksteine sind jedoch nachgefärbt. Einer der Hauptvorwürfe zielt auf das angebliche Protegieren von Personen niederer sozialer Herkunft. Sicherlich finden wir solche Personen in der Umgebung Wenzels IV. auch, doch lag deren Zahl keineswegs höher als diejenige am Hofe seines Vaters Karls IV. bzw. seines Bruders Sigismund von Luxemburg. Die gleichen Vorwürfe wie gegen Wenzel sollte im Übrigen bald auch Georg von Podiebrad zu hören bekommen. In Wahrheit war der Anteil des höheren Adels an Wenzels Hof bei weitem der höchste unter allen spätmittelalterlichen Trägern der St. Wenzelskrone und dem Luxemburger kommt das Primat auf diesem Feld, sofern hier eine Komparation möglich ist, auch im Vergleich mit den benachbarten Herrschern zu. Aus wenigen Gestalten mit negativem Ruf wurde der Typus des Höflings Wenzels geformt, was – verstärkt um die kritische Publizistik aus den Reihen des oppositionellen Herrenstandes und Teilen der Kirchenhierarchie – ein Bild schuf, an dem sich nur schwer rütteln lässt. Damit soll keineswegs Wenzels schlechte Regierung entschuldigt werden, was eine kaum bestreitbare Tatsache darstellt. Doch nicht alles diesem König Zugeschriebene kann Wenzel als berechtigt zur Last gelegt werden2. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Kultur der Regierungszeit Wenzels IV. aus der vorherigen karolinischen Epoche erwuchs und in vielfacher Hinsicht deren Höhepunkt bildete. In einigen Bereichen wird eine Kontinuität sichtbar, in anderen erfolgt eine 2 Robert Novotný, Der niedere Adel um Wenzel IV. Ein Sonderfall ? in : Heilige, Helden, Wüteriche. Herrschaftsstile der Luxemburger (1308–1437), hg. v. Martin Bauch, Julia Burkhardt, Tomáš Gaudek, Václav Žůrek (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 41, Köln–Weimar–Wien 2017) 193–208. Neue Perspektiven bietet der Sammelband Wenzel IV. (1361–1419). Neue Wege zu einem verschütteten König, hg. v. Klara Hübner, Christian Oertel (in Vorbereitung).
Das Mäzenatentum am Hof Wenzels IV.
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relativ deutliche Schwerpunktverlagerung. Die repräsentative Funktion der höfischen Kunst trat in den Hintergrund, die Betonung ging auf eine raffiniertere Semantik der einzelnen Werke über. Die Exklusivität der höfischen Produktion bedeutete eine Reduktion des Publikums, was nicht allein durch ein Zurückweichen aus dem öffentlichen Raum geschah, sondern auch durch die Möglichkeiten der Rezeption : eine Reihe von Artefakten stand allen zur Betrachtung offen, zahlreiche Kunstwerke waren für die öffentliche Rezeption bestimmt, doch lediglich ein Teil des eingeweihten Publikums sah sich im Stande die komplizierter konstruierten Bedeutungsebenen, die sich hier zeigten, zu verstehen. Diese Entwicklung lässt sich dessen ungeachtet nicht psychologisch erklären und mit der Gestalt des widersprüchlichen Königs verbinden, da ähnliche Prozesse sich auch in anderen europäischen Monarchien abspielten3. Ein Symbol der höfischen Kunst Wenzels IV. wurden insbesondere die illuminierten Handschriften, was auf den ersten Blick gut in die Vorstellung einer Abkehr von der Monumentalkunst hin zu intimeren Formen passt. Das wahre Wesen ist jedoch an anderer Stelle zu suchen, nämlich in den breiteren Koordinaten des Wandels der Kultur und der Bildungssphäre, aber auch in den Veränderungen der Kommunikationsformen. Einige dieser Umstände liegen auf der Hand. An erster Stelle muss auf die Universität verwiesen werden, deren Einfluss auf die Bildung und Kultur in den achtziger und neunziger Jahren ihren Höhepunkt erreichte, dessen Tiefe durch die Historiographie erst in letzter Zeit eine Bewertung erfahren hat und weiterer Erforschung harrt4. Gerade das Wachstum der Bildung schuf dabei den Raum für eine Entfaltung der Buchkultur und im Zusammenhang hiermit auch der Bibliophilie, die den Bereich des Wissens mit den künstlerischen Werten verband5. Mit Blick auf die Hofkunst Wenzels IV. müssen freilich zwei weitere bedeutsame Umstände hervorgehoben werden. Zum einen geht es dabei um das Verhältnis zur Schriftkultur in den Reihen der adeligen Schichten der Gesellschaft, die lange Zeit eine 3 Zu den Entwicklungslinien der Kultur am luxemburgischen Hof siehe : Karl IV. Kaiser von Gottes Gnaden. Kunst und Repräsentation des Hauses Luxemburg 1310–1437, hg. v. Jiří Fajt unter Mitarbeit v. Markus Hörsch und Andrea Langer (München–Berlin 2006) ; Kunst als Herrschaftsinstrument. Böhmen und das Heilige Römische Reich unter den Luxemburgern im europäischen Kontext, hg. v. Jiří Fajt, Andrea Langer (München–Berlin 2009) ; Kaiser Karl IV. 1316–2016. Erste Bayerisch-Tschechische Landesausstellung. Ausstellungskatalog, hg. v Jiří Fajt, Markus Hörsch (Augsburg 2016) ; Římský a český král Václav IV. a počátky husitské revoluce [Der römische und böhmische König Wenzel IV. und die Anfänge der Hussitischen Revolution], hg. v. Jiří Kuthan, Jakub Šenovský (Praha 2019). 4 Olivier Marin, L’archevêque, le maître et le dévot. Genèses du mouvement réformateur pragois. Années 1360–1419 (Études d’histoire médiévale 9, Paris 2005). 5 Josef Krása, Rukopisy Václava IV. [Die Handschriften Wenzels IV.] (Praha 1971) 1–14 ; ders, Illuminierte Handschriften Wenzels IV. (Praha–München 1971) ; Ivan Hlaváček, Knihy a knihovny v českém středověku [Bücher und Bibliotheken im böhmischen Mittelalter] (Praha 2016).
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orale bzw. symbolische Kommunikation präferiert hatten. Erst im Verlaufe des 14. Jahrhunderts kam es zu einer Veränderung und der Adel beschritt den Weg hin zu schriftlicher Ausfertigung. Gerade für das Jahr 1300 finden wir die erste bezeugte Urkunde, in der auf beiden Seiten Angehörige der Nobilität auftreten, wobei in den nachfolgenden Jahrzehnten die schriftliche Ausfertigung innerhalb der adeligen Gemeinschaft einen gewöhnlichen Prozess bildete. Die Verschriftlichung beherrschte auch weitere Bereiche, deren Rechtsgültigkeit bis dahin die symbolische Kommunikation sichergestellt hatte, etwa die Standeserhebungen. Das positive Verhältnis zur Schriftkultur fand nachfolgend seinen Weg von der pragmatischen Schriftlichkeit auch in den Bereich der Literatur. Wenn wir von der höfischen »Literatur« sprechen, handelte es sich in Wahrheit um eine Dominanz oraler Tradierung ; für das illiterale Publikum aus den Reihen der Adeligen besaß die schriftliche Fixierung keinen allzu großen Wert. Diese Einstellung veränderte sich im Verlaufe des 14. Jahrhunderts und erwies sich nicht nur aufgrund der wachsenden Alphabetisierung der Nobilität als unmittelbaren Konsumenten der Schriftlichkeit als notwendig. Auch die bis dahin des Lesens und Schreibens unkundigen Adeligen begannen den Wert handschriftlicher Kultur für die Wiedergabe der Werte der adeligen Gemeinschaft zwischen den Generationen zu erkennen. Dieser Prozess erfuhr durch die Vernakularisierung der Literatur eine bedeutsame Erleichterung, die in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts an Fahrt aufnahm6. Leider lässt sich nur eine begrenzte Vorstellung von der Produktion für das höfische Publikum in der Zeit davor gewinnen. Sicherlich mangelte es nicht an Ritterromanen, die dem Adel das Ethos einer hochwohlgeborenen Schicht vermittelten, sowie an weiteren historisierenden Werken, die die kardinalen Referenzpunkte des Gedächtnisses des Landes und der Landesgemeinde vermittelten. Eine ähnliche Funktion besaß auch die geistliche Literatur, insbesondere in Gestalt von Legenden ; diese vergegenwärtigten neben der christlichen Lehre auch die Vorstellung von einer elitären Schicht der Gesellschaft und im Falle der böhmischen Legenden zugleich die historische Legitimation der bestehenden Ordnung. Der Prozess der Vernakularisierung ermöglichte es, dem einheimischen Publikum neue Horizonte zu eröffnen und der Nachfrage nach beliebten Genres entgegenzukommen, egal ob es sich nun um die unterschiedlichste »Abenteuer«-Literatur oder um Werke handelte, für die man heute die Bezeichnung populärwissenschaftlich verwenden würde. 6 Zum Prozess der Vernakularisierung mit Schwerpunkt auf den böhmischen Ländern siehe das Projekt von Dr. Pavlína Rychterová »The Origins of the Vernacular Mode – OVERMODE«. URL : https://over mode.oeaw.ac.at/ [letzter Zugriff : 07.01.2021] ; eine knappe Zusammenfassung : Pavlína Rychterová, Instead of an Introduction. Medieval Europe Translated, in : Ideologies of Translation I (Medieval Worlds 11, 2020) 2–16 (URL : https://medievalworlds.net/8745-5inhalt?frames=yes [letzter Zugriff : 07.01.2021]).
Das Mäzenatentum am Hof Wenzels IV.
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Aus Sicht der Kunst der Regierungszeit Wenzels IV. muss ein weiterer meist übergangener Aspekt Erwähnung finden – die ungewöhnlich aktive Beteiligung der Höflinge an deren Ausformung. Nicht, dass diese bis zu jenem Zeitpunkt keineswegs an der Hofkultur partizipiert hätten, zumal gerade sie doch ganz gewiss ein Medium des Weitertransfers bildeten. Ein näherer Blick auf den Hof Wenzels zeigt jedoch, dass sich dessen Angehörige nicht auf die Nachahmung des Herrschers und die Anschaffung von Imitationen seiner Luxusartefakte beschränkten (auch wenn es hierzu in großem Stil kam) ; die höfische Kultur als Gesamtheit müssen wir zu einem Großteil als Ergebnis der Aktivität der Höflinge begreifen. Dies ist zweifellos ein großer Unterschied im Vergleich zu früheren Zeiten, als die Kunst gleichsam von der obersten Stufe ausgehend Schritt für Schritt nach unten emanierte7. Die Tatsache, dass bei der Ausformung der höfischen Kultur ein breiterer Kreis von Höflingen die Zügel ergriff, lässt sich wiederum nicht allein mit der Schwäche des Herrschers erklären. Für diese Situation waren die Bedingungen schlichtweg reif, wie oben gezeigt werden konnte. Sofern sich etwas aus der Kunst an Wenzels Hof mit der älteren Beschreibung der vertikalen Strahlung charakterisieren lässt, dann die berühmte Bibel des Königs8. Die einzigartige Zimelie selbst soll in den nachfolgenden Ausführungen außerhalb unserer Betrachtung bleiben, doch wird es keineswegs schaden, auch mit Blick auf neuere Erkenntnisse unser Wissen über weitere mit dem Hofe Wenzels IV. verbundene Bibeln kurz zu summieren und diese konsequenter in den sozialen Kontext einzuordnen. Keinerlei größere Fragen haben hierbei die Sammelhandschrift geistlicher Texte Johanns des Eisernen (ca. 1390) oder die Bibel Konrads von Vechta (1402–1403)9. Diese königlichen Höflinge gehörten zur Spitze der kirchlichen Hierarchie und die Ausführung herrlicher illuminierter Kodexe lässt sich ganz in die Koordinaten der Repräsentation und der Bedürfnisse ihrer sozialen Schicht einordnen. Achtung geboten ist freilich bei der sog. Zagreber Bibel (um 1385). Sofern diese wirklich dem prominenten Höfling Purkart Strnad von Janovice gehörte, wie bereits ein halbes Jahrhundert die kunstgeschichtliche Forschung annimmt, würde es sich um das äl-
7 Die Interpretation von Kunst als von oben nach unten ausstrahlend erweist sich als charakteristisch für die in Anmerkung 3 genannten Arbeiten. 8 Die Problematik skizziert Tomáš Gaudek, Reprezentace objednavatelů českých iluminovaných rukopisů doby lucemburské [Die Repräsentation der Auftraggeber böhmischer illuminierter Manuskripte der luxemburgischen Zeit], in : Imago, Imagines II. Výtvarné dílo a proměny jeho funkcí v českých zemích od 10. do první poloviny 16. století [Imago, Imagines 2. Das Kunstwerk und der Wandel seiner Funktionen in den Böhmischen Ländern vom 10. bis zur ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts], hg. v. Kateřina Kubínová, Klára Benešovská (Praha 2019) 400–425. 9 Milada Studničková, The Bible of Conrad of Vechta. Stylistic Change in Bohemian Book Illumination, in : Manuscripta 50 (2006) 269–283 ; Krása, Rukopisy Václava IV. (wie Anm. 5) 50–55, 213–229.
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teste Exemplar einer auf Bestellung einer weltlichen Person in Böhmen angefertigten Bibel handeln10. Die Zagreber Handschrift deutet an, dass die Bestellung aufwendiger Bibelkodexe am Hofe Wenzels IV. eine Frage des sozialen Prestiges wurde. Dessen ungeachtet zeichneten für die Vorliebe biblischer Handschriften zweifellos auch weitere Umstände verantwortlich. Zunächst war dies die Verbreitung der tschechischen Übersetzung der Hl. Schrift, zu deren Komplettierung es um 1360 kam, wobei bis zu den Hussitenkriegen mehrere Redaktionen erfolgten11. Es handelte sich erst um die dritte vollständig überlieferte Bibelübersetzung in eine Vernakularsprache und dabei die erste nichtromanische. Notwendigerweise muss auch die Übersetzung der Bibel ins Deutsche Erwähnung finden, die der Altstädter Patrizier und Höfling Martin Rotlev in Auftrag gab ; gerade das von Rotlev initiierte Werk bildete nachfolgend die Vorlage für die Prachthandschrift des Königs selbst. Die Übertragung der Bibel in eine Vernakularsprache öffnete natürlich den Zugang zum allerheiligsten christlichen Text, denn er ermöglichte dessen Rezeption für ein breiteres Publikum und untergrub bis zu einem gewissen Grade auch die exklusive Stellung der Geistlichkeit als des einzigen Exegeten der Hl. Schrift. Hiermit zusammen hing auch die Schlüsselrolle, die die Bibel in der sich formierenden Reformbewegung spielte. Die Erkenntnis der lex Dei durch den Bibeltext sollte einer der Gründe für die Erneuerung der Ordnung darstellen, deren Fehlen die Gesellschaft immer stärker spürte. Gerade in der Kombination der erwähnten drei Umstände, nämlich des Statussymbols, der Existenz der Vernakularübersetzung und der Rolle der Bibel innerhalb der Reformbewegung lässt sich der Kontext der Entstehung der zwei kostbaren Handschriften aus der zweiten Dekade des 15. Jahrhunderts suchen. Über mehr Informationen verfügen wir im Falle der dreibändigen Leitmeritzer-Wittingauer Bibel, die in den Jahren 1409/1410–1414 Wenzels Günstling, der bedeutende Anhänger der hussitischen Bewegung Peter Zmrzlík von Svojšín, anfertigen ließ12. Von der reformorientierten Einstellung des Bibelbesitzers zeugen auch die Glossen mit Hussens Erklärung strittiger 10 Eindeutig lässt sich das Janovicer Wappen identifizieren, die Zuordnung zu Purkart von Janovice basiert allerdings lediglich auf der Tatsache, dass dieser unter den Angehörigen seines Geschlechts Wenzel IV. am nächsten stand. In Frage käme andererseits vor allem der Kanoniker zu St. Veit, Peter von Janovice. Josef Krása, Bible Purkarta Strnada z Janovic a Zikmundův Comestor [Die Bibel des Purkart Strnad von Janovice und Sigismunds Comestor], in : Umění 17 (1969) 591–603, hier 596f.; Ulrike Jenni, Maria Theisen, Die Bibel des Purkart Strnad von Janovic aus der Zagreber Metropolitanbibliothek, Cod. MR 156 (lat.), Prag um 1385, in : Codices manuscripti 48/49 (2004) 13–34, hier 19. 11 Vladimír Kyas, Česká bible v dějinách národního písemnictví [Die tschechische Bibel in der Geschichte des heimischen Schrifttums] (Praha 1997) 37–54. 12 Pavel Brodský, Martina Šumová, K podílu iluminátorů v Bibli Petra Zmrzlíka ze Svojšína [Zur Beteiligung der Illuminatoren der Bibel Peter Zmrzlíks von Svojšín], in : Umění 65 (2017) 150–160.
Das Mäzenatentum am Hof Wenzels IV.
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Passagen13. Die Leitmeritzer-Wittingauer Bibel können wir folglich als die älteste Handschrift der tschechischen Übersetzung der Hl. Schrift bezeichnen, deren Auftraggeber eine weltliche Person war. Von Peter Zmrzlík von Svojšín wird noch die Rede sein. Die zweite avisierte Handschrift ist die unvollendete Boskowitzer Bibel, bei der wir jedoch leider weder über genauere Angaben hinsichtlich der Entstehung noch des Auftraggebers verfügen. In jüngster Zeit hat freilich Tomáš Gaudek die bislang glaubwürdigste Interpretation des Ursprungs dieser Bibel vorgelegt. Auf der Grundlage der heraldischen Analyse schrieb er die Handschrift Heinrich von Wartenberg zu, der in den Jahren 1414–1419 das einflussreiche Amt des Burggrafen des Königgrätzer Kreises ausübte. Heinrich gehörte zu den Beisitzern des Landesgerichts, die im Jahre 1411 Wenzel IV. in dessen Bemühen, der weltlichen Gewalt die Suprematie über die geistliche Gewalt zu sichern, unterstützten. Seine Zugehörigkeit zur Reformpartei bestätigte Wartenberg 1415 durch die Hinzufügung seines Siegels am Beschwerdebrief gegen Hussens Verbrennung. Heinrichs Name findet sich an sechster Stelle des Hauptexemplars, gleich hinter Hussens eifrigsten Unterstützern, so dass er als aktiver Anhänger der Reformpartei angesehen werden darf. Die Bibelhandschrift selbst entstand wahrscheinlich in den Jahren unmittelbar vor dem Ausbruch der Revolution, wobei die Nichtbeendigung der Arbeiten gerade zu Lasten der Kriegsereignisse fallen mag14. Diese wiederum vermochten die Arbeiten an der lateinischen Bibel nicht aufzuhalten, die dem Kolophon zufolge im Mai 1421 in Lipnitz Matthäus von Raudnitz vollendete15. Die für die Forschung erst kürzlich zugängige Bibel reflektiert die militärischen Ereignisse, zumindest in Gestalt von Manikulen und Randbemerkungen, die Krieg und Gewalt thematisieren. Leider ist nicht sicher, welche der Ortschaften des erwähnten Namens im Kolophon gemeint ist, offenkundig handelt es sich aber um die Burg Lipnitz/Lipnice nad Sázavou, die Residenz Čeněks von Wartenberg. Für die Zeit, als die Arbeiten an der Bibel begannen, stellt sich die Frage, welche Rolle Čeněk hierbei spielte und ob Matthäus lediglich der Schreiber war bzw. ob ihm im Prozess der Entstehung der Handschrift eine bedeutsamere Rolle zukommt. Dies alles lässt sich nur vermuten. Möglicherweise geben hierauf die weiteren Untersuchungen und die physische Begutachtung der Handschrift, die zum 600. Jahrestag ihrer Vollendung – zumindest zeitweilig – 13 Kyas, Česká bible (wie Anm. 11) 58. 14 Tomáš Gaudek, K provenienci a datování Bible boskovické [Zur Herkunft und Datierung der Boskowitzer Bibel], in : Problematika historických a vzácných knižních fondů Čech, Moravy a Slezska [Die Problematik historischer und seltener Buchbestände aus Böhmen, Mähren und Schlesien] (Olomouc 2012) 219–228. 15 Den Katalog zu einer der Lipnicer Bibel gewidmeten Ausstellung bereitet Frau Doz. Lucie Doležalová vor, der der Autor an dieser Stelle für die Zurverfügungstellung der Handschriftenanalysen danken möchte.
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an den Ort ihrer Entstehung zurückkehren soll, eine Antwort. In jedem Fall lässt sich die Handschrift, sofern die prokatholische Tendenz der Bibel Bestätigung finden sollte16, nicht mit der Persönlichkeit Čeněks in Verbindung bringen. Ungeachtet der notorisch wiederholten Behauptung in der Literatur hinsichtlich der konfessionellen Schwankung Čeněks stammt das erste Zeugnis für seinen Katholizismus erst vom Herbst 142317. Der polemische Ton der Bibel könnte sich jedoch gegen die hussitischen Radikalen gerichtet haben, gegen die Čeněk ebenso vehement agierte wie die römische Kirche. In der Auflistung der mit Wenzels Hof verbundenen Bibeln muss auch die auf den ersten Blick solitäre Padeřov-Bibel genannt werden, deren Entstehung sich gänzlich von allen anderen genannten Handschriften unterscheidet. Diese ließ der dem Bauernstand entsprossene Philipp aus dem Dorfe Padeřov anfertigen, der eine beachtliche militärische Karriere in den Reihen der hussitischen Radikalen absolvierte. Die in den Jahren 1432–1435 auf der Burg Ostromeč angefertigte und reich illuminierte Bibel galt lange Zeit als typisch statusmäßige Tat eines Kriegsgewinnlers, der seine niedere gesellschaftliche Herkunft durch eine prachtvoll illuminierte Handschrift vergessen machen wollte18. Unüblich schien diese Bestellung nicht allein mit Blick auf die bäuerliche Vergangenheit und militärische Gegenwart des Auftraggebers, sondern auch angesichts der ikonophoben Einstellungen des taboritischen Klerus, die im Widerspruch zum reich ausgeschmückten Programm der Handschrift standen. In Wahrheit jedoch war Philipps Herkunft keineswegs so einfach, wie dies den Eindruck hervorrufen könnte. Der bisherigen kunsthistorischen Forschung war nämlich der – bereits 1921 von August Sedláček ausgeführte – Umstand entgangen, dass Philipp von Padeřov, der Sohn eines gewissen Peter, im Jahre 1403 im Kloster zu St. Thomas auf der Prager Kleinseite seine Weihe zum Akolythen erhalten hatte19. Damit reihte sich der Taboritenhauptmann mit einem Schlage unter die lese- und schreibekundigen Geistlichen ein, die den Sauerteig der Reformen in den beiden vorrevolutionären Jahrzehnte durchlebten. 16 So Lucie Doležalová. 17 Robert Novotný, Die Konfessionalität des böhmischen und mährischen Adels in der Zeit der Regierung Sigismunds von Luxemburg, in : Kaiser Sigismund (1368–1437). Zur Herrschaftspraxis eines europäischen Monarchen, hg. v. Karel Hruza, Alexandra Kaar (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 31, Wien–Köln–Weimar 2012), 57–74, hier 62f. 18 Zuletzt hierzu Viktor Kubík, Bible táborského hejtmana Filipa z Padeřova a knižní malba husitské doby [Die Bibel des Taboritenhauptmanns Philipp von Padeřov und die Buchmalerei der Hussitenzeit] (Praha 2018) 27–29. 19 August Sedláček (Rez.), Dr. Ant. Podlaha, Liber ordinationum cleri 1395–1416, in : Český časopis historický 27 (1921) 220–223, hier 221. František Šmahel (Rez.), Filip z Padeřova a jeho bible. Glosy inspirované četbou [Philipp von Padeřov und seine Bibel. Vom Lesen inspirierte Glossen], in : Český časopis historický 118 (2020) 447–460, hier 453f.
Das Mäzenatentum am Hof Wenzels IV.
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Leider können wir weder genau sagen, welches Schicksal Philipp damals ereilte, noch wo er sich aufhielt. Sofern er nach Padeřov zurückgekehrt sein sollte, müsste er zweifellos einige jener Predigten des Jan Hus unter freiem Himmel erlebt haben, als der Magister aus der Bethlehemskapelle im Exil auf der Burg Kozí Hrádek weilte (beide Ortschaften sind nur 15 Kilometer voneinander entfernt). Andererseits gibt es gewisse Indizien, dass er mit Prag in Verbindung geblieben sein könnte. Einem bislang nicht beachteten – in den Akten des Nazareth-Kollegs an der Bethlehemskapelle verzeichneten – Zeugnis aus dem Jahre 1430 zufolge hatten sich die Magister Martin aus der Bethlehemskapelle, Jan Rokycana, Nikolaus Řehovec und der Bürger Václav Štráboch an Philipp gewandt ; sie baten diesen sehr höflich um Unterstützung beim Erwerb der Untertanenzinsen aus dem vormals von Studenten zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt im zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts käuflich erworbenen Dorf Tautoňovice20. Ob Philipps Autorität bereits auf seinem früheren, möglicherweise vorrevolutionärem Engagement in dieser Angelegenheit beruhte, oder aber aus der aktuellen machtpolitischen Situation, nämlich der Zusammenarbeit Tábors und der Prager Altstadt in den Jahren 1427–1434, resultierte, bleibt unklar. Unter Umständen spielten beide Faktoren hier eine Rolle. In jedem Fall unterstreichen die engen Kontakte zur Altstädter Elite, wo Philipp offenkundig den Schreiber Jan Aliapars von Prag sowie Illuminatoren für seine Bibel engagierte. Auch wenn verständlicherweise weitere Verifizierungen in Philipps Biogramm nicht ausgeschlossen sind, lässt sich bereits jetzt sagen, dass nicht allein durch die künstlerische Ausschmückung, sondern auch durch das soziale Profil des Stifters die Padeřov-Bibel in den Auftraggeber-Kontext der Zeit Wenzels gehört und deren logischen Höhepunkt, nicht jedoch eine solitäre Tat darstellt. Die Anfertigung aufwendiger Bibelhandschriften sagt bereits viel über die künstlerischen Interessen von Wenzels Höflingen aus, und angesichts der unbestrittenen Verluste können wir nur vermuten, über welch verbreitete Erscheinung es sich handelte. Die Aktivität weltlicher Personen auf diesem Feld lässt sich als eine gewisse Wende interpretieren ; auf den ersten Blick wenige auffällige, jedoch umso bedeutendere Innova20 Josef Teige, Základy starého místopisu Pražského (1437–1620) I. Staré Město pražské 2 [Grundzüge der alten Prager Topographie. (1437–1620) I. Die Prager Altstadt 2] (Praha 1915) 761, Nr. 1. Vgl. auch die nachfolgenden beiden Einträge. Mlada Holá, Nazaretská kolej pražské univerzity v pozdním středověku [Das Nazareth-Kolleg der Prager Universität im Spätmittelalter], in : Středověký kaleidoskop pro muže s hůlkou. Věnováno Františku Šmahelovi k životnímu jubileu [Ein mittelalterliches Kaleidoskop für den Mann mit Stock. Gewidmet František Šmahel zum Lebensjubiläum], hg. v. Eva Doležalová, Petr Sommer (Praha 2016) 511–521, hier 516, zufolge erfolgte der Kauf »spätestens in den zwanziger Jahren des 15. Jahrhunderts«. Leonhard von Tautoňovice bekannte den Studenten der Bethlehemskapelle gegenüber per 1. Januar 1421 eine Schuld von 17 Schock Groschen, demzufolge wurde das Dorf sicher bereits vor Beginn der Revolution erworben. Teige, Základy I/2, 812, Nr. 72.
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tionen spielten sich freilich in anderen Bereichen ab. Die intellektuelle Entfaltung Prags in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, hervorgerufen durch die Universität und die allgemeine Blüte der Metropole, wirkte sich nachhaltig auch auf das kulturelle Milieu des Herrscherhofes aus. Die ein wenig pragmatische Herangehensweise Karls IV., der die künstlerischen bzw. literarischen Mittel zur Legitimierung machtpolitischer Ziele nutzte, löste ein Phänomen ab, das sich als Sehnsucht nach Wissen bezeichnen ließe. Wenn die Kunst am Hofe Karls IV. vornehmlich mit dem Namen des Herrschers und einigen hohen kirchlichen Würdenträgern verbunden ist (von den Aktivitäten des weltlichen Elements wissen wir praktisch nichts), bildete sich unter Wenzel IV. ein spezifischer höfischer Kreis heraus, für den Bildung und Allgemeinwissen einen wichtigen Bestandteil der Selbstidentifikation darstellten. Den Prototyp eines gebildeten Adeligen, den dieses Milieu formte, repräsentiert Laurentius von Březová. Der vor allem durch seine Hussitenchronik bekannte Literat konnte zu Beginn der Revolution bereits auf eine lange Karriere am Hofe Wenzels IV. zurückblicken21. In Kontakt zum Herrschermilieu trat er spätestens im Jahre 1390, als sich für den frischgebackenen Bakkalar der Freien Künste Königin Sophia bei der römischen Kurie einsetzte, damit ersterer trotz seines noch nicht ausreichenden Alters von 20 Jahren ein kirchliches Amt erwerben konnte. Laurentius erhielt daraufhin die Pfarrei in Laun/Louny, und auch wenn er sich bei dieser Pfründe vertreten ließ, trug er zumindest – auch unter Zustimmung Wenzels IV. – doch Sorge für eine Förderung der ihm übertragenen Kirche. Die Pfründe diente ihm als finanzielle Absicherung für sein weiteres Studium ; im Jahre 1394 erwarb Laurentius den Grad eines Magisters der Freien Künste und wechselte nachfolgend an die Juristenfakultät. Er ist darüber hinaus als Eigentümer des Hauses Nr. 857 in der Prager Altstadt bezeugt. Nach 1407 fehlen uns Zeugnisse über Laurentius’ kirchliche Pfründen, was auf den Quellenverlust zurückzuführen sein mag. Nicht ausgeschlossen scheint, dass er sich die Appelle der Reformer zu Herzen nahm, die eine Anhäufung und Delegierung geistlicher Ämter hart kritisierten. Offenkundig war Laurentius zu dieser Zeit bereits fest mit dem Herrscherhof verbunden ; in seinen – leider undatierten – Werken bezeichnet er sich als Dienstmann des Königs. Den Zutritt zum Hofe Wenzels IV. erleichterte der mächtige Fürsprecher Jíra von Roztoky, mit dem Laurentius offenkundig verwandt war. Einen Beweis für die direkte Bindung an den König liefert uns das von Laurentius erworbene 21 Die biographischen Angaben stellte Marie Bláhová, M. Vavřinec z Březové a jeho dílo [Magister Laurentius von Březová und sein Werk], in : Vavřinec z Březové. Husitská kronika. Píseň o vítězství u Domažlic [Laurentius von Březová. Die Hussitische Chronik. Das Lied über den Sieg bei Taus] (Praha 1979) 304–316, hier 304f., sorgfältig zusammen. Grundlegende Informationen bietet Pavel Spunar, Repertorium auctorum Bohemorum provectum idearum post Universitatem Pragensem conditam illustrans 2 (Studia Coperniciana 35, Warszawa–Praga 1995) 82–89.
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Heimfallgut, das ihm Wenzel als zum Wyschehrad gehörendes Dienstlehen schenkte. Dabei handelte es sich um eine standardmäßige Entlohnung der Herrscher für ihre Höflinge. Als im Jahre 1411 Jan Hus an der Universität eine Jahresdisputation (Quodlibet) veranstaltete, präsentierte der Prediger an der Bethlehemskapelle Laurentius als »Freund des Herrn Jíra« und verglich ihn mit dem antiken Plutarch. Es ist daher offensichtlich, dass Laurentius zu dieser Zeit bereits als Erzähler historischer Stoffe Respekt genoss. Eine der Haupttaten, mit denen er sich in das Bewusstsein des höfischen Publikums einschrieb, war die Übersetzung der Reiseschilderung Jeans de Mandeville, die dank ihrer literarischen Qualitäten in Westeuropa neben der Hl. Schrift das am meisten kopierte Werk des Spätmittelalters darstellte. Die fiktive Schilderung des Ritters Mandeville überragte durch ihre Beliebtheit auch authentische Reiseberichte wie beispielsweise Il Milione von Marco Polo. Der Grund ist offensichtlich : Vortrefflich kam der Verfasser der Nachfrage nach einer lesbaren Abenteuerliteratur entgegen, die zugleich Kenntnisse über ferne Länder vermittelte. Dies geschieht hier mit großer Authentizität und mitunter auch »empirischer« Beobachtung, was dem Text Glaubwürdigkeit verleiht. Für die adelige Schicht war selbstverständlich auch die vornehme Herkunft des Erzählers wichtig, der die Leser zu den nicht allein mit biblischen Geschehnissen, sondern auch mit Kreuzritterschilderungen verbundenen Ecken der Welt begleitete22. Die Beliebtheit von Mandevilles Reisebeschreibung dokumentiert auch ein Korpus von 28 Illustrationen, die sich auf die ersten 13 Kapitel der Übersetzung durch Laurentius beziehen. Die allgemein bekannten Illuminationen, die mit Sicherheit im Prager Kunstmilieu entstanden, müssen nicht näher vorgestellt werden. Wenngleich es sich offenkundig lediglich um einen Torso handelt, zählen sie zu den Höhepunkten des illustratorischen Schaffens ihrer Zeit23. Für das Kennenlernen der kulturellen Atmosphäre am Hofe Wenzels IV. muss jedoch auch die Bedeutungsebene von Mandevilles Werk Berücksichtigung finden. Der Reisebericht spricht auf den ersten Blick ein breiteres Publikum durch seinen kurzweilig belletristischen Gehalt an, in Wahrheit besitzt er jedoch einen tieferen Sinn. Das gewählte Genre ermöglicht es dem Autor durch den ritterlichen Wallfahrer tabuisierte Gedanken und Vorstellungen zu formulieren, die für die Gesellschaft einen reinigenden Charakter besitzen24. Die Darstellungsweise von Mandeville als Mittel der Erneuerung würde somit voll und ganz in den Erneuerungsprozess 22 Klaus Ridder, Jean de Mandevilles »Reisen«. Studien zur Überlieferungsgeschichte der deutschen Übersetzung des Otto von Diemeringen (München–Zürich 1991). 23 Die Reisen des Ritters John Mandeville. 28 kolorierte Silberstiftzeichnungen von einem Meister des Internationalen Stils um 1400 im Besitz der British Library, eingeleitet und erläutert v. Josef Krása (München 1983). 24 Alena Scheinostová, Stvoření místa ve středověkém cestopise (Cestopis tzv. Mandevilla) [Die Er-
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passen, den Wenzel IV. und seine Höflinge emblematisch auf den Seiten der illuminierten Handschriften auch mit Hilfe weiterer Medien zum Ausdruck brachten25. Ähnlich wie Mandevilles Reisebeschreibung gehörte auch das als Oneirocriticon Achmetis bekannte byzantinische Traumbuch, im 12. Jahrhundert durch Leo Tuscus ins Lateinische übertragen, zu den mittelalterlichen Bestsellern. Wenngleich sich die christliche Kirche bemühte, die Auslegung von Träumen auszumerzen, musste sie im Verlauf des Mittelalters doch kapitulieren, da sich gerade dieses Genre in allen Schichten der Gesellschaft großer Beliebtheit erfreute. Das Oneirocriticon wurde im Übrigen auf Veranlassung des Herrschers und für seine Bedürfnisse verfasst. In Böhmen kam diesem Bedürfnis Laurentius von Březová entgegen26. Unlängst ist es gelungen, konkret jene Handschrift zu ermitteln, von der der Übersetzer ausging, was einen Blick in seine Werkstatt möglich macht. Die tschechische Version hält sich ziemlich genau an ihre Vorlage, wenngleich Laurentius den Text stellenweise derart korrigiert, um so dem aktuellen kulturellen Kontext näher zu kommen und zugleich dem tschechischen Publikum verständlicher zu machen. Die insgesamt gelungenen redaktionellen Eingriffe verweisen auf die Kunstfertigkeit des Laurentius, was zugleich auch das theoretische Vorwort des Autors unterstreicht. Es handelte sich um einen konsequent analytischen Text, der das Pro und Contra bei Traumdeutungen abwägt und das solide Wissen des Übersetzers unter Beweis stellt. Das Fazit ist dessen ungeachtet eindeutig und unterstreicht die Legitimität von Träumen in der christlichen Welt27. Welche Rolle konnte ein Traumbuch im spezifischen höfischen Milieu erfüllen ? Zum einen bestärkte es die bestehende soziale Ordnung, da sich die Auslegung der einzelnen Träume häufig entsprechend der gesellschaftlichen Stellung der Träumenden voneinander unterschied. Zugleich vermittelte es eine Welt der Symbole, mochten diese nun aus dem Pflanzen- oder Tierreich stammen, und es popularisierte so die Interpretationen, die sich ansonsten in gelehrten Pflanzenbüchern oder Bestiarien fanden und dem Laienpublikum nicht zugänglich waren. Für die höfische Gesellschaft der Adeligen war die eingeführte Symbolik nicht ohne Bedeutung, zumal die heraldische Semantik und Traumdeutunschaffung eines Ortes in einem mittelalterlichen Reisebericht (Mandevilles Reisebeschreibung)], in : Česká literatura 52 (2004) 149–171, hier 168f. 25 Milada Studničková, Devízy a insignie řádu jako imago panovníka [Devisen und Insignien des Ordens als Imago des Herrschers], in : Imago, imagines II (wie Anm. 8) 224–257. 26 Zuletzt Michal Hořejší, Staročeské rukopisy snáře Vavřince z Březové [Die alttschechischen Handschriften des Traumbuchs des Laurentius von Březová], in : Sny mezi obrazem a textem [Träume zwischen Bild und Text], hg. v. Tomáš Borovský, Radka Nokalla Miltová (Praha 2016) 53–71. 27 Filip Krajník, Jana Kolářová, Prolegomena k české středověké verzi Achmetova Oneirokritikon, její pražské latinské předloze a řeckému originálu [Prolegomena zur tschechischen mittelalterlichen Version von Achmetis Oneirocriticon, seiner Prager lateinischen Vorlage und dem griechischen Original], in : Listy filologické 135 (2012) 287–331.
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gen von der gleichen epistemologischen Vorlage ausgingen und Traumbücher somit auf grundlegende, mit der Welt der Adelswappen verbundene Frage, eine Antwort gaben28. Im Falle des Traumbuchs wissen wir leider nicht, wer der Initiator einer Übersetzung war, bei der tschechisch verfassten Weltchronik führt der Autor hingegen diese Information im Vorwort an : »Auf Veranlassung des wohlgeborenen und hochgeschätzten Herrn Johann von Eyzemberk, des edlen Kammerdieners, und von Herrn Wenzel, des römischen Königs, stets Mehrer des Reiches und böhmischer König, habe ich, Magister Laurentius, des ehrwürdigen Königs Dienstmann, diese Chronik aus christlichen, jüdischen und heidnischen Chroniken mit mühsamem Fleiß und fleißiger Mühsal verfasst«29. Jener Initiator war Johann Smolík von Slavice, ein einflussreicher Höfling Wenzels IV. Als Besitzer der Burg Eisenberg/Jezeří erscheint er erstmals für das Jahr 1416, der vorherige Besitzer taucht zuletzt 1413 auf. Dank dieser Daten können wir die Entstehung der Chronik auf den genaueren Zeitraum 1413–1419 präzisieren, wobei eher das jüngere Datum zu favorisieren ist ( Johann von Slavice ist als Kammerdiener lediglich für das Jahr 1419 bezeugt)30. Laurentius nutzte für seine Kompilation vornehmlich die biblische Geschichte des Petrus Comestor Historia scholastica sowie die beliebte Weltchronik des Martin von Troppau Chronicon pontificum et imperatorum, wobei er diese beiden Hauptquellen um zahlreiche weitere Zeugnisse ergänzte. Die Chronik als solche blieb leider unvollendet, möglicherweise unterbrach der Ausbruch der Revolution die Arbeiten. Johann Smolík selbst hatte damals andere Sorgen und bemühte sich das Vertrauen des neuen Herrschers zu gewinnen. Laurentius wiederum stellte seine Fähigkeiten in den Dienst der hussitischen Bewegung, die schriftliche Fixierung ihres Schicksals bildet das Opus mag num des Autors. Mit Laurentius’ Namen verbindet sich noch ein weiteres literarisches Werk, offenkundig das – unglücklicherweise nicht erhaltene – originellste. Hieraus schöpfte Wen28 Jan Skutil, Heraldická symbolika ve srovnání s motivy zvířat a rostlin rukopisu Státního oblastního archivu v Brně G 10, č. 461 – Snáře [Heraldische Symbolik im Vergleich zu den Tier- und Pflanzenmotiven in der Handschrift des Staatlichen Regionalarchivs in Brno G 10, Nr. 461 – Traumbuchs], in : Genealogické a heraldické informace 12–13 (1992–1993) 7–10. 29 Praha, Národní knihovna České republiky [Nationalbibliothek der Tschechischen Republik], Sign. XVII F 47, fol. 1r. 30 Zu Johann von Slavice vgl. das Biogramm in Zikmundova strana v husitských Čechách [Die SigismundsPartei im hussitischen Böhmen], hg. v. Stanislav Bárta, Petr Elbel (in Vorbereitung). Die inhaltliche Begründung der Datierung der Handschrift bei Rudolf Urbánek, Satirická skládání Budyšínského rukopisu M. Vavřince z Březové z r. 1420 v rámci ostatní jeho činnosti literární [Die satirischen Schriften der Bautzener Handschrift des Mag. Laurentius von Březová aus dem Jahr 1420 im Rahmen seiner literarischen Tätigkeit] (Věstník Královské české společnosti nauk. Třída filosoficko-historicko-filologická 1951, Nr. 3) 7.
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zel Hájek von Libotschan/Libočany, der zugleich eine knappe Beschreibung der Schrift lieferte : »Ein gewisser Laurentius von Březina, Magister der Prager Hohen Schule, hat über den Ruhm der Tschechen, Böhmen und Slowaken zahlreiche Nachrichten aus alten Chroniken zusammengetragen, und zwar derart ordentlich, dass selbst der einfältigste Mensch, der dies liest oder vernimmt, diesem Glauben schenken muss.« Wir dürfen nach Hájeks Lob davon ausgehen, dass es sich um einen national definierten Text gehandelt haben muss31. Soweit bekannt, benutzte die Schrift noch Zacharias Theobald, nachfolgend schweigen hierüber jedoch die Quellen32. Unklarheiten herrschen zudem auch bei einer Reihe weiterer Werke und Übersetzungen, die Laurentius zugeschrieben werden, mitunter glaubwürdiger, andernorts weniger überzeugend (u. a. alttschechischer Tkadleček [Das Weberlein], Geschichte Alexanders des Großen, Die Passion des M. Hieronymus ; unter den Übersetzungen sodann Il Milione des Marco Polo, die bereits erwähnte Historia scholastica, sowie zahlreiche politische Dokumente, Manifeste und Satiren)33. Und auch wenn keine dieser Dubia in Wahrheit ein Werk des Laurentius gewesen sein sollte, würde damit die Bedeutung des böhmischen Plutarch keineswegs gemindert. Bei der Weltchronik des Laurentius von Březová handelte es sich bei weitem nicht um das einzige Werk dieses beliebten Genres, das am Hofe Wenzels IV. entstand. Bereits zuvor war eine alttschechische Übersetzung der sog. Martimiani-Chronik entstanden, hinter der sich das bereits erwähnte Werk des Martin von Troppau verbarg. Dabei geht es jedoch keineswegs ausschließlich um diesen Text, im ersten Teil findet als Vorlage die in deutscher Sprache verfasste Weltchronik des Jakob Twinger von Königshofen Verwendung. Gerade diesen Part übersetzte Wenzels Höfling, der weit gereiste und belesene Beneš von Hořovice, der u. a. im Jahre 1389 eine Reise nach Kastilien und später möglicherweise auch nach Palästina unternommen hatte. Beneš gehörte zu den Stützen von Wenzels Macht, treu stand er auch in den kritischen Zeiten während der ersten und zweiten Gefangenschaft des Königs zu diesem. Ähnlich wie Laurentius erhielt Beneš für seine Dienste Güter, die als Lehen zur Burg Wyschehrad gehörten. Diese scheinbare Randbegebenheit muss besonders hervorgehoben werden, da sich gerade 31 Die Entstehung des Textes könnte mit dem Kampf um das Kuttenberger Dekret zusammenhängen, was auch Hus’ lobende Worte von 1411 erklären würde. Der katholische Autor Wenzel Hájek griff auch wohlwollend auf Texte hussitischer Verfasser zurück, sofern diese eine antideutsche Stoßrichtung aufwiesen. Petr Čornej, Hájkův obraz husitské epochy [Hájeks Darstellung des hussitischen Zeitalters], in : Na okraj Kroniky české [Am Rande der Böhmischen Chronik], hg. v. Jan Linka (Studia Hageciana 1, Praha 2015) 83–109, hier 90–93. 32 Bohuslav Horák, Vavřince z Březové traktát »O slávě Čechuov, Boemuov a Slovákuov« [Laurentius von Březovás Traktat »Über den Ruhm der Tschechen, Böhmen und Slowaken«], in : Časopis Matice moravské 47 (1923) 192–195. 33 Spunar, Repertorium 2 (wie Anm. 21) 88f.; Urbánek, Satirická skládání (wie Anm. 30).
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aus den Wyschehrader Lehnsmannen die entscheidende höfische Gemeinschaft, die sowohl das Dienstpersonal des Hofes als auch Soldaten, Diplomaten bzw. die intellektuelle Elite umfasste, rekrutierte. Auf der Gehaltsliste des Herrschers finden wir Beneš von Hořovice noch drei Wochen vor Wenzels Tod. Auch wenn die Forschung Zweifel an Benešs Anteil an der eigentlichen Übersetzung der Chronik hegt und seine Rolle auf diejenige eines reinen Initiators der tschechischen Version beschränkt, ändert dies nichts an seinen Verdiensten im Bereich der Bildung34. Mit dem Hof Wenzels IV. ist offenkundig auch ein illuminierter Schach-Traktat verbunden, der in der spanischen Nationalbibliothek in Madrid aufbewahrt wird35. Die Handschrift zeigt Szenen aus dem Schachspiel am königlichen Hof, wobei die bohemikale Herkunft nicht allein eine – zu weiteren Handschriften Wenzels IV. analoge – Ausschmückung, sondern auch Wappen des böhmischen Adels erkennen lassen. Der kleine Kodex wurde noch vor kurzem als beliebtes »Buch der Sitten der Menschen und der Pflichten der Vornehmen und Niederen, vom Schachspiel abgeleitet« angesehen (Liber de moribus hominum et officiis nobilium ac popularium super ludo scacchorum), das der Dominikaner Jacobus de Cessolis verfasste. Wie jedoch unlängst Václav Žůrek feststellte, handelt es sich in Wahrheit um eine Adaption dieses Stoffes aus der Feder des Paulinus von Venedig ; die Möglichkeit einer Verwechselung liegt nahe, da beide Texte in den Handschriften als Tractaus de ludo scachorum bezeichnet werden36. Paulinus’ Schrift gelangte in Europa im Unterschied zu seiner Vorlage nicht zu großer Verbreitung – mit einer einzigen Ausnahme, die das luxemburgische Böhmen betrifft. Gerade hier kommt es in der Regierungszeit Wenzels IV. zu einer großen Verbreitung beider Texte, jener von de Cessolis wurde schließlich unter der Bezeichnung Kniežky o šašiech ins Tschechische übertragen. Als Autor – hier eher der Überarbeitung als der Übersetzung – wird Thomas von Štítný angesehen, auch wenn wir dies nicht mit Sicherheit wissen. Eine direkte Anknüpfung dieser Übertragung an den Hof Wenzels lässt sich nicht nachweisen. Die Traktate über das Schachspiel dienten nicht primär als Manual zum eigentlichen Spiel (vornehmlich Paulinus’ Abhandlung hätte die Interessenten nur schwerlich zu belehren vermocht), sondern in erster Linie der allegorischen Darstellung der gesellschaftlichen Ordnung und der Rolle der einzelnen sozialen Schichten. Besondere Aufmerksamkeit wird in ihnen gerade der gesellschaftlichen Rolle am Herrscherhof 34 Staročeská kronika Martimiani [Die alttschechische Chronik Martimiani], hg. v. Štěpán Šimek (Praha 2019) 35–41. 35 Milada Studničková, König Wenzels Schachbuch, in : Karl IV. Kaiser von Gottes Gnaden (wie Anm. 3) 49f. 36 Václav Žůrek, Recepce šachového traktátu Paulina z Benátek v pozdně středověkých Čechách [Die Rezeption des Schachtraktates des Paulinus von Venedig im spätmittelalterlichen Böhmen], in : Studia mediaevalia Bohemica 11 (2019) 21–43.
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geschenkt – es handelt sich im Grunde genommen um eine Art Fürstenspiegel. Auch aus diesem Grunde darf angenommen werden, dass es sich um ein im höfischen Milieu beliebtes Werk handelte. Im Falle von Paulinus’ Traktat wissen wir, dass eine der Handschriften der dem König nahestehende Wenzel Králík von Buřenice anfertigen ließ. Wenngleich die allegorische Ebene des Traktats unbestritten die Hauptlinie bildet, darf auch das reale Interesse am Schachspiel keineswegs unterschätzt werden, umso mehr, als letzteres zu den sieben ritterlichen Fertigkeiten gehörte. Am Königshof Wenzels IV. wurde Schach gespielt, der Herrscher selbst erhielt im Jahre 1412 von einer Gesandtschaft des Deutschen Ordens ein Schachbrett als Geschenk. Wenzel, dessen Höflinge den Diplomaten zuvor dieses Geschenk empfohlen hatten, besaß hieran große Freude. Ein Exemplar befand sich zudem im Besitz von Wenzels zweiter Gemahlin Sophie von Wittelsbach, wie deren Nachlassinventar bezeugt37. Die illuminierte Handschrift wird von der kunstwissenschaftlichen Forschung in die dreißiger Jahre des 15. Jahrhunderts datiert, doch würde – wie gerade angedeutet – der historische Kontext besser der vorhussitischen Dekade entsprechen38. Wenn wir in Betracht ziehen, dass die Wappen als möglichen Auftraggeber einen Angehörigen des Adelsgeschlechts der Zmrzlík von Svojšín nahelegen, könnten sich unsere Überlegungen wiederum eher auf den bibliophilen Peter den Älteren († 1421) als auf Angehörige der nachfolgenden »Kriegsgeneration« der Herren Zmrzlík beziehen ; bei letzterer fehlen nicht allein Belege für künstlerische Aufträge, sondern im Übrigen auch die Motivation. Hinzugefügt werden muss, dass Peter Zmrzlík der Ältere ein Haus im Bezirk der Prager Neustadt namens Chudobice besaß39. Dieser Distrikt darf zu Recht dank der Konzentration von Malern als eine Art Kunstviertel bezeichnet werden. Mit dem Maleraufträge realisierenden Milieu war also Peter auch durch nachbarschaftliche Beziehungen verbunden40. Gerade bei Peter dem Älteren wissen wir, neben der bereits oben erwähnten Bibel, von einer weiteren bibliophilen Tat. Die lediglich fragmentarisch 37 Johannes Voigt, Geschichte der Ballei des deutschen Ordens in Böhmen. Aus urkundlichen Quellen (Wien 1863) 39 ; Ondřej Schmidt, Václav IV., Jošt a Prokop očima italského vyslance. K situaci v lucemburském rodě roku 1390 [Wenzel IV., Jost und Prokop gesehen durch die Augen eines italienischen Gesandten. Zur Situation der luxemburgischen Dynastie im Jahr 1390], in : Časopis Matice moravské 137 (2018), 3–27, hier 20 ; Jakub Vítovský, Lampa z pozostalosti kráľovnej Žofie Bavorskej v Mestskom múzeu v Bratislave [Der Leuchter aus dem Nachlass der Königin Sophie von Bayern im Städtischen Museum in Bratislava], in : Ars 24 (1991) 44–58, hier 55. 38 So glaubwürdig Žůrek, Recepce (wie Anm. 36) 41. 39 Václav Vladivoj Tomek, Základy starého místopisu Pražského 2. Nowé město Pražské [Grundzüge der alten Prager Topographie 2. Die Prager Neustadt] (Praha 1870) 292. 40 Maria Theisen, Několik úvah o knižní malbě v Praze od založení univerzity do husitských válek. Malíři na Novém Městě pražském [Einige Überlegungen zur Buchmalerei in Prag von der Gründung der Universität bis zu den Hussitenkriegen. Die Maler in der Prager Neustadt], in : Pražský sborník historický 41 (2013) 7–34, hier 25–31.
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überlieferte tschechische Übersetzung der Chronik des Trojanischen Krieges wurde dem Kolophon nach im Jahre 1411 auf Veranlassung des Herrn Münzmeister genannt Zmrzlík vollendet. Es handelte sich dabei um die erneute Übertragung dieser beliebten Schrift ins Tschechische. Die Erstübersetzung, die später die Vorlage für den ältesten tschechischen Druck bildete, wurde irgendwann in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts angefertigt41. Die heute erhaltenen Handschriften stellen lediglich einen Bruchteil der ursprünglichen Produktion dar, die mit dem Hof Wenzels IV. in Verbindung steht. Doch auch so können wir die mit dem widersprüchlichen Herrscher aus dem Hause Luxemburg verbundene kulturelle Blüte als einzigartiges Phänomen bezeichnen, in dem das Interesse an Bildung, Literatur und Kunst miteinander verschmilzt. Das Zusammenspiel der Voraussetzungen bildete somit das Fundament, auf dem sich die Sehnsucht nach Wissen und Repräsentation im bibliophilen Milieu des Herrscherhofes materialisierte. Die kostspieligen Handschriften bilden natürlich den am besten dokumentierten Bestandteil der höfischen Kultur. Gerade auf den Seiten der Bücher konnten leicht Symbole und Bedeutungen mitgeteilt werden, die die Identität der Gemeinschaft im Umkreis des Königs schuf. Offenkundig war es keineswegs schwierig, sofern der Auftraggeber über genug Mittel verfügte, die gleichen Künstler oder Handwerker zu verpflichten, die in der Nachbarschaft ihrer Prager Residenzen lebten42. Andere Formen der bildenden Kunst zu teilen, erwies sich hingegen als wesentlich komplizierter. Wir wissen nur wenig über mögliche Aufträge für plastische Werke und Tafelbilder, im Falle von Wandmalereien und Architektur wird die Situation noch dadurch kompliziert, dass die Realisierung eine Mobilität der Künstler erforderte. Schließlich geht es um die Frage der Korrelation von Angebot und Nachfrage, die offenkundig bei handschriftlichen und illuminatorischen Werken leichter zu bewerkstelligen war. Doch konnten sich Höflinge erstklassige Baumeister leisten, die Projekte für den königlichen Hof und die obersten Kreise der kirchlichen Hierarchie ausführten ? Die Burg Krakovec des Jíra von Roztoky stellt vermutlich eher die Ausnahme als die Regel dar. Es gab jedoch auch Kompromisswege. Einige Steinelemente könnten in den Prager Spitzenwerkstätten hergestellt worden sein und dann bei entsprechenden Bauten Verwendung gefunden haben, wie am Beispiel von Náchod oder Lažany Aleš Mudra aufzeigen konnte. Bei zahlreichen herausragenden Werken, seien sie nun beweglich oder unbeweglich, stellt sich darüber hinaus die Frage, wer hinter deren Ausführung eigentlich stand. Wenn 41 Anežka Vidmanová-Schmidtová, Rukopisné zachování kroniky trojánské [Die handschriftliche Überlieferung der tschechischen Trojaner-Chronik], in : Listy filologické 85 (1962) 237–255. 42 Theisen, Několik úvah (wie Anm. 40) 19–31.
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wir die Burgarchitektur einmal außer Acht lassen, gehören die meisten heute als künstlerisch wertvoll angesehenen Artefakte in die sakrale Sphäre und sind mit dem geistlichen Milieu verbunden, wenngleich lediglich in Untertanenstädten. Wie beispielsweise sind die im Schönen Stil geschaffene Sternberger Madonna und die Tafelbilder aus dem Retabel der Klosterkirche der Sternberger Augustiner-Chorherren, die offenkundig mit der Stiftertätigkeit Peters II. von Sternberg († 1397) zusammenhängen, zu bewerten ? Peter war im künstlerisch kultivierten Milieu des Magdeburger, Leitomischler und Schweriner Bischofs Albrecht von Sternberg aufgewachsen, unterstützte das örtliche Kloster finanziell und bewegte sich am Hofe Wenzels IV. und Josts von Mähren – eine Verbindung bietet sich hier an. Allerdings könnten diese einzigartigen Kunstwerke ebenso am Schnittpunkt von Kontakten der Sternberger Augustiner entstanden sein und Peter spielte hier lediglich die Rolle eines »einfachen« Finanziers. Würde dies seine Verdienste schmälern ? Ähnliche Fragen ließen sich auch im Falle der Realisierung auf dem Dominium der Rosenberger stellen, die vornehmlich mit dem Wittingauer Augustinerkloster zusammenhängen. Wiederum lässt sich die Rolle der Obrigkeit und der Ordensbrüder selbst nicht konkretisieren. Mit Blick auf Wittingau/Třeboň erweist sich die Situation als umso komplizierter, da den Kontakt zum Prager Zentrum des Schönen Stils der Probst des Kollegiatstifts Allerheiligen Peter II. von Rosenberg († 1384) vermittelt haben könnte, der jedoch im konstruierten Beziehungsnetz in der Doppelrolle als Angehöriger des obrigkeitlichen Geschlechts und als im Brennpunkt des Geschehens tätiger kirchlicher Würdenträger auftritt. Konkrete Sakralbauten mit adeligen Mäzenen zu verbinden erweist sich häufig als trügerisch. Lediglich in Einzelfällen bewegen wir uns auf festem Boden. Die nackten Frauen im Hause von Wenzels Günstling Jan Hájek von Hodětín, die Fresken mit dem in der Minuskel »a« gefangenen Mann auf der Feste in Divice, der Drehknoten auf dem Siegel des königlichen Truchsesses Ulrich Zajíc von Hasenburg bzw. der wilde Mann auf dem Portal des Altstädter Hauses Nr. 908 – dies alles sind Indizien, die auf das höfische Milieu verweisen43. Das System von Symbolen, Insignien und Devisen, das Wenzel IV. zu Leben erweckte, bildet ein einzigartiges semantisches Ganzes, das es ermöglicht, die höfische Kultur visuell zu teilen und sich zu deren Werten zu bekennen. Die das Erhabene und das Niedere, das Heilige und das Sündhafte verbindende Symbolik zeichnete sich verständlicherweise durch eine zweischneidige Ambivalenz aus. Während sich die 43 Čornej, Tajemství (wie Anm. 1) 93 ; Jan Dienstbier, Nástěnné malby ve tvrzi v Divicích [Die Wandmalereien in der Feste Divice], in : Bez hranic. Umění v Krušnohoří mezi gotikou a renesancí [Ohne Grenzen. Kunst im Erzgebirge von der Gotik bis zur Renaissance], hg. v. Jan Klípa, Michaela Ottová (Praha 2015) 384 ; ders., Profánní umění a jeho různé funkce [Profane Kunst und ihre verschiedenen Funktionen], in : Imago, imagines 2 (wie Anm. 8) 514–537, hier 522–524.
Das Mäzenatentum am Hof Wenzels IV.
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königlichen Anhänger zur Vorderseite der Münze bekannten, fanden die Kritiker ihre Munition auf der Rückseite. Die Symbolik Wenzels stellte freilich nicht allein ein nichtformales identifizierendes Bindeglied zur höfischen Kultur dar. Die herrscherliche Ordnung des Drehknotens bildete eine klar definierte Gruppe Getreuer und Verbündeter, ebenso wie die Hammerund Reifen-Bruderschaft, die »von unten« auf Initiative von mit dem König verbundenen Adeligen und Bürgern entstand. Ebenso wie im Falle der Bibliophilie wurde hier die königliche Initiative durch die Aktivität der Höflinge ergänzt. Der besten Kennerin von Wenzels Symbolik, Milada Studničková, zufolge muss dieses System vornehmlich auf politischer Ebene verstanden werden : Es verweist auf den Gedanken machtpolitischer und geistiger Erneuerung, es sollte die königliche Autorität festigen und Wenzels Ansprüche sowie seine Absichten zum Ausdruck bringen44. Im Lichte der politischen Interpretation der Symbolik Wenzels erscheint die Repräsentation des luxemburgischen Monarchen weitaus nicht so passiv, wie bisher angenommen. Die neue Eingliederung astrologischer Handschriften Wenzels IV. in den Kontext von Vorstellungen über einen idealen Herrscher zeigte den übersehenen Aspekt dieser Kodexe, die die von Gott an den König übertragene Macht über die irdische Zeit und die weltliche Ordnung demonstrieren sollten45. Auf eine konsequentere Interpretation wartet darüber hinaus die Problematik der Blüte des Alexanderstoffes gerade in der Zeit Wenzels IV., und zwar sowohl in der Literatur als auch in der bildenden Kunst46. Die Frage, inwieweit eine in den verschiedenen Adaptionen der Alexandergeschichte enthaltene moralisierende Botschaft mit Wenzel IV. verbunden ist, wird noch zu beantworten sein47. 44 Studničková, Devízy a insignie (wie Anm. 25) 255f. 45 Lenka Panušková, Die astrologischen Handschriften Wenzels IV. als Medium der Herrscherlegitimation, in : Heilige, Helden, Wüteriche (wie Anm. 2) 305–324. 46 Anežka Vidmanová, Latinská historie o Alexandru Velikém v našich rukopisech [Die lateinische Geschichte von Alexander dem Großen in unseren Handschriften], in : Listy filologické 86 (1963) 263–267 ; Karel Stejskal, Petr Voit, Iluminované rukopisy doby husitské [Illuminierte Handschriften des hussitischen Zeitalters] (Praha 1991) 29, 46, 50, 54–56. 47 Lediglich exemplarisch sei auf eine, die Historie de Preliis Alexandri Magni enthaltende, Handschrift verwiesen, die 1412 in castrum Fredek verfasst wurde. Anežka Vidmanová, K tzv. německé interpretaci Alexandra Velikého v recenzi I2 Historie de preliis [Über die sog. deutsche Interpretation Alexander des Großen in der Rezension I2 Historie de preliis], in : Listy filologické 104 (1981) 132–136, hier 133f., schloss zwar das heutige Frýdek aus und setzte die genannte Lokalität mit Mährischen Sternberg gleich, doch erscheint dies ziemlich willkürlich. Wenngleich die Frýdeker Burg erst für das Jahr 1434 bezeugt ist, befand sich die Residenz der Teschner Herzöge zweifellos schon früher hier, insbesondere da Frýdek 1402 zum Zentrum der gemeinsamen Herrschaft Frýdek-Místek aufstieg ; Pavel Kouřil, Dalibor Prix, Martin Wihoda, Hrady českého Slezska [Die Burgen Böhmisch-Schlesiens] (Brno–Opava 2000) 111. Auftraggeber war offenkundig Bolek I. aus dem Geschlecht der Herzöge von Teschen, Lehensleute der
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Noch einmal soll der Blick auch auf die höfische Historiographie gerichtet werden, die im Vergleich zu den zielgerichteten Anstrengungen unter Karl IV. in der Regierungs zeit seines Sohnes völlig zu fehlen schien. Möglicherweise wählte jedoch Wenzel IV., ähnlich wie in der Frage der Art und Weise der Repräsentation, hier lediglich andere Ausdrucksmittel. Aus heutiger Perspektive betrachtet, in der vor allem Originalität gefragt ist, befand sich die Geschichtsschreibung unter Karl IV. in der Tat auf einem anderen Niveau als die Historiographie im höfischen Umfeld Wenzels, die sich mit Kompilationen und Übersetzungen zufriedengab. Im Mittelalter freilich war Originalität kein bestimmendes Prinzip. Erwies es sich daher nicht als viel wirksamer, das Schicksal der Dynastie der Luxemburger in die Geschichte des Heils in Werken einzubinden, die sich bereits mit der Zeit bewährt hatten ? Der heutige Historiker, der immer wieder nach neuen Fakten sucht, kann angesichts derart »reiner« Adaptionen nur die Achseln zucken, aus Sicht ihres zeitgeschichtlichen Zweckes hingegen besaßen sie das Potential ihre Rolle zu erfüllen48.
böhmischen Könige, die traditionell auch am Herrscherhof vertreten waren. Die Bindung an Prag wird auch durch eine Abschrift der Goldenen Bulle in dieser Handschrift angedeutet. 48 Diese Studie wurde von der Tschechischen Forschungsgemeinschaft (GA ČR) im Rahmen des Projekts EXPRO 19-28415X »From Performativity to Institutionalization : Handling Conflict in the Late Middle Ages (Strategies, Agents, Communication)« gefördert.
Maria Theisen
König Wenzels Ritt über den Werd Die Wiener Zeit Wenzels IV. mit Blick auf seine illuminierten Handschriften
König Wenzels IV. erzwungener Aufenthalt in Wien von August 1402 bis November 1403 zählt zu jenen Episoden, die kaum Spuren in der Wiener Stadtgeschichte hinterlassen haben. Das mag nicht nur daran liegen, dass es Wenzel gelungen ist, aus dem politischen Abseits, in das er hierher abgeschoben wurde, auszubrechen und auf den Thron seines Königreichs zurückzukehren ; auch die Zahl an überlieferten Schriftstücken des Königs aus diesen Monaten ist bescheiden, die Angaben der älteren Historiographie sind unzuverlässig, und die Legenden naturgemäß schwer verwertbar. Dennoch konnte im Rahmen jüngster Forschungsprojekte zur Regierungszeit Wenzels IV. einiges weiter erhellt werden1. Dank ihnen rückt nun auch die Wiener Episode wieder mehr in den Blickpunkt.
Das doppelte Spiel Seit seiner Absetzung am 20. August 1400 und der Wahl Ruprechts III. zum römischen König kreisten die Gedanken König Wenzels IV. um ein von niemandem mehr erwartetes Manöver : er wollte nach Rom ziehen, um sich von Papst Bonifaz IX. zum Kaiser krönen zu lassen. Dem verlieh er noch im selben Jahr durch eine Abschrift der Goldenen Bulle Ausdruck, nach deren Gesetz er zum römischen König gewählt und gekrönt worden war. Sein Codex erhielt kostbare Miniaturen, nur die heraldischen Banner der Kurfürsten blieben ostentativ leer ; dem Text ließ er ein Verzeichnis von Städten und Burgen Mittelitaliens beiheften2. 1 Einen guten Überblick über derzeit in Arbeit befindliche Projekte und Diskussionen betreffs Regierungszeit König Wenzels IV. bot die 2017 von Klara Hübner und Christian Oertel in Erfurt organisierte Tagung »Wenzel IV. (1361–1419). Neue Wege zu einem verschütteten König« (Tagungsband in Arbeit), die von einem der besten Kenner der Ära der Luxemburger Könige Wenzel und Sigismund näher vorgestellt wurden : unserem vielgeschätzten Kollegen und Jubilar Karel Hruza. Internationale Tagung Universität Erfurt 29. März – 1. April 2017. Wenzel IV. (1361–1419). Neue Wege zu einem verschütteten König. Wenceslas IV (1361–1419). New Approaches to a Superimposed King. Tagungsbericht, in : Bohemia 57 (2017) 193–196. 2 Armin Wolf, Die Goldene Bulle. König Wenzels Handschrift. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat des Codex Vindobonensis 338 der Österreichischen Nationalbibliothek 1–2 (Graz 1977).
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Bisher hatte Wenzel das riskante und kostspielige Unterfangen eines Romzugs aufgeschoben. Nun begann er, vorbereitende Briefe nach Italien zu schreiben3. Außerdem brauchte er aller Bedrängnis und der sich nach seiner Absetzung verschärfenden Zerwürfnisse zum Trotz die Unterstützung des Landesadels sowie seines Halbbruders und größten Rivalen, Sigismund, mit dem er sich versöhnen und eine Allianz bilden musste4, wenn er Böhmen während seiner Absenz halten wollte. Einen ersten Versuch in diese Richtung unternahm er bereits im Oktober 1400, als er Sigismund und die böhmischen Herren zur Unterredung in Kuttenberg traf. Erfolg war ihm jedoch erst nach weiteren Verhandlungen im Frühjahr 1402 beschieden (zumal Sigismund zwischenzeitlich in Ungarn gefangen genommen und erst seit Oktober 1401 wieder als König bestätigt war) : nun schien es allen begrüßenswert, dass er sich freiwillig aus Böhmen hinausbegeben wollte. Währenddessen versuchte König Ruprecht, Oberitalien in Richtung Rom zu durchqueren. Doch Wenzels Verbündeter, Gian Galeazzo Visconti von Mailand, zwang ihn nach verlorener Schlacht am 21. Oktober 1401 zum Rückzug. Die Zeichen für eine sichere Passage durch Oberitalien standen also gut für Wenzel. Im Februar 1402 erklärte er Sigismund zum Statthalter Böhmens bis zu seiner Rückkehr, der Zug über die Alpen sollte im Sommer angetreten werden. Dennoch, er war sich seiner Sache nicht mehr sicher. Die Gefahr des Scheiterns war erdrückend hoch, denn : »Wäre Wenzel auf der Reise gefangen und Ruprechten ausgeliefert worden, welches leicht hätte geschehen können, so war alles verloren«5. Aber es dürften nicht nur Ängste dieser Art gewesen sein. Der Autor schlug vor, dass sie vielleicht als Geschenk für den Papst gedacht war (ebd. 2, 46f.). Dass Wenzels Goldene Bulle auch ohne Siegel das Reichsgrundgesetz des Heiligen Römischen Reiches repräsentierte, steht außer Zweifel : sie war daher der erste Codex, den der spätere Kaiser Friedrich III. aus dem Erbe seines Mündels Ladislaus Postumus für sich in Anspruch nahm und signierte ; s. auch Ulrike Jenni, Maria Theisen, Mitteleuropäische Schulen 4 (ca. 1380–1400). Hofwerkstätten König Wenzels IV. und deren Umkreis. Textband (Wien 2014) 233–243 (Kat. 12. Cod. 338 : Die Goldene Bulle Wenzels IV.). Die Entwicklungen, die zur Absetzung Wenzels geführt hatten, skizzierte Karel Hruza, König Wenzel IV. (1361–1419), der Ehre beraubt ? Eine kommentierte Skizze seines Lebens, in : MIR Texte 6 (2017) 1–19, der Wenzels Leben, aber auch die wichtigste Forschungsgeschichte kommentiert. URL : https:// www.oeaw.ac.at/fileadmin/Institute/imafo/pdf/forschung/MIR/timelab/MIR_Text_6.pdf [letzter Zugriff : 22.12.2020]. 3 František Martin Pelcl, Lebensgeschichte des Römischen und Böhmischen Königs Wenceslaus 2 (Prag 1790) 454 ; Ondřej Schmidt, Druhé zajetí Václava IV. z italské perspektivy [Die zweite Gefangenschaft Wenzels IV. aus italienischer Perspektive], in : Studia Mediaevalia Bohemica 9 (2017) 163–214, hier 172– 174. 4 Robert Novotný, Spor Václava s panstvem [Machtkampf Wenzels mit dem Landesadel], in : Lucemburkové. Česká koruna uprostřed Evropy [Die Luxemburger. Die böhmische Krone in der Mitte Europas], hg. v. František Šmahel, Lenka Bobková (Praha 2012) 664–674 ; Klara Hübner, Herrscher der Krise – die Krise des Herrschers. König Wenzel IV. als Projektionsfläche zeitgenössischer Propaganda, in : Biuletyn Polskiej Misji Historycznej – Bulletin der Polnischen Historischen Mission 11 (2016) 294–320. 5 Pelcl, Lebensgeschichte 2 (wie Anm. 3) 468.
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Von einer Reise war mit Blick auf den Himmel dringendst abzuraten, denn seit Februar stand dort ein Komet, der sogar tagsüber sichtbar war : ein sehr schlechtes Omen. Dass Wenzel sich in diesen Tagen Rat von Prognostikern holte, belegt eine Handschrift, in der sein Astrologe Terzyssko beim Berechnen der Aspekte der Frühjahrsdekade gezeigt wird und in deren erster Rota der große Komet kreist6. Nun zögerte er, sein 41. Geburtstag verstrich, der Komet stand noch am Himmel – und das sollte sich bis Mitte April nicht ändern7. Das Omen sah auch Sigismund und setzte Wenzel auf der Prager Burg fest, Datierungen hierfür schwanken zwischen 6. und 13. März 14028, wohl aus Sorge, dieser könnte seinen Plan widerrufen. Seine Strategie galt der eigenen Positionierung in Böhmen, aber auch dem Machterhalt der Luxemburger im Reich, der zu diesem Zeitpunkt noch mit seidenem Faden an Wenzels römischer Krone hing. Dass Sigismund ernsthaft daran gelegen war, seinen Bruder nach Rom zu bringen, belegen die zahlreichen Briefe und Gesandtschaften, die nun zwischen Böhmen, Österreich und Oberitalien kursierten und enorm viel Geld kosteten9. Anderes musste angesichts dessen freilich ruhen. Dazu zählte die Fertigstellung einiger Bücher Wenzels, deren Texte und Bilder seine Interessen und Ideale zum Ausdruck brachten und uns heute teilhaben lassen an seiner Welt.
Aufbruch nach Rom: Wien Im Juni 1402 brachte Sigismund seinen Bruder zu Heinrich von Rosenberg nach Krumau, im Juli weiter zu Hermann von Cilli auf die Schaunburg bei Linz10. Dort stellte sich heraus, dass der Weg über den Brenner zu gefährlich sein würde, da Herzog Leopold IV. von 6 München, BSB, Clm 826, ff. 1v und 8r ; Maria Theisen, Astronomisch-astrologischer Codex König Wenzels IV. Kunsthistorischer Kommentar zur Faksimile-Edition der Handschrift der Bayerischen Staatsbibliothek Clm 826 (Stuttgart 2018) 41, 47. 7 Komet C/1402 D 1, Konjunktion mit der Sonne am 20.03.1402. Die erste Meldung machte Jacobus Angelus in Ulm am 08.02.; Friedrich von Drosendorf ließ den Kometen am 12.03. an der Universität Wien diskutieren ; Michael H. Shank, Academic Consulting in Fifteenth-Century Vienna. The Case of Astrology, in : Texts and Contexts in Ancient and Medieval Science. Studies on the Occasion of John E. Murdoch’s Seventieth Birthday, hg. v. Edith Sylla, Michael McVaugh (Leiden–New York–Köln 1997) 245–270, hier 253f.; bis zum 18.03. schrieb Konrad Kyeser in Kuttenberg am Vorwort zum Bellifortis, den er Wenzel widmen wollte : Uictoriosissimo principique domino domino W […] (Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, 4° Cod. Ms. philos. 64a, f. 1v), s. Regina Cermann, Der Bellifortis des Konrad Kyeser (Codices manuscripti & impressi. Supplementum 8, Purkersdorf 2013) 43, Anm. 184. 8 Schmidt, Druhé zajetí (wie Anm. 3) 172. 9 Ebd. 163–214, zur Forschungsgeschichte 200. 10 Alphons Lhotsky, Die oberösterreichische Fassung der sogenannten Wiener Annalen, in : Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs 2 (1952) 5–28, hier 24f.
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Österreich (als Graf Leopold II. von Tirol) auf Seiten Ruprechts stand. Man beschloss, über Wien ins Friaul und von dort in die Lombardei zu gelangen. Von Wien, wo sie am 9. August 1402 eintrafen, sollten die Habsburger Herzöge Wilhelm und Albrecht den König weiter über die Ostalpenpässe nach Italien geleiten11. Dafür erklärte Sigismund Herzog Albrecht IV. im Falle seines Ablebens ohne männlichen Erben zum Thronfolger12. Was Albrechts Treue sicherte, veranlasste den mährischen Markgrafen Jost, dem dasselbe zugesprochen war, endgültig das Lager zugunsten Wenzels zu wechseln13. Der logierte in diesen Tagen in der Hofburg und durfte sich überdies frei in der Stadt bewegen. Außerdem durfte er hoffen, bald in Richtung Rom aufbrechen zu können. Diese Hoffnung schwand jedoch allzu bald. Schon Mitte September erreichte ihn die Nachricht, dass Gian Galeazzo Visconti am 3. September verstorben war14. Mit ihm verlor er seinen treuesten Partner in Oberitalien. Das Jahr 1402 neigte sich somit in Ungewissheit und Sigismund ließ seinen Bruder in der Obhut der Habsburger mit der Auflage zurück, ihn gut im Auge zu behalten. Er hatte kein Interesse mehr daran, Wenzel wieder auf den böhmischen Thron zurückkehren zu lassen.
Das Pr ager Haus Im November 1402 wurde der König an das andere Ende der Stadt, in den Herzogshof am Kienmarkt, übersiedelt, den noch Antonio Bonfini, Historiker des ungarischen Königs Matthias Corvinus, als »trefflich« beschrieb15. Die Ruprechtskirche schloss un11 Petr Elbel, An der Seite König Sigismunds und Albrechts V. Die Herren von Liechtenstein und Nikolsburg im Hussitenkrieg (1419–1436) und die Bedeutung dieser Zeit in der Hausgeschichte, in : Studia historica Brunensia 64/1 (2017) 19–60, hier 26. 12 Österr. Staatsarchiv HHStA AUR 1402 IX 14, ausgestellt im Beisein Albrechts IV. in Preßburg. Am 5. Oktober folgte die Zusicherung der Handels- und Verkehrsfreiheit für österreichische Kaufleute in Ungarn, s. Quellen zur Geschichte der Stadt Wien II/1. Verzeichnis der Originalurkunden des städtischen Archives 1239–1411, hg. v. Karl Uhlirz (Wien 1898) Nr. 1518. 13 Petr Elbel, Jan Soběslav a Prokop [ Johann Soběslav und Prokop], in : Lucemburkové, hg. v. Šmahel, Bobková (wie Anm. 4) 710–718, hier 717f.; Tomáš Baletka, Jošt Lucemburský. Markrabě moravský, braniborský a král římský [ Jost von Luxemburg. Markgraf von Mähren und Brandenburg, römischer König] ebd. 719–724, hier 722 ; Elbel, An der Seite (wie Anm. 11) 27. 14 In einigen Städten Oberitaliens liefen die Verhandlungen dennoch weiter, s. Schmidt, Druhé zajetí (wie Anm. 3) 196. Eine illustrierte Historia Plantarum, die Gian Galeazzo noch Wenzel schenken wollte, hat ihren Empfänger nie erreicht (Rom, Bibl. Casanatense, Ms. 459). 15 Antonio Bonfini, Rerum Ungaricarum Decades Tres, nunc demum industria Martini Brenneri Bistricensis Transsylvani in lucem æditæ, antehac numquam excusæ, Decadis III, Liber II (Basel 1568) 386 – Bonfini, der sich im übrigen sehr geringschätzig über Wenzel äußert, spricht genauer von »Häusern«, womit er die Hofburg und den Herzogshof meinte, in dem Wenzel die längste Zeit verbrachte ; zu Deutsch : Ungerische Chronica. 3. Theil. 2. Buch (Frankfurt am Main 1581) 207.
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mittelbar an das große Haus an, das die Herzöge um 1400 von Rudolf und Hans II. von Tirna, Söhnen des Münzmeisters Hans von Tirna, übernommen hatten16. Mit König Wenzel war nun ein kleiner Hofstaat einquartiert, von dem namentlich nur sein Hofmeister Johann von Leuchtemberg17 und Sigismund Huler von Orlík, Unterkämmerer des Königreichs Böhmen, sein Kammerherr Heinrich Lefl von Seydlitz/Lasan18, die Diener Janko Welemisl und Wenzel Schrank von Prag sowie der Kreuzherr Bohuš19 erwähnt werden. Am 20. November erklärte Wenzel gegenüber Sigismund und den österreichischen Herzögen, seine »Burggrafen zur Audienz nach Wien zu berufen, wo sie sich den vier obgenannten Fürsten zur Verfügung stellen sollten«20. So trafen am Herzogshof des Öfteren illustre Gäste ein, für deren Wohl etliche Bedienstete, Gastwirte und Lieferanten sorgten21. Sie nannten den Hof bald »Prager Haus« oder »KleinPrag« und wussten über dessen Bewohner manches zu erzählen22. 16 Hans von Tirna, einer der reichsten Männer des Landes, war mehrfach Wiener Bürgermeister, Hofmeister (1365) und Amtsmann (1380, 1383) Herzog Albrechts III.; s. Mika Viktoria Boros, Studien zu den Wiener Münzmeistern des 13. und 14. Jahrhunderts (Masterarbeit Wien 2017) 66–68. 17 Landgraf Johann I. von Leuchtemberg, Oberpfalz. 18 Pelcl, Lebensgeschichte 2 (wie Anm. 3) 485 ; František Palacký, Geschichte von Böhmen III/1. Böhmen unter König Wenzel IV. bis zum Ausbruch des Hussitenkrieges. 1378–1419 (Prag 1845) 153 ; Geldanweisung Wenzels an Johann von Leuchtemberg am 13.07.1403 s. Archiv Koruny české 5. Katalog listin z let 1378–1437 [Archiv der Böhmischen Krone V. Katalog der Urkunden aus den Jahren 1378–1437], hg. v. Antonín Haas (Český zemský archiv. Katalogy, soupisy, regestáře a rozbory 1, Praha 1947) Nr. 151 ; Nennung Sigismunds von Orlík und Jo[han]ns von Leuchtemberg in Österr. Staatsarchiv, HHStA SB HA Grafenegg Urkunden 203 (1403). Heinrich Lefl von Lasan wird erst im November 1403 als camrer genannt, dürfte aber schon vorher Wenzels Kammerherr gewesen sein, s. Viktor Pohanka, Jindřich Lefl z Lažan. Reinterpretace jedné politické kariéry [Heinrich Lefl von Lasan. Neuinterpretation einer politischen Karriere], in : Husitský Tábor 19 (2015) 127–148, hier 131 ; zu Wenzel in Wien s. Ivan Hlaváček, Die Wiener Haft Wenzels IV., in : Husitství – reformace – renesance. Sborník k 60. narozeninám Františka Šmahela [Hussitismuns – Reformation – Renaissance. Festschrift für František Šmahel zum 60. Geburtstag], hg. v. Jaroslav Pánek, Miloslav Polívka, Noemi Rejchrtová (Praha 1994) 225–238. 19 Ob Kreuzherr (oder Johanniter) Bohuš sein Seelsorger war, ist nicht bekannt. 20 Hlaváček, Wiener Haft (wie Anm. 18) 230, Schriftstück (A), Anm. 13. 21 Das Nebenhaus war an Gastwirte verpachtet, die den herzoglichen Hof zu versorgen hatten. Eine ungefähre Vorstellung über anfallende Kosten gibt eine (leider undatierte) Speiseordnung betreffs Ausgaben für die Küche, in der die Räte Herzog Wilhelms allein für den Wein (…) den ungelt ze Wienn meins her ren tail [mit] zemynnisten 2000 Gulden anführten (Tiroler Landesarchiv Urkunde I 7794), s. Christian Lackner, Das Finanzwesen der Herzoge von Österreich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in : Unsere Heimat NF 63 (1992) 284–300, hier 292, Anm. 49. Herzog Wilhelms Wachszieher Merten könnte das Prager Haus ebenfalls beliefert haben, Maria Theisen, Ein Buch als Weggefährte. Codex 12503 und seine Besitzer, in : Umění a revoluce. MB LX. Pro Milenu Bartlovou [Kunst und Revolution. MB LX. Für Milena Bartlová], hg. v. Johana Lomová, Jindřich Vybíral (Praha 2018) 102–119 (s. auch Anm. 43). 22 Erstmals 1434 als des herzogen haus, daz man Prag nennt angeführt, seit 1504 war hier auf Anweisung Kaiser Maximilians I. das Salzamt untergebracht, s. Paul Harrer-Lucienfeld, Wien, seine Häuser,
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Dass sogar wohlgesonnene Historiker noch Jahrhunderte später meinten, Wenzel wäre in dieser Zeit glücklich gewesen, denn nun musste er nicht selbst regieren, war wohl gängige Fehleinschätzung23. Spätestens, seit Bonifaz IX. Unruhen gegen Sigismund schürte und statt seiner Ladislaus von Neapel auf dem ungarischen Thron wissen wollte, war der Luxemburger Plan des Krönungszuges zunichte. Für Wenzel bedeutete das, dass er nun in der Falle saß. Er hatte die Regierungsgeschäfte abgegeben, würde wohl nie nach Rom kommen und sollte auch nicht nach Böhmen zurückkehren : Ein gekrönter König ohne Königreich. Ein Albtraum, mit dem er sich ausgerechnet am nachmaligen Wiener Salzamt wiederfand.
Multis videntibus, sed non cognoscentibus 24 Er machte sich daran, sein Netzwerk auszubauen, schrieb Briefe, erteilte Wappen, Schenkungen und Vollmachten für seine Getreuen und nahm u. a. Kontakt zu den Wiener Bürgern Dietrich Prenner, Niclas dem Etter und Niclas dem Sarger auf25. Es gelang ihm, von ihnen 3000 Schock Prager Groschen zu lukrieren, um sie an Breslau, Namslau und Neumarkt zu bezahlen26. Doch war dies nur ein kleiner Teil : allein Dietrich Prenner lieh dem König über 18.000 Gulden, die für dessen Unterhalt in Wien aufgingen. Prenner bekam das Geld nie zurück, er starb hochverschuldet27. Geschichte und Kultur 1/3 (Wien 21951) 593–595 ; Ferdinand Opll, Nachrichten aus dem mittelalterlichen Wien. Zeitgenossen berichten (Wien–Köln–Weimar 1995) 107f.; Hübner, Herrscher der Krise (wie Anm. 4) 310, über die Johann Nepomuk-Legende im Wiener Raum um 1400. 23 Pelcl, Lebensgeschichte 2 (wie Anm. 3) 472, der von »unserm Wenzel« sprach, meinte, dass dieser in Wien »vielleicht zufrieden und ohne Sorgen [lebte], denn sein Bruder Siegmund herrschte über Böhmen an seiner statt«. 24 Anleihe aus dem Chronicon universitatis Pragensis, zitiert nach Palacký, Geschichte III/1 (wie Anm. 18) 153, Anm. 180. 25 Richard Perger, Die Sippe des Wiener Ratsbürgers und Münzmeisters Dietrich Prenner. Wiener Kaufleute und Finanzmänner um 1400, in : Jahrbuch der Heraldisch-Genealogischen Gesellschaft Adler 10/3 (1981) 33–86 ; ders., Die Wiener Ratsbürger 1396–1526. Ein Handbuch (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 18, Wien 1988) 172, 238 ; Boros, Münzmeister (wie Anm. 16) 77f. 26 Österr. Staatsarchiv HHStA SB HA Grafenegg Urkunden 203 (1403) ; die Städte gehörten dem schlesischen Bund an : Breslau, Newmarkt und Nambslaw uns eintrechtiglich mit einander verschrieben […], das wir bei dem obgenannten unserm herren Wenczlaw getrewlich und feste stehen […], vgl. Lehns- und Besitz urkunden Schlesiens und seiner einzelnen Fürstenthümer im Mittelalter 1, hg. v. Colmar Grünhagen, Hermann Markgraf (Leipzig 1881) 19, Nr. 9. 27 Perger, Sippe (wie Anm. 25) 34–35 und 43–45 ; Hlaváček, Wiener Haft (wie Anm. 18) 236, Anm. 40 (= Quellen Wien II/1 [wie Anm. 12] Nr. 4269) ; weitere Kontaktpersonen werden erst später genannt, z. B. Ulrich Noder aus Lichtenegg (südlich von Wiener Neustadt) am 17.05.1411, s. Hlaváček, Wiener Haft (wie Anm. 18) 232, Anm. 26.
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Möglicherweise schloss der König im Juli 1403 mit den Herzögen Wilhelm und Ernst ein Bündnis, was erklären könnte, warum seine Aktivitäten in Wien nicht strenger kontrolliert wurden28. Konkret zeichnet sich ab, dass Wenzel auf Schlesien und den Fürstenbund setzte29, der sich schon am 17. Juli 1402 aus Protest gegen die Inhaftierung des Markgrafen Prokop durch Sigismund30 und dessen schlesische Ambitionen formiert hatte. Neben Herzog Ruprecht I. von Liegnitz und dem Oppelner Herzog Bernhard von Falkenberg hatten sich sämtliche schlesische Fürsten und auch die Städte des Erbfürstentums Breslau angeschlossen, um Wenzel wieder ins Amt zu setzen. Auch an den Krakauer Stadtrat sandte der König, der Land und Leuten die Treue geschworen hatte, einen Hilferuf31. Er hatte erkannt, dass er von seinem Bruder mittlerweile alles andere als Hilfe zu erwarten hatte32. Von Spätsommer bis Herbst 1403 – während Sigismund damit beschäftigt war, Ladislaus von Neapel abzuwehren – erhielt er Besuch von Vertretern des schlesischen Fürstenbundes33. Es kamen Ruprecht I. von Liegnitz und Bolko III. 28 Eduard Marie Fürst von Lichnowsky, Geschichte des Hauses Habsburg 6. Von Herzog Friedrichs Wahl zum römischen König bis zu König Ladislaus Tod (Wien 1842) XVII, Nr. 565b ; das genannte Dokument ist jedoch verschollen, zu diesem Problem s. Karel Hruza, Zwischen Budweis, Freistadt, Litschau und Wien. Fünf unbeachtete Urkundenkonzepte König Wenzels (IV.) für die Herzöge von Österreich aus dem Jahr 1396, in : Evropa a Čechy na konci středověku. Sborník příspěvků věnovaných Františku Šmahelovi [Europa und Böhmen am Ende des Mittelalters. Festschrift für František Šmahel], hg. v. Eva Doležalová, Robert Novotný, Pavel Soukup (Praha 2004) 59–83, hier 69. 29 Die meisten Dokumente stammen aus den Monaten Juli und August 1403, sechs (von acht) stehen in Zusammenhang mit Schlesien, ein weiteres hängt damit zusammen, s. Hlaváček, Wiener Haft (wie Anm. 18) 230–232. 30 Sigismund hatte Prokop im Juni 1402 inhaftiert, mit Wenzel auf die Schaunburg und nach Wien gebracht, danach weiter nach Preßburg. Prokop verstarb im September 1405, der, bereits schwer kränkelnd, im April Preßburg verlassen und sich ins Kloster Königsfeld/Královo Pole bei Brünn zurückgezogen hatte), s. Jaroslav Mezník, Lucemburská Morava. 1310–1423 [Mähren unter den Luxemburgern. 1310–1423] (Praha 1999) 284–286 ; Elbel, Jan Soběslav a Prokop (wie Anm. 13) 718. 31 Selbstdarstellung Wenzels im Brief an Krakau, 10.09.1403, abgedruckt bei Beda Dudík, Archive im Königreiche Galizien und Lodomerien. Im Auftrage des Staatsministeriums beschrieben und durchforscht, in : Archiv für österreichische Geschichte 39 (Wien 1868) 1–222, hier 190–194, Beilage IV. Die treue Verbindung von König, Land und Leuten ist auch Grundtenor seiner Embleme. 32 Pelcl, Lebensgeschichte 2 (wie Anm. 3) 473, vermutete, dass Wenzel und Sigismund einander Anfang August zu einer Unterredung in Hainburg getroffen hatten. Vom Aufenthalt in Hainburg wissen wir durch eine Vollmacht, die Wenzel dort am 08.08.1403 hinsichtlich der Nominierung von Kanonikern für die Hl. Kreuz-Kirche in Breslau ausstellte, vgl. Archiv Koruny české 5 (wie Anm. 18) Nr. 152. 33 Der Zeitpunkt ihres Eintreffens ist unbekannt, Ondřej Schmidt plädierte für eine Ankunft vor 07.09.1403, Schmidt, Druhé zajetí (wie Anm. 3) 189. Den Brief an die Krakauer schrieb Wenzel am 10.09.1403. Aufzählung der Anwesenden bei Pelcl, Lebensgeschichte 2 (wie Anm. 3) 482 ; es soll auch Burggraf Jeschke von Dohna, königlicher Burghauptmann von Königstein, im Herbst 1403 zu König Wenzel gekommen sein, nachdem Burg Dohna von Wilhelm von Meißen eingenommen worden war, s. Georg Friedrich Möring, Dohna. Stadt und Burg von seinem Ursprunge bis auf die neueste Zeit (Dohna 1843) 121f.; Winkler und Raußendorf mutmaßten darüber hinaus, dass Jeschke bei der Befreiung des Königs
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von Münsterberg sowie dessen Sohn Nikolaus, Benesch von Chussnik34, Landeshauptmann der Fürstentümer Schweidnitz-Jauer, und Johann von Schönfeld, vermutlich Deutschordensritter35. Sie feilten hier weiter an dem Plan, wie man Wenzel nach Böhmen zurückbringen könnte. Hilfe vor Ort boten die Brüder Johann II. und Heinrich V. von Liechtenstein-Nikolsburg36, deren Vater noch Ratsherr sowohl König Wenzels als auch Herzog Albrechts III. gewesen, bei letzterem jedoch in Ungnade gefallen war und daraufhin alle Besitzungen in Österreich verloren hatte. Johann sollte den König bei Stadlau in Empfang nehmen und ihn nach Nikolsburg eskortieren, danach weiter nach Brünn, zu Markgraf Jost. Während der Planungen hielt man unter den Augen der Habsburger ein normales Leben aufrecht und ritt wohl gelegentlich ins Umland aus37. Am 11. November 1403, so berichten die Annalen, brachen Wenzel und Bohuš nach dem Mittagessen auf, ohne jedoch eine Rückkehr an den Salzgries vorzusehen38. Pelcls mitgeholfen habe, s. Max Winkler, Hermann Raussendorf, Die Burggrafenschaft Dohna, in : Landesverein Sächsischer Heimatschutz. Mitteilungen 25/1 (1936) 1–10, hier 4 ; im Dezember 1403 oder 1404 wurde Jeschke wegen Landfriedensbruchs in Ofen enthauptet. 34 Benesch kam nach Wien, obwohl ihn Wenzel am 06.08.1403 wegen Untreue als königlichen Hauptmann der Stadt Breslau abgesetzt hatte. Am 28. August desselben Jahres urkundete er als Landeshauptmann von Schweidnitz-Jauer dennoch : unser gnadiger hirre her Wenczlaw romisscher konig czu allin czeiten mehrer des Reychs kunig czu Beheim […] ; Konrad Wutke, Schlesiens Bergbau und Hüttenwesen. Urkunden (1136–1528) 1 (Codex diplomaticus Silesiae 20, Breslau 1900) Nr. 162 ; Hlaváček, Wiener Haft (wie Anm. 18) 231 (G, H). Ebd. 233 führt Hlaváček an, dass Benesch den Vorwurf der Untreue in Wien ausräumen konnte. 35 Dieter Heckmann, Amtsträger des Deutschen Ordens in Preußen und in den Kammerballeien des Reiches (oberste Gebietiger, Komture, Hauskomture, Kumpane, Vögte, Pfleger, Großschäffer) (Werder 2011–2014 ; URL : https://www.researchgate.net/publication/264901590_Dieter_Heckmann_Amtstrager_des_Deutschen_Ordens_in_Preussen_und_in_den_Kammerballeien_des_Reiches_oberste [letzter Zugriff : 16.12.2020]) 151, fasst unter diesem Namen alle Einträge von 1377 bis 1411 zusammen. Vermutlich handelt es sich nicht immer um dieselbe Person ; mit demselben Ergebnis Schmidt, Druhé zajetí (wie Anm. 3) 189. 36 Zur Rolle der Liechtensteiner s. Elbel, An der Seite (wie Anm. 11), bes. 27f.; auf Heinrichs Beteiligung lässt eine Urkunde aus dem Jahr 1404 schließen, in denen Albrecht IV. den beiden Genannten vergibt, dem König zur Flucht verholfen zu haben, s. Metoděj Zemek, Adolf Turek, Regesta listin z Lichtenštejnského archivu ve Vaduzu z let 1175–1526 [Regesten der Urkunden im Liechtensteiner Archiv in Vaduz der Jahre 1175–1526], in : Sborník archivních prací 33 (1983) 233, 235f.; Jiří Spěváček, Václav IV. (1361–1419) k předpokladům husitské revoluce [Wenzel IV. (1361–1419). Zu den Voraussetzungen der hussitischen Revolution] (Praha 1986) 348–352 ; Hlaváček, Druhé zajetí (wie Anm. 18) 236, Anm. 41. 37 Herzog Wilhelm soll insgeheim eingeweiht gewesen sein. Elbel, An der Seite (wie Anm. 11) 28. 38 Palacký, Geschichte III/1 (wie Anm. 18) 153, Anm. 180 ; Lhotsky, Wiener Annalen (wie Anm. 10) ; Opll, Nachrichten (wie Anm. 22) 108f.; andere Autoren erwähnen einen Johanniter, der mit Wenzel losgezogen sei, s. Pelcl, Lebensgeschichte 2 (wie Anm. 3) 482. In der Sage wurde aus Mittag Mitternacht, aus dem Prager Haus ein Rapunzelturm, aus dem sich Wenzel an seidener Schnur abseilen und danach (in üblicher Demütigung) vor seinen Verfolgern im Misthaufen verstecken musste. Curiositäten-
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Schilderung zufolge waren es vier Vertraute, mit denen Wenzel am Martinstag loszog. Es könnten Heinrich Lefl von Lasan und Janko Welemisl dabei gewesen sein, denen er noch zwei Tage zuvor seine Steuereinnahmen aus dem Kreis Kamienna Gora/Landshut, ausgerechnet uf sant Mertins tag, der schier ist kumpt anczuheben, überschrieben hatte39. Ihr Weg führte sie jetzt in östliche Richtung nach Stadlau40. Die Donau, sich nach Klosterneuburg ins Marchfeld ergießend und jedes Jahr in ihrem Lauf verändernd, teilte sich vor Wien in drei Haupt- und zahllose Nebenarme ; ein immenser Auwald, durchzogen von Wasserläufen, Schwemminseln (»Häufeln«), Moorwiesen und Trippelpfaden41. Wenzel und seine Begleiter brauchten die Hilfe eines Ortskundigen, wenn sie das Gebiet sicher durchqueren wollten. Vielleicht dürfen wir aus den Sagen als Körnchen Wahrheit nehmen, dass es ein Fischer war, der sie nach Stadlau brachte42. Der Fischer Grundel habe zuvor das Prager Haus mit »gesottenen Fischlein« versorgt. Ob wahr oder nicht : der Kontakt konnte gut über das Hauspersonal oder Zulieferer hergestellt worden sein43. Eine Bademagd – etwa vom Hafnerbad, das seit 1335 existierte und vermutlich auch von Wenzel genutzt wurde44 – ist es diesmal nicht gewesen : sie ist Teil der Legenden um Wenzels Gefangennahme im Jahr 139445. Von Grundel heißt es, er habe im Werd Memorabilien-Lexikon 2, hg. von Anton Köhler (Wien 1846) 259 ; Hruza, König Wenzel (wie Anm. 2), bes. 17. 39 Archiv Koruny české 5 (wie Anm. 18) Nr. 153 ; Hlaváček, Wiener Haft (wie Anm. 18) 231, Schriftstück (L), Anm. 24. Heinrich war später (1408–1410 sowie 1413–1419) Landeshauptmann des Erbfürstentums Breslau. 40 Heute 22. Bezirk »Donaustadt«. 41 Die erste topographisch verlässliche Karte stammt von Joseph Priami 1663. 42 Curiositäten (wie Anm. 38) 259, frei nach Hájek z Libočan, Kronyka Česká [Böhmische Chronik] (Prag 1541), Johannes Sandel, Böhmische Chronik (Leipzig 1718) und Sigmund von Birken, Spiegel der Ehren des höchstlöblichen Kayser- und Königlichen Erzhauses Österreich […] aus alten Geschichtsschriften erweitert […] (Nürnberg 1668). 43 Noch einmal sei Merten Wachsgießer erwähnt, der später von einem Getreuen König Wenzels (Deutschordensritter ?) kontaktiert wurde, s. Wien, ÖNB, Cod. 12503, fol. 132v ; Theisen, Ein Buch als Weggefährte (wie Anm. 21) 102–119. 44 Hafnersteig 3, 1. Bezirk ; von Johannes Corvinus ist überliefert, dass er 1485 das Prager Haus und das nahegelegene Hafnerbad besuchte, s. Tagebuch des Wiener Arztes Johannes Tichtel aus den Jahren 1477–1495, in : Fontes Rerum Austriacarum. Österreichische Geschichts-Quellen. I. Abtheilung : Scriptores. 1. Band. Johanes Tichtel’s Tagebuch 1477–1495. Sigmunds von Herberstein Selbstbibliographie 1486–1553. Johannes Cuspinian’s Tagebuch 1502–1527. Georg Kirchmair’s Denkwürdigkeiten 1519– 1593, hg. v. Theodor Georg von Karajan (Wien 1855) VI–IX (Vorwort), 3–66, hier 34 : […] primo ad ecclesiam [MT : St. Ruprecht], tandem yn das praghaus, tandem ad balneum, propter quod est ingressus […]. Die Tagebuch-Notizen trug Tichtl in eine seiner Inkunabeln ein (Wien, ÖNB, Ink 3.A.5). 45 Die von den Emblemen des Königs beflügelte Sage von der Bademagd wurde von Hájek z Libočan, Kronyka Česká (wie Anm. 42) CCCLVIIf., publiziert, ins Deutsche übersetzt von Sandel, Böhmische Chronik (wie Anm. 42) 635–637. Hájek berichtet auch von Grundel (ebd. CCCLVIIIf. bzw. 637–639), führt die Wiener Gefangenschaft jedoch für 1394 an. Birken 1668 (wie Anm. 42) 338, kennt die Ba-
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gewohnt, auf einer Donauinsel vor der Stadt. Möglicherweise war das alte Fischerdorf im oberen Werd, zwischen dem heutigen Donaukanal und dem später verlandeten Salzgriesarm, gemeint46. Der untere Werd war durch eine Schlagbrücke mit der Stadt verbunden, der einzigen Brücke in der ganzen Au : hier mussten sie passieren, wenn sie nach Stadlau, zur alten Fährstelle, gelangen wollten47. Während sich Wenzel und seine Begleiter durch die Donauauen durchschlugen und zuletzt bei Stadlau übersetzen ließen, kam für die schlesischen Herren die gefährliche Phase der Aktion. Nachdem in Wien klar wurde, was geschehen war, boten sie sich als Geiseln an. Sie spekulierten wohl, dass es den Österreichern und Sigismund politisch mehr schaden denn nutzen würde, sie anzugreifen. Ihre Strategie zeigte jedenfalls Erfolg : Sigismunds Pläne für Böhmen und Schlesien waren durchkreuzt48. Nur den österreichischen Herzögen, die Wenzel nicht bewacht hatten, konnte er drohen49. Inzwischen war Wenzel jedoch sicher in Nikolsburg eingetroffen und kehrte danach über Brünn und Kuttenberg nach Prag zurück. Dem König war mit diesem Kraftakt die Rückkehr aus dem Abseits gelungen, und dennoch : es war keine Rückkehr im Triumph, er stand in der Schuld vieler, die Probleme waren nicht weniger geworden und die Kaiserkrone war Illusion geblieben. Wien markiert eine Zäsur in seinem Leben, die für Kunsthistoriker nichts weniger bedeutet als das Ende einer goldenen Ära königlichen Mäzenatentums. Davon kündet nicht zuletzt die unvollendete große Bibel, mit deren erster, kompletter deutscher Übersetzung ein selbstbewusster Führungsanspruch des Rex Romanorum et Boemorum verknüpft gewesen war. Nun war sie mitsamt ihrer auf Böhmen und das Reich zugeschnittenen Bildrhetorik nicht nur zu teuer, sondern auch obsolet geworden ; auch andere Codices, die bis März 1402 nicht fertig gestellt waren, wurden endgültig aufgegeben. Wenzel vergab danach keine großen Aufträge mehr, Illuminatoren und Schriftsteller mussten sich neue Mäzene suchen50. demagd nicht, dafür aber die Geschichte von Grundel (wie Hájek 1394 zugerechnet ; der Fugger’sche »Ehrenspiegel«, Augsburg 1555 und 1559, erwähnt nichts davon). Die Grundel-Geschichte wurde 1846 von den Curiositäten (wie Anm. 38) übernommen und 1403 datiert. 46 Der obere Werd ist heute Teil des 9. Bezirks, nach den Pferdeweiden »Rossau« genannt. Der untere Werd ist Teil des 2. Bezirks, der »Leopoldau«, deren Gasse »Im Werd« an den Karmelitermarkt grenzt. 47 Beim Roten Turm, heute Schwedenbrücke, nach dem Juli-Hochwasser von 1402 neu errichtet. 48 Die Schlesier wurden im folgenden Jahr entlassen und von Wenzel IV. in ihren Würden bestätigt ; Hlaváček, Wiener Haft (wie Anm. 18) 236, Anm. 38 (= Quellen Wien [wie Anm. 12], Nr. 4263–4265 und 4273f.). 49 Eine Steuer auf pfaffen, juden und purger ermöglichte den Ausgleich mit Sigismund ( Juni 1404), s. Lhotsky, Wiener Annalen (wie Anm. 10) 24 ; Regesten zur Geschichte der Juden in Österreich im Mittelalter 4. 1387–1404, hg. v. Eveline Brugger, Birgit Wiedl (Innsbruck–Wien–Bozen 2018) Nr. 2308. 50 Zu den Unvollendeten zählen neben der Wenzelsbibel (Wien, ÖNB, Cod. 2759–2760) auch der astro
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In Wien blieben »die Prager« dennoch lange in Erinnerung. So ist bspw. im Hirschvogel-Plan von 1547 die entsprechende Stelle als »Prager Haus« bezeichnet51 und noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden Zeichnungen mit dem Titel »Das Salzamt (auch Praghaus), worin König Wenzel gefangen war«, die einen Eindruck von dem großen Gebäudekomplex am Salzgries geben52 : Man erzählte noch immer davon, obgleich mit dessen Abriss im Winter 1832 die Erinnerung an jene Episode, die Wenzels Leben mit Wien verknüpft hatte, langsam verblasste53.
logische Sammelband in München, BSB, Clm 826, der um 1500 von Wilhelm Haller in Nürnberg erworben wurde (wie Anm. 6) und der Ptolemäus-Kommentar (Wien, ÖNB, Cod. 2271), der sich später im Besitz des ungarischen Königs Matthias Corvinus befand – s. Jenni, Theisen, Mitteleuropäische Schulen 4 (wie Anm. 2) 123–131. Die Dragmaticon-Ausgabe des Guglielmus de Conchis, für die die Datierung 1402 rekonstruiert werden konnte, dürfte nicht mehr für Wenzel bestimmt gewesen sein (Madrid, BN, Res. 28, auch dieser Codex ging in den Besitz des Matthias Corvinus über), Eric. M. RamírezWeaver, William of Conches, Philosophical Continuous Narration, and the Limited Worlds of Medieval Diagrams, in : Studies in Iconography 30 (2009) 1–41, zur Datierung auf S. 2. Konrad Kyeser widmete seinen 1405 vollendeten Bellifortis schließlich König Ruprecht (Göttingen, Niedersächsische Landesund Universitätsbibliothek, 4° Cod. Ms. philos. 63). Was die Illuminatoren des Königs anbelangt, so wurden diese während der Wiener Zeit vom Münzmeister und engen Freund König Wenzels IV., Konrad von Vechta, mit Aufträgen versorgt, s. seine Bibel der Jahre 1402 und 1403, für die er u. a. den Meister der Goldenen Bulle engagierte (Antwerpen, MPM, Ms 15/1-2). Auch Wenzel Králík von Buřenice wird in diesen Jahren als potentieller Mäzen der Illuminatoren Wenzels genannt, s. Jan Royt, Wenzel Králík von Buřenice als Mäzen, in : Kunst als Herrschaftsinstrument. Böhmen und das Heilige Römische Reich unter den Luxemburgern im Europäischen Kontext, hg. v. Jiří Fajt, Andrea Langer (Berlin–München 2009) 388–395. Interessanter Weise arbeitete einer seiner Hofilluminatoren, Nikolaus Kuthner, fortan in Schlesien (Breslau). Nur Hofilluminator Frana dürfte an seiner Seite geblieben sein, dem er 1414 ein Haus gegenüber seiner Prager Residenz schenkte, Jenni, Theisen, Mitteleuropäischen Schulen 4 (wie Anm. 2) 35–41. 51 Hirschvogel hätte es auch als »Salzamt« bezeichnen können, das seit 1504 in diesem Gebäude untergebracht war (s. auch Anm. 22). 52 Georg Christoph Wilder zeichnete es um 1820. Dazu gibt es drei Ansichten, die zuerst Christian von Mayr im Jahr 1818 und nach ihm Anton Stutzinger und Emil Hütter um 1850 angefertigt haben, vgl. Max Eisler, Das bürgerliche Wien 1770–1860. Historischer Atlas der Wiener Stadtansichten (Wien 1929) Taf. 65a. 53 »Noch sind keine zehn Jahre verstrichen, dass an der Stelle, wo heute die neue Ruprechtsstiege und die sie begrenzenden vier Häuser sich befinden, das sogenannte alte Pragerhaus oder das nachmalige Salzamtsgebäude sich erhob […]« – Curiositäten (wie Anm. 38) 258.
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1: Mainzer Kurfürst, Goldene Bulle (Wien, ÖNB, Cod. 338, f. 14r) / 2: Wenzel IV. als König des Reichs und König Böhmens, Wenzelsbibel (Wien, ÖNB, Cod. 2760, f. 75r) / 3: Der Komet des Jahres 1402 in der Luftsphäre, Astrologische Hand schrift (München, BSB, Clm 826, f. 1v) / 4: G. C. Wilder, Einblick in den Hof des Prager Hauses, um 1820 (Wien, ÖNB) / 5: A. Stutzin ger, Ansicht des Prager Hauses am Salzgries, um 1850 (Wien, ÖNB) /
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6: Die Donau um 1663, nach Pri ami (Grafik von: B. M. Buchmann, H. Krottendorfer) / 7: Gasse in 1020 Wien, Im Werd / 8: Prager Haus und Werd (»Berd«) auf dem Hirschvogel-Plan Wiens, 1547 (WikiCommons) / 9: Roter Turm, Donau und Schlagbrücke auf dem Meldemann-Plan Wiens, 1530 (WikiCommons).
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V I. KR ANKHEIT UND TOD DER MÄCHTIGEN
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he hadde de podagere an den voten Karl IV. und die Gicht
Furchtbar den Menschen, und dem Ohre schon verhaßt, Heiß’ ich die Fußgicht, schrecklich Weh den Sterblichen. Lukian Okypus2
An einem Dienstag im Juni 1377 standen in Magdeburg an der Elbe vor dem Krökentor, einem ehemaligen Durchlass in der Stadtbefestigung am nördlichen Ende des Breiten Weges, umgeben von viel Volk die Bürger, Ratsmänner und Schöffen der Stadt in ihren besten Kleidern sowie mit Fahnen und Kreuzen, um den Imperator Romanorum, Kaiser Karl IV., festlich zu empfangen. Der mittlerweile 61-jährige Herrscher kam von seiner stromab gelegenen Burg Tangermünde, seiner Residenz im Brandenburgischen. Er hatte mit seinem kleinen Gefolge schon Insleben erreicht, ein dann im 15. Jahrhundert aufgegebenes Dorf auf dem Gebiet der späteren Neustadt, als ihn die Bürger ehrerbietig entgegentraten und in die Stadt geleiteten. Nach dem Einzug stieg der Kaiser ab und küsste das vom Abt des Klosters Berge und dem Probst des Klosters Unser Lieben Frauen präsentierte Heiltum, wahrscheinlich wohl Reliquien des in Magdeburg besonders verehrten Mauritius und anderer Heiliger. Dann saß der Kaiser wieder auf und ritt entlang des vom gaffenden Volk gefüllten Weges zum Dom am anderen Ende der Stadt, wo ihn der Erzbischof mit den Domherren durch das Turmportal unter Gesang des Te deum und Orgelklang in das Innere seiner Kirche führte. Später begab sich der Kaiser 1 Dieser kleine Beitrag für Karel Hruza speist sich aus unserem gemeinsamen Interesse an den Luxemburgern, die uns in den fast drei Jahrzehnten unserer Bekannt- und Freundschaft immer – und das auch beim Konsum von »16er Blech« im Verbund mit Michael Lindner und Martin Wihoda – reichlich Diskussionsstoff boten. Für die Klärung einiger die Gicht betreffender Spezialfragen danke ich herzlich dem Arzt Dr. Ulf Schlichting (Rügen) und Prof. Dr. Libor Jan (Brünn). Abkürzungen : RI 8 = J. F. Böhmer, Regesta Imperii 8. Die Regesten des Kaiserreichs unter Kaiser Karl IV. Aus dem Nachlasse Johann Friedrich Böhmer’s hg. und ergänzt von Alfons Huber (Innsbruck 1877) ; Ergänzungsheft (Innsbruck 1889). 2 Lukian, Okypus, übersetzt von K. F. Hermann (Göttingen 1852), zitiert nach Dieter Paul Mertz, Geschichte der Gicht. Kultur- und medizinhistorische Betrachtungen (Stuttgart–New York 1990) 90.
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zum Moshus genannten erzbischöflichen Palast, der ihn beherbergen sollte. So beginnt die Magdeburger Schöppenchronik, ein von mehreren Schreibern in Niederdeutsch verfasstes Werk, das ursprünglich der Amtsführung der Rechts- und Ratsvertreter der Stadt dienen sollte – daher der Name –, den Bericht vom knapp dreitägigen Besuch des Kaisers in der Elbmetropole3. Die Bürger, so führt die Chronik dann weiter aus, machten dem Kaiser und ihrem Erzbischof Peter Gelyto wertvolle Geschenke. Die Magdeburger Oberen wollten sich den großen Herren offenbar von ihrer besten Seite zeigen und besonders gewogen machen. Erst wenige Tage zuvor musste Karl nämlich noch in Tangermünde einen Vertrag zwischen dem ursprünglich aus Böhmen stammenden Erzbischof Peter und den Bürgern der Altstadt vermitteln und bekräftigen, da sich der Oberhirte aus eigenen machtpolitischen Ambitionen in einen stetigen Zwist zu seiner Stadt und seinem Domkapitel manövriert hatte. Zum Erzbischof von Magdeburg ist Peter Gelyto erst 1371, nachdem er zuvor schon Bischof von Chur und dann Leitomischl gewesen war, auf Betreiben des Kaisers und nach heftigem Widerstand im Domkapitel erhoben worden4. Am nächsten Tag des Kaiserbesuchs, dem Mittwoch, kam Karl, der in einem Wagen gefahren wurde, zum alten Markt. Dort blieb er vor dem Rathaus stehen, in welchem die Stadtoberen den Herrscher natürlich gern als ein Zeichen seiner Wertschätzung des Magdeburger Bürgertums empfangen hätten. Doch der Kaiser wollte den Wagen, wie es ausdrücklich heißt, nicht verlassen, denn he clagede dat om de bene we deden – »er klagte, dass ihm die Beine weh täten« – wie die Schöppenchronik wörtlich in Niederdeutsch meldet. Der Grund : he hadde de podagere an den voten – »er hatte die Gicht an den Füßen«5. Eine akute Gichtattacke hatte den Herrscher offenbar in der Nacht ereilt und verhindert, dass die Stadtoberen den Kaiser in ihre Repräsentationsräume bitten und dort weiter in ihrem Sinne auf ihn einwirken konnten. Was aber tun, wenn der Kaiser Fußschmerzen hat ? Die Schöppenchronik berichtet weiter : se schenkenden om win – »sie schenkten ihm Wein ein«. Mit heutigem Wissen muss der Trunk vom Allheilmittel allerdings wenig geholfen, um nicht zu sagen, sogar erheblich geschadet haben, denn Alkohol befördert in starkem Maße die Gicht sogar noch. Aber als zweite Maßnahme wird gemeldet : men gaf om electuarium ut der ab beteken – »man gab ihm electuarium aus der Apotheke«. Das mittellateinische Wort electuarium, das oft auch als »Latwerge«, wörtlich also als das »Aufzuleckende« in 3 Die Magdeburger Schöppenchronik, hg. v. Karl Janicke (Die Chroniken der niedersächsischen Städte, Magdeburg 1, Leipzig 1869) 272f. 4 RI 8, Nr. 5780 ; zu Erzbischof Peter Gelyto vgl. Karel Hruza, Art. Peter von Brünn, in : Neue Deutsche Biographie 20 (2001) 221f., online-Version s. URL : https://www.deutsche-biographie.de/ pnd13874999X.html#ndbcontent [letzter Zugriff : 11.12.2020]. 5 Magdeburger Schöppenchronik, hg. Janicke (wie Anm. 3) 273.
he hadde de podagere an den voten
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deutschen Texten auftaucht, bezeichnet eine musartige Arzneimischung aus eingedickten Pflanzensäften und Honig. Diese electuaria waren eine im Mittelalter beliebte Art der Medizingabe, die wohl in ihrer Konsistenz mit heutiger Lakritze oder weichen Lutschbonbons vergleichbar sind6. Bei der Gicht, der sogenannten Arthritis urica, die Karl in Magdeburg attackiert hatte, handelt es sich um die komplexen Auswirkungen einer Purin-Stoffwechselkrankheit, die bei Medizinern als Hyperurikämie bezeichnet wird. In den meisten Fällen tritt durch eine erblich bedingte Schwäche der Nieren, Harnsäure ausreichend auszuscheiden, eine Erhöhung des Harnsäurespiegels im Blut auf. Verantwortlich dafür sind Defekte in jenen Genvarianten, die in der medizinischen Fachterminologie mit so lyrischen Namen wie SLC2A9, SLC22A12 oder ABCh2 bedacht wurden und in denen die Struktur der Transportproteine codiert sind. Die Minderung des Harnsäuretransports sowie die sehr begrenzte Löslichkeit der Harnsäure und ihrer Salze in den biologischen Flüssigkeiten des Menschen führen deshalb zum Ausfällen von Mono-Natriumkristallen, dem sogenannten Natriumurat. Und diese sehr scharfkantigen Kristalle lagern sich an bestimmten Gelenken an und verursachen dort an Knochen und Knorpeln sowie überhaupt im Zellgewebe schwere Schäden. Bei den plötzlich und in Schüben auftretenden Gichtattacken kommt es daher zu entzündlichen Reaktionen, Schwellungen und einer enormen Berührungsempfindlichkeit. Da in den meisten Fällen das Großzehengrundgelenk betroffen ist, wird das Stehen zu einer unaushaltbaren Qual. Nach wenigen Tagen ist der Anfall auch ohne Behandlung überstanden, weil die Harnsäurekonzentration wieder abnimmt ; vorausgesetzt, der Patient gibt ihr Gelegenheit dazu. Über lange Zeiträume führen diese Kristallablagerungen allerdings zu Bewegungseinschränkungen der Gelenke, zu Bildung von Knochenwucherungen, den Gichttophi, als den charakteristischen Gichtknoten, sowie im harnableitenden System und den Nieren zu so starken Schädigungen, die bis zum Tod führen können. Bis heute sind zu 95 % der Gichtleidenden Männer, denn durch die Wirkung von Östrogenen geschützt tritt die Gicht bei Frauen bis zur Menopause praktisch nicht auf7. Im Mittelalter wurde unter der Gicht, die zu den ältesten Krankheiten der Menschheitsgeschichte gehört, allerdings noch mehr verstanden, als die moderne Medizin 6 Ebd.; vgl. zum electuarium Lemma electarium, Mittellateinisches Wörterbuch 3 (2007) Sp. 1163 ; zu Latwerge, Deutsches Wörterbuch (Grimm) 6 (1885) Sp. 281f. 7 Vgl. Gicht, in : MSD-Manual der Diagnostik und Therapie (The Merck manual of diagnosis and therapy), deutsche Bearbeitung von Karl Wiemann (München–Wien–Baltimore 41988) 87–91 ; Eberhard Windler, Heiner Greten, Hyperurikämie und Gicht, in : Innere Medizin. Verstehen – Lernen – Anwenden, hg. v. Gotthard Schettler, Heiner Greten 1 (Stuttgart–New York 92000) 695–702 ; Mertz, Geschichte der Gicht (wie Anm. 2) 1–13.
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heute im engeren Sinne präzise zu klassifizieren vermag. Jegliche Art von plötzlichen Lähmungen und rheumatischen Erkrankungen der Gelenke oder Krampfanfällen bis hin zur Epilepsie konnte als Gicht gedeutet werden. Die Attacke am Großzehengrundgelenk, mithin an den Füßen, wurde seit der Antike mit dem aus dem Griechischen abgeleiteten und im Lateinischen weiterverwendeten Begriff »Podagra« bezeichnet, die in den Handgelenken durch die Gicht auftretenden Beschwerden hingegen als »Chiragra«. Das Wort »Podagra« ist in dieser Form auch ins Mittelhochdeutsche übernommen worden. Der Begriff »Gicht« oder »Vergicht«, niederdeutsch »Jicht«, hingegen bedeutete ursprünglich zudem »Besprechung« oder »Verhexung«. Die Gichtattacke ist also über lange Zeit auch im Sinne einer angezauberten Krankheit, als ein Ineinandergreifen von Krankheit und Magie gesehen worden, was bei der Plötzlichkeit eines Gichtanfalls – ähnlich wie beim »Hexenschuss« – ja auch nicht so abwegig erscheint. Seit dem Spätmittelalter wurde das Podagra dann auch noch mit den Begriffen »Zipperlein« oder auch »Zipperfusz« bezeichnet8. Obwohl die Hyperurikämie in den meisten Fällen durch eine genetisch bedingte Ausscheidefehlfunktion der Nieren ausgelöst wird, kann sie dennoch durch die Ernährungsgewohnheiten enorm beeinflusst werden. Die Quelle der Harnsäure stellen nämlich, wie in modernen Ernährungsberatern nachzulesen ist, die Purine dar, die einerseits beim Abbau der körpereigenen Zellen anfallen, oder – und das ist die Tragik des Carnivoren – aus zellreichen Nahrungsmitteln stammen, wie etwa Haut und Schwarte von Fisch, Geflügel oder großen Haus- und Wildtieren, deren Innereien und Muskelfleisch, aber auch Sardinen oder Hefe. Doch auch der Vegetarier ist nicht auf der sicheren Seite, denn Sojaeiweiß oder Hülsenfrüchte wie Bohnen, Linsen, Erbsen und einige Kohlsorten wie Rosen-, Blumen- oder Grünkohl sowie Brokkoli enthalten reichlich Purine. Und Alkohol hat gleich eine mehrfach problematische Wirkung auf die Gicht. Zum einen vermindert Alkohol in den Nieren die Harnsäureausscheidung, in der Leber steigt stattdessen die Harnsäureproduktion an. Die Hefe im Bier enthält Purin und nach einem kräftigen Schluck steigt erfahrungsgemäß der Appetit auf einen üppig-herzhaften Braten. Reichhaltige Festschlemmereien können also die Gicht enorm befeuern. Aus diesen Gründen ist die Gicht auch schon früh als eine Krankheit der Wohlhabenden und Mächtigen angesehen worden, eine Krankheit der Könige gar, die zudem erst im Alter stärker auftritt. Im Umkehrschluss : Die ärmeren Schichten früherer Jahrhunderte 8 Vgl. Ulrike Strerath-Bolz, Kurt W. Alt, Gicht, in : Reallexikon der germanischen Altertumskunde 12 (1998) 71–76 ; Primus Lessiak, Gicht, in : Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 53 (1911) 101–182 ; Hans H. Lauer, Gicht, in : Lexikon des Mittelalters 4 (1989) Sp. 1442 ; Ernst Bargheer, Gicht, in : Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 3 (1930) Sp. 836–839 ; Gicht, in : Deutsches Wörterbuch (Grimm) 4.1.4 (1949) Sp. 7274–7293 ; Podagra, in : ebd. 7 (1889) Sp. 1966f.; Zipperfusz, in : ebd. 15 (1956) Sp. 1564 ; Zipperlein, in : ebd. 15 (1956) Sp. 1564–1569.
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haben durch die Mangelernährung ohne Fleisch gekoppelt mit einer geringen Lebenserwartung keine signifikanten Gichtleiden ausprägen können9. Gleich Karl IV. haben viele berühmte Herrscher oder Persönlichkeiten Europas an Gicht gelitten, wobei sich das bei späteren Leidensgefährten sicherer nachweisen lässt, als das bei Persönlichkeiten des Früh- oder Hochmittelalters möglich ist, da bei letzteren oft Skelettuntersuchungen fehlen oder mangels ausreichend überdauerter Knochenmenge unmöglich sind. Prominente Gichtleidende waren der französische König Ludwig XIV., Oliver Cromwell oder Albrecht von Wallenstein. In manchen Dynastien, wie etwa bei den Habsburgern, den Hohenzollern oder den englischen Königen des Spätmittelalters, wurde die Veranlagung zur Bildung und Ablage der Quälkristalle in den Gelenken über Generationen in direkter Erbfolge den jeweiligen Nachfolgern hinterlassen. Die preußischen Könige Friedrich Wilhelm I. und sein Sohn Friedrich II. oder der habsburgische Kaiser Karl V., der schon von seinem 30. Lebensjahr an von Gicht geplagt wurde und sein Sohn Philipp II., König von Spanien, geben prominente Beispiele solch einer direkten Vererbung des Podagraleidens ab. Doch bei den Habsburgern war schon deren Spitzenahn und Begründer der habsburgischen Königswürde, Rudolf von Habsburg, im Alter von der Gicht geplagt worden10. Kaiser Karl IV., der durch die Gichtattacke in Magdeburg offenbar unfähig war zu gehen, begab sich bald darauf zurück in das Moshus genannte erzbischöfliche Palais, wie die Schöppenchronik weiter überliefert. Doch schon am Morgen des nächsten Tages, dem Donnerstag, bestieg Karl ein Schiff und ließ sich elbabwärts nach Tangermünde zurückfahren, nicht ohne zuvor dem sicherlich enttäuschten Bürgermeistern beim Abschied für den ehrbaren Empfang gedankt zu haben11. Bei der politischen Verschlagenheit Karls wäre es natürlich auch möglich, dass er bei seinem Besuch in Magdeburg 1377 die Gichtattacke nur vorgeschoben hatte, um den durch sein Betreiben eingesetzten Erzbischof Peter Gelyto nicht zu verstimmen. Anlässlich einer Verhandlung mit den Magdeburger Bürgern im Jahr 1358 hatte der Kaiser schon einmal versucht, sich mit ei 9 Vgl. Harnsäure und Ernährung. Patientenratgeber (Berlin-Chemie AG, o. J.) 6–20 ; Claudia Gaster, Wohlstandskrankheit Gicht, in : UGB-Forum spezial Ernährungstherapie (2013) 24–27 ; allgemein auch Ernst Schubert, Essen und Trinken im Mittelalter (Darmstadt 2006) 104–109 ; Mertz, Geschichte der Gicht (wie Anm. 2) 51–102. 10 Vgl. Markwart Michler, Gicht, in : Enzyklopädie Medizingeschichte, hg. v. Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Berlin–New York 2005) 492f.; Mertz, Geschichte der Gicht (wie Anm. 2) 60–86 ; Dieter Paul Mertz, Die Habsburger und die Gicht, in : Zeitschrift für Allgemeinmedizin 68 (1992) 959–962 ; Rudolf J. Meyer, Königs- und Kaiserbegräbnisse im Spätmittelalter. Von Rudolf von Habsburg bis zu Friedrich III. (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 19, Köln–Weimar–Wien 2000) 20 mit den Belegen in Anm. 11. 11 RI 8, Nr. 5785a.
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nem Trick aus der Affäre zu ziehen. Er behauptete, als eine Gesandtschaft unter Leitung des Magdeburger Schöffenschreibers und wohl auch Initiators der Chronik, Heinrich von Lammesspringe, ein delikates Problem mit dem Herzog von Sachsen-Wittenberg darzulegen versuchte, er verstünde sie einfach nicht. Doch als Heinrich dann spontan ins Lateinische wechselte, knurrte er, sie könnten wieder Deutsch sprechen, er verstünde sie schon12. Doch ob echt oder nur vorgeschoben, mit der Beschreibung der Umstände des Kaiserbesuchs in der Elbmetropole in der Magdeburger Schöppenchronik mag ein vielleicht anzweifelbarer Beleg vorliegen, dass Karl dort an der Gicht gelitten habe, aber er zeigt dennoch, dass man im Lande allgemein auch von seinen mittlerweile wohl häufig auftretenden Gichtanfällen wusste. Zu Karls sonstigen Gebrechen gesellten sich in der zweiten Lebenshälfte nun auch regelmäßig schwere Gichtattacken. Als er nach seinem zweiten Romzug Anfang Dezember 1368 die Ewige Stadt wieder verlassen wollte, konnte er kein Pferd besteigen und musste über eine Woche warten, »weil er an den Füßen leidet«, wie Niccolò de Cremaschi, der Geschäftsträger der Gonzaga an der Kurie, an den Markgrafen von Ferrara schrieb. Der Hofhistoriograph Benesch von Weitmühl berichtet in seiner Chronik von einem Zwischenfall am Weihnachtstag 1373, der ebenfalls direkt mit Karls fortschreitender Gichtanfälligkeit zu tun hatte : »In diesem Jahr feierte der Kaiser das Weihnachtsfest in Prag. Aber weil er an den Füßen litt, konnte er das Evangelium ›Und es ging ein Edikt‹ und so weiter, in kaiserlichem Ornat, wie es Sitte ist, nicht verlesen«. Karl konnte offenbar wegen seiner entzündeten und geschwollenen Füße nicht stehen, geschweige denn mit gezücktem Schwert Bibelstellen vorsingen13. Karls Gichtanfälle, die mit fortschreitendem Alter nun auch chronisch wurden, führten zu einer enormen Einschränkung der Beweglichkeit des Kaisers. Um sich überhaupt fortbewegen zu können, wurde der Imperator öfter in Wagen gefahren oder in Sänften getragen. Als er Anfang Januar 1378 bei seinem Aufenthalt in Paris von tagelangen Podagra-Attacken heimgesucht wurde, stellte ihm der französische König für die dortigen Wege eine bequeme Sänfte zur Verfügung. Als Karl sich am Dreikönigstag in die Saint Chapelle zur Verehrung der dort bewahrten Reliquien begeben wollte, musste der 12 Magdeburger Schöppenchronik, hg. Janicke (wie Anm. 3) 228. 13 Zu 1368 vgl. Gustav Pirchan, Italien und Kaiser Karl IV. in der Zeit seiner zweiten Romfahrt 1–2 (Prag 1930) hier 1, 336, bes. Anm. 57 mit dem Zitat aus dem Brief an den Markgrafen von Ferrara : quia passus est in pedibus ; ebenso Ellen Widder, Itinerar und Politik. Studien zur Reiseherrschaft Karls IV. südlich der Alpen (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 10, Köln–Weimar–Wien 1993) 326 und 329 ; zum Gichtanfall von 1373 vgl. Cronica ecclesiae Pragensis Benessii Krabice de Weitmile, hg. v. Josef Emler, in : Fontes rerum Bohemicarum 4, hg. v. dems. (Praha 1884) 457–548, hier 548 : Ipso anno dominus imperator celebravit festum Nativitatis Domini in Praga, sed quia in pedibus paciebatur, evangelium : Exiit edictum etc. in apparatu imperiali, ut moris est, ipso die legere non potuit ; ferner RI 8, Nr. 5324a.
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bewegungsunfähige Kaiser, wie aus den Grandes Chroniques de France hervorgeht, buchstäblich an Händen und Füßen zu den Heiltümern hinauf- und wieder hinabgezogen werden. Und bei der später zelebrierten Messe ließ er sich entschuldigen, dass er weder knien noch irgendeinen Gegenstand halten könne14. Bei der Untersuchung der Gebeine Karls IV. Anfang der 1980er Jahre konnte der tschechische Anthropologe Emanuel Vlček belegen, dass der Kaiser in der zweiten Lebenshälfte so stark an chronischer Gicht gelitten hat, dass arthrotische Gelenkveränderungen eintraten. So ließen sich an dem Skelett im Bereich der Handwurzel- und Fußwurzelknochen am Rand der Gelenkflächen Knochenneubildungen, die sogenannten Osteophyten, nachweisen, die ganz typisch durch Gicht verursacht werden. Allerdings hatte sein Vater, dessen Skelett von Emanuel Vlček auch untersucht werden konnte, keine nachweisbare Gicht. Das ist umso erstaunlicher, da Gicht, wie schon erwähnt, in direkter Folge vererbt wird, und Karl bei der Schwere der Symptome eine genetische Veranlagung gehabt haben muss. Da sich Gicht am Skelett des Vaters aber nicht nachweisen ließ, und auch bei Mitgliedern der Přemysliden bislang keine Belege für Gicht bekannt sind, muss die genetische Disposition über andere Linien der familiären Herkunft auf Karl gekommen sein. Denkbar wäre etwa, dass über Karls Großmutter mütterlicherseits Guta ( Jutta) von Habsburg, Tochter König Rudolfs von Habsburg, die genetische Disposition zur Hyperurikämie weitervererbt wurde. Bei der Weitläufigkeit der hochadligen Verbindungen des Mittelalters und dem Fehlen belastbarer DNA-Daten können das allerdings nur Vermutungen bleiben15. Karls Podagraanfälle wurden aber neben einer genetischen Disposition zur Hyperurikämie und der daraus resultierenden Gicht durch einen strukturellen Umstand begünstigt, oder präziser, der Kaiser war durch Vorfahren und Amt doppelt in der Gicht gefangen und konnte ihr nicht entkommen. Als Herrscher blieb Karl nämlich dem im Mittelalter geltenden Normengefüge verpflichtet, das üppige Festlichkeit und Herrschaftsrepräsentation zusammenband und das eine Demonstration von Überfluss auf 14 Chronique des règnes de Jean II et de Charles V, hg. v. Roland Delachenal 1–4 (Paris 1910–1920), hier 2, 232–236 ; vgl. dazu auch František Šmahel, Cesta Karla IV. do Francie. 1377–1378 [Die Reise Karl IV. nach Frankreich 1377–1378] (Praha 2006) 155–195, bes. 173f.; Martin Bauch, Divina favente clemencia. Auserwählung, Frömmigkeit und Heilsvermittlung in der Herrschaftspraxis Kaiser Karls IV. (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 36, Köln–Weimar–Wien 2014) 1 ; Pierre Monnet, Charles IV. Un empereur en Europe (Paris 2020) 97–111. 15 Vgl. Emanuel Vlček, Aussehen, gesundheitlicher Zustand und Todesursache Karls IV., in : Hémecht. Zeitschrift für Luxemburger Geschichte 32 (1980) 433–437, hier 437 ; ders., Johann von Luxemburg. Körperliche Eigenschaften des 10. Tschechischen Königs im Lichte der anthropologisch-medizinischen Untersuchung, in : Hémecht. Zeitschrift für Luxemburger Geschichte 33 (1981) 21–56, hier 32 ; für die Přemysliden hat nach freundlicher Auskunft Libor Jan eine Gichtdisposition ausgeschlossen.
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den Schmausetafeln als notwendige Zeichen der Macht ausdeutete. Die auf pompöse Außenwirkung zielenden Festmähler, die bei wichtigen höfischen Anlässen veranstalteten Prassereien, durften wegen ihrer Repräsentationsfunktion keine Zurückhaltung kennen. Die Menge der bei solchen höfischen Gelegenheiten verspeisten Ochsen und Schweine, Lämmer und Spanferkel oder Fässer genossenen Weines bildete im Grunde ein beliebtes Vergleichsmaß, das sonst nur die Anzahl unterworfener Feinde und prächtiger Paläste oder der Weite des beherrschten Landes liefern konnte. Und es drängt sich bei Karl IV. der Verdacht auf, dass jedes Mal nach einem mit ausgiebigen Schmausereien umflochtenen Empfang offizieller Art, ob in Rom, Prag, Magdeburg oder Paris, der Kaiser kurz darauf von einer Gichtattacke von den Füßen gerissen wurde16. Auch Karls alltäglicher Weinkonsum dürfte die Gicht befördert haben. Dass der Kaiser guten Wein sehr liebte und wohl auch in größeren Mengen konsumierte, lässt sich aus einigen seiner Briefe erschließen. So ließ er etwa auf dem Feldzug 1368 in Oberitalien aus einem Militärlager nahe der Festung Villafranca wegen einer Weinlieferung an die mit ihm verbündeten Gonzaga schreiben. Zunächst forderte der Kaiser am 22. Juni 1368 den Edlen Ludovico II. von Gonzaga auf, er möge ihm durch seinen Mundschenken »ein Fass und einige Flaschen guten Weines für seine eigene Person« senden. Ludovico schickte dem Kaiser das Verlangte, war aber wohl etwas nachlässig bei der Sortenwahl oder vertraute auf mangelnde Sommelierkenntnisse des Boten und des Belieferten. Zwei Tage später meldete sich Karl jedenfalls brieflich noch einmal bei Ludovico und forderte, er möge ihm durch seinen Mundschenken eine Gespannwagenladung eines guten Weines schicken, der seinen Charakter und seine Farbe auch behält, denn der kürzlich gelieferte Wein habe genau das nicht getan. Sechs Jahre später, am 10. April 1374, ließ der Kaiser aus dem altmärkischen Stendal den Bürgern zu Straßburg im Elsass schreiben, dass er in ihrer Stadt 40 Fuder Elsässer Wein liegen habe, die zu unserr notdurfft, also zu seinem eigenen Gebrauch, gekauft worden seien. Sein Diener namens Wicker, Vorweiser dieses Briefs, habe nun den Auftrag, den Wein den Rhein abwärts bis Dordrecht und von dort über die See elbaufwärts in die Mark Brandenburg zu transportieren. Deswegen befielt ihnen der Kaiser, dass deren Amtleute den Wein – immerhin so um die 36.000 Liter – zollfrei und ohne Hindernis durchlassen sollen. Auch wenn mit dieser Menge Weines sicher der ganze Hof versorgt werden sollte, so ist von Karl doch sicher auch ein gehöriger Teil selbst getrunken worden17. 16 Vgl. Schubert, Essen und Trinken (wie Anm. 9) 273–280 ; Gerhard Fouquet, Harm von Seggern, Gabriel Zeilinger, Höfische Feste im Spätmittelalter. Eine Einleitung, in : Höfische Feste im Spätmittelalter, hg. v. dens. (Mitteilungen der Residenzen-Kommission. Sonderheft 6, Kiel 2003) 9–18, ferner die Beiträge in Mahl und Repräsentation. Der Kult ums Essen. Beiträge des internationalen Symposions in Salzburg 29. April bis 1. Mai 1999, hg. v. Lothar Kolmer, Christian Rohr (Paderborn 2000). 17 Vgl. RI 8, Nr. 4663 und 4664 ; Briefe im Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, b 428 E II.2,
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Das eben auch durch den reichlichen Alkoholgenuss enorm begünstigte Podagra erlangte wohl wegen der großen Anzahl der Gebildeten unter den Geplagten seit der Antike eine enorme literarische Popularität. Griechische und römische Autoren wie Poseidonios von Apameia oder Galenos von Pergamon, Vergil oder Ovid, Seneca oder Lukian, später auch viele Humanisten wie Willibald Pirckheimer oder Hans Sachs, sie alle haben in ihrem jeweiligen Schaffen die Gicht verdammt oder ihr als Läuterungsmittel gehuldigt. Auch Francesco Petrarca hat sich über drei Jahrzehnte in seinen Briefen zum Podagra geäußert, allerdings nicht direkt gegenüber Karl IV., mit dem er zwar auch reichlich Briefe wechselte, von dem er aber vielleicht gar nicht wusste, dass sie beide Leidensgenossen waren. In einem Brief von 1360 an den Erzbischof Guido von Genua spricht Petrarca an, wie er und sein Briefpartner zwar unter der Gicht litten, durch angewandte Geduld und Gleichmut aber von den Martern nicht nur nicht besiegt, sondern sogar geistig erhöht werden würden. Viele Jahre zuvor hatte er in einem Brief an den Dominikaner Giovanni Colonna di San Vito die Gicht gar als Korrektiv zu früherer Maßlosigkeit bezeichnet : »Wie der Zügel für das ungezähmte Pferd vonnöten ist, so für dich die Gicht !«18 In dem Brief an den Erzbischof von Genua erwähnt Petrarca auch einen Traktat, der später zu einem seiner Hauptwerke gezählt werden wird : De remediis utriusque for tunae – »Von den Heilmitteln beiderlei Glücks«. In der Schrift, an der er von 1354 bis 1367 arbeitete, führen die personifizierte Vernunft und Schmerz Streitgespräche über die Eitelkeit vermeintlichen Glücks und die Tröstungen gegen vermeintliches Unglück. Auch über die Gicht wird darin von beiden debattiert : »Turpi torqueor podagra – durch den schändlichen Schmerz werd’ ich gequält« klagt der Schmerz. Die Vernunft aber weiß : »Das unstete Gemüt des Menschen bedarf des Zaums.« Und weil ja das Haupt nicht krank sei, so argumentiert Petrarcas Vernunft weiter, könne der Leidenden gerade dadurch die flüchtige Welt verachten und sich an Gerechtigkeit und Glauben halten, denn schließlich sei er zu weit Höherem und zu großen Ämtern geboren19.
Nr. 76 : … vas boni vini et aliquas lagenas pro nostra persona… und Nr. 77 : …currum oneratum vino bono et persistente colore pro persona nostra velis destinare, nam prius vinum nobis nuper per te transmissum in suo statu et colore non permansit ; Brief an Straßburg RI 8, Nr. 5345, Druck : Urkundenbuch der Stadt Straßburg 5, hg. v. Hans Witte, Georg Wolfram (Straßburg 1896) Nr. 1115. 18 Petrarca, Fam. 6,3 und Fam. 23,12 ; deutsche Übersetzung : Francesco Petrarca, Familiaria. Bücher der Vertraulichkeiten, hg. v. Berthe Widmer 1, Buch 1–12 (Berlin–New York 2005) ; 2, Buch 13–24 (Berlin– New York 2009), hier 1, 310–327 und 2, 609–619 ; vgl. dazu auch Mertz, Geschichte der Gicht (wie Anm. 2) 87–90, Zitat Petrarca Fam. 6.3, 88. 19 Francisci Petrarchae de remediis utriusque fortuna libri due (o.O [Bern] 1614) Dialog 84, 581–584, hier 581f.: Turpi torqueor podagra […] Vaga mens hominis freno eget […] ad alia, si nescis, altiora quaedam official natus es […] dare operam pietati, servare iustitiam et fidem.
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Im Jahr 1522, ein Jahrzehnt bevor Petrarcas Werk Artzney bayder Glück auch auf Deutsch erschien, publizierte der Humanist Willibald Pirckheimer seine kleine Schrift Apologia seu podagrae laus – »Verteidigung oder des Podagra Lob«, in der er im deutlichen Rückgriff auf antike literarische Vorbilder der Gattung des ironischen Enkomions eine gerichtliche Verteidigungsrede entwirft. Das Überraschende : Die personifizierte Gicht tritt darin nun selbst auf und erklärt, wie sie ihren »Anhängern« durch einen zwar sehr schmerzhaften, aber zugleich heilsamen Erkenntnisprozess zu höheren Einsichten verhelfen würde, ein Gedanke, den auch Petrarca schon angedeutet hatte : »Denn während ich den Körper schwäche, heile ich den Geist, während ich das Fleisch kreuzige, stärke ich die Seele, während ich das Irdische austreibe, führe ich das Himmlische ein, während ich das Vergängliche wegnehme, bringe ich das Ewige.« Kaiser Karl IV. hätten all diese Argumente bestimmt gefallen. Nur hätte er sie nicht ironisch aufgenommen, sondern seinen eigenen »Zipperfuß« als einen weiteren Beleg für jene Prüfung des Herrn verstanden, der er sich durch noch intensivere Verehrung Gottes zu stellen habe20.
20 Pirckheimer, Apologia – Deutsche Übersetzung : Vertheidigung oder Lob des Podagra, hg. v. Moritz Maximilian Mayer (München o. J. [ca. 1884]) 33 ; vgl. dazu Ulrich Winter, Willibald Pirckheimer, Apologia seu Podagrae laus. Ein Kommentar (Heidelberg 2002).
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Der Tod der Königin Johanna von Bayern (1386) Prolegomena zur Erforschung einer neu entdeckten italienischen Quelle
Am letzten Tag des Jahres 1386 starb die römisch-deutsche und böhmische Königin Johanna, die erste Gemahlin Wenzels IV1. Damit vollendete sich das Leben einer Frau und Herrscherin, die in der historischen Erinnerung keine bleibenden Spuren hinterlassen hat. Kontroversen ruft eigentlich nur ihre Todesursache hervor, über die die Zeitgenossen und nachfolgend auch die Historiker mehrere unsichere Hypothesen entwickelt haben. Gerade diesen Aspekt möchte die vorliegende Studie zu klären versuchen. Den Impuls für eine neuerliche Hinwendung zu dieser alten und interessanten, wenn auch keineswegs grundsätzlichen Frage lieferte der glückliche Fund einer bislang unbekannten Quelle italienischer Provenienz, die auf die gesamte Angelegenheit ein neues Licht wirft. Um jedoch nicht mit dem Ende beginnen zu wollen, richten wir zunächst die Aufmerksamkeit auf jene fragmentarischen Angaben, die über unsere Heldin bekannt sind. Die Biografie der Johanna von Bayern beschränkt sich in der historischen Literatur in der Regel auf wenige Glossen, in denen die Königin als typisches »Objekt« traditioneller dynastischer Politik erscheint2. Geboren wurde Johanna 1356 als Tochter Herzog Albrechts I. von Niederbayern-Straubing († 1404) aus der weitverzweigten Dynastie der Wittelsbacher, der zugleich die Familienbesitzungen in Holland verwaltete, und 1 Abkürzungen : ASPr = Archivio di Stato di Parma ; CIM = Codex iuris municipalis regni Bohemiae ; MVB = Monumenta Vaticana res gestas Bohemicas illustrantia ; RBMV = Regesta Bohemiae et Moraviae aetatis Venceslai IV. 2 Zum Folgenden vgl. František Michálek Bartoš, České dějiny II/6. Čechy v době Husově (1378–1415) [Böhmische Geschichte II/6. Böhmen in der Zeit Hussens (1378–1419)] (Praha 1947) ad indicem ; Jiří Spěváček, Václav IV. 1361–1419. K předpokladům husitské revoluce [Wenzel IV. 1361–1419. Zu den Voraussetzungen der hussitischen Revolution] (Praha 1986) ad indicem ; František Kavka, Vláda Karla IV. za jeho císařství (1355–1378). Země České koruny, rodová, říšská a evropská politika 2 (1364– 1378) [Die Regierung Karls IV. während seines Kaisertums (1355–1378). Die Länder der Böhmischen Krone, Familien-, Reichs- und europäische Politik 2 (1364–1378)] (Praha 1993) ad indicem ; Rudolf Urbánek, Královny Johana a Žofie [Die Königinnen Johanna und Sophie], in : Královny, kněžny a velké ženy české [Königinnen, Fürstinnen und große tschechische Frauen], hg. v. Karel Stloukal (Praha 1941) 143–158, hier 143–145 ; Božena Kopičková, Královny Johana a Žofie [Die Königinnen Johanna und Sophie], in : Lucemburkové. Česká koruna uprostřed Evropy [Die Luxemburger. Die Böhmische Krone in der Mitte Europas], hg. v. František Šmahel, Lenka Bobková (Praha 2012) 758–762, hier 758–760.
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der schlesischen Fürstentochter Margaretha von Brieg († 1386)3. Die expansive Politik Karls IV. stieß auf den Widerstand der Wittelsbacher, der unter anderem durch eine Heirat zwischen dem erstgeborenen Sohn Wenzel und Johanna neutralisiert werden sollte. Der Abschluss der Heiratsverträge, die die materielle Absicherung der Braut festlegten, erfolgte im Jahre 1370, als die Jungvermählten das neunte respektive vierzehnte Lebensjahr erreicht hatten4. Angesichts der weitläufigen gegenseitigen Verwandtschaft musste ein päpstlicher Dispens eingeholt werden, den Urban V. auch erteilte5. Es handelte sich hierbei offenkundig um eine reine Formsache, da die Vermählung, die nach Auffassung der bisherigen Forschung am 29. September in Nürnberg stattfand, wohl noch vor der eigentlichen Aushändigung der Dispensurkunde (diese war erst neun Tage zuvor in Marseille ausgestellt worden) erfolgte. Nach der Vermählung wurde Johanna nach Prag gebracht, wo am 17. November 1370 in der St.-Veits-Kathedrale die Krönung zur böhmischen Königin stattfand. Dem zeitgenössischen Chronisten und offenkundigen Teilnehmer der Zeremonie, Benesch Krabice von Weitmühl († 1375), zufolge, verlief das gesamte Ereignis »in großer Feierlichkeit« (cum maxima solemnitate), an der auch Kaiser Karl IV. und der Thronfolger Wenzel teilnahmen, wobei der Prager Erzbischof Johann Očko von Wlaschim Johanna die Krone aufs Haupt setzte. Das anschließende glanzvolle Festmahl sollte sich über insgesamt acht Tage erstrecken6. Die junge Königin hielt sich auch weiterhin in Prag 3 Vgl. Theodor Straub, Bayern im Zeichen der Teilungen und der Teilherzogtümer (1347–1450), in : Handbuch der bayerischen Geschichte 2. Das alte Bayern. Der Territorialstaat vom Ausgang des 12. Jahrhunderts bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, hg. v. Max Spindler, Andreas Kraus (München 21988) 196–287, hier 217–222 ; Hans Rall, Albrecht I., Herzog von Bayern. Pfalzgraf bei Rhein, Graf von Hennegau, Holland, Seeland, Herr zu Friesland, in : Neue Deutsche Biographie 1 (Berlin 1953) 155f. 4 Ausführlich dazu Kavka, Vláda 2 (wie Anm. 2) 111, 113. Die häufig zitierte Monografie von Dieter Veldtrup, Zwischen Eherecht und Familienpolitik. Studien zu den dynastischen Heiratsprojekten Karls IV. (Studien zu den Luxemburgern und ihrer Zeit 2, Warendorf 1988), stand dem Autor leider nicht zur Verfügung. Die unvollständigen Regesten der Verträge in : Regesta Imperii VIII. Die Regesten des Kaiserreichs unter Kaiser Karl IV. 1346–1378, hg. v. Alfons Huber (Innsbruck 1877) Nr. 4858 ; Reichssachen Nr. 515 (Edition in : Rerum Boicarum scriptores nusquam antehac editi II, hg. v. Andreas Felix Oefele [Augustae Vindelicorum 1763] 193f.) ; Regesta Imperii VIII. Erstes Ergänzungsheft zu den Regesten des Kaiserreichs unter Kaiser Karl IV. 1346–1378, hg. v. Alfons Huber (Innsbruck 1889) Nr. 7306. 5 MVB III. Acta Urbani V. (1362–70), hg. v. [Bedřich Jenšovský] (Pragae 1944) Nr. 1213. 6 Chronicon Benesii de Weitmil, hg. v. Josef Emler, in : Fontes rerum Bohemicarum IV (Praha 1884) 457–548, hier 542. Zu den Krönungen böhmischer Königinnen am Beispiel der zweiten Gemahlin Wenzels IV. vgl. Václav Žůrek, Korunovace královny Žofie. Řád Karla IV. a jeho užití v praxi [Die Krönung der Königin Sophie. Der Ordo Karls IV. und seine Anwendung in der Praxis], in : Rituály, ceremonie a festivity ve střední Evropě 14. a 15. století [Rituale, Zeremonien und Festlichkeiten in Mitteleuropa im 14. und 15. Jahrhundert], hg. v. Martin Nodl, František Šmahel unter Mitarbeit von Krzysztof Kowalewski (Colloquia mediaevalia Pragensia 12, Praha 2009) 203–212.
Der Tod der Königin Johanna von Bayern (1386)
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auf, möglicherweise in der Obhut der Äbtissin von St. Georg7. Im Jahre 1376 begab sich Johanna mit ihrem Gemahl nach Aachen, wo Wenzel IV. der Tradition zufolge am 6. Juli zum römisch-deutschen König, Johanna zur römisch-deutschen Königin gekrönt wurde8. Über die nachfolgenden Aktivitäten der Königin Johanna in Böhmen lässt sich noch weniger sagen. Bekannt ist ihre Anwesenheit am eindrucksvoll geschilderten Begräbnis Karls IV. im Jahre 13789. Ihr Eintritt in das öffentliche Leben als herrschende Königin findet in den zeitgenössischen Quellen kaum eine Reflektion. Zu Beginn des Jahres 1380 hielt sie sich mit ihrem Gemahl im südböhmischen Pisek/Písek auf, wo sie von Kardinal Pileo di Prata († 1400) Ablässe zu Gunsten der Kirchen in Karlstein/Karlštejn und in Pisek erwarb10. Darüber hinaus weist alles darauf hin, dass sie ein ruhiges und keineswegs expressives Leben im Schatten ihres Gemahls führte, ohne dass sie sich um einen Einfluss auf politische Entscheidungen bemüht hätte. Die Königswürde verlangte, dass Johanna einen eigenen Hof unterhielt, der mit Blick auf Struktur und Zusammensetzung demjenigen ihres Gemahls ähnelte, jedoch eine zahlenmäßig kleinere Gruppe von Personen umfasste. Wir besitzen Zeugnisse über die Existenz eines Hofmeisters und einer Hofmeisterin, von Kammerdienern, Türwächtern, Küchen- und Kellermeistern, Mundschenken, Notaren sowie Kaplänen11. Die Königin 7 So vermutet Kopičková, Královny (wie Anm. 2) 759. 8 Die Ankunft der Königin Johanna bezeugen die Nachrichten über Geschenke und Ausgaben der Stadt in : Deutsche Reichstagsakten I. Deutsche Reichstagsakten unter König Wenzel, hg. v. Julius Weizsäcker (München 1867) Nr. 100, hier S. 169f., 174, 176. Mit Ausnahme der späteren Chronik Aeneae Silvii Historia Bohemica, hg. v. Dana Martínková, Alena Hadravová, Jiří Matl (Clavis monumentorum litterarum [Regnum Bohemiae] 4. Fontes rerum Regni Bohemiae I, Pragae 1998) 86, erwähnen die Quellen die Krönung Johannas selbst explizit nicht, dennoch kann hieran kein Zweifel bestehen. 9 Diese Tatsache findet bei den meisten Autoren Erwähnung, die sich dabei auf die Schilderung einer anonymen Augsburger Chronik aus dem 15. Jahrhundert stützen : Chronik von 1368 bis 1406 mit Fortsetzung bis 1447, hg. v. F[erdinand] Frensdorff, in : Die Chroniken der schwäbischen Städte. Augsburg I (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis in’s 16. Jahrhundert 4, Leipzig 1865) 21–125, hier 60, 62f. 10 Listiny děkanství karlštejnského z let 1322–1625 [Die Urkunden des Dekanats Karlstein aus den Jahren 1322–1625], hg. v. Josef Teige (Praha 1906) Nr. 16 ; vgl. Jaroslav Eršil, Jiří Pražák, Archiv pražské metropolitní kapituly I. Katalog listin a listů z doby předhusitské (–1419) [Das Archiv des Prager Metropolitankapitels I. Katalog der Urkunden und Briefe aus vorhussitischer Zeit (–1419)] (Praha 1956) Nr. 469 ; RBMV I/1. Fontes Archivi metropolitani capituli Pragensis, hg. v. Věra Jenšovská (Pragae 1967) Nr. 418. Kopičková, Královny (wie Anm. 2) 759, schlussfolgert unter Verweis auf August Sedláček, der die zitierte Stelle irrtümlicherweise ein Jahr zurückdatierte, Johanna habe die Jahre 1377–1381 in Pisek/ Písek verbracht, was freilich keine Zustimmung finden kann. 11 Die Zeugnisse sammelte Václav Vladivoj Tomek, Dějepis města Prahy 5 [Geschichte der Stadt Prag 5] (Praha 21905) 61f. Ergänzen lassen sich darüber hinaus der Notar Andreas und der Kaplan Friedrich von Kunžak, vgl. Ferdinand Tadra, Kanceláře a písaři v zemích českých za králů z rodu lucemburského Jana, Karla IV. a Václava IV. (1310–1420). Příspěvek k diplomatice české [Die Kanzleien und Notare
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konnte darüber hinaus ihr Leibgedinge nutzen, zu dem der Pfandbesitz der westböhmischen Städte Klattau/Klatovy, Taus/Domažlice und Mies/Stříbro sowie die Herrschaft Fraunberg/Hluboká nad Vltavou gehörte (die »traditionellen« Leibgedingestädte kontrollierte bis zu ihrem Tod die Kaiserin-Witwe Elisabeth von Pommern)12. Insgesamt gesehen konnte sich Johanna also auf beachtliche politisch-ökonomische Ressourcen stützen, dessen ungeachtet stand der Königin im ausgehenden 14. Jahrhundert jedoch nur ein relativ begrenzter Manövrierraum zur Verfügung. Man erwartete von der königlichen Gemahlin vor allem die Rolle als vorbildliche Ehefrau, Mutter und Organisatorin des gemeinsamen Haushalts, so dass eine Aussicht auf relative Eigenständigkeit erst der Witwenstand bot, den Johanna jedoch nicht erreichen sollte13. Das eheliche Zusammenleben mit dem cholerischen Wenzel verlief anscheinend nicht problemlos, doch weist nichts darauf hin, dass zwischen den Eheleuten Feindschaft geherrscht hätte. Im Gegenteil. Die Historiographie hat mit Recht die Legenden späterer Chronisten, denen zufolge Wenzel seiner Frau gegenüber Gewalt angewendet oder diese sogar unter Prostituierte geschickt haben soll, in das Reich der Phantasie verwiesen14. Diese farbenprächtigen Schilderungen lassen sich zweifellos der »schwarzen Legende« zuschreiben, die das Bild des unfähigen, faulen und grausamen Königs Wenzel negativ konnotierten (und auch weiterhin formen)15. Wenzel hätte seiner ersten in den böhmischen Ländern in der Regierungszeit der Luxemburger Johann, Karl IV. und Wenzel IV. (1310–1419)] (Rozpravy České akademie císaře Františka Josefa pro vědy, slovesnost a umění v Praze I/2, Praha 1892) 78 ; MVB IV. Acta Gregorii XI pontificis Romani. 1370–1378, hg. v. Karel Stloukal (Pragae 1949–1953) Nr. 224. 12 Božena Kopičková, Věnná města a jiné majetky českých královen ve 14. a 15. století [Die Leibgedingestädte und andere Besitzungen der böhmischen Königinnen im 14. und 15. Jahrhundert], in : Dana Dvořáčková-Malá, Jan Zelenka et al., Ženy a děti ve dvorské společnosti [Frauen und Kinder in der höfischen Gesellschaft] (Opera Instituti historici Pragae. Series A – Monographia 52, Praha 2015) 97–108, hier 101. Den lebenslangen Pfandbesitz von Klattau bezeugt ein Dokument in : Über Formelbücher, zunächst in Bezug auf böhmische Geschichte. Nebst Beilagen. Ein Quellenbeitrag zur Geschichte Böhmens und der Nachbarländer im XIII, XIV und XV Jahrhunderte II, hg. v. Franz Palacky (Prag 1847) Nr. 116 ; CIM II. Privilegia regalium civitatum provincialium annorum 1225–1419, hg. v. Jaromír Čelakovský (Praha 1895) Nr. 600. Den tatsächlichen Pfandbesitz der übrigen Städte belegen die Quellen nicht. 13 Allgemein zur Stellung der Königin im Mittelalter vgl. Amalie Fössel, Die Königin im mittelalterlichen Reich. Herrschaftsausübung, Herrschaftsrechte, Handlungsspielräume (Mittelalter-Forschungen 4, Stuttgart 2000) ; Dvořáčková-Malá, Zelenka et al., Ženy a děti (wie Anm. 12). 14 Urbánek, Královny (wie Anm. 2) 143f.; Kopičková, Královny (wie Anm. 2) 758–760 ; Dies., Česká královna Žofie. Ve znamení kalicha a kříže [Die böhmische Königin Sophie. Im Zeichen von Kelch und Kreuz] (Velké postavy českých dějin 26, Praha 2018) 64f., 71f. 15 Vgl. Petra Roscheck, König Wenzel IV. Opfer einer Schwarzen Legende und ihrer Strahlkraft, in : Regionen Europas – Europa der Regionen. Festschrift für Kurt-Ulrich Jäschke zum 65. Geburtstag, hg. v. Peter Thorau, Sabine Penth, Rüdiger Fuchs (Köln–Weimar–Wien 2003) 207–229 ; Petr Čornej, Tajemství českých kronik. Cesty ke kořenům husitské tradice [Geheimnisse böhmischer Chroniken. Wege
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Gemahlin sonst wohl kaum einen wichtigen Platz innerhalb des Bildschmucks prächtig illuminierter Handschriften vorbehalten, die er für seine Privatbibliothek anfertigen ließ16. Auch aus der weiteren Interpretation geht hervor, dass zwischen Wenzel und Johanna ein relativ harmonisches Verhältnis herrschte, soweit dies im Kontext politischer Hochzeiten eben möglich war. Tatsache ist aber auch, dass die Ehe kinderlos blieb. Mit nur 30 Jahren ereilte die Königin der Tod. Wo und wann dies genau geschah, wissen wir ziemlich sicher. Ein gut informierter anonymer Chronist vom Ende des 14. Jahrhunderts, von dessen Aufzeichnungen noch weiter unten die Rede sein wird, berichtet, Johanna sei »um die dritte Stunde in der Nacht auf das Fest der Beschneidung des Herrn« im Jahre 1387 gestorben (hora tercia noctis super Circumcisionem Domini). Aus dem gleichen Text geht hervor, dies sei auf der Burg Karlstein unweit von Prag geschehen17. Das Fest der Beschneidung des Herrn fällt dem liturgischen Kalender zufolge auf den ersten Januar ; der Tagesbeginn wurde jedoch im mittelalterlichen Böhmen für gewöhnlich vom Sonnenuntergang an gerechnet und die dritte Stunde entsprach in dieser Jahreszeit in etwa der siebenten Abendstunde18. Das neue Jahr begann dann am 25. Dezember. Wenn wir das oben Gesagte zusammenfassen, kommen wir zu der Schlussfolgerung, dass Königin Johanna am 31. Dezember 1386 gegen 19.00 Uhr verstarb. Das gleiche Datum (in vigilia Circumcisionis Domini) nennt auch die »offizielle« Inschrift, die sich noch im 19. Jahrhundert auf der Büste Johannas im Triforium zu St. Veit befand19. Der Widerspruch in der Diktion einiger anderer Quellen, die als Datum den zu den Quellen der hussitischen Tradition] (Praha–Litomyšl 22003) 67–115 ; Klara Hübner, Herrscher der Krise – die Krise des Herrschers. König Wenzel IV. als Projektionsfläche zeitgenössischer Propaganda, in : Bulletin der Polnischen Historischen Mission 11 (2016) 294–320 ; Karel Hruza, König Wenzel (1361–1419), der Ehre beraubt ? Eine kommentierte Skizze seines Lebens, in : MIR Texte 6 (2017), online s. URL : https://www.oeaw.ac.at/fileadmin/Institute/imafo/pdf/forschung/MIR/timelab/MIR_Text_ 6.pdf [letzter Zugriff : 02.01.2021] ; Christian Oertel, Wenceslaus alter Nero. Die Darstellung Wenzels IV. in der Historiographie des späten 14. und 15. Jahrhunderts, in : Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 74/2 (2018) 673–702. 16 Bartoš, České dějiny II/6 (wie Anm. 2) 487–492 ; Kopičková, Královny (wie Anm. 2) 759f.; Dies., Česká královna (wie Anm. 14) 71f. Neuerdings zur Datierung der Handschriften Wenzels und zur Identifikation der Darstellungen der Königin vgl. Hana Hlaváčková, Knižní malba v době krále Václava IV. [Die Buchmalerei in der Zeit König Wenzels IV.], in : Římský a český král Václav IV. a počátky husitské revoluce [Der römische und böhmische König Wenzel IV. und die Anfänge der hussitischen Revolution], hg. v. Jiří Kuthan, Jakub Šenovský (Praha 2019) 131–153. 17 František Šmahel, Mezi středověkem a renesancí [Zwischen Mittelalter und Renaissance] (Praha 2002) Anhang I, hier S. 148. Eingehender zu dieser Quelle weiter unten. 18 Vgl. Marie Bláhová, Historická chronologie [Historische Chronologie] (Praha 2001) 294f., 499 (Taf. 9.19). 19 Eine Reproduktion der zeitgenössischen Inschrift präsentieren Antonín Podlaha, Kamil Hilbert, Metropolitní chrám sv. Víta v Praze [Die Metropolitankirche St. Veit in Prag] (Soupis památek historických a uměleckých [1], Praha 1906) Abb. 142 ; der Text der Inschrift schon bei Franz Martin Pelzel,
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31. Dezember oder Ersten Januar nennen, oder aber das Jahr 1386 oder 1387, lässt sich durchwegs gerade mit der abweichenden und nicht immer genauen Zeitmessung erklären20. Diese Fragen haben jedoch bereits ältere Forschergenerationen gelöst. Uns soll nachfolgend keineswegs weder »wann« oder »wo«, sondern die Frage »wie« interessieren. Gerade hinsichtlich der etwas rätselhaften Umstände von Johannas Tod entspann sich bereits im Mittelalter eine interessante Diskussion, die ihr Echo auch auf den Seiten der modernen Geschichtsschreibung fand. Fassen wir zunächst die bekannten Hypothesen zusammen, die sich in mehr als sechs Jahrhunderten um diese Frage angehäuft haben. Sofern wir die knappen Einträge in Annalen beiseite lassen, die in der Regel Johannas Tod nicht näher spezifizieren, steht an erster Stelle die Schilderung des bekannten Brabanter Reisenden und Chronisten Edmund de Dynter († 1448). Dieser hatte im Jahre 1412 als Diplomat den Hof Wenzels IV. besucht, wo ihm Klatschgeschichten mit Blick auf den bereits ein Vierteljahrhundert zurückliegenden Tod der ersten Gemahlin des Königs zugetragen wurden. Im Volk munkelte man, der Tod der Königin gehe auf das Konto von Wenzels großem Hund, der zu dessen Füßen geschlafen habe. Einer Version zufolge soll die Königin im Verlauf der Nacht von ihrem Bett aufgestanden sein, um auf den Nachttopf zu gehen, das Tier habe sie dabei am Hals gepackt und erwürgt. Einer anderen Schilderung zufolge, die Dynter ebenfalls festhielt, habe der wütende Hund die Königin gebissen, an den Folgen sei sie dann später gestorben21. Die Erdrosselung der sich zum Nachttopf tastenden Königin klingt schon deshalb unglaubwürdig, weil Johanna eigene Gemächer zur Verfügung standen und sie nicht
Lebensgeschichte des Römischen und Böhmischen Königs Wenceslaus 1 (Prag 1788) 183, Anm. 1. Vgl. dazu auch Dieter Veldtrup, Ein »luxemburgisches« Anniversarbuch ? Auszüge aus einer vergessenen Memorialüberlieferung des Prager Veits-Domes, in : Manipulus Florum. Aus Mittelalter, Landesgeschichte, Literatur und Historiographie. Festschrift für Peter Johanek zum 60. Geburtstag, hg. v. MariaTheresia Leuker, Mark Mersiowsky, Ellen Widder (Münster–New York–München–Berlin 2000) 99–150, hier 136, Nr. 179. 20 Theodor Lindner, Geschichte des deutschen Reiches unter König Wenzel 2 (Braunschweig 1880) Beilage III, hier S. 456. Gerade Lindner und vor ihm bereits Pelzel haben die meisten Quellen zu Johannas Tod zusammengetragen. 21 Chronique des ducs de Brabant, par Edmond de Dynter III, hg. v. Pierre François-Xavier de Ram (Bruxelles 1857) 75 : Dicitur eciam de eo, quod preter magnos et majores canes maximos permaxime habere desiderabat, et pro illis habendis ad diversas mundi regiones suos nuncios destinare solebat ; quorum inter eosdem maximum in cubili suo et lecto proprio de nocte ad pedes suos secum dormire sive jacere faciebat. Ac cidit quadam nocte, cum regina sua, que fuit filia Alberti ducis Bavarie et comitis Hannoniensis, Hollandie et Zelandie, mingendi causa de lecto regis surgere sive vasculum, in quo mingere consuevit, capere conabatur, prefatus maximus canis mox ipsam per guttur arripiens suffocavit. Alii dicunt, quod unus predictorum mag norum canum, qui furiam incurrebat, reginam momordit, a quo morsu ipsa moriebatur. Die Passage ist auch bei Bartoš, České dějiny II/6 (wie Anm. 2) 481, abgedruckt ; das Bild Wenzels IV. in Dynters Werk analysierte Spěváček, Václav IV. (wie Anm. 2) 597–599.
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im gleichen Bett wie der König schlief22. Wie darüber hinaus Wenzels Itinerar zeigt, verbrachte der König den schicksalhaften Silvestertag keineswegs auf dem Karlstein, sondern in Prag23. Wenn wir jedoch Details einmal außer Acht lassen, die zweifellos der im Volk verbreiteten Phantasie entsprangen, lässt sich der Kern der Ereignisse nicht gänzlich von der Hand weisen. Von Wenzels Vorlieben für große Hunde wusste ganz Europa. So erwähnt beispielsweise der Augustiner-Chorherr Andreas von Regensburg († 1442/1447) einen wilden Hund Wenzels, der Menschen auf der Grundlage königlicher Befehle angefallen haben soll24. Dass es sich nicht allein um vereinzelte spitze Bemerkungen mehrerer feindlich gesinnter Chronisten handelte, belegt eine Episode aus dem Jahre 1385, also kurz vor dem Ableben der Königin Johanna, als der Hofmeister Konrad II. Kraiger von Kraig durch einen Hund Wenzels ernsthafte Bisswunden davontrug. Die Wiener Annalen vom Anfang des 15. Jahrhunderts konstatieren nur lakonisch : Item des jars pais des kunigs hunnt von Pehem den Chreyër dacz Prag, das er chawm genas25. Schließlich riet ein italienischer Gesandter mit Namen Cristoforo de Valle im Jahre 1390 Francesco Gonzaga von Mantua, er möge dem König als Geschenk »einen großen und schönen Hund, wild gegen die Menschen, senden, da der Kaiser sich hieran sehr erfreue«26. In Wirklichkeit scheinen die Zeugnisse über Wenzels geradezu sadistische Vorliebe für tollwütige Hunde, die hier und dort Personen verletzten, derart groß gewesen zu sein, so dass man sie nicht gänzlich ad absurdum führen kann. Vielsagend ist zudem die erhebliche geographische Farbpalette der zitierten Autoren (Brabant, deut22 Auf diesen Widerspruch verwies als einziger Jaroslav Čechura, Zahubil královnu vzteklý pes ? [Tötete die Königin ein bisswütiger Hund ?], in : Tajemství české minulosti 48 (2016) 46–48, hier 48. Der Autor äußerte die Vermutung, Johanna könnte ihr eigener Hund getötet haben. 23 Vgl. Ivan Hlaváček, Das Urkunden- und Kanzleiwesen des böhmischen und römischen Königs Wenzel (IV.) 1376–1419. Ein Beitrag zur spätmittelalterlichen Diplomatik (Monumenta Germaniae Historica. Schriften 23, Stuttgart 1970) 412. 24 Chronica pontificum et imperatorum Romanorum, hg. v. Georg Leidinger, in : Andreas von Regensburg, Sämtliche Werke (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte NF 1, München 1903) 1–158, hier 111 : Hic namque habuit canem, qui mordendo invasit, quemcunque sibi demonstravit, nullo audente offendere canem illum, in quo plurimum delectabatur. Abgedruckt auch bei Bartoš, České dějiny II/6 (wie Anm. 2) 478. 25 Wiener Annalen von 1348–1404, hg. v. Joseph Seemüller, in : Monumenta Germaniae Historica. Scriptores. Deutsche Chroniken VI (Hannover–Leipzig 1909) 231–242, hier 233. Zu Kraiger vgl. Friedrich W. Leitner, Die Herren von Kraig. Eine genealogische Skizze zu den Erbtruchsessen in Kärnten, in : Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 46 (2000) 225–275, hier 239–246. 26 Ondřej Schmidt, Václav IV., Jošt a Prokop očima italského vyslance. K situaci v lucemburském rodě roku 1390 [Wenzel IV., Jost und Prokop, gesehen durch die Augen eines italienischen Gesandten. Zur Situation der luxemburgischen Dynastie im Jahr 1390], in : Časopis Matice moravské 137/1 (2018) 3–27, hier 26 : …unum canem magnum et pulcrum, ferocem contra personas, quia imperator maxime talium leta tur …
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sche und österreichische Länder, Italien). Auch aus diesem Grunde maß die ältere Historiographie der Hypothese von einem Biss ein großes Gewicht bei ; aktuell taucht diese Deutung jedoch vorwiegend in der populär ausgerichteten Publizistik auf27. Doch gehen wir weiter. Im Gegensatz zu den anekdotischen und verdächtig wirkenden Mären über Wenzels Hunde bemühte sich die positivistische Historiographie die Ursachen für Johannas Tod ein wenig rationaler zu deuten. Ende des 19. Jahrhunderts entstand die Hypothese, Johanna sei einer Pestepidemie zum Opfer gefallen28. Dieser Gedanken scheint auf den ersten Blick gar nicht unglaubwürdig. Wie bekannt, ereilte der »Schwarze Tod« Europa in der Mitte des 14. Jahrhunderts, als er die Bevölkerung im größten Teil des Kontinents dezimierte29. Weitere Wellen der Epidemie kehrten periodisch im gesamten Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit wieder. Die böhmischen Länder wurden anfänglich von der Pest im Großen Ganzen verschont, nach mehreren kleineren Epidemien brach die Pest erst im Jahre 1380 in vollem Umfang aus. Den Schätzungen von Experten der historischen Demographie zufolge mögen der Krankheit etwa zehn Prozent der Bevölkerung zum Opfer gefallen sein, wobei der Tod auch die obersten Schichten heimsuchte. Eine weitere Pestplage findet sich dann erst im Jahre 139030. Daher hat es den Anschein, dass der Schwarze Tod zur Jahreswende 1386/87 in 27 Explizit verteidigte diese Ansicht Pelzel, Lebensgeschichte 1 (wie Anm. 19) 183f.; vorsichtig stimmte dieser auch Franz Palacky, Geschichte von Böhmen III/1. Böhmen unter König Wenzel IV, bis zum Ausbruch des Hussitenkrieges. Vom Jahre 1378–1419 (Prag 1845) 32, zu, und nicht einmal Tomek, Dějepis města Prahy 3 [Geschichte der Stadt Prag 3] (Praha 21893) 337 ; Spěváček, Václav IV. (wie Anm. 2) 186, und Schmidt, Václav IV. (wie Anm. 26) 19, meldeten diesbezüglich Widerspruch an. Zuletzt anerkannten diese Möglichkeit in populärwissenschaftlichen Beiträgen Jaroslav Čechura, Milan Hlavačka, Eduard Maur, Ženy a milenky českých králů [Frauen und Geliebte der böhmischen Könige] (Praha 2000) 82 ; Čechura, Zahubil královnu vzteklý pes ? (wie Anm. 22) 47f. (hier mit der Präzisierung, Johannas Leben könnte ihr eigener, nicht jedoch Wenzels Hund auf dem Gewissen haben) ; Jan Bauer, Podivné konce českých panovnic [Die merkwürdigen Enden böhmischer Herrscherinnen] (Třebíč 2008) 166. Noch Hruza, König Wenzel (wie Anm. 15) 2, sprach von »von einem Hundebiss verursachten Tod« Johannas. 28 Als Erster äußerte diese nüchterne Hypothese Lindner, Geschichte 2 (wie Anm. 20) 174 ; Beilage III, hier S. 456. Der gleichen Interpretation schlossen sich an Bartoš, České dějiny II/6 (wie Anm. 2) 72 ; Urbánek, Královny (wie Anm. 2) 145 ; Veldtrup, Ein »luxemburgisches« Anniversarbuch (wie Anm. 19) 136, Nr. 179 ; Thomas Krzenck, Sophie von Wittelsbach – eine Böhmenkönigin im Spätmittelalter, in : Fürstinnen und Städterinnen. Frauen im Mittelalter, hg. v. Gerald Beyreuther, Barbara Pätzold, Erika Uitz (Freiburg–Basel–Wien 1993) 65–87, hier 67 ; Kopičková, Královny (wie Anm. 2) 760 ; Dies., Česká královna (wie Anm. 14) 65. 29 Allgemein zur Pest im 14. Jahrhundert vgl. Klaus Bergdolt, Der Schwarze Tod in Europa. Die Große Pest und das Ende des Mittelalters (München 42017). 30 Eduard Maur, Obyvatelstvo českých zemí ve středověku [Die Bevölkerung der böhmischen Länder im Mittelalter], in : Dějiny obyvatelstva českých zemí [Demographische Geschichte der böhmischen Länder] (Praha 1998) 35–73, hier 60–64 ; zur Pestepidemie des Jahres 1380 vgl. ders., Morová epidemie roku 1380 v Čechách [Die Pestepidemie des Jahres 1380 in Böhmen], in : Historická demografie 10
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Böhmen keineswegs wütete. Die genannten Umstände widerlegen zwar nicht notwendigerweise die Hypothese eines Pesttodes der Johanna von Bayern, dessen ungeachtet schwächen sie diese erheblich. Die verbleibenden Erklärungen für die Ursache des Todes Johannas stammen überwiegend aus der Feder von Renaissancegelehrten, die sprichwörtlich die Zügel der Phantasie loszulassen nicht zögerten. So vermochte beispielsweise dem deutschen Theologen Albert Krantz († 1517) zufolge, die Königin ihre Herabsetzung durch Wenzel nicht zu ertragen, der diese gezwungen habe, sich in einem Bordell feilzubieten, und deshalb lieber ihrem Leben durch einen Hungerstreik ein Ende setzte31. Der Olmützer Bischof und Humanist Johann Dubravius († 1553) wiederum schrieb das Ende dem Kummer zu, der Johanna nach dem Martyrium des Generalvikars Johann von Nepomuk ergriffen habe, wobei auch in diesem Konflikt das Motiv des Freudenhauses eine Rolle spielte32. Die erste Version (Selbstmord) muss wohl nicht einmal auf das rechte Maß gerückt werden, während die Unsinnigkeit der zweiten Behauptung schon aus der Tatsache selbst hervorgeht, dass der Vikar Johann erst im Jahre 1393 zu Tode kam. Diese sowie weitere Spekulationen über den Tod der Königin, die hier eher der Merkwürdigkeit halber angedeutet wurden, können wir relativ leicht als Produkt späterer Fabelerzählungen widerlegen. Wenn wir alles bisher Gesagte zusammenfassen, scheinen zwei Todesursachen am wahrscheinlichsten in Frage zu kommen – die Attacke durch Wenzels Hunde oder die (1986) 37–71 ; Martin Nodl, Morová epidemie na Rakovnicku v roce 1380. Modelová studie k životu farního kléru [Die Pestepidemie im Raum Rakonitz 1380. Eine Modellstudie zum Leben des Pfarrklerus], in : Facta probant homines. Sborník příspěvků k životnímu jubileu prof. Dr. Zdeňky Hledíkové, hg. v. Ivan Hlaváček, Jan Hrdina et al. (Praha 1998) 301–310. 31 Wandalia Alberti Krantz (Coloniae 1519) lib. IX, cap. 6 (ohne Paginierung) : …ferunt (quod dictu quoque nephas est) coniugem propriam, in lupanar iussisse prostitui : optimam vero foeminam flagicia mariti exe crantem cum se alias in libertatem vendicare non posset, inedia sibi finem fecisse vivendi. Wie bereits Lindner, Geschichte 2 (wie Anm. 20) Beilage III, hier S. 456, aufzeigte, taucht das Motiv des Freudenhauses, in dem Wenzel Johanna habe einschließen lassen, erstmals in Die Chronica Novella des Hermann Korner, hg. v. Jakob Schwalm (Göttingen 1895) 73, auf : Uxorem propriam ad lupanar publicum prostitutam ire coegit. Die Fabel von Krantz gibt auch Pelzel, Lebensgeschichte I (wie Anm. 19) 183 ; Urbánek, Královny (wie Anm. 2) 144, wieder. 32 [ Jan Dubravius], Historiae Regni Boiemiae, de rebvs memoria dignis, in illa gestis, ab initio Boiemorum, qui ex Illyria venientes, eandem Boiemiam, in medio propemodum superioris Germaniae sitam, occupauerunt. Libri XXXIII, ex fide tandem narrationeque historica scripti, absolutique, et in lucem iamprimum aediti, sat videlicet citô, si sat bene ([Prostějov] 1552) fol. CXLIIIIr : Mortua deinde Regina quoque, ex moesticia & dolore fuit, quem ex iniquissima Regis suspicione, cum maximo animi cruciatu to leravit. Partiell zitiert wird diese Nachricht auch bei Pelzel, Lebensgeschichte 1 (wie Anm. 19) 183, Anm. 2. Eine überraschende Nüchternheit wahrten in diesem Falle Aeneae Silvii Historia Bohemica (wie Anm. 8) 86 und Václav Hájek z Libočan, Kronika česká [Böhmische Chronik], hg. v. Jan Linka (Praha 2013) 830.
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Pest. Wie sich jedoch aufzeigen lässt, basiert keine dieser Ursachen in Wirklichkeit auf Tatsachen (der geneigte Leser wird vielleicht verzeihen, dass er bis zu dieser Stelle bewusst verwirrt wurde). Eine neue Sicht auf die letzten Augenblicke der Königin Johanna bietet eine bisher unberücksichtigte Quelle, die im Archivio di Stato di Parma entdeckt wurde. Unter der hier aufbewahrten Korrespondenz der Familie Farnese, die in Parma und Piacenza vom 16. bis zum 18. Jahrhundert herrschte, findet sich auch eine Serie Boemia, deren Bestandteil ein unerwarteter Korpus von Dokumenten aus dem Trecento bildet. Es handelt sich um die im Zusammenhang mit der Tätigkeit einer Mailänder Gesandtschaft, die in den Jahren 1386–1387 am Hofe Wenzels IV. agierte, entstandene Korrespondenz. Der lateinische Text ist in einer schwer beschädigten und unscheinbaren Pergamenthandschrift überliefert, bestehend aus sechs Lagen, die insgesamt 42 Folia zählt, von denen einige unbeschrieben sind. Der Beschreibstoff ist ein mitteleuropäisches Pergament, die Schrift wiederum eine klassische italienische cancellaresca vom Ende des 14. Jahrhunderts, so dass es sich allem Anschein nach um ein direkt in Böhmen von den Gesandten verfasstes Register respektive Kopialbuch handelt33. Die Handschrift enthält vornehmlich Depeschen der Gesandten an Giangaleazzo Visconti (1385–1402), den Auftraggeber der Gesandtschaft, doch finden wir hier auch seine Instruktionen sowie weitere im Zusammenhang mit der Tätigkeit der Diplomaten stehende Dokumente. Wenngleich die Handschrift an den meisten Stellen unwiederbringliche Beschädigungen aufweist und obere Rand teilweise abgerissen ist, was eine Rekonstruktion des ganzen Textes unmöglich macht, bietet diese Quelle eine ganze Reihe neuer Informationen mit Blick auf die Beziehungen zwischen Wenzel IV. und Visconti, die Verhältnisse am Prager Hof und die diplomatische Praxis des Spätmittelalters. Die Erarbeitung einer kritischen Edition und einer komplexen Analyse des Textes stellt eine Aufgabe dar, die in absehbarer Zeit den Autor dieser Zeilen erwartet. Aktuell soll uns jedoch lediglich eine Passage des von den Gesandten Beltrando Rossi aus Parma († 1396) und Corrado Cavalli aus Verona († nach 1406) verfassten Briefes interessieren, die Zeugen von Johannas Ableben wurden34. 33 ASPr, Carteggio farnesiano estero, Boemia, busta 4. Siehe die Abbildung eines Folium im Bildanhang. Zur Familie Farnese, ihrer Geschichte und Representation vgl. Helge Gamrath, Farnese. Pomp, Power and Politics in Renaissance Italy (Analecta Romana Instituti Danici. Supplementum 38, Rome 2007) ; die Beschreibung ihres Archivs in Maria Parente, Archivio di Stato di Parma, in : Guida generale degli Archivi di Stato italiani 3 (Roma 1986) 361–438, hier 371–385 ; zu den Reiseregistern sowie anderen Handschriften der italienischen Gesandten vgl. Francesco Senatore, »Uno mundo de carta«. Forme e strutture della diplomazia sforzesca (Mezzogiorno medievale e moderno 2, Napoli 1998) 128–138. 34 Rossi findet kurz Erwähnung bei Marco Gentile, Terra e poteri. Parma e il Parmense nel ducato visconteo all’inizio del Quattrocento (Storia Lombarda. Studi e Ricerche 7, Milano 2001) 63, 144, 164 ; zu Cavalli vgl. Luisa Miglio, Cavalli, Giorgio, in : Dizionario Biografico degli Italiani 22 (Roma 1979) 736–739 ; Hlaváček, Das Urkunden- und Kanzleiwesen (wie Anm. 23) 478.
Der Tod der Königin Johanna von Bayern (1386)
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Lassen wir nunmehr unsere beiden Berichterstatter sprechen, die am 3. Januar 1387 aus Prag ihrem Herrn nachfolgende Information zukommen ließen : »Am Ersten Januar verbreitete sich die Nachricht, dass die ehrwürdigste Herrin, die Herrin Königin, vormals Gemahlin des genannten Herren und römischen Königs, wie es Gott gefiel, am letzten Dezembertag verstorben ist. Und sie erlag einer Krankheit, an der sie bereits seit langem litt und die man hetica nennt, und wegen des Todes erfasste den König, wie wir vernehmen konnten, große Trauer. Der Körper der genannten Königin wurde heute nach Prag überführt, und es heißt, die Beisetzung solle am kommenden Sonnabend stattfinden. Wir wollten vom Herrn von Hohenlohe35 wissen, wie wir uns bei diesem Begräbnis verhalten sollen und dieser gab uns zur Antwort, er wisse bislang nicht, wie die Beisetzung verlaufen werde, doch sobald er dies in Erfahrung bringe, werde er uns mitteilen, wie wir im Einklang mit eurer Ehre auftreten sollen, und wir werden dergestalt, wie man es uns dies vorgibt, handeln«36. Aus dem zitierten Text, der wiederum die Richtigkeit des oben genannten Datums von Johannas Tod bestätigt, können wir vor allem ableiten, dass die Ursache des Ablebens eine sog. hetica bildete. An dieser Feststellung kann kein Zweifel bestehen : Wenngleich sich die Gesandten in Prag aufhielten, während die Königin – wie wir bereits gesehen haben – auf der Burg Karlstein verstarb, verfügten sie über eine sehr gute Nachrichtenquelle aus den Reihen von Mitgliedern des königlichen Rates (als Hauptinformant diente der bereits erwähnte Kraft von Hohenlohe), darüber hinaus verfassten sie ihre Depesche unmittelbar nach den Ereignissen. Es muss sich also um das offizielle, wenn auch weitergegebene Kommuniqué der untersuchenden Ärzte der sterbenden Königin gehandelt haben37. Nunmehr ergibt sich die Frage, wie die erwähnte Diagnose zu interpretieren ist. 35 Gemeint ist Graf Kraft IV. von Hohenlohe († 1399), Mitglied des Rates König Wenzels. Vgl. Ondřej Schmidt, Politika, diplomacie, písemnosti. Komunikace mezi císařským dvorem a Mantovou v letech 1378–1437 [Politik, Diplomatie, Schriftlichkeit. Die Kommunikation zwischen dem kaiserlichen Hof und Mantua in den Jahren 1378–1437] (ungedr. Diss. Brno 2020 ; online s. URL : https://is.muni.cz/th/ osumw/Disertace.pdf [letzter Zugriff : 02.01.2021]) 202. 36 ASPr, Carteggio farnesiano estero, Boemia, busta 4, fol. 38r : …nova portata fuerunt die primo Januarii presentis, qualiter serenissima domina, domina regina, quondam uxor prefati domini regis Romanorum, die ultimo Decembris preteriti, sicut Deo placuit, diem suum clauserat extremum ; et mortua est de quadam infirmitate, quam iam diu passa est, que hetica apelatur, de cuius morte, ut sentire potuimus, rex magnam habuit melenconiam. Corpus dicte regine hodie portatur Pragam, sed exequie creditur, quod fient die sabati proxime venturi, in quibus exequis volumus scire a domino de Oloch modos, quos observare habebamus, qui nobis respondidit, quod ad huc ignorabat modum, quem debeat observari in dictis exequiis, sed cum sciet, ips[um] bene nobis dice[t] modos, quos observare debemus iusta honorem vestrum et nos, sicut nobis dicet, sic faciemus. 37 Allgemein zu ihnen vgl. Milada Říhová, Královští lékaři. Lékaři na dvoře posledních Lucemburků [Die königlichen Ärzte. Ärzte am Hofe der letzten Luxemburger], in : Pražské městské elity středověku
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Der Terminus febris ethica bezeichnete allgemein eine länger andauernde fiebrige Erkrankung, was im Einklang mit dem zusätzlichen Hinweis der Gesandten steht, die Königin habe »schon lange an der Krankheit gelitten«. Die mittelalterliche Medizintheorie unterschied verschiedene Arten von Fieber, das im Unterschied zur heutigen Medizin für gewöhnlich als eigenes, das Ungleichgewicht der Körperkräfte ausdrückendes Leiden interpretiert wurde, nicht jedoch als dessen Folge. Hinter der aus dem Griechischen übernommenen Bezeichnung ethica verbarg sich in der Regel die auch als phthisis bezeichnete Lungentuberkulose. Unter dem Einfluss der Schriften von Hippokrates, Galen, Avicenna und anderen Autoritäten interpretierten die mittelalterlichen Ärzte die Tuberkulose als unheilbare Krankheit, bei der es zu einer schrittweisen Austrocknung des Körpers komme (hiervon leitet sich auch das archaische tschechische Äquivalent souchotiny ab), mit dem Tod als Endkonsequenz38. Die Tuberkulose, d. h. eine Infektionskrankheit bakteriellen Ursprungs, die die Menschheit von ihren Anfängen an begleitete und die sich vor allem durch Husten, Fieber und Schwäche artikulierte39, scheint also die wahrscheinlichste Todesursache gewesen zu sein. Dennoch ist eine gewisse Vorsicht geboten. Angesichts der sehr begrenzten diagnostischen Möglichkeiten der mittelalterlichen Ärzte ist es nämlich nicht ausgeschlossen, dass es sich um eine andere Krankheit gehandelt haben könnte, die lediglich ähnliche Symptome zeigte – zum Beispiel eine Krebserkrankung 40. Mit anderen Worten : Die Tatsache, dass die Zeitgenossen die tödliche Erkrankung als Tuberkulose bezeichneten, muss keineswegs bedeuten, dass die Königin auch wirklich an Tuberkulose verstarb. a raného novověku – jejich proměny, zázemí a kulturní profil [Die städtischen Eliten Prags im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit – deren Veränderungen, Hinterland und kulturelles Profil], hg. v. Olga Fejtová, Václav Ledvinka, Jiří Pešek (Documenta Pragensia 21, Praha 2004) 327–334. 38 Luke Demaitre, Medieval Medicine. The Art of Healing, from Head to Toe (Santa Barbara 2013) 35–60 (hier auch zu verschiedenen mittelalterlichen Typologien von Fieber) ; Fabio Cavalli, Della febbre etica, in : L’Unicorno. Rivista semestrale di cultura medievale dell’Accademia Jaufré Rudel di studi medievali Gradisca d’Isonzo 1–2 (2002) 75–86 ; zur lateinischen und alttschechischen Terminologie vgl. Latinitatis medii aevi Lexicon Bohemorum / Slovník středověké latiny v českých zemích 13 (Pragae 1991) 959 ; Alena M. Černá, Staročeské názvy chorob [Alttschechische Bezeichnungen von Krankheiten] (Praha 2009) ad indicem. 39 Allgemein zur Tuberkulose und zu ihrer Geschichte vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Tuberkulose [letzter Zugriff : 02.01.2021] ; I. Barberis, N. L. Bragazzi, I. Galluzzo, M. Martini, The history of tuberculosis. From the first historical records to the isolation of Koch’s bacillus, in : Journal of Preventive Medicine and Hygiene 58/1 (2017) E9–E12. 40 Cavalli, Della febbre etica (wie Anm. 38) 76, 84f. Ferner zu den diagnostischen Möglichkeiten der mittelalterlichen Ärzte, die sich oft nicht weigerten zu Suggestion und Manipulation zu greifen, um ihre eigene Autorität zu stärken, vgl. Zdeněk Žalud, »Velmi nám pomáhá, že naší mluvě nerozumějí«. Sugestivní a manipulativní prvky v chování středověkého lékaře [»Es hilft uns sehr, dass sie unsere Sprache nicht verstehen«. Suggestive und manipulative Elemente im Verhalten des mittelalterlichen Arztes], in : Kontakt – Journal of nursing and social sciences related to health and illness 14/4 (2012) 475–484.
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Die medizinische Forschung warnt daher allgemein vor – aus Sicht der Historiker verlockenden – »retrospektivischen Diagnosen« auf der Grundlage der Diktion mittelalterlicher Quellen41. Im Übrigen zeigte sich die bereits erwähnte (Lungen)Pest nach außen in ähnlicher Form, doch trat der Tod innerhalb sehr kurzer Zeit ein42, was der Diktion unserer Quelle widerspricht. Wäre zudem die Krankheit als Pest diagnostiziert worden, hätten die Gesandten sicherlich den passenderen Terminus pestis oder aber pestilencia benutzt. Eine moderne anthropologische Analyse der Knochen der Königin konnte über ihre Todesursache keine näheren Informationen liefern43. Eine genaue Bestimmung der Ursache des Todes Johannas von Bayern bleibt somit auch weiterhin in der Schwebe. Mit Sicherheit lässt sich lediglich sagen, dass es sich um eine länger währende Krankheit handelte, die die Lungen erfasste und sich in Fieberschüben artikulierte. Wenn wir zu dem analysierten Schreiben der italienischen Gesandten zurückkehren, richtet sich unser Interesse im Text auch auf die Anmerkung, der König habe »große Trauer« über den Verlust seiner Gemahlin gezeigt. Damit wird insgesamt überzeugend die Fabel späterer Chronisten widerlegt, die zuweilen behaupteten, der Herrscher habe aufgrund seines Desinteresses oder schließlich, weil er der Verstorbenen das Fehlen eines Thronfolgers verübelte, nicht an Johannas Begräbnis teilgenommen44. Die zitierten Worte bestätigen weit eher die Sicht der modernen Historiographie, die die Ehe zwischen Wenzel und Johanna als relativ harmonisch beschreibt. Die Einschätzung Wenzels als schlechter und passiver Herrscher wird damit zwar nicht in Abrede gestellt, wir müssen jedoch hieraus nicht im Einklang mit der »schwarzen Legende« einen gottlosen Tyrannen machen. Die diplomatische Depesche lüftet auch das weitere Schicksal der sterblichen Überreste der Königin. Den Gesandten zufolge sollte diese am Tag der Ausfertigung des Schreibens, also am 3. Januar, nach Prag überführt werden und das eigentliche Begräb41 Demaitre, Medieval Medicine (wie Anm. 38) 36 ; vgl. Karel Černý, Mor 1480–1730. Epidemie v lékařských traktátech raného novověku [Die Pest 1480–1730. Die Epidemie in medizinischen Traktaten der Frühen Neuzeit] (Praha 2014) 27–29. 42 Vgl. Bergdolt, Der Schwarze Tod (wie Anm. 29) 17–20 ; Maur, Obyvatelstvo (wie Anm. 30) 60. Die Beulenpest weist darüber hinaus charakteristische Merkmale auf (sichtbares Anschwellen der Knoten), so dass wir diese faktisch ausschließen können. Nur am Rande sei hinzugefügt, dass noch einige neuzeitliche Autoren annahmen, die Pest könne sich zu einer febris ethica entwickeln : Černý, Mor (wie Anm. 41) 168f. 43 Vgl. Emanuel Vlček, Čeští králové I. Fyzické osobnosti českých panovníků 2. Postavy českých dějin očima antropologa. Atlas kosterních pozůstatků českých králů přemyslovské a lucemburské dynastie s podrobným komentářem a historickými poznámkami [Die böhmischen Könige I. Die physischen Persönlichkeiten der böhmischen Herrscher 2. Gestalten der böhmischen Geschichte in den Augen eines Anthropologen. Atlas der Skelette der böhmischen Könige aus den Dynastien der Přemysliden und Luxemburger mit eingehendem Kommentar und historischen Anmerkungen] (Praha 1999) 229–231. 44 Vgl. Kopičková, Královny (wie Anm. 2) 760.
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nis nach allgemeiner Meinung am darauffolgenden Sonnabend, der auf den 5. Januar fiel, stattfinden. Diese Annahme erfüllte sich jedoch am Ende nicht. Dies bezeugen die am Ende des 14. Jahrhunderts verfassten anonymen Annalen, deren Bestandteil zugleich eine Beschreibung des Begräbnisses Karls IV. und Johannas von Bayern bildet. Aus diesen Aufzeichnungen geht hervor, dass die Begräbniszeremonie den bei der Beisetzung Kaiser Karls zur Anwendung gekommenen Brauch wiederholte, dessen Verlauf relativ detailgetreu bekannt ist45. Es handelte sich um eine pompöse, mehrere Tage dauernde öffentliche Zeremonie, in die die herrscherliche Familie, Repräsentanten des Adels, der Kirche, der Prager Städte und der Universität eingebunden waren und die der Majestätsgewalt des Herrschers ein letztes Mal Strahlkraft verlieh. Die suggestive Wirkung von Johannas Begräbnis ließ sich sicherlich nicht mit dem Abschied des großen Herrschers vergleichen, was bereits der disproportionale Umfang in der Schilderung des unbekannten Annalisten erkennen lässt. Eine Analogie lässt sich dessen ungeachtet nicht übersehen : nach der Überführung in das Kloster Strahov am Tag der Offenbarung des Herrn (6. Januar) wurde der Körper der Königin ähnlich wie im Falle Karls IV. nacheinander über Nacht auf der Prager Burg, dem Wyschehrad, im Minoritenkloster St. Jakob in der Prager Altstadt, bei den Johannitern auf der Kleinseite und schließlich in der St. Veitskathedrale aufbewahrt, ehe er hier nach einer feierlichen Messe am 12. Januar, einem Sonnabendvormittag, seine letzte Ruhe fand46. 45 Vgl. František Šmahel, Smuteční ceremonie a rituály při pohřbu císaře Karla IV. [Begräbniszeremonie und Rituale bei der Beisetzung Kaiser Karls IV.], in : Český časopis historický 91 (1993) 401–416 ; ders., Mezi středověkem a renesancí (wie Anm. 17) 133–160 ; ders., Spectaculum et pompa funebris. Das Leichenzeremoniell bei der Bestattung Kaiser Karls IV., in : Zur politischen Präsentation und Allegorie im 14. und 15. Jahrhundert, hg. v. dems. (Otto-von-Freising-Vorlesungen der Katholischen Universität Eichstätt 9, München 1994) 1–37 (die Studie stand dem Autor nicht zur Verfügung) ; ders., Poslední chvíle, pohřby a hroby českých králů [Letzte Augenblicke, Begräbnisse und Grabstätten der böhmischen Könige], in : Slavnosti, ceremonie a rituály v pozdním středověku [Feierlichkeiten, Zeremonien und Rituale im Spätmittelalter], hg. v. Martin Nodl, František Šmahel (Praha 2014) 123–197, hier 135–154 ; Rudolf J. Meyer, Königs- und Kaiserbegräbnisse im Spätmittelalter. Von Rudolf von Habsburg bis zu Friedrich III. (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 19, Köln–Weimar–Wien 2000) 100–118 ; Robert Antonín, Poslední cesta Karla IV. [Die letzte Reise Karls IV.], in : Když císař umírá [Wenn ein Kaiser stirbt], hg. v. Jana Kunešová, Petr Přibyl (Praha 2016) 78–97 ; Martin Bauch, Der schwarze Reiter. Die Funeralzeremonie Karls IV. im europäischen Kontext, in : Heilige, Helden, Wüteriche. Herrschaftsstile der Luxemburger (1308–1437), hg. v. dems., Julia Burkhardt, Tomáš Gaudek, Václav Žůrek (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 41, Köln–Weimar–Wien 2017) 45–62. 46 Státní vědecká knihovna v Olomouci [Wissenschaftliche Staatsbibliothek in Olmütz], Hds. M II 15, wurde in der Literatur bekannt gemacht durch Tomek, Dějepis 3 (wie Anm. 27) 337 ; die entsprechende Passage edierte Šmahel, Mezi středověkem a renesancí (wie Anm. 17) Anhang I, hier S. 148 : Anno domini MoCCC LXXXVII obiit regina Johanna, Johanka [sic !] uxor regis Wenczeslai regni Bohemie hora tercia noctis super Circumcisionem Domini. Et tunc in Epiphania portata est de castro Karlstain ad monas
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Es hat also den Anschein, dass sich im Vergleich zu den Informationen der ViscontiGesandten das Begräbniszeremoniell über eine Woche erstreckte (am 26. Januar meldeten die Diplomaten, dass die Bestattung »am Sonnabend dieses Monats« ihr Ende fand, was sich auf den 12., aber auch dem 19. Januar beziehen könnte)47. Der einbalsamierte Körper der toten Königin mit den Attributen ihrer irdischen weltlichen Macht begab sich sprichwörtlich auf eine Pilgerfahrt durch die gesamte Prager Agglomeration. Ob oder aber in welcher Form auch Wenzel IV. an den Prozessionen und Begräbnisfeierlichkeiten teilnahm, ist nicht bekannt, doch darf hiervon ausgegangen werden. Das Itinerar des Königs lässt zwar erkennen, dass er sich zwischen dem 3. und 6. Januar auf der Burg Bettlern/Žebrák aufhielt, doch kehrte er bereits am 7. Januar in die Hauptstadt zurück, so dass er de facto an allen Gedenkfeiern, einschließlich der eigentlichen Grablegung der Königin, hätte teilnehmen können48. Wahrscheinlich begab er sich gerade aus diesem Grund nach Prag. Die zeitgenössischen anonymen Annalen – die einzige Quelle, die das Ereignis beschreibt – erwähnen dessen ungeachtet lediglich die Anwesenheit von Pfarrern und Kanonikern an der Seelenmesse in der Prager Kathedrale. Spätere, allem Anschein nach erfundene Zeugnisse von Historikern des 16. Jahrhunderts, die in der Fachliteratur bis heute weiter tradiert werden, enthalten erkennbare Ungenauigkeiten, und sind aus diesem Grunde eher zu verwerfen49. Nur am Rande sei in diesem Kontext terium Strahow et deinde portata est ad palacium regis et ibi stetit per totam noctem. Deinde portata fuit in Wyssegradum et ibi stetit per totam noctem. Deinde portata est ad monasterium sancti Jacobi et ibi stetit per totam noctem. Et deinde portata est ad monasterium cruciferorum in pede pontis et ibi stetit per totam noctem. Et deinde post missam translata est super castrum, ibi cantaverunt plabani et canonici Pragenses vigilias. Et ibi stetit per noctem et mane sepulta est. Zur Handschrift vgl. Miroslav Boháček, František Čáda, Beschreibung der mittelalterlichen Handschriften der Wissenschaftlichen Staatsbibliothek von Olmütz, hg. v. Franz Schäfer, Maria Schäfer, Hans-Bernard Harder, Hans Rothe (Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Reihe C – Bibliographien. NF 1 = 3, Köln–Weimar–Wien 1994) Nr. 183. 47 ASPr, Carteggio farnesiano estero, Boemia, busta 4, fol. 11r : …que obsequie finite fuerunt die sabati presen tis mensis… 48 Vgl. Hlaváček, Das Urkunden- und Kanzleiwesen (wie Anm. 23) 412. Ergänzungen hierzu auf der Grundlage der Datenbank der Regesta Imperii Plus, Wenzel – Nachlass Hanisch (1376–1400), Nr. 1608, online s. URL : http://www.regesta-imperii.de/id/d8473fbd-046e-436f-863e-55871b5ea558 [letzter Zugriff : 02.01.2021]. Auf diesen Zusammenhang verwies mit abweichender Schlussfolgerung Spěváček, Václav IV. (wie Anm. 2) 186, der mit der Anwesenheit des Königs in Prag erst ab 10. Januar rechnete. Tomek, Dějepis 3 (wie Anm. 27) 337, hingegen ging von einer »zweifelsfreien« Teilnahme Wenzels am Begräbnis aus. 49 Pelzel, Lebensgeschichte 1 (wie Anm. 19) 185, Anm. 1 ; Lindner, Geschichte 2 (wie Anm. 20) Beilage III, hier S. 456, und nach ihnen zahlreiche weitere Autoren (überwiegend bereits ohne Kenntnis der ursprünglichen Quelle) haben wiederholt auf die unzuverlässige Angabe des historischen Kalenders verwiesen, den Prokop Lupáč z Hlaváčova, Rerum Boemicarum Ephemeris sive Kalendarium Historicum (Pragae 1584) sub dato (ohne Paginierung) verfasste. Der Autor gibt an, dass Johanna am 11. oder aber 12. Januar 1387 im Kloster Königsaal/Zbraslav bestattet worden sei, wobei unbekannt bleibt,
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erwähnt, dass die Teilnahme Wenzels IV. am Begräbnis seines Vaters Karls ebenfalls nicht dokumentiert ist, wobei die historische Forschung dieses Ereignis unterschiedlich interpretiert50. Die sterblichen Überreste der Königin wurden in der von Karl IV. an einem Ehrenplatz im Presbyterium der Prager Kathedrale errichteten Grablege bestattet und nach den unruhigen Peripetien fand hier im Jahre 1424 auch Wenzel IV. seine letzte Ruhe. Der ursprüngliche Sarg hat sich, wie auch im Falle der übrigen Luxemburger, nicht erhalten. Im Jahre 1590 bettete man die Skelette der böhmischen Könige und Königinnen aus dem alten Grab in die sich mehrere Meter weiter westlich befindliche Krypta um, die sich unter dem sog. Colin-Mausoleum befand, das damals Rudolf II. in Auftrag gegeben hatte. Hier vermischte man offenkundig Johannas sterbliche Überreste mit jenen der Gemahlinnen Karls IV. Diese und weitere Wirrsale konnte erst die moderne anthropologische Analyse der Knochenreste beseitigen. Seit 1991 hat so der Körper der Königin Johanna seine (nunmehr definitiv) letzte Ruhe im Sarkophag Wenzels IV. aus den 1930er Jahren gefunden51. Als römisch-deutsche und böhmische Königin hinterließ Johanna gewisse Spuren in der liturgischen Erinnerung der böhmischen Kircheninstitutionen. Ihr Name taucht in einem heute verlorenen Nekrolog der Prager Kathedrale, dessen Inhalt nur dank barocken Auszügen bekannt ist, sowie in weiteren Quellen aus diesem Umfeld auf52. Im auf welcher Grundlage er ergänzend hinzufügt, am Begräbnis hätten die Kaiserin-Witwe Elisabeth von Pommern und Markgraf Jost von Mähren teilgenommen, während Wenzel »wegen des Grams« nicht vor Ort gewesen sei : A. D. 1387 [in margine : Quidam mm. ff. habent annotatum diem sequentem] Io hanna prima uxor R. Venceslavi […] quae, ut suprà est annotatum, Kal : Ianuarii obiit ; hoc die sepulta est in coenobio Aulae Regiae. Hag. [d.h. Hájek] Funus sua praesentiam exornarunt Elißabetha, Caroli IV. vidua relicta, Iodocus Marchio Moraviensis, aliique complures Principes atque Praelati etc. Rex autem ipse et mari tus Wenceslavus non affuit, prae moerore, sepulturae. m. s. In der älteren Ausgabe von 1578 erwähnt Lupáč das Ereignis nur kurz und spricht von Johannas Begräbnis in Prag. Die irrtümliche Annahme hinsichtlich des Klosters Königsaal als angeblichem Ort der letzten Ruhe der Königin Johanna, die bis heute in der Literatur auftaucht, äußerte vermutlich erstmals Hájek z Libočan, Kronika česká (wie Anm. 32) 830. 50 Šmahel, Mezi středověkem a renesancí (wie Anm. 17) 144. 51 Michal Lutovský, Milena Bravermanová, Hroby a hrobky našich knížat, králů a prezidentů [Grabstätten und Gräber unserer Fürsten, Könige und Präsidenten] (Praha 2007) 40–43, 45–55, 157f.; Milena Bravermanová, Hroby králů a jejich příbuzných na Pražském hradě [Die Grabstätten der Könige und ihrer Angehörigen auf der Prager Burg], in : Castrum Pragense. Pohřbívání na Pražském hradě a jeho předpolích I/1. Textová část [Beisetzungen auf der Prager Burg und deren Vorfeldern I/1. Textteil] (Praha 2005) 53–87, hier 58–67 ; die Ergebnisse der anthropologischen Untersuchungen publizierte Vlček, Čeští králové 1 (wie Anm. 43) 202–214, 229–231 ; zum Schicksal der sterblichen Überreste Wenzels IV. vgl. František Šmahel, Blasfemie rituálu ? Tři pohřby krále Václava IV. [Blasphemie des Rituals ? Die drei Bestattungen König Wenzels IV.]., in : Pocta prof. JUDr. Karlu Malému, DrSc. k 65. narozeninám, hg. v. Ladislav Soukup (Praha 1995) 133–143 ; ders., Mezi středověkem a renesancí (wie Anm. 17) 161–175 ; Meyer, Königs- und Kaiserbegräbnisse (wie Anm. 45) 134–145. 52 Veldtrup, Ein »luxemburgisches« Anniversarbuch (wie Anm. 19) 136, Nr. 179 ; Martina Maříková,
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Jahre 1396 stiftete Wenzel IV. ein Anniversarium für seine Mutter Anna von Schweidnitz († 1362) und seine erste Gemahlin Johanna von Bayern. Es ist vielleicht kein Zufall, dass der König zehn Jahre nach Johannas Ableben und darüber hinaus am Ort ihres Todes – auf dem Karlstein – die Fundation beurkunden ließ53. Auch diese Quelle scheint das wohl herzliche Verhältnis zwischen dem königlichen Ehepaar zu bestätigen. Die Erinnerung an die verstorbene Königin aus dem Geschlecht der Wittelsbacher wahrten auch die Prämonstratenserinnen im nordböhmischen Doxan/Doksany54. Abschließend darf festgestellt werden, dass es gelungen ist, die Umstände des Todes der Königin Johanna von Bayern zu erhellen. Zumindest werden die 600 Jahre zurückliegenden Ereignisse einer vermeintlichen Attacke durch Wenzels Hunde widerlegt. Die neue, vorsichtig vorgeschlagene Ursache für das Ende der Königin – eine Lungentuberkulose – erscheint im Lichte der bislang bekannten Quellen und zeitgenössischen Zusammenhänge als am wahrscheinlichsten, wenngleich diese angesichts der gravierenden Limits einer »retrospektivischen Diagnostik« lediglich eine Hypothese darstellt. So bleibt uns nichts anderes als zu konstatieren, dass wir endgültige und exakte Schlüsse offenbar niemals werden ziehen können. Ohne Rücksicht auf die angedeuteten methodologischen Klippen hat der vorliegende Beitrag wiederum die Schlüsselbedeutung einer systematischen bohemikalen Forschung in italienischen Archiven und Bibliotheken vor Augen geführt, die weiterhin das Potential besitzt, unsere Kenntnisse der böhmischen Geschichte zu bereichern55.
Finance v životě pražské metropolitní kapituly. Hmotné zabezpečení kanovníků optikou účetních rejstříků z let 1358–1418 [Die Finanzen im Leben des Prager Metropolitankapitels. Die materielle Absicherung der Kanoniker in der Optik der Rechnungsregister aus den Jahren 1358–1418] (Documenta Pragensia Monographia 35, Praha 2018) 321, 335, 346, 361, 372, 397, 716 (Taf. 24). Beide Autoren wiesen zugleich auf weitere nekrologische Quellen aus dem Milieu der Prager Kathedrale hin. 53 Eršil, Pražák, Archiv I (wie Anm. 10) Nr. 615 ; RBMV I/5, hg. v. Věra Jenšovská (Pragae 1978) Nr. 5333 ; CIM II (wie Anm. 12) Nr. 686. 54 Josef Emler, Necrologium Doxanense, in : Zprávy o zasedání Královské české společnosti nauk v Praze / Sitzungsberichte der Königl. böhm. Gesellschaft der Wissenschaften in Prag (1884) 83–144, hier 87 ; vgl. Veldtrup, Ein »luxemburgisches« Anniversarbuch (wie Anm. 19) 136, Nr. 179. 55 Die Studie entstand im Rahmen des von der Forschungsagentur der Tschechischen Republik und dem Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanzierten internationalen Projekts GF1929622L : »Grey Eminences in Action : Personal Structures of Informal Decision-Making at Late Medieval Courts«. Für das Durchlesen der tschechischen Version des Textes danke ich Dr. Zdeněk Žalud (Tábor).
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Abb. 1: Ausschnitt aus dem Text der Depesche der Visconti-Gesandten aus Prag, in dem vom Tod der Königin Johanna von Bayern die Rede ist (Archivio di Stato di Parma, Carteggio farnesiano estero, Boemia, busta 4, fol. 38r).
V II. DIE LANGEN SCHATTEN DES MODER NEN NATIONALISMUS
Andreas Hermenegild Zajic
Vaterländisches Altertum, »deutsches« Identifikationsobjekt und tschechisches Nationales Kulturdenkmal Wissenschaftsgeschichtliche Schlaglichter auf das Luditzer Gesangbuch/Žlutický kancionál
Am 28. Juni 2008 sicherten mit Sturmhauben maskierte Angehörige der tschechischen Polizei in Splitterschutzwesten und Kevlarhelmen, Sturmgewehre im Anschlag, den Zugang zum Portal des Rathauses des westböhmischen 2600-Einwohner-Städtchens Luditz/Žlutice (Region Karlsbad/Karlovyvarský kraj) ab. Die recht martialisch anmutende Szene bot sich jedoch nicht im Zuge der Verhaftung eines Schwerverbrechers oder eines Antiterror-Einsatzes, sondern bildete die letzte Station eines in einem gepanzerten Fahrzeug durchgeführten Hochsicherheitstransports. Für einen Halbtag wurde das monumentale illuminierte Gesangbuch der utraquistischen Literatengemeinde von Luditz/ Žlutický kancionál (Abb. 1) – unter erheblichem medialen Interesse – wieder in jene Stadt gebracht, in deren Auftrag es 450 Jahre zuvor in der Prager Buchmalereiwerkstatt des Jan Táborský von Klokotská Hora angefertigt worden war1. Etwa sechs Stunden 1 Die wissenschaftliche Literatur zur Handschrift (eigentlich ein Graduale, doch soll hier in der deutschen Bezeichnung dem in tschechischen Publikationen bis in die jüngere Vergangenheit weit überwiegend eingeführten Begriff des Cantionale Rechnung getragen werden) ist – vor allem im Forschungsfeld der Buchmalereiforschung und Kunstgeschichte – erdrückend. Anstelle einer überbordenden Bibliographie genüge hier der Verweis auf die jeweils auch die älteren Studien einbeziehenden jüngeren Beiträge : Barry Frederic H. Graham, Three More Jan Táborský Graduals, in : Studie o rukopisech 33 (2000) 229–244 ; ders., Bohemian and Moravian Graduals 1420–1620 (Turnhout 2006) 501–506 ; Anton F. Malinovský, Heraldika českých renesančních graduálů Litoměřického, Rakovnického a Žlutického [Die Heraldik der böhmischen Renaissance-Gradualien von Leitmeritz, Rakonitz und Luditz], in : heraldika a genealogie 35/3-4 (2002) 87–142, hier 110–139 ; Žlutický kancionál 1558–2008, hg. v. Petr Brodský (Žlutice 2008) ; Ema Součková, Žlutický kancionál (ungedr. Bachelor-Arbeit Praha 2010) ; Dies., Graduály z dílny Jana Táborského z Klokotské Hory [Die Gradualien aus der Werkstatt des Jan Táborský von Klokotská Hora] (ungedr. Diss. Praha 2017) ; Martina Šarovcová, Cantate Domino can ticum novum. Iluminované hudební rukopisy české reformace [Cantate Domino canticum novum. Illuminierte Musikhandschriften der böhmischen Reformation], in : Umění české reformace (1380–1620) [Die Kunst der böhmischen Reformation], hg. v. Kateřina Horníčková, Michal Šronek (Praha 2010) 413–428 und 466f. (Kat.-Nr. XIV/14) ; Dies., A Little Known Utraquist Gradual in the British Library in London, in : The Bohemian Reformation and Religious Practice 9, hg. v. Zdeněk David, David R. Holeton (Praha 2014) 250–278, hier 257, 259f., 264 und 267 ; Kristina Svitáková, Fabián Puléř – pražský iluminátor (ungedr. Bachelor-Arbeit Praha 2012) 29-33. Ein vollständiges Digitalisat der Handschrift und ausführliche kodikologische Angaben bietet die Datenbank manuscriptorium,
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lang konnten Einheimische und Gäste das erst 1978 von der Stadt an die Sammlung der Denkmäler Nationaler Literatur/Památník národního písemnictví in Prag abgegebene Original, an dessen Stelle ein 1975 angefertigtes Faksimile2 vor Ort verblieben war, in einer Glasvitrine besichtigen3 (Abb. 2). Der enorme Aufwand des Transports und Objektschutzes trug wohl weniger einem realen Bedrohungsszenario Rechnung, sondern entsprach im Sinne symbolischer Kommunikation eher der Prominenz des Objekts. In einem Kurzbeitrag des tschechischen Radios betonte der Redakteur, dass so mancher Lokalpatriot die Tatsache beklage, dass es den Luditzern nur alle heiligen Zeiten gegönnt sei, das Kunstwerk für wenige Stunden sehen zu dürfen4. Daher gäbe es Bestrebungen, die Handschrift aus Prag wieder nach Luditz oder wenigstens in das Museum nach Karlsbad/Karlovy Vary (dem das Luditzer Museum bis 2019 als Außenstelle zugeordnet war) zu transferieren. Nur aus Dankbarkeit darüber, dass die katholische Reformationskommission, die im 17. Jahrhundert aus der Handschrift 23 Blätter mit als häretisch empfundenen Darstellungen herausschneiden und die Darstellungen des Jan Hus und des Hieronymus von Prag schwärzen hatte lassen anstatt das Werk überhaupt zu vernichten, würde man es nicht so wesentlich nehmen, ob das Kunstwerk heute in Prag oder in Luditz aufbewahrt würde5. Doch auch das tschechische Fernsehen unter-
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URL : http://www.manuscriptorium.com/apps/index.php?direct=record&pid=AIPDIG-PNP___TR_ I_27_____0XWJO37-cs#search [letzter Zugriff : 09.01.2021]. – Der vorliegende Beitrag wäre unter den besonderen Arbeitsbedingungen mehrfacher COVID-19-bedingter Lockdowns und gesperrter Bibliotheken nicht zustandegekommen ohne die rasche Bereitstellung von Scans der in Wien nicht zugänglichen Literatur durch Petr Elbel und Jan Hrdina. Beiden sei dafür aufrichtiger und herzlicher Dank gesagt ! Gustav Pfeifer hat das Manuskript dankenswerterweise durch seine Kritik verbessert. Das Faksimile hatte der Karlsbader Buchbinder und Buchkünstler Jan Sobota angefertigt, vgl. die Abbildung der beigebundenen »Künstlerinschrift« unter URL : https://dvojka.rozhlas.cz/boj-o-zlutickykancional-7458013 [letzter Zugriff : 09.01.2021], Foto 03212407, und den Beitrag von Jan Sobota, Tvorba faksimile žlutického kancionálu [Die Anfertigung des Faksimile des Luditzer Gesangbuchs], in : Žlutický kancionál, hg. Brodský (wie Anm. 1) 50–53. NN., Do Žlutic se vrátil vzácný kancionál [Das kostbare Gesangbuch ist nach Luditz zurückgekehrt] (28.06.2008) ; URL : https://ct24.ceskatelevize.cz/regiony/1449965-do-zlutic-se-vratil-vzacny-kancio nal [letzter Zugriff : 09.01.2021] ; Lubomír Stejskal, Velké historické štěstí [Großes historisches Glück] (03.07.2008) : URL : https://plzen.rozhlas.cz/velke-historicke-stesti-6780860 [letzter Zugriff : 09.01.2021] ; Jiří Brechličuk, Žlutický kancionál se na pár hodin objeví ve Žluticích [Das Luditzer Gesangbuch taucht für wenige Stunden in Luditz auf ]] (03.05.2008) ; URL : https://plzen.rozhlas.cz/ zluticky-kancional-se-na-par-hodin-objevi-ve-zluticich-6796724 [letzter Zugriff : 09.01.2021] ; Petr Brodský, Předmluva [Vorwort], in : Žlutický kancionál, hg. v. dems. l, 12f. Stejskal, Velké historické štěstí (wie Anm. 3) : »Nejeden místní patriot si po prohlídce Žlutického kancionálu jistě posteskl, proč tento historický skvost nemůže být trvale uložen tam, kam přirozeně patří, tedy ve Žluticích. A proč je místním občanům umožněno vidět toto dílo jednou na pár hodin za několik dlouhých uherských let«. Ebd.: »Díky moudrému úsudku lidí ve službách vítězů jsme dnes bohatší o jeden západočeský skvost a pouze z tohoto hlediska není zase tak důležité, je-li uschován v Praze nebo ve Žluticích«.
Vaterländisches Altertum, »deutsches« Identifikationsobjekt und tschechisches Nationales Kulturdenkmal
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strich in einem regionalen Kurzbericht vom 28. Juni 2008, dass die Stadtbewohner die Handschrift als identitätsstiftendes Objekt ihrer Geschichte gerne wieder in Luditz sehen würden, nicht in Prag. In diesem Sinne beklagte der damalige Bürgermeister, Jaroslav Vojta, auch, dass die Aufbewahrung der Handschrift im Prager Tresor nur sehr selten eine Ausstellung in Luditz ermögliche. Umso mehr sei man sich der Bedeutung dieses seltenen Ereignisses der temporären Rückkehr des Codex bewusst6. Tatsächlich hatte das Lokalradio bereits 2005 von Anstrengungen der Gemeinde Luditz berichtet, die Handschrift wieder aus Prag nach Luditz zu holen7. Der Codex sollte zum Abschluss der Neugestaltung des Stadtmuseums wieder dorthin zurückkehren. Allerdings stand dem Ansinnen des Gemeinderats eben die 1978 getroffene Vereinbarung entgegen, der zufolge die Handschrift der Sammlung der Denkmäler Nationaler Literatur einverleibt worden war und nur ausnahmsweise für Ausstellungen nach Luditz entlehnt werden sollte. Gleichwohl bestanden Hoffnungen, in Zusammenarbeit mit dem Museum Karlsbad eine Vereinbarung mit der Prager Behörde über eine langfristige Ausleihe der Handschrift nach Luditz schließen zu können, soferne die konservatorischen Bedingungen im neu restaurierten Museum dies zuließen. Zwar scheiterten die Rückführungspläne sowohl 2005 als auch 2008, doch legte die Tschechische Post in Würdigung der Prominenz der Handschrift 2010 eine Weihnachtssonderbriefmarke auf, die die thematisch einschlägige Miniatur des Luditzer Gesangbuchs zum Motiv hatte8. Seit 1. Januar 2016 ist schließlich der Status des Manuskripts als Nationales Kulturdenkmal/národní kulturní památka neuerlich und gleichsam endgültig staatlich gewürdigt und fixiert, denn das Gesangbuch wurde per Verordnung dem entsprechenden neuen Denkmälerverzeichnis/Památkový katalog der Tschechischen Republik eingegliedert9. 6 URL : https://ct24.ceskatelevize.cz/regiony/1449965-do-zlutic-se-vratil-vzacny-kancional [letzter Zugriff : 09.01.2021] : »Kancionál přesto místní vnímají jako svoji nejvýznamnější historickou památku. ›Bohužel dneska je to národní kulturní památka, takže je umístěn v Památníku národního písemnictví v Praze‹, řekl starosta městečka s 2600 obyvateli Jaroslav Vojta. Kancionál měli ve Žluticích až do roku 1978. ›Od té doby opustil Prahu pouze dvakrát, a to na výstavu Rudolf II. a Praha a před deseti lety sem do Žlutic‹, uvedl starosta. […] Ono právě to, že ten originál sem přijel, hodně posiluje vědomí žlutických občanů a hrdost na svoje město. A právě to, že ten originál je takhle málo k vidění, je to pro nás významné‹, uzavřel starosta«. 7 Andrea Bocková, Žlutice usilují o navrácení kancionálu ze 16. století do města [Luditz bemüht sich um die Rückgabe des Gesangbuchs aus dem 16. Jahrhundert an die Stadt] (03.08.2005) : URL : https://plzen. rozhlas.cz/zlutice-usiluji-o-navraceni-kancionalu-ze-16-stoleti-do-mesta-6789935 [letzter Zugriff : 09.01. 2021]. 8 S. Zdeněk Trnka, Na vánoční známce se představuje Žlutický kancionál [Auf der Weihnachtsbriefmarke präsentiert sich das Luditzer Gesangbuch] (29.11.2010) : URL : https://plzen.rozhlas.cz/na-vanocni-znamce-se-predstavuje-zluticky-kancional-6754541 [letzter Zugriff : 09.01.2021]. 9 S. die Angaben im Online-Denkmalverzeichnis : URL : https://pamatkovykatalog.cz/zluticky-kancional-
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Dass die im Tresor in Prag aufbewahrte Handschrift im Denkmälerverzeichnis dabei unter der Kat.-Nr. 1048027415 zwar explizit als Luditzer Gesangbuch/Žlutický kancionál, jedoch als Objekt der Katastralgemeinde Prag-Hradschin/Praha-Hradčany aufgenommen wurde, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, spielten doch Fragen nach dem Aufbewahrungsort der Handschrift und ihrem Stellenwert als »nationales« Denkmal im letzten Jahrhundert ihrer Objektgeschichte eine entscheidende Rolle. Zweimal, 1919 und 1939, war die Handschrift als je nachdem »deutsches« oder tschechisches »nationales« Kulturgut aus dem Luditzer Museum entwendet und unter Aufbietung von Polizeikräften gesucht und wieder zurückgebracht worden. Diese Episode aus der reichen »deutsch«tschechischen Konfliktgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist in den letzten Jahren über mehrere Print- und Onlinemedien sowie in Radio-Features einer breiteren, vorwiegend tschechischsprachigen Öffentlichkeit bekanntgemacht worden10. Doch begegnet schon eine knappe Schilderung der faktischen Geschicke des Gesangbuchs in der genannten Periode nicht geringen Schwierigkeiten, da die zwei Jahrzehnte auseinanderliegenden Ereignisse bislang de facto nur aus zwei parteiischen Blickwinkeln dargestellt worden sind, nämlich einerseits aus »deutscher« Sicht, und zwar jener des 1886946 [letzter Zugriff : 09.01.2021]. Demnach wurde die Handschrift, schon seit 1978 o. Sign. im Bestand der Sammlung der Denkmäler Nationaler Literatur/Památník národního písemnictví, zunächst per Bescheid č. 8727/2015, rozhodnutí o prohlášení za KP, vom 03.02.2015 und mit Wirksamkeit vom 25.02.2015 amtlich als Kulturdenkmal/kulturní památka unter der Nummer ÚSKP 105557 registriert und unter Schutz gestellt. Per Verordnung Nr. 182/2015/č. 2015182, Nařízení vlády 182/2015 ze dne 8. července 2015 o prohlášení některých kulturních památek za národní kulturní památky, § 1 (1) a) 1. vom 08.07.2015 wurde die Handschrift schließlich mit Wirksamkeit vom 01.01.2016 als erstes von vier Kulturdenkmälern der Hauptstadt Prag zum Nationalen Kulturdenkmal/Národní kulturní památka erklärt. 10 Vgl. etwa den Kurzbeitrag aus dem tschechischen Radio von Stanislav Motl, Boj o Žlutický kancionál [Der Kampf um das Luditzer Gesangbuch] (21.09.2014) : URL : https://dvojka.rozhlas.cz/boj-o-zluti cky-kancional-7458013 [letzter Zugriff : 09.01.2021] ; den Blog-Beitrag von Irena Gruberová, Českoněmecké boje o Žlutický kancionál : zasáhnout musel sám Hitler [Die deutsch-tschechischen Kämpfe um das Luditzer Gesangbuch : Selbst Hitler musste eingreifen] (26.03.2015) : URL : https://www.extrastory.cz/cesko-nemecke-boje-o-zluticky-kancional-zasahnout-musel-sam-hitler [letzter Zugriff : 09.01.2021] bzw. jenen von Martina Jurová, Boj o Žlutický kancionál [Der Kampf um das Luditzer Gesangbuch] (14.06.2017) : URL : https://www.kampocesku.cz/clanek/22032/boj-o-zluticky-kancional [letzter Zugriff : 09.01.2021]. Die von Petr Brodský und dem Museumsverein Luditz betriebene Website zum Gesangbuch, http://zlutickykancional.cz/, scheint nicht mehr online zu sein und existiert nur mehr in einer Archivversion : URL : https://web.archive.org/web/20160113085118/http://zlutickykancio nal.cz/ [letzter Zugriff : 09.01.2021]. Den mit Abstand umfassendsten, neben den älteren Publikationen auch eigene Recherchen des Schriftstellers Jan Boněk einbeziehenden populärwissenschaftlichen Beitrag stellt das deutschsprachige Radiofeature von Jakub Šiška, Gesangbuch von Žlutice : Warum das Werk des 16. Jahrhunderts die Nazis interessierte (04.10.2014) von Radio Praha/Radio Prague International dar ; URL : https://deutsch.radio.cz/gesangbuch-von-zlutice-warum-das-werk-des-16-jahrhunderts-dienazis-8281983 [letzter Zugriff : 09.01.2021].
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am »Verschwinden« der Handschrift 1919 und an ihrer »Wiederherstellung« im Jahr 1939 gleichermaßen beteiligten Hugo Liehm, der seine Involvierung 1939 in einer im Selbstverlag publizierten »Kampfschrift« ausbreitete und sich dabei zum mutigen und siegreichen Vorkämpfer sudetendeutscher Kultur und deutschen Volkstums stilisierte, andererseits aus zwei weitaus knapperen »tschechischen« Aufsätzen des von amtlicher tschechoslowakischer Seite als Liehms Gegenspieler damit Befassten Jindřich Čadík. Zweifellos haben beide cum ira et studio verfassten Berichte nachhaltigen Einfluss auf spätere Zusammenfassungen der Geschichte der Handschrift ausgeübt. Doch hat sich Liehms Büchlein trotz seiner offenkundigen Parteilichkeit und (auto-)panegyrischen Intentionalität aufgrund der Ausführlichkeit und des Detailreichtums der Schilderung der Ereignisse in mancher Hinsicht offenbar als attraktivere Folie für jüngere Darstellungen erwiesen. Besonders der von Liehm zur Unterstreichung seines Engagements im »Volkstumskampf« benützte, ganz auf der Linie des militärisch-aggressiven rhetorischen Arsenals der »völkischen Deutschen« in der Tschechoslowakei liegende titelgebende Leitbegriff »Kampf« hat sich als so suggestiv und wirkmächtig erwiesen, dass sogar zwei rezente tschechische Online-Beiträge die Geschichte des Codex unter der Überschrift eines deutsch-tschechischen Kampfes schildern, also der polemischen Argumentation Liehms vielleicht unbewusst folgen11. Der ursprüngliche Plan des Verfassers, für den gegenständlichen Beitrag die beiden im Faktischen weniger kontrastierenden als vielmehr komplementären Erzählungen anhand der einschlägigen Archivalien in deutschen und tschechischen Archiven zu überprüfen, musste bald fallengelassen werden : Weder die zur Verfügung stehende Zeit hätte für die Recherchearbeit ausgereicht, noch hätten die 2020 herrschenden gravierenden Einschränkungen der Reise- und damit der Archivbenützungsmöglichkeiten eine ausgedehnte Studie zugelassen. Die vorliegende Skizze kann auch deshalb nicht den Versuch unternehmen, mit positivistischer Zielsetzung zu erörtern, wie die Sache mit dem Gesangbuch abseits der intentional gefärbten Darstellungen »eigentlich gewesen«. Sie versucht vielmehr skizzenhaft oder schlaglichtartig zu erörtern, wie die Handschrift zum politisch aufgeladenen Requisit der Selbstvergewisserung »(sudeten-) deutschen Volkstums« bzw. tschechischer »Nationalkultur« gleichermaßen wurde. Da die politisch motivierten Aktionen um das Gesangbuch in den Kontext publizistischer »Agitation« verschiedener Akteure eingebettet erscheint waren, lässt sich die Literatur zur Handschrift zwischen 1834 und 1939 auch als Sammlung von Exempla zur »deutsch-österreichisch-tschechischen Konfliktgeschichte« jenes Jahrhunderts12 lesen. 11 S. die beiden Beiträge von Motl, Boj (wie Anm. 10) und Gruberová, Česko-německé boje (wie Anm. 10). 12 Anstelle der ausufernden Literatur zum Thema sei hier nur auf die noch recht rezente monumentale Gesamtdarstellung Arnold Suppan, Hitler – Beneš – Tito. Konflikt, Krieg und Völkermord in Ostmit-
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Konjunkturen einer Dichotomie – »deutsch«-/tschechische Antagonismen in der Liter atur zum Luditzer Gesangbuch Anders als in rezenter Literatur suggeriert13, wurde das Gesangbuch nicht erst 1859 (in tschechischer Sprache) erstmals vorgestellt, sondern bereits 1834 in einem nicht namentlich gezeichneten deutschsprachigen Artikel im ersten Semester des siebenten Jahrgangs der in Prag erscheinenden Zeitschrift »Bohemia, ein Unterhaltungsblatt«. In der Rubrik »Vaterländisches« wurde der Beitrag unter dem Titel »Das Litteratenbuch zu Luditz« verteilt auf die fünf Hefte 16–20 abgedruckt14. Schon im zweiten Absatz des Textes wird die Publikation programmatisch »den Freunden vaterländischer Alterthümer« gewidmet. Diese und ähnliche Junkturen erscheinen bei kunsthistorischen Publikationen des Vormärz geradezu ubiquitär im Kontext einer die komplexe territorial-politische und ethnische Zusammengesetztheit der Habsburgermonarchie Kaiser Ferdinands I. überwölbenden, Vaterlandsliebe durch antiquarische Vaterlandskunde befördernden Gesamtstaatsidee des dynastisch geeinten österreichischen Kaiserstaats15. Die eigentlichen Autoren des Artikels waren offenbar der fürsterzbischöfliche Vikar Johann Hof, der die historischen Bemerkungen beigesteuert, und der Superior der Wallfahrtskirche [Maria] Stock/Skoky (heute Ortsteil von Luditz), P. Paul Frey, der die deutsche Übersetzung der die Handschrift eröffnenden tschechischen Verse in Sapphischen Strophen, die als Akrostichon den Namen des Jan Táborský als Leiter der ausführenden Buchmalerwerkstatt nennen, angefertigt hatte. Die Verfasser waren überzeugt, dass jene »unsre Sprachforscher interessiren dürften, indeß deren Sinn dem bloß deutschen Leser mit der schon einmal gegebenen Erklärung gereicht wird, daß er bei der Schwierigkeit, aus einer kürzeren in eine längere Sprache, in gleich viel Strophen zu übersetzen […] gleichwohl möglichst treu erscheine«. Abgedruckt werden in der Folge in deutscher Übersetzung sowohl die Abrechnung über die Kosten von 1565 auf dem vorderen Spiegelblatt wie die genannten Eröffnungsverse, auch werden der Hauptteil der Handschrift und sein Wappenschmuck recht ausführlich dargestellt. Angesichts der Tatsache, dass zwei katholische Geistliche eine utraquistische Handschrift eingehend beschreiben, überrascht das Fehlen von Eintel- und Südosteuropa (ÖAW, phil.-hist. Kl., Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung, Internationale Geschichte 1/1–3, Wien 2014), Bd. 1, 143–180 und 332–437, 458–535, sowie 2, 775–924 hingewiesen. 13 So etwa der ansonsten gewissenhaft recherchierte Literaturüberblick bei Součková, Žlutický kancionál (wie Anm. 1) 6. 14 Die Zeitschrift ist nicht paginiert. 15 Signifikante Buchtitel lauteten dementsprechend etwa Franz Tschischka, Kunst und Alterthum in dem österreichischen Kaiserstaate (Wien 1836) ; vgl. zur Sache Werner Telesko, Geschichtsraum Österreich. Die Habsburger und ihre Geschichte in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts (Wien– Köln–Weimar 2006).
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lassungen über die häretische Devianz der Auftraggeber. Ebenso verblüfft die Feststellung, dass der Aufbau des Gesangbuchs »ganz wie in einem ordentlichen Missale« gestaltet sei. Zu der von der katholischen Reformationskommission nach 1620 geschwärzten bzw. übermalten Miniatur zum 6. Juli (also zu Jan Hus, fol. 249v, heute restauriert) wird sogar bedauernd vermerkt, sie sei »von späterer Hand mißhandelt«. Noch bemerkenswerter erscheint die Feststellung, die zum Schluss des Artikels überleitet : »Bis auf das obberührte Fest des 6. Julius und einige leise Anspielungen auf das Abendmahl unter beiden Gestalten, ist übrigens des Buches ganzer Inhalt rein katholisch, so rein katholisch, daß die Fürstin Margareth, Witwe eines katholischen Kanzlers in Böhmen, dessen Söhne, Neffen eines katholischen Bischofs, Zöglinge eines eben so rühmlich katholischen Prälaten, zu dessen Anschaffung um so eher beitragen konnten, als damals die Utraquisten den rühmlichen Ausspruch des Konziliums zu Basel für sich hatten«. Erst 1594 seien die Luditzer zum Protestantismus übergetreten, »während ringsum längst alles protestantisch geworden«. Den beiden Geistlichen ging es vor dem Hintergrund ihrer eigenen Zeit und deren konfessionellen Konfliktpunkten sichtlich vor allem darum, ihren Untersuchungsgegenstand als »katholisches« Gesangbuch zu markieren ; eine wie immer geartete »nationale« Bewertung der Handschrift, etwa durch Bezugnahme auf den durchwegs tschechischen Text ist nicht einmal ansatzweise erkennbar. Die im letzten Abschnitt des Artikels beschworenen »National-Alterthümer« sind daher auch (noch) keine »ethnisch« oder »völkisch« definierten, sondern schlicht Bausteine böhmischer und damit »österreichisch-gesamtstaatlicher« Geschichte16.
16 Auf die Tatsache, dass in der Habsburgermonarchie bis wenigstens 1848 oder 1867 »vaterländische« Publizistik und Fachliteratur noch keine »nationalen« Exklusionsstrategien auf der Grundlage sprachlicher Argumentation verfolgten, hat scharfsichtig Gertraud Marinelli-König, Die böhmischen Länder in den Wiener Zeitschriften und Almanachen des Vormärz (1805–1848). Tschechische nationale Wiedergeburt – Kultur- und Landeskunde von Böhmen, Mähren und Schlesien – Kulturelle Beziehungen zu Wien. Teil IV : Religion – Recht – Landeskunde – Politische Ökonomie – Naturwissenschaften und Mathematik (ÖAW, phil.-hist. Kl., Sitzungsberichte 867 = Veröff. zur Literaturwissenschaft des Inst. f. Kulturwissenschaften und Theatergeschichte 32, Wien 2016) XIXf. (mit weiterführender Literatur), hingewiesen. Vgl. auch Suppan, Hitler (wie Anm. 12) 1, 152f. mit Anmerkungen zur ab der Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich intendierten Signalwirkung der tschechischen Sprache in Publizistik und Fachliteratur im Sinne der »Nationalen Wiedergeburt«. Ebd. 154 die bündige Aussage : »Der ›moderne‹ tschechisch-deutsche Nationalitätenkonflikt in den böhmischen Ländern begann erst in den 1840er Jahren«. Zur fortschreitenden Ethnisierung deutsch-tschechischer Identitäten am Beispiel Budweis/České Budějovice Jeremy King, Budweisers Into Czechs and Germans. A Local History of Bohemian Politics, 1848-1948 (Princeton 2002).
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Eine frühe Polemik um das Luditzer Gesangbuch in der Mitte des 19. Jahrhunderts Die meisten jüngeren Beiträge zum Gesangbuch nennen als Erstpublikation des Gesangbuchs einen Aufsatz des produktiven Schriftstellers, Archäologen und Kulturhistorikers sowie Abgeordneten zum Reichstag Johann Erasmus/Jan Erazim Wocel17 in tschechischer Sprache aus dem Jahr 1859. Anscheinend wenige Monate früher publizierten die Wiener Mitteilungen der k. k. Central-Commisson zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale, der zentralen Denkmalbehörde der Habsburgermonarchie, der dieser als Konservator für Prag angehörte, jedoch einen deutschsprachigen Aufsatz desselben Autors (hier mit seiner deutschen Namensvariante Johann Erasmus Wocel firmierend), in dem das Luditzer Gesangbuch lediglich stichwortartig in Bezug zu dem aus derselben Prager Werkstatt stammenden Teplitzer Gesangbuch von 1560 gesetzt wird18. Tatsächlich verweist Wocel hier jedoch ebenso wie in dem tschechischen Aufsatz desselben Jahrs auf seinen bereits 1852 in den Sitzungsberichten der phil.-hist. Classe der k. Akademie der Wissenschaften in Wien erschienenen Aufsatz zu den Miniaturen böhmischer Gesangbücher19. Wocel, korrespondierendes Mitglied der Wiener Akademie, hatte der Januar-Sitzung der Klasse 1852 seinen Bericht über die in den Ferienmonaten 1851 mit Mitteln des k. k. Unterrichts-Ministeriums absolvierte kunst-archäo17 In den von mir eingesehenen Publikationen schreibt sich Wocel (Kuttenberg/Kutná Hora 1802–1871 Prag) durchwegs so ; die Schreibweise Vocel ist ahistorisch modernisiert. S. zu ihm v. a. Karel Sklenář, Jan Erazim Vocel. Zakladatel české archeologie [ Johann Erasmus Wocel – Begründer der tschechischen Archäologie] (Odkazy pokrokových osobností naší minulosti 61, Praha 1981), jüngst knapp Lubomír Slavíček, Art. Vojtíšek, Václav, in : Slovník historiků umění, výtvarných kritiků, teoretiků a publicistů v českých zemích a jejich spolupracovníků z příbuzných oborů (asi 1800–2008) [Handbuch der Kunsthistoriker, Kunstkritiker, Kunsttheoretiker und Kunstpublizisten in den böhmischen Ländern und ihrer Mitarbeiter aus verwandten Fächern (ca. 1800–2008)], hg. v. dems. (Praha 2016) Bd. 2, 1623f.; Václav Petrbok, Vocel (Wocel), Jan Erazim ( Johann Erasmus) (1802–1871), Historiker, Archäologe und Schriftsteller, in : Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950. Bd. 15 (Wien 2017) 308f.; der tschechische Wikipedia-Artikel bezeichnet ihn wohl durchaus zutreffend auch als Proponenten der Nationalen Erweckung/národní buditel, s. URL : https://cs.wikipedia.org/wiki/Jan_Erazim_Vocel [letzter Zugriff : 09.01.2021]. 18 Johann Erasmus Wocel, Bericht über die im Jahre 1858 unternommene kunstarchäologische Reise im westlichen Böhmen, in : Mittheilungen der kaiserl. königl. Central-Commisson zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale 4 (1859) 96–99, 135–137, 158–163 und 212–218, hier 97 : »Die richtige Zeichnung und meisterhafte, ja bewundernswerthe Ausführung dieses Bildes sprechen dafür, dass dasselbe nicht von dem Maler der übrigen Miniaturen des Buches, sondern von der Hand eines viel tüchtigeren Künstlers, wahrscheinlich des Fabianus Polirar, des Urhebers der herrlichen Miniaturen des Luditzer Cancionals, ausgeführt wurde«. 19 Johann Erasmus Wocel, Bericht über die im August und September 1851 unternommene kunst-archäologische Bereisung Böhmens, in : Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Classe 8 (1852) 4–24.
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logische Bereisung Böhmens vorgelegt, der auch eine knappe Vorstellung des damals wohl schon längere Zeit »im Locale des Luditzer Stadtrathes« aufbewahrten Luditzer Gesangbuchs als qualitativ höchstrangiges Meisterwerk der Buchmalerei bietet20. Der Ausblick am Ende des Aufsatzes ist noch ganz in die Koordinaten einer regional sammelnden, aber gesamtstaatlich aufgefassten vormärzlichen Kunstgeschichtsschreibung des »österreichischen Kaiserstaates« einzuordnen, die keinen Wert legt auf die Betonung nationaler »czechischer« Eigenständigkeit, vielmehr sich als Mosaikstein jenes größeren gesamtstaatlichen Bildes darstellt : »Ein Verzeichniss und eine Sichtung der einheimischen Kunstdenkmale ist vor allem nothwendig, wenn die Kenntniss und das Studium der vaterländischen Kunst- und Kirchenalterthümer einen gedeihlichen Anfang in Oesterreich nehmen soll […] Schlüsslich bemerke ich, dass der österreichische Kaiserstaat in der Mannigfaltigkeit seiner nationalen Elemente eine überreiche Fülle an alten Kunstdenkmalen bewahrt, in welchen das edelste Vermächtniss der Vergangenheit ruht. Die Erforschung derselben ist eine schöne, dankenswerthe Aufgabe, die in unserer Zeit um so würdiger erscheint, weil der Nationalgeist der Völker in einer solchen Würdigung des theuren Nachlasses der Ahnen eine edle, den Kunstsinn wie auch das humane und religiöse Gefühl anregende Befriedigung findet«21. Schon hier formuliert Wocel auch, dass die Miniaturen der böhmischen Gesangbücher der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, besonders jene des Luditzer Codex, gerade in der Amalgamierung und Rezeption italienischer und niederländisch-deutscher Formen eine genuin böhmische Prägung angenommen hätten22. Auf die Tatsache, dass das genannte und ein zweites Teplitzer Gesangbuch von 1566 durchwegs in tschechischer Sprache abgefasst sind, nimmt Wocel in seinem deutschsprachigen Beitrag von 1859 nur insofern Bezug, als er sich bemüßigt fühlt, seinen Leser_innen zu erklären, dass »zu jener Zeit die böhmische Sprache vorwaltete«. Auf den gleichzeitig in Druckvorbereitung befindlichen tschechischsprachigen Aufsatz wurde noch in dem bereits genannten Band der Wiener Mitteilungen in einer redaktionellen Notiz vorverwiesen23. Wocel, so heißt es darin, stelle klar, dass die künstlerisch herausragenden Werke der böhmischen Buchmalerei des 16. Jahrhunderts tatsächlich »durch beigefügte Inschriften, Wappen und Monogramme als Werke böh20 Ebd. 14f.: »Das Luditzer Cantionale gehört nach meiner Ueberzeugung in die erste Reihe der Kunstschätze in Böhmen, welche durch ein glückliches Geschick aus den Stürmen der Vergangenheit gerettet wurden«. 21 Ebd. 23f. 22 Ebd. 24 : »[…] eben daselbst erblickt man Gebilde, die einen eigenthümlichen nationalen Typus haben«. 23 NN., Archäologische Notiz, in : Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Classe 8 (1852) 199f. Daraus erhellt, dass Wocels avisierter tschechischsprachiger Aufsatz ursprünglich ein am 11. April 1859 vor der historischen Section der königlich-böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften gehaltener Vortrag gewesen war.
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mischer Künstler beglaubigt werden […] Als der bedeutendste böhmische Miniaturist der zweiten Periode wird Fabian Pulér (Pulir, Puliar) von Prag bezeichnet […]. Vor allem sind es die herrlichen Miniaturen des Ludicer Graduals, welche dem letztgenannten Meister eine Ehrenstelle in der Reihe der vorzüglichsten Miniaturisten des XVI. Jahrh. anweisen«. Wocel weise nach, dass die böhmische Buchmalerei des 16. Jahrhunderts nach einem durch die hussitische Ära herbeigeführten Bruch mit den spätgotischen Traditionen in der Anverwandlung »der ausländischen Kunsttechnik und Richtung«, und zwar gleichermaßen von niederländisch-oberdeutschen wie italienischen Vorlagen eine neue Höhe gefunden hätte. »Neben diesen Motiven, welche bezeugen, dass die böhmischen Künstler jener Zeit mit den Leistungen des Auslandes vertraut waren, gewahrt man aber in unseren Miniaturen Darstellungen, welche durchaus eigenthümlich sind, wie denn aus der gesammten Behandlungsweise dieser Malereien hervorgeht, dass unsere Künstler jene fremden Elemente auf individuelle Weise benützt und wesentlich modificirt hatten«. Wocels ausführlicherer tschechischer Aufsatz desselben Erscheinungsjahrs 185924 verfolgt nun tatsächlich genau dieses Programm : zu demonstrieren, dass auch die böhmische Buchmalerei des 16. Jahrhunderts zu einer, wenn auch auf der synkretistischen Amalgamierung »fremder« künstlerischer Einflüsse beruhenden, so doch im Resultat eigenständigen und genuin »nationalen« stilistischen Ausdrucksweise gefunden habe. Diese im Grunde apologetisch fundierte Argumentation gründete sich einerseits auf Wocels eigenes Buch von 1845, Grundzüge der böhmischen Altertumskunde25, in dem dieser ausdrücklich den Plan verfolgt hatte, analog zu den Bestrebungen der sich verdichtenden »nationalen« Kunstgeschichtsschreibung in den deutschsprachigen und skandinavischen Ländern, England und Frankreich, und beflügelt von den damals aktuellen Publikationen František Palackýs, eine umfassende und auf erstaunlich reflektierter Basis konservatorischer Bestrebungen stehende Darstellung autochthoner böhmischer bzw. »czechischer« Kunstübung der Vormoderne zu geben. Wocel, nach dem Titelblatt des Buchs Sekretär des archäologischen Museums-Komitees, außerordentliches Mitglied der kgl. böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften und Redakteur der böhmischen Zeitschrift des vaterländischen Museums, berief sich dabei explizit auf die Satzungen des 1844 gegründeten archäologischen Comités am Nationalmuseums, deren §2 die von jenem Gremium zu sammelnden, zu erhaltenden und bekanntzumachenden »interessante[n] Alterthümer Böhmens« definiert als »alle Geistes- und Kunstproducte, welche von der ältesten Zeit bis zur vorletzten Generation herab von oder 24 J(an) Er(azim) Wocel, Miniatury české XVI. století [Böhmische Miniaturen des 16. Jahrhunderts], in : Památky archaelogické a místopisné 3 (1859) 241–257. 25 Joh(ann) Erasmus Wocel, Grundzüge der böhmischen Altertumskunde (Prag 1845).
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für Böhmen im weitesten Sinne gefertigt worden sind« bzw. besonders nach §3 »mit wichtigen Ereignissen der vaterländischen Geschichte in ursprünglicher Verbindung stehen«26. Im letzten Absatz des im September 1844 in Prag gezeichneten Vorworts betonte Wocel schließlich noch eindeutig, er bekenne sich »offen zu der Ansicht, daß böhmische Alterthümer bloß von böhmisch-nationalem Standpuncte richtig aufgefaßt und geschildert werden können ; von da aus erblickt man dieselben in ihrem wahren, natürlichen Lichte, während die fremde Fackelbeleuchtung zu grelle, unheimliche Streiflichter wirft und zu dunkle Schlagschatten verursacht«. Die diesem durchaus »ethnisch«27 exkludierenden und segregierenden Programm zugrundeliegende Überzeugung, im konkreten materiellen Kunstobjekt die immanente Manifestation einer kollektivistischen »nationalen« Kultur – oder auch eines Volkscharakters – wiederfinden zu können28, entspricht durchaus der intellektuellen Verve der »czechisch«-slawischen Bewegung der »Nationalen Wiedergeburt« des Vormärz. Den Höhepunkt der Entwicklung böhmischer Malerei findet Wocel wenig überraschend in der Periode Karls IV., die ihm als Climax autochthoner Bildender Kunst gilt, wogegen das 15. und 16. Jahrhundert kaum eine Rolle spielen. Das Interesse Wocels an der späteren böhmischen Buchmalerei erwachte erst später, bezeichnenderweise eben zwischen dem Erscheinen seines Buchs von 1845 und dem Aufsatz von 1859, und zwar in unmittelbarer Reaktion auf den nazarenischen Maler und Kunsthistoriker Johann David Passavant (Frankfurt/Main 1787– 1861 ebd.), seit 1840 Inspektor des Städelschen Kunstinstituts in seiner Heimatstadt29, der 1856 im ersten Band der Zeitschrift für Christliche Kunst und Archäologie einen Aufsatz »Ueber die mittelalterliche Kunst in Böhmen und Mähren« publiziert hatte30. Dieser Artikel besaß freilich seinerseits eine programmatische Ausrichtung, die in Einklang mit den Zielen des Periodikums stand, die dessen Herausgeber Ferdinand von Quast und Heinrich Otte im Vorwort des ersten Bands klar formuliert hatten : Gewürdigt werden sollten »die Leistungen des christlich-germanischen Mittelalters auf den verschiedensten Gebieten der Kunst und Wissenschaft« durch das »neubelebte christ26 Wocel, Grundzüge (wie Anm. 25) IX. 27 Ebd. 3, im Kontext der Einführung zu den ältesten Gräberfeldern der explizite Verweis, dass »in unserem Vaterlande […] die Todtenreste mehrer [!], von einander verschiedener Volksstämme ruhen« und die Postulierung einer schon ursprünglich slawischen Urbevölkerung Böhmens vor Einwanderung der Kelten. 28 Ebd. 136 : »Ein Volk besteht zwar nach Außen hin aus einzelnen Individuen, bildet aber in Beziehung auf die Resultate seiner geistigen Leistung ein untrennbares Wesen«. 29 Zu ihm s. knapp Ekkehard Mai, Passavant, Johann David, in : Neue Deutsche Biographie 20 (Berlin 2001) 89-91 ; Nina Struckmeyer, Passavant, Johann David, in : Pariser Lehrjahre. Ein Lexikon zur Ausbildung deutscher Maler in der französischen Hauptstadt. Bd. 1. 1793–1843, hg. v. Bénédicte Savoy, France Nerlich (Berlin–Boston 2013) 222–225. 30 J. D. Passavant, Ueber die mittelalterliche Kunst in Böhmen und Mähren, in : Zeitschrift für christliche Archäologie und Kunst 1 (1856) 145–165, 193–213, 241–249 sowie Nachschrift (192 und 234).
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liche wie vaterländische Bewustsein«. Gelte es angesichts des weiten zu überblickenden Gebiets, »vorzugsweise unser deutsches Vaterland im Auge zu behalten«, so »dürfen wir die anderen Länder nicht ausserhalb unserer Betrachtung lassen, namentlich wenn dorthin die Wurzeln von Deutschland aus hinübergreifen [kursiv hervorgehoben durch mich, AZ]«31. In diesem Sinne verfolgte Passavants Aufsatz sehr klar den »nationalen« roten Faden einer deutschen kulturellen Hegemonie in Böhmen. Zu Beginn erklärte er daher recht unmittelbar, durch Palackýs Geschichte von Böhmen und die jener verpflichteten frühen kunsthistorischen Arbeiten zur böhmischen Kunstgeschichte Anderer motiviert 1849 zu einer Reise zu den Kunstdenkmälern Böhmens und Mährens aufgebrochen zu sein32. Aus dem gesamten Beitrag sei hier nur auf die Abschnitte »Ueber die Malerkunst und Mähren« (163–165) und »Czechische Miniaturen vom X. bis zu Ende des XIV. Jahrhunderts« (193–213) sowie die unüberschriebenen Einlassungen zum 15. und 16. Jahrhundert (241–248) eingegangen. Passavant konzediert lediglich für die ersten drei Viertel des 14. Jahrhunderts einen genuin böhmischen Malstil, der dann jedoch gleich unter deutschen Einfluss geraten sei33. »[B]ei der völligen Abwesenheit irgend eines Gemäldes jener Zeit [um 1500], welches einen national-böhmischen Typus hätte, ist jedoch anzunehmen, dass damals die den Böhmen eigentümliche Kunst erloschen war und sich der deutschen völlig angeschlossen hatte«34. Passavants knappe Untersuchung mündet in das Fazit : »Wahrhaft national erscheint in Böhmen […] die Malerkunst vom XI. bis XV. Jahrhundert. […] Wie sehr jedoch die deutsche Kunst auch neben der der Czechen in Böhmen geblüht, zeigen nicht nur einige der gleichzeitigen Werke deutscher Maler, sondern geht noch entschiedener aus dem Umstande hervor, dass die Satzungen der Künstlerzunft in Prag ursprünglich und noch lange Zeit hindurch nur in deutscher Sprache abgefasst waren. Endlich haben wir gesehn, wie nach dem Tode Karls IV. durch die von Wenzel verursachten Verwirrungen und durch die Verwüstungen im Hussitenkrieg die Kunst in Böhmen in den traurigsten Verfall gerieth und später nur durch den Einfluss von Deutschland aus sich wieder in etwas erheben konnte ; unter Rudolph II. selbst fast ausschliesslich durch ausländische Künstler ausgeübt wurde. Eine eigentliche czechische Kunstblüthe kam nicht mehr in Aufnahme, und 31 Ebd. unpag. Vorwort. 32 Passavant, Kunst (wie Anm. 30) 145 : »Bei dem vor Jahren lebhaft erwachten Nationalgefühl der Czechen wendeten sich dieselben auch mit erneutem Eifer dem Studium ihrer Alterthümer zu und fanden Spuren einer ihnen eigenthümlichen Kunstblüthe, die sie enthusiastisch begrüssten. Von diesem Rufe gelockt, besuchte ich im Jahre 1849 Böhmen und Mähren, um durch Selbstanschauung und Forschungen eine sichere Kenntniss hierüber zu erlangen«. 33 Ebd. 164f.: »Erst zu Anfang des XIV. Jahrhunderts begegnen wir einer sich national bildenden Kunstentwickelung der Malerei, die bis in das dritte Viertheil dieses Zeitraums andauerte, dann aber allmählich deutschem Einfluss unterlag«. 34 Ebd. 246.
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konnte es um so weniger, als das politische Verhältniss des Landes kein unabhängiges, nationales Leben mehr begünstigte«35. Es bedarf keiner Erklärung, dass dieses Verdikt den Widerspruch Wocels wecken musste. Gleich in Anm. 1 seines tschechischsprachigen Aufsatzes nahm Wocel 1859 daher auf Passavant Bezug, dessen programmatische Polemik er ebenso paradigmatisch zu widerlegen beabsichtigte. Vielleicht fühlte sich Wocel auch ganz besonders und persönlich zu einer Replik auf Passavants Aufsatz herausgefordert, weil sich dieser schon in der zweiten Anmerkung36 auf Wocels Buch von 1845 berufen hatte – die erste Anmerkung hatte eben Palackýs Geschichte von Böhmen gegolten37. Gleich eingangs stellte nun Wocel fest, dass Böhmen sich mit der Zahl seiner erhaltenen spätgotischen illuminierten Handschriften auch im europäischen Vergleich nicht zu verstecken brauche. Zwar würden gerade die herausragendsten Werke von ausländischen Forschern meist deutschen Künstlern zugeschrieben38, doch ließen sich nicht wenige dieser Werke durch Künstlersignaturen, Beischriften und Wappen eben böhmischen Künstlern zuschreiben. Die Beschreibung des uns hier interessierenden Luditzer Gesangbuchs nimmt schließlich S. 250–254 des Textes ein. Die durchwegs narrativ-nüchterne Beschreibung der Paratexte des Codex wird durch eine ausführliche Beschreibung der Miniaturen ergänzt, denen das Hauptinteresse Wocels gilt. In der Synthese seiner Denkmäler unterstreicht Wocel zunächst nochmals, dass die Kunstsammlungen anderer europäischer Staaten kaum ähnlich reich ausgestattete Gesangbücher aufwiesen39, und dass – wie oben schon mehrfach angedeutet – die böhmische Buchmalerei bis gegen die Mitte des 16. Jahrhunderts Einflüsse aus den Niederlanden und Deutschland ebenso wie aus Italien rezipiert, dann aber wieder zu einer eigenen Formensprache gefunden hätte. Dem Luditzer Gesangbuch kommt bei dieser Argumentation eine wichtige Rolle zu, folgerichtig gilt es Wocel daher ganz klar als »national« böhmisches (oder im Sinne der deutschen Semantik : tschechisches) Denkmal. Nach dem literarischen Diskurs zwischen Passavant und Wocel beschränkte sich die Literatur zum Luditzer Gesangbuch nach meinen Kenntnisstand für mehrere Jahrzehnte auf eher nüchterne und, wenn ich richtig sehe, durchwegs in tschechischer Sprache ab35 Ebd. 249. 36 Ebd. 146 (Anmerkungen nicht beziffert). 37 Ebd. 145 (Anmerkungen nicht beziffert). 38 Ebd. 242 : »Že i umění maliřské tou měrou se tenkráte ve vlastí naší pěstovalo, s jistotou tvrditi můžeme, poněvadž se dosti hojný počet památek tohoto druhu až do naší doby zachoval ; […] Nicméně podotknouti třeba, že znamenitější z těchto plodů malířského umění od znatelů cizokrajních obyčejně německým umělcům přičitány bývají«. 39 Ebd. 255.
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gefasste Darstellungen im Kontext der Erforschung der Prager Buchmalerei des 16. Jahrhunderts und insbesondere der Werkstatt des Jan Táborský und des Werks des in ihr tätigen Buchmalers Fabián Puléř (Polirář)40. Dieser Befund erstaunt insoferne, als sich der Anfang einer (meta-)wissenschaftlichen Diskussion über die »ethnische« Zuordnung der Handschrift etwa über das Medium der Sprache ihrer Texte vor oder um 1900 nicht greifen lässt. Die »deutschböhmische« und »sudetendeutsche« Geschichtsforschung des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat bekanntlich nicht wenig Aufwand betrieben, den Zeitpunkt des ökonomischen und kulturellen Dominierens der deutschsprachigen Bevölkerung in den westböhmischen Städten über die Epoche nach der Schlacht vom Weißen Berg 1620 und der sich ihr anschließenden, traditionell als zweite Kolonisation/druhá kolonizace bezeichneten Veränderungsprozesse in der böhmischen Bevölkerung hinaus immer weiter in das Spätmittelalter zurück zu versetzen. In diesem Kontext lässt sich ein knapper Aufsatz aus dem Jahr 1899 zu Biographie und Werk des Fabian Polierer41 und dessen Gesangbuch für den Literatenchor von Aussig/Ústí nad Labem lesen, der im Übrigen das Luditzer Manuskript nur ganz nebenbei nennt42. Carl Jahnel, der an sich über lateinische Gesangbücher und speziell jenes der Aussiger Literatenbruderschaft schrieb, fühlte sich dennoch bemüßigt, in Zusammenhang mit den Lateinkenntnissen der Sänger einen methodisch freilich unhaltbaren Schluss zur »ethnischen« Zusammensetzung der Aussiger Bevölkerung im frühen 16. Jahrhundert zu ziehen : »In Aussig hat es sicher nicht an Männern gefehlt, die der lateinischen Sprache soweit mächtig waren, um die vorgeschriebenen Gesänge im rituellen Idiom zum Vortrag zu bringen. Zweifellos bot die Schule der Stadt den Knaben Gelegenheit, sich in den Anfangsgründen der lateinischen Sprache zu unterrichten, um von der Vaterstadt aus die Universität beziehen zu können. […] Da es als einer der Beweise gegen die oft aufgestellte Behauptung, Aussig sei in der Zeit von etwa 1490 bis 1560 gänzlich tschechisirt gewesen, gelten darf, seien hier die Namen der Söhne der Stadt angeführt, welche im 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts an zwei deutschen Universitäten sich immatrikulieren ließen [auf den Folgeseiten ist eine solche Liste abgedruckt, Anm. AZ]. Welcher andere Grund als ihr Deutschthum hätte die doch sicher auf Broderwerb angewiesenen Bürgersöhne veranlassen sollen, eine deutsche Universität zu beziehen, wenn sie die da erlangte Bildung nicht einmal in ihrer Va40 Ich beziehe mich hier im Wesentlichen auf die Literaturverzeichnisse der in Anm. 1 genannten Publikatio nen. 41 Es erübrigt sich auszuführen, dass – soferne nicht die den Quellen entnommenen Schreibungen Puler, Pulir, Polirar etc. verwendet werden – tschechischsprachige Publikationen den Künstlernamen meist normalisiert als »Puléř«, seltener als Polirář«, deutschsprachige als »Polierer« wiedergeben. 42 C[arl] Jahnel, Einige Nachrichten über den Maler Fabian Polierer und über den Literatenchor zu Aussig, in : Mittheilungen des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen 37 (1899) 75–90.
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terstadt hätten voll ausnützen können ?«43. Ähnlich fragwürdige Gleichungen wie diese (Besuch der Lateinschule als Indiz für bildungsaffine = deutsche Bevölkerung ; Studium Einzelner an einer deutschen Universität als Beleg für deutsche Mehrheitsbevölkerung in den Herkunftsorten der Studierenden) stellten für nicht wenige »deutsche« Autoren geschichtswissenschaftlicher Publikationen im Kontext des »Kulturkampfs« zwar durchaus probate Mittel zum »Nachweis« ihrer Postulate dar, doch schien möglicherweise ein einschlägiger Versuch, das Luditzer Gesangbuch zum Denkmal »deutschböhmischer« und »sudetendeutscher« Kultur zu machen, aus einem faktischen Grund von Anfang an problematisch : Die Tatsache, dass in der ursprünglich 494 Blatt zählenden Handschrift überhaupt kein deutscher Text, sondern (mit Ausnahme der Abrechnung über den Codex aus dem Jahr 1565, die der Luditzer Stadtschreiber Vitus Strassecenus/ Vít Strašecký mit seiner latinisierten Namensform unterzeichnete) ausschließlich tschechischer Text enthalten ist, sollte nach nüchternem Verständnis eigentlich keinen Ansatzpunkt für Spekulationen über den Codex als »deutsches« Kulturdenkmal bieten.
Erstmals »deutsch« – Das Luditzer Gesangbuch auf der Deutschböhmischen Ausstellung R eichenberg 1906 Dessen ungeachtet befand sich das prunkvolle Luditzer Gesangbuch offenbar als Beleg historischen »deutschen« Kunst- und Kulturschaffens in Böhmen 1906 in der monumentalen und in höchstem Maß nationalistisch-»völkisch« aufgeladenen Deutschböhmischen Ausstellung in Reichenberg/Liberec44. Auch wenn in der Vorbereitung dieses kleinen Beitrags nicht zweifelsfrei geklärt werden konnte, in welchem engeren Kontext das Objekt in Reichenberg präsentiert wurde – offenbar als Exponat einer eigenen Musikalienausstellung45 – so darf doch konstatiert werden, dass in jenem Jahr die in der Pra43 Ebd. 86. 44 Diesen wichtigen, in der Literatur zum Codex ansonsten unberücksichtigten Hinweis bietet gleichsam en passant Čadík, O kancionálu žlutickém (wie Anm. 50) 6, freilich nicht ohne sarkastischen Unterton : Wocel habe das Gesangbuch 1852 erstmals in einem deutschsprachigen Aufsatz vorgestellt, »a od té doby nebylo již na ní zapomenuto a před lety dokonce dostalo se jí cti, že paradovala na německé výstavě v Liberci«. 45 Den zeitgenössischen Führer durch die Deutschböhmische Ausstellung Reichenberg 1906 konnte ich nicht einsehen. Allerdings scheint der kurze Katalogtext von F[ranz Theodor] Moissl zum Luditzer Gesangbuch als Nr. 12 im separaten, mir ebensowenig zugänglichen Katalog der Reichenberger Musikalienausstellung 1906 vollständig zitiert zu sein bei Rudolph Procházka, B. Kothe’s Abriss der allgemeinen Musikgeschichte. Achte, auf Grund der neuesten Forschungen vollständig umgearbeitete Aufl. (Leipzig 1909) 126, Anm. 3. Demnach wurde in Reichenberg eine »deutsche« Konnotation der Handschrift mit keinem Wort insinuiert. Es handle sich in den Worten Moissls ganz im Gegenteil um eine Prunkhandschrift aus der Zeit, »nachdem die Stadt längst von den Hussitten [!] zerstört worden
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ger Werkstatt des Jan Taborský entstandene Handschrift mit de facto durchwegs tschechischen Texten in höchststilisierter Bastarda des Schreibers Laurenz/Vavřinec Bílý und opulentem Buchschmuck des aus Aussig/Ústí nad Labem stammenden Malers Fabián Puléř (Polirář)46 erstmals zumindest faktisch und offiziös als »deutschböhmisches« Kunstobjekt gedeutet und pauschal in den Dienst der kulturellen Selbstvergewisserung der »deutschen« Bevölkerungsgruppen Böhmens gestellt wurde47. An dieser Tatsache war und der religiöse Kultus tschechisches Gepräge angenommen hatte«. Es ist mehr als naheliegend anzunehmen, dass Moissl, 1894–1910 als Musiklehrer in Reichenberg tätig, die Handschrift in seiner vorhergehenden Beschäftigung als Unterlehrer in Leitmeritz/Litoměřice und Luditz kennengelernt und sie als Exponat für die Ausstellung vorgeschlagen hatte. Zur Person Moissls s. knapp Lynne Heller, Uwe Harten, Art. Moißl, Familie, in : Oesterreichisches Musiklexikon online : URL : https://www.mu siklexikon.ac.at/ml/musik_M/Moissl_Familie.xml [letzter Zugriff : 09.01.2021]. Dass das Gesangbuch auf der Ausstellung gezeigt wurde, geht im Übrigen auch aus dem Luditz-Buchauer Anzeiger Nr. 3 vom 11.04.1919 hervor (zit. bei Liehm, Geschichte [wie Anm. 60] 18), wonach die Stadt Luditz für den Codex während der Reichenberger Ausstellung (hier fälschlich ins Jahr 1907 gesetzt) von einem ungenannten Interessenten ein Kaufangebot über 100.000 Pfund (!) erhalten hätte. 46 Zur Werkstatt und den Malern vgl. die in Anm. 1 genannte Literatur. 47 Die 1906 aufgelegte Werbebroschüre für die Ausstellung, Reichenberg und die deutschböhmische Ausstellung 1906 (Reichenberg 1906), beschwor wortreich die universale Bedeutung der Deutschen in Böhmen für das Prosperieren von Wirtschaft, Industrie und Kultur und forderte unmissverständlich entsprechend politische Zugeständnisse, s. das Digitalisat unter URL : https://diglib.uibk.ac.at/download/pdf/ 27614?name=Deutschb%C3%B6hmische%20Ausstellung%20Reichenberg%201906 [letzter Zugriff : 09. 01.2021], etwa 16 : »Die Ausstellung soll den sinnfälligen Beweis erbringen, dass das deutsche Volk in Böhmen einer der vornehmsten Träger der wirtschaftlichen Wohlfahrt des Reiches ist und daß es einen verheißungsvollen Weg vor sich hat, wenn ihm Ruhe und Frieden gewährt und wenn ihm von berufener Seite die gebührende Förderung und Unterstützung zuteil wird« oder 17f.: »Die geschichtliche Stellung des Deutschtums in Österreich beruht ja nicht zum geringsten Teile auf jener angesammelten wirtschaftlichen Kraft […] und das ganze politische Problem der deutsch-österreichischen Politik hat sich längst zur Formel verdichtet, dem deutschen Volke Österreichs auch in der Politik und Verwaltung jene führende Stellung zu verschaffen, die seiner wirtschaftlichen Bedeutung für den Staat entspricht. In diesem Sinne möge die Ausstellung allen berufenen Kreisen die Berechtigung der nationalen, wirtschaftlichen und politischen Ansprüche der Deutschen Böhmens dartun«. Nach dieser Broschüre (24) könnte das Luditzer Gesangbuch in der »rückschauende[n] Ausstellung« im Haus der Stadt Reichenberg zu sehen gewesen sein. Besucherinnen und Besucher, so verhieß die Broschüre (4), würden sich übrigens in Reichenberg besonders wohlfühlen »durch die zuvorkommende, rein deutsch gesinnte Bevölkerung«. 2016 wurde in Kooperation zwischen der Regionalgalerie Reichenberg/Oblastní galerie Liberec und dem Nordböhmischen Museum Reichenberg/Severočeské muzeum v Liberci eine Ausstellung organisiert, die sich mit der historischen Schau eingehend und facettenreich auseinandersetzte, vgl. die Begleitpublikation 1906. Německočeská výstva Liberec/Deutschböhmische Ausstellung Reichenberg, hg. v. Anna Habánová (Liberec 2016), darin besonders die Beiträge von Miloslava Melanová und Tomáš Okurka sowie (unter Auswertung der zeitgenössischen Pressereaktionen) ders., Die Deutschböhmische Ausstellung in Reichenberg 1906, in : Die Suche nach dem Zentrum. Wissenschaftliche Institute und Bildungseinrichtungen der Deutschen in Böhmen (1800–1945), hg. v. Kristina Kaiserová, Miroslav Kunštát (Münster–New York 2014) 371–391, der, 378, angibt, dass für die Teilausstellung der »Städte-Ausstellung« die teilnehmenden Gemeinden u. a. aufgerufen worden waren, »historische Gegenstände wie Zunftfah-
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erscheint angesichts der weitgehenden Areligiosität bzw. sogar eines prononcierten Antiklerikalismus in Böhmen, der zumindest die intellektuellen Eliten beider »Nationalitäten« seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gleichermaßen charakterisierte48, zudem kurios, dass ausgerechnet ein für den Gebrauch in der gottesdienstlichen Musizierpraxis bestimmtes Gesangbuch zum Requisit der Leistungsschau »deutschen« Kulturschaffens wurde.
Zur publizistischen Stilisierung des »deutsch-tschechischen K ampfs« um das Luditzer Gesangbuch 1919 und 1938/39 Dass die Handschrift nach der großen Reichenberger Ausstellung in den folgenden knapp 13 Jahren in Luditz selbst in Vergessenheit geraten wäre, und der dortige Bürgermeister zum Zeitpunkt der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik gar nichts von dieser Zimelie im 1910 eingerichteten kleinen, dem Rathaus unmittelbar benachbarten Museum seiner Stadt gewusst hätte, ist schwer vorstellbar. Diese Behauptung stellte allerdings 1919 der Kunsthistoriker, Archäologe und damalige Mitarbeiter sowie spätere Direktor des Westböhmischen Kunstgewerblichen Museums/Západočeské umělecko-průmyslové muzeum in Pilsen, nachmaliger Angehöriger des Widerstands gegen die Nationalsozialisten und zum Tod verurteilter Inhaftierter der Gestapo 1944/45 und unter den Kommunisten 1950 sowie Professor am Institut für Klassische Archäologie der Prager Karls-Universität, Jindřich Čadík49, im Kontext einer knappen Publikation auf, die vordergründig dem Luditzer Gesangbuch gilt, de facto aber nicht nur auf einer Metaebene der Selbstdarstellung Čadíks als Hauptfigur beim Versuch der
nen und -becher sowie wichtige Schriftstücke« als Leihgaben zur Verfügung zu stellen. Allerdings findet sich Luditz nicht unter jenen 15 Städten, die tatsächlich eigene Ausstellungsteile gestalteten (380). Vgl. zum weiteren politischen Kontext der Deutschböhmischen Ausstellung auch ders., »Witness to the Momentous Significance of German Labour in Bohemia”. Exhibitions in the German-Speaking Regions of Bohemia before the First World War, in : Cultures of International Exhibitions 1840–1940. Great Exhibitions in the Margins, hg. v. Marta Filipová (London, New York 2016) 91–112, zu Reichenberg 97–104. Bereits 1996 erschienen ist Miloslava Melanová, Liberecká výstava 1906 [Reichenberger Ausstellung 1906] (Liberec 1996). 48 Vgl. Suppan, Hitler (wie Anm. 12) 175f., der Böhmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ein »nach dem Zensus fast ausschließlich katholisches Land, in dem die Kirche aber weder bei den Deutschen noch bei den Tschechen eine gesellschaftlich und politisch entscheidende Rolle spielte« einschätzt. 49 Vgl. die knappe Skizze von Jan Bouzek, Professor Jindřich Čadík (13.03.1891–01.01.1979 v Plzni) auf der Website des Instituts für Klassische Archäologe der Karls-Universität Prag unter URL : https://ukar. ff.cuni.cz/cs/o-ustavu/historie-ustavu/jindrich-cadik/ [letzter Zugriff : 09.01.2021] ; ausführlich Vít Řehoř, Historik Jindřich Čadík [Der Historiker Jindřich Čadík] (ungedr. Dipl. Pilsen 2012).
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»Rettung« des Gesangbuchs aus »deutschen« Händen 1919 dient50. Nach einem ersten Abschnitt, der die Handschrift und ihren Entstehungskontext auf den literarischen Spuren Wocels vorstellt, leitet der Autor implizit auf die Frage über, welcher Volksgruppe das Gesangbuch zugehöre. Čadík schildert zunächst, dass das böhmische Städtchen Luditz erst nach der Schlacht vom Weißen Berg eine Germanisierung erfahren habe, die einen Wechsel der Sprache von Tschechisch zu Deutsch in der kommunalen Verwaltung im Jahr 1673 und der Pfarrmatriken im Jahr 1684 herbeigeführt hätte51. Der angesichts der tschechischen Sprache des Gesangbuchs eigentlich redundante Hinweis auf die vorherrschenden Sprachverhältnisse in Luditz vor dem späten 17. Jahrhundert dient jedoch wohl auch als mittelbar legitimierende Grundierung für die von Čadík nach eigener Darstellung federführend mitgestalteten Aktionen um das Gesangbuch. Als eine der ersten Maßnahmen der am 28. Oktober konstituierten Republik seien nämlich die Agenden des Denkmalschutzes geregelt worden. Im Zuge dessen sei auch unter Verantwortung des Nationalausschusses/Národní výbor in Pilsen die Bestellung eines Denkmalschutzkomitees erfolgt, dem er selbst zugezogen worden sei. In dieser Funktion sei ihm die Aufgabe zugefallen, der aus Luditz gemeldeten drohenden Verbringung des Luditzer Gesangbuchs außer Landes dringlich entgegenzutreten und dieses sicherzustellen. Unter Hinzuziehung des Juristen, Bürgermeisters von Pilsen und Abgeordneten der Nationalversammlung sowie Kunstliebhabers Dr. Matouš Mandl52 habe er sich mit einer Vollmacht des Pilsener Nationalausschusses versehen und mit Unterstützung von dessen Archivar bzw. Sekretär Svatopluk Maděra zu einem Lokalaugenschein nach Luditz begeben. Dort habe die Kommission feststellen müssen, dass der Codex unter ungeeigneten klimatischen Verhältnissen in den Räumen des ehemaligen Finanzamts [richtig : Bezirksgerichts, Anm. AZ] am Fenster auf einem Tischpult ausgestellt, von jedermann auf Anfrage beim Museumsverwalter einsehbar und dementsprechend in konservatorisch schlechtem Zustand sei. Da bereits die Deckfarbminiaturen in Mitleidenschaft gezogen gewesen seien, habe die Kommission den Abtransport der Handschrift zur Restaurierung beschlossen. Da die städtischen Funktionäre jedoch die Herausgabe verweigert hätten, habe man eine unbenutzte Vitrine zur Aufnahme des Codex adaptiert und bis auf weitere Weisung versiegelt, mit der Aufsicht über das Objekt seien der Bezirkshauptmann Dr. Michael Fremuth und Bürgermeister Josef Nickerl beauf50 Jindřich Čadík, O kancionálu žlutickém [Über das Luditzer Gesangbuch], in : Plzeňsko. List pro národopis a ochranu památek 1/3 (1919) 1–7, hier 5 : »Obec sama o kancionál se nestarala a poslední starosta dokonce ani nevěděl, že něco takového vůbec mají. Jen po dlouhé době návštěva věci znalého badatele vyrušila knihu ze snění o lepší minulosti«. 51 Ebd. 5. 52 Vgl. zu ihm den Wikipedia-Eintrag unter URL : https://cs.wikipedia.org/wiki/Matou%C5%A1_Mandl [letzter Zugriff : 09.01.2021].
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tragt worden. Daraufhin sei die Kommission am 2. April 1919 wieder abgereist. Čadík habe dem Ministerium für Unterricht und Volksbildung persönlich Bericht erstattet und danach die Weisung und Vollmacht erhalten, aus konservatorischen Gründen die Handschrift – unbeschadet der Eigentumsrechte der Gemeinde Luditz – ins Pilsener Kunstgewerbemuseum (also Čadíks Dienststelle) zu überführen. Alle lokalen Verbände und Organisationen seien aufgerufen worden, diese Aktion zu unterstützen. Doch noch vor Durchführung des Transports sei aus Luditz die Nachricht gekommen, dass das wertvolle Objekt in der Nacht vom 4. auf den 5. April gestohlen worden sei. Umgehend sei daher die Dienststelle der Staatspolizei in Pilsen informiert und Unterstützung durch 20 Mann der Sicherheitswache in Pilsen angefordert worden. Am 10. April sei der Autor als Bevollmächtigter zusammen mit Maděra und dem Chef der Pilsener Staatspolizei Dr. Kračmár sowie mehreren Kriminalpolizisten nach Luditz aufgebrochen. Man habe herausgefunden, dass das Gesangbuch spätabends am 4. April von wohl drei Personen aus den Erdgeschoßräumen des Museums, wohl durch das Fenster, entwendet worden sei. Der Diebstahl habe große Wellen geschlagen, da ein einzigartiges nationales Denkmal der Malerei und Literatur, der Musik und Kultur in Luditz, ein Zeugnis echten Tschechentums, aus tschechischen Händen gestohlen worden sei53. Der Verdacht sei Čadík zufolge sofort auf den Gemeindesekretär und den städtischen Sparkassensekretär gefallen, den Čadík explizit als Chauvinisten und unzuverlässige Natur diskreditiert. Da die Handschrift trotz aller Appelle und Unterstützungsaufrufe nicht wieder aufgefunden werden konnte, sei weitere Unterstützung durch die Landesregierung und das Unterrichtsministerium herbeigeholt worden, auch durch Androhung der Besetzung der Stadt durch tschechoslowakisches Militär. Der amtierende Stadtrat wurde suspendiert und die Untersuchung in die Hände einer Kommission des Kreisgerichts in Pilsen gelegt. Als Geiseln wurden mehrere Vertreter der Stadtgemeinde in Pilsen inhaftiert. Dieses Mittel habe schließlich Wirkung gezeigt, denn am dritten Tag nach der Festnahme sei das Gesangbuch in der Nacht zum 6. August in der Nähe des Bahnhofs wieder aufgetaucht. Seinen Bericht schließt Čadík mit dem Appell, die Handschrift sollte gründlich restauriert und künftig an einem sicheren Ort aufbewahrt werden, an dem sie nicht wie bisher nachlässig und geradezu barbarisch untergebracht, sondern geschützt wäre. Es liege zudem, so Čadík, im Interesse der Öffentlichkeit, dass ein kultureller Schatz solcher Bedeutung nicht unzugänglich bleibe, womit er die beschränkte Öffentlichkeit des kleinen Luditzer Museums ansprach. Er sei überzeugt, dass 90 Prozent der tschechoslowakischen Bevölkerung gar nicht wüssten, wo Luditz liege, sodass die im Eigentum aller 53 Čadík, O kancionálu žlutickém (wie Anm. 50) 7 : »Důvodem k činu byla národní zášť, aby snad kniha, vzácná památka malířstvi, písemnictví, hudby a kultury české, výmluvný svědek bývalé ryzí českosti Žlutic nepřišla do rukou Čechů«.
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befindliche Handschrift unter dem Dach eines bedeutenderen Museums wieder die Höhe der Kunst und Kultur der Väter bezeugen sollte54. Man darf wohl unterstellen, dass Čadík als Ort der künftigen Schaustellung das Kunstgewerbemuseum in Pilsen im Auge hatte, an dem er 1917 zunächst eine Stelle als Bibliothekar und Sekretär angetreten hatte, und im Jahr 1919 eine Studie über gotische Bucheinbände in Pilsen publizierte55, und dessen Direktor er 1923 schließlich wurde. Der knappe Aufsatz sollte den Autor nicht nur in staatlichem Auftrag, sondern im höheren Interesse der tschechischen Kulturnation heldenhaft im Einsatz gegen »deutsche« Usurpatoren nationalen tschechischen Kulturguts zeigen. Der Coup hätte freilich noch durch den abschließenden Transfer des Gesangbuchs in das Pilsner Museum gekrönt werden sollen, ein Resultat, das vielleicht auch als Vorleistung für die weitere Karriere des Autors am Museum Bedeutung haben hätte sollen. Der Erhöhung der Bedeutung seiner eigenen Person als Akteur dienten in dem kurzen Aufsatz mehrere (stilistische) Elemente. Zum einen sollte die penible namentliche Nennung aller involvierten Personen der tschechoslowakischen Behörden Čadíks gute Vernetzung demonstrieren und seinem wohl zumindest teilweise nicht ganz uneigennützigen Handeln zusätzliche Offiziosität verleihen, während die punktuelle Verächtlichmachung des »Gegners« die Unmittelbarkeit der geschilderten Ereignisse unterstreichen und die Legitimität der gesamten Aktion weiter untermauern sollte. Als Ausweis der vorgeblichen Objektivität und Unparteilichkeit seiner Schilderung schildert der Autor gerade jene Passagen, die ihn selbst handelnd in den Mittelpunkt stellen, in objektiver Form (also fast durchwegs Čadík in dritter Person). Dass der Hauptzweck der Aktion aus Sicht des Nationalausschusses in Pilsen wohl war, angesichts der damaligen Unsicherheit des Verbleibs der mehrheitlich »deutsch« bevölkerten Teile Westböhmens bei der jungen Tschechoslowakischen Republik das Gesangbuch durch Verbringung nach Pilsen dem Zugriff der lokalen »deutschen« Stadtverwaltung und einer etwaigen Verbringung in das Deutsche Reich oder nach Deutsch-Österreich zu entziehen, wird aus Čadíks Aufsatz aus dem Jahr 1919 eher nur zwischen den Zeilen klar. Geschrieben hat Čadík das Manuskript des Aufsatzes offenbar recht unmittelbar nach dem 6. August und in der Hoffnung, die Handschrift bald in Pilsen entgegennehmen zu können. Der durchaus andersartige Ausgang der Geschichte war für den Autor offenbar keineswegs absehbar. 54 Ebd.: »Kapitola druhá – která není ještě v osudech psána – obírati se bude prací, aby památka byla řádně ošetřena a konservována, a aby z nedůstojného místa, kde si jí vážiti neumí a zacházeji s ní přimo barbarsky, přenesena byla v místa bezpečí a záruky. Jest v zájmu veřejnosti, aby poklad tak ohromného významu nebyl ukryt v místech nepřístupných – jsem přesvědčen, že devět desetin občanů státu neví, kde vůbec Žlutice leží – aby se stal majetkem všech, a aby pod střechou některého předního musea opět hlásal svědectví i o kulturní a umělecké výši našich otců«. 55 Jindřich Čadík, Plzeňské vazby knižní doby gotické [Pilsner Bucheinbände der Gotik] (Plzeň 1919).
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Angesichts der geschilderten Intentionalität von Čadíks Aufsatz überrascht die Tatsache, dass sich dessen Schilderung im rein Faktischen weitestgehend mit der von der persönlichen Position her diametral entgegengesetzten und doch komplementären Darstellung seines »deutschen« Gegenspielers deckt, jener Hugo Liehms56. 1879 in Luditz geboren, im Brotberuf bis 1916 Unternehmer als Teilhaber an der Luditzer Maschinenfabrik57, danach Fabrikant von Klarinettenrohrblättern, war Liehm vor 1919 Führer der Deutschen Nationalpartei in Luditz und Kommandant des Luditzer Schützenkorps (seit 1912) gewesen. Von 1926 bis 1933 fungierte er als Bürgermeister der Stadt. Seine Wiederwahl wurde im letztgenannten Jahr wegen seiner staatsfeindlichen Betätigung für die DNSAP amtlicherseits nicht bestätigt. Ende September des Jahres gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Sudetendeutschen Heimatfront58. Dementsprechend wurde er auch Funktionär der späteren Sudetendeutschen Partei und deren Senator in Prag von 1935–1938, schließlich Mitglied der NSDAP. Lange Jahre hatte er als Mitglied der Gesellschaft für Deutsche Volksbildung in der ČSR sowie Obmann des Gaus Egerland im Bund der Deutschen in Böhmen gewirkt und sich als Funktionär des Deutschen Turnverbands besonders den »völkischen« Turnaktivitäten gewidmet59. Nach kurzer Inhaftierung im Jahr 1945 wanderte Liehm noch im selben Jahr nach Bad Reichenhall aus, wo er sein altes Unternehmen wieder aufnahm. 56 S. zu ihm (Luditz 1879–1958 Bad Reichenhall) in Ermangelung einer Monographie die Daten bei Tobias Weger, »Volkstumskampf« ohne Ende ? Sudetendeutsche Organisationen, 1945–1955 (Die Deutschen und das östliche Europa. Studien und Quellen 2, Frankfurt/Main–Berlin–Bern–Bruxelles–New York–Oxford–Wien 2008) 612. 57 Karl Fleissner, Die Geschichte der Stadt Luditz in chronologischer Darstellung. Nach Quellen und Aufzeichungen bearbeitet und zusammengestellt (Luditz 1936, Nachdruck Eichstätt 1994) 72. 58 Lucie Tvrdková, Žlutice za první republiky [Luditz zur Zeit der Ersten Republik] (ungedr. BachelorArbeit Brno 2006) 25 ; Andreas Luh, Der Deutsche Turnverband in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Vom völkischen Vereinsbetrieb zur volkspolitischen Bewegung (Veröffentlichungen des Collegium Caronlinum 62, München 1988) 210. 59 Tvrdková, Žlutice (wie Anm. 58) 25. Zum enormen Integrations- und »völkischen« Radikalisierungspotential des Deutschen Turnverbands in der Tschechischen Ersten Republik sowie zu dessen Rolle als Kaderschmiede der SdP siehe Luh, Turnverband (wie Anm. 58). Als prominente und präsente Figur der »völkischen« sudetendeutschen Organisationen wurde über Liehms Aktivitäten bisweilen auch in den Wiener Organen der sudetendeutschen Gruppierungen berichtetet, so etwa : Sudentenland. Zeitschrift der sudetendeutschen Freiheitsbewegung, 13 (1932) 10 (Hausdurchsuchung der tschechoslowakischen Polizei bei Liehm in Zusammenhang mit der Verhaftung des Wanderlehrers des Bundes der Deutschen in Böhmen, Sepp Schwarz, wegen staatsfeindlicher Aktivitäten). Liehms Hausdurchsuchung könnte darauf zurückzuführen sein, dass ihm Schwarz seine Funktion als Wanderlehrer zu verdanken gehabt hatte ; dass Liehm »völkisch« gesinnte Angehörige der Jugendbewegungen als Wanderlehrer für den Bund der Deutschen in Böhmen rekrutierte, ist etwa für Otto Zerlik belegt, vgl. den am 16. September 2013 auf der deutschnational-völkischen Plattform menosgada wieder veröffentlichen Nachruf auf Zerlik unter URL : https://menosgada.wordpress.com/2013/09/16/zum-gedenken-an-otto-zerlik/ [letzter Zugriff : 09.01.2021].
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Dieser Hugo Liehm publizierte zu Weihnachten 1939 im Selbstverlag in Luditz ein schmales Bändchen, das schon im syntaktisch nicht ganz kongruenten Titel das Programm der Aufzeichnungen entwirft : »Geschichte und Kampf um das Cantionale von Luditz«60. Im mit der Adresse »Meine Lieben« eröffneten und mit »Heil Hitler« gezeichneten knappen Vorwort gibt der Autor an, »über vielseitiges Verlangen […] einige Erlebnisse, Begebenheiten aus der Kampfzeit, Ereignisse heimat- und familiengeschichtlicher Art schriftlich niederzulegen [… als] Blätter in eng begrenzter Zahl […] für meine Angehörigen, Verwandten, Bekannten, Kameraden und Freunde zur Erinnerung und Anregung zur weiteren Sammlung und Mitarbeit«. Dem eigentlichen Text, der auf S. 9 beginnt, sind als Prunkstücke des Drucks zwei Reproduktionen von Schreiben vorangestellt, die gleich zu Beginn die Bedeutung des in der Folge detailreich ausgebreiteten »Kampfes« Liehms um das Gesangbuch als siegreiches Stück Volkstumskampfs klarstellen sollen : Ein am 27. März 1939 gezeichnetes Schreiben aus dem Büro des Staatsministers und Chefs der Präsidialkanzlei des »Führers und Reichskanzlers«, das Liehm den Dank Hitlers »für die Meldung der Auffindung des Luditzer Cantionale […] übermitteln« sollte (Abb. 3), sowie ein vom 16. Mai 1939 datierendes Schreiben aus dem Büro des Reichsstatthalters im Sudetengau, der Liehm im Namen des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung sowie in seinem eigenen Namen »Dank für die Herbeischaffung des kunstgeschichtlich wertvollen Cantionales der Stadt Luditz« aussprach und dabei »dankbar des großen Verdienstes, das Sie sich bereits vor zwanzig Jahren erworben haben, als es zum ersten Male galt, das Cantionale der Stadt Luditz und ihrem Museum zu erhalten«, gedachte (Abb. 4). Liehm durfte sich also der doppelten höchsten staatlich-amtlichen Anerkennung seiner im Abstand von zwei Jahrzehnten erfolgten Interventionen um das Gesangbuch versichert geben. Auch Liehms Bericht ist wie der Čadíks vordergründig sachlich gehalten (einschließlich der ihn selbst als Akteur vorstellenden Passagen in dritter Person), verwertet aber anders als Čadíks Abriss tatsächlich auch konkret zitierte und in den Text inserierte Archivalien wie die eben genannten und andere amtliche Schreiben, Bescheide und Verordnungen sowie Berichte aus (deutschsprachigen) Tages- und Wochenzeitungen. Ähnlich wie sein tschechischer Widerpart bedient sich auch Liehm punktueller persönlicher Verunglimpfungen des »Gegners« durch negative Charakterzeichnung einzelner handelnder Personen und gibt wie Čadík manche der tschechischen Vor- und Nachnamen (aber keineswegs alle) mutmaßlich bewusst in eingedeutschter Form an. Anders als Čadík fühlt sich Liehm gar nicht bemüßigt, das den eigentlichen Gegenstand der Publikation darstellende Objekt näher vorzustellen. Dessen Beschreibung beschränkt sich auf einen knappen Absatz (»Wie das Cantionale entstand«) am Beginn 60 Hugo Liehm, Geschichte und Kampf um das Cantionale von Luditz [Luditz 1939].
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des Werkchens. Dieser zielt indes nur darauf ab, das Gesangbuch apodiktisch legitimierend als »deutsches« Kunstobjekt zu markieren. Der »Nachweis« dafür besteht im Wesentlichen aus drei Argumentationspunkten : »Das Luditzer ›Cantionale‹ wurde bekanntlich im Jahre 1558 von dem deutschen [! AZ] Maler Fabian Polierer aus Aussig im Auftrage von kunstliebenden Luditzer Bürgern, mit geldlicher Unterstützung deutscher [! AZ] Fürsten, wie derer von Plauen, der Grafen von Salm, der Markgrafen von Brandenburg und der Stadt Luditz geschaffen«61. Da die Tatsache der durchwegs tschechischen Sprache der Handschrift wie schon oben angedeutet kaum eine »deutsche« Kulturzuordnung unterstützte, wurde kurzerhand und ohne Rückhalt in den Quellen der Buchmaler zum »Deutschen« gemacht und unter den zahlreichen Stiftern des Codex wurden nur die »deutschen« Fürsten herausgegriffen, da man die für die Mitte des 16. Jahrhunderts ganz bestimmt nicht als »deutsche« Stadt anzusprechende Gemeinde bestenfalls in der Rückprojektion der lokalen Bevölkerungsverhältnisse von 1919 – nach Ausweis der statistischen Daten deklarierte sich fast die gesamte Einwohnerschaft der Stadt zu Beginn der Ersten Tschechoslowakischen Republik geschlossen als »deutsch«62 – entsprechend apostrophieren konnte. Die an Liehms Vorstellung des Luditzer Gesangbuchs exemplifizierte Tendenz der »deutschen« Publizistik in der Tschechoslowakei, alle in den »deutschböhmischen« bzw. »sudetendeutschen« Gegenden aufbewahrten Kunstschätze und Kulturgüter ungeachtet ihrer historischen Entstehungskontexte schlechthin als »deutsche« Kulturgüter aufzufassen, bildete den Nucleus der späteren Germanisierungspolitik des NS-Regimes auf kulturellem Feld, war nahtlos anschlussfähig zum übergeordneten Fernziel einer Germanisierung der Bevölkerung des späteren Protektorats63 und mündete schließlich konkret in eine detailliert akkordierte nationalsozialistische Raub- (im Jargon der NS-Behörden euphemistisch : Konfiskations-) Kampagne von tschechischen Kunstobjekten und Kulturdenkmälern zwischen 1939 und 194564. Liehms Ansicht, das Luditzer Gesangbuch sei schlichtweg 61 Ebd. 9. 62 Vgl. die aus unterschiedlichen Quellen zusammengestellten Zahlen bei Trvdková, Žlutice (wie Anm. 58) 22f. Demnach hatte der Bezirk Luditz 1921 einen Bevölkerungsanteil von 94,6 % »Deutschen«, 1930 war dieser Anteil auf immer noch beachtliche 92,5 % gesunken. Einer Mobilisierung beinahe der gesamten Stadtbevölkerung unter »nationalen« Vorzeichen boten also die »ethnischen« Verhältnisse einen denkbar günstigen Ausgangspunkt. 63 Vgl. Ralf Gebel, »Heim ins Reich !« Konrad Henlein und der Reichsgau Sudetenland (1938–1945). (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 83, München 22000) 275–351 ; Chad Carl Bryant, Making the Czechs German. Nationality and Nazi Rule in the Protectorate of Bohemia and Moravia, 1939–1945 (Diss. Berkeley 2002). 64 Instruktiv dazu Ondřej Vlk, »Národ žije tak dlouho, jak dlouho žijí jeho kulturní památky«. Konfiskace uměleckých předmětů na území protektorátu Čechy a Morava 1939–1945. [»Ein Volk lebt so lange wie seine Kulturdenkmäler«. Die Konfiskation von Kunstgegenständen auf dem Gebiet des Protektorats
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deshalb ein »deutsches« Kulturdenkmal, weil es eben in einer »deutschen« Stadt aufbewahrt werde, deckte sich wenig überraschend auch vollauf mit den einschlägigen Ansichten Karl Hermann Franks, dessen persönlicher Bekannter sowie Kameradschaftsbund- und SdP-Parteifreund Liehm war. In der Prager Nationalversammlung hatte Frank am 2. Dezember 1936 propagiert, dass »die Kultur und Kunstdenkmäler dieses Staates, mit denen Sie [gemeint ist die tschechoslowakische Regierung] im Auslande Fremdenverkehrspropaganda und politische Propaganda betreiben, deutsche Kunst und deutsche Kulturdenkmäler sind«65. Wenn Liehm daher in seinem Pamphlet die Prager Werkstatt des Jan Táborský apodiktisch als Produktionsstätte »deutscher Maler« versteht, dann ist das im Kontext dieses zeitgenössischen ideologischen Substrats nicht so absurd, wie es heute erscheinen will. Frank postulierte ähnlich wie Liehm ferner am 25. Februar 1937 im Prager Parlament, »daß in Prag, Brünn und in einer ganzen Reihe deutscher Städte […] die heute [! AZ] im čechischen Gebiet liegen, deutsche Kulturdenkmäler vorhanden sind, daß deutsche Baumeister am Hradčin, an der Theinkirche, an einer ganzen Reihe von Baudenkmälern der Gotik, der Renaissance und des Barocks gebaut und gearbeitet haben«66. Das dritte Argument, das Liehms Pamphlet für das »Deutschtum« des Gesangbuchs ins Treffen führt, nämlich »Der Umstand, daß das Buch Texte, zwar in gotischen Lettern, aber den damaligen hussitischen [! AZ] Zeitumständen entsprechend in altslawischer Sprache enthält« reflektiert erstaunlich gut informiert eine im ausgehenden 18. Jahrhundert aufkeimende und bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend lebhaft werdende (meta-)wissenschaftliche Polemik um die »nationale« Signalfunktion gotischer bzw. »deutscher« Schreibschriften, die heute in der Literatur meist unter dem Begriff der Antiqua-/Fraktur-Debatte67 besprochen wird. Nicht erst in den 1930er Jahren galten verknappt ausgedrückt die im deutschen Sprachraum verwendeten, aus dem gotischen Formenpool des Spätmittelalters hervorgegangenen Schreib- und Druckschriften der Neuzeit (im Wesentlichen also Kurrent und Fraktur) als Manifestation von »deutschem« Volkscharakter und Volkstum, ja geradezu als »völkische Kulturäußerung«, während alle anderen europäischen Nationen schon seit dem 16. Jahrhundert auf Formen des humanistischen Schriftbereichs zurückgegriffen hätten68. Diese Böhmen und Mähren] (ungedr. Diss. Praha 2008), auch im Sinne der Beleuchtung der personalen Netzwerke der Akteure. 65 So nach René Küpper, Karl Hermann Frank (1898–1946). Politische Biographie eines sudetendeutschen Nationalsozialisten (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 119, München 2010) 28. 66 Ebd. 67 Vgl. überblicksweise Christina Kilius, Die Antiqua-Fraktur Debatte um 1800 und ihre historische Herleitung (Wiesbaden 1999). 68 Nach wie vor anregend : Peter Rück, Die Sprache der Schrift. Zur Geschichte des Frakturverbots von 1941. Wiederabdruck in : Fachgebiet Historische Hilfswissenschaften. Ausgewählte Aufsätze zum 65.
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Meistererzählung deutschnationaler Schriftgeschichte war in den 1930er Jahren zwar Gemeingut »völkisch« orientierter Publizistik, doch besteht in diesem Fall sogar die konkrete Möglichkeit, dass Liehm in seinen vielfältigen Funktionen bei Kameradschaftsbund, Deutschem Turnverband und Sudetendeutscher Heimatfront bzw. SdP einen einschlägigen Vortrag des vormaligen Ordinarius für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften an der Deutschen Universität Prag und 1939 amtierenden Ordinarius für dieselben Fächer an der Universität Wien sowie Vorstands des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung in Wien, Hans Hirsch69, gehört hatte. Dieser hatte sich in den 1930er Jahren wiederholt zu populärwissenschaftlichen Vorträgen vor den Kadern der sudetendeutschen Jugend- und Volksbildungsorganisationen gewinnen lassen70. Sein 1932 zum Einstand als wirkliches Mitglied der Wiener Akademie der Wissenschaften gehaltener Vortrag »Gotik und Renaissance in der Entwicklung unserer Schrift«71 bediente genau jenes Denkschema und verknüpfte unter Berufung auf eine Auskunft des mit Hirsch befreundeten »völkischen« Historikers Josef Pfitzner den »Abfall der Tschechen von der deutschen Schrift« explizit mit der Bewegung der Nationalen Wiedergeburt (bei Hirsch : »das nationale Bewußtsein der Ostvölker«72). In diesem Sinne konnte Liehm die hochkalligraphische Bastarda des Luditzer Gesangbuchs als »Beweis« für dessen »deutschen« Ursprung gelten. Dieses dritte und letzte Indiz für das »Deutschtum« der Handschrift leitete Liehm in seiner Schrift aber konkret zur Einführung seines Widerparts in den Strang der Geschichte über. Der genannte Umstand, dass das Gesangbuch in tschechischer Sprache abgefasst ist, »veranlaßte am 2. April 1919 den Kustos des Pilsner Museums und Herrn Dr. Cadek [!] aus Pilsen, im Luditzer Museum den Schrank, in welchem das Cantionale aufbewahrt wurde, zu versiegeln und für die eventuelle Beschädigung des Siegels den Bezirkshauptmann, den Bürgermeister und den Museumsverwalter in Luditz verantwortlich zu machen«. Diese Behauptung Liehms überzeugt kaum, denn in seinem Geburtstag von Peter Rück, hg. v. Erika Eisenlohr, Peter Worm (Elementa diplomatica 9, Marburg an der Lahn 2000) 141–158 und ders., Paläographie und Ideologie. Die deutsche Schriftwissenschaft im Fraktur-Antiqua-Streit von 1871–1945. Wiederabdruck ebd. 159–168. 69 Zu ihm s. ausführlich Andreas Zajic, Hans Hirsch (1878–1940). Historiker und Wissenschaftsorganisator zwischen Urkunden- und Volkstumsforschung, in : Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, hg. v. Karel Hruza (Wien–Köln–Weimar 2008) 307–417. 70 Zu einem Vortrag Hirschs vor der Brünner Landständischen Jungmannschaft in Groß-Ullersdorf/Velké Losiny im Herbst 1934 wurden ausdrücklich auch Vertreter des Deutschen Turnverbands eingeladen. Die Veranstaltung wurde offenbar von der noch jungen Sudetendeutschen Heimatfront, zu deren Gründungsmitgliedern Liehm gehörte, ideologisch konzipiert, s. ebd. 357f. 71 Publiziert als Hans Hirsch, Gotik und Renaissance in der Entwicklung unserer Schrift, in : Akademie der Wissenschaften in Wien, Almanach für das Jahr 1932 ( Jahrgang 82, Wien 1932) 335–364. 72 Ebd. 358, Anm. 1.
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Aufsatz von 1919 hatte Čadík das Argument der tschechischen Sprache der Handschrift gar nicht prominent legitimierend ins Treffen geführt. Aus ganz anderem Grund als Čadík, aber in der Sache ähnlich, explizierte auch Liehm nicht, dass die aus seiner Sicht »national« tschechische Pilsener »Partei« der Auseinandersetzung befürchtete, dass das Gesangbuch dem Zugriff der tschechoslowakischen Behörden – im schlimmsten Fall sogar durch Abtransport nach Deutschland – entzogen würde. Für Liehm stellen die Bestrebungen Čadíks und der Behörden genau umgekehrt den Versuch dar, das »deutsche« Gesangbuch der »deutschen« Bevölkerung von Luditz zu entziehen, eine Ansicht, die abseits der ideologisch-nationalen Aufladung in der Sache nicht völlig unberechtigt ist, handelte es sich bei der Handschrift doch unleugbar um ein historisch gesehen in Luditzer Auftrag und durch lokale Finanzierung realisiertes Kunstobjekt. In Liehms Büchlein verdichtet sich das angeblich repressiv-antideutsche »Regime« des Tschechoslowakischen Staates in den Figuren der in Pilsen zu lokalisierenden Widersacher der tschechoslowakischen Behörden unter der »Leitung« Čadíks, die er kollektiv verächtlich als »diese Herren«73 apostrophiert. Aus Liehms Sicht war das Gesangbuch daher Eigentum der Stadt Luditz (freilich einer »deutschen« Stadt Luditz, die es 1558 nicht gegeben hatte), das 1919 »einer widerrechtlichen Enteignung oder Verschleppung« zum Opfer fallen konnte. Liehm, damals Stadtrat, später Bürgermeister von Luditz, beredete daher nach seiner eigenen Darstellung zwei namentlich genannte Mitverschwörer dazu, einen Einbruch in das Museum zu fingieren, während er selbst sich als Schuldiger zu opfern bereit darstellte. Freilich hätte jedermann in Luditz gewusst, dass das Buch nur beiseitegeschafft worden sei, um es dem drohenden Zugriff der »Pilsner« zu entziehen. Aus dem detailreich geschilderten Verlauf der weiteren Ereignisse tritt immer wieder Liehm selbst, als Erster verdächtigt und inhaftiert, als entscheidend handelnde Heldenfigur einer geradezu als Eulenspiegelscher Schwank geschilderten »Gegenwehr« der aufrechten Luditzer Deutschen gegen die aggressiven Pilsener »Tschechen« hervor : »Stadtrat Liehm nimmt den Kampf mit der Pilsner Polizeibehörde auf […] Unerschrocken, hartnäckig und überlegen führt Liehm den Kampf«74. Mit Zunahme der von den tschechoslowakischen Beamten angedrohten Maßnahmen, u. a. militärische Intervention und Abzug aller staatlichen Behörden und Ämter aus der Stadt, gerät der Widerstand in Liehms Bericht immer mehr zum heiligen nationalen Kampf. Liehm stilisiert sich – ziemlich sicher nicht zu Unrecht – zum politischen Agitator und Wortführer der deutschen Bevölkerung : »Liehm erzählt vom 4. März 1919, wo er 7000 Volksgenossen am Luditzer Marktplatz versammelt hatte, er schildert die Empörung der
73 Liehm, Geschichte (wie Anm. 60) 9. 74 Ebd. 9f.
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in ihrem Rechte verletzten Bevölkerung […]«75. Die weiteren Begebnisse decken sich bis zur Schilderung des Wiederauftauchens der Handschrift, das nach seiner Darstellung wiederum Liehm selbst inszeniert hat, mit der Erzählung Čadíks, die bei Liehm jedoch fortgesetzt wird. Am 8. August seien nämlich Landeskonservator Dr. Rudolf »Hönigschmiedt«76 und Architekt Stanislaus Sochor mit einem Erlass des Unterrichtsministeriums vom Vortag nach Luditz gekommen, im Auftrag, das Buch in das Prager Nationalmuseum zu überstellen, wogegen sich die Stadt bzw. der Stadtrat abermals verwehrt hätten. Nach heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Prager Abgesandten und dem Luditzer Stadtrat sei beschlossen worden, eine Abordnung der Stadt (darunter Liehm, der Bürgermeister Rief und der Drogist bzw. Museumsleiter und Stadtchronist Gerhard Eisenkolb) an den Ministerpräsidenten Vlastimil Tusar zu senden. Dort habe man tatsächlich gegen »die Pilsner ›Nebenregierung‹« Unterstützung erhalten und nach wildem Hin und Her schließlich die dauerhafte Rückgabe der Handschrift an die Stadt erwirken können. Bezeichnenderweise wird der Anteil Liehms an den Ereignissen um das Gesangbuch im Jahr 1919 in der offiziösen Geschichte von Luditz aus dem Jahr 1936 in annalistischer Knappheit und sehr viel bescheidener dargestellt : Hier begegnet 75 Ebd. 10. Liehm spielt auf seine Rolle als lokaler Agitator im Zuge der Demonstration der »deutschen« Bevölkerung Böhmens am genannten Tag an, als – zeitgleich zur Eröffnungssitzung der konstituierenden Nationalversammlung Deutsch-Österreichs, nunmehr ohne die früheren Abgeordneten aus Böhmen, eine Angliederung der »sudetendeutschen« Gebiete an das Deutsche Reich oder wenigstens die Republik Deutsch-Österreich gefordert wurde. Die Kundgebungen wurden gewaltsam aufgelöst, insgesamt gab es – bei Vorliegen unterschiedlicher Rechnungen – mehr als 50 Tote, der Tag wurde zum integrierenden »Gedenktag« einer »sudetendeutschen« Einigung hochstilisiert, s. Karl Braun, Der 4. März 1919. Zur Herausbildung sudetendeutscher Identität, in : Bohemia 37 (1996) 353–380 und Tobias Weger, Die Konstruktion einer Gruppe. Der 4. März 1919 als zentraler sudetendeutscher Erinnerungsort der Zwischenkriegsjahre, in : Brücken : Jahrbuch 2006, 63–75 ; ders., Volkstumskampf (wie Anm. 56) 367f. Vgl. zum historischen Umfeld auch den Sammelband Das Jahr 1919 in der Tschechoslowakei und in Ostmitteleuropa. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 24. bis 26. November 1989, hg. v. Hans Lemberg, Peter Heumos (Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum 17, München 1993). 76 Richtig Hönigschmid ; zu ihm (Horowitz/Hořovice 1876–Unterwössen 1967), Jurist, Kunsthistoriker und Germanist, seit 1912 Landeskonservator für die deutschen Landesteile im Königreich Böhmen, 1924 Stellvertreter und 1925 Leiter des Denkmalamts für Böhmen in Prag, Lehrbeauftragter an der Deutschen Technischen Hochschule Prag, 1937 Museumsinspektor für die deutschen Museen in Böhmen und Mährisch-Schlesien, 1938 NSDAP-Mitglied und Beauftragter für Denkmalpflege des Reichsstatthalters für den Sudetengau sowie 1940–1945 Leiter des Denkmalamts in Reichenberg und zugleich Vorsitzender der Kommission für Kunst- und Schrifttumsforschung der Sudetendeutschen Anstalt für Landes- und Volksforschung, s. Vlk, »Národ« (wie Anm. 64) 69–71 und 78 ; K. Erik Franzen, Helena Peřinová (mit Nachträgen und mehrfacher Aktualisierung von Robert Luft), Biogramme der Mitglieder der Historischen Kommission der Sudetenländer im Gründungsjahr 1954. Internet-Ressource des Collegium Carolinum, http://www.collegium-carolinum.de/permalink/biogr/HKS-Gruendungsmitglieder- Biogramme.pdf (Stand: 18.12.2015) [letzter Zugriff: 09.01.2021] hier 20f.
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Liehm lediglich als einer (und keineswegs als der bedeutendste) von mehreren Angehörigen der nach Prag zu Tusar abgesandten Luditzer77. Die anschließend von Liehm geschilderten Ereignisse des Jahres 1939 klingen zunächst nach einer Wiederholung der Geschichte des Jahres 1919 mit umgekehrten Vorzeichen. Am 6. Oktober 1938 habe man den in Luditz einmarschierten deutschen Truppen das Gesangbuch als Prunkstück des Museums zeigen wollen. Dabei wurde »mit Schrecken festgestellt, daß die Museumstüre gewaltsam erbrochen und das Luditzer Kleinod geraubt worden sei«78. Von allem Anfang an fiel nach Liehm der Verdacht auf den »tschechischen« Gefängniswärter »Wenzel Karasek«. Umgehend wurden die unmittelbar zuständigen Behörden informiert, aber auch etwa am 25. 2. 1939 der deutsche Vorsitzende der deutsch-tschechischen Sonderkommission beim Reichsministerium des Inneren, Regierungspräsident Dr. jur. Hermann Bresgen79. Ganz analog zu Čadík illustriert nun Liehm seine ausgezeichneten politischen Kontakte, denn nach den eingeschobenen an ihn ergangenen Schreiben erbaten sich die ihm als ehemalige tschechoslowakische Senatorenkollegen der SdP gut bekannten nunmehrigen Mitglieder des Reichstags bei ihm Hintergrundinformationen über den Verbleib der Handschrift. Liehm schildert nun einlässlich die von ihm persönlich angestellten Ermittlungen, die ihn glauben ließen, der Codex befinde sich im Pilsener Museum bei Čadík. Das vermeintliche Ergebnis ließ Liehm in den Morgenstunden des 26. März 1939 in die Reichskanzlei telegrafieren, wofür ihm das oben erwähnte Dankschreiben Hitlers vom Folgetag zuteil wurde. Erst in den folgenden Tagen habe sich jedoch herausgestellt, dass Čadík die Handschrift zwar zunächst übernommen, bald aber aus Sicherheitsgründen und wegen der Brisanz der Sache nach Prag an das Präsidium des Ministerrats für die Minderheitenangelegenheiten zu Handen des Sektionschefs JuDr. Stašek übergeben hatte. Dieser habe dann Čadík beauftragt, die Handschrift im Interesse zweckmäßigerer Aufbewahrung an das Prager Stadtarchiv, konkret an den für den dortigen Handschriftenbestand zuständigen Archivar und nachmaligen Prager Ordinarius für Historische Hilfswissenschaften, Václav Vojtíšek80 zu übergeben. In Prag und bei Vojtíšek angekommen, habe Liehm das Glückwunschschreiben Hitlers vorgewiesen und versucht, Vojtíšek zur Herausgabe der Hand77 Fleissner, Geschichte (wie Anm. 57) 76. 78 Liehm, Geschichte (wie Anm. 60) 12. 79 Zu ihm und der Tätigkeit der Sonderkommission im Gesamtkontext des Raubs von Kulturgütern aus dem Protektorat Böhmen und Mähren vgl. Vlk, »Národ« (wie Anm. 64) 79f. 80 Zu ihm (Prag 1883–Prag 1974), ab 1935 ao. Professor, ab 1948 o. Professor für Historische Hilfswissenschaften an der Karls-Universität Prag, 1921–1940 und später Archivar am Archiv der Stadt Prag, s. knapp Lubomír Slavíček, Art. Vojtíšek (wie Anm. 17), jetzt ausführlich Pavel Vaško, Professor Václav Vojtíšek. Archivářem od monarchie po socialismus [Professor Václav Vojtíšek. Als Archivar von der Monarchie zum Sozialismus] (Praha 2014), weitere Bausteine zu seiner Biographie (anhand seiner Animositäten mit seinem Archivarskollegen Eduard Šebesta) s. neuerdings bei Jana Konvičná, Eduard Šebesta
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schrift zu bewegen : »Der Stadtarchivar buchstabierte nun am Fernsprecher das Schreiben der Präsidialkanzlei des Führers etwa zwanzigmal an die verschiedensten Stellen in Prag«. Liehm habe daraufhin die Geduld verloren und sich mit Konrad Henlein und Karl Hermann Frank verbinden lassen wollen. Da jedoch beide nicht erreichbar gewesen seien, habe er die Kommandantur von General Johannes Blaskowitz anrufen lassen, der als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe 3 zum 15. März 1939 die Vollzugsgewalt in Böhmen übernommen hatte. Schließlich habe Vojtíšek eingelenkt und die Handschrift ausgehändigt, die am 30. März 1939 wieder dem Bürgermeister von Luditz habe feierlich übergeben werden können. Bezeichnenderweise wurde Liehms literarische Weihnachtsgabe des Jahres 1939 im Mai 1958 nach dem am 28. Januar des Jahres erfolgten Tod des Autors vom Witikobund, dessen Gründungsmitglied und Senior Liehm gewesen war81, und dem Sudetendeutschen Arbeitskreis e. V. neu aufgelegt – wenn auch unter Entfall der Reproduktionen der Dankschreiben der Reichskanzlei und Henleins. Dem knappen vorangestellten »In memoriam Hugo Liehm« galt der Verstorbene als »treuer Diener seines Volkes und stets ein getreuer, guter Kamerad«, man würdigte dessen »selbstloses Wirken« im »wechselvollen Kampfe« um das Luditzer Gesangbuch, das Liehm »wie seinen Augapfel hütete«. »Allein damit bewies er wie sehr ihm bewußt war, daß der Bestand eines Volkes sich nicht nur in den Auseinandersetzungen des Alltags entscheidet, sondern vor
& Václav Vojtíšek. Dva osudy z jednoho archivu [Eduard Šebesta & Václav Vojtíšek. Zwei Schicksale aus einem Archiv], in : Pražský sborník historický 40 (2012) 261–298. 81 S. zu dieser 1947 gegründeten und 1950 vereinsrechtlich organisierten Vereinigung, die in der Nachkriegszeit für eine eindeutig deutschnationale bzw. »völkische« (Re-)Politisierung der Sudetendeutschen Landsmannschaften sorgte, bes. Weger, Volkstumskampf (wie Anm. 56) 186–203, wonach der Bund seinen tatsächlichen »Einfluss weit über den unmittelbaren Mitgliederkreis seiner Organisation« hinaus in »weite Bereiche des institutionellen Lebens« in der BRD erstrecken konnte. Vgl. neuerdings auch den instruktiven Artikel zum Witikobund auf der Website der Rechercheplattform FOIA Research (14.08.2019, letztes Update vom 22.12.2020) unter URL : https://www.foiaresearch.net/organization/ witikobund [letzter Zugriff : 09.01.2021]. Zu den frühesten Angehörigen dieses »elitären Interessenverbandes« (Weger, Volkstumskampf [wie Anm. 56], 202) zählten neben Liehm fast durchwegs NS-Funktionäre. Liehm war schon 1924 wie Konrad Henlein und Karl Hermann Frank Mitglied des vom Wiener Soziologen Othmar Spann beeinflussten Kameradschaftsbunds als Teilgliederung der Sudetendeutschen Jungenschaft geworden, vgl. auch Luh, Turnverband (wie Anm. 58) 246. Zum später bekanntlich konfliktiven Verhältnis Franks und der Mitglieder des Spann-Kreises vgl. Ferdinand Seibt, Unterwegs nach München. Zur Formierung nationalsozialistischer Perspektiven unter den Deutschen in der Tschechoslowakei 1930–1938. Wiederabdruck in : Deutsche, Tschechen, Sudetendeutsche. Analysen und Stellungnahmen zu Geschichte und Gegenwart aus fünf Jahrzehnten von Ferdinand Seibt. Festschrift zu seinem 75. Geburtstag, hg. v. Robert Luft, Christiane Brenner, K. Erik Franten u. a. (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 100, München 2002) 73–90.
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allem in der treulichen Bewegung der Schöpfungen seiner großen Geister«. Das Luditzer Gesangbuch war damit einmal mehr als deutsches Kulturgut vereinnahmt worden. Noch deutlich später nahm abermals Jindřich Čadík – wenige Jahre vor seinem Tod im Jahr 1974 – in einer Rückschau auf die Ereignisse der Jahre 1919 und 1939 Bezug82. Aus der gesicherten politischen Situation der 1970er Jahre in der Tschechoslowakei schien es dem Verfasser nun offenbar angezeigt, die politischen Motive seiner eigenen Interventionen im Jahr 1919 stärker in den Vordergrund zu rücken. Das faktische Gerüst der Erzählung über die Geschehnisse des Jahres 1939 deckt sich mit den Einlassungen Liehms, nur bezeichnet Čadík den Luditzer Tschechen, der das Gesangbuch in Pilsen abgeliefert habe, verkürzt als »Jos. D.«, vielleicht um selbst jetzt die Identität Václav Karáseks nicht preiszugeben83. Im April 1941 (richtig 1939) habe dann auch ihn die Gestapo in Zusammenhang mit dem zeitweiligen Verschwinden des Gesangbuchs gesucht84.
Ein Nationales Kulturdenkmal ohne Vorgeschichte? – Anstelle einer Zusammenfassung So polemisch das Luditzer Gesangbuch 1919 und 1939 zum ambivalenten »nationalen« Kulturdenkmal hochstilisiert wurde, so still ist es in der jüngeren wissenschaftlichen Literatur um diese einst so aufsehenerregende Konfliktgeschichte der Handschrift geworden. In einer rezenten Bachelor-Arbeit zur Geschichte der Stadt Luditz in der Ersten Republik wird die Episode auf lediglich drei Seiten geschildert85. In der jüngeren (meist) kunsthistorisch ausgerichteten Literatur, selbst im Jubiläumsband von 2008, werden die Geschehnisse völlig ausgeblendet. Als positive Interpretation dieser blinden Flecken kann vielleicht festgestellt werden, dass das Potential des Codex als Anknüpfungspunkt nationaler Selbstvergewisserung endgültig ausgeschöpft ist.
82 Jindřich Čadík, Habent sua fata libelli (Žlutický kancionál) [Habent sua fata libelli (Das Luditzer Gesangbuch)], in : Minulostí západočeského kraje 7 (Plzeň 1970) 372–377. 83 Nach Gruberová, Česko-německé boje (wie Anm. 10) und Šiška, Gesangbuch (wie Anm. 10) wurde Václav Karásek von der Gestapo verhaftet und nach ersten Verhören im Prager Pankrác-Gefängnis in ein Konzentrationslager verschleppt. An den Folgen seiner Verletzungen sei er nicht lange nach Kriegsende verstorben. 84 Nach Šiška, Gesangbuch (wie Anm. 10), verbrachte Vojtíšek mehrere Monate in Haft im Prager Pankrác-Gefängnis. 85 Tvrdková, Žlutice (wie Anm. 58) 29–31. Dem fragwürdigen handwerklichen Niveau der gesamten Arbeit entspricht die Tatsache, dass für den gesamten Abschnitt kein einziger Nachweis gebracht wird.
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Auch die einstigen Protagonisten des selbst ausgerufenen »Kampfes« geraten wenigstens in diesem Zusammenhang allmählich außer Gedächtnis. An Jindřich Čadíks Engagement für das Gesangbuch scheint die tschechische Forschung eher mit Desinteresse, vielleicht auch einer gewissen Peinlichkeit angesichts seiner schwer verkennbar opportunistischen Motivation im Jahr 1919 vorbeizusehen. In einer rezenten Pilsener Biographie des Gelehrten86 wird der Episode daher folgerichtig mit keinem Wort gedacht. Überraschenderweise wird die kurze Phase der Verwahrung des Gesangbuchs im Archiv der Stadt Prag im Frühjahr 1939 in einer rezenten wissenschaftlichen Biographie Václav Vojtíšeks durchaus, wenn auch nur nach dürftiger Sekundärliteratur, geschildert87. 1974 hatte noch Marie Šulcová in ihrer Trauerrede auf Vojtíšek diesen zum standhaften tschechischen Helden stilisiert, der sich bis zuletzt den Befehlen Hitlers, Henleins, Franks und Blaskowitz’ zur Herausgabe der Handschrift verweigert habe, schließlich aber gezwungen gewesen sei, dem Feind die uralte böhmisch-tschechische Handschrift ins deutsche Luditz auszuliefern88. Vojtíšek selbst scheint um seine Rolle dabei zeitlebens nicht viel Aufhebens gemacht zu haben ; in der Korrespondenz zwischen ihm und seinem Pilsner Archivarskollegen und Freund Fridolín Macháček wurde die Episode jedenfalls nicht thematisiert89. Man könnte es als Ironie der Geschichte ansehen, dass die 1919 und 1939 von deutschnationalen Eiferern bzw. engagierten Nationalsozialisten erbittert betriebene »Sicherung« der Handschrift vor Ort in Luditz in der Tschechoslowakei des Jahres 1978 obsolet wurde. Seit damals befindet sich der Codex, wie eingangs dargelegt, auf Veranlassung der Prager Zentralbehörden und in Durchführung der 1919 vom Pilsener Národní výbor betriebenen Pläne nicht mehr in Verwahrung jener böhmischen 86 Řehoř, Historik (wie Anm. 49). 87 Vaško, Professor Václav Vojtíšek (wie Anm. 80) 136–138. 88 »A co ten slavný Žlutický kancionál ? To také nic nebylo, skromný pane profesore ? Byl strašný podzim roku 1938 a únosce Václav Karásek graduál před okupanty odvezl ze Žlutic do Plzně. Jenže Plzeň byla v těsné blízkosti demarkační čáry. Marně vedoucí pracovník plzeňského muzea nabízel kancionál různým institucím v Praze, všude se báli zapadočeský klenot přijmout. Jen Vy, pane archiváři hl. města Prahy, jen Vy tak samozřejmě a dokonce načerno. Když byl prozrazen úkryt, ještě jste ho nebojacně hájil, ještě jste si dovolil nasupeným okupantům oponovat, až přímé rozkazy K. H. Franka a generála Blaszkowitze (když se i Hitler dozvěděl) Vás donutily vydat prastarý český a husitský graduál německé Žlutici« ; hier zit. nach Vaško, Professor Václav Vojtíšek (wie Anm. 80) 137f. Von dem mir nicht auffindbaren Zeitungsartikel dürfte sich ein Ausschnitt jedenfalls im Personalakt Vojtíšeks in Archiv Akademie Věd České republiky [Archiv der Tschechischen Akademie der Wissenschaften], Sbírka ČSAV – personální spisy [Bestand Tschechoslowakische Akademie der Wissenschaften – Personalakten], Vaclav Vojtíšek befinden, woher ihn Vaško zitiert. 89 S. Jitka Janečková, Mráz kopřivu nepálí. Život a dílo Fridolína Macháčka a Václava Vojtíška ve vzájemné korespondenci z let 1905–1954 [Frost kratzt Brennesseln nicht. Leben und Werk von Fridolín Macháček und Václav Vojtíšek in der wechselseitigen Korrespondenz aus den Jahren 1905–1954] (Documenta Pragensia. Monographia 31, Praha 2014).
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Stadt, deren Herren und Bewohner seine Anfertigung 1558 beauftragt und bis 1565 auch bezahlt hatten. Die paradoxerweise vielleicht erst durch die polemische Vereinnahmung des Objekts als »deutsches« Kulturerbe ab 1906/19 geförderte Wahrnehmung der Handschrift als Nationales Kulturdenkmal führte eben zur Umsetzung der 1919 schon gewälzten Pläne eines Transfers der Handschrift an einen anderen Ort, allerdings zu einem Zeitpunkt, als längst kein Verlust des Objekts ins Ausland oder Missbrauch durch eine »deutsche« Bevölkerung vor Ort zu befürchten war. Im Jahr 2018 scheint die Möglichkeit einer Rückholung der Handschrift nach Luditz vollends außer Reichweite geraten zu sein, da selbst die Frage nach dem Verwahrort des Faksimile von 1975 – in Karlsbader Museum oder in dessen Luditzer Außenstelle – damals ungeklärt war90. Immerhin sind die Grundzüge der Geschehnisse der Jahre 1919 und 1939 wenigstens auf lokaler Ebene soweit Allgemeingut und geradezu Gegenstand der Folklore im Rahmen regionaler Erinnerungskultur geworden, dass sie 2018 – am Wochenende um den Festtag des Heiligen Wenzel (28. September) – »spielerisch« im Rahmen einer Veranstaltung der lokalen Pfadfinder_innengruppe in einer Art Reenactment wiederholt werden konnten : Die Jugendlichen waren dazu aufgerufen, einen nächtlichen Diebstahl der Handschrift durchzuführen und dabei alle möglichen Widrigkeiten auszustehen91. Außer Streit gestellt ist heute im Sinne Wocels die regionale Einordnung des Buchschmucks. Als der an diesem Beitrag arbeitende Verfasser wenige Wochen vor Manuskriptabschluss einer sehr geschätzten Kollegin, Expertin für Buchmalerei des 16. Jahrhunderts, in einer Kaffeepause kurz die Geschichte der Handschrift skizzierte, interessierte sich diese für die Ausstattung des Codex und versprach, einen geschulten Blick darauf zu werfen. Ihr postwendend mitgeteiltes Urteil lautete knapp und unzweideutig : »Tja, Buchmalerei, Schrift etc. sind tatsächlich so böhmisch wie es nur geht …«92. Dem soll hier nichts mehr hinzugefügt werden.
90 So nach der Luditzer Gemeindezeitschrift : Žlutický zpravodaj 2018/11 (URL : https://www.zlutice.cz/ obcan/zz-rocnik-2018.htm [letzter Zugriff 09.01.2021]), unpag. 91 Ebd. Bericht von Ondřej Fáber, Führer der 44. Gruppe »Sagitta«. 92 Per Mail an den Verfasser vom 17.11.2020. Ich danke R. C. für ein anregendes Gespräch und ihre Einschätzung.
Vaterländisches Altertum, »deutsches« Identifikationsobjekt und tschechisches Nationales Kulturdenkmal
Bildanhang
Abb. 1a und b: Tschechische Polizei sichert den Zugang zum Luditzer Rathaus am 28. Juni 2008 (Foto: 1a Dagmar Hutkayová, 1b Petr Brodský).
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Andreas Hermenegild Zajic Abb. 2: Besucher_innen vor der Vitrine mit dem Luditzer Gesang buch (Foto: Petr Brodský)
Abb. 3: Dankschreiben aus der Präsidialkanzlei des Füh rers und Reichskanzlers an Hugo Liehm vom 27. März 1939 (nach der Reproduktion in Liehm, Geschichte [wie Anm. 60], unpag.).
Abb. 4: Dankschreiben des Reichsministers für Wissen schaft, Erziehung und Volksbildung bzw. des Reichsstatt halters im Sudetengau an Hugo Liehm vom 16. Mai 1939 (nach der Reproduktion in Liehm, Geschichte [wie Anm. 60], unpag.).
Martina Hartmann
Margarete Kühn und die MGH-Materialien im Salzbergwerk von Staßfurt
»Vielleicht ist auch dieser Brief für Dich von Wert«. Mit diesen Worten schickte K arel Hruza mir per Mail das Digitalisat eines Briefes der MGH-Mitarbeiterin Margarete Kühn (1896–1982) vom 12. August 1944, auf den er im Archiv der Monumenta in München gestoßen war. Seit er wusste, dass ich über die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter während des zweiten Weltkrieges arbeite, hat mir Karel Hruza, der sich selbst schon länger mit der Geschichte der MGH in dieser Zeit beschäftigte und mit dem mich nicht zuletzt auch sein Interesse an Heinz Zatschek und der WibaldEdition verbindet, immer wieder interessante Stücke, die er bei seinen Recherchen gefunden hatte, zukommen lassen. Mit dem Namen Staßfurt verbunden ist in der Geschichte der MGH ein Narrativ der Nachkriegszeit, das im Wesentlichen auf Friedrich Baethgen und seinen »Bericht für die Jahre 1943 bis 1948« im Deutschen Archiv für die Erforschung des Mittelalters zurückgeht, nämlich das von der »Staßfurter Katastrophe«, die die Monumenta um »Jahre und Jahrzehnte zurückgeworfen habe, weil die Früchte jahrzehntelanger Arbeit durch »ein von ausländischen Arbeitern gelegtes Schadenfeuer vernichtet« worden seien1. Hintergrund ist, dass Arbeitsmaterialien der MGH sowie Photos von Handschriften und Urkunden aus Berlin evakuiert wurden, als die Bombenangriffe auf die Reichshauptstadt zunahmen und die Bibliothek des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde, wie die MGH damals hießen, samt dem Präsidenten Theodor Mayer (1883–1972) und einigen Mitarbeiterinnen Asyl im fränkischen Pommersfelden fand. Zunächst wurden diese wertvollen Materialien nach Blankenburg im Harz gebracht, was auf die Initiative von Carl Erdmann (1898–1945) zurückging, der dort aufgewachsen war2. Im März 1944 ließ man dann einen Teil dieser Materialien von Blankenburg aus ins Salzbergwerk von Staßfurt schaffen, das ungefähr 60 km entfernt war3. Dorthin hatte auch das Geheime Preußische Staatsarchiv Berlin, das Magdeburger Stadtarchiv 1 Friedrich Baethgen, Bericht für die Jahre 1943–48, in : DA 8 (1951) 1–25, hier 9. 2 Zu Carl Erdmann bereitet Folker Reichert eine Biographie und eine Briefausgabe vor. 3 Dass diese Verlagerung im März 1944 stattfand, geht aus dem Bericht von Margarete Kühn über ihren Besuch in Staßfurt am 28. August 1946 hervor (MGH-Archiv B 719 unpaginiert).
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und das Kaiser Friedrich-Museum in Magdeburg Bestände evakuiert4, weil man eine Aufbewahrung untertage für sicherer hielt als in einem Gebäude, das bombardiert werden konnte. Das sollte sich jedoch als fataler Irrtum erweisen, denn die nach Staßfurt gebrachten Materialien wurden mit einer Ausnahme, von der dieser Beitrag handelt, vernichtet, während die in Blankenburg untergebrachten Bestände den Krieg heil überstanden haben. Hier kann und soll nicht das (verwickelte) Schicksal der ausgelagerten MGH-Materialien nachgezeichnet oder die tatsächlichen Verluste diskutiert werden5, sondern es soll um diejenige gehen, die nicht nur die Evakuierung nach Blankenburg und Staßfurt 1943/44 organisieren und die Transporte begleiten musste, die Verzeichnisse der eingelagerten Bestände anfertigte, und die auch – wie sich aus dem unten edierten Brief ergibt – vor Kriegsende eingelagerte Materialien aus Staßfurt zurück nach Berlin holte und sich nach dem Krieg durch einen erneuten Besuch im Schacht davon überzeugen musste, dass alles verloren war, nämlich Margarete Kühn6. Aus den Beständen des MGH-Archivs lässt sich rekonstruieren, dass ihr erster Besuch in Staßfurt nach der Einlagerung der Materialien im März 1944 am 8. August 1944 stattfand, denn Margarete Kühn bestätigte Walther Greischel (1889–1970), dem Direktor des Kaiser Friedrich-Museums, in einen kurzen Brief vom 1. August, dass sie sich ihm bei seinem Besuch am 8. August anschließen werde und daher am 7. August in Hohenerxleben, einem Dorf unweit von Staßfurt, übernachten wolle, da es von Berlin aus, das gut 200 km entfernt war, nicht möglich sei, am selben Tag anzureisen7. Vier Tage nach ihrem Besuch hat sie dann Theodor Mayer mit dem schon erwähnten, unten edierten Brief Bericht erstattet. Aus einem weiteren Schreiben an den Präsidenten des Reichsinstituts vom 17. Oktober 1944 geht hervor, dass Margarete Kühn am 12. Oktober nochmals in Staßfurt war und bei dieser Gelegenheit ein Verzeichnis der eingelagerten Bestände sowie ein gesondertes Verzeichnis der dort befindlichen Hinkmar-Materialien angefertigt hat8 ; auch in diesem Fall hatte sie ihren Besuch wieder mit Walther Greischel abgestimmt. 4 Vgl. Tobias von Elsner, Alles verbrannt ? Die verlorene Gemäldegalerie des Kaiser Friedrich Museums Magdeburg. Sammlungsverluste durch Kriegseinwirkung und Folgeschäden (Magdeburger Museen 5, Magdeburg 1995) mit einer ausführlichen Beschreibung der Anlage und den Ereignissen ab Kriegsende. 5 Ich bereite dazu eine separate Publikation vor. 6 Vgl. zu ihr Martina Hartmann, »Es musste ein neuer Anfang gemacht werden, im Weltbild und in der Arbeit«. Margarete Kühn (1896–1982) und die Monumenta Germaniae Historica in Berlin, in : DA 75 (2019) 135–161 mit weiterer Literatur. 7 Kühn an Greischel am 1. August 1944 (MGH-Archiv B 547 Bl. 14). 8 Kühn an Mayer am 17. Oktober 1944 (MGH-Archiv B 547 Bl. 12) : »Am 12. Oktober bin ich im Bergwerk Staßfurt gewesen und habe ein Verzeichnis unserer dort lagernden Sachen gemacht, das ich Ihnen beilege. Da die von Herrn Direktor Greischel mir überlassene Lampe nicht länger als anderthalb Stunden
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Einen von ihm für Anfang Dezember geplanten erneuten Besuch in Staßfurt musste Greischel dann jedoch auf Mitte Januar 1945 verschieben. Auch hier hatte er zuvor wieder Margarete Kühn informiert, aber sie musste ihm mitteilen, dass sie ihn diesmal nicht begleiten könne, weil Mitte des Monats Januar Theodor Mayer nach Berlin kommen wollte, um ihr die Materialien, d.h. Photographien des im September 1943 im Hinterland von Neapel verbrannten Originalregisters Kaiser Friedrichs II. zu übergeben, die der MGH-Mitarbeiter Wilhelm Heupel (1914–1943) 1940 hatte machen lassen und die ebenfalls eingelagert werden sollten9, da sie nach dem Verlust des Originals sehr wertvoll geworden waren10. Zu diesem Besuch Mayers in Berlin ist es nicht mehr gekommen, weil er Mitte Januar in Braunau am Inn an einer Tagung des »Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften« teilnahm11 und Ende Januar nach Prag zu Heinz Zatschek fuhr, um dessen Editionsmaterial für das Briefbuch Wibalds von Stablo zu holen12. Nachdem am 3. Februar 1945 der bis dahin schwerste Luftangriff auf Berlin erfolgt war, der die Stadt komplett zerstört hatte, dürfte es für Mayer unmöglich gewesen sein, nochmals in die Reichshauptstadt zu fahren, so dass die wertvollen Photos des Friedrich-Registers den Krieg überstanden haben, weil sie nicht in Staßfurt eingelagert wurden. Am 12. Februar 1945 schrieb Margarete Kühn dann nochmals an Walther Greischel, um die Nummer des Firstes zu erfahren, in dem das MGH-Material und die Museumsbestände eingelagert waren, denn die hatte sie sich in der Aufregung wohl nicht notiert13. Nach Ende des Krieges, am 20. August 1946, also über ein Jahr nach dem Brand im Salzbergwerk, ist Margarete Kühn, wie schon erwähnt, nochmals in Staßfurt gewebrannte, konnte ich die letzten 10 Kisten nicht mehr aufnehmen …« Das Verzeichnis befindet sich in B 569 Bl. 300f. »Verzeichnis der Materialien des Reichsinstituts im Salzbergwerk Neu-Staßfurt« sowie 302 : separates Verzeichnis zu den Hinkmar-Materialien ; Bl. 300 trägt den handschriftlichen Vermerk »aufgenommen 12. Okt. 44«. Es ist auch in B 722 (keine Blattangaben) enthalten mit dem handschriftlichen, roten Bleistift-Vermerk »Bergungsplan«, stammt also aus der Nachkriegszeit. 9 Kühn an Greischel am 15. Januar 1945 (MGH-Archiv B 547 Bl. 2). 10 Vgl. dazu Karl Borchardt, Durch Fotografie für die Nachwelt gerettet, in : Mittelalter lesbar machen. Festschrift 200 Jahre Monumenta Germaniae Historica (Wiesbaden 2019) 88–90. PE : Theoretisch sollten die HerausgeberInnen genannt werden ; in den Bibliothekskatalogen und Bibliographien habe ich jedoch etwas abweichende bibliographische Angaben gefunden. 11 Vgl. dazu Reto Heinzel, Theodor Mayer. Ein Mittelalterhistoriker im Banne des »Volkstums« 1920– 1960 (Paderborn 2016) 218. 12 Vgl. dazu Karel Hruza, »Mit dem arischen Flügel«. Heinz Zatschek und seine Abkehr von der MGHEdition der Epistolae Wibaldi, in : Das Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde 1935 bis 1945 – ein »Kriegsbeitrag der Geisteswissenschaften« ? Vorträge des gemeinsamen Colloquiums von DHI Rom und MGH am 28. und 29. November 2019 in Rom, hg. von Martina Hartmann, Arno Mentzel-Reuters, Martin Baumeister (MGH Studien zur Geschichte der Mittelalterforschung 1, 2021) 135–177. 13 Kühn an Greischel am 12. Februar 1945 (MGH-Archiv B 547 Bl. 1).
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sen, das nun zur Sowjetisch besetzten Zone gehörte, um zu schauen, ob irgendwelches MGH-Material den Brand im First überstanden hatte. Dass dies nicht der Fall war14, hat sie in einem Bericht vom 28. August, der im MGH-Archiv liegt, geschildert, und zwar in sehr nüchterner Art und Weise. Der im Anhang edierte Brief von Margarete Kühn vom August 1944 ist in verschiedener Hinsicht aufschlussreich : bislang war nicht bekannt, dass man Material, das bereits in Staßfurt eingelagert war, wenige Monate später nach Berlin zurückgeholt hatte. Allerdings dürfte das erwähnte Material für die Ausgabe der Briefe Hinkmars von Reims von Ernst Perels dann in Berlin im Keller des Wirtschaftsministeriums zugrunde gegangen sein15, während der Verbleib des Materials zum Brünner Schöffenbuch, das Gertrud Schubart-Fikentscher (1896–1985) edieren wollte, unklar ist16. Prof. Eugen Meyer (1893–1972), dessen ansonsten nicht bekannte Mitarbeiterin, »Fräulein Lada«, Margarete Kühn ins Bergwerk begleitet hatte, um Material zu holen, war seit 1939 betraut mit der Edition der Urkunden Kaiser Ludwigs des Frommen. In seinem Nachruf auf Meyer von 1972 hat Theodor Schieffer, der selbst den Verlust seiner Habilitationsschrift durch den Brand in Staßfurt zu beklagen hatte, geschildert, wie bitter es für Meyer war, das Material zu verlieren und nach dem Krieg wieder neu anfangen zu müssen. Auch Theo Kölzer, der das von Meyer schließlich aufgegebene Editionsprojekt übernommen und zu einem erfolgreichen Ende geführt hat, hat im Vorwort der Edition, die er schließlich im Jahr 2016 publizieren konnte, an Eugen Meyer und die tragischen Verluste erinnert17.
14 Siehe oben Anm. 3 zu dem Bericht. 15 Auf einer von ihr ausschließlich über die Hinkmar-Materialien in Staßfurt angefertigten Liste (MGHArchiv B 569 Bl. 300) findet sich unten die Angabe »Die mit Bleistift Kreuz versehenen sind die herausgenommenen Sachen liegen hier im Wirtschaftsministeriumskeller«. In ihren Erinnerungen von 1982 behauptete Margarete Kühn, Unterlagen der MGH seien im Keller des »Luftfahrtministeriums« zugrunde gegangen, womit sie aber vermutlich das Wirtschaftsministerium meinte ; vgl. Margarete Kühn, Erinnerungen an schwere Jahre. Handschriftliche Notizen der MGH-Mitarbeiterin Margarete Kühn, verfasst 1982, in : Mittelalter lesbar machen (wie Anm. 10) 226–238, hier 234. 16 Vgl. zu ihr Rüdiger Fikentscher, Liebe, Arbeit, Einsamkeit. Ein Gelehrtenpaar in zwei Diktaturen. Wilhelm Schubart und Gertrud Schubart-Fikentscher (Halle 2013) sowie Rolf Lieberwirth, Gertrud Schubart-Fikentscher in memoriam, in : Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte – Germanistische Abteilung 103 (1986) 494–502. 17 Vgl. Theodor Schieffer, Nachruf Eugen Meyer, in : DA 29 (1973) 666f. und Theo Kölzer in der Einleitung der Urkunden Kaiser Ludwigs des Frommen : Monumenta Germaniae Historica. [Diplomata II.] Die Urkunden der Karolinger 2. Die Urkunden Ludwigs des Frommen, unter Mitwirkung von Jens Peter Clausen, Daniel Eichler, Britta Mischke, Sarah Patt, Susanne Zwierlein u. a. hg. v. Theo Kölzer (Wiesbaden 1916) X.
Margarete Kühn und die MGH-Materialien im Salzbergwerk von Staßfurt
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Einzig für Margarete Kühn selbst scheint sich der Besuch in Staßfurt gelohnt zu haben, denn sie nahm aus Staßfurt Material zum Gegenkönig Günther von Schwarzburg 1448/49 mit, das in ihrem schließlich 1983 erschienenen Constitutiones-Band 9 behandelt ist. Diese Edition erschien allerdings ein Jahr nach Margarete Kühns Tod und fast 40 Jahre nach ihren Besuchen in Staßfurt18. Ihre Schilderung des Besuchs in Staßfurt im August 1944 ist anschaulich : sie beklagt die fehlenden Träger für die schweren Pakete und die fehlenden Lampen sowie die mangelhafte Beschriftung der eingelagerten Kästen. Auch beim Bericht über ihren zweiten Besuch im Oktober 1944 ist die fehlende Beleuchtung wieder das Hauptproblem, weil es sie daran hindert, den Inhalt aller Kästen zu verzeichnen19. Viel aufregender ist dagegen Margarete Kühns Bericht »Das Bergwerk [Staßfurt]«, den sie 1982 auf Bitten des damaligen MGH-Präsidenten Horst Fuhrmann (1926– 2011) im Rahmen ihrer Erinnerungen an die Monumenta bis 1945 zu Papier brachte und der nur die Einlagerung des MGH-Materials in Staßfurt im März 1944 behandelt20. Als Kontrast zum unten edierten Brief soll hier nun eine Passage zitiert und kritisch betrachtet werden : »Kurz nach 9 Uhr waren sie (Ursula Brumm und Margarete Kühn M.H.) in Staßfurt. Vorm Bergwerk. Es lag in einer weiten Ebene. Ein Inspektor empfing sie. Er machte menschlich einen guten Eindruck. Während die zwei SS-Männer abluden und alles zum Fahrstuhl des Bergwerks brachten in vollkommenem Schweigen, mussten Ursula und Flora (Margarete Kühn M.H.) im Zimmer des Inspektors auf höheren Befehl eine Unterschrift leisten, ›nichts zu sagen von dem, was sie im Bergwerk sehen‹. Das war beklemmend. Es entsprach dem unguten Gefühl, das beide hatten. Der Fahrstuhl ging 500 m in die Tiefe. Unten angekommen, stand ein Miniatureisenbahnzug bereit, sie aufzunehmen. Im Augenblick, da der Inspektor mit Lokomotivführer, einem Mann, der mehrere Lampen trägt, und Ursula und Flora den Zug besteigen will, öffnet sich seitwärts eine Tür, aus der etwa zwanzig hochgewachsene junge Männer heraus/treten, mit sehr edlen Gesichtern, hohen Stirnen, in Sträflingskleidung. Flora zog es das Herz zusammen. Wut und Schmerz ! ›Dieser Teufel.‹ ›Franzosen ?‹ flüsterte sie dem neben ihr sitzenden Inspektor zu. ›Nein, Belgier. Studenten und Dozenten.‹ Weiter durfte und konnte er nichts sagen. Nach einer Fahrt von zwanzig Minuten kamen sie an einer First an, die etwa die innere Größe der Hedwigskirche hatte, und in der kein Salz mehr gebrochen wurde. Sie war von den Wänden bis weit in den Innenraum angefüllt 18 Monumenta Germaniae Historica. Legum sectio IV. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 9. Dokumente zur Geschichte des Deutschen Reiches und seiner Verfassung 1349, hg. v. Margarete Kühn (Weimar 1983) 1–72 und die Einleitung ; auf S. 349 wie auch in Band 10 wird auf Verluste von Photos oder Photokopien in Staßfurt hingewiesen. 19 Siehe oben das Zitat in Anm. 8. 20 Kühn, Erinnerungen (wie Anm. 15).
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mit kostbaren Bildern des Kaiser-Friedrich-Museums, kostbaren Bildern und Möbeln mitteldeutscher Schlösser und anderer kostbarer Antiquitäten. In der Mitte dieser großen First, deren Decke, Wände und Fußboden aus rosafarbig-leuchtendem Salz bestand, war ein freies großes Quadrat, das der Inspektor Ursula (Brumm) und Flora (Margarete Kühn) zur Bergung ihrer Schätze anwies. Nach etwa zwei Stunden waren 60 Kisten und etwas mehr als 20 Pakete gut in Ölpapier verpackt und deutlich beschriftet, auf dem weichen Salzfußboden gestapelt. Flüchtig ging es Flora durch das Gemüt : ›Wie wird es sein, wenn wir euch wieder holen werden ?‹ Später wußte sie, daß diese Frage der vorauseilende Schatten von verzweifelten Taten furchtbar gequälter Menschen war21.« Als das MGH-Material in der First 18 des Schachts VI von Neu-Staßfurt im März 1944 eingelagert wurde, gab es dort überhaupt noch kein Zwangsarbeiterlager, denn das Buchenwalder Außenlager Neu-Staßfurt I wurde erst am 13. September 1944 in Betrieb genommen. Erst 500, später 700 »Deutsche, Franzosen, Letten, Polen, Russen und Staatenlose« mussten dort unter Bewachung der SS arbeiten und wurden dann am 11. April 1945 auf einen Todesmarsch getrieben, den nur etwa 250 Häftlinge überlebt haben22. Es dürfte auch ausgeschlossen sein, dass Margarete Kühn oder Walther Greischel die Häftlinge bei ihrem Besuch im Oktober 1944 zu sehen bekamen, denn die Bereiche der Einlagerung von privaten Sachen, Archivalien und Kunstgegenständen war getrennt von den Baustellen der Firmen, die dort nicht zuletzt Panzerzubehörteile produzierten. Und die SS dürfte auch dafür gesorgt haben, dass es keine »Begegnungen« gab. Wie ist nun diese dramatische Schilderung von Margarete Kühn mit ihren eindrucksvollen »Vorahnungen« zu erklären. Die Forschung über die »Zeitzeugen«, die sozusagen erst in den 1970er Jahren »erfunden« wurden – wozu dann auch die Aufforderung Fuhrmanns an Kühn passt, ihre Erinnerungen aufzuschreiben – hat herausgearbeitet, wie sich Erinnerungen dieser Zeitzeugen durch Imagination überlagerten und manchem Bericht der Wunsch zugrunde liegt, »durch ihre Worte eine durch Gewalttaten gekennzeichnete Vergangenheit ihren Zuhörern (oder hier den Lesern) präsent machen (zu) wollen, um den Toten wie den Überlebenden nachträglich Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen«23. Dabei stellt sich die Frage, was der Auslöser war, der Margarete Kühn auf die Idee gebracht hat, diese »Episode« in ihre Erinnerungen einzubauen, in denen sie ansonsten bestrebt ist, Theo21 Ebd. 234f. 22 Vgl. dazu Wolfgang Benz, Barbara Distel, Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager 3. Sachsenhausen, Buchenwald (München 2006) 579f. 23 Vgl. José Brunner, Medikalisierte Zeugenschaft. Trauma, Institutionen, Nachträglichkeit, in : Die Geburt des Zeitzeugen, hg. von Martin Sabrow, Norbert Frei (Göttingen 2012) 93–110, das Zitat S. 96. Brunner bezieht sich zwar in seinem Beitrag auf die Holocaust-Überlebenden, aber Traumatisierungen in diesen Jahren betrafen ja auch andere.
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dor Mayer als allein Schuldigen am Verlust der MGH-Materialien darzustellen, denn sie übergeht beispielsweise, dass nicht das gesamte Material aus Blankenburg nach Staßfurt gebracht wurde, obwohl sie wissen musste, dass insgesamt 23 Kisten im Jahr 1947 in Blankenburg aufgefunden und ein Jahr später an die Ost-Berliner Akademie der Wissenschaften geschickt worden waren, bei der sie angestellt war. Möglicherweise war die »Affäre Lübke« der Hintergrund, der Margarete Kühn »inspiriert« hat : Mitte der 1960er Jahre wurden in der DDR Artikel publiziert, die die Verstrickung des damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke (1894–1972) in den Nationalsozialismus zeigen sollten, denn dieser war für das Architekturbüro Schlempp tätig gewesen, das dem Rüstungsminister Albert Speer unterstand, und sowohl in Peenemünde als auch in Neu-Staßfurt für den Bau der Häftlingsbaracken zuständig gewesen war. Baupläne, die Lübke abgezeichnet hatte, nutzte die DDR zusammen mit Aktendeckeln, die vom Ministerium für Staatssicherheit gefälscht worden waren, 1966 für eine Kampagne gegen den »KZ-Baumeister« Lübke, der schließlich – auch aufgrund gesundheitlicher Probleme – am 30. Juni 1969, zweieinhalb Monate vor dem regulären Ende seiner 10jährigen Amtszeit, zurücktrat24. Margarete Kühn, die in Ost-Berlin arbeitete, aber Zeit ihres Lebens in West-Berlin wohnte, dürfte die Diskussion darüber aus zwei unterschiedlichen politischen Perspektiven mitbekommen haben, was schließlich zu der dramatischen Episode in ihren Erinnerungen geführt haben könnte. Dies zeigt, wie aufschlussreich, aber auch problematisch manche Zeitzeugenberichte sind, so dass die zeitgenössischen Quellen wie beispielsweise ihr Brief vom August 1944 als Korrektiv außerordentlich wichtig sind.
24 Vgl. zur sog. »Lübke-Affäre« Isabell Trommer, Rechtfertigung und Entlastung. Albert Speer in der Bundesrepublik (Frankfurt am Main 2016) 73f.
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Edition Margarete Kühn (1896–1982) berichtet dem Präsidenten des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde Theodor Mayer (1883–1972) von ihrem Besuch in Staßfurt. Reichsinstitut für ältere Deutsche Geschichtskunde (MONUMENTA GERMANIAE HISTORICA)
Berlin, den 12. August 1944 Charlottenstraße 41
Sehr verehrter Herr Professor ! Die Reise nach Stassfurt verlief programmmässig, und ich möchte Ihnen die von Herrn Direktor Dr. Greischel25 aufgetragenen besten Grüsse an Sie übermitteln. Da wir das Glück hatten, auf einem Dorf in der Nähe von Stassfurt übernachten zu können26, so konnten wir am andern Morgen rechtzeitig am Schacht sein. Zufällig hatten wir an der Haltestelle der Elektrischen in Stassfurt Herrn Dr. Greischel getroffen, was ein grosser Vorteil war, da wir ja den Fussweg nach Neu-Stassfurt zum Schacht nicht wussten und auf diese Weise jeder Sorge enthoben waren. Die Abfertigung am Schacht dauerte wegen der militärischen Kontrolle etwas lange. Ohne Herrn Direktor Greischel würden wir nicht in den Schacht können. Im Schacht selbst mussten wir dies Mal zu Fuss gehen, was dreiviertel Stunde in Anspruch nahm. Zum Arbeiten, resp. zum Suchen des Materials, hatten wir anderthalb Stunden Zeit, was in Anbetracht der fremden Materialien, die zu suchen waren, nicht viel war. Die Luft war dies Mal27 sehr gasig und erschwerte das Arbeiten sehr. Herr Direktor Greischel, der eher fertig war als wir, war so liebenswürdig und hat uns mitgeholfen, leider stellte sich dabei heraus, dass von den meisten Herren der Inhalt der Kästen und Pakete aussen nicht so vermerkt ist, dass das zu Suchende leicht zu finden wäre. Herr Professor Perels28 hat es sich daher selbst zuzuschreiben, wenn wir bei der Kürze der Zeit seine Wünsche nicht alle erfüllen konnten, abgesehen davon, dass es mir ganz unmöglich war, bei dem weiten Fussmarsch, den wir mit den Paketen zu machen hatten, mehr als drei grosse Pakete zu tragen. Herr Direktor Greischel hatte zwei Boten 25 Vgl. zum Direktor des Kaiser Friedrich Museums in Mageburg Elsner, Alles verbrannt (wie Anm. 4) 41–43. 26 Margarete Kühn und ihre Begleiterin übernachteten in Hohenerxleben bei Staßfurt, wie aus dem oben in Anm. 8 zitierten Brief hervorgeht. 27 Vermutlich bezogen auf den Tag der Einlieferung des Materials Mitte März 1944. 28 Gemeint ist Ernst Perels, dessen 1. Faszikel der Briefausgabe Hinkmars von Reims 1939 (ohne Namensnennung des Editors) erschienen war ; vgl. Ines Oberling, Ernst Perels (1882–1945). Lehrer und Forscher an der Berliner Universität (Bielefeld 2005), zur Hinkmar-Edition S. 202–208. Perels hielt sich zum Arbeiten immer wieder in Pommersfelden auf und wurde schließlich dort im Oktober 1944 verhaftet.
Margarete Kühn und die MGH-Materialien im Salzbergwerk von Staßfurt
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mit und bat uns, unbedingt in Zukunft einen Boten mitzubringen, der uns tragen hilft. Er war sehr erstaunt, dass wir keinen Boten mithatten, und ich bedauerte angesichts der schweren Pakete sehr, dass ich Sie nicht gebeten hatte, Frau Mai29 mitnehmen zu dürfen. Die Photokopien zum Brünner Schöffenbuch für Frau Dr. Schubart, um die sie schon seit längerem gebeten, habe ich herausgesucht und ihr sofort von hier zugeschickt, für Karl IV. habe ich zwei grössere Pakete meist zum Gegenkönigtum Günthers rasch gefunden, und für Herrn Professor Perels habe ich einen grösseren Umschlag bezeichnet »Briefsammlung«, die er sich wünschte, mitgenommen und wir behalten ihn seinem Wunsche gemäss hier, bis er kommt. Fräulein Lada30 war für Herrn Professor Eugen Mayer31 sehr bepackt, und Herr Direktor Greischel erlaubte nicht, dass wir uns mit mehr beladen. Er hat mir darum aufgetragen, Ihnen zu sagen, dass er in absehbarer Zeit wieder in den Schacht einfährt und hat uns anheimgestellt, dann noch einmal mitzukommen, um die restlichen Sachen zu holen32. Wir würden Sie dann bitten, sehr verehrter Herr Professor, uns zu gestatten, dass wir dann Frau Mai mitnehmen, die uns tragen hilft, damit wir nicht auf die Hilfe von Herrn Direktor Greischel angewiesen sind, was uns natürlich sehr peinlich ist oder Herr Professor Perels fährt das nächste Mal selbst mit ein. Dann sieht er gleich einmal, was das für eine Strapaze ist. Wir waren sehr dankbar, dass Herr Direktor Greischel mit war, denn ohne ihn hätten wir überhaupt nichts finden können, da unsere First ganz schlecht beleuchtet ist, und auf die Stelle, auf der unsere Sachen lagern, kommt überhaupt kein Lichtstrahl hin. Zum Glück hatte Herr Dr. Greischel zwei grössere Taschenlampen mit, die er uns liebenswürdigerweise zur Verfügung stellte, resp. stellen konnte, da er selbst am beleuchteten Platz arbeitete. Wir verdanken ihm jedenfalls viel gute Hilfe und er beauftragt uns, Ihnen zu sagen, dass er uns jederzeit gern, solange er noch da ist, behilflich sein will, dass wir ab und an zu unseren Sachen gelangen können. Mit den besten Grüssen und guten Wünschen für Ihre Erholung und Heil Hitler ! Ihre ergebene Margarete Kühn 29 Wie aus MGH-Archiv B 555 Bl. 37 hervorgeht, war Anna Mai die Putzfrau im Reichsinstitut. 30 Offenbar eine Mitarbeiterin von Eugen Meyer, siehe die folgende Anmerkung. 31 Eugen Meyer (1893–1972) war Mitarbeiter der Abteilung Diplomata und von 1939 bis 1946 außerordentlicher Professor für Historische Hilfswissenschaften an der Berliner Universität ; er hatte 1942 die Edition der Urkunden Ludwigs des Frommen übernommen, nachdem er zuvor für verschiedene Diplomatabände der Karolinger tätig gewesen war. Vgl. Theodor Schieffer, Nachruf Eugen Meyer, in : DA 29 (1973) 666f., der davon spricht, dass Meyer sein Material durch die »Katastrophe von Neu-Staßfurt« verloren habe. 32 Siehe oben Anm. 8 zu Margarete Kühns Besuch im Oktober 1944 in Staßfurt.
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Vojtěch Šustek
Ein Instrument des Terrors Das sog. Standgericht in Brünn 28. 5.–3. 7. 1942
Eine der Maßnahmen, die die NS-Okkupationsverwaltung nach dem Attentat auf Heydrich vom 27. Mai 1942 ergriff, war die Wiedereinführung der sog. Standgerichte bei den Hauptdienststellen der Staatspolizei in Prag und Brünn1. Diese Standgerichte ließ SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich selbst bereits mit seiner auf den 27. September 1941 datierten Verordnung einrichten, mit der er damals gleichzeitig den zivilen Ausnahmezustand verhängte2. Derselbe Erlass enthielt auch folgende Bestimmung : bei Anordnung und Durchführung von Maßnahmen zur Aufrechterhaltung oder Wiederher stellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sind Abweichungen vom geltenden Recht zulässig3. In der folgenden Bestimmung von Heydrichs Verordnung wird folgendes aufgeführt : Dem Standrecht unterliegen alle Handlungen, welche die öffentliche Ordnung und Sicherheit, das Wirtschaftsleben oder [den] Arbeitsfrieden stören4. Außerdem noch : der unerlaubte Besitz von Schußwaffen oder Sprengstoff oder Munition5. Einige Stunden nach dem Attentat ließ der Höhere SS- und Polizeiführer Karl Hermann Frank im Rundfunk den zivilen Ausnahmezustand für das Stadtgebiet Prag ausrufen. In der Bekanntmachung wurde jedem der Tod angedroht, der den HeydrichAttentätern Hilfe leistet, oder von ihnen Kenntnis hat, die deutsche Polizei aber nicht informieren will6. Mit der einen Tag später in der Presse erschienenen, allerdings auf 1 Vgl. Vojtěch Šustek, Atentát na Reinharda Heydricha a druhé stanné právo na území tzv. protektorátu Čechy a Morava. Edice historických dokumentů [Das Attentat auf Reinhard Heydrich und das zweite Standrecht auf dem Gebiet des sog. Protektorats Böhmen und Mähren. Edition historischer Dokumente] 1 (Praha 2012) Nr. I/107. Abkürzungen : ABS = Archiv bezpečnostních složek [Archiv der Sicherheitskräfte] ; BArch – Bundesarchiv ; MLS = Mimořádný lidový soud [Außerordentliches Volksgericht] ; MZA = Moravský zemský archiv [Mährisches Landesarchiv] ; NA = Národní archiv [Nationalarchiv] ; ÖStA/AdR = Österreichisches Staatsarchiv/Archiv der Republik ; SOA Praha = Státní oblastní archiv Praha [Staatliches Gebietsarchiv Prag] ; ZAO = Zemský archiv Opava (Landesarchiv Troppau). 2 Vgl. Verordnung des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren über die Erklärung des zivilen Ausnahmezustands vom 27. September 1941, in : Verordnungsblatt des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren (1941) 527. 3 Ebd. § 2. 4 Ebd. § 3. 5 Ebd. 6 Vgl. Šustek, Atentát (wie Anm. 1) Nr. I/23.
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Vojtěch Šustek
den 27. Mai 1942 datierten Verordnung des Reichsprotektors wurde der zivile Ausnahmezustand auf das gesamte Gebiet des Protektorats ausgeweitet. In Artikel II wurde ausdrücklich ausgeführt : Wer Personen, die an der Verübung des Anschlags beteiligt waren, beherbergt oder ihnen Hilfe leistet oder Kenntnis von ihrer Person oder ihrem Aufenthalt keine Anzeige erstattet, wird mit seiner Familie erschossen7. Am dritten Tag nach dem Attentat auf Heydrich veröffentlichten die Deutschen eine bis dahin unbekannte Straftat. Genannt wurde sie »Gutheissung des Attentats und Aufforderung zur Unterstützung der Täter«. SS-Oberstgruppenführer Kurt Daluege erließ die Verordnung, Personen, die im Zusammenhang mit dem Attentat positiv Stellung nehmen8 durch Erschießen hinzurichten. Seinem Wunsch nach war jede Hinrichtung jeweils innerhalb eines Be zirkes durch Plakatanschlag mit Begründung der Bevölkerung bekannt zu geben9. Das neue »Verbrechen«, das Attentat gut zu heißen, ermöglichte es den Gestapo-Beamten im Grunde genommen, jeden Tschechen durch das Standgericht zum Tode zu verurteilen, den sie als »Reichsfeind« oder als anders unbequem ansahen. Man muss nicht hinzufügen, dass auch das Delikt »Nichtbefolgung der Meldepflicht« zur Agenda der Standgerichte zählte10. Über die Zusammensetzung der Standgerichte und über die Anwendung des Standrechts überhaupt entschied der Reichsprotektor11, der allerdings diese außerordentli chen Befugnisse auf ihm unterstellte Organe übertragen12 konnte. In § 4 der Verordnung über den zivilen Ausnahmezustand wurde folgendes verkündet : Die Standgerichte er kennen auf Todesstrafe oder auf Überweisung an die Geheime Staatspolizei oder auf Frei spruch13. Der Urheber der Verordnung erinnerte in demselben Paragraph auch an den vermeintlich selbstverständlichen Umstand, wie folgende Anweisung es war : die Namen der Richter, des Verurteilten und der Zeugen, auf deren Aussage das Urteil gestützt wird, ferner die Straftat sowie der Tag der Verurteilung sind schriftlich festzuhalten14. Dort steht aber nichts davon, dass der Beschuldigte beim Standgericht anwesend sein soll. Am 7 Vgl. Verordnung des Reichsprotektors über die Erklärung des zivilen Ausnahmezustands im Protektorat Böhmen und Mähren vom 27. Mai 1942, in : Šustek, Atentát (wie Anm. 1) Nr. I/27. 8 Vgl. Aufzeichnung über Dalueges Befehl vom 30. Mai 1942 für das Delikt Gutheißung des Attentats durch Erschießen hinzurichten und die Namen der Hingerichteten auf Plakaten zu veröffentlichen, in : Šustek, Atentát 1 (wie Anm. 1) Nr. I/44. 9 Ebd. 10 Vgl. Verordnung des Reichsprotektors vom 28. Mai 1942 über die amtliche Meldepflicht, in : Šustek, Atentát 1 (wie Anm. 1) Nr. I/28. 11 Verordnung des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren über die Erklärung des zivilen Ausnahmezustands vom 27. September 1941, in : Verordnungsblatt des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren (1941) 527, § 3. 12 Ebd. § 2. 13 Ebd. § 4. 14 Ebd.
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Ende der Verordnung wurde folgendes festgehalten : Die Urteile der Standgerichte sind unanfechtbar und werden sofort vollstreckt. Die Todesurteile werden durch Erschießen oder Erhängen vollzogen15. In den Archivbeständen konnte nur eine einzige Durchführungsverordnung zur Errichtung von Standgerichten gefunden werden, mit welcher Heydrich den Höheren SS- und Polizeiführer dazu bestimmte, die Standgerichte personell zu besetzen16. Es konnten keine Quellen zu praktischen organisatorischen Schritten ausfindig gemacht werden, auch nicht zu den Kriterien der personellen Besetzung von Standgerichten bei der Hauptdienststelle der Staatspolizei Prag, weder zur Zeit des ersten noch des zweiten Standrechts. Im Hinblick auf die Tatsache, dass sich die Verordnung des Reichsprotektors vom 27. Mai 1942 über die Verhängung des zivilen Ausnahmezustands im Protektorat Böhmen und Mähren auf die Verordnung vom 27. September 1941 beruft, bzw. diese wieder in Kraft setzt und sie um eine weitere Bestimmung ergänzt, kann man annehmen, dass sich nach Verkündung des zweiten Standrechts an der Organisation und der Tätigkeit der wieder eingeführten Standgerichte formal nichts Wesentliches geändert haben dürfte17. Für eine Untersuchung der Tätigkeit der Standgerichte bei den Hauptdienststellen der Staatspolizei in Prag und in Brünn ist die geringe Anzahl an erhalten gebliebenen Archivquellen offensichtlich. Auch in Brünn, bei dem zweiten der beiden Hauptdienststellen der Gestapo auf dem Gebiet des Protektorats Böhmen und Mähren, wurde nach dem Attentat auf Heydrich das Standrecht wieder eingeführt. Formal wurde es genauso organisiert und hatte dieselben Aufgaben wie das Standgericht in Prag. Im Unterschied zu Prag ist zur Tätigkeit des sog. Standgerichts Brünn eine relativ große Menge an Quellen erhalten geblieben. Dabei handelt es sich vornehmlich um zeitgenössische amtliche Kopien von Standgerichtsurteilen zu fast allen Opfern der von Deutschen während des zweiten Standrechts an der Hinrichtungsstätte im Kaunitz-Wohnheim begangenen Ermordungen. So können die durchaus meisten Opfer identifiziert werden. Jedes Urteil des Standgerichts Brünn enthält auch die Namen aller Beamten des deutschen Repressionsapparates, die das sog. Gericht formal abgehalten hatten. Zur Verfügung stehen auch die Aussagen einiger Gestapo-Beamten, die im Standgericht tätig waren18. 15 Ebd. 16 Vgl. Verordnung des Reichsprotektors vom 30. September 1941, um welche der Erlass vom 27. September 1941 über die Bildung von Standgerichten ergänzt wird – NA, Bestand Státní tajemník u říšského protektora v Čechách a na Moravě [Staatssekretär beim Reichsprotektor in Böhmen und Mähren], Sign. 109-5-133. 17 Vgl. Verordnung des Reichsprotektors über die Erklärung des zivilen Ausnahmezustands im Protektorat Böhmen und Mähren vom 27. Mai 1942, in : Šustek, Atentát 1 (wie Anm. 1) Nr. I/27. 18 Vgl. Brünn, 21. Oktober 1946, deutschsprachiges Verhörprotokoll des ehemaligen Kriminalinspektors der Gestapo Brünn Leopold Kadlec, geb. am 14. November 1899 in Wien, Österreich. ABS, Bestand Výpovědi zaměstnanců Gestapa a SD [Aussagen von Angestellten der Gestapo und des SD], Sign. 52-1-
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Leider enthalten auch ihre Aussagen keine Beschreibung des bürokratischen Gangs eines Standgerichts. Die Historiker František Vašek und Zdeněk Štěpánek beschreiben in ihrer auf Tschechisch erschienenen Publikation »Das erste und zweite Standrecht in Mähren (1941–1942)«19 sehr detailliert, wie eine Sitzung des Standgerichts verlief. Gemäß der Schilderung dieser Autoren erfolgte eine Sitzung des Standgerichts Brünn im Beisein der Angeklagten, die sogar die Möglichkeit gehabt hätten, sich zur Anschuldigung zu äußern. Der Vorsitzende des Standgerichts habe angeblich die Aussagen der Verhafteten verlesen und Beweise vorgelegt20. Leider wird von den Historikern Vašek und Štěpánek im Anmerkungsapparat ihrer Publikation nicht angegeben, woher diese Information stammt. Auf Grundlage der zeitgenössischen Quellen – besonders der Nachkriegsaussagen der damaligen Angestellten des deutschen Repressionsapparates – können wir schließen, dass die für das Standgericht Brünn ernannten Beamten zur Zeit des zweiten Standrechts mit Sicherheit zusammengetreten waren. Dafür spricht die Nachkriegsaussage des ehemaligen Kriminalinspektors Leopold Kadlec, der am 15., 16., 17. und 26. Juni 1942 an Sitzungen des Standgerichts Brünn teilgenommen hatte : Soweit mir bekannt, bestand die Besetzung der Standgerichte in den beiden ersten Standgerichtsperioden aus einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern, dem Ankläger, einem Schriftführer und einem Dolmetscher. Der Vorsitz des Standge richtes sowie die beiden Beisitzer und der Ankläger wurden wiederholt gewechselt. Zur Besetzung des Standgerichts wurden sowohl leitende Beamte der Geheimen Staatspo lizei, der deutschen Kripo, und der SD-Dienststelle Brünn, als auch Beamte mit einem SS-Führer-Dienstgrad kommandiert. Der Vorsitz bei den Verhandlungen wurde vom Chef der Staatspolizei Nölle bezw. seinem Vertreter Dr. Lettow und Ebert als auch von dem Leiter der deutschen Kriminalpolizei, Krim. Dir. Nussbaum21 geführt. Von den Bei sitzenden und Anklägern sind mir noch erinnerlich : Krim. Rat Kosslowski22, Thaudt23,
208 ; vgl. ferner Brünn, 7. September 1946, deutschsprachiges Verhörprotokoll des ehemaligen Kriminalkommissars der Gestapo Brünn, Bernhardt Kurt Leischke, geb. am 22. November 1905 in Gittersee, Bezirk Dresden, Deutschland. ABS, Bestand Výpovědi zaměstnanců Gestapa a SD, Sign. 52-1-272. 19 Vgl. František Vašek, Zdeněk Štěpánek, První a druhé stanné právo na Moravě (1941–1942) (Brno 2002). 20 Ebd. 102. 21 Nussbaum Konrad, geb. am 3. November 1893 in Linz am Rhein, Deutschland, Kriminaldirektor und Leiter der deutschen Kriminalpolizei in Brünn. BArch, Bestand SSO, Sign. 354 A. 22 Kosslowski Otto, geb. am 17. April 1900 in Riesenburg, Deutschland, Kriminalrat der Gestapo in Brünn. ABS, Bestand Stíhání nacistických válečných zločinců [Ahndung von Nazikriegsverbrechern], Sign. 32590-4. 23 Taudt Ewald, geb. am 18. Mai 1909 in Berlin-Wilmersdorf, Deutschland, Kriminalkommissar bei der Gestapo Brünn. BArch, Bestand SSO, Sign. 173 B.
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K. I. Schobber24, Hofer25, Pol. Insp. Weber26 und von der deutschen Kriminalpolizei Krim. Rat Wohlbrant [VŠ : Wollbrandt]. Schriftführer während der Dauer der Standgerichtspe riode war Pol. Oberinspektor Schrader, als Dolmetsch[er] ist mir der Krim. Ass. Kittl Bruno in Erinnerung. Ich selbst wurde ungefähr zwei- bis drei Mal als Beisitzender zu Standgerichtsverhandlungen kommandiert. Soweit mir noch erinnerlich wurden hierbei Fälle von Hoch- und Landesverrat, der Sabotage als auch einige Fälle der Gutheissung des Attentates auf Heydrich verhandelt27. Leopold Kadlec machte in seiner Aussage keinen Unterschied zwischen dem ersten und zweiten Standrecht, als er unter den Mitgliedern des Standgerichts zur Zeit der Heydrichiade Befehlshaber der Gestapo wie beispielsweis Nölle, Lettow, bzw. den Leiter der deutschen Kriminalpolizei in Brünn Nussbaum nannte. Keiner der Genannten ist während des zweiten Standrechts im Standgericht tätig gewesen. In der Aussage von Kadlec überhaupt nicht erwähnt wird die Anwesenheit der tschechischen Gefangenen, über deren Schicksal das Standgericht entschied. Eine weitere überlieferte Aussage eines Gestapo-Beamten, der am 2., 3., 13. und 14. Juni 1942 im Standgericht mitwirkte, stammt von Kriminalkommissar Kurt Leischke. Er sprach in tschechoslowakischer Gerichtshaft über das Standgericht im Rahmen seiner Selbstdarstellung als objektiver Polizeiermittler, der einen nicht genannten tschechischen Lehrer gerettet habe, der vom Sicherheitsdienst der SS [SD] durch falsche Anschuldigung einer Straftat bezichtigt worden sei : In dem einen Falle handelte es sich um einen Oberlehrer aus Rohrbach bei Brünn [VŠ : Hrušovany u Brna]. Den Namen kann ich heute nicht mehr anführen. Er war bereits während des ersten zivilen Ausnahmezustandes, auf Veranlassung des SD, festgenommen worden, wurde aber damals nach kurzer Zeit wieder entlassen, da ihm Nachteiliges nicht nachgewiesen werden konnte. Meiner Ansicht nach musste ein Nachrichtenzuträger des SD ein besonderes Interesse daran gehabt haben, dem Oberlehrer zu schaden, denn sonst könnte ich mir den neuerlichen Auftrag zur Festnahme nicht erklä ren. Die Belastungen des SD bestanden lediglich darin, dass der Oberlehrer ein aktiver Freimaurer gewesen sein sollte. Er war auch in der von dem Leiter des SD-Leitabschnittes Prag SS-Obersturmbannführer Jacobi herausgegebenen Broschüre »Golem, Geisel der Tschechen« namentlich als Freimaurer zittiert. Die Vernehmung ergab seinerzeit, dass auch glaubhaft war, da er in keiner der im Besitz der Staatspolizei befindlichen Freimau 24 Schober Alexander, geb. am 17. November 1892 in Gross Sieghartz, Österreich, Kriminalkommissar der Gestapo Brünn. ÖStA/AdR, Bestand Gauakten – Schober Alexander. 25 Hofer Franz, geb. am 4. Mai 1898 in Graz, Österreich, Oberkriminalsekretär bei der Gestapo Brünn. BArch, Sign. SSO 106 A. 26 Weber Gustav, geb. am 16. Oktober 1908 in Malmeneich, Bezirk Limburg, Deutschland, Polizeiinspektor bei der Gestapo Brünn. ABS, Bestand Stíhání nacistických válečných zločinců, Sign. 325-165-5. 27 Vgl. Brünn, 21. Oktober 1946, deutschsprachiges Verhörprotokoll von Leopold Kadlec. ABS, Bestand Výpovědi zaměstnanců Gestapa a SD, Sign. 52-1-208.
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rerkarteien aufschien. […] Belastungen, hinsichtlich [ge]zeigter Widerstände bei der Er fassung von Tschechen für das deutsche Volkstum ergab seine Vernehmung überhaupt nicht. Nach Rücksprache mit Reg.-Rat Nölle wurde der Oberlehrer damals dem Standgericht vorgeführt, um dem Ersuchen des BdS, und des Sicherheitsdienstes zu genügen. Ich musste jedoch selbst bei der Sitzung als Beisitzer mitwirken, um mich für den Einspruch dieses Oberlehrers einsetzen zu können. In der betreffenden Standgerichtssitzung wurde der Oberlehrer auch freigesprochen und anschliessend entlassen28. Leischkes ausgedachte Selbstdarstellung als »Retter eines tschechischen Oberlehrers aus Rohrbach« erweckt den falschen Eindruck, dass die Angelegenheit des Oberlehrers vom Standgericht Brünn tatsächlich objektiv verhandelt worden wäre. Wir finden in der Aussage aber keinerlei Erwähnung darüber, dass besagter Oberlehrer bei der Sitzung des Standgerichts Brünn, auf welcher real über sein Schicksal entschieden wurde, anwesend gewesen wäre. Der Anschein, dass beim Standgericht Brünn anhand der vorgebrachten Beweise tatsächlich über das Schicksal der Beschuldigten entschieden worden sei, wird auch durch die Zeugenaussage eines weiteren Brünner Gestapo-Beamten, und zwar des Kriminalsekretärs Franz Aschauer geweckt29. Er sprach während des Verhörs in tschechoslowakischer Gerichtshaft am 28. November 1946 davon, wie die Hauptdienststelle der Staatspolizei Brünn per Fernschreiben vom Leiter der Sicherheitspolizei SS-Standartenführer Böhme den Befehl erhalten habe, vier Tschechen aus Tischnowitz/Tišnov zu verhaften und vor das Standgericht zu stellen30. Böhme habe sich in dem Fernschreiben auf die Weisung des Höheren SS- und Polizeiführers in Böhmen und Mähren SS-Gruppenführer Karl Hermann Frank berufen. Ihm sei nämlich von der Brünner Dienststelle des Sicherheitsdienstes [SD] gemeldet worden, dass vier Männer aus Tischnowitz und der nahen Umgebung (Miloslav Fibich, geb. am 21. Mai 1902 in Blanz/Blansko, Richter des Bezirkszivilgerichts in Tischnowitz, Josef Fic, geb. am 6. April 1888 in Swatoslau/ Svatoslav, Bezirk Tischnowitz, Direktor der Mädchenbürgerschule ebenda, JUDr. Jan Rampl, geb. am 4. Februar 1905 in Brünn, Anwalt in Tischnowitz, Ladislav Slovák, geb. am 27. Juni 1910 in Lomnitz bei Tischnowitz/Lomnice u Tišnova, Fachlehrer der Bürgerschule ebenda) irgendeine Eindeutschungsaktion in Tischnowitz verhindert hätten. Franz Aschauers Aussage dazu : In dem FS hiess es wörtlich, dass diese vier Personen im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten des Standrechtes zu behandeln wären31. Referatsleiter 28 Vgl. Brünn, 7. September 1946, deutschsprachiges Verhörprotokoll von Bernhardt Kurt Leischke. ABS, Bestand Výpovědi zaměstnanců Gestapa a SD, Sign. 52-1-272. 29 Vgl. Brünn, 1946, November, 28., deutschsprachiges Verhörprotokoll des ehemaligen Kriminalsekretärs der Gestapo Brünn Franz Aschauer, geb. am 30. August 1909 in Rosenheim, Deutschland. ABS, Bestand Výpovědi zaměstnanců Gestapa a SD, Sign. 52-1-5. 30 Ebd. 31 Ebd.
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Leischke habe Aschauer befohlen, alle vier Männer aus Tischnowitz gefangen zu nehmen und ihre Akten im Sinne von Böhmes Fernschreiben zu erledigen. Gemeinsam mit dem Oberkriminalsekretär Adam habe Aschauer die Gefangennahme aller vier Männer durchgeführt und mit ihrer Untersuchung begonnen. Nach durchgeführter Untersuchung habe Aschauer festgestellt, dass der Fall der vier Männer aus Tischnowitz keinen Tatbestand erfülle. Er sei zu der Ansicht gelangt, dass es sich um eine völlig erlogene Denunziation vom Leiter der örtlichen Parteigruppe der NSDAP Erich Binar32 gehandelt habe, der gleichzeitig ein Zuträger der Brünner Dienststelle des Sicherheitsdienstes des Reichsführer SS [SD] gewesen sei33. In Aschauer hatte sich das Gewissen gemeldet ! Er hat versucht, alle vier Männer zu retten. Zuerst war er bestrebt, den Fall herauszuschieben und gehofft, dass es in der Zwischenzeit zu einer Beendigung des Standrechts und zur Einstellung der Tätigkeit des Standgerichts komme. Aschauer betrachtete die Vorführung der Angeklagten vor das Standgericht ganz sicher als einen Schritt, der einem Todesurteil gleichkam. Deshalb hat er durch günstige Zwischenberichte für die Be schuldigten beim Referatsleiter Leischke versucht, den Abschluss der Akte hinauszuschieben und die Stimmung für die beschuldigten Personen im günstigen Sinne zu beeinflussen34. Allerdings habe Kommissar Kurt Leischke, als er Aschauers Absicht durchschaute, ihm die weitere Bearbeitung der Akten entzogen und ihn vorübergehend vom Referat II BM an eine andere Stelle im Rahmen der Brünner Gestapo-Dienststelle versetzt. Die weitere Bearbeitung des Falls übertrug Leischke Oberkriminalsekretär Wilhelm Walch35, der aber, zumindest laut Aschauers Aussage, in dieser Angelegenheit zu ähnlichen Schlüssen gekommen sei36. Wie die Untersuchung weiter verlief, habe Aschauer nicht erfahren, da er bereits an eine Stelle außerhalb seines Referats versetzt worden sei37. Allerdings habe er dann zufällig erfahren, dass der Bezirksrichter Fibich zu der in diesem Tag im Hause anberaumten Standgerichtsverhandlung als Angeklagter vorgeführt wurde38. Aschauer sagte weiter aus : Ich war nunmehr entschlossen, nochmals einen Versuch zur Ret 32 Binar Erich, geb. am 1. November 1905 in Olmütz ehemaliger deutscher Regierungskommissar der Stadt Tischnowitz. ABS, Bestand Výpovědi zaměstnanců Gestapa a SD, Sign. 52-1-5. 33 Vgl. Brünn, 28. November 1946, deutschsprachiges Verhörprotokoll von Franz Aschauer. ABS, Bestand Výpovědi zaměstnanců Gestapa a SD, Sign. 52-1-5. 34 Ebd. 35 Walch Wilhelm, geb. am 14. Dezember 1908 in Innsbruck, Kriminalsekretär der Gestapo Brünn. Vgl. František Vašek, Vladimír Černý, Jan Břečka, Místa zkropená krví. Kounicovy studentské koleje v Brně v letech nacistické okupace 1940–1945 [Von Blut durchtränkte Orte. Das Kaunitz-Wohnheim in Brünn während der NS-Okkupation] (Brno 2015) 300. 36 Vgl. Brünn, 28. November 1946, deutschsprachiges Verhörprotokoll von Franz Aschauer. ABS, Bestand Výpovědi zaměstnanců Gestapa a SD, Sign. 52-1-5. 37 Ebd. 38 Ebd.
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tung Fibichs zu unternehmen. Zu diesem Zwecke habe ich die als Beisitzer für die fragliche Standgerichtsverhandlung bestimmten Beamten K. I. Hofer Franz und Pol. Insp. Steiner39 aufgesucht und diese über den Fall Fibich sowie Fic und andere aufgeklärt und über meine Ansicht als ehemaliger Sachbearbeiter aufgeklärt. Am Schlusse meiner Ausführungen er klärte ich den beiden Genannten, dass es sich, wenn es zu einer Verurteilung des Fibich kommen sollte, um einen glatten Mord handle. Es müsse unter allen Umständen versucht werden, dies zu verhindern. Dieses Gespräch spielte sich vor dem Saale ab, in dem die Standgerichtsverhandlung stattfinden sollte und ich habe vorher die genannten Beisitzer der Verhandlung im ganzen Hause gesucht und sie erst an diesem Orte angetroffen. Ich habe bei diesem Gespräch mit den beiden genannten Beisitzern auch meine allgemeine An sicht über die Standgerichtsbarkeit zum Ausdruck gebracht und erklärt, dass im allgemei nen die Bestimmungen ungemein hart und ungerecht seien und habe dann auch diese Mei nung mit dem erwähnten Ausspruch in Verbindung gebracht40. Der Kriminalsekretär der Gestapo Aschauer hat allerdings nichts davon gesagt, dass JUDr. Miloslav Fibich überhaupt beim Standgericht anwesend gewesen sei41. Aschauer selbst hat auch von keiner »Verhandlung« des Standgerichts im Beisein des beschuldigten Fibich erfahren. Im Hinblick darauf, dass Franz Aschauer mit dem Standgerichtsbeisitzer Hofer und dem Protokollführer Steiner an der Eingangstür des Saales gesprochen hat, in dem das Standgericht getagt haben soll, hat er JUDr. Fibich in einem Moment begegnen können, in dem ihn die Gefängnisaufseher in Fesseln dem Standgericht vorgeführt haben könnten. Falls es dazu gekommen wäre, hätte er dies in seiner Nachkriegsaussage sicherlich erwähnt. Franz Aschauer hat in seiner Zeugenaussage abschließend noch folgendes ausgeführt : Über den Verlauf der sodann beginnenden Verhandlung gegen Fibich kann ich keine Angaben machen, da ich nicht anwesend war. Mir ist lediglich nachträglich bekannt gewor den, dass Fibich dennoch verurteilt wurde und zwar zum Tode durch Erschiessen, welches Urteil auch vollstreckt wurde. Nachträglich erfuhr ich auch noch, dass der Schlussbericht der Akte Fibich für die Standgerichtsverhandlung von K. S. Hübler42 verfasst wurde. Ich selbst wurde wegen meines Auftretens gegenüber den Beisitzenden des Standgerichtes Hofer 39 Steiner Johann, geb. am 5. September 1904 in Wien, Österreich, Polizeiinspektor der Gestapo Brünn. BArch, Sign. SSO 154 B. Polizeiinspektor Steiner war kein Beisitzer des Standgerichts, sondern Protokollführer. Vgl. Brünn, 23. Juni 1942, vom Standgericht Brünn gefälltes Todesurteil durch Erschießen [als Vorsitzender SS-Sturmbannführer und Regierungsrat Ebert, als Beisitzer SS-Sturmbannführer Dr. Ernesty und SS-Untersturmführer und Oberkriminalsekretär Hofer] über Fibich Miloslav, geb. am 21. Mai 1902 in Blanz/Blansko, Zivilgerichtsrichter, wohnhaft in Tischnowitz, Husova-Str. 748. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno [Gestapo Brünn], Sign. 100-347-4. 40 Vgl. Brünn, 2. Dezember 1946, deutschsprachiges Verhörprotokoll von Franz Aschauer. ABS, Bestand Výpovědi zaměstnanců Gestapa a SD, Sign. 52-1-5. 41 Ebd. 42 Hübler Leopold, geb. am 15. Oktober 1901 in Wien, Oberkriminalsekretär der Gestapo Brünn. MZA,
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und Steiner und wegen meinen Aeusserungen diesen gegenüber von diesen zur Anzeige ge bracht und im Zuge des gegen mich eingeleiteten Verfahrens am 6. Juli 1942 vom Dienste suspendiert43. Aufgrund der Tatsache, dass beide Gestapo-Beamten, die im Standgericht Brünn tagten, d.h. Leopold Kadlec, Kurt Leischke, und auch Franz Aschauer die Anwesenheit der angeklagten Tschechen beim Standgericht nicht erwähnt haben, können wir dafürhalten, dass vom Standgericht Brünn die Todesurteile immer, oder bis auf Ausnahmen, ohne die Anwesenheit der Angeklagten gefällt wurden44. In seiner Nachkriegsaussage nannte Aschauer Kriminalsekretär Leopold Hübler als Verfasser des Abschlussberichts für das Standgericht, deshalb habe gerade dieser den letzten zur Ermordung Fibichs führenden erforderlichen Schritt getan. Der letzte Schritt war der Inhalt des Abschlussberichts über Fibichs Fall. Der Abfassung von Hüblers Bericht ging allerdings ein Gespräch seines Vorgesetzten Kurt Leischke mit dem Leiter der Brünner GestapoDienststelle Regierungsrat Wilhelm Nölle voraus45. Dieser äußerte sich dahingehend, dass wenn auch ein objektiver Tatbestand seitens des Dr. Fibich nicht zugegeben wird46, Nölle davon überzeugt ist, dass er der treibende Keil gegen die Massnahmen der Eindeut schungsaktion in Tischnowitz sei. Vielsagend ist auch Leischkes Nachkriegserinnerung, dass Nölle nach diesem Ausspruch folgendes getan habe : Er verfügte mit Blaustift unter den Vorgang »Standgericht«47. Dass der Dienststellenleiter der Gestapo in Brünn letztBestand MLS Brno, Sign. LSP 32/47, Karton 254. Vgl. ferner Vašek, Černý, Břečka, Místa (wie Anm. 35) 452. 43 Vgl. Brünn, 2. Dezember 1946, deutschsprachiges Verhörprotokoll von Franz Aschauer. ABS, Bestand Výpovědi zaměstnanců Gestapa a SD, Sign. 52-1-5. 44 Vgl. Oldřich Sládek, Zločinná role gestapa. Nacistická bezpečnostní policie v českých zemích 1938– 1945 [Die verbrecherische Rolle der Gestapo. Die nationalsozialistische Sicherheitspolizei in den Böhmischen Ländern 1938–1945] (Praha 1986) S. 208 : »Ihre Tätigkeit haben die Standgerichte direkt aufgenommen : das Prager am 28. Mai und das Brünner einen Tag später. […] keine Verhandlung hat in Gegenwart der Angeklagten stattgefunden. Demnach handelte es sich eigentlich um überhaupt kein Gericht.« Vgl. ferner Olomouc, 22. Januar 1947, tschechischsprachiges Verhörprotokoll von Richard Heidan, geb. am 13. September 1893 in Hoyerswerda, Deutschland, Kommissar der Gestapo Brünn und ab Oktober 1942 Chef der Gestapo Olmütz. ZAO – Zweigstelle Olomouc, Bestand MLS Olomouc, Sign. LS 102/47 – Strafakte Richard Heidan : Zu meiner Teilnahme als Beisitzer bei den Standgerichten möchte ich noch hinzufügen, dass ich zur Zeit meiner Tätigkeit in Brünn nur einmal bei einem Standgericht war, und zwar im Juni oder Juli 1942 und zwar auf Befehl des Dienststellenleiters Nölle. Bei der Verhandlung hat Ebert den Vorsitz geführt. Es wurden damals insgesamt 6 Fälle verhandelt, und davon waren 5 Todesurteile und eins lautete zur Übergabe an die Gestapo. Eine Beratung fand keine statt, und das ganze Verfahren war eigentlich eine bloße Formalität, weil man lediglich die Namen verlas, kurz die Tathandlung hervorhob und ohne weitere Verhandlung die Urteile verkündete, die im voraus bereits vorbereitet waren. 45 Nölle Wilhelm, geb. am 26. Januar 1904 in Brächen, Deutschland, von Mai 1941 bis Mai 1944 Leiter der Gestapo Brünn. ABS, Bestand Stíhání nacistických válečných zločinců, Sign. 325-38-1. 46 Vgl. Brünn, 27. März 1947, deutschsprachiges Verhörprotokoll von Kurt Leischke. ABS, Bestand Výpovědi zaměstnanců Gestapa a SD, Sign. 52-1-5. 47 Ebd.
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endlich entschieden habe, wer vor das Standgericht gestellt werde, hat nach dem Krieg auch Kriminalsekretär Hübler ausgesagt : Vor der Abgabe der Akten an das Standgericht wurden sämtliche Vorgänge vom damaligen Leiter Reg.Rat. Nölle überprüft. Erst wenn von ihm die Vorgänge für das Standgericht abgezeichnet waren, konnten diese an das Standgericht übergeben werden48. Ähnlich wie in Prag hat auch im Falle des Standgerichts Brünn letztendlich der Leiter der örtlich zuständigen Gestapo-Dienststelle, in der das Opfer verhaftet und wo ermittelt wurde, die Entscheidung getroffen, den Beschuldigten vor das Standgericht zu stellen und damit auch über sein Leben oder seinen Tod entschieden. Im Falle der auf Brünner Gebiet Verhafteten war dies der Leiter der Brünner Gestapo Wilhelm Nölle. Falls ein Beschuldigter im Dienstbezirk einer der GestapoDienststellen auf dem Land ergriffen und gegen ihn ermittelt wurde, hat dann deren Leiter oder dessen Vertreter am Standgericht teilnehmen können. Diese Regel ist allerdings nicht konsequent eingehalten worden. Beispiel für eine solche Praxis sind die vom Standgericht Brünn am 19. und 20. Juni 1942 gefällten Todesurteile. Alle zwanzig damals zum Tode verurteilten tschechoslowakischen Patrioten49 hatten ihren Wohnsitz 48 Vgl. Brünn, 20. September 1946, deutschsprachiges Verhörprotokoll von Leopold Hübler. MZA, Bestand MLS Brno, Sign. LSP 32/47, Karton 254. 49 Vgl. Brünn, 1942, Juni, 19., vom Standgericht Brünn gefälltes Todesurteil durch Erschießen [als Vorsitzender SS-Sturmbannführer und Regierungsrat Ebert, SS-Hauptsturmführer und Kriminalkommissar Gottschling, als Beisitzer SS-Untersturmführer Liedtke] über Oldřich Dokoupil, geb. am 29. August 1919 in Beisterschitz/Bystročice, Friseurgehilfe, wohnhaft in Beisterschitz, Konskr.-Nr. 100. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-340-2. In den übrigen Urteilen des Standgerichts Brünn vom 19. und 20. Juni 1942, die über Patrioten aus Olmütz und Umgebung gefällt wurden, werden dieselben Namen der Beamten des deutschen Repressionsapparates aufgeführt, wie im Urteil über Oldřich Dokoupil : Vgl. ferner Brünn, 19. Juni 1942, vom Standgericht Brünn über František Vlk gefälltes Todesurteil durch Erschießen. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-340-1. Vgl. ferner Brünn, 19. Juni 1942, vom Standgericht Brünn über Vladimír Šural gefälltes Todesurteil durch Erschießen. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-339-30. Vgl. ferner Brünn, 19. Juni 1942, vom Standgericht Brünn über Josef Řezníček gefälltes Todesurteil durch Erschießen. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-341-1. Vgl. ferner Brünn, 19. Juni 1942, vom Standgericht Brünn über Stanislav Teichmann gefälltes Todesurteil durch Erschießen. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-341-2. Vgl. ferner Brünn, 19. Juni 1942, vom Standgericht Brünn über František Lorenz gefälltes Todesurteil durch Erschießen. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-341-5. Vgl. ferner Brünn, 19. Juni 1942, vom Standgericht Brünn über Jaroslav Novák gefälltes Todesurteil durch Erschießen. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-341-4. Vgl. ferner Brünn, 19. Juni 1942, vom Standgericht Brünn über Rudolf Hornig [Horník] gefälltes Todesurteil durch Erschießen. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-341-6. Vgl. ferner Brünn, 19. Juni 1942, vom Standgericht Brünn über Karel Svoboda gefälltes Todesurteil durch Erschießen. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-341-4. Vgl. ferner Brünn, 19. Juni 1942, vom Standgericht Brünn gefälltes Todesurteil durch Erschießen über
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entweder in Olmütz, oder in der Umgebung, und die Mitglieder des Standgerichts waren der damalige Leiter der Gestapo-Dienststelle von Olmütz Heinrich Gottschling und der Angehörige der dortigen Dienststelle des Sicherheitsdienstes des Reichsführer SS [SD] Ernst Liedtke. Auch Gottschling hat sich die Schuld an der Ermordung eines tschechischen Patrioten mit seinem Untergebenen geteilt, der für das Standgericht die Abschlussberichte über die Opfer ausgearbeitet hat50. Čeněk Beran, geb. am 29. September 1905 in Spišské Podhradíe (in der Slowakei). MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-341-3 Vgl. ferner Brünn, 20. Juni 1942, vom Standgericht Brünn über Miloslav Klapil gefälltes Todesurteil durch Erschießen. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-343-12. Vgl. ferner Brünn, 20. Juni 1942, vom Standgericht Brünn über Josef Krč gefälltes Todesurteil durch Erschießen. MZA, Bestand B 340 - Gestapo Brno, Sign. 100-343-6. Vgl. ferner Brünn, 20. Juni 1942, vom Standgericht Brünn über František Bartoš gefälltes Todesurteil durch Erschießen. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-343-8. Vgl. ferner Brünn, 20. Juni 1942, vom Standgericht Brünn über Antonín Hlavica gefälltes Todesurteil durch Erschießen. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-343-7. Vgl. ferner Brünn, 20. Juni 1942, vom Standgericht Brünn über Josef Sekanina gefälltes Todesurteil durch Erschießen. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-343-5. Vgl. ferner Brünn, 20. Juni 1942, vom Standgericht Brünn über Jan Martínek gefälltes Todesurteil durch Erschießen. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-343-9. Vgl. ferner Brünn, 20. Juni 1942, vom Standgericht Brünn über Josef Pospíšil gefälltes Todesurteil durch Erschießen. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-343-10. Vgl. ferner Brünn, 20. Juni 1942, vom Standgericht Brünn über Richard Chromec gefälltes Todesurteil durch Erschießen. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-343-11. Vgl. ferner die mit dem vom Standgericht Brünn am 20. Juni 1942 über Josef Fišer gefällten Todesurteil zusammenhängenden erhalten gebliebenen Akten. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100343-13. Vgl. ferner die mit dem vom Standgericht Brünn am 20. Juni 1942 über Josef Dokoupil gefällten Todesurteil zusammenhängenden erhalten gebliebenen Akten. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-343-14. 50 Es ist nachvollziehbar, dass Heinrich Gottschling, der im Jahr 1942 Leiter der Außendienststelle der Gestapo in Olmütz war, sich während seines Nachkriegsverhörs beim außerordentlichen Volksgericht Kuttenberg/Kutná Hora bemühte, die tschechoslowakischen Untersuchungsbeamten davon zu überzeugen, dass wer vor ein Standgericht gestellt und anschließend hingerichtet werde, in der Brünner Hauptdienststelle der Staatspolizei entschieden worden sei. Er bemühte sich sogar den Eindruck zu erwecken, dass die Standgerichte in Gegenwart der Angeklagten getagt hätten. Vgl. Kuttenberg, 16. Dezember 1946, tschechischsprachiges Verhörprotokoll von Heinrich Gottschling, geb. am 29. September 1909 in Kreibau, Bezirk Goldberg, Deutschland, ehemaliger Kriminalrat und Leiter der Gestapo in Olmütz und später auch in Tabor/Tábor. SOA Praha, Bestand MLS Kutná Hora, Sign. LS 23/47 – Strafakte von Heinrich Gottschling : Als Beisitzer habe ich in Brünn nur einmal an einem Standgericht teilgenommen. Auf ein und derselben Sitzung wurden damals 4 Fälle verhandelt. […] Als Beisitzer von Standgerichten habe ich weder in Brünn noch woanders mehrmals fungiert. Es ist möglich, dass am 19. oder 20. Juni 1942, jedoch wurden alle 4 Urteile mit Sicherheit an ein und demselben Tag ge fällt. Die schriftliche Ausfertigung eines Urteils wurde an demselben Tag unterzeichnet, an dem das Urteil gefällt wurde, und ich kann mir nicht erklären, warum 2 Urteile auf den 19. und 2 Urteile auf den 20. Juni
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Anhand der überlieferten zeitgenössischen und amtlich beglaubigten Kopien der über tschechische Patrioten vom Standgericht Brünn gefällten Todesurteile, die im Mährischen Landesarchiv Brno im Bestand Gestapo Brno – hervorragend von Archivar Dr. Hubert Valášek katalogisiert – aufbewahrt werden, lässt sich belegen, wer von den Angehörigen des deutschen Repressionsapparates im Standgericht Brünn getagt hat. Als Vorsitzender wird in allen Todesurteilen, die während des zweiten zivilen Ausnahmezustands gefällt wurden, SS-Sturmbannführer und Regierungsrat Herman Ebert aufgeführt51. Als Beisitzer waren nach und nach ferner folgende Personen an der Tätigkeit des Standgerichts beteiligt : SS-Sturmbannführer Erich Endlich52, SS-Obersturmführer und Kriminalinspektor Karl Enderl53, SS-Sturmbannführer Dr. jur. Otto Ernesty54, SSHauptsturmführer und Kriminalkommissar Heinrich Gottschling55, SS-Obersturmführer und Polizeiinspektor Josef Hess56, SS-Obersturmführer und Kriminalkommissar Richard Heidan57, SS-Untersturmführer und Oberkriminalsekretär Leopold Kadlec, SS-Sturmbannführer Otto Khol58, SS-Obersturmführer und Kriminalkommissar Kurt Leischke, SS-Untersturmführer Ernst Liedtke59, SS-Obersturmführer und Polizeiinspektor Hermann Petzold60, SS-Untersturmführer und Kriminalsekretär Alfred Press42 datiert sind. Das Verfahren vor dem Standgericht hat ohne Zeugen nach Aktenlage in Anwesenheit des Angeklagten stattgefunden. Alle Akten, in denen das Verfahren abgeschlossen war, wurden an die Leitstelle nach Brünn gesandt, und die Leitstelle hat direkt bestimmt, welche Fälle vor das Standgericht gestellt werden sollen, sodass die Dienststelle der Gestapo in Olmütz mit dem Standgericht direkt nichts zu tun hatte. 51 Ebert Hermann Dr. jur., geb. am 13. Dezember 1911 in Leipzig, Deutschland, Jurist, SS-Sturmbannführer und Regierungsrat, ab Herbst 1941 bis 1943 Vertreter des Leiters der Gestapo Brünn. BArch, Sign. SSO 169. 52 Endlich Erich, geb. am 21. Dezember 1908 in Mainz, Deutschland, Beamter des Sicherheitsdienstes des Reichsführer SS [SD] in Brünn. ABS, Bestand Stíhání nacistických válečných zločinců, Sign. 325-165-5. 53 Enderl Karl, geb. am 11.10.1893 in Thalgau, Österreich, Kriminalinspektor der Gestapo Brünn. BArch, Bestand SSO, Sign. 185. 54 Ernesty Otto Dr. jur., geb. am 11. November 1900 in Münster, Deutschland, Leiter des Sicherheitsdienstes des Reichsführer SS [SD] in Brünn. ABS, Bestand Stíhání nacistických válečných zločinců, Sign. 325165-5. 55 Gottschling Heinrich, geb. am 29. September 1909 in Kreibau, Bezirk Goldberg, Deutschland, Kriminalkommissar der Gestapo Olmütz. BArch, Sign. SSO 25 A. 56 Hess Josef, geb. am 25. Mai 1902 [ohne Ortsangabe], Polizeiinspektor. BArch, Bestand SSO, Sign. 094 A. 57 Heidan Richard, geb. am 13. September 1893 in Hoyerswerda, Deutschland, Kriminalkommissar der Gestapo in Brünn. BArch, Sign. SSO 74 A. Vgl. ferner Vašek, Černý, Břečka, Místa (wie Anm. 35) 108. 58 Khol Wolfgang, geb. am 30. Oktober 1906 in Plauen, Deutschland, Leiter der Dienststelle des Sicherheitsdienstes des Reichsführer SS [SD] in Olmütz. BArch, Sign. SSO 195 A. 59 Liedtke Ernst, geb. am 19. Juli 1913 in Montau, Bezirk Schwetz, Deutschland, Angehöriger des Sicherheitsdienstes des Reichsführer SS [SD] Olmütz. BArch, Bestand SSO, Sign. 260 A. 60 Petzold Hermann, geb. am 9. September 1910 in Hachenburg, Deutschland, Polizeiinspektor der Gestapo in Brünn. MZA, Bestand MLS Brno, Sign. LSP 1542/46, Karton 219.
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lauer61, SS-Hauptsturmführer Hugo Römer62, SS-Untersturmführer und Kriminalsekretär Adolf Scherzer63, SS-Obersturmführer und Kriminalinspektor Alexander Schober, SS-Obersturmführer und Polizeiinspektor Gustav Weber. Sie alle wurden zu Mitschuldigen an der Ermordung von Hunderten von tschechoslowakischen Patrioten, die während des II. Standrechts im Kaunitz-Wohnheim erschossen oder erhängt wurden. Was sagen die zeitgenössischen, durch die Zuständigkeit der NS-Polizeiverwaltung entstandenen schriftlichen Quellen über den Gehalt der Tätigkeit der Standgerichte aus ? Enttäuscht sein wird jeder, der erwarten würde, dass er in den Hunderten von existierenden zeitgenössischen und amtlich beglaubigten Abschriften von Todesurteilen, die während des zweiten zivilen Ausnahmezustands vom Standgericht Brünn über tschechoslowakische Bürger gefällt worden sind, eine Ansammlung an Fakten über antinazistische Tätigkeiten ihrer Opfer vorfinden würde. Das Standgericht in Brünn hat keine Aufzeichnungen über die Tatbestände der Vergehen der von ihm aufs Schafott geschickten tschechoslowakischen Bürger angefertigt. Die Texte der Urteile des Standgerichts Brünn sind aus diesem Grund als Quelle für historische Erkenntnisse über die Geschichte des Widerstands was die Fakten angeht nur wenig aussagekräftig. So ist dem Wortlaut des am 30. Juni 1942 vom Standgericht Brünn über das Mitglied der Fallschirmgruppe Bivouac, Feldwebel Jindřich Čoupek gefällten Todesurteils überhaupt nicht zu entnehmen, dass der verurteilte Mann ein »Fallschirmagent« war64. Nur in seltenen Ausnahmefällen hat irgendein genauer Gestapo-Beamter dem vorgedruckten Wortlaut des Urteils einige erläuternde Wörter hinzugefügt. So wurde z. B. auf dem ausgefüllten Formular des Todesurteils über den Fallschirmjäger Oldřich Pechal der vorgedruckten Urteilsbegründung mit Schreibmaschine dazugeschrieben : und wegen Mord65, weil der Fallschirmjäger am 30. März 1942 an der slowakischen Protektoratsgrenze zwei deutsche Zöllner erschossen hatte, die ihn festnehmen wollten66. Ein weiteres Beispiel für die vage Begründung der Hinrichtung ist das vom Standgericht Brünn über den Wi61 Presslauer Alfred, geb. am 15. September 1907 in Radnig/Kärnten, Österreich, Kriminalsekretär der Gestapo in Brünn. BArch, Bestand SSO, Sign. 392 A. 62 Römer Hugo, geb. am 21. September 1897 in Altenderne, Deutschland, Kriminalrat bei der Gestapo in Brünn. BArch, Sign SSO 040 B. 63 Scherzer Adolf, geb. am 14. Juni 1902 in Marchegg, Österreich. BArch, Bestand SSO, Sign. 075 B. 64 Vgl. Brünn, 30. Juni 1942, Standgerichtsurteil über Jindřich Čoupek. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-299-25. 65 Vgl. Brünn, 30. Mai 1942, Standgerichtsurteil über Oldřich Pechal. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-301-2. 66 Vgl. Vojtěch Šustek, Atentát na Reinharda Heydricha a druhé stanné právo na území tzv. protektorátu Čechy a Morava. Edice historických dokumentů [Das Attentat auf Reinhard Heydrich und das zweite Standrecht auf dem Gebiet des sog. Protektorats Böhmen und Mähren. Edition historischer Dokumente] 3 (Praha 2019) Nr. V/62.
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derstandskämpfer Josef Doležel gefällte Todesurteil67. Mit Schreibmaschine wurde im vorgedruckten Formular außer der Aufzählung der Paragraphen zum zivilen Ausnahmezustand, die der verurteilte Mann verletzt haben soll dazugeschrieben : sowie wegen Vor bereitung eines hochverräterischen Unternehmens68. Auf ähnliche Weise wurde dem über Vladimír Jedla verhängten Todesurteil als Urteilsbegründung folgendes hinzugefügt : so wie wegen Verbrechens gegen die Verordnung des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren über den Besitz von Waffen69. Allerdings sind solche Begründungen der Todesurteile, die zumindest eine grobe Auskunft über die Hinrichtungsgründe geben, eine Ausnahme. Die Todesurteile des Standgerichts dienten zur Registrierung der Namen der Hingerichteten oder der in die Vernichtungslager deportierten Reichsfeinde, nicht zuletzt auch als amtliches Dokument, das beispielsweise bei der Konfiszierung des Besitzes der Opfer verwendbar war. Die mit Schreibmaschine ausgefüllten und offenbar mit einem Mimeographen vorgedruckten Urteilsformulare des Standgerichts Brünn waren mit dem pathetischen Ausruf : »Im Namen des deutschen Volkes !« überschrieben. Ferner enthielten sie Vor- und Zuname des Verurteilten, im Falle einer verheirateten Frau auch deren Geburtsname, Beruf, ferner Geburtsdatum und -ort und die genaue Wohnungsadresse vor der Gefangennahme. Unter den Personalangaben der Opfer waren die vorgedruckten Nachnamen der Mitglieder des Standgerichts mit detailliert aufgelisteten Rängen der SS, im Falle eines Angehörigen der Gestapo wurde auch die amtliche Titulatur ihrer dienstlichen Einstufung bei der Dienststelle der deutschen Staatspolizei aufgeführt. Während der Heydrichiade haben zusammen mit den Gestapo-Beamten auch Angehörige des Sicherheitsdienstes des SS-Reichsführer SS [SD] im Standgericht getagt. Der vorgedruckte Text des Formulars wird fortgesetzt mit einer Aufzählung der Paragraphen beider Verordnungen des Reichsprotektors über den zivilen Ausnahmezustand, d.h. vom 27. September 1941 und vom 27. Mai 1942, gegen die der zum Tode Verurteilte verstoßen haben soll. Der vorgedruckte Text enthält auch den Beschluss über die Konfiszierung des Besitzes des Opfers und die Feststellung, dass es gegen das Urteil keine Berufung gibt. Unter dem Urteilstext wurden mit Schreibmaschine die Nachnamen des Vorsitzenden des Gerichts und seiner zwei Beisitzer mit ihren Rängen in der SS und den Titeln bei der Gestapo eingetragen, von denen das Urteil gefällt und unterzeichnet wurde. Ganz unten auf der Seite befindet sich ein Rundstempel mit dem Reichsadler, Hakenkreuz und dem Stempeltext Geheime Staatspolizei – Staatspolizei 67 Vgl. Brünn, 29. Mai 1942, vom Standgericht über Josef Doležel gefälltes Todesurteil durch Erschießen. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-299-19. 68 Vgl. Brünn, 29. Juni 1942, vom Standgericht Brünn über Josef Doležel gefälltes Todesurteil durch Erschießen. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-299-19. 69 Vgl. Brünn, 2. Juni 1942, vom Standgericht Brünn über Vladimír Jedla gefälltes Todesurteil durch Erschießen. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-330-9.
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leitstelle Brünn sowie den Paraphen des Erstellers der amtlichen Kopie70. Die Rückseite besteht aus einem vorgedruckten Formular für die datierte Unterschrift des Höheren SSund Polizeiführers und SS-Gruppenführers Karl Hermann Frank71, der das Urteil formal bestätigte, und ganz unten befindet sich die Anordnung zur direkten Vollstreckung der Hinrichtung. Diesen Befehl musste der Vorsitzende des Standgerichts Ebert immer mit seiner Unterschrift bestätigen72. Im Falle eines Todesurteils wurde vom Standgericht Brünn bestimmt, ob es durch Erschießen oder durch Erhängen vollstreckt wird. Bereits sehr bald wurde auf der Rückseite des mimeographierten Formulars Platz gelassen, wo der Vorsitzende des Standgerichts durch einen Stempelaufdruck mit dem Wort »Erschießen«73 oder »Erhängen«74 zusammen mit seiner hinzugefügten Unterschrift nicht nur den Befehl zur direkten Urteilsvollstreckung erteilte, sondern auch bestimmte, auf welche Weise dies geschehen soll. Allerdings war in einigen Urteilsformularen, besonders in denen von Ende Mai und Anfang Juni 1942, das Wort »Erschiessen« bereits Bestandteil des vorgedruckten Textes. Ein weiteres mögliches Urteil konnte lauten : der Geheimen Staatspolizei überwiesen75. Das bedeutete die Deportation in ein Konzentrationslager. Zur Zeit der Heydrichiade hieß das in der Regel eine Verschickung nach Mauthausen oder in die Lager Auschwitz I, bzw. Auschwitz II – Birkenau, bei Frauen konnte es auch Ravensbrück sein. Im Urteil wurde allerdings nicht angegeben, in welches Kon70 Vgl. Brünn, 1. Juni 1942, zeitgenössische amtliche Kopie des Urteils des Standgerichts Brünn über Ladislav Staněk : In der Sache gegen den Beamten Ladislav Stanek, Prot.Ang., geb. 22. 6. 1912 in Brünn – Komein, wohn. gew.[esen] Brünn, Auf den Weiden 56, zzt. in Haft, hat das Standgericht Brünn in der Sitzung vom 1. Juni 1942, an der teilgenommen haben : SS-Stubaf. Reg. Rat Ebert als Vorsitzender, SS-Stubaf. Dr. Ernesty, SS – H. Stuf. KK. Römer als Beisitzer : »Der Angeklagte wird wegen Verbrechens der Störung der öffentli chen Ordnung und Sicherheit gem. §§ 3 und 4. Der. VO. Des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren in Verbindung mit der VO. vom 27. 5. 1942 über die Verhängung des zivilen Ausnahmezustandes sowie wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmen zum Tode verurteilt. Das Vermögen des Angeklagten wird eingezogen. Das Urteil ist unanfechtbar.« [gez.] Ebert [gez.] Dr. Ernesty [gez.] Römer Beglaubigt Steiner Beurkundungsführer. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-330-16. 71 Vgl. Brünn, 1. Juni 1942, Urteil des Standgerichts Brünn über Ladislav Staněk : Ich bestätige das vorste hende Urteil Prag […] den 1942, und darunter mit Platz für die Unterschrift : Der Höhere SS-und Poli zeiführer beim Reichsprotektor in Böhmen und Mähren […] SS-Gruppenführer und Staatssekretär. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-330-16. 72 Vgl. Brünn, 1. Mai 1942, Urteil des Standgerichts Brünn über Ladislav Staněk »Das Urteil ist sofort durch Erschießen zu vollstrecken. Der Vorsitzende des Standgerichts Brünn« und darunter mit Platz für die Unterschrift : »SS- Sturmbannführer und Regierungsrat.« MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100330-16. 73 Vgl. Brünn, 16. Juni 1942, Standgerichtsurteil über Emanuel Krajina. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-342-11. 74 Vgl. Brünn, 17. Juni 1942, Standgerichtsurteil über Richard Bäck. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-340-21. 75 Vgl. Brünn, 11. Dezember 1941, Standgerichtsurteil über Augustin Čáp. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-322-30.
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zentrationslager das Opfer des Standgerichts Brünn deportiert wird. Unter den Hunderten an erhalten gebliebenen Urteilen des Standgerichts Brünn konnte zur Zeit der Heydrichiade kein einziger Freispruch entdeckt werden. Wenn vom Standgericht zum Tode verurteilte tschechische Patrioten das Urteil spätestens an dem Tag erfuhren, an dem sie von den Deutschen zum Schafott geschleppt wurden, so wussten die zur Deportation in ein Konzentrationslager bestimmten Opfer häufig noch nicht einmal während des Transports dorthin, dass sie vom Standgericht zur Übergabe an die geheime Staatspolizei verurteilt worden waren. Dies geht aus den Zeitzeugenaussagen ehemaliger Konzentrationslagergefangener hervor, die aufgrund eines Urteils des Standgerichts Brünn deportiert worden waren76. 76 Vgl. Manuskript der nicht im Druck erschienenen Memoiren aus dem Jahr 1991 von Ing. Dalibor Šindelka, geb. am 8. Januar 1921 in Eibenschütz/Ivančice, Teilnehmer des Sokol-Widerstands und in den Jahren 1942–1945 Häftling des Konzentrationslagers Mauthausen zur Deportation aus dem Häftlingslager in der Straße Pod Kaštany : Am 6. August 1942 riefen sie mich auf »alles mitnehmen« und nach län gerem Stehen an der Wand pferchten sie uns in irgendwelche entlegene Räume. Frühmorgens am 7. 8., noch im Morgengrauen, weckten sie uns, führten uns ab zum Bahnhof, verluden uns in einen Zug (seltsamerweise in einen Personenzug) und wir verließen Brünn. Mit Spannung habe ich verfolgt, ob wir nach Přerov oder nach Břeclav abbiegen, was ich immerhin lieber hatte – Auschwitz hat damals schon Entsetzen hervorgeru fen. Gleichzeitig mit uns sind auch die aus Brünn weggefahren, die wegen Arbeitsvergehen für das Straflager bestimmt waren. Die hat man in Wien von uns getrennt und woandershin abgeführt. Uns brachte man mit einer »grünen Minna« an einen anderen Bahnhof, und wir sind stromaufwärts der Donau weitergefahren. Irgendwann gegen Abend haben sie uns an einem kleinen Bahnhof namens Mauthausen aus dem Waggon getrieben. Dort hat uns ein SS-Kommando mit Hunden an Ketten erwartet, und schon gings »los-los« sehr mühselig bergauf, stellenweise durch einen Wald, bis wir oben am Waldrand rauskamen und eine neue Burg aus Granit, unseren Aufenthaltsort bis zum Kriegsende erblickten : das Konzentrationslager Mauthausen/ Oberdonau. Lagerstufe III – das war die schlimmste Stufe – ein Vernichtungslager. Aus dem erhalten gebliebenen Urteil des Standgerichts Brünn geht hervor, dass Dalibor Šindelka bereits am 12. Dezember 1941 zur Überweisung an die geheime Staatspolizei bestimmt war. Das »Urteil« wurde nicht nur erst im August 1942 »vollstreckt«, sondern das Opfer, das von dieser Entscheidung des Standgerichts betroffen war, hat von der Existenz eines solchen »Urteils« auch erst gar nichts erfahren. Vgl. Brünn, 12. Dezember 1941, vom Standgericht Brünn gefälltes Urteil über Dalibor Šindelka, geb. am 8. Januar 1921 in Eibenschütz. MZA, Bestand B 340 – Gestapo Brno, Sign. 100-326-24. Desgleichen haben die Mutter und die Schwestern des orthodoxen Priesters Vladimír Petřek, die ab dem 2. Juli 1942 von der Gestapo in Haft gehalten wurden, niemals von der Existenz des »Urteils« des Standgerichts Brünn erfahren, auf dessen Grundlage sie am 19. März 1943 nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurden. Dass sie in ein Konzentrationslager deportiert werden, haben sie vor dem Abtransport auf inoffiziellem Weg zu wissen bekommen – durch das Gespött einer deutschen Aufseherin im KaunitzWohnheim. Wie sich Jiřina Petřková im November 2007 erinnerte, hatte die mit dem Spitznamen »Ára« belegt Aufseherin – eine Brünner Deutsche –ihnen die Abfahrt nach Auschwitz mit dem schadenfrohen Nachsatz angekündigt : Dort kriegen sie ihren Bestimmungsort. Eine ähnliche Erinnerung schilderte auch ihre Schwester Zdena Petřková-Mádlová über eine weitere deutsche Aufseherin mit dem Familiennamen Tscherwinka. Sie erinnerte sich, wie Aufseherin Tscherwinka kurz vor der Deportation der Petřkovás un ser Entsetzen aufmuntern wollte und uns mit Lust mitteilte, »Ihr wisset nicht, wohin ihr geht, davon kommt niemand zurück«. Vgl. Vojtěch Šustek, Zlato se čistí v ohni. O životě, oběti a smrti pravoslavného kněze
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Das Standgericht Brünn und ganz sicher auch das Standgericht Prag hatten noch nicht einmal weitläufig etwas mit echten Gerichten gemeinsam. Sogar noch nicht einmal mit den NS-Gerichten. In Wirklichkeit handelte es sich dabei um ein effizient arbeitendes, administratives Mordinstrument des deutschen Besatzungsregimes. Seine Aufgabe war es, den Ermordungen tschechischer Patrioten und Gegner der NS-Macht den Anschein von Legitimität und Berechtigung zu verleihen. Sie sollten dabei einen gewissen rechtlichen Rahmen dieser Repressionen vortäuschen. All das war für die Ausübung der Okkupationspolitik gegen die Tschechen in deutschem Interesse unerlässlich. Wichtig war dies auch für die Psychologie der Täter dieser Verbrechen aus den Reihen der Angestellten des deutschen Repressionsapparates selbst, auch hinsichtlich der deutschen öffentlichen Meinung im Protektorat und in Deutschland selbst. Das sog. Standgericht Brünn hat während des II. Standrechts, d.h. in der Zeit vom 27. Mai bis zum 3. Juli 1942, über die Erschießung oder Erhängung von insgesamt 397 Männern und Frauen entschieden77. Bis zum Ende der Okkupation blieben Ermordungen von tschechoslowakischen Patrioten und Opfern aus den Reihen der von den Deutschen besetzten Nationen aufgrund von administrativen Entscheidungen der Gestapo-Beamten auch weiterhin ein beliebtes Mittel des Terrors, von dem im höchsten Maße Gebrauch gemacht wurde.
ThDr. Vladimíra Petřka, jeho rodičů a sourozenců [Gold wird im Feuer gereinigt. Vom Leben, Opfer und Tod des orthodoxen Priesters ThDr. Vladimír Petřek, seiner Eltern und Geschwister] (Praha 2008) 53, 105. Vgl. ferner Brünn, 8. September 2007, Zeitzeugenaussage von MUDr. Milan Zapletal, geb. am 23. Oktober 1924 in Velké Bílovice : Dass ich zusammen mit weiteren Häftlingen nach Auschwitz deportiert werde, habe ich im Lager Pod kaštany erfahren, kurz vor der Abfahrt. Das wurde mir von einem Kapo des Gefäng nisses, der Mario genannt wurde, unauffällig ins Ohr geflüstert. 77 Vgl. Brünn, 3. September 1942, Fernschreiben von Wilhelm Nölle, Leiter der Gestapo Brünn, an den Höheren SS- und Polizeiführer K. H. Frank. NA, Bestand Státní tajemník u říšského protektora v Čechách a na Moravě, Sign. 109-5-5.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Mgr. Přemysl Bar, Ph.D. Ústav pomocných věd historických a archivnictví Filozofická fakulta Masarykovy univerzity Arna Nováka 1 CZ-60200 Brno Tschechien [email protected] Mgr. Stanislav Bárta, Ph.D. Ústav pomocných věd historických a archivnictví Filozofická fakulta Masarykovy univerzity Arna Nováka 1 CZ-60200 Brno Tschechien [email protected] Doc. Mgr. Martin Čapský, Ph.D. Ústav historických věd Filozofické fakulty Univerzity Pardubice Studentská 84 Pardubice CZ 53210 Tschechien [email protected] Mgr. Dušan Coufal, Th.D. Centum medievistických studií Filosofický ústav Akademie věd České republiky Jilská 1 CZ-110 00 Praha 1 Tschechien [email protected]
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Mgr. Petr Elbel, Ph.D. Ústav pomocných věd historických a archivnictví Filozofická fakulta Masarykovy univerzity Arna Nováka 1 CZ-60200 Brno Tschechien [email protected] Prof. Dr. Martina Hartmann Monumenta Germaniae Historica Ludwigstraße 16 D-80539 München Deutschland [email protected] Dr. Petra Heinicker Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Regesten Kaiser Friedrichs III. Jägerstraße 22–23 D-10117 Berlin Deutschland [email protected] Dr. phil. Klara Hübner Ústav pomocných věd historických a archivnictví Filozofická fakulta Masarykovy univerzity Arna Nováka 1 CZ-60200 Brno Tschechien [email protected] MMag. Dr. Alexandra Kaar Institut für Mittelalterforschung, Abt. Editionsunternehmen und Quellenforschung – MIR Österreichische Akademie der Wissenschaften Hollandstraße 11–13 A-1020 Wien
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Österreich [email protected] Univ. Prof. Mag. Dr. Christian Lackner Institut für Österreichische Geschichtsforschung / Institut für Geschichte Universität Wien Universitätsring 1 A-1010 Wien Österreich [email protected] Dr. Michael Lindner Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Monumenta Germaniae Historica Jägerstraße 22–23 D-10117 Berlin Deutschland [email protected] Univ. Ass. MMag. Dr. Daniel Luger Institut für Österreichische Geschichtsforschung / Institut für Geschichte Universität Wien Universitätsring 1 A-1010 Wien Österreich [email protected] Mgr. Jiří Němec, Ph.D. Historický ústav Filozofická fakulta Masarykovy univerzity Arna Nováka 1 CZ-60200 Brno Tschechien [email protected]
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Mgr. Robert Novotný, Ph.D. Centum medievistických studií Filosofický ústav Akademie věd České republiky Jilská 1 CZ-110 00 Praha 1 Tschechien [email protected] Prof. Dr. Olaf Rader Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Monumenta Germaniae Historica Jägerstraße 22–23 D-10117 Berlin Deutschland [email protected] Mag. Dr. Andrea Rzihacek, MAS Institut für Mittelalterforschung, Abt. Editionsunternehmen und Quellenforschung – MIR Österreichische Akademie der Wissenschaften Hollandstraße 11–13 A-1020 Wien Österreich [email protected] Mgr. Ondřej Schmidt, Ph.D. Ústav pomocných věd historických a archivnictví Filozofická fakulta Masarykovy univerzity Arna Nováka 1 CZ-60200 Brno Tschechien [email protected] Mgr. Pavel Soukup, Ph.D. Centum medievistických studií Filosofický ústav Akademie věd České republiky Jilská 1
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
CZ-110 00 Praha 1 Tschechien [email protected] Mgr. Vojtěch Šustek, Ph.D. Archiv Hlavního města Prahy Archivní 6 Praha 4 CZ-14900 [email protected] Mag. Dr. Maria Theisen Institut für Mittelalterforschung, Abt. Schrift- und Buchwesen Österreichische Akademie der Wissenschaften Hollandstraße 11–13 A-1020 Wien Österreich [email protected] Prof. PhDr. Martin Wihoda, Ph.D. Historický ústav Filozofická fakulta Masarykovy univerzity Arna Nováka 1 CZ-60200 Brno Tschechien [email protected] PD Mag. Dr. Andreas Hermenegild Zajic, MAS Institut für Mittelalterforschung, Abt. Editionsunternehmen und Quellenforschung – MIR Österreichische Akademie der Wissenschaften Hollandstraße 11–13 A-1020 Wien Österreich [email protected]
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