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German Pages 492 [498] Year 2021
Paula Stähler Heilung deuten
rerum religionum. Arbeiten zur Religionskultur | Band 10
Editorial Religion ist ein Kulturphänomen. Sie zeigt sich in Kunst und Gesellschaft, in Ethos und Recht, in Sprache, Konsumkultur, Musik und Architektur. Eine Deutung spätmoderner Religion wird sich darum immer auch auf weitere Segmente der Gegenwartskultur einlassen müssen. Dies gilt auch und gerade aus der Perspektive der Religionsforschung innerhalb und außerhalb von Theologie. Jenseits der überkommenen polarisierenden Orientierungen am isolierten Subjekt oder am dogmatischen Normenkanon rückt Religion als dynamische Ausdrucksform performativer Praxis ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Religionswissenschaft, Praktische Theologie und Kulturwissenschaft stellen sich dieser Aufgabe in je spezifischen Theoriezugriffen. Dabei werden Differenzen und Deutungskonflikte, Geltungsansprüche und Übergänge kenntlich gemacht und aufgeklärt. Denn die Frage nach religionskulturellen Formaten korreliert mit der nach religiösen Traditionen, theologischen Normierungen und sozialen Zuschreibungen. Diskurse zu Religion werden so in Bezugnahme auf religionstheoretische Fragehorizonte zum Gegenstand interdisziplinären Austauschs – empirisch, philologisch und historisch vergleichend. Die Bände dieser neuen Reihe widmen sich in unterschiedlicher Weise kulturellen Phänomenen und deuten sie semiotisch und ästhetisch in ihrer geschichtlich gewordenen Gestalt. Im Horizont fachlich gebundener Herangehensweisen wissen sich die Herausgeberin und die Herausgeber in besonderer Weise der Frage nach der Relevanz ihres Gegenstands verpflichtet. Die Reihe wird herausgegeben von Klaus Hock, Anne Koch und Thomas Klie.
Paula Stähler, geb. 1982, ist Pfarrerin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Die Theologin promovierte an der Universität Rostock im DFG-Graduiertenkolleg »Deutungsmacht - Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten«.
Paula Stähler
Heilung deuten Religionshybride Deutungen im alternativmedizinischen Kontext
Dissertation an der Universität Rostock
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Inhalt 1 Vorwort | 9 2 Einleitung | 13
2.1 Voraussetzungen und Forschungslücke (oder: Gesundheit als Thema des 21. Jh.) | 13 2.2 Forschungsgegenstand und These | 17 2.3 Einführung der Referenztheorien | 19 2.4 Aufriss der Arbeit | 21
3
‚Resonanzraum‘ der Diskurse | 25
3.1 Medizin und Religion – zwei getrennte Systeme | 26 3.1.1 Der Prozess gesellschaftlicher Differenzierung | 26 3.1.2 Festigung der Systemgrenzen im 19. Jahrhundert | 29 3.1.3 Entdifferenzierung als spätmoderne Entwicklung | 53 3.2 Diskurse der Entdifferenzierung | 57 3.2.1 Medizin | 57 3.2.2 Religionskultur – Praktische Theologie und religiöse Praxis | 94 3.3 Fazit | 124 4 Eine deutungsmachtsensible religionshermeneutische Analyse | 127
4.1 Warum hier von Deutung sprechen? | 127 4.2 Deutung | 129 4.3 Machtansprüche und Deutungsmacht | 134 4.4 Religionshermeneutischer Zugriff | 138 4.5 Operationalisierung der Referenztheorien Religionshybride und Deutungsmacht | 144 4.5.1 Kategorien der religionshermeneutischen Untersuchung | 145 4.5.2 Kategorien der deutungsmachtanalytischen Untersuchung | 155
5
Methoden der empirischen Arbeit | 169
5.1 Sample | 170 5.2 Interviews | 179 5.3 Teilnehmende Beobachtungen | 181 5.4 Datenerhebung | 182 5.5 Auswertung | 186 6 Ergebnisse | 191 6.1 Transzendenzbezug | 191 6.1.1 Höheres Wesen | 192 6.1.2 Dankbarkeit | 199 6.1.3 Schicksal | 202 6.1.4 ‚Andere Ebene‘ | 204 6.1.5 Ganzheitlichkeit | 209 6.1.6 Energie | 217 6.1.7 Transzendentes Körperverständnis | 224 6.1.8 Weitere Transzendenzbezüge | 228 6.1.9 Differenzkategorie | 231 6.1.10 Fazit: Transzendenzbezug | 233 6.2 Sinnstiftung | 235 6.2.1 Fragen und Suchen | 235 6.2.2 Sinnkonstruktion | 240 6.2.3 Handlungsorientierung | 244 6.2.4 Fazit: Sinnstiftung | 246 6.3 Riten und Rituale | 247 6.3.1 Riten und Rituale | 247 6.3.2 Leibliche Vollzüge | 253 6.3.3 Ordnungsfunktion | 256 6.3.4 Religionsproduktivität | 258 6.3.5 Fazit: Riten und Rituale | 261 6.4 Vergemeinschaftungsprozesse | 262 6.4.1 Freiwillige, kurzzeitige Gruppenbildung | 263 6.4.2 (Vermutete) gemeinsame Interessen | 264 6.4.3 Abgrenzung von Wir und Nicht-Wir | 266 6.4.4 Events | 268 6.4.5 Leitungsperson | 268 6.4.6 Religionshybride | 270 6.4.7 Fazit: Vergemeinschaftungsprozesse | 272
6.5 Naturalisierung und Normalisierung | 273 6.5.1 Naturgegebenheit bzw. Natürlichkeit | 273 6.5.2 Analogien und Vergleiche | 279 6.5.3 Transzendentes Naturverständnis | 280 6.5.4 Normalitätsvorstellungen | 283 6.5.5 Infragestellung von Normalität | 286 6.5.6 Fazit: Naturalisierung und Normalisierung | 289 6.6 Wissenschaftlichkeit und Faktizität | 290 6.6.1 Studien und Faktizität | 291 6.6.2 Namensnennung | 299 6.6.3 Anbindung an die Wissenschaft | 302 6.6.4 Infragestellung von Wissenschaftlichkeit | 308 6.6.5 Fazit: Wissenschaftlichkeit und Faktizität | 312 6.7 Genese | 314 6.7.1 Veränderung und Entwicklung | 314 6.7.2 Begründungsbedürftigkeit | 319 6.7.3 Dauerhaftigkeit | 323 6.7.4 Fazit: Genese | 326 6.8 Person | 327 6.8.1 Rolle, Amt bzw. Autorität | 327 6.8.2 Charisma | 335 6.8.3 Anerkennung durch RezipientInnen | 339 6.8.4 Vorbilder und persönliche Beziehung | 342 6.8.5 Infragestellung von Rollen bzw. Autorität | 344 6.8.6 Fazit: Person | 348 6.9 Vergleichsmaterial | 350 6.10 Zusammenfassung der Ergebnisse | 360 Schlussfolgerungen und Ausblick | 369 7.1 Hybride Religiosität im Feld alternativmedizinischer Angebote | 369 7.2 Konsequenzen für die Religionspraxis und die Praktische Theologie | 372 7.3 Perspektiven | 391
7
8 Literaturverzeichnis | 395 9 Anhang | 421
1 Vorwort
Also, Heilung, glaube ich, in dem Sinne, ist schon immer so ein aus-, also so ein-, also, ganz still mal zu sein und zu hören, was bin ich, was will ich, was ist meine Aufgabe? Was will ich eigentlich in diesem Leben? Und dann auch den Mut haben, diesen Weg auch zu gehen, auch wenn er unangenehm ist. Und Heilung ist ja wirklich, also, ist für mich wirklich, auch wenn es immer wieder so eine Floskel ist, aber das ist wirklich eine Balance von Körper, Geist und Seele. Und das, was ich denke und fühle, dass ich das auch leben kann. Und dass ich mich nicht verstellen muss. […] Und dass ich manchmal auch gegen den Strom schwimme. Oder, dass ich Dinge einfach so annehme, wie sie sind. Interview Katja, Z. 185-195
Ist Heilung ein medizinischer Zustand? Das Ergebnis einer Behandlung? Ist Heilung eine Haltung dem Leben gegenüber? Antwort auf die Suche nach einem Sinn? Die Heilpraktikerin Katja, Mitte vierzig, selbständig in einer alternativmedizinischen Praxis in Norddeutschland tätig, verbindet Heilung mit Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach dem eigenen Weg und dem Wunsch, die richtige Richtung für das eigene Dasein zu finden. Auffällig wenig hat ihre Beschreibung mit einem medizinischen Erklärungsmuster oder Vokabular zu tun. Ihren Ausgangspunkt nahm die vorliegende Untersuchung in den Beobachtungen des sozialen Nahraums. Im privaten Umfeld wie auch im Kontext der Arbeit als Pfarrerin stellte ich immer wieder fest, dass Menschen in Krankheitssituationen nicht nur klassische SchulmedizinerInnen aufsuchten, sondern sich alternativmedizinischen Angeboten anvertrauten und dabei den AnbieterInnen sowie ihren Methoden und Deutungen eine offensichtlich große Überzeugungskraft zusprachen. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtung entstand die Frage nach der Attraktivität dieser Angebote. Was macht diese so anziehend und gewinnend? Schließlich bildete sich die Vermutung heraus, dass es nicht nur – und vielleicht nicht einmal primär – die angebotene Alternative zum Medizinsystem sein könnte, die hier einen entscheidenden Faktor bildet, sondern vielmehr die Eröffnung ei-
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nes Deutungsangebots, ein attraktives belief system, welches Ordnung, Sinn oder auch die Füllung einer transzendenten Leerstelle bietet. Wenn Alternativmedizin in dieser Weise auf Phänomene und Themen rekurriert, die über ein medizinisches Angebot hinausgehen und religionstheoretisch relevante Inhalte aufweisen, so ist hier von einem fluiden Feld auszugehen, welches eine Untersuchung in religionshermeneutischer Perspektive Wert sein könnte. Über das persönliche Interesse hinaus ist die fachliche Relevanz der Untersuchung dieses Forschungsfeldes aus religionswissenschaftlicher und praktischtheologischer Perspektive zu begründen. Hier steht zum einen eine religionshermeneutische Neugier im Hintergrund, die bestrebt ist, zu verstehen, was sich in diesem Feld beobachten lässt, was sich an den Phänomenen zeigt und wie diese mit den dahinterliegenden Deutungen und Vorstellungszusammenhängen in Verbindung stehen. Sich dabei nicht auf klassisch zugewiesene Zuständigkeiten zu beschränken, sondern Phänomene der Systemüberlagerung in den Blick zu nehmen, darauf liegt ein besonderer Schwerpunkt.1 Dieses beobachtende und beschreibende Interesse dominierte die Arbeit an der vorliegenden Studie und prägt die folgende Darstellung. Zum anderen steht die Untersuchung vor einem praktisch-theologischen Hintergrund. Was zeigen die beschriebenen Phänomene und ihre Analyse für die Praktische Theologie und die religiöse Praxis? Mit welchen Themen und Fragen, die im Rahmen der Untersuchung relevant geworden sind, sollten sich Theologie und Religionspraxis auseinandersetzen und wie kann dies geschehen? Vor dem Hintergrund der existentiellen Bedeutung, die das Thema Krankheit und Heilung für das menschliche Leben und für den christlichen Glauben hat, sind diese Auseinandersetzungen unabdingbar. Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 2019/20 als Dissertationsschrift an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock angenommen. Viele Menschen haben die Entstehung der Arbeit begleitet und ihnen sei Dank ausgesprochen. Der erste Dank gilt meinem Betreuer Prof. Dr. Thomas Klie, der mich und meine Idee zu diesem Projekt von Anfang an unterstützt und bestärkt, die Arbeit durchgängig in dichten und losen Betreuungszeiten begleitet und zuweilen mit doktorväterlicher Strenge zum Fortkommen beigetragen hat.
1 Erste Überlegungen sowie einige Interviewausschnitte sind bereits veröffentlicht in: Stähler, Paula: Was ist Heilung? Religionshybride Deutungen im alternativmedizinischen Kontext. In: Was Heilung bringt. Krankheitsdeutungen zwischen Religion, Medizin und Heilkunde. Hrsg. v. Martin Tulaszewski, Klaus Hock und Thomas Klie. Bielefeld 2019. S. 41-50.
Vorwort | 11
Ebenfalls danke ich meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. Klaus Hock für die Begleitung und Anregung mit religionswissenschaftlichen Fragestellungen und systematisierenden Gedanken. Entstanden ist die Arbeit im Rahmen des Graduiertenkolleg Deutungsmacht. Den ProfessorInnen des Kollegs, besonders den SprecherInnen Prof. Dr. Philipp Stoellger und Prof. Dr. Martina Kumlehn, sei gedankt für manch kritische Anfrage und viele weiterführende Impulse, auch über die eigenen Fachkontexte hinaus, die dieses Kolleg zu einem anregenden Lern- und Denkort gemacht haben. Zum Graduiertenkolleg gehören natürlich auch Mit-DoktorandInnen, denen zu danken ist: Danny allen voran mit seiner unerschöpflichen Bereitschaft zum Lesen, Anmerkungen machen, Diskutieren, Fragen und neu Lesen; darüber hinaus Janina und Franzi für Korrekturen und Hinweise, Danny und Robert für die Unterstützung bei meinem fachfremden Wildern in soziologischen Gefilden und Dennis, Tobi und Janina für die Büro-Gemeinschaft. Zudem bin ich dankbar dafür, dass ich die Möglichkeit hatte, Teile der Arbeit in unterschiedlichen Fachkreisen diskutieren zu dürfen. Das PT-DocKoll in Rostock war ein solcher Ort, der immer wieder Anregungen und eine wohlwollende Stärkung des Arbeitens brachte; auch im Arbeitskreis Religion und Medizin der DVRW wurde ich freundlich aufgenommen und erhielt neue Denkanstöße. Ein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Ralph Kunz und Prof. Dr. Thomas Schlag für die selbstverständliche und herzliche Aufnahme in ihre Sozietät für Praktische Theologie an der Uni Zürich, die in der Schlussphase der Arbeit zum Vorankommen und zur Strukturierung beitrug. Neben dem Dank für fachlichen Austausch spreche ich darüber hinaus einen herzlichen Dank an Familie und Freunde aus, die – in kürzeren oder längeren zeitlichen Abständen, in der Nähe und über große räumliche Distanzen hinweg, wohlwollend, interessiert, auch kritisch – mich und meine Arbeit begleitet und mich in den verschiedenen Phasen von erster Idee bis zum letzten Schreiben ermutigt und unterstützt haben. Meine Eltern hebe ich dabei speziell heraus als diejenigen, die mir meinem bisherigen Weg ermöglicht haben. Schließlich bleibt noch ein ganz besonderer Dank an Simon auszusprechen, der an unzähligen Punkten die Arbeit unterstützt hat: als kluger Diskussionspartner von Ideen, Thesen und Formulierungen, als häufigster Erstleser der Texte und geduldiger Probehörer von Vorträgen, als IT-Support und darüber hinaus immer auch im Schaffen und Freihalten von Arbeitszeiten – eine der größten Herausforderungen in der berühmten Vereinbarkeit von Familie und Arbeit. Für finanzielle Förderung danke ich der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern sowie der Evangelisch-Reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, die die Publikation der Arbeit durch großzügige Druckkostenzuschüsse unterstützt haben.
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Den HerausgeberInnen der Reihe rerum religionum danke ich für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe. Die ganze Arbeit hätte nicht entstehen können ohne die Bereitschaft der InterviewpartnerInnen, mit mir ins Gespräch zu kommen und mit mir auch sehr persönliche Vorstellungen zu teilen. Ich habe dabei viel gelernt und bin froh, manch spannende Begegnung gemacht zu haben. Allen GesprächspartnerInnen gilt mein herzlicher Dank.
2 Einleitung
2.1 VORAUSSETZUNGEN UND FORSCHUNGSLÜCKE (ODER: GESUNDHEIT ALS THEMA DES 21. JH.) Gesundheit hat sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einem dominanten gesellschaftlichen Thema entwickelt. Dies zeigt sich in vielfältigen einzelnen Bereichen, deren Summe sich durchaus als „Megatrend“2 bezeichnen lässt. Immer mehr Menschen nehmen Gesundheit wichtig und achten auf sie, unabhängig davon, ob sie in der jüngeren Vergangenheit krank waren oder nicht.3 Sie treiben Sport, legen Wert auf ihre Ernährung und nehmen ärztliche Vorsorgeuntersuchungen wahr.4 Zugleich hat sich ein stetig wachsender Markt entwickelt, der für große und kleine gesundheitliche Probleme eine unüberschaubare (und häufig in der Wirksamkeit auch unüberprüfbare) Palette an Produkten und Dienstleistungen anbietet, die Gesundheit versprechen (von Wasserfiltern über Nahrungsergänzungsmittel bis hin zu Fitness-Trackern). Ihren Anteil an dieser Entwicklung haben entsprechende populärwissenschaftliche Publikationen (vgl. Bücher mit Titeln wie „Gesund durch Ayurveda“, „Heilen mit der Kraft der Natur“, „Weltmedizin – auf dem Weg zu einer ganzheitlichen Heilkunst“ u. v. a. m.), die das Thema Gesundheit (und Krankheit) in den Mittelpunkt rücken und mitunter eine enge Verbindung 2 Rieger, Hans-Martin: Gesundheit. Erkundungen zu einem menschenangemessenen Konzept. Leipzig 2013 S.9. (künftig zitiert als: Rieger: Gesundheit). 3 Vgl. dazu u. a. die vom Institut für Demoskopie Allensbach durchgeführte Studie zur Gesundheitsorientierung, die ausweist, dass 48 % der deutschen Bevölkerung im Jahr 2000 von sich angaben, stärker als vor vier bis fünf Jahren auf ihre Gesundheit zu achten. Vgl. Gesundheitsorientierung und Gesundheitsvorsorge. Eine im Auftrag der Identity-Foundation im Jahre 2000 durch das Institut für Demoskopie Allensbach durchgeführte Studie. https://www.ifd-allensbach.de/uploads/tx_studies/6184_Gesundheitsorientierung.pdf. Aufgerufen am 18.April 2019. S. 4ff. 4 Vgl. Ebd. S. 11ff.
14 | Einleitung
zu anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Arbeit, Familie, Ökologie usw. herstellen. Auch für die Freizeitpresse (wie die äußerst auflagenstarke „Apotheken Umschau“, „Men‘s Health“, „Women‘s Health“ u. v. a.)5 ist die Thematisierung von Krankheit und Gesundheit eine Absatzgarantie und auch (politische) Tageszeitungen widmen dem Bereich Gesundheit häufig eine eigene Rubrik. So lässt sich festhalten: Das Thema Gesundheit markiert einen ‚Megatrend‘ unserer Gesellschaft. Man hat vorgeschlagen, das 21. Jahrhundert im Zeichen des Übergangs zu einer ‚Gesundheitsgesellschaft‘ (‚health society‘) zu sehen. Diese sei dadurch gekennzeichnet, dass Gesundheit erstens als höchster Wert aufgefasst wird, dass Gesundheit zweitens zunehmend als machbar erscheint und dass die starke Nachfrage nach dem Gut ‚Gesundheit‘ drittens zu einem Wachstumsmotor neuer sozioökonomischer Strukturen gerade auch in alternden Gesellschaften wird. Die überaus starke Nachfrage nach dem Gut ‚Gesundheit‘ führt zu einem ständig zunehmenden Markt von Produkten und Dienstleistungen, die sich auf ‚Gesundheit‘ beziehen.6
Fließend sind dabei die Übergänge zwischen einer aufgrund von Krankheit notwendigen medizinischen Behandlung auf der einen sowie Selbstoptimierung und Enhancement auf der anderen Seite.7 Immer mehr (und andere) Lebensbereiche stellen sich als medizinische dar; ein Prozess, der als Medikalisierung bezeichnet wurde.8 Zugleich scheint sich darin ein Bedürfnis danach abzubilden, das eigene 5 Allein die Burda Medien Gruppe hat acht Zeitschriften im Portfolio, die sich explizit mit Gesundheitsthemen beschäftigen wie „Men‘s Health“, „Good Health“, „stern Gesund Leben“ u. a. Nicht mitgezählt sind dabei diejenigen Magazine mit anderen Themenschwerpunkten, die immer wieder Gesundheit in einer bestimmten Perspektive thematisieren wie Zeitschriften zu Ernährung, Sport, Natur etc. Besonders bemerkenswert ist der Vorstoß der Burda Medien Gruppe, mit der Zeitschrift „my life“, die seit April 2019 kostenlos in Apotheken ausgegeben wird (Aufl. etwa 1 Mio. Exemplare), der „ApothekenUmschau“ (Aufl. 2019: knapp 9 Mio. Exemplare) Konkurrenz zu machen. 6 Rieger: Gesundheit. S. 9. 7 Vgl. Wehling, Peter und Willy Viehöver: Entgrenzung der Medizin – Transformationen des medizinischen Feldes aus soziologischer Perspektive. In: Entgrenzung der Medizin. Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen? Hrsg. v. Willy Viehöver und Peter Wehling. Bielefeld 2011. (künftig zitiert als: Wehling und Viehöver: Entgrenzung der Medizin). 8 Vgl. Illich, Ivan: Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens. 4., überarb. und ergänzte Aufl. München 1995. (künftig zitiert als: Illich: Nemesis der Medizin).
Voraussetzungen und Forschungslücke | 15 | 15
Befinden (diagnostisch) benennen und bestimmen zu lassen, um es einordnen zu können und aufgrund einer zugeschriebenen Diagnose handhabbar zu machen. Auf diese Prozesse wird noch näher einzugehen sein. Darüber hinaus zeigt die nähere Betrachtung des Medizinsystems nicht nur eine Ausweitung der Zuständigkeit auf andere Systeme, sondern auch Veränderungen innerhalb des Systems. Das Verständnis von Gesundheit und Krankheit zeigt sich als historisch und sozial wandelbar. Die Verhältnisbestimmung von evidenzbasiert-wissenschaftlicher Medizin und alternativen medizinischen Methoden und Verfahren wird fortlaufend ausgehandelt. Beobachten lässt sich eine hohe und steigende Akzeptanz alternativmedizinischer Verfahren.9 Dabei findet auch eine Infragestellung von Zuständigkeiten bzw. durch die Übertragung der Deutungskompetenz an Heilende außerhalb der klassischen Profession eine Ermächtigung dieser durch die AnwenderInnen statt. Die Popularität der Verfahren scheint dabei weitgehend unabhängig von der Frage eines evidenzbasierten Wirksamkeitsnachweises.10 Die Breite komplementär- und alternativmedizinischer Angebote, die hier ihren Platz beanspruchen, reicht von Methoden wie Osteopathie und Akupunktur über Naturheilverfahren bis hin zu Reiki und Homöopathie. Allein die im Kontext dieser Anwendungen verwendeten Semantiken wie Energie, Heilung, Heil, Ganzheitlichkeit usw. weisen mit ihren transzendenten Konnotationen das Untersuchungsfeld als religionstheoretisch relevant aus.
9 Vgl. die zusammenfassende Überblicksstudie des Allensbach-Instituts für Demoskopie zur Verwendung und Anerkennung von Naturheilmitteln seit den 1970er Jahren: Naturheilmittel 2002. Wichtigste Erkenntnisse aus Allensbacher Trendstudien. https://www. ifd-allensbach.de/uploads/tx_studies/6326_Naturheilmittel_2002.pdf. Aufgerufen am 2. Mai 2019. 10 Die Tücken, die sich aus der Diskussion um Anerkennung und Nachweisbarkeit, die Studienanforderungen, die Fragen der Vergleichbarkeit etc. zwischen evidenzbasierter Medizin und alternativmedizinischen Angeboten ergeben, sollen hier umschifft werden, indem auf eine explizite Diskussion und Zitation der Parteien dieses Streits verzichtet wird, die sich in Publikationen, Presse, Internet etc. vielfältig (und nicht immer nur sachlich) zu Wort melden. Verwiesen sei hier nur auf zwei Publikationen dazu: Einen Überblick und eine Zusammenfassung verschiedener Verfahren und den Versuch, Studien auf ihre Aussagekraft hin zu befragen, bieten: Hoefert, Hans-Wolfgang und Bernhard Uehleke: Komplementäre Heilverfahren im Gesundheitswesen. Analyse und Bewertung. Bern 2009. Auf der strikt ablehnenden Seite, dabei aber ebenfalls um die Zusammenschau zahlreicher Studien bemüht: Vgl. Singh, Simon and Edzard Ernst: Trick or treatment. The undeniable facts about alternative medicine. New York u. a. 2009. (künftig zitiert als: Singh and Ernst: Trick or treatment).
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Hintergrund der Idee, dass sich auf dem Feld alternativmedizinischer Angebote eine konfliktive Spannung der Deutungsangebote verschiedener Systeme abbilde, ist die Annahme einer relativ klaren Trennung gesellschaftlicher Teilbereiche als Ergebnis eines Prozesses von Ausdifferenzierung und Spezifizierung. In modernen Gesellschaften gelten demnach einzelne Systeme als für sich wirksam und hoch funktional. Mit der Theorie Niklas Luhmanns11 gedacht hieße dies für den hier untersuchten Phänomenbereich, davon auszugehen, dass das System Medizin Einordnungen über den Code krank – gesund vornimmt, wohingegen dies im Religionssystem mithilfe des Codes transzendent – immanent funktionierte. Führt diese klare Zuordnung von Phänomenen und Zuständigkeiten innerhalb der Systemgrenzen jedoch zu einem Übermaß an Einseitigkeit und Reduktion der Komplexität lebensweltlicher Zusammenhänge, wird dieser Zugriff als defizitär empfunden. Zugleich als Gegenbewegung zu den Defiziten und als Weiterentwicklung der Differenzierung und Spezialisierung lassen sich in der späten Moderne Entdifferenzierungsphänomene beobachten. Nicht der Zugriff einzelner spezialisierter Systeme kann der als hoch komplex erlebten Wirklichkeit angemessen begegnen, sondern die die Systemgrenzen überlagernden Praktiken und interdisziplinären Reflexionsangebote. Die Konjunktur der Thematisierung von Krankheit und Gesundheit in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen sowie in interdisziplinären Kontexten bildet damit sowohl den gesellschaftlichen Trend als auch das Bedürfnis nach einer systemübergreifenden Perspektive ab. Neben Medizin als klassischer ‚Gesundheitswissenschaft‘ und angrenzenden Forschungsbereichen wie Biologie, Psychologie, Neurowissenschaften etc. beschäftigen sich auch Soziologie, Philosophie, Religionswissenschaft und Theologie zunehmend mit Krankheit und Heilung.12 Dennoch bleibt die Beschäftigung in Theologie und Religionswissenschaft bisher sowohl hinter der gesellschaftlichen als auch hinter der existenziellen und theologischen Relevanz des Themas zurück.13 In bisherigen Untersuchungen ka11 Vgl. z. B. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997. 12 Vgl. u. a. das 2014 gegründete Zentrum für Interdisziplinäre Gesundheitsforschung an der Universität Augsburg, in welchem WissenschaftlerInnen aus Medizin, Soziologie, Sportwissenschaft, Geographie, Geschichte, Theologie u. a. beteiligt sind: https://www. zig.uni-augsburg.de/. Aufgerufen am 2. Mai 2019. Vgl. auch das Forschungsnetzwerk Genia an der Universität Erfurt, in welchem WissenschaftlerInnen aus Erziehungswissenschaft, Philosophie, Theologie u. a. beteiligt sind. https://www.uni-erfurt.de/netzwerk-genia/. Aufgerufen am 2. Mai 2019. 13 Ein Eindruck, der sich verstärkt, wenn deutlich wird, dass die Darstellungen jeweils ‚nur‘ einen sehr weiten Überblick oder die Vertiefung eines sehr kleinen Ausschnitts be-
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men zudem v. a. Religion und Medizin als zwei getrennte Systeme sowie deren Kontaktflächen in den Blick, wie an Publikationen bspw. zum Effekt von Religion bzw. Spiritualität auf den Heilungsprozess oder zum Einfluss von Gebet oder Kirchgang auf den Gesundheitszustand u. ä. sichtbar wird.14 Dass sich das Feld alternativmedizinischer Angebote als ein fließender Übergangsbereich darstellen könnte, in dem medizinische und religiöse Deutungsangebote sich überlagern, wurde bei den bisherigen Auseinandersetzungen mit dem Themenbereich zu wenig in den Blick genommen. Die vorliegende Arbeit rückt daher mit einer empirischen Erhebung das Feld alternativmedizinischer Angebote in den Fokus. Mithilfe des erhobenen Materials den beschriebenen Phänomenbereich religionshermeneutisch auszuleuchten, ein nominell medizinisches Angebot auf seine religionstheoretisch relevanten Spuren zu untersuchen und schließlich auch nach den Auswirkungen dieser Phänomene auf Theologie und Religionspraxis zu fragen, ist Ziel der vorliegenden Untersuchung.
2.2 FORSCHUNGSGEGENSTAND UND THESE Vor diesem Hintergrund zeichnet sich die zentrale Frage ab, die das Projekt leitet: Was bietet alternativmedizinische Heilkunde an, wenn sie Heilung anbietet? Dass es dabei möglicherweise um mehr geht als um das Angebot einer medizinischen Alternative, ist bereits angeklungen. Heilung umfasst hier, so kann angenommen werden, etwas anderes – mehr – als physiologische Wiederherstellung. Vermuten lässt sich, dass sich in der Popularität alternativmedizinischer Angebote die Erfülhandeln. Vgl. exemplarisch: Futterknecht, Veronica: Heilung in den Religionen. Religiöse, spirituelle und leibliche Dimensionen. Wien 2013; Janowski, Bernd: Heile mich, denn ich habe an dir gesündigt! (Ps 41,5). Zum Konzept von Krankheit und Heilung im Alten Testament. In: Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch. Hrsg. v. Günter Thomas und Isolde Karle. Stuttgart 2009. S. 47-66. (Sammelband künftig zitiert als: Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft); Kaiser, Sigurd: Krankheit und Heilung in Jak 5,13-18. In: Ebd. S. 213-226. 14 Vgl. dazu die Zusammenschau in: Mehnert, Anja und Anja Höcker: Religion und körperliche Gesundheit – empirische Befunde und Erklärungsansätze. In: Gesundheit – Religion – Spiritualität. Konzepte, Befunde und Erklärungsansätze. Hrsg. v. Constantin Klein, Hendrik Berth und Friedrich Balck. Weinheim, München 2011. S. 247-257. Winkelmann, Sabine: Religiöse Deutungen in schwerer Krankheit. Eine Analyse und Auswertung leitfadengestützter Patienteninterviews. Berlin 2016. (künftig zitiert als: Winkelmann: Religiöse Deutungen).
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lung eines doppelten Anliegens spiegelt: Das Befinden der PatientInnen wird nicht nur via Diagnose und Therapie benannt und (dadurch) handhabbar(er) gemacht, vielmehr wird auch ein Wunsch nach Deutung zufrieden gestellt, indem Strukturierung und Kontextualisierung der Anliegen, Sinngebung, möglicherweise sogar die Öffnung auf einen Transzendenzhorizont hin stattfinden. Die aus diesen Überlegungen abgeleitete Hauptthese der Untersuchung lässt sich daher folgendermaßen formulieren: HeilpraktikerInnen bedienen über ihr Heilungsangebot auch ein Bedürfnis nach Deutung, das über ein medizinisches Angebot hinausgeht und sich als religionshybrid beschrieben lässt.
Schon das Eingangszitat und die beschriebenen ersten Beobachtungen unterstreichen diese Ausgangsthese. Es lässt sich, vor dem Hintergrund einer angenommenen Entdifferenzierung, vermuten, dass das Heilungsangebot alternativmedizinischer AnbieterInnen in ein religionshybrides Feld führt, in dem diverse komplexe Fragestellungen und Orientierungsbedürfnisse befriedigt werden, die sich nur unzureichend innerhalb eines spezialisierten Teilsystems bedienen lassen. Weder ein kirchlich-institutionelles Christentum noch eine evidenzbasiert-naturwissenschaftliche Medizin sind, so die Überlegung, in ihrer jeweiligen Spezialisierung allein in der Lage, den komplexen Bedürfnissen, die aus der Erfahrung von Krankheit und Heilung entstehen, vollständig gerecht zu werden. Der Wunsch nach medizinischer Heilung und die Sehnsucht nach religiösem Heil fließen somit ineinander und lassen einen religionstheoretisch relevanten Übergangsbereich entstehen. Dieser Übergangsbereich könnte seinen Ort in alternativmedizinischer Heilkunde haben, so die Vermutung. Um die Vorstellungszusammenhänge und Deutungen alternativmedizinischer AnbieterInnen untersuchen zu können, werden diese in einer empirischen Studie über Interviews erhoben und die Untersuchung des Feldes durch teilnehmende Beobachtungen geweitet. Um die These überprüfen und das als religionshybrid vermutete Feld angemessen beschreiben zu können, werden einzelne Aspekte der Hauptthese genauer betrachtet und detailliertere Fragen abgeleitet, die die Untersuchung prägen. Im Anschluss an die Hauptthese lässt sich fragen: Welche Deutungen dominieren die Vorstellungszusammenhänge und Überzeugungen, die belief systems von alternativmedizinischen AnbieterInnen, wenn sie von Heilung sprechen? Hier muss zunächst geklärt werden, mit welchem Verständnis von Deutung die Untersuchung arbeitet und wie Deutungen und belief systems miteinander verbunden sind. Danach ist zu fragen, welche Deutungen und belief systems als Basis der untersuchten alternativmedizinischen Angebote deutlich werden und diese prägen. Dabei ist besonders das Heilungsverständnis der AkteurInnen in den Blick zu nehmen.
Einführung der Referenztheorien | 19 | 19
Kann dieses Heilungsverständnis als religionshybrid bezeichnet werden? Um dies zu beantworten, ist zu klären, was hier unter ‚religionshybrid‘ verstanden werden soll und welche Fragen sich vor dem Hintergrund einer angenommenen Hybridität des Religionssystems für das Forschungsfeld ergeben. Unter anderem wird etwa untersucht, ob die Deutungen der befragten und beobachteten Personen, die sich auf Krankheit und Heilung beziehen, Transzendenzbezüge erkennen lassen, Sinnstiftungsfunktionen erfüllen bzw. religionsäquivalente Merkmale aufweisen. Darüber hinaus wird danach gefragt, welche Deutungen und belief systems sich in diesem Kontext als besonders wirksam erweisen und warum. Mithilfe der Deutungsmachtanalyse werden Mechanismen und Modi der Entstehung und Durchsetzung von Deutungen in den Blick genommen. Untersucht wird hier, ob sich im erhobenen Material Deutungsmachtformen oder -strategien erkennen und herausarbeiten lassen, etwa in der Herstellung, Stabilisierung bzw. ggf. der Destabilisierung von Deutungsmacht.
2.3 EINFÜHRUNG DER REFERENZTHEORIEN Auf die Methodik und das Vorgehen sowohl im Blick auf die empirische Arbeit und die Erhebung des Materials als auch im Zusammenhang der analytischen Arbeit wird in der Darstellung der nachfolgenden Kapitel ausführlich eingegangen. In der Einleitung sei zunächst auf zwei Bezugstheorien verwiesen, die für die Arbeit prägend sind. Neben dem eigenen Interesse am Gegenstand, der die Untersuchung als solche motiviert und ihre Form maßgeblich mit bestimmt hat, ist die Bearbeitung und Auswertung des Materials besonders von zwei theoretischen Kontexten geprägt: Das Theoriepotential der Deutungsmachtanalyse15 wird dabei verbunden mit der Idee der Religionshybride16. Mit beiden Konzepten war die Arbeit an der Untersuchung eng verbunden und sie haben Fragestellung, Kate15 Die Deutungsmachttheorie, auf die hier rekurriert wird, v. a. auch der Gedanke eines deiktischen Deutungsverständnisses, geht maßgeblich auf den Systematischen Theologen Philipp Stoellger zurück. In dieser Einleitung werden die Bezüge, Referenzen und Weiterführungen nicht eigens ausgewiesen, da es hier vorerst um eine kurze Einführung geht. Ausführliche Verweise auf und Literaturangaben zu Stoellger und weiteren BezugstheoretikerInnen (wie Jörg Lauster, Martina Kumlehn u. a.) finden sich in der ausführlichen Darstellung in Kapitel 4.2. 16 Für die Religionshybridetheorie, für die Peter A. Berger, Klaus Hock und Thomas Klie als Referenzautoren stehen, gilt analog (vgl. vorausgehende Fußnote), dass sie hier nur kurz eingeführt werden soll und für ausführliche Verweise und Literaturangaben auf das Kapitel 4.3 verwiesen wird.
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gorienbildung, Auswertung und Perspektive des Projektes beeinflusst, so dass auf beide Theorien besonders einzugehen ist. Ausführlich geschieht dies in Kapitel 4, einleitend sollen sie als prägende Kontexte der Studie hier eingeführt werden. Die Idee, den Gegenstand der Untersuchung als Deutung zu verstehen, ist für die Denkweise der Arbeit zentral, wenn sie davon ausgeht, Phänomene nicht einfach als gegeben zu betrachten, sondern die Notwendigkeit einer erschließenden Deutung anzunehmen. Sind Welt und Wirklichkeit (nur) über Deutungen zugänglich und werden so mit Bedeutung versehen, stellt Deutung den zentralen menschlichen Welterschließungsvorgang dar. Neben der erschließenden haben Deutungen strukturierende Funktion für die erfahrene Wirklichkeit, indem sie sie im Kontext manifester Überzeugungssysteme (belief systems) ordnen. Besonders sinnfällig sind die lebensweltlich omnipräsenten Deutungen bei komplexen und nicht einfach zu definierenden Phänomenen oder Vorstellungsgehalten, die dem Menschen nicht einfach gegeben sind wie Welt, Leben, Tod oder Krankheit, Transzendenz, Gott, Heil, Heilung. Im Anschluss an ein vom Zeigen her gedachtes Deutungsverständnis gilt zudem: Deutungen heben etwas von einem Hintergrund ab, nicht alles ist gleichgültig, vielmehr wird etwas als etwas in der Differenz von anderem sichtbar (gemacht). Die Formel etwas als etwas (sehen, zeigen oder verstehen) ist eine gewinnbringende Perspektive für die Operationalisierung, die die Bearbeitung des Materials mit den Kategorien der Deutungsmachtanalyse ermöglicht. Deutungen differenzieren und benennen, sie weisen Dinge, Wahrnehmungen oder Phänomene als etwas Bestimmtes aus, dabei beziehen sie sich mitunter konfliktiv oder komplementär auf dasselbe Phänomen und lassen es dabei in einer jeweils anderen Perspektive wahrnehmen. Deutungen sind darin, dass sie auf Aufmerksamkeit, Wirkung bzw. Anerkennung zielen, mit Machtdynamiken verbunden. Indem sie differenzerzeugend, unterscheidend, hervorhebend sind, indem sie einen Aspekt besonders ins Auge fallen lassen und einen anderen nicht (oder dieser bewusst verdeckt wird), sind sie wirksam und mächtig. Sie sind dies, weil sie Geltung beanspruchen und als solche in das Leben von Menschen eingreifen. Gerade die Korrelation dieser beiden Aspekte – Deutung und Macht – im Deutungsmachtkonzept eröffnet in einer dreigliedrigen Struktur – Macht zur Deutung, Macht von Deutungen und Macht vorgängiger Ordnungen – die Möglichkeit, nach der Stabilisierung und Labilisierung von Deutungen, nach den deutungsbasierten Veränderungsprozessen eines Feldes zu fragen. Im Blick auf das Anwendungsfeld ließe sich in dieser Dreigliedrigkeit fragen: Welche personalen Aspekte von Deutungsmacht zeigen sich, etwa in den Rollen des Arztes oder der Heilpraktikerin? Welche modalen Aspekte kommen zur Geltung, wenn etwa bestimmte Ursachenbeschreibungen von Krankheiten nur
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ihre Wirkung entfalten können, weil transsomatische Bezüge für möglich gehalten werden? Welche strukturellen Voraussetzungen sind nötig, um einer bestimmten Deutung Durchsetzungskraft zu verleihen, sofern sich diese bspw. auf ein evidenzbasiertes Wertsystem bezieht? Muss es hier in der Einleitung bei diesen ersten Überlegungen zum Konzept und den Fragen bleiben, wird dies im 4. Kapitel weiter ausgeführt, operationalisiert, es werden Orientierungskategorien gebildet und die Fragen weiter untergliedert und präzisiert. Neben der Deutungsmachtanalyse stellt die Idee der Religionshybride einen prägenden Kontext für die Untersuchung dar. Die Verbindung beider Konzepte bietet sich dabei über den Deutungsbegriff an, der im theologischen Diskurs eine nicht unwichtige Rolle spielt.17 Hier wird Religion verstanden als Lebensdeutung im Horizont von Letztbegründungen. Religion ist somit ein Modus, Welt durch Deutung zugänglich zu machen, wobei Deutungen Phänomene erschließen und ihnen Bedeutung hinzufügen. Zu dieser systematisch-theologischen Idee, Religion als Deutungsweise des Lebens zu verstehen, erweitert das Konzept Religionshybride das Verständnis auf sinngenerierende und transzendierende Formen, Praktiken und Inhalte außerhalb institutionalisierter Religion, die verschiedene Gestaltwerdungen von Religion und Sinnstiftungsangeboten sichtbar werden lassen. Dabei geht das Konzept von einem Religionsverständnis aus, welches sich über die doppelte Bewegung von Transzendierung der Lebenswelt und Vergegenwärtigung der Transzendenz charakterisieren lässt. Die sich aus diesem Wechselverhältnis generierenden religiösen Formen werden zu Ordnungskategorien, die eine Person in ihrem Handeln orientieren. Mithilfe dieses Konzepts gelingt es, auch auf Sinnformen zuzugreifen, die sich außerhalb institutionalisierter religiöser Funktionszusammenhänge zeigen und sich als religionsaffine Phänomene gerade der Zuordnung zu den Polen expliziter Religion und expliziter Nicht-Religion entziehen. Welche religionshybriden Phänomene lassen sich im Forschungsfeld beschreiben? Welche Deutungen weisen das Feld als religionstheoretisch relevant aus? Über diese einleitende Darstellung und die ersten Fragen hinaus, wird auch dieses Konzept im 4. Kapitel ausführlicher dargestellt und für die Untersuchung erschlossen.
2.4 AUFRISS DER ARBEIT Die Argumentation der Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Im Anschluss an das einleitende Kapitel wird ein Resonanzraum der Diskurse aufgespannt, in dem sich 17 Referenzautoren sind hier Jörg Lauster, Wilhelm Gräb u. a. Für ausführliche Verweise vgl. Kapitel 4.
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die Untersuchung verortet. Diese Aufgabe übernimmt Kapitel 3, wobei die beiden zentralen Bezugssysteme Medizin und Religion aufgegriffen und ihre Entwicklungen vor dem Hintergrund differenzierungstheoretischer Modelle dargestellt werden. Ziel des Kapitels ist es nicht, streng historisch und vollständig die Entwicklungen der Systeme nachzuzeichnen, vielmehr geht es um das exemplarische Aufzeigen relevanter Diskurse, die jeweils als einflussreich für die beobachteten Konstellationen gelten können. Auf medizinischer Seite wird dabei besonders auf die gravierenden Entwicklungen des 19. Jahrhunderts und deren bis in die Gegenwart reichenden Folgen eingegangen. Auf Seiten des Religionssystems findet eine stärkere Spezialisierung statt, als hier die Entwicklungen der Praktischen Theologie im 19. Jh. exemplarisch in den Blick genommen werden. Dabei ist das ‚verbindende‘ Moment, welches sich in diesen Fokussierungen zeigt, die Trennung: In der westlichen Moderne sind die Systeme Medizin und Religion klar getrennt mit differenten Zuständigkeitsbereichen und geringen Berührungspunkten. Vor diesem Hintergrund entwirft der zweite Teil des 3. Kapitels eine Perspektive jenseits dieser modernen Trennung, die sich auch in den Phänomenen zeigt, die die Untersuchung in den Blick nimmt. Diese spätmoderne Entwicklung lässt sich als Entdifferenzierung beschreiben, in deren Kontext sich die untersuchten Beobachtungen einordnen lassen. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels zeigt Diskurse auf, die eine Verknüpfung der hochgradig ausdifferenzierten (und damit auch defizitär gewordenen!) Systeme zum Ziel haben und sowohl auf medizinischer als auch auf religiöser Seite ihren Ausgangspunkt nehmen. Die beiden für die Untersuchung prägenden Bezugstheorien Religionshybride und Deutungsmacht werden im vierten Kapitel ausführlich vorgestellt. Dabei wird angestrebt, die Theorien jeweils in ihrer Eigenständigkeit darzustellen und zugleich bereits herauszuarbeiten, welchen Gewinn ihre Perspektive für die vorliegende Untersuchung erwarten lässt. Der letzte Abschnitt des Kapitels (4.5) hat insofern eine Scharnierfunktion für die Gesamtdarstellung, als hier der Übergang von der Theorie zur Praxis erfolgt. Die zugrunde liegenden Theorien werden operationalisiert, so dass eine Anwendung auf das empirische Material vorgenommen werden kann. Dazu erfolgt die Bildung von Orientierungskategorien, die die Analyse des Materials leiten und die in der Folge durch aus dem Material gewonnene Subkategorien soweit verfeinert werden, dass in einer übersichtlichen Struktur aussagekräftige Ergebnisse gewonnen werden können. Vor der inhaltlichen Analyse des Materials gibt Kapitel 5 mit einer methodischen Einführung darüber Auskunft, wie bei der Erhebung und Auswertung des empirischen Materials vorgegangen wurde. Dabei wird nicht nur dargestellt, welche sozialwissenschaftlichen Methoden zur Anwendung kamen, sondern auch auf die Vor- und Nachteile der Methoden verwiesen, die Entscheidung für oder gegen die Anwendung bestimmter methodischer Vorschläge begründet sowie punktuell
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auf die Auswirkungen der methodischen Entscheidungen für die gesamte Studie bzw. deren Ergebnisse verwiesen. Das 6., ausführliche Kapitel bietet das empirische Material der Studie sowie dessen Analyse und Auswertung. Die Struktur des Kapitels wird durch die Orientierungskategorien des 4. Kapitels bestimmt, welche hierher transferiert und weitergeführt werden. Diese Kategorien werden mithilfe des empirischen Materials gefüllt. Über die Zitation ausführlicher Sequenzen aus den Interviews und teilnehmenden Beobachtungen hinaus bietet das Kapitel kurze Fallportraits der InterviewpartnerInnen. Zwischenfazits bündeln die Analyseergebnisse jeweils zum Abschluss einer Kategorie. Auch das Vergleichsmaterial, welches die Studienergebnisse kontrastiert, findet sich hier, bevor das Kapitel durch eine Zusammenfassung der Analyseergebnisse abgeschlossen wird. Anschließend an diese Auswertung eröffnet das letzte Kapitel eine Perspektive über die konkreten Analyseergebnisse hinaus und bietet einen Ausblick. Dieser gliedert sich wiederum in mehrere Abschnitte auf, die zum einen eine Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse geben, zum zweiten die grundlegende Erkenntnis aus der Arbeit darstellen, nämlich die Bestätigung der Hauptthese der Studie, zum dritten nach den Konsequenzen der Untersuchung für die Praktische Theologie und die religiöse Praxis fragen sowie viertens auf offene Anschlussstellen verweisen. Dabei wird besonders auf die das religionswissenschaftliche Interesse erweiternde Perspektive der Praktischen Theologie Wert gelegt, indem exemplarisch nach den Erträgen für die praktisch-theologischen Teildisziplinen und die religionspraktische Anwendung gefragt wird.
3 ‚Resonanzraum‘ der Diskurse
Das folgende Kapitel dient der exemplarischen Auffächerung eines Diskursfeldes, welches verschiedene Forschungsrichtungen und Diskurse beinhaltet, die jeweils thematische Anknüpfungspunkte für die vorliegende Untersuchung bieten. Ziel der Darstellung ist es, einen Resonanzraum zu eröffnen, der die im Hintergrund stehenden fachlichen und interdisziplinären Diskussionsstränge aufzeigt, ohne dabei den Anspruch zu erheben, diese vollständig nachzuzeichnen. Zu beachten ist dabei, dass die vorliegende interdisziplinäre Untersuchung (wie auch etliche der aufgerufenen Diskurse) Fragen von Zuordnung und Zuständigkeit selbst zu einem Teil ihres Themas macht.18 18 Eine Darstellung nach disziplinübergreifenden Konzepten erweist sich jedoch als ebenfalls schwierig, da die Konzepte sich teilweise überlagern und eine mangelnde Trennschärfe, definitorische Ungenauigkeiten bzw. zeitliche Überlagerungen aufweisen. Während die Anfänge zum Teil recht klar zu benennen sind (vgl. Antonovskys Salutogenese: erste Veröffentlichung des Modells 1979), gehen die Weiterentwicklungen häufig auseinander, es überlagern sich verschiedene wissenschaftliche und populäre Diskursstränge und eindeutige Definition fehlen mitunter. Im Blick auf die begriffliche Zuordnung seien zwei Beispiele angeführt: Während Antonovsky als Begründer der Salutogenese gilt und daher diesem Konzept zuzuordnen wäre, verwendet er selbst häufig den Begriff ‚Coping‘, der hier als Schlagwort eines anderen Diskurses herangezogen wird. Vgl. Antonovsky, Aaron: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Deutsche erweiterte Herausgabe von Alexa Franke. Tübingen 1997. S. 27, 30 u. ö. (künftig zitiert als: Antonovsky: Salutogenese). Vgl. auch den Titel der Erstveröffentlichung des salutogenetischen Modells 1979: Health, Stress and Coping. New Perspectives on Mental and Physical Well-Being. Arndt Büssing, Lehrstuhlinhaber einer Professur für Lebensqualität, Spiritualität und Coping ist zugleich maßgeblich beteiligt an der Entwicklung und Verbreitung des Spiritual Care-Modelles. Eine Subsummierung zu transdisziplinären Konzepten stellt somit ebenfalls keine befriedigende Lösung dar.
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Das Kapitel ist aus vier Abschnitten aufgebaut. Als Hintergrundfolie der vorfindlichen Phänomene werden gesellschaftliche Entwicklungen der Moderne wie Differenzierung, Spezialisierung und Professionalisierung nachgezeichnet (3.1.1). Darauf aufbauend wird die Verfestigung der Systemgrenzen von Medizin und Religion in der Moderne exemplarisch an den Entwicklungen des Medizinsystems seit dem 19. Jahrhundert sowie über einen Blick in die Disziplingeschichte der Praktischen Theologie dieser Zeit beleuchtet (3.1.2). In dieser Entwicklung der Differenzierung und Spezialisierung lässt sich auch eine Verengung fachlicher Diskurse beobachten, die der Komplexität lebensweltlicher Phänomene nicht immer angemessen zu begegnen in der Lage sind. In der Folge zeigt sich in der späten Moderne eine Tendenz, die hier als Entdifferenzierung beschrieben wird und zu einer Konjunktur interdisziplinärer Forschungsansätze zum Thema Krankheit und Heilung führt (3.1.3). Die Systemgrenzen werden durchlässig. Den ausführlichsten Abschnitt dieses Kapitels bietet der letzte Teil, welcher dieses Feld der Entdifferenzierungsdiskurse auffächert, die über Publikationen, Forschungseinrichtungen u. ä. vorgestellt werden und das fluide Hintergrundfeld der Untersuchung bilden (3.2).
3.1 MEDIZIN UND RELIGION – ZWEI GETRENNTE SYSTEME 3.1.1 Der Prozess gesellschaftlicher Differenzierung Während religiöse und medizinische Fragestellungen von der Antike bis in die frühe Neuzeit als miteinander verwoben betrachtet wurden, unterliegen sie, ebenso wie andere gesellschaftliche Teilbereiche, in der Moderne einer Entkopplung. Diese Entwicklung versuchen Modelle gesellschaftlicher Differenzierung anschaulich zu machen. In differenzierungstheoretischer Perspektive lassen sich moderne westliche Gesellschaften als durch zunehmende Differenzierung und die Verselbständigung einzelner Teilbereiche gekennzeichnet beschreiben. Gesellschaft wird dabei verstanden als ein „Nebeneinander funktional spezialisierter Teilsysteme“19, die jeweils ungleichartige Aufgaben innerhalb der Gesellschaft erfüllen und, da sie sich nicht gegenseitig ersetzen können, gleichrangig nebeneinander stehen.20
19 Schimank, Uwe und Ute Volkmann: Gesellschaftliche Differenzierung. Bielefeld 1999. S. 6. (künftig zitiert als: Schimank und Volkmann: Differenzierung). 20 Vgl. Schimank und Volkmann: Differenzierung. S. 6f.
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Mit Luhmann kann gesellschaftliche Differenzierung als Ausdifferenzierung verstanden werden, bei der es nicht um die Zerteilung eines vorhandenen Ganzen geht, sondern um die Herausbildung je eigener Teilsysteme mit jeweils eigenen Zugriffsweisen auf die Welt.21 Innerhalb dieser Teilbereiche erfolgt eine zunehmende Spezialisierung. Diese führt sowohl zu einer Herausbildung spezialisierter Wissensbestände und Handlungspraktiken, einschließlich einer zunehmenden Professionalisierung, als auch, und damit einhergehend, zu einer Beschränkung der Zugriffsweisen und Anwendungsmuster anderer Teilsysteme.22 Spezialisierung meint dabei eine „Verengung, Intensivierung und Abkopplung von Zusatzgesichtspunkten“23, so dass innerhalb eines bestimmten Teilbereiches das spezialisierte Wissen zunimmt, zugleich aber der Ausschnitt dessen, worüber etwas gewusst wird, kleiner wird. Sichtbar wird dies bspw. im Kontext wissenschaftlichen Wissens und der entsprechenden disziplinären Teilbereiche, wobei die einzelnen Bereiche ihre Leistungen massiv steigern und ihr Wissen in großem Maße erweitern können. Professionalisierung als ein zentrales Modernisierungs- und Differenzierungsmerkmal bezeichnet die „kulturelle Profilierung und Verselbständigung von Berufspositionen, die sich durch privilegierte Zuständigkeiten in Bezug auf Zugangs-, Qualifikations- und Kontrollchancen auszeichnen“24. Verbunden sind professionelle Positionen mit wissenschaftlich fundiertem Fachwissen, einem her ausgehobenen Sozialprestige und einem hohen Grad an Autonomie. Beide hier primär in den Blick genommenen Systeme, Medizin und Theologie, sind durch
21 Vgl. Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie. Hrsg. v. Dirk Baecker. 5. Aufl. Heidelberg 2009. (künftig zitiert als: Luhmann: Einführung Systemtheorie). S. 80f.; S. 121f. 22 Vgl. Lüddeckens, Dorothea: Religion und Medizin in der europäischen Moderne. In: Religionswissenschaft. Hrsg. v. Michael Stausberg. Berlin, Boston 2010. S. 283f. (künftig zitiert als: Lüddeckens: Religion und Medizin). Das heißt nicht, dass es keine Verbindungen zwischen den Teilsystemen gäbe, vielmehr zeigen sich diverse und unterschiedlich starke Verbindungen und Abhängigkeiten. Vgl. Schimank und Volkmann: Differenzierung. S. 12f. 23 Degele, Nina und Christian Dries: Modernisierungstheorie. Eine Einführung. München 2005. S. 24 (künftig zitiert als: Degele und Dries: Modernisierungstheorie). 24 Degele und Dries: Modernisierungstheorie. S. 222. Vgl. auch: Parsons, Talcott: Struktur und Funktion der modernen Medizin. Eine soziologische Analyse. In: Probleme der Medizin-Soziologie. Hrsg. v. René König und Margret Tönnesmann. Köln, Opladen 1970. S. 10-57.
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einen hohen Grad an Professionalisierung geprägt und zeichnen sich auch dadurch aus, dass das System durch jeweils eine zentrale Profession repräsentiert wird.25 Unterschiedliche Gründe können als Ursachen für die gesellschaftliche Ausdifferenzierung gesehen werden, dazu zählen neben der Idee der Leistungssteigerung (u. a. durch Spezialisierung) ein evolutionäres Modell (kontingenter) zunehmender Differenzierung oder die Vorstellung der persönlichen Interessen einzelner Akteure z. B. als Konkurrenzvermeidung durch Rollendifferenzierung.26 Im Blick auf konkrete Phänomene ist davon auszugehen, dass es zu einer Überlagerung verschiedener Ursachen kommt. Modernisierungsprozesse zeichnen sich immer auch durch die Wechselwirkung verschiedener Faktoren aus. Im Falle einer Wissenschaftlerin etwa, die zu Gleichgesinnten quer über den Globus via digitaler Kommunikation mehr Kontakt hat als zu ihrer Nachbarin, findet sich eine Überlagerung funktionaler Differenzierung und Individualisierung. Bei alternativmedizinisch Heilenden überlagern sich (mindestens) Spezialisierung und Rollendifferenzierung als Differenzierungsursachen.27 Wird diese differenzierungstheoretische Perspektive auf die Fragestellung der Untersuchung bezogen, so ist sie auf die aus der These (2.2) abzuleitenden relevanten gesellschaftlichen Teilbereiche, Medizin und Religion, anzuwenden und es ist exemplarisch nachzuzeichnen, wie sich die Differenzierung und jeweils spezifische Entwicklung dieser beiden Teilsysteme darstellt.
25 Vgl. ausführlicher zur Profession in diesen beiden Systemen: Karsch, Fabian: Medizin zwischen Markt und Moral. Zur Kommerzialisierung ärztlicher Handlungsfelder. Bielefeld 2015, besonders S. 77ff; Karle, Isolde: Der Pfarrberuf als Profession. Eine Berufstheorie im Kontext der modernen Gesellschaft. Gütersloh 2001, besonders S. 31ff. (künftig zitiert als: Karle: Profession). Vgl. auch Degele und Dries: Modernisierungstheorie. S. 222ff. Die von Degele und Dries ausgeführten Zusammenhänge von Professionalisierung und damit verbundener Vergeschlechtlichung im Medizinsystem sind auch auch für die Theologiegeschichte bedenkenswert. 26 Schimank und Volkmann: Differenzierung. S. 15ff. 27 HeilpraktikerInnen sind insofern ein schlechtes und zugleich ein gutes Beispiel, als sie in differenzierungstheoretischer Perspektive sowohl als Exempel eines hohen Differenzierungsgrades gesehen werden können (als eine Gruppe hoch spezialisierter Anbieter im medizinischen System, die durch Rollendifferenzierung eine direkte Konkurrenz zur biomedizinischen Ärzteschaft zu umgehen erlaubt), als auch vom Angebot ihrer Deutungszusammenhänge her (Stichwort: „Ganzheitlichkeit“) als Exempel einer spätmodernen Entdifferenzierungdynamik gelten können.
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3.1.2 Festigung der Systemgrenzen im 19. Jahrhundert 3.1.2.1 In der Medizin
Die moderne westliche Medizin orientiert sich an einem naturwissenschaftlichen Paradigma. Entstanden ist dies vor allem aus den Entwicklungen und Entdeckungen des 19. Jahrhunderts, die eine grundlegende Neuausrichtung der Medizin nach sich zogen,28 welche zu Recht als Paradigmenwechsel bezeichnet werden kann.29 Exkurs: Medizinisches Denken im 18. Jh. Die Vorstellung einer unmittelbaren Verschränkung von Körper und Seele und die Ablehnung eines strikt physisch-naturwissenschaftlichen Erklärungsmodells für Krankheiten zeigt sich noch deutlich im 18. Jh. Anhand der Theorien des Mediziners Georg Ernst Stahl hat Johanna Geyer-Kordesch die enge Verbindungen zwischen Medizin und Pietismus im 18. Jh. herausgearbeitet und zeigt, wie stark inklusiv sein medizinisches Denken geprägt war. So ziehe Stahl die Bedeutung ‚stofflicher‘ Ursachen für eine Erkrankung in Zweifel 28 Dass die Medizingeschichte nicht im 19. Jh. beginnt und es auch davor wissenschaftliche Ansätze gab, ist evident. Ebenso, dass mit dem cartesianischen Denken in deutlich früherer Zeit philosophische Grundlagen für das sich neu entwickelnde Paradigma in der Medizin gelegt wurden und dass drittens philosophische, religiös-magische oder naturheilkundliche Ansätze, wie die Homöopathie von Hahnemann oder die Hydrotherapie nach Kneipp, nicht aus der Medizin verschwanden, auch wenn sie eher an den Rand gedrängt wurden. Die Einschnitte des 19. Jh. sind jedoch so radikal, dass hier von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden kann und im Rahmen einer theologischreligionshermeneutischen Arbeit eine Beschränkung der Darstellung in dieser Weise legitim erscheint. 29 Dass auch ein Paradigmenwechsel Kontinuitäten nicht ausschließt und Begriffe bzw. Denkstile übernommen und (erst) allmählich modifiziert werden, hat Ludwig Fleck für die Medizin anschaulich gemacht: „Erstens gibt es wahrscheinlich keine vollständigen Irrtümer, so wenig wie vollständige Wahrheiten. Es wird sich früher oder später eine Umarbeitung […] als notwendig erweisen – und dann wird man vielleicht an einem verlassenen ‚Irrtum‘ rück-anknüpfen müssen. Zweitens, ob wir wollen oder nicht, wir können nicht von der Vergangenheit – mit allen ihren Irrtümern – loskommen. Sie lebt in überkommenen Begriffen weiter, in Problemfassungen, in schulmäßiger Lehre, im alltäglichen Leben, in der Sprache und in Institutionen.“ Fleck, Ludwig: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung hrsg. v. Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Frankfurt a. M. 1980. S. 31. (künftig zitiert als: Fleck: Entstehung und Entwicklung).
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und halte neben der Materie auch verschiedene innere Veränderungsprozesse, Wahrnehmungen und Einflüsse der Natur auf den Heilungsprozess für essentiell.30 Neben allen wissenschaftlichen Entwicklungen, die die Aufklärung und das 18. Jh. bereits für die Medizin brachten, bleibt die enge Verbindung von Körper und Seele, bleiben die vielfachen Einflüsse der ‚beseelten Welt‘ auf die Materie prägend: Die psychische oder spirituelle Wesenheit der Dinge tritt aber notgedrungen als Problem da wieder auf, wo kognitive, perzeptuelle, emotionale oder andere Beeinflussungsstrukturen (zwischenmenschliche oder auch im Bereich der Erkrankung oder Heilung) problematisiert werden müssen. Die klassische – im 17. Jahrhundert als ‚neu‘ bezeichnete – Naturwissenschaft schien vorerst die ‚magia naturalis‘ erledigt zu haben, aber nur jeweils bis zu dem Punkt, wo das ‚Seelische‘ unvermeidlich berücksichtigt werden mußte. Die ‚Natur‘ erliegt zwar in der ‚neuen‘ Naturwissenschaft einer dualistischen Trennung zwischen Materie und Seele, historisch gesehen aber nicht, denn in der Kultur, in der Religion, in der Literatur und auch in manchen wissenschaftlichen Theorien werden Seele und Körper eng miteinander verbunden, eben weil ihre ‚Einheit im Natürlichen‘ wurzelt, im jahrhundertelangen Deutungssystem der ‚beseelten‘ Welt.31 Es ist zwar davon auszugehen, dass es auch vor dem 19. Jh. schon „empirisch rationale, ‚wissenschaftliche‘ Ansätze“32 gab, wie Schott und Tölle hervorheben. Eine Trennung von Disziplinen und Zuständigkeitsbereichen im modernen Sinn war jedoch nicht vollzogen, wie Geyer-Kordesch deutlich macht: Diese wachsende Polarisierung ist ein entscheidendes Charakteristikum der Aufklärungsepoche. Sie zeigt die Entwicklung an, die im 19. Jahrhundert erst zur Vollendung kommt: die Institutionalisierung der Naturwissenschaft als ‚reine Wissenschaft‘.33
Prägend waren vor allem zwei Entwicklungslinien mit großem Einfluss auf die Medizin. Auf der einen Seite standen soziale und gesellschaftliche Veränderungen des 19. Jh. Infolge der Industrialisierung und durch die rasant steigende Bevölkerungsdichte in den Städten wurde Hygiene eine zentrale Herausforderung für das 30 Vgl. Geyer-Kordesch, Johanna: Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert. Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls. Tübingen 2000. S. 156f. (künftig zitiert als: Geyer-Kordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung). 31 Geyer-Kordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung. S. 40. 32 Schott, Heinz und Rainer Tölle: Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen. München 2006. S. 19. (künftig zitiert als: Schott und Tölle: Geschichte der Psychiatrie). 33 Geyer-Kordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung. S. 40f.
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Gesundheitswesen.34 Damit ging die Frage nach der Versorgung der zahlreichen Kranken einher sowie das Problem der Seuchen, die sich in den Städten ungehindert ausbreiten konnten.35 Diese aktuellen Probleme forderten die Medizin heraus und trafen auf der anderen Seite auf eine naturwissenschaftliche Forschung, die erstaunliche Erfolge verzeichnen konnte. Die experimentelle Forschung36 und die wegweisenden Erkenntnisse aus Physik und Chemie wurden in die Medizin übertragen.37 Aus der Physik wurden experimentelle Herangehensweisen übernommen, die eine differenziertere Beobachtung und Beschreibung von Körpergeräuschen und Körpertemperatur ermöglichten. Erkenntnisse der Chemie erlaubten in zuvor unbekanntem Ausmaß die Analyse von Körperflüssigkeiten und mikroskopische Untersuchungen; mit dem medizinischen Labor entstanden neue Tätigkeiten im medizinischen Fachgebiet sowie eine nie zuvor dagewesene Ausdifferenzierung 34 Dabei darf nicht übersehen werden, dass Gesundheit im 19. Jh. zuerst einmal Arbeitsfähigkeit bedeutete. Sowohl die beginnende Sozialgesetzgebung als auch die Krankenversorgung standen vornehmlich unter der Zielsetzung, die Arbeitsfähigkeit der Bevölkerung zu erhalten oder wiederherzustellen. Vgl. Bergdolt, Klaus: Der Traum von der Gesundheit. In: Gesundheitskonzepte im Wandel. Geschichte, Ethik und Gesellschaft. Hrsg. v. Daniel Schäfer u. a. Stuttgart 2008. S. 25. (künftig zitiert als: Bergdolt: Traum von der Gesundheit). 35 Vgl. um 1830 die Ausbreitung einer Cholera-Epidemie von Moskau über St. Petersburg und Warschau nach Danzig, Königsberg und Berlin mit tausenden Toten in jeder dieser Städte; vgl. auch die letzte große Cholera-Epidemie in Hamburg 1892 mit mehr als 8000 Toten. Eckart, Wolfgang U.: Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. 7., völlig neu bearbeitete Aufl. Berlin, Heidelberg 2013. S. 190f. (künftig zitiert als: Eckart: Geschichte 7). 36 Zwar waren (Selbst-)Experimente in der Medizingeschichte schon vorher bekannt, doch wurde das experimentelle Arbeiten im 19. Jh. in besonderem Maße betrieben und erkenntnisleitend. In der Physiologie sind hier besonders Johannes Müller, Carl Ludwig und Iwan Pawlow zu nennen, deren Experimente neue Erkenntnisse über Vorgänge im Blutkreislauf, in inneren Organen, über Reflexe u. v. a. m. hervorbrachten. Auch Experimente mit mutwilliger (Selbst-)Ansteckung und anschließender Behandlung werden in dieser Zeit von nicht wenigen Forschern durchgeführt, so von Max von Pettenkofer, Albert Neisser und als vielleicht bekanntestes Beispiel Samuel Hahnemann. Vgl. Karger-Decker, Bernt: Ärzte im Selbstversuch. Ein Kapitel heroischer Medizin. Leipzig 1965. Vgl. auch Linke-Cordes, Margareta: Homöopathie. In: Checkliste Komplementärmedizin. Hrsg. v. Roman Huber und Andreas Michalsen. Stuttgart 2014. S. 174f. (künftig zitiert als: Checkliste Komplementärmedizin). 37 Vgl. Eckart: Geschichte 7. S. 171.
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und Spezialisierung. Untersuchungsergebnisse konnten dadurch verallgemeinert und statistisch ausgewertet werden; Patienten wurden ‚messbar‘.38 Physikalische Diagnostik und anatomisch-pathologische Nachbeurteilung sind die dominierenden Charakteristika der neuen klinischen Medizin am Anfang des 19. Jahrhunderts. Die alte verlaufsbeobachtende, neohippokratische Schuldiagnostik des 17. und 18. Jahrhunderts […] ist nun wesentlich erweitert. Die Medizin insgesamt befindet sich auf dem Weg von der Spekulation zur klinischen Beobachtung.39
Unter Rückgriff auf die Vorarbeiten Max von Pettenkofers wurden durch Ignaz Philipp Semmelweis und Joseph Lister die Prinzipien von Asepsis und Antisepsis40 gefunden, welche sich in der medizinischen Versorgung, v. a. in Geburtshilfe und Chirurgie gravierend auswirkten. Auch die Pharmakologie veränderte sich deutlich durch die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. In der organischen Chemie wurden verschiedene therapeutisch wirksame Stoffe entdeckt und ihr gezielter Einsatz möglich. Ebenfalls an den Übergang vom 18. zum 19. Jh. fällt die Ablösung des aus der Antike stammenden Krankheitsmodells der Humoralpathologie41 durch die Zellu38 Eckart: Geschichte 7. S. 171. 39 Eckart: Geschichte 7. S. 175. Hervorhebung P. S. 40 Unter Asepsis wird die „Keimfreiheit aller Gegenstände (Hände, Instrumente, Verbandstoffe) verstanden, die mit der Wunde in Berührung kommen“ bzw. im modernen Verständnis alle Maßnahmen, die das Einschleppen von Keimen in den Organismus verhindern. Unter Antisepsis versteht man „die (bedingte) Vernichtung oder Hemmung der Wundinfektionserreger durch Desinfektionsmittel“. Eckart: Geschichte 7. Zitate S. 203 und 204. 41 Die Humoralpathologie oder 4-Säfte-Lehre als Erklärungsmodell für Gesundheit oder Krankheit geht auf antike Wurzeln zurück. Bereits im Corpus Hippocraticum (3. Jh. v. Chr.) erwähnt, wurde das Konzept v. a. von Galen von Pergamon (2. Jh. n. Chr.) weiterentwickelt und diente über Jahrhunderte als das medizinische Paradigma. Angenommen wird dabei, dass das Gleichgewicht der wichtigsten Körpersäfte (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle) verantwortlich sei für die Gesundheit bzw. ein Ungleichgewicht die Ursache der Entstehung von Krankheiten. Vgl. Eckart: Geschichte 7. S. 27. Durch die Zellularpathologie seit dem 19. Jahrhundert nahezu vollständig abgelöst, blieben nur wenige Versuche, die Humoralpathologie als wissenschaftliches Erklärungsmodell zu erhalten, so etwa durch den Pathologen Carl von Rokitansky und seine Krasenlehre von 1846. Vgl. Eckart: Geschichte 7. S. 178. Bis heute haben sich Reste dieser Vorstellung in alternativmedizinischen Konzepten erhalten, so etwa in den sogenannten ausleitenden Verfahren wie Aderlass, Fasten oder Blutegeltherapie u. a.
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larpathologie. Entscheidend mit dieser verbunden ist der Name Rudolf Virchow. Der Pathologe stellte die bis heute mehrheitlich anerkannte These auf, dass sich die Ursache einer Krankheit im Organismus auf eine krankhafte Veränderung in den Körperzellen zurückführen lasse. Damit verband sich nicht nur der revolutionäre Gedanke der Zelle als Grundeinheit des Organismus, sondern auch ein lokalistisches Krankheitsverständnis.42 Die Entdeckungen Louis Pasteurs und Robert Kochs stellen Meilensteine in der Bakteriologie dar. Pasteurs Untersuchungen zu Entstehung, Leben und Vermehrung von Mikroorganismen und die Übertragung seiner Erkenntnisse auf Infektionskrankheiten beim Menschen führten in den 1880er Jahren bereits zu ersten erfolgreichen Impfungen. Robert Koch verdankte seinen Ruhm besonders der Entdeckung der Erreger von Milzbrand, Tuberkulose und Cholera und wies damit den ansteckender Charakter der durch Bakterien verursachten Krankheiten nach.43 Die Erkenntnisse aus Zellularpathologie und Bakteriologie wirkten sich auch bei der Entstehung der modernen Klinik (etwa in Bauweise, im Blick auf hygienische Zustände, in der Pflege etc.) aus.44 Auch Psychologie und Psychiatrie waren von den gravierenden Veränderungen in der Medizin des 19. Jh. nicht ausgenommen. War die Psychologie bis in das 18. Jh. hinein der Zuständigkeit der Philosophie zugeordnet, wurde im Zuge der Zunahme psychischer Erkrankungen und der Erfolge der naturwissenschaftlichen Medizin im 19. Jh. die Psychiatrie ‚erfunden‘. Eine Grundannahme dieser neuen Disziplin war die Notwendigkeit eines äußerlichen Einwirkens auf die Seele, etwa durch (‚erzieherische‘) Schläge des Patienten oder durch Sturzbäder mit Eimern voll kalten Wassers, um die Seele und dadurch den ganzen Menschen zu heilen.45 Religiös-magische Erklärungsmuster sind in der Medizin- und Psychiatriegeschichte v. a. bis ins 19. Jh. hinein verbreitet:
Vgl. Michalsen, Andreas: Ausleitende Verfahren, Traditionelle Europäische Medizin. In: Checkliste Komplementärmedizin. S. 85-112 oder in der sogenannten DunkelfeldBlutdiagnostik, vgl. http://www.ig-df.info/was-ist-df-blutdiagostik, aufgerufen am 12. Januar 2017. 42 Vgl. Eckart: Geschichte 7. S. 187; Ärzte Lexikon. Von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Wolfgang U. Eckart und Christoph Gradmann. 3., vollst. überarb. Aufl. Heidelberg 2006. S. 332; Riha, Ortrun: Grundwissen Geschichte, Theorie, Ethik der Medizin. 2., überarb. Aufl. Bern 2013. S. 67. (künftig zitiert als: Riha: Grundwissen Medizin). 43 Vgl. Eckart: Geschichte 7. S. 195ff; Riha: Grundwissen. S. 69f. 44 Vgl. dazu Eckart: Geschichte 7. S. 213ff. 45 Vgl. Schott und Tölle: Geschichte der Psychiatrie. S.419ff.
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Dämonologische Vorstellungen spielen in der gesamten Medizingeschichte eine fundamentale Rolle: Als Momente der religiösen Heilkunde verhalten sie sich komplementär zur empirisch-rationalen Medizin. […] Krankheit als Folge der Sünde und Besessenheit von bösen Geistern als Krankheitsursache waren in der Menschheitsgeschichte offenbar von Anfang an Grundvorstellungen, die bestimmte Behandlungsformen erforderten: Sühnezeichen und -opfer, Abwehrmaßnahmen gegen die bösen Geister bzw. den Teufel, Rituale des Exorzismus.46
Zwar haben sich solche Vorstellungen im Blick auf Erkrankungen auch über das 19. Jh. hinaus erhalten, sie wurden jedoch seit dem Ende des 19. Jh. bzw. im 20. Jh. aus dem wissenschaftlichen Diskurs suspendiert: Die Dämonologie verschwand just in dem Moment aus dem Diskurs der wissenschaftlichen Medizin, als die Bakteriologie ihren Siegeszug antrat. Nun waren die biologischen Keime identifizierbar und sichtbar gemacht, die von außen in den menschlichen Organismus eindrangen und Infektionskrankheiten verursachten. Im seelischen Bereich dagegen hielt man die entsprechende Vorstellung einer Besessenheit durch fremde Geister oder ‚Imaginationen‘, wie es bis ins 18. Jahrhundert hinein hieß, für Resultate der Einbildungskraft oder Suggestionen.47
Wie in anderen Teildisziplinen verbreitete sich aber auch hier die Idee einer konkreten somatischen Lokalisierbarkeit von Krankheiten.48 Geisteskrankheiten wurden zu Hirnkrankheiten und es wurde eine genaue Analyse und Systematisierung psychischer Erkrankungen angestrebt.49 Aufgrund der Begrenztheit dieses Erklärungsmodells griffen Psychiater zunehmend weitere Erklärungsansätze und therapeutische Maßnahmen auf, wie z. B. die Methoden Franz Anton Mesmers50 und 46 Schott und Tölle: Geschichte der Psychiatrie. S. 19. 47 Schott und Tölle: Geschichte der Psychiatrie. S. 30f. 48 Immer wieder wurde im Laufe der Medizingeschichte der Versuch unternommen, die Seele organisch zu verorten. Bereits in der Antike wurde (neben anderen Vorschlägen) das Gehirn als Organ für den Sitz der Seele angesehen. Vgl. Schott und Tölle: Geschichte der Psychiatrie. S. 38f. Bis ins 21. Jh. hinein ist die Enttäuschung über das Fehlen eines solchen Seele-Organs nicht vollständig ausgeräumt: „Wenn jemand den Schädel öffnet, dann findet man keine Seele.“ Susan Blackmore (*1951; britische Psychologin und Evolutionstheoretikerin). Zitiert nach: Wasmuth, Werner: Wo aber bleibt die Seele? In: Wo aber bleibt die Seele? Interdisziplinäre Annäherungen. Hrsg. v. Werner Wasmuth. Münster 2004. S. 13. 49 Vgl. Schott und Tölle: Geschichte der Psychiatrie. S. 78ff. 50 Der sogenannte magnetische oder animalische Mesmerismus bezeichnet ein Heilverfahren, bei dem eine elektromagnetische Kraft im Menschen angenommen wurde,
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schließlich die wirkmächtigen Forschungen und Theorien Sigmund Freuds.51 Die auf ihn zurückgehende Psychoanalyse und seine Forschungen zur psychischen Entwicklung des Menschen von Kindheit an prägten nicht nur inhaltlich Psychologie und Psychiatrie nachhaltig, sondern auch das Verhältnis von Psychologie und Psychiatrie zu anderen medizinischen Teilbereichen. Die hier nachgezeichneten Entwicklungen der Medizin zur Naturwissenschaft52 verhalfen ihr zu den weitreichenden Erfolgen des 19. bis 21. Jh., die bis heute anhalten. Die Ursachen und Zusammenhänge vieler Krankheiten wie Cholera oder Tuberkulose konnten erstmals verstanden und erklärt werden. Sowohl präventiv als auch kurativ ermöglichten die Erkenntnisse seit dem 19. Jh. enorme Fortschritte. Zu den Fortschritten trug auch eine tendenziell funktionalistische Sicht auf den Körper bei. Als eine Nebenfolge der Philosophie Descartes‘ wurde die Medizin grundlegend durch die Auffassung geprägt53, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ließen sich eins zu eins auf das ‚Funktionssystem Mensch‘ übertragen. Die funktionale Gleichsetzung von Mensch und Maschine und die Vorstellung, gesundheitliche Defizite könnten als reparaturbedürftige und reparaturfähige Systembausteine betrachtet und behandelt werden, brachten die großen medizinischen Erfolge dieser Zeit mit sich. Diese Erfolge waren es auch, die überdeckten, dass eine funktionalistischtechnische Sichtweise auf den menschlichen Körper andere Aspekte des Menschseins in den Hintergrund treten ließ, ja zu diesen gar im Widerspruch stand. Die Maschine […] funktioniert nach Kriterien der Kalkulation, Norm und Messung. […] [D]ie rational-ökonomische Vorherrschaft definiert zwar die Funktion der Teile der Maschine in immer engeren Toleranzen, wodurch jeder einzelne Teil austauschbar wird, aber das Ganze ist wirklich nur die Summe seiner Teile. Der lebendige Körper aber lebt anhand von Erfahrungen, Improvisation und Handeln nach den jeweiligen Umständen. Leben ist Versuch in jeder Hinsicht.54 aufgrund derer eine Heilperson Krankheiten aufspüren und beeinflussen könne. Einige Vorstellungen des Mesmerismus begegnen heute noch in Hypnoseverfahren. 51 Vgl. Eckart: Geschichte 7. S. 282ff. 52 Vgl. zu diesen hier extrem kurz dargestellten Entwicklungen und paradigmatischen Veränderungen ausführlicher die Literatur wie: Eckart, Wolfgang U.: Geschichte der Medizin. Fakten, Konzepte, Haltungen. 6., völlig neu bearb. Aufl. Heidelberg 2009; Meilensteine der Medizin. Hrsg. v. Heinz Schott. Dortmund 1996; Riha: Grundwissen; u. a. medizinhistorische Überblickswerke. 53 Vgl. ausführlicher zu Descartes im nachfolgenden Abschnitt 3.1.2.2. 54 Bast, Helmut: Der Körper als Maschine. Das Verhältnis von Descartes' Methode zu seinem Begriff des Körpers. In: Leib Maschine Bild. Körperdiskurse der Moderne und
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Dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner einzelnen Organe und deren Zusammenspiel, wurde in dieser Entwicklung abgeblendet. Der Reiz der Erkenntnisse und der Sog der Erfolge weckten die Erwartung, alle Aspekte des Menschen physisch verorten und verstehen zu können. In dieser Weise lassen sich bis heute Bemühungen von NeurowissenschaftlerInnen verstehen, Gefühle und Emotionen55, Religion56, Entscheidungen oder Handlungsimpulse57 in bestimmten Hirnarealen zu verorten.58 In der hier dargestellten Traditionslinie setzte sich die naturwissenschaftliche, akademische Medizin als dominante Form der Krankheitsbehandlung durch. Außerhalb dieser Hauptströmung und in Abgrenzung von ihr blieben auch im 19. Jh. alternative Heilmethoden mit eigenen Schwerpunkten erhalten. In die Auseinandersetzungen und Abgrenzungen von akademischer Medizin, naturheilkundlichen, homöopathischen und anderen alternativen Ansätzen dieser Zeit gehört auch der Begriff ‚Schulmedizin‘, der als Kampfbegriff von Samuel Hahnemann und den Vertretern der jungen Homöopathie59 in die Auseinandersetzung eingeführt wurde.60 Diese Prägung ist insofern von Bedeutung, als der pejorative Ursprung im heutigen Gebrauch der Bezeichnung zu reflektieren ist. Postmoderne. Hrsg. v. Elisabeth List und Erwin Fiala. Wien 1997. S. 28. Hervorhebung im Original. (künftig zitiert als: Bast: Körper als Maschine). 55 Vgl. Roth, Gerhard und Nicole Strüber: Wie das Gehirn die Seele macht. Stuttgart 2015; vgl. Damasio, Antonio: Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen. Berlin 2014. 56 Vgl. Blume, Michael und Rüdiger Vaas: Gott, Gene und Gehirn. Warum Glaube nützt. Die Evolution der Religiosität. 2. korr. Aufl. Stuttgart 2009. 57 Vgl. z. B. die berühmten Experimente von Benjamin Libet. Libet, Benjamin: Haben wir einen freien Willen? In: Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Hrsg. v. Christian Geyer. Frankfurt a. M. 2004. S. 268ff; Ders.: Mind time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert. Frankfurt a. M. 2005. Vgl. auch: Seidel, Wolfgang: Das ethische Gehirn. Der determinierte Wille und die eigene Verantwortung. Heidelberg 2009. 58 Kritisch dazu u. a. Bennett, Maxwell und Peter Hacker: Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften. Darmstadt 2015. Besonders S. 146ff. 59 Veröffentlichung des Grundlagenwerkes von Samuel Hahnemann „Organon der rationellen Heilkunde“ erstmals 1810, ab der 2. Aufl. von 1819 unter dem Titel „Organon der Heilkunst“. Hahnemann, Samuel: Organon der rationellen Heilkunde. Dresden 1810. 60 Vgl. Jütte, Robert: Alternative Medizin: Eine moderne Strömung mit alten Wurzeln. In: „Neue“ Wege in der Medizin. Alternativmedizin – Fluch oder Segen? Hrsg. v. Raymond Becker u. a. Heidelberg 2010. S. 23; Nüchtern, Elisabeth: Was Alternativmedizin
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Der dominanten, akademischen Form der Medizin ging mit ihrer Entwicklung hin zu einem naturwissenschaftlichen Paradigma wichtige anthropologische Aspekte und eine integrative Sicht auf den Menschen verloren. Der Mensch rückte als Körper mit seinen einzelnen Organen und deren Funktionen in den Fokus, die Seele wurde zum Aufgabengebiet von Psychotherapie und Psychoanalyse. Was den Menschen über seinen Körper hinaus bestimmt, in welchen psycho-somatischen, sozialen oder kulturellen Zusammenhängen er steht, konnte in dieser strikten systemischen Trennung nicht mehr in den Blick genommen werden. Erst allmählich entstanden Diskurse, die die Systemgrenzen in Frage stellten und wechselseitige Impulse fruchtbar machten. 3.1.2.2 In der Praktischen Theologie
Parallel zur Spezialisierung und der damit einhergehenden Beschränkung der Medizin im Blick auf ihr Bild vom Menschen lässt sich analog, aber in thematisch gegenläufiger Richtung die Entwicklung in der Praktische Theologie als Theorie religiöser Praxis im 19. Jh. exemplarisch nachzeichnen. Während sich in der Medizin der Fokus auf körperlich-organische Einzelfunktionen und die Erklärungszusammenhänge innerhalb eines naturwissenschaftlich-rationalen Kontextes richtet, verliert die Praktische Theologie in ihrer Orientierung als Wissenschaft mehr und mehr körperlich-leibliche Bezüge aus dem Blick.61
populär macht. EZW-Texte 139. Berlin 1998. S. 4 und 12ff; Wichtig ist diese historische Einordnung v. a. deshalb, weil sich der Gebrauch der Bezeichnung ‚Schulmedizin‘ für die dominante Form medizinischer Theorie und Praxis weit verbreitet hat und im alternativmedizinischen Kontext als Abgrenzungsbezeichnung gebraucht wird. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung werden zur Vermeidung der Übernahme einer pejorativen Tendenz z. T. andere Bezeichnungen bevorzugt, wobei keine einheitliche Sprachregelung zu finden ist und die verschiedenen Begriffe wiederum jeweils andere Konnotationen mitführen. Gebräuchlich sind akademische Medizin (Lüddeckens); Hochschulmedizin (Jütte); Biomedizin (als Übersetzung des im Angloamerikanischen verbreiteten biomedicine) (Lüddeckens) oder auch „Schulmedizin“ (mit (von Heyl/ Kemnitzer/Raschzok; Jeserich) oder ohne (Koch; Jütte; Sammelband Becker u. a.) Anführungszeichen und häufig mit einer expliziten Problematisierung des Gebrauchs. 61 Mit dem Vorschlag einer Neuordnung der theologischen Fächer durch Friedrich Schleiermacher entwickelte sich die Praktische Theologie von einer Sammlung kirchlicher Anwendungsregeln zu einer wissenschaftlichen und theoretisch fundierten Disziplin. Vgl. Praktische Theologie. Eine Theorie- und Problemgeschichte. Hrsg. v. Christian Grethlein und Helmut Schwier. Leipzig 2007. S. 13ff.
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Exkurs: Zum Verhältnis von Leib, Körper und Seele Die neu entstandene Praktische Theologie steht damit in einem mentalitätsgeschichtlichen Gegensatz zu einer durchaus leiblich orientierten biblischen Tradition und führt zugleich implizit die leibskeptischen bis -feindlichen Tendenzen der Tradition mit. Die biblische Überlieferung denkt den Menschen als Geschöpf Gottes als Einheit. Eine Trennung von Leib und Seele ist dem Denken des Alten Testaments fremd.62 Der Begriff nefesh () ֶנפֶׁש, der in deutschen Bibelübersetzungen zumeist mit ‚Seele‘ wiedergegeben wird, umfasst untrennbar die ganze leib-seelische Existenz des Menschen.63 Er hat, wie verschiedene Übersetzungen als „Schlund, Rachen, Kehle“, „Verlangen, Begehren“, „vitales Selbst“, „Leben“ oder „Individuum, Person“64 deutlich machen, „einen organischen Fixpunkt, der für seine psychosomatischen Bedeutungsaspekte“65 grundlegend ist. Auch wird nicht die Seele als „im Unterschied zum leiblichen Leben unzerstörbare[r] Daseinskern[…]“66 gedacht, sondern der Mensch als einheitliches Wesen mit diversen Facetten. So wie das Alte Testament keinen im Deutschen schlicht mit ‚Seele‘ wiederzugebenden Begriff verwendet, kennt es auch keinen übergeordneten, abstrakten Leib-Begriff. Vielmehr werden verschiedene emotionale und kognitive Funktionen des Menschen in konkreten einzelnen Organen verortet und dadurch der ganze Mensch pars pro toto umschrieben.67 Der Mensch gehört als untrennbare Einheit von Leib und Seele in das anthropologische Verständnis des Alten Testamentes. 62 „Die Frage, ob das Alte Testament dichotomisch oder trichotomisch denke, […] ist müßig, da sie der Denkart des Alten Testaments fremd ist. Geist, Seele und Leib meinen jeweils den ganzen Menschen in je verschiedener Hinsicht.“ Art. Leib/Leiblichkeit. Heinz-Horst Schrey. In: TRE Bd. 20. Berlin, New York 1990. S. 638. 63 Im Übrigen werde, so Wolff, eine Übersetzung mit nur einem einzelnen deutschen Wort und die damit verbundene Beschränkung der Bedeutung der „semantischen Weiträumigkeit“ dieses und anderer anthropologischer Hauptbegriffe des Hebräischen nicht gerecht. Wolff, Hans Walter: Anthropologie des Alten Testaments. Mit zwei Anhängen neu herausgegeben von Bernd Janowski. Gütersloh 2010. S. 31. (künftig zitiert als: Wolff: Anthropologie). 64 Vgl. diese verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten mit der jeweiligen Angabe von Bibelstellen in: Art. ֶנפֶׁש. Horst Seebass. In: ThWAT Bd. 5. Stuttgart u. a. 1986. Sp. 531555. 65 Janowski, Bernd: Die lebendige naepaeš. Das Alte Testament und die Frage nach der „Seele“. In: Verkörperung als Paradigma theologischer Anthropologie. Hrsg. v. Georg Etzelmüller und Annette Weissenrieder. Berlin, Boston 2016. S. 64. 66 Wolff: Anthropologie. S. 47. 67 Vgl. dazu die Ausführungen Wolffs: „Begriffe wie Herz, Seele, Fleisch, Geist, aber auch Ohr und Mund, Hand und Arm sind in der hebräischen Dichtung nicht selten untereinander austauschbar. […] (Ps 84,3): Meine Seele lechzt, ja sehnt sich nach Jahwes
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Die Evangelien des Neuen Testaments fokussieren mit ihrem nur seltenen Gebrauch des Leibbegriffs auf die Gebrechlichkeit und Abhängigkeit des Menschen. Zugleich besitzt auch diese Abhängigkeit durch die Fleischwerdung Gottes in Jesus Christus eine besondere Qualität.68 Deutlich prominenter als in den Evangelien wird der Begriff bei Paulus verwendet. Paulus nimmt eine Differenzierung im Verständnis des Leib-Begriffs vor, wenn er mit soma (σϖμα) die menschliche Person in ihrer Geschöpflichkeit, in ihren Lebenszusammenhängen dem an die Versuchung preisgegebenen menschlichen sarx (σάρξ) gegenüberstellt.69 Dass sich die kirchliche Tradition von diesem biblischen Ausgangspunkt entfernte und „Zeichen für das christliche ‚Unbehagen mit der Materie‘ […] in fast allen Jahrhunderten der Kirchengeschichte“70 zu finden sind, zeigt sich exemplarisch an Augustin. Als prägende Figur der Alten Kirche stellt er in seinen wirkungsgeschichtlich bedeutenden Confessiones Seele und Leib als zwei getrennte und gegensätzliche Teile des Menschen gegenüber und nimmt in der Unterscheidung von Leib und Körper zudem eine starke Wertung des Körpers als fleischlich und sündig vor. Der Körper ist durch „fleischliche Befleckung“71 geprägt, die es zu überwinden gilt und die ihn als der Seele hierarchisch untergeordnet qualifiziert72. Zugleich findet in der Person immer wieder eine Auseinandersetzung um die Vorherrschaft statt, wie Augustin am eigenen Beispiel deutlich macht: „Deswegen stritten zwei Willen in mir, der neue gegen den alten, der geisthafte gegen den fleischlichen. Ihr Zwist zerriss meine Seele.“73 Die Darstellung von Gegensatz und Konkurrenz zwischen legitimer Leib-Sorge und fleischlicher Körperlichkeit zieht sich durch die Bekenntnisse Augustins hindurch: Oft bleibt das Motiv unklar, ob mich die notwendige Sorge für den Leib motiviert, ihn zu stärken – oder bediene ich in wollüstiger Täuschung Begierde? In dieser Ungewissheit wird die unselige Seele übermütig-heiter: sie freut sich, dass sie bequeme Ausreden hat. Sie freut
Vorhöfen, mein Herz und mein Fleisch jubeln dem lebendigen Gott zu.“ Wolff: Anthropologie. S. 29. 68 Art. σϖμα/σωματικός/σύσσωμος. Eduard Schweizer. In: ThWNT Bd. 7. Stuttgart 1964. S. 1054f. 69 Vgl. Art. Leib/Leiblichkeit. Heinz-Horst Schrey. In: TRE Bd. 20. Berlin, New York 1990. S. 639f. 70 Art. Leib/Leiblichkeit. Heinz-Horst Schrey. In: TRE Bd. 20. Berlin, New York 1990. S. 642. 71 Aurelius Augustinus: Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt, hrsg. und komm. von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch. Stuttgart 2009. V; 10. S. 235. (künftig zitiert als: Augustinus: Confessiones). 72 Vgl. Augustinus: Confessiones. VII; 17. S. 341. 73 Ebd. VIII; 5. S. 371.
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sich, dass nicht offensichtlich ist, was ausreicht für die Pflege der Gesundheit; sie verschleiert mit dem Vorwand der Gesundheit das Geschäft der Wollust.74 Augustin steht somit exemplarisch für eine Tradition, die verschiedene Bereiche des Menschen wertend gegenüberstellt. Als philosophiegeschichtlich überaus wirkmächtig muss in diesem exemplarischen Exkurs René Descartes hervorgehoben werden. Er gilt als Ausgangspunkt eines modernen dualistischen Denkens.75 Zwar ist das ‚Leib-Seele-Problem‘ ein philosophisches (und theologisches) Grundproblem – Wie verhalten sich Leib und Seele, mentale und physische Zustände zueinander, wie beeinflussen sie sich und was ist unter den Begriffen jeweils zu verstehen? – doch erst in der Neuzeit wird dieses strikt dualistisch gelöst.76 Angelegt ist diese Perspektive freilich schon bei Platon und in der auf ihn zurückgehenden Tradition, die den Leib als zur materiellen, kontingenten und endlichen Welt gehörend ansieht, während die unsterbliche, immaterielle Seele als in ihm gefangen gedacht wird.77 In der neuzeitlichen Philosophie ist es dann Descartes, der ein mechanisches und kausalistisches Verständnis der unbelebten Natur auf alles Lebendige überträgt. In Analogie zu der Erkenntnis, Gegenstände und Ereignisse der unbelebten Natur folgten bestimmten, gleichbleibenden Gesetzen, lasse sich, so Descartes, auch der Körper mit den Prinzipien der Physik erklären. Lebensvorgänge in Pflanzen, Tieren und Menschen seien demnach objektiv und gesetzmäßig beschreibbar. Der Körper kann so als Gesetzen folgende, mechanische Maschine gedacht und durch den menschlichen Geist in erkenntnistheoretischer Absicht verobjektiviert, also zum Objekt gemacht werden.78 Hand in Hand gehen bei Descartes die inhaltlichen Überlegungen mit den methodischen Prinzipien. Damit wird er zum Wegbereiter einer modernen wissenschaftlichen Denkweise. Die[] Trennung [von Körper und Geist, Anm. P. S.] erst ermöglicht als Abstraktion und Rationalisierung die Entkörperlichung des Menschen auf Kosten des Körpers. Sie erlaubt die Distanzierung des körperlichen Lebens, die ,feindselige Entfremdungʻ von den Sinnen, Leidenschaften und Wünschen. Werden diese dem Körper zugeschrieben, so kann es nur 74 Ebd. X; 31. S. 525. 75 Vgl. List, Elisabeth: Einleitung. In: Leib Maschine Bild. Körperdiskurse der Moderne und Postmoderne. Hrsg. v. Elisabeth List und Erwin Fiala. Wien 1997. S. 12. (künftig zitiert als: List: Einleitung. Leib Maschine Bild). (Sammelband künftig zitiert als: Leib Maschine Bild). 76 Vgl. Art. Leib/Leiblichkeit. Heinz-Horst Schrey. TRE Bd. 20. Berlin 1990. S. 643. 77 Vgl. Art. Leib. Saskia Wendel. Lexikon philosophischer Grundbegriffe der Theologie. Hrsg. v. Albert Franz, Wolfgang Baum und Karsten Kreutzer. 2. Aufl. Freiburg 2007. S. 252-255. 78 Vgl. Bast: Körper als Maschine. In: Leib Maschine Bild. S. 24.
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der Geist sein, der Kontrolle über sie ausübt. […] Descartes [gilt] als erster strikter Verfechter eines Körper-Geist-Dualismus […].79 Überspitzt und vollendet gedacht wurde Descartes‘ „Maschinentheorie des Lebendigen“80 in „L ̒homme machine“ durch den französischen Aufklärer La Mettrie.81 Die Entstehung eines dichotomen Menschenbildes, das in körperliche Aspekte auf der einen und geistig-seelische Aspekte auf der anderen Seite differenziert, bringt auch ethische Konsequenzen mit sich. Die Zuschreibung der Affekte auf die Seite des Körpers fördert die Zielsetzung einer Beherrschung dieser durch den Geist, so dass in der langfristigen Folge „Selbstbeherrschung […] zur neuzeitlichen Kardinaltugend“82 wird. Friedrich Schleiermacher soll hier als weiteres Exempel herausgegriffen werden – nicht weil er als besonders leibfeindlich hervorzuheben wäre, sondern weil er, der als ‚Kirchenvater des 19. Jahrhunderts‘ und Begründer der Praktischen Theologie als eigener wissen79 Bast: Körper als Maschine. In: Leib Maschine Bild. S. 19f. Diese Haltung führt – historisch – nicht nur in der Philosophie- und Theologiegeschichte weiter, wie Bast ausführt: „Die oben dargestellten Elemente der Entfremdung des Körpers als wissenschaftliches Objekt sind nämlich genau jene Elemente, die Descartes im Rahmen seiner Theorie des Körpers ansatzweise vorwegnahm. Ohne sagen zu wollen, seine diesbezüglichen Vorstellungen deckten sich mit den Einsichten der modernen Wissenschaft, so war doch sein methodischer Zugang zur Problematik des Körperbegriffs unter anderem für die nachfolgende Medizin und Biologie maßgeblich.“ S. 19f. 80 Eckart: Geschichte 7. S. 123. 81 La Mettrie, Julien Offrey de: L‘homme machine. London, Leiden 1748. Vgl. dazu auch: Eckart: Geschichte 7. S. 125; Danzer, Gerhard: Psychosomatik – Gesundheit für Körper und Geist. Krankheitsbilder und Fallbeispiele. 2. erw. Aufl. Darmstadt 1998. S. 25. (künftig zitiert als: Danzer: Psychosomatik). 82 Schoberth, Wolfgang: Einführung in die theologische Anthropologie. Darmstadt 2006. S. 135. Vgl. zum Aspekt der Selbstbeherrschung bzw. Körperkontrolle auch Ammicht Quinn, Regina: Körper, Religion, Sexualität. Theologische Reflexionen zur Ethik der Geschlechter. 3. Aufl. Mainz 2004. S. 123f. (künftig zitiert als: Ammicht Quinn: Körper, Religion, Sexualität). Ammicht Quinn hebt im Blick auf den Ort des Körpers in der (katholischen) religiösen Praxis und theologischen Reflexion die Moraltheologie als normierenden und kontrollierenden Bereich hervor. Auch die moderne Hochschätzung des Körpers, ein „Körperkult“, wie er im Zuge spätmoderner „Körperbearbeitungspraktiken“ stattfinde, stehe in dieser Entwicklungslinie der Subordination des Körpers. Das Äußere des Körpers werde höchst relevant, in die Gestaltung wird viel (Geld, Zeit, Schmerz) investiert und der Körper damit zugleich dienstbar gemacht für „andere“ Werte (soziales Prestige, Position u. a.). Vgl. Ammicht Quinn: Körper, Religion, Sexualität. S. 136.
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schaftlicher Disziplin große Bedeutung und für die (praktisch)theologische Tradition eine herausragende Wirkung hat, eine leiborientierte Perspektive eben nicht in den Blick nimmt. Vielmehr fokussierte er als zentrale Themen Bildung, Ästhetik und Kunst, kirchenpolitische Wirksamkeit im Kontext von Kirchenreformen und Unionsbestrebungen, sowie als Universitätsprofessor der von ihm mitbegründeten Humboldt-Universität die gesamte Breite des Fachgebiets Theologie.83 Die Aufgabe der Praktischen Theologie sei, so Schleiermacher, die Leitung der Seelen – dass diese zugleich verkörperte Seelen sind, ist nicht Teil seiner Perspektive: „Da es auf dem kirchlichen Gebiet kein anderes Objekt des Einwirkens giebt als die Gemüther: so fallen alle Regeln der praktischen Theologie unter die Form der Seelenleitung.“84
Wie in der Medizin lässt sich im 19. Jh. eine Festigung der funktionalen Differenzierung und der Ausdifferenzierung der zentralen Professionen auch in der Theologie nachzeichnen. Der Arzt wird im 19. Jh. zum praktizierenden Naturwissenschaftler, der Pfarrer zum ‚Geistlichen‘. Während der Mensch in der Medizin auf den Körper beschränkt wird, wird in der frühen Praktischen Theologie allein auf geistige und seelische Prozesse rekurriert. Beim exemplarischen Blick in prägende Entwürfe der Praktischen Theologie aus dem 19. Jh. wird das Fehlen von Reflexionen zu Körper bzw. Leiblichkeit deutlich. Weder in der Liturgik, der Reflexion des Vollzugs religiöser Handlungen (in leiblicher Präsenz),85 noch in der Poimenik, der Theorie der Sorge um eine leiblich eingebundene Seele86 – obwohl in diesen Teildisziplinen der Praktischen 83 Vgl. Gräb, Wilhelm: Praktische Theologie als Theorie der Kirchenleitung: Friedrich Schleiermacher. In: Geschichte der Praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker. Hrsg. v. Christian Grethlein und Michael Meyer-Blanck. Leipzig 1999. S. 67-110. (Sammelband künftig zitiert als: Geschichte der Praktischen Theologie). 84 Schleiermacher, Friedrich: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Berlin 1811. Hrsg. v. Dirk Schmid. Berlin, New York 2002. S. 115. 85 Für die Bedeutung einer leiblichen Dimension im Kontext der Liturgie vgl. die Ausführungen von Bieritz: „Wir begegnen darin [in körperlichen liturgischen Ausdrucksformen; Anm. P. S.] […] einer eigenen Ausdrucksdimension des christlichen Gottesdienstes neben dem Wort und dem Ton. Ihre Bedeutung für Gottesdienst und Predigt kann kaum überschätzt werden.“ Bieritz, Karl-Heinrich: Liturgik. Berlin, New York 2004. S. 205. Hervorhebungen im Original. (künftig zitiert als: Bieritz: Liturgik). 86 Elisabeth Naurath arbeitet die Bedeutung des Leibes im Kontext der Seelsorge heraus: „Seelsorge muß von seiner (sic!) biblischen Begründung und seiner (sic!) am Menschen orientierten Zielrichtung Leibsorge einschließen. Pointierter kann man sagen: Seelsorge wird da konkret und für das Leben relevant, wo sie den Menschen nicht nur
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Theologie von ihren Gegenstandsbereichen her leibliche Aspekte in der Praxis eine wichtige Rolle spielen – finden sich in dieser Zeit entsprechende Ausführungen. Die Praktische Theologie verliert die leiblichen Bedingungen des menschlichen Seins und damit eine wichtige Grundlage ihrer Reflexion aus dem Blick. Die Praktische Theologie Carl Immanuel Nitzschs87 ist ein Beispiel dieses fehlenden Leib-Bezugs der Theorien des 19. Jh. Sein Lehrbuch, das in drei Bänden zwischen 1847 und 1867 erschien und die Praktische Theologie über Generationen prägte88, nimmt auf menschliche Leiblichkeit nur insofern Bezug, als die Voraussetzungen der religiösen Feier in Abgrenzung zum Alltag knapp benannt werden. Unter der Überschrift „Verhältnis zu den sogenannten materiellen Interessen; zur Arbeit, zu Spiel und Lustbarkeit“ heißt es: Die Entwicklung des Begriffs der Kirche und ihrer wesentlichen Funktionen hat bereits dargethan, daß die Gemeine sich vor dem Herrn versammele und feiere, wozu eine geordnete Zeit und ein geordneter Raum, eine gemeinsame Aussetzung des natürlich-weltlichen Verkehrs gehört und erfordert wird, daß den physischen und ethisch-psychologischen Bedingungen der religiösen Feier ein Genüge geschehe.89
in seiner geistigen/geistlichen Dimension anspricht, sondern ihn als Leib-Seele-Einheit wahrnimmt, thematisiert und berührt.“ Naurath, Elisabeth: Seelsorge als Leibsorge. Perspektiven einer leiborientierten Krankenhausseelsorge. Stuttgart, Berlin, Köln 2000. S. 43. Hervorhebung P. S. (künftig zitiert als: Naurath: Seelsorge als Leibsorge). 87 Carl Immanuel Nitzsch (1787-1868), Theologiestudium ab 1806 und Pastor ab 1812 in Wittenberg, Universitätsprofessor ab 1822 in Bonn, ab 1847 in Berlin, parallel immer auch pastoral tätig. Nitzsch gilt als Vertreter von Unionsbestrebungen, der ein Ideal kirchlicher Einheit vertrat, und als Vermittlungtheologe. Damit steht er inhaltlich wie strukturell in der Tradition Schleiermachers, indem er dogmatisch-kirchlich vorgegebene Inhalte und daraus abgeleitete Anwendungsregeln mit historischer und kritischer Wissenschaftlichkeit dialektisch verschränkt. Vgl. ausführlicher: Hauschildt, Eberhard: Das kirchliche Handeln des Christentums: Carl Immanuel Nitzsch. In: Geschichte der Praktischen Theologie. S. 111-150. 88 Nitzsch prägt inhaltlich wie strukturell die Praktische Theologie, wie die Aufnahme bei Achelis, Niebergall, Schian u. a. zeigt. Der Aufbau seiner Darstellung der Praktischen Theologie setzt sich durch und wird erst durch die Dialektische Theologie teilweise in Frage gestellt. Vgl. den Abschnitt zur Rezeptionsgeschichte in Hauschildt, Eberhard: Das kirchliche Handeln des Christentums: Carl Immanuel Nitzsch. In: Geschichte der Praktischen Theologie. S. 141ff. 89 Nitzsch, Carl Immanuel: Praktische Theologie. Erster Band. Einleitung und erstes Buch. Bonn 1847. S. 344. (künftig zitiert als: Nitzsch: Praktische Theologie).
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In der weiteren Ausführung dieses Paragraphen wird das Leibliche nicht nur als Bedingung, sondern sogar als eine Beschränkung der religiösen Praxis bzw. deren Gegensatz dargestellt. Hier tritt der Leib als das hervor, was aufgrund der leidigen Notwendigkeit der Erholung und Regeneration (in unrühmlicher Allianz mit einem Bedürfnis nach Spiel und Zerstreuung) die Zeit für die kirchliche Feier zu beschränken droht: Sofern nämlich das Werktagsleben auch den Feierabend verkürzt oder nach sich ziehet, daß er schlechthin nur dem leiblichen, häuslichen Ausruhen hingegeben sei, so daß da am allerwenigsten für die angestrengteren Classen des Arbeitsstandes Raum für gesellige Vergnügungen übrig bleibt, drängt sich das Verlangen nach Spiel und Vergnügen dem Feier-Tage zu und nimmt vielleicht schon den Feierabend des dies profestus in der Art in Beschlag, daß der Übergang zum Cultus in Bezug auf Seele und Leib Schaden nimmt, so er nicht völlig vernichtet wird.90
Mit dieser Perspektive auf die leiblichen Prämissen ist erwartungsgemäß auch im dritten Band von Nitzschs Praktischer Theologie, in der er die Poimenik behandelt, keine Aufnahme von Leiblichkeit zu finden, vielmehr liegen die Schwerpunkte auf den biblischen Grundlagen, der Geschichte und der Systematik der Poimenik. Für Nitzsch bedarf kirchliche Seelsorge keiner religiösen Leibsorge. Auch die Abschnitte zu den Voraussetzungen der Notwendigkeit von Seelsorge geben unter den Überschriften „Der leidende Mensch“, „Der sündige Mensch“ und „Der irrende Mensch“ Einblick in die „seelsorgerischen Anlässe oder Bedürfnisarten“91, sparen dabei jedoch leibliche Aspekte des Menschen weitgehend aus.92 Der Leib kommt lediglich als Voraussetzung kurz zur Sprache, zählt aber nicht zu den theorierelevanten Konstitutiva. 90 Nitzsch: Praktische Theologie. S. 348. Kursive Hervorhebungen im Original gesperrt bzw. in Antiqua im Fraktur-Text hervorgehoben. 91 Nitzsch, Carl Immanuel: Praktische Theologie. Dritter Band. Abt. 1. Die eigenthümliche Seelenpflege des evangelischen Hirtenamtes mit Rücksicht auf die innere Mission. Bonn 1857. S. 163. 92 Etwa eine Seite des 300-seitigen dritten Bandes seiner Praktischen Theologie widmet der Verfasser den Wechselwirkungen leiblicher und geistig-seelischer Ursachen menschlichen Leidens. So wird eingeräumt, dass „äußerliche[…] Zustände“ wie Krankheit, bevorstehender Tod oder Armut auch „Seelennoth miterregt“ und andererseits auch „geistige Leiden eine Fortsetzung ins seelische, leibliche, weltliche“ fänden. (S. 164f). Wo darüber hinaus in diesem Abschnitt von Körperlichkeit die Rede ist, fokussiert Nitzsch (in paulinischer Lesart vgl. Röm 8,3b ff: Gott sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen und verdammte die Sünde im
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1856 erschien der Aufsatz „Zur Praktischen Theologie“93 des einflussreichen Tübinger Praktischen Theologen Christian David Palmer94, dessen Grundthema, ebenso wie das Nitzschs, die Etablierung der Praktischen Theologie als Wissenschaft war. Für Palmer sollte diese Disziplin weder nur eine Regelsammlung „zur Erlangung derjenigen Fertigkeiten und Brauchbarkeiten, die ein Pfarrer haben muß“95 sein, noch sollte sie dazu dienen, zu zeigen, wie die durch die Dogmatik als Ideal aufgestellten Begriffe „zu verwirklichen sey[en]“96. Aufgabe der Praktische Theologie sei vielmehr, selbst wissenschaftlich zu arbeiten und ihre Begriffe zu bilden, wodurch sie „nun hiernach vorerst auch ihrem Wesen, ihrem wissenschaftlichen Charakter nach den übrigen Hauptdisciplinen der Theologie gleich[steht]“97. Unter diesem Programm fügt sich der Befund einer Leerstelle im Blick auf Leib-Bezüge ins Bild. Nicht das Verhältnis von Seele und Leib steht im Fokus dieses Entwurfs, sondern die Verhältnisbestimmung von Praktischer Theologie als Wissenschaft zu anderen Disziplinen. Als besonders relevant tritt die Relation zur Ethik hervor: [S]o ist außer Zweifel, wie vielfach die beiden Disciplinen [Ethik und Praktische Theologie, Anm. P. S.] factisch in einander übergreifen, und wie wenig wir der Aufgabe enthoben sind, sie schärfer zu sondern, wäre es auch, daß Eins und Anderes, was seither einer von beiden Fleisch, damit die Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, in uns erfüllt werde, die wir nun nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist. Denn die da fleischlich sind, die sind fleischlich gesinnt; die aber geistlich sind, die sind geistlich gesinnt.) mit der „fleischlichen Gesinnung“ auf den Aspekt der Sündhaftigkeit des Körperlichen (S. 167). 93 Palmer, Christian David: Zur praktischen Theologie. Andeutungen in Betreff ihres Verhältnisses zur gesammten theologischen Wissenschaft, namentlich zur Ethik, und in Betreff ihrer innern Gliederung. In: Jahrbücher für Deutsche Theologie. Hrsg. v. Liebner, Karl u. a. Stuttgart 1856. S. 317-361 (künftig zitiert als: Palmer: Zur praktischen Theologie). 94 Christian David Palmer (1811-1875), Praktischer Theologe und Religionspädagoge. Studium in Tübingen 1828-1833, mit Schwerpunkt Schleiermacher-Studien. Ab 1839 Diakon und Redaktionsarbeit. Ab 1852 Professor für Moral und Praktische Theologie in Tübingen. Palmer bemühte sich wirkungsvoll um eine systematische wissenschaftliche Begründung einer (evangelischen) Pädagogik. Theologisch entwickelte er sich vom Pietismus seiner Herkunftsfamilie zum Vermittlungstheologen. Vgl. Artikel: Christian Palmer. Helmut Kremers. In: TRE Bd. 25. Berlin, New York 1995. S. 604-606. 95 Palmer: Zur praktischen Theologie. S. 319. 96 Ebd. S. 321. 97 Ebd. S. 324.
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als Besitz zuerkannt zu werden pflegte, ihr ab- und der andern rechtlich zugesprochen werden müßte.98
In Aufnahme Schleiermachers und Nitzschs diskutiert Palmer im Folgenden ausführlich, wie sich „Christliches“, „Kirchliches“ und „Sittliches“99 zueinander verhalten. Abgrenzungen von und Gemeinsamkeiten zur Ethik werden detailliert ausgelotet. Auch durch die Bestimmung der Kirche zum „Subjekt und […] Objekt“100 der Praktischen Theologie im Sinne eines kollektiven Subjekts wird die programmatische Ausrichtung des Entwurfs deutlich. Weder der Pfarrer noch das einzelne Glied der Gemeinde stehen im Fokus – so dass Palmer auch die leibliche Dimension des religiösen Subjekts nicht in den Blick nehmen kann. Die Praktische Theologie von Ernst Christian Achelis101, in der Erstauflage 1890/91 erschienen, zeigt ebenfalls einen entsprechenden Befund. Weder Körper noch Leib oder Leiblichkeit finden darin eine eigenständige Behandlung. Im Kontext der Liturgik wird der Körper im Zusammenhang mit Körperhaltung, Kleidung und dem Auftreten des Liturgen im Gottesdienst knapp erwähnt.102 Auch der Paragraph, der den Gesang im Gottesdienst verhandelt – eine in lutherischer Tradition durchaus stimmhaft-leibliche Tätigkeit103 – fokussiert anderes, nämlich 98
Ebd. S. 327.
99
Ebd. S. 327.
100 Ebd. S. 320. 101 Ernst Christian Achelis (1838 – 1912), studierte Theologie ab 1857 in Heidelberg und Halle und war ab 1860 als Pastor tätig. 1882 wird Achelis Professor für PT in Marburg. Thematisch zentral waren für den Lutheraner Achelis die weitere Fundierung und Systematisierung der Praktischen Theologie (in der Tradition Schleiermachers und Nitzschs) als wissenschaftliche Disziplin sowie die protestantische Bestimmung des Kirchenverständnisses, wobei die Praktische Theologie dabei ganz der Bestimmung und Umsetzung der „Wesensidee der Kirche“ zu dienen habe. Vgl. Kumlehn, Martin: Praktische Theologie als Selbstvergewisserung kirchlichen Handelns: Ernst Christian Achelis. In: Geschichte der Praktischen Theologie. S. 207-236. 102 Dieser kurze Abschnitt umfasst sieben von über 1500 Seiten der dreibändigen Praktischen Theologie Achelis'. Vgl. Achelis, Ernst Christian: Praktische Theologie. Zweiter Band. Freiburg 1891. S. 90ff. (künftig zitiert als: Achelis: Praktische Theologie). 103 Im Zusammenhang mit seiner Hochschätzung der Musik und des Gesanges für den Gottesdienst nimmt Luther auch die leibliche Dimension ihrer Entstehung auf, wenn er in der „Praefatio zu den Symphoniae iucundae“ die Transformation von nicht wahrnehmbarer Luft durch den menschlichen Leib zu Klang und Laut beschreibt. Vgl. Luther, Martin: Praefatio zu den Symphoniae iucundae. In: WA 50. S. 368ff. Tho-
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die ethische Frage der Zulässigkeit von Kunst (hier eben „Tonkunst“) und deren ästhetischer Wirkung im Gottesdienst.104 Im Kontext seiner Ausführungen zur Poimenik greift Achelis die Kategorien Nitzschs wieder auf und konstatiert wie dieser zwar eine wechselseitige Verbindung seelischer und leiblicher Leiden („Viele leibliche Leiden ziehen geistige (seelische) nach sich, viele seelische oder geistige auch leibliche – in einer Unendlichkeit von Komplikationen.“105), doch über diese knappe Erwähnung hinaus, findet keine eigentliche Reflexion körperlicher bzw. leiblicher Aspekte statt. Diese bemerkenswerte, durch die biblischen Befunde und die religiösen Phänomene in keiner Weise gerechtfertigte Leerstelle zieht sich in der Praktischen Theologie, nicht zuletzt durch die Dominanz der Dialektischen Theologie befördert, bis in die Mitte des 20. Jh. hindurch. In der 1964 erschienenen „Einführung in die Liturgik“ von Christoph Albrecht106 finden sich Bezüge zur Leiblichkeit lediglich im Paragraphen zur liturgischen Haltung und unter dem Fokus der ordnungsgemäßen Ausführung des Sitzens, Stehens, Singens usw. Auch die Liturgik von Friedrich Kalb von 1965 bzw. in der zweiten Auflage von 1982 verhandelt Körper und Leib nicht als eigenständiges Thema.107 Wie diese spärlichen Befunde zeigen, fand eine praktisch-theologische Auseinandersetzung mit der Leiblichkeit als conditio humana – bis auf wenige Ausnahmen108 – im 19. und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht statt. mas Klie macht im Kontext der Liturgie auf diesen Bezug aufmerksam: Vgl. Klie, Thomas: Fremde Heimat Liturgie. Ästhetik gottesdienstlicher Stücke. Stuttgart 2010. S. 39. (künftig zitiert als: Klie: Fremde Heimat Liturgie). 104 Achelis: Praktische Theologie. S. 107ff. 105 Achelis: Praktische Theologie. S. 496f. Kursive Hervorhebungen im Original gesperrt gedruckt. 106 Albrecht, Christoph: Einführung in die Liturgik. Berlin 1964. Zwar überarbeitet, aber im Blick auf die hier relevanten Aspekte fast unverändert in allen weiteren Auflagen gedruckt bis zur 5. Auflage 1995. 107 Kalb, Friedrich: Grundriss der Liturgik. Eine Einführung in die Geschichte, Grundsätze und Ordnungen des lutherischen Gottesdienstes. München 1965. Interessanterweise findet sich hier eine recht ausführliche Diskussion des Brauches der Bekreuzigung, einer durchaus körperlichen (und für Evangelische in der Regel eher fremden) Geste im Gottesdienst. S. 94f. 108 Im Sinne einer die Regel bestätigenden Ausnahme ist auf die Liturgischen Reformbewegungen hinzuweisen, aus denen auch Impulse für die Aufnahme leiblicher Bezüge in die Liturgie hervorgingen. Die ältere liturgische Bewegung, geprägt v. a. von Julius Smend (1857-1930) und Friedrich Spitta (1852-1924), stand am Ende des 19. Jh. für eine Modernisierung der Liturgie und eine Synthese aus Protestantismus
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Ein aufschlussreiches Beispiel in dieser exemplarischen Rekonstruktion ist der vor allem durch seinen „Grundriß der Praktischen Theologie“ von 1986 hervorgetretene Tübinger Praktische Theologe Dietrich Rössler109. Neben seinem Studium der Theologie studierte Rössler auch Medizin, wurde in beiden Fächern promoviert und war sowohl als Arzt wie auch als Pfarrer praktisch tätig. Es wundert daher nicht, dass Rössler für seine Habilitationsschrift von 1962 ein interdisziplinäres Thema wählte, in welchem er Perspektiven beider Fachbereiche miteinander verband und einer Untersuchung unterzog. Dabei fokussiert schon der Titel dieser praktisch-theologischen Arbeit darauf, eine „kritisch-inklusive“110 Perspektive einzunehmen: „Der ‚ganze‘ Mensch. Das Menschenbild der neueren Seelsorgelehre und des modernen medizinischen Denkens im Zusammenhang der allgemeinen Anthropologie“111. Diesem Titel entsprechend ist die Untersuchung dreiteilig aufgebaut; sie nimmt zuerst die „neuere Seelsorgelehre“112 in den Blick, wendet sich danach dem „modernen medizinischen Denken“113 zu und stellt dann
und zeitgenössischer Kultur. Unter der Bezeichnung jüngere liturgische Bewegung werden verschiedene Reformströmungen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zusammengefasst, darunter der Berneuchener Kreis um Wilhelm Stählin (1883-1975), die Evangelische Michaelsbruderschaft (Gründung 1931) und die Alpirsbacher Bewegung. Neben einer Liturgiereform und der Förderung einer individuellen liturgischen Praxis wurde auch „nach geist-leiblicher Einheit [ge]sucht und die ‚Leiblichkeit‘ allen Seins betont“. Es wurden Anstöße aus der Jugend- und der Singbewegung aufgenommen. Bei allen wichtigen Impulsen dieser Bewegungen bleiben sie im Gesamtkontext der kirchlichen und theologischen Entwicklungen jedoch Unterströmungen, die sich nicht dauerhaft durchsetzen konnten. Vgl. Bieritz: Liturgik. S. 536ff, Zitat S. 545. Vgl. auch: Rössler, Dietrich: Grundriß der Praktischen Theologie. Berlin, New York 1986. S. 372ff. (künftig zitiert als: Rössler: Grundriß). 109 Dietrich Rössler (*1927), Studium der Theologie und Medizin ab 1949; Promotionen in Medizin und Theologie; Habilitation in Praktischer Theologie 1962 in Göttingen; 1965-1992 Professor für Praktische Theologie an der Universität Tübingen. Ausführlicher vgl. Grözinger, Albrecht: Die dreifache Gestalt des Christentums: Dietrich Rössler. In: Geschichte der Praktischen Theologie. S. 471-500. 110 Grözinger, Albrecht: Die dreifache Gestalt des Christentums: Dietrich Rössler. In: Geschichte der Praktischen Theologie. S. 484. 111 Rössler, Dietrich: Der ‚ganze‘ Mensch. Das Menschenbild der neueren Seelsorgelehre und des modernen medizinischen Denkens im Zusammenhang der allgemeinen Anthropologie. Göttingen 1962. (künftig zitiert als: Rössler: Der ‚ganze‘ Mensch). 112 Rössler: Der ‚ganze‘ Mensch. S. 7. 113 Ebd. S. 7.
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die jeweils leitenden Menschenbilder beider Disziplinen vergleichend und abgrenzend einander gegenüber. Als Ausgangspunkt und zugleich als Problemanzeige markiert Rössler ein Spannungsverhältnis zwischen Arzt bzw. Psychotherapeut auf der einen und Kirche als Anbieterin von Seelsorge auf der anderen Seite, die sich als jeweils adäquate Anbieter von Hilfeleistungen in seelischer bzw. psychischer Notlage verstehen. Dabei wird, so Rössler, das Problem verschärft durch den Anspruch der Seelsorgelehre, allein den ‚ganzen‘ Menschen vor Augen haben zu können und einzig also wahre Instanz für alle Bedürftigen zu sein. Diesem Anspruch steht das Selbstverständnis der neueren Medizin unvermittelt gegenüber.114
Vor diesem Hintergrund erarbeitet Rössler die thematischen Grundlegungen der neueren Seelsorgelehre sowie deren Menschenbild und fokussiert dabei v. a. auf den Vertreter der Dialektischen Theologie Eduard Thurneysen.115 Dessen Schwerpunkt ist – gemäß dem Grundanliegen der Wort-Gottes-Theologie – die Verkündigung als eigentliche Aufgabe der Seelsorge. Deshalb liegt in der von Thurneysen geforderten radikalen Begrenzung der Seelsorge auf die Verkündigung des Wortes Gottes in der Tat der eigentliche Unterscheidungspunkt gegenüber der Tradition, an die, um der radikalen Gültigkeit dieses Satzes willen, anzuknüpfen unmöglich wird, und zugleich der Beginn der neuen Seelsorgelehre: ‚nicht das Menschliche, auch nicht das fromme Menschliche, sondern Gott und sein Tun allein und nichts dazu und daneben.‘116
Eine solche Verhältnisbestimmung von menschlichem Sein und göttlichem Handeln in der Seelsorge berührt zwangsläufig die Frage nach dem Menschenbild und so stellt Rössler fest:
114 Ebd. S. 9. 115 Unter den Begriff der „neueren Seelsorgelehre“ fasst Rössler die aus den theologischen Umbrüchen der Zwischen- und Nachkriegszeit hervorgegangenen Entwürfe, die v. a. in Anlehnung an Karl Barth und die Dialektische Theologie entstanden. Als wichtigsten Vertreter dieser Richtung stellt Rössler Eduard Thurneysen (1888-1977) ins Zentrum und nimmt zusätzlich Ansätze von Hans Asmussen (1898-1968), Wolfgang Trillhaas (1903-1995) u. a. in den Blick. 116 Rössler: Der ‚ganze‘ Mensch. S. 20.
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Die eigentliche Bedeutung der theologischen Anthropologie liegt jedoch nicht darin, daß sie den Menschen anders sieht und versteht als etwa die psychologische Erkenntnis. Der wesentliche und entscheidende Anspruch dieser theologischen Anthropologie besteht vielmehr darin, daß hier ‚mehr‘ am Menschen gesehen und verstanden wird, daß hier erst der wirkliche Mensch in den Blick treten kann, daß also der Zugang zum eigentlichen Wesen des Menschen dem innerweltlichen Fragen verschlossen bleibt und sich allein der theologischen Anthropologie öffnet.117
Dieses ‚Mehr‘ des Menschen, welches sich für die von Rössler herangezogenen Autoren nur in theologischer Perspektive erschließen kann, wird hier bestimmt als seine „Existenz als auf Gott bezogen[e]“118 und damit eben nur theologisch zugänglich. Dem Anspruch auf die eigentliche und wahre Erkenntnis des Menschen durch die theologische Anthropologie stellt Rössler das Selbstverständnis einer anthropologischen Medizin119 entgegen, die, in Abgrenzung zur naturwissenschaftlichen Medizin des 19. Jh., ebenfalls für sich in Anspruch nehme, ein neues, umfassendes und angemessenes Bild des Menschen zu entwerfen und daraus Konsequenzen für die Praxis zu ziehen. Viktor von Weizsäcker, Ludolf von Krehl, Richard Siebeck u. a. werden hier herangezogen, um eine Entwicklung in der Medizin seit dem Ende des Ersten Weltkriegs abzubilden, die sich von der gemeinsamen Grunderfahrung motiviert sah, ebenfalls nach einem ‚Mehr‘ des Menschen zu fragen und dies in der Ergänzung der Krankheitsdiagnose um eine Individualdiagnose (Siebeck), um biographische (Weizsäcker), psychoanalytische (Weizsäcker) oder narrative (Siebeck) Aspekte120 umgesetzt fand.121 Der dritte Teil von Rösslers Untersuchung, der auf einem Umfang von nur neun Seiten das Verhältnis der Anthropologien und die Frage nach dem „Anspruch auf den ‚ganzen‘ Menschen“122 klären soll, stellt zunächst die Gemeinsamkeiten im Menschenbild der neueren Seelsorgelehre und der anthropologischen Medizin heraus, die sich „auf die Formel bringen ließe[n], daß der Mensch in Wahrheit, der eigentliche Mensch anderes oder mehr sei, als bestimmte Weisen der Erkenntnis 117 Ebd. S. 51. 118 Otto Haendler zitiert nach Rössler: Der ‚ganze‘ Mensch. S. 50. 119 In Anlehnung v. a. an die Begrifflichkeit Viktor von Weizsäckers verwendet Rössler die Bezeichnung „anthropologische Medizin“, die bereits die hier verhandelte Frage nach den Analogien und Differenzen theologischer, medizinischer und „allgemeiner“ Anthropologie ins Zentrum stellt. Ebenso geläufig ist für diese Reformbewegung die Bezeichnung „psychosomatische Medizin“. Vgl. Rössler: Der ‚ganze‘ Mensch. 120 Rössler: Der ‚ganze‘ Mensch. S. 73ff. 121 Vgl. ausführlicher zur psychosomatischen Medizin in dieser Arbeit Abschnitt 3.2.1.1. 122 Rössler: Der ‚ganze‘ Mensch. S. 87.
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an ihm zu sehen in der Lage sind“123. Beide, neuere Seelsorgelehre wie anthropologische Medizin, kritisieren als diese Weisen der Erkenntnis typische „Charakteristika der Naturwissenschaft“124 – das Gegenständlich-Immanente als Erkenntnisbereich sowie die Objektivation als Erkenntnisart. Damit könnte die Wissenschaft „sehr wohl menschliche ‚Tatbestände‘, nicht aber den Menschen selbst in seiner Wahrheit […] erkennen“125. Was ‚den Menschen selbst‘ nun aber ausmacht, wird von Rössler nicht ausgeführt. Expliziert wird „der ‚ganze‘ Mensch“ – in der sprachlichen Konstruktion führt Rössler konsequent die Anführungszeichen mit – lediglich einmal, wenn es heißt: „Der ‚ganze‘ Mensch ‚ist‘ im Ereignis: im Ereignis der Verkündigung in der Seelsorgelehre, im Ereignis der Begegnung in der neueren Medizin, im Ereignis des Lebens in der Philosophie.“126 Im Gegensatz zu den starken Übereinstimmungen im Menschenbild konstatiert Rössler eine grundsätzliche Unvereinbarkeit der beiden dargestellten Positionen, die sich v. a. aus dem Selbstverständnis der theologischen Grundlegungen der Seelsorgelehre ergebe. Damit weise sie jede andere Anthropologie in ihre Grenzen und gestehe ihr maximal aus dieser subordinierten Position heraus das Gespräch zu: „Die profane Anthropologie hat demnach innerhalb der Grenzen einer exakten Naturwissenschaft zu bleiben. […] Nur als Naturwissenschaft hat sie ihre theologisch legitime, nämlich relative Bedeutung.“127 Mit dem Schlusssatz seiner Arbeit beschreibt Rössler, welches Problem er herausgearbeitet hat: Damit wird jedoch das Urteil unausweichlich, daß das Bewußtsein der Exklusivität der Seelsorgelehre den Blick für ihre strukturelle Identität mit der allgemeinen Bewegung der Anthropologie verstellt. In diesem Sinne erhoben steht der Anspruch solcher Exklusivität im Gegensatz zur Wirklichkeit. Es ist wahrscheinlich, daß in diesem Gegensatz ein wesentlicher Grund für den oft beklagten Wirklichkeitsverlust der Seelsorge liegt, und es kann kaum fraglich sein, daß damit ein entscheidendes Problem für die neuere Seelsorgelehre gegeben ist.128
Dass die Untersuchung Rösslers an dieser Stelle mit der Benennung eines Defizits endet, ist signifikant. Denn gerade im Anschluss an den so erhobenen Befund könnten die Ergebnisse für den Diskurs fruchtbar gemacht werden. So ließe sich etwa fragen, welcher Gewinn aus einer gemeinsamen anthropologischen Grund123 Ebd. S. 87 124 Ebd. S. 88. 125 Ebd. S. 88. Hervorhebung P. S. 126 Ebd. S. 92. 127 Ebd. S. 95f. 128 Ebd. S. 96.
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haltung von Praktischer Theologie und anthropologischer Medizin (und einer gemeinsamen Kritik am naturwissenschaftlich-technisch orientierten Blick auf den Menschen) gezogen werden könnte. Das Bedauern Rösslers über die mangelnde Bereitschaft der neueren Seelsorgelehre zu einem Gespräch auf Augenhöhe lässt darauf schließen, dass er davon ausgeht, die zeitgenössische Praktische Theologie könne aus einem Dialog mit der anthropologischen Medizin lernen und davon profitieren. Worin allerdings diese Erkenntnis bestehen könnte, führt Rössler nicht aus. So wenig wie die Figur des ‚ganzen Menschen‘ klar bestimmt wird, so deutlich tritt bei Rössler die Leerstelle eines praktisch-theologischen Leib-Bezugs hervor. Die Leiblichkeit des Menschen wird in dieser poimenischen Arbeit nicht thematisiert, nicht einmal als Desiderat der vorgestellten Theorien. Dass in einer Arbeit mit diesem programmatischen Titel, die zwei Disziplinen mit einem über das rein physikalisch vorfindliche hinausgehenden Verständnis des menschlichen Körpers einander als Gesprächspartner gegenüberstellt, die Dimension des Leibes nicht relevant wird, ist bemerkenswert. Dieser Befund setzt sich im Hauptwerk Dietrich Rösslers fort. Auch sein „Grundriß der Praktischen Theologie“ thematisiert Leiblichkeit nicht eigens und stellt nur in wenigen Abschnitten, etwa im Kontext von Seelsorge als Diakonie, knappe Bezüge her ohne die Bedeutung einer leiblichen Dimension des Menschen herauszuarbeiten. Es lässt sich diese Beobachtung nur darüber erklären, dass die Denkwege dieser Zeit medizinisch-theologische Grenzgänge so unwahrscheinlich machten, dass es selbst einem promovierten Mediziner und Theologen wie Rössler nicht gelingen konnte, die Systemgrenzen aufzubrechen, um in der Medizin seelische und in der Theologie leibliche Impulse zu setzen und diese für ein Gespräch fruchtbar zu machen. Die exemplarische Rekonstruktion praktisch-theologischer Entwürfe des 19. und 20. Jh. hat verdeutlicht, dass die Praktische Theologie in entgegengesetzter Weise zu den Entwicklungen der Medizin einen vornehmlich körper- bzw. leiblosen Menschen zu ihrem Gegenstand machte. Der Befund dieser theologischen Leerstelle zieht sich bis weit in das 20. Jh. hinein. Greift man nun noch einmal die differenzierungstheoretische Perspektive auf, macht diese historisch-exemplarische Rekonstruktion der theoretischen Entwürfe und ihrer Gegenstandsbestimmung deutlich, dass beide Systeme – Medizin und Religionstheorie – jeweils stark spezialisiert ausschließlich innerhalb der eigenen Systemgrenzen ihren Gegenstand in den Blick nehmen können. Die Festigung der Systemgrenzen zeigt sich somit deutlich seit dem 19. Jh. und manifestiert sich in den aufgezeigten Entwicklungen dieser Zeit. Die Systeme zeigen in ihren gegenläufigen Zugriffsweisen die Spezialisierung und Professionalisierung funktionaler Teilsysteme einer ausdifferenzierten Gesellschaft. Zugleich ist darin die Entste-
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hung eines Defizits deutlich geworden. Diese Entwicklung der Moderne stößt an ihre Grenzen, wo lebensweltliche Phänomene (‚Mensch‘, ‚Körper‘, ‚Gesundheit‘ o. a.) sich in ihrer Komplexität nicht innerhalb der Grenzen eines Systems und mithilfe hoch spezialisierter Semantiken und Methoden angemessen abbilden, (ein-)ordnen bzw. als Herausforderungen bewältigen lassen. Hier zeigt sich der immer auch verkürzende und beschränkende Zugang einzelner Teilsysteme. 3.1.3 Entdifferenzierung als spätmoderne Entwicklung Der hohe Grad an Differenzierung, die jeweilige Beschränkung auf die den einzelnen Systemen zugewiesenen Funktionen und die Spezialisierung von Teilsystemen in der Moderne hat in hohem Maße Fortschritte in theoretischer Erkenntnis und praktischer Umsetzung gefördert. Zugleich sind darüber, wie sich in den exemplarischen Durchgängen durch die Systeme gezeigt hat, Perspektiven verloren gegangen, die einen interdependenten Umgang mit komplexen Phänomenen ermöglichen. Als Gegenbewegung (bzw. in komplementärer Weiterentwicklung) zur Ausdifferenzierung in der Moderne lässt sich ein Prozess der Entdifferenzierung beobachten. Als Indizien einer Entdifferenzierung gelten Phänomene, die gerade keine eindeutige Zuweisung an ein spezialisiertes Funktionssystem zulassen, sondern Aspekte verschiedener Teilsysteme integrieren.129 Entdifferenzierung kann damit auch als Entwicklung einer späten Moderne130 verstanden werden, in der hochkomplexe und beschleunigte Veränderungsprozesse und Wirklichkeitserfahrungen, wie technologische Innovationen, Digitalisierung oder kapitalistische Ökonomie,131 die spezialisierten und ausdifferenzierten Systeme mit Herausforderungen konfrontieren, denen diese als einzelne Teilbereiche nicht gewachsen sind und 129 Vgl. Lüddeckens: Religion und Medizin. S. 291; Koch, Anne: Wie Medizin und Heilsein wieder verwischen. Ethische Plausibilisierungsmuster des Ayurveda im Westen. In: Zeitschrift für medizinische Ethik. 52.Jg. 2/2006. S. 181. 130 Der Begriff ‚späte Moderne‘ wird hier in Anlehnung an Degele und Dries als temporale Abgrenzungsbezeichnung mit der Kennzeichnung durch bestimmte Merkmale und einer möglichst geringen Wertung verwendet. Vgl. Degele und Dries: Modernisierungstheorie. S. 35ff. Ob die Diagnose von 2005, eine neue Epochenbezeichnung wäre verfrüht, angesichts jüngerer Entwicklungen noch voll zustimmungswürdig ist, kann zumindest in Frage gestellt werden. Vgl. Degele und Dries: Modernisierungstheorie. S. 39. 131 Zu den zentralen Faktoren gesellschaftlicher Beschleunigung zählen Ökonomie, mit dem Prinzip der Profitsteigerung, Rationalisierung und funktionale Differenzierung. Vgl. dazu detailliert Degele und Dries: Modernisierungstheorie. S. 154ff.
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auf die sie nicht adäquat reagieren können.132 Insofern geraten auch spezialisierte Teilsysteme trotz ihres Wissensbestandes in Krisen und können wiederum Subsysteme ausbilden, die in und mit der Differenzierung zu einer Entdifferenzierung führen. In diesem Sinne lässt sich beispielsweise die Entstehung und Entwicklung der Homöopathie verstehen, die sich als Subsystem innerhalb der Medizin ausdifferenziert und dabei zugleich gegen Folgen der funktionalen Spezialisierung dieses Systems ausgerichtet ist.133 Auch die Veränderungen im Blick auf die Professionen sind ein Indiz der Fluidität der Systeme und einer Entdifferenzierung als spätmodernes Phänomen. Wenn sich innerhalb eines Systems weitere funktionale Spezialisierungen, im Medizinsystem etwa der Heilpraktiker, herausbilden, geraten sie in Konkurrenz zur bisher dominanten Profession. Sie sind insofern ein Resultat der Differenzierung, ein Modernisierungseffekt, der zugleich mit Entdifferenzierung auf die Auswirkungen der Moderne reagiert.134 Eine Entwicklung, die als Indiz der Durchlässigkeit klarer Systemgrenzen gesehen werden kann, wird im Blick auf die hier relevanten Systeme unter dem Begriff Medikalisierung gefasst. Maßgeblich von Ivan Illich in den 1970er Jahren geprägt, bezeichnet Medikalisierung jene gesellschaftlichen Phänomenen, die eine Ausweitung medizinischer Perspektiven und ein Ausgreifen der Zuständigkeit der Medizin auf eine zunehmende Zahl von Lebensbereichen sichtbar werden lassen.135 Das Ausgreifen der Medizin zieht eine Pathologisierung dieser Lebensbereiche nach sich. Beobachten lässt sich dies etwa am Beispiel von Schwangerschaft und Geburt, wenn eine steigende Zahl pränataler Untersuchungen Standard wird und das Krankenhaus der mit großem Abstand häufigste Entbindungs-
132 Vgl. Tiryakian, Edward: Dialectics of Modernity. Reenchantment and Dedifferentiation as Counterprocesses. In: Social Change and Modernity. Ed. by Hans Haferkamp and Neil J. Smelser. Berkeley, Los Angeles, Oxford 1992. S. 78-94 sowie Lüddeckens: Religion und Medizin. S. 292. 133 Vgl. Degele und Dries: Modernisierungstheorie. S. 67f. Als weitere Beispiele ließen sich nennen: die Wortmeldungen von Vertretern religiöser Institutionen in politischen Debatten; die Förderung von Interdisziplinarität im wissenschaftlichen Kontext; die Popularität von Mehrkampfdisziplinen im Sport. 134 Vgl. Degele und Dries: Modernisierungstheorie. S. 67f. 135 Vgl. Illich: Die Nemesis der Medizin. Aufgenommen und weitergedacht wurde das Konzept von Barbara Duden (vgl. Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730. Stuttgart 1987.), Peter Conrad (vgl. Conrad, Peter: The medicalization of society. On the transformation of human conditions into treatable disorders. Baltimore 2007.) u. a.
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ort ist.136 Auch Altern wird vom natürlichen Prozess zur Aufgabe137 und Krisen, ausgelöst etwa durch Trennung oder Verlust einer nahestehenden Person, die mit Trauer oder Mutlosigkeit einhergehen, werden als Krankheiten klassifiziert138. Phänomene, die zuvor in sozialen, religiösen oder moralischen Deutungskontexten standen, werden zunehmend als durch eine wissenschaftlich fundierte Medizin139 zu behandelnde Aufgaben markiert.140 136 In Deutschland finden 99% der Geburten im Krankenhaus statt – die meisten davon sind physiologisch verlaufende Spontangeburten. Vgl. Hauke, Kai und Natalie Dippong: Legitimationsprobleme moderner Geburtsmedizin. In: Ethik in der Medizin. 24/2012. S. 43-55. 137 Inklusive der damit verbundenen Reflexion z. B. in der Wissenschaft: vgl. Pfaller, Larissa: Anti-Aging als Form der Lebensführung. Wiesbaden 2015. Vgl. auch das Department „Altern des Individuums und der Gesellschaft“ (AGIS) der Universität Rostock mit der Aufgabe, „nach neuen Lösungen“ zu suchen, „um ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben im Alter zu ermöglichen, in Gesundheit und mit voller gesellschaftlicher Teilhabe“. Zitate: https://www.inf.uni-rostock.de/agis/. Aufgerufen am 2. Juni 2019. 138 Der aktuelle, in Deutschland standardmäßig verwendete Klassifikationskatalog für Krankheiten, ICD-10, listet z. B. unter „Anpassungsstörungen nach einer entscheidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen“ (F 43.2) auch „Trauerreaktion“ im Kapitel V „Psychische und Verhaltensstörungen“. http:// www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/kodesuche/onlinefassungen/htmlgm2017/ block-f40-f48.htm, aufgerufen am 2. Mai 2017. Sind diese Reaktionen „sehr heftig[…] und länger als 6 Monate andauernd[…]“, so gelten sie als „längere depressive Reaktionen“. Zitiert nach: Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. Hrsg. v. Horst Dilling, Werner Mombour und Martin H. Schmidt. 9. Aufl. Bern 2014. S. 209f. Vgl. auch zur Diskussion um die Klassifikation innerhalb des amerikanischen Pendants DSM-V im Blick auf ‚normale‘ Trauerzeit und Depression: Frances, Allen: Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. Köln 2013. S. 223ff. (künftig zitiert als: Frances: Normal). 139 Vgl. die Dominanz der Wissenschaft in der Legitimation von Wissensbeständen in modernen Gesellschaften. Barlösius, Eva: Die Macht der Repräsentation. Common Sense über soziale Ungleichheiten. Wiesbaden 2005. S. 179f. (künftig zitiert als: Barlösius: Macht der Repräsentation). 140 Vgl. Lüddeckens: Religion und Medizin. S. 283f; Illich: Nemesis der Medizin; Luhmann, Niklas: Der Medizinische Code. In: Soziologische Aufklärung. 5/1990, besonders S. 190. Luhmann argumentiert zwar, dass der medizinische Code gesund/ krank durch einen weiteren sekundären Code ergänzt würde, den er mit genetisch ok/ genetisch bedenklich bezeichnet und der v. a. ethische Konsequenzen nach sich zöge.
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Als typische Dynamiken einer Extension der Medizin unterscheiden Wehling und Viehöver die Ausweitung medizinischer Diagnosen, bspw. auf Trauer oder im Zusammenhang mit ADHS141, die Verbreitung medizinischer Techniken wie in der kosmetischen Chirurgie, die Entzeitlichung von Krankheit, bei der nicht mehr der akute Fall, sondern Risikofaktoren und Prognosen möglicher Krankheiten ins Zentrum der Behandlung rücken sowie die direkte Optimierung des Körper, etwa bei dem Versuch, Alterungsprozessen zu stoppen.142 Neben dieser Ausweitung des Zugriffs auf diverse andere Lebensbereiche lassen sich die Infragestellung eindeutig zuweisbarer Zuständigkeiten und klar markierter Systemgrenzen als Indizien einer Medikalisierung lesen. Die Medizin versteht sich dabei auch als zuständig für Lebensbereiche, in denen es nicht nur um die Behandlung von Krankheiten geht, sondern um (Lebens-)Risiken, Zukunftsgestaltung, Gestaltung des Selbstbildes usw. Parallel dazu lässt sich ein (Wieder-) Aufgreifen von Themen in unterschiedlichen Disziplinen beobachten, die tendenziell eine Affinität zum Medizinsystem haben, wie die Frage nach dem Körper bzw. dem Leib und seines Verhältnisses zu Geist und Seele (vgl. 3.2.2.1). In kultur- und sozialwissenschaftlichen bzw. theologischen Auseinandersetzungen mit dieser Verhältnisbestimmung zeigt sich etwa, dass die ontologische Gegenüberstellung von Leib und Seele fraglich ist, da sie der Begegnung mit der komplexen Wirklichkeit nicht Stand hält und so die Prämissen des Medizinsystems zumindest zu kontextualisieren fordert.143 Sowohl im Medizinsystem als auch in der Religionskultur zeigt sich eine Infragestellung der strikten funktionalen Trennung und besonders der damit einhergehenden Verkürzungen, die sich im Blick auf den Menschen ergeben. Ein angemessener Umgang mit den komplexen lebensweltlichen Phänomenen scheint innerhalb dieser Aufspaltung immer weniger zu gewährleisten, wie die Entstehung neuer Diskurse in Praxis und Theorie zeigt, die im Folgenden beleuchtet werden. Damit rücken solche Diskurse in den Fokus, die beanspruchen, die jeFür ihn bleibt aber grundsätzlich gültig: „Wie immer Arbeitsämter und Versicherungsträger, Parlamentsausschüsse oder Ethikkommissionen, Priester, Familienangehörige, Automobilumbautechniker und nicht zuletzt, psychisch und emotional, die Patienten selbst involviert sein mögen: die Konstruktion der Krankheit, also Diagnose und Behandlung, Auskunft und Beratung bleibt Sache der Medizin.“ Ebd. S. 195. 141 Vgl. Frances: Normal. S. 203ff. 142 Wehling und Viehöver: Entgrenzung der Medizin. S. 16ff. Das von Wehling und Viehöver ausgeführte Konzept der Entgrenzung, das den Fokus auf medizinisches Enhancement richtet, ist nicht mit Medikalisierung gleichzusetzen, es gibt aber Überschneidungen, auf die hier Bezug genommen wird. 143 Vgl. List: Einleitung. In: Leib Maschine Bild. S. 11.
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weiligen blinden Flecken der spezialisierten Einzelsysteme zu markieren und vor diesem Hintergrund Begriffe und Praktiken neu auszuhandeln. Im Blick auf die inhaltlichen Aspekte der Entdifferenzierungsphänomene steht dabei zum einen eine Erweiterung der Bestimmung des Menschen und seines Körpers auf Seiten der Medizin im Raum. Modelle der (Wieder-)Entdeckung von Wechselwirkungen von Körper und Seele des Menschen, von vielfältigen Einflüssen auf menschliches Befinden erweitern die Perspektive über ein rein funktionales Verständnis des Menschen hinaus. Daraus ergeben sich auch Konsequenzen für die Vorstellung von Krankheit und Heilung. Im Folgenden soll dies anhand der Diskurse zu Psychosomatik, Stress-Coping-Modellen, Spiritual Care und zu alternativer Medizintheorie nachgezeichnet werden. Zum anderen wird die Perspektive auf Körper und Leib sowie die Frage nach Zugängen zum Thema Krankheit und Heilung auf Seiten religiöser Theorie und Praxis neu in den Fokus gerückt und auch hier findet eine Erweiterung des Verständnisses von Zuständigkeiten und Zusammenhängen statt. Anhand verschiedener Diskurse soll diese Neuausrichtung nachvollzogen werden; fokussiert werden dabei der Diskurs um Leib und Leiblichkeit sowie um die (theologische) Verhältnisbestimmung von Religion und Medizin.
3.2 DISKURSE DER ENTDIFFERENZIERUNG 3.2.1 Medizin 3.2.1.1 P sychosomatische Medizin – Vom Verwobensein von Körper und Seele
Trotz seiner großen Erfolge ist das biomedizinische Modell vom Menschen und seinem Körper nicht unwidersprochen geblieben. Eine Reaktion auf die von vielen als einseitig und mangelhaft empfundene funktionalistische Sichtweise der Medizin seit dem 19. Jh. ist die Entstehung der Psychosomatik. Auch wenn sich eine einheitliche Abgrenzung und Definition von Psychosomatik nicht finden lässt144, soll hier als Arbeitsbegriff die Bestimmung von Müller, Laux und Deister zugrunde gelegt werden: 144 Dieser Befund hat verschiedene Ursachen: Die Psychosomatik besteht als Fachbereich/ Facharzt erst seit 1992. Zudem speist sie sich aus verschiedenen Quellen und nimmt diverse Ansätze auf. So ist sie als junge Disziplin noch dabei, ihre Position im Verhältnis zu Psychotherapie, Psychiatrie und zur Medizin im Allgemeinen zu bestimmen. Vgl. Möller, Hans-Jürgen, Gerd Laux und Arno Deister: Psychiatrie, Psy-
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Das Fachgebiet der Psychosomatischen Medizin lässt sich beschreiben als die Lehre von den körperlich-seelischen Wechselwirkungen von Krankheiten. Für die Fachvertreter des Faches Psychosomatik steht die patientenzentrierte ärztliche Haltung und als Behandlungsverfahren die Psychotherapie im Zentrum. In einem noch allgemeineren, weit verbreiteten Sprachgebrauch beinhaltet die ‚Psychosomatik‘ eine ganzheitsmedizinische Sicht im Sinne einer ‚ärztlichen Grundhaltung‘ […].145
Diese Definition verbindet zwei Bedeutungsstränge: Auf der einen Seite kommt die Konzeptualisierung der Psychosomatik als Teilgebiet des Faches Medizin zum Ausdruck, was v. a. fachintern relevant ist und die Auseinandersetzungen um den Stellenwert der Psychosomatik innerhalb der Medizin abbildet. Auf der anderen Seite legen die Autoren eine allgemeine Bestimmung des Begriffs als „körperlich-seelische Wechselwirkungen von Krankheiten“146 vor und erweitern dadurch die Perspektive über die disziplinäre Zuordnung hinaus als „ärztliche Grundhaltung“147. Andere Autoren fassen das Verständnis noch weiter, indem sie Psychosomatik als „einen allgemeingültigen und selbstverständlichen Zugang zum notleidenden Menschen“148 sehen. Das Grundproblem, auf das die Psychosomatik mit ihrem Nachdenken reagierte, war freilich nicht neu, sondern in der Frage nach dem Verhältnis von Psyche und Soma, von Leib und Seele ideengeschichtlich weit zurückzuverfolgen.149 chosomatik und Psychotherapie. 6. aktualisierte Aufl. Stuttgart 2015. S. 249. (künftig zitiert als: Möller, Laux und Deister: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie); Franke, Alexa: Modelle von Gesundheit und Krankheit. 3., überarb. Aufl. Bern 2012. S. 141f. (künftig zitiert als: Franke: Modelle). Vgl. dazu auch: Langewitz, Wolf: Der Leib des Patienten – (k)ein Thema in der Psychosomatik? In: Körper – Kulte. Wahrnehmungen von Leiblichkeit in Theologie, Religions- und Kulturwissenschaften. Hrsg. v. Christina Aus der Au und David Plüss. Zürich 2007. S. 179. 145 Möller, Laux und Deister: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. S. 248. Hervorhebungen im Original. 146 Ebd. S. 248. 147 Ebd. S. 248. 148 Klußmann, Rudolf und Marius Nickel: Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Ein Kompendium für alle medizinischen Teilbereiche. 6., erw. und korr. Aufl. Wien, New York 2009. S. 4. (künftig zitiert als: Klußmann: Psychosomatische Medizin. Kompendium). 149 In der Literatur zur Psychosomatik finden sich nur spärliche Ausführungen zur Bezeichnung ‚Psychosomatik‘. Zumeist wird lediglich eine Übersetzung von ‚psychisch‘ als ‚seelisch‘ und ‚somatisch‘ als ‚körperlich‘ vorgenommen (vgl. Danzer, Gerhard: Psychosomatik. S. 13f.; vgl. Beutel, Manfred u. a.: Herausforderungen der
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Begründet wurde die Psychosomatik in den 1920er Jahren150, als um Ludolf von Krehl und Viktor von Weizsäcker mit der sogenannten Heidelberger Schule eine Gruppe von Medizinern mit dem Anliegen auftrat, „verstärkt das Subjekt in den Mittelpunkt“151 ihrer Arbeit zu rücken. Damit begründeten sie eine der beiden Hauptströmungen der Psychosomatik, die als holistisch-integrative Richtung bezeichnet wird, während die zweite, als psychogenetisch oder psychodynamisch bezeichnete Hauptlinie, in hohem Maße durch die Psychoanalyse Sigmund Freuds
Gesellschaft. In: Psychosomatische Medizin und Psychotherapie heute. Zur Lage des Fachgebietes in Deutschland. Hrsg. v. Wolfgang Herzog, Manfred E. Beutel und Johannes Kruse. Stuttgart 2013. S. 1f. (Sammelband künftig zitiert als: Psychosomatische Medizin und Psychotherapie heute).). Die Verwendung innerhalb der Texte weist darauf hin, dass ‚psychisch‘ hier in einem weiten Sinne nicht-physischer gesundheitlicher Einflussfaktoren verstanden wird, also als seelische, geistige, soziale, emotionale u. a. Faktoren. ‚Soma‘ fokussiert in dieser Verwendung dagegen auf einen tendenziell engen physiologischen Körperbegriff, der um die psychischen (und sozialen etc.) Aspekte ergänzt in den Blick genommen werden soll. 150 Die Bezeichnung ‚Psychosomatik‘ selbst ist älter als diese Bewegung. Sie wurde erstmals 1818 von Johann Christian August Heinroth verwendet. In seinem „Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens“ bringt Heinroth den Begriff in Verbindung mit Schlafstörungen, für die er seelische Stimmungen als Ursache ausmachte. Diese frühe Schrift fand jedoch wenig Verbreitung. Erst über einhundert Jahre später entwickelte der Arzt und Psychologe Georg Groddeck den Gedanken weiter und gilt damit als Pionier und „Geburtshelfer des [sic!] Psychosomatik“. 1909 kam Groddeck erstmals zu der Überlegung, die körperlichen Symptome einer seiner PatientInnen könnten „ein Symbol“ sein und Heilung werde durch deren Entschlüsselung über das körperlich Sichtbare hinaus möglich. Zitate: Danzer, Gerhard und Helmut Albrecht: Georg Groddeck oder die Geburt der Psychosomatik aus dem Geiste des Es. In: Pioniere der Psychosomatik. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte ganzheitlicher Medizin. Hrsg. v. Adolf-Ernst Meyer und Ulrich Lamparter. Heidelberg 1994. S. 225. Vgl. auch Heinroth, Johann Christian August: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung: vom rationalen Standpunkt aus entworfen. Leipzig 1818; Danzer, Gerhard: Psychosomatik. S. 82ff und Artikel Groddeck, Georg. Bröer; Ralf. In: Ärzte Lexikon. Von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Wolfgang U. Eckart und Christoph Gradmann. 3. vollst. überarb. Aufl. Heidelberg 2006. S. 145. 151 Möller, Laux und Deister: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. S. 248.
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und die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Psychoanalyse, Psychiatrie und Psychosomatik geprägt war.152 Für die Entwicklung und Institutionalisierung der Psychosomatik in Deutschland waren vor allem die 50er bis 70er Jahre des 20. Jh. von Bedeutung153, da in dieser Zeit wichtige Modelle und Theorien entstanden sowie in den ersten Krankenhäusern eigene psychosomatische Abteilungen gegründet wurden.154 152 Die Einteilung in zwei grundlegende Strömungen geht auf Adolf-Ernst Meyer zurück und ist v. a. historisch bedeutend, während sie in der neueren Entwicklung eine untergeordnete Rolle spielt. Vgl. Herzog, Wolfgang u. a.: Psychosomatische Medizin und Psychotherapie heute – das Beste aus zwei Welten. In: Psychosomatische Medizin und Psychotherapie heute. S. V. (künftig zitiert als: Herzog: Psychosomatische Medizin heute). Das erste Lehrbuch der Psychosomatik, welches von Edward Weiss und Oliver Spurgeon English verfasst wurde und 1943 erschien, steht der zweiten Linie nahe. Vgl. Weiss, Edward and Oliver Spurgeon English: Psychosomatic medicine: the clinical application of psychopathology to general medical problems. Philadelphia 1943. Die strikte Trennung der Linien und die permanente Auseinandersetzung um die Verhältnisbestimmung von Psychoanalyse, Psychiatrie und Psychosomatik war allerdings in Deutschland einzigartig und ging darauf zurück, dass die Psychoanalyse lange Zeit als unwissenschaftlich angesehen wurde, so dass eine Trennung zwischen Psychiatrie auf der einen und Psychotherapie und Psychosomatik auf der anderen Seite entstand. Vgl. Möller, Laux und Deister: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. S. 248. Als prägende Figuren der Entwicklung lassen sich nennen: Georg Groddeck, Franz Alexander, Alexander Mitscherlich, alle drei besonders geprägt durch Freuds Psychoanalyse; Viktor von Weizsäcker mit philosophisch-anthropologischer Ausrichtung, Helen Flanders Dunbar mit biographischem Ansatz, Thure von Uexküll mit stark systemtheoretischem sowie semiotischem Einfluss, der auch Verfasser eines Lehrbuchs ist. 153 Vgl. das Vorwort zur deutschen Ausgabe von Franz Alexanders Psychosomatik: „In Deutschland existierte die Psychosomatische Medizin […] lange mehr in Taschenbüchern und Zeitschriftenartikeln als in ärztlicher Klinik und Praxis. Seit einiger Zeit aber hat auch in unserem Lande in Sachen Psychosomatik eine sichtbare Wende eingesetzt.“ Alexander, Franz: Psychosomatische Medizin. Grundlagen und Anwendungsgebiete. 3., unveränderte Aufl. Berlin, New York 1977. S. V. (künftig zitiert als: Alexander: Psychosomatische Medzin). 154 Schon 1949 durch Ludolf Krehl und Ludwig Heilmeyer in Freiburg, in den 1950er Jahren durch Arthur Jores in Hamburg, 1966 übernahm Thure von Uexküll einen Lehrstuhl für Innere Medizin und Psychosomatik in Ulm. Vgl. Meyer: Historische Entwicklung. S. 4. Die älteste eigenständige psychosomatische Klinik wurde 1950 von Alexander Mitscherlich in Heidelberg gegründet. Vgl: https://www.klinikum.
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Das psychogenetische Modell, welches v. a. von der Idee geprägt war, unbewusste innere Konflikte seien die Ursache körperlicher Krankheiten, wurde besonders durch den ungarischen Psychiater und Psychoanalytiker Franz Alexander vertreten, der einen Großteil seiner aktiven Forschungs- und Lehrtätigkeit in den USA verbrachte und im deutschsprachigen Raum als Pionier im Bereich der Psychosomatik gilt.155 In seiner Schrift „Psychosomatische Medizin“ erläutert er in einem ersten Teil die Verhältnisbestimmung von Psychoanalyse und Medizin. So zerfiel die moderne klinische Medizin in zwei heterogene Teile: in einen, der für den fortschrittlicheren und wissenschaftlicheren angesehen wurde und der alle in physiologischen und allgemein-pathologischen Begriffen […] erklärbaren Störungen, und den anderen, als weniger wissenschaftlich betrachteten Teil, der eine große Ansammlung von unbestimmt dunklen Leiden häufig psychischen Ursprungs umfaßt.156
Die von Alexander identifizierte Zweiteilung in der Entwicklung der Medizin legte die Grundlage für seine 1950 entwickelte Theorie. Ziel dieser war sowohl die Synopse der beiden heterogenen Bereiche als auch die wissenschaftliche Anerkennung der psychoanalytischen Forschung und Behandlung. Der zweite Teil des Buches bildet exemplarisch die Idee der psychogenetischen Traditionslinie ab, bestimmte Krankheiten seien psychosomatisch, andere hätten hingegen ausschließlich physische Ursachen und Verläufe.157 Nach Alexanders ‚Theorie der Spezifik‘ seien zudem bestimmte Stressoren oder Emotionen den immer gleichen physischen Symptomen zuzuordnen.158 Diese Form der uni-heidelberg.de/Geschichte-der-Psychosomatik-in-Heidelberg.108591.0.html, aufgerufen am 15. August 2016. Seit 1970 ist Psychosomatik Pflichtfach im Medizinstudium. Vgl. Zipfel, Stephan u. a.: Medizinische Lehre, Facharztweiterbildung und Qualifizierungsprogramme für Wissenschaftler. In: Psychosomatische Medizin und Psychotherapie heute. S. 83. 155 Vgl. Melcher, Imke: Franz Alexander und die moderne Psychotherapie. Gießen 2013. S. 9. 156 Alexander: Psychosomatische Medizin. S. 5. 157 Vgl. als „klassische“ Psychosomatosen (Erkrankungen, bei denen krankhafte organische Veränderungen aufgrund psychischer Faktoren ausgemacht werden) nach Franz Alexander z. B. Asthma, Neurodermitis oder Hypertonie. Alexander: Psychosomatische Medizin. S. 56ff; vgl. auch Möller, Laux und Deister: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. S. 254. 158 Auch hier herrscht keine Einheit zwischen den Forschern. Andere psychoanalytische Psychosomatiker vertreten die Auffassung, dass keine spezifische Korrelation bestehe. Vgl. die Diskussion dazu in Alexander: Psychosomatische Medizin. S. 44ff.
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Klassifikation von Krankheiten in psychosomatisch und rein physisch sowie die monokausale Zuordnung psychischer Ursachen und physischer Symptome wird heute in strenger Form nicht mehr vertreten.159 Den als holistisch-integrativ bezeichneten Modellen ist gemeinsam, dass sie nicht auf einzelne Krankheitsbilder fokussieren, die als psychosomatisch eingestuft werden, sondern „der Anspruch [besteht], diesen Erklärungsansatz auf nahezu alle Erkrankungen anwenden zu können“160. Exemplarisch für diesen Strang der Psychosomatik steht das biopsychosoziale Modell des Neurologen und Medizinreformers Thure von Uexküll.161 Ausgangspunkt seines Modells ist die Unzufriedenheit über das dem Medizinstudium zugrunde liegende rein physiologischmechanische Verständnis des Menschen – das Modell der Maschine. Die Faszination dieses Modells für Ärzte beruht auf seiner Fähigkeit, ein räumliches Ordnungsschema bereitzustellen, von dem sich Handlungsanweisungen für manuelle Eingriffe in den menschlichen Körper ableiten lassen. So wurde der nach dem Maschinenmodell gedeutete Körper ,zur Sache der Medizinʻ […] Krankheit ist nach diesem Modell eine räum159 Vgl. Herzog: Psychosomatische Medizin heute. S. VI. Eine Ordnung nach bestimmten psychosomatischen Erkrankungen findet sich z. T. noch in Lehrbüchern, vgl. Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Hrsg. v. Wielant Machleidt u. a. 7., aktual. Aufl. Stuttgart, New York 2004; Psychosomatische Grundversorgung. Kompendium der interpersonellen Medizin. Hrsg. v. Wolfgang Tress. Stuttgart, New York 1994 (künftig zitiert als: Tress: Psychosomatische Grundversorgung). Hier mit der reflektierenden Bemerkung: „Der Zusammenhang zwischen der psychosozialen Problematik des Patienten und seinem Krankheitsbild ist jedoch nie so eng, daß wir automatisch von der Erkrankung auf die zugrundeliegenden Konflikte und Verhaltensmuster schließen können. Daher muß psychosoziale Diagnostik bei jedem Patienten individuell erfolgen.“ S. 48. 160 Eckart: Geschichte 7. S. 310. 161 Thure von Uexküll (1908-2004) war neben seiner Tätigkeit als Neurologe seit 1948 Privatdozent und später Professor an verschiedenen deutschen Universitäten. In dieser Funktion in der Ausbildung von MedizinerInnen förderte er Reformen des Medizinstudiums z. B. durch die Integration von Perspektiven der Psychologie und Soziologie. Das von von Uexküll und Wesiack entworfene Konzept einer „Integrierten Heilkunde“ von 1988 ist ein Klassiker der psychosomatischen Literatur und inzwischen als Lehrbuch mit Beiträgen zahlreicher Autoren und deutlich erweitert in der 7. Auflage erschienen und gilt als Standardwerk („der Uexküll“). Vgl. auch die Aufnahme in anderen Lehrbüchern z. B. Davis, Svenja, Annalisa Enders und Jette Lamers: BASICS Psychosomatik und Psychotherapie. 2. Aufl. München 2013. S. 42. (künftig zitiert als: Davis, Enders und Lamers: BASICS).
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lich lokalisierbare Störung, die zwar eine sehr komplexe, aber aufgrund des technischen Vorbilds doch überschaubare Struktur besitzt.162
Von Uexküll erkennt diesem Modell in Verbindung mit den bahnbrechenden Erkenntnissen des 19. Jh. eine große Stärke zu. Es sei extrem leistungsstark und erfolgreich, gebe klare Deutungs- und Handlungsanweisungen und sei immer modern, indem es sich mit der Modernisierung von Maschinen weiterentwickle. Als Modell für den Menschen sei es jedoch unzureichend: Der gravierende Nachteil dieses Erklärungsmodells ist die Tatsache, dass Maschinen weder fühlen noch etwas erleben können, und die Unmöglichkeit, psychische und soziale Einwirkungen auf den Organismus eines Menschen zu erklären oder auch nur für möglich zu halten. In diesem Modell ist ,Psycheʻ nur ein Wort für die Vorstellung von einem Gespenst in einer Maschine. Daran hat auch Freuds Definition der Seele als ,psychischer Apparatʻ nichts geändert. Solange die Medizin nicht einsieht, dass eine neue Definition von ,Seeleʻ auch eine neue Definition von ,Körperʻ erzwingt, müssen alle Erfahrungen über psychische Vorgänge an der Grenze des als Maschine gedeuteten Körpers abprallen. […] So lange kann subjektives Erleben, seien es Reaktionen auf Schicksalsschläge, seien es Ängste oder Gefühle der Verlassenheit kranker Menschen, nicht als ,medizinisch relevantʻ verstanden werden. Der Preis, den unsere Gesellschaft für die Verkürzung der Lebensphänomene auf das Maschinenparadigma bezahlen muss, ist die absurde Aufspaltung des heutigen Gesundheitswesens in eine somatische Medizin mit hochspezialisierten und kostenintensiven Spezialkliniken für kranke Körper ohne Seele und in eine psychologische Medizin mit Psychotherapeuten und Neurosekliniken für leidende Seelen ohne Körper.163
Uexküll macht deutlich, dass ein technisches Verständnis des Körpers ebenso unangemessen sei wie ein technisches Verständnis der Seele, da diese Definitionen den „psychophysischen Dualismus“164 weiter tradieren und für einen wirklich übergreifenden, psychosomatischen Ansatz nicht hilfreich seien. Eine Neudefinition fordert er zwar (s.o.) und entwirft dafür auch die gedanklichen Grundlagen, formuliert sie selbst aber nicht.
162 Uexküll Psychosomatische Medizin. Theoretische Modelle und klinische Praxis. Hrsg. v. Rolf Adler u. a. 7., komplett überarb. Aufl. München 2011. S. 4. (künftig zitiert als: Uexküll Psychosomatische Medizin). 163 Uexküll Psychosomatische Medizin. S. 5f. Hervorhebungen im Original. 164 Ebd. S. 6.
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Als eigenes Konzept entwirft von Uexküll einen semiotisch basierten Situationskreis.165 Lebendige Körper zeichneten sich dadurch aus, dass sie Umwelt und Reize wahrnähmen,166 die von außen wie von innen als biologische, psychische und soziale Einflüsse auf den Menschen wirkten. Vor allem aber seien sie nicht einfach gegeben, sondern müssten als Zeichen interpretiert werden. Ärzte und PatientInnen konstruierten so gemeinsam Wirklichkeit, so dass für von Uexküll das (Anamnese-)Gespräch besonders zentral ist. Dabei müssten sich beide, Arzt und Patient, ständig bewusst machen, dass sie Interpreten seien, die immer wieder Prozesse der Bedeutungsunterstellung und -erprobung durchliefen.167 Auf diese Weise könne es gelingen, eine dualistische Perspektive zu überwinden. Die neuere Entwicklung in der Psychosomatik ist weniger durch neue Entwürfe geprägt als durch die Aufnahme, Integration und Modifikation vorhandener Theorien168 sowie durch zunehmende Institutionalisierung. Als Meilenstein muss der Deutsche Ärztetag 1992 genannt werden, auf dem die Einrichtung der Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Psychotherapeutische Medizin (2003 umbenannt in Psychosomatische Medizin und
165 Damit greift er zurück auf das Modell des Funktionskreises der Umwelttheorie seines Vaters Jakob von Uexküll und liegt gedanklich nah an den Überlegungen zum psychosomatischen Modell eines Gestaltkreises von Viktor von Weizsäcker. Vgl. Kapitel 1: Integrierte Medizin als Gesamtkonzept der Heilkunde: ein bio-psycho-soziales Modell. S. 3-40. In: Uexküll Psychosomatische Medizin sowie Eckart: Geschichte 7. S. 307f. 166 Während der Internist von Uexküll permanent über den „Körper“ spricht, verwendet er kaum die Begriffe „Seele“ oder „Psyche“ und definiert diese auch nicht. Ein häufig von ihm verwendeter Ausdruck ist „Subjekt“ und meint den „individuellen Kranken […] als Interpret seiner Umwelt“. Uexküll Psychosomatische Medizin. S. 24; vgl. auch S. 38; 40. 167 Einen besonderen Stellenwert nimmt in Uexkülls biopsychosozialem Modell die Beziehung ein. Die von ihm verwendete Bezeichnung der „Integrierten Heilkunde“ leitet er aus seinem Verständnis von Gesundheit als Beziehungsgeschehen ab. Eine intakte Beziehung bedeute Integration (von ‚integer‘ – heil/unverletzt) und führe zu Heilsein. Von besonderer Bedeutung sei in diesem Beziehungsgeschehen das Gespräch: „Ich bin überzeugt davon, daß das Interview das mächtigste, umfassendste, empfindsamste und vielseitigste Instrument ist, das dem Arzt zur Verfügung steht.“ Uexküll Psychosomatische Medizin. Hrsg. v. Rolf Adler u. a. 5., überarb. und erw. Aufl. München 1995. S. 4. 168 Vgl. dazu die Bezugnahme und theoretische Weiterführung in Stress-Coping-Modellen und im Spiritual Care-Ansatz. Siehe 3.2.1.2 und 3.2.1.3.
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Psychotherapie) beschlossen wurde.169 Zudem wurde ein Fortbildungsangebot „Psychosomatischen Grundversorgung“ eingeführt, das schwerpunktmäßig somatisch arbeitende ÄrztInnen befähigen soll, psychische und soziale Faktoren in die Diagnostik einzubeziehen.170 Die Verbreitung und Institutionalisierung zeigt sich auch in der Anzahl ambulanter Facharztpraxen, psychosomatischer Abteilungen in Krankenhäusern, Spezialkliniken und Einrichtungen an Universitäten.171 Auch Erkenntnisse aus anderen Forschungsfeldern haben maßgeblich zu einer Stärkung und Verbreitung psychosomatischer Grundannahmen geführt, darunter Neurowissenschaften, Säuglings- und Bindungsforschung sowie Entwicklungspsychologie.172 Parallel zur institutionellen Festigung haben sich Überzeugungen der Psychosomatik auch in populäre Publikationen und in den allgemeinen Sprachgebrauch hinein verbreitet. Unter populärwissenschaftlichen Autoren lässt sich häufig eine positive und monokausale Verknüpfung von als psychosomatisch bezeichneten Krankheitsursachen und deren Lösungen finden. (Alle Befindlichkeiten (und Krankheiten) werden als psychosomatisch angenommen – und können durch psy-
169 Die historische Zweiteilung ist hier immer noch erkennbar und die Konflikte um Zuordnung und Anerkennung zwischen Medizin, Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik ziehen sich durch die Entwicklung. Vgl. Möller, Laux und Deister: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. S. 249.; vgl. auch die Übersicht über die Strukturierung der psychotherapeutisch-psychosomatischen Qualifikationen im Anhang von Klußmann: Psychosomatische Medizin. Kompendium. S. 543. 170 Vgl. Möller, Laux und Deister: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. S. 584.; Tress: Psychosomatische Grundversorgung; Janssen, Paul L.: Weiter- und Fortbildung in der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie. In: Ahrens, Stephan und Wolfgang Schneider: Lehrbuch der Psychotherapie und Psychosomatischen Medizin. 2. aktual. und erw. Aufl. Stuttgart 2002. S. 13. 171 In Deutschland gibt es (Stand November 2012) laut Angaben des Berufsverbandes der Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 4600 Fachärzte für Psychosomatik, dazu zahlreiche Betten für psychosomatische PatientInnen in Kliniken und Reha-Einrichtungen sowie 21 Universitätsabteilungen. Vgl. Psychosomatische Medizin. Der Facharzt feiert 20-jähriges Jubiläum. In: Deutsches Ärzteblatt. Jg. 109. Heft 48. 2012. S. 2390. Vgl. auch die umfangreiche (Auswahl-)Liste an Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Einrichtungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz im Anhang von Klußmann: Psychosomatische Medizin. Kompendium. S. 556ff. 172 Vgl. Klußmann: Psychosomatische Medizin. Kompendium. S. 1.
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chische Intervention geheilt werden.)173 Zugleich lässt sich im umgangssprachlichen Gebrauch auch eine pejorative oder verharmlosende Verwendung der Bezeichnung ‚psychosomatisch‘ für körperliche Beschwerden ohne organ-pathologischen Befund finden.174 3.2.1.1.1 Zwischenfazit: Psychosomatik
In ihren Anfängen reagiert die Psychosomatik schon früh im 20. Jh. auf die Defizite einer akademisch-technisierten Medizin. Größeren Einfluss und Aufnahme in Theorie und Praxis fanden die Ideen seit den 1970er Jahren. Angestoßen von Medizinern in der Auseinandersetzung um die Voraussetzungen ihrer eigenen Reflexion und praktischen Arbeit entwickelte sich das Ziel einer grundlegenden Denkreform innerhalb des Systems. Die Erweiterung der Perspektive von Medi173 Vgl. die große Popularität (und die Auflagenzahlen!) von AutorInnen wie Louise L. Hay und ihrer Überzeugung, Krankheiten seien durch positive Affirmationen zu heilen. Hay, Louise L.: Gesundheit für Körper und Seele. Wie Sie durch mentales Training ihre Gesundheit erhalten und Krankheiten heilen. 23. Aufl. München 2002; Hay, Louise L.: Heile deinen Körper: Seelisch-geistige Gründe für körperliche Krankheiten und ein ganzheitlicher Weg, sie zu überwinden. 4. Aufl. Bielefeld 2011; Hay, Louise und Mona Lisa Schulz: Gesund sein. Das neue Programm zur Selbstheilung. Berlin 2015. Daneben weitere wie Dahlke, Rüdiger: Krankheit als Symbol. Handbuch der Psychosomatik und Integralen Medizin. Symptome, Be-Deutung, Bearbeitung, Einlösung. 22. Aufl. München 2014; Dethlefsen, Thorwald und Rüdiger Dahlke: Krankheit als Weg. Deutung und Be-Deutung der Krankheitsbilder. 19. Aufl. München 2015. Dass es bei diesen Autoren auch zu fragwürdigen Kurzschlüssen kommt, zeigt exemplarisch ein Blick in die Ausführungen Dahlkes. So verbindet er etwa Krankheiten und ihre Ursachen kausal, wenn er die Erkrankung für Patienten mit einer Querschnittslähmung als Aufgabe sieht, „ganz offenbar ihren Lebensschwerpunkt von äußeren Aktivitäten zu inneren [zu] lenken und Zeit [zu] bekommen, ihre Situation zu erkennen. […] Harte Eingriffe des Schicksals über Unfallgeschehen zeigen, wie nötig abrupte und tiefgreifende Kursänderungen sind.“ Dahlke, Rüdiger: Krankheit als Sprache der Seele. BeDeutung und Chance der Krankheitsbilder. 8. Aufl. München 1992. S. 296. Auch zu den Gründen für eine Krebserkrankung äußert sich Dahlke: „Krebs ist grundsätzlich ein Zeichen, daß man den eigenen Entwicklungsweg nicht oder nicht mehr geht, daß die Seelengeburt nicht vollzogen wird. Der jeweilige Krebs zeigt einem, an welcher Stelle man im Geburtskanal stecken geblieben ist.“ Ebd. S. 340. 174 Vgl. historisch: Meyer: Historische Entwicklung. S. 4; vgl. Peetz, Christina: Helen Flanders Dunbar – Die Mutter der Psychosomatik. Göttingen 2013. S. 44. Hervorhebung im Original.
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zinerInnen auf PatientInnen, ihre Krankheiten und deren Ursachen stand dabei im Mittelpunkt. Neben der Somatik, der Untersuchung physiologischer Ursachen und der Frage nach kausalen Zusammenhängen mit organ-pathologischem Fokus, sollten weitere Einflüsse auf die PatientInnen in den Blick genommen werden. Psychische, soziale, auch kulturelle Einflussfaktoren werden als mögliche Krankheitsursachen und als therapeutische Ansatzpunkte zum Gegenstand der psychosomatischen Medizin. Neben dem grundsätzlichen Anliegen der Psychosomatik einer angemessenen Versorgung von PatientInnen durch die Überwindung des funktionalistischen Menschenbildes, sind besonders aus der Theorie von Uexkülls zwei Aspekte hervorzuheben. Bemerkenswert ist zum einen die Betonung des Beziehungsaspektes und die Forderung Uexkülls, Medizin müsse Beziehungslehre sein. Auch die vorliegende Untersuchung geht mit den Fragen nach der Generierung von Deutungsmacht von einem entscheidenden Einfluss von Beziehungsaspekten aus, der sich etwa in der Zuweisung von Zuständigkeiten zeigt. Der Bedeutungsgewinn von Anbietern alternativer medizinischer Modelle könnte in hohem Maß von Aspekten der Beziehungsebene geprägt sein. Zum anderen ist die Idee der gemeinsamen Konstruktion von Wirklichkeit durch Ärztin oder Arzt und PatientIn relevant. Die gemeinsame Suche nach einer angemessenen Beschreibung dessen, was die Patientin oder der Patient erlebt und erleidet, labilisiert eine Hierarchie, die im Zuge der Professionalisierung entstand und durch die unhinterfragbare Setzung einer Diagnose von ÄrztInnen immer wieder neu hergestellt wird. Hier finden Deprofessionalisierungs- sowie Entdifferenzierungsprozesse statt. Im Diagnostizieren, gemeinsamen Revidieren und Konstruieren relativieren sich diagnostische Eindeutigkeiten und die Machtposition von ExpertInnen (Stichwort: mündiger Patient)175. Eine solche Herangehensweise findet sich auch in der Praxis des Untersuchungsfeldes.
175 Vgl. Francken, Georg: Dr. Ich. Wie mündige Patienten sich im Medizinbetrieb behaupten und die optimale Behandlung finden. Stuttgart 2010. Vielfältige Möglichkeiten der Informationsgewinnung für Patienten z. B. über das Gesundheitsministerium https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ und http://www.patientenbeauftragter.de/, aufgerufen am 16. August 2016. Vgl. zudem allgemein die Informationsmöglichkeiten über das Internet. Analytisch dazu: Achtung: Patient online!: Wie Internet, soziale Netzwerke und kommunikativer Strukturwandel den Gesundheitssektor transformieren. Hrsg. v. Christoph Koch. Wiesbaden 2010; Schachinger, Alexander: Der digitale Patient: Analyse eines neuen Phänomens der partizipativen Vernetzung und Kollaboration von Patienten im Internet. Baden-Baden 2014. Kritisch zu einer als Imperativ verstandenen Mündigkeit: Böhme, Gernot: Der mündige Patient. In: Der
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Die historische Zweiteilung der Psychosomatik in psychodynamische und integrative Konzepte steht gegenwärtig nicht mehr im Vordergrund. Die Ideen der integrativen Entwicklungslinie haben sich soweit verbreitet, dass sie bis in allgemein gebräuchliche Bestimmungen hinein zu finden sind. Im Sinne des holistisch-integrativen Ansatzes eine bestimmte Grundhaltung zu etablieren und anzuwenden, war das zentrale Anliegen der Psychosomatik und damit nichts weniger als die Veränderung des die medizinische Arbeit bestimmenden Paradigmas. Über die Frage, ob dieser Paradigmenwechsel bereits stattgefunden habe, gehen die Meinungen auseinander.176 Dass psychosomatische Grundanliegen in den medizinischen Mainstream Eingang gefunden haben, zeigt sich jedoch in der Definition von Gesundheit der WHO177, in deren Perspektive es letztlich keine nicht-psychomündige Mensch. Denkmodelle der Philosophie, Geschichte, Medizin und Rechtswissenschaft. Hrsg. v. Gernot Böhme. Darmstadt 2009. S. 143-156. 176 Dagegen spricht die im Gesamtkanon der medizinischen Fächer relativ randständige Position der Psychosomatik. Zwar ist sie Prüfungsfach im Medizinstudium und hat ihren Platz in medizinischen Lehrbüchern, allerdings nur als Teilgebiet des Teilgebietes Psychiatrie. Mitunter wird auf den Charakter der Psychosomatik als Querschnittsdisziplin verwiesen. Vgl. z. B. Leust, Stefan und Hans Förstl: Psychiatrie und Psychotherapie. Kurzlehrbuch. Stuttgart 2012; Davis, Enders und Lamers: BASICS. Eine größere Bedeutung wird der Psychosomatik dagegen im Geleitwort von Hans-Peter Kapfhammer zugeschrieben, wo das biopsychosoziale Modell als „gültig erachtete[s] allgemeine[s] Paradigma der Medizin“ bezeichnet wird. In: Klußmann: Psychosomatische Medizin. Kompendium. S. V. 177 Die „wohl prominenteste[…] ‚Gesundheitsdefinition‘“ findet sich in der Präambel der 1948 in Kraft getretenen Verfassung der Weltgesundheitsorganisation. Hier heißt es: „Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.“ Zitiert nach: https://www.who.int/about/mission/en/. Aufgerufen am 10. Januar 2019. Dieser weit gefasste Gesundheitsbegriff, der ein vollständiges Wohlbefinden auf physischer, psychischer und sozialer Ebene zum Ziel setzt, wurde einerseits gelobt für die Aufnahme von Aspekten, die über eine rein physiologisch-pathologische Perspektive hinausgehen, andererseits als Ideal kritisiert, nach dem „fast alle Menschen nur als mehr oder weniger, aber nicht vollkommen gesund gelten“ könnten. Trotz der Kritik wird die Definition immer wieder zitiert und u. a. als Abgrenzungsbegriff herangezogen. Zitate (außer der Definition): Kiesel, Johannes: Was ist krank? Was ist gesund? Zum Diskurs über Prävention und Gesundheitsförderung. Frankfurt a. M., New York 2012. S. 161. (künftig zitiert als: Kiesel: Was ist krank?). Vgl. auch die Zitation dieser Definition in nahezu jeder einschlägigen Publikation zum Thema, neben Kiesel z. B.: Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert. Eine Expertise von
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somatischen Erkrankungen gibt, sowie im Klassifikationsmanual für Krankheiten ICD-10.178 Dennoch: die Perspektive bleibt weitgehend innersystemisch, physiologische und psychologische Aspekte werden verbunden, eine umfassende Umsetzung der Forderung, auch kulturelle und soziale Perspektiven aufzunehmen, setzt sich nicht in der allgemeinen Praxis durch. Auch religionsaffine Aspekte bleiben hier außen vor. 3.2.1.2 Stress-Coping-Modelle – Was Menschen gesund erhält
Während die vornehmlich von Medizinern geprägte Psychosomatik sich institutionell festigt, treten Stress-Coping-Modelle mit psychologischen und soziologischen Ursprüngen in den Vordergrund. Diese nehmen psychosomatische Denkweisen auf und entwickeln sie insofern weiter, als hier zum einen dem Stress als Krankheitsursache eine herausragende Rolle zukommt179 und sich zum anderen die Breite möglicher Einflussfaktoren auf Gesundheit und Krankheit des Menschen deutlich erweitert.
Jürgen Bengel u. a. im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Erweiterte Neuaufl. Köln 2001. (künftig zitiert als: Was erhält Menschen gesund? BZgA); Bergdolt: Traum von der Gesundheit; Stoecker, Ralf: Krankheit – ein gebrechlicher Begriff und Karle, Isolde: Die Sehnsucht nach Heil und Heilung in der kirchlichen Praxis. Beide in: Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. 178 Im Gegensatz zu vorherigen Auflagen kommt im aktuellen Diagnosemanual ICD-10 die Kategorie „psychosomatisch“ nicht mehr eigenständig vor. Damit soll deutlich gemacht werden, dass dieser Aspekt nicht nur bei bestimmten Krankheiten eine Rolle spiele und bei anderen irrelevant sei, sondern grundsätzlich beachtet werden muss. Beim Diagnosemanual ICD-10 handelt es sich um ein Codierungssystem für Diagnosen und Todesursachen. Erstellt wurde dieses internationale Register durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Eine an das deutsche Gesundheitswesen angepasste Form liegt mit dem ICD-10-GM vor. Vgl. Franke: Modelle. S. 141 und ICD-10 Diagnosemanual http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/index.htm, aufgerufen am 24. Juni 2016. Als Pendant im amerikanischen Kontext ist das Manual DSM-V im Gebrauch. 179 Stress als eine mögliche Krankheitsursache wurde auch in den Anfängen der Psychosomatik in den Blick genommen, besonders die Erkenntnisse des Stressforschers Hans Selye. Eine herausragende Rolle wurde dem Phänomen Stress aber erst später zugeschrieben. Vgl. Klußmann: Psychosomatische Medizin. Kompendium. S. 5.
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3.2.1.2.1 Coping
Der Begriff Coping geht vermutlich auf den Psychologen Richard S. Lazarus zurück180; in jedem Fall war seine Forschung zur Stressbewältigung aus den 1960er Jahren prägend. In dem gemeinsam mit Susan Folkman entwickelten transaktionalen Stressmodell definiert Lazarus 1984 Coping als constantly changing cognitive and behavioral efforts to manage specific external and/or internal demands that are appraised as taxing or exceeding the resources of the person.181
Auf diese Definition zurückgreifend wird Coping als Bewältigungsstrategie verstanden, mit Widerfahrnissen im Leben umzugehen. Dabei geht es nicht ausschließlich um negative Erfahrungen, sondern zunächst um grundlegende, gravierende Veränderungen, die eine Integration in die eigene Lebensdeutung (und damit ggf. deren Modifikation) erfordern. Für Lazarus und Folkman funktioniert der Umgang über einen Dreischritt aus Stress, kognitiver Bewertung und Bewältigung. Wird etwas als Stressor wahrgenommen und entsprechend bewertet, können unterschiedliche Bewältigungsmodelle zu einer Adaption und Neubewertung der Situation führen und so einen angemessenen Umgang mit der Herausforderung ermöglichen. Zu den möglichen Stressoren zählen auch Erfahrungen von (schwerer) Krankheit. Wie werden diese in die jeweilige Lebensgeschichte integriert? Wie gelingt es Menschen, mit Verlust, Tod oder Krankheit umzugehen? Hier kommen neben Faktoren wie sozialem Gefüge und eigener Handlungsfähigkeit auch Veränderungen der subjektiven Bewertung sowie Religiosität als Ressource ins Spiel. Folkman hebt die Bedeutung von religiösem Coping hervor, das sie als eigene Kategorie innerhalb der „auf Sinnfindung basierende[n] Bewältigungsstrategien“182 herausstellt. Während die Aufnahme des Coping-Gedankens in den ersten Jahren nach Erscheinen des Modells bis in die 1990er Jahre hinein zurückhaltend blieb, erschienen nach dem Jahr 2000 zahlreiche Untersuchungen und Publikationen zu
180 Vgl. Franke: Modelle. S. 118. 181 Lazarus, Richard S. und Susan Folkman: Stress, Appraisal, and Coping. New York 1984. S. 141. 182 Zitiert nach: Zwingmann, Christian: Religiosität/Spiritualität und Psychotherapie: Passt das zusammen? In: Dem Gutes tun, der leidet. Hilfe kranker Menschen – interdisziplinär betrachtet. Hrsg. v. Arndt Büssing u. a. Berlin, Heidelberg 2015. S. 17. (Sammelband künftig zitiert als: Dem Gutes tun, der leidet).
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religiösem und nicht-religiösem Coping in unterschiedlichen Kontexten.183 Auch im Kontext des Umgangs mit Krankheitserfahrungen wächst die Popularität des Begriffs, wie die Publikationen oder auch die Einrichtung einer Professur für Lebensqualität, Spiritualität und Coping an der Universität Witten/Herdeke 2010 zeigt.184 3.2.1.2.2 Salutogenese
Ebenfalls zu den Stress-Coping-Modellen zählt das in den 1970er Jahren in den USA entstandene Modell der Salutogenese. Der Soziologe Aaron Antonovsky entwarf ein Konzept für einen Perspektivwechsel auf Krankheit und Gesundheit. In einer medizinsoziologischen Studie stellte Antonovskys überrascht fest, dass sich eine beachtliche Gruppe seiner Probandinnen trotz der gravierenden Erfahrung, in einem Konzentrationslager interniert gewesen zu sein, guter physischer und psychischer Gesundheit erfreute. Diese für ihn an ein Wunder grenzende Beobachtung brachte Antonovsky dazu, sein salutogenetisches Modell zu formulieren, welches 1979 erstmals in „Health, Stress and Coping. New Perspectives on Mental and Physical Well-Being.“ erschien und 1987 in „Unraveling the mystery of health. How people manage stress and stay well.“185 ausformuliert und erweitert wurde. 183 In Auswahl: Winkelmann: Religiöse Deutungen; Dem Gutes tun, der leidet; Thurnheer, Katharina: Life beyond survival. Social forms of coping after the Tsunami in war-affected eastern Sri Lanka. Bielefeld 2014; Handbuch Stress und Kultur. Interkulturelle und kulturvergleichende Perspektiven. Hrsg. v. Petia Genkova, Tobias Ringeisen und Frederick T. L. Leong. Wiesbaden 2013; Buchwald, Petra: Stress in der Schule und wie wir ihn bewältigen. Paderborn 2011; Spiritualität transdisziplinär. Wissenschaftliche Grundlagen im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit. Hrsg. v. Arndt Büssing und Niko Kohls. Berlin, Heidelberg 2011. 184 Die Professur ist derzeit (Stand Juli 2019) besetzt mit Prof. Dr. Arndt Büssing. Er ist auch Vorstand und Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität (vgl. auch den Abschnitt zu Spiritual Care 3.2.1.3) und Herausgeber einschlägiger Publikationen zum Thema wie: Dem Gutes tun, der leidet. Darin auch ein Überblick über die Forschung zu religiösem Coping S. 17ff. 185 Auf Deutsch ist dieses Buch 1997 erschienen, interessanterweise erst zehn Jahre nach dem Original. Und das, obwohl Antonovsky selbst es für genau zum richtigen Zeitpunkt erschienen hielt: „Das Buch scheint zur richtigen Zeit herausgekommen zu sein. Ernüchterung über die zunehmend teurere Technologie des medizinischen Versorgungssystems, Besorgnis über die immer weniger humanen Untertöne bei der Ausrichtung auf die organische Krankheitspathologie, die Anfänge der Selbsthilfe-
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Die zentrale Frage Antonovskys war: Wie werden oder bleiben Menschen trotz widriger Umstände gesund? Damit entwirft er ein Gegenmodell zur gängigen pathogenetischen Herangehensweise, die von einer Homöostase ausgeht, welche durch eine Krankheit aus dem Gleichgewicht gebracht und wieder in ihre Funktionalität zurückgeführt werden muss. Antonovsky legt seinem Modell dagegen eine Heterostase zugrunde. Das Leben sei im Ungleichgewicht und werde durch Stressoren permanent labilisiert186, Gesundheit bedeute, einen angemessenen Umgang mit diesen Instabilitäten zu finden. Krankheit und Gesundheit könnten daher nicht statisch sein oder als zwei unabhängige Größen aufgefasst werden, sondern seien entgegengesetzte Punkte auf einem Kontinuum und jede Person befinde sich mal stärker auf der einen und dann wieder stärker auf der anderen Seite, nie jedoch nur in Gesundheit oder Krankheit. In der Folge formuliert Antonovsky das Modell der Widerstandsressourcen. Diesen sei gemeinsam, „daß sie es leichter machen, den zahllosen Stressoren, von denen wir fortwährend bombardiert werden, einen Sinn zu geben“187. Zentral sei für den erfolgreichen Umgang mit den Instabilitäten also ein Gefühl der Sinnhaftigkeit. Antonovsky nennt dies sense of coherence, das Kohärenzgefühl188. Dieses setze sich wiederum aus drei Aspekten zusammen: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit. Wenn es gelinge, eine Anfechtung, eine Krankheit, ein Widerfahrnis zu verstehen, also als sinnhaft wahrzunehmen, als geordnet und konsistent, es als handhabbar einzuschätzen, also als eine kontrollierbare Herausforderung, der man aufgrund eigener Ressourcen oder mithilfe der Unterstützung anderer gewachsen sein könnte und es mit Bedeutung zu versehen, also involviert bewegung, ein wachsendes Bewußtsein über die Rolle sozialer Faktoren bei der Entstehung von Wohlbefinden – all dieses diente der Vorbereitung für eine ernsthafte Untersuchung der Ursprünge von Gesundheit.“ Antonovsky: Salutogenese. S. 16f. Offenbar brauchte es in Deutschland noch einige Zeit, bis Antonovskys Idee auch hier auf fruchtbaren Boden fiel – in der Folgezeit dann dafür umso häufiger zitiert und aufgenommen. 186 Antonovsky veranschaulicht diese Überlegungen mit einem Bild: Das Leben ist ein großer, wilder Fluss, in dem alle Menschen schwimmen. Darin gibt es – als Bild für Instabilitäten und Stressoren – heftige und unerwartete Strömungen. Wieso gehen aber nicht mehr Menschen oder sogar alle unter – was die für ihn naheliegende Annahme wäre? 187 Antonovsky: Salutogenese. S. 16. 188 Ich schließe mich hier mit der Verwendung des Begriffs Kohärenzgefühl für sense of coherence der Übersetzung von Alexa Franke an. Zur Diskussion um eine angemessene Übersetzung vgl. Franke, Alexa: Vorwort zur deutschen Herausgabe. In: Antonovsky: Salutogenese. S. 12.
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zu sein und eine (emotionale) Investition als lohnend anzusehen, dann weise dies auf ein hohes Kohärenzgefühl hin und das wiederum lässt sich als Indiz für eine gute Gesundheit sehen. In der Rezeption hat sich der Schwerpunkt von einem medizinsoziologischen Modell zu einer ressourcenorientierten Anwendungsperspektive verschoben und der Begriff Salutogenese wurde in zahlreichen Kontexten auch neben dem wissenschaftlichen aufgenommen.189 Dass der Schwerpunkt dabei im psychischen und psychosomatischen Bereich liegt, könnte auch mit dem Modell selbst zu tun haben: Zwar scheint es einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem sog. Kohärenzgefühl und der psychischen bzw. psychosomatischen Gesundheit zu geben – für die physische Gesundheit ist die Korrelation jedoch keineswegs eindeutig.190 Die Anlage des Modells ist eine Ursache dafür, dass neben Gesundheits- und Pflegewissenschaften auch Theologie und Kirche das Stichwort Salutogenese aufgenommen und auf seine Relevanz für das eigene Denken und Handeln hin befragt haben. Die Erkenntnis: Salutogenese spielt für die Theorie christlicher Religion nicht nur eine Nebenrolle, sondern wird als „elementar theologisches Thema“191 verstanden werden. In dem 2015 erschienenen Sammelband „Salutogenese im Raum der Kirche“ wird schon die Wortwahl Antonovskys als Indiz für eine Nähe seines Konzepts zu theologischen Grundanliegen gesehen:
189 Verschiedene Medizin- und Gesundheitswissenschaftszweige haben salutogenetische Perspektiven aufgenommen; zudem gibt es zahlreiche Studien, die mithilfe des von Antonovsky entwickelten Fragebogens zum Kohärenzgefühl arbeiten. Eine fundierte wissenschaftliche Weiterentwicklung des Modells ist dagegen eher gering geblieben. Vgl.: Was erhält Menschen gesund? BzgA. Besonders S. 40ff und S. 86f. Dazu auch: Franke, Alexa: Zum Stand der konzeptionellen und empirischen Entwicklung des Salutogenesekonzepts. In: Antonovsky: Salutogenese. S. 169. Vgl. zur Breite der Rezeption und der Anwendungsfelder: Salutogenese als Handlungsfeld von Kirche als Arbeitgeberin, z. B. in den Landeskirchen von Bayern und Westfalen: http://handlungsfelder.bayern-evangelisch.de/salutogenese.php;
http://www.kirchenkreis-witt-
genstein.de/salutogenese.html; ebenfalls aufgenommen wird der Begriff für den Bereich Bildung und Erziehung, hier häufig in der Überschneidung mit Resilienz – ein Beispiel unter vielen: http://www.waldorfschule.de/waldorfpaedagogik/salutogeneseund-waldorfpaedagogik/. Alle aufgerufen am 21. Juni 2016. 190 Vgl. Was erhält Menschen gesund? BZgA. S. 87f. 191 Salutogenese im Raum der Kirche. Ein Handbuch. Hrsg. v. Andreas von Heyl, Konstanze Kemnitzer und Klaus Raschzok. Leipzig 2015. S. 5. (künftig zitiert als: Salutogenese im Raum der Kirche).
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,Gesundʻ heißt im Lateinischen ja eigentlich ,sanusʻ, und die Gesundheit ,sanitasʻ. Sprachlich korrekt hätte Antonovsky sein Konzept demnach ,Sanuto- oder Sanitasgeneseʻ nennen müssen. Dass er stattdessen die Wortschöpfung ,Salutogeneseʻ prägte, hat programmatischen Charakter. Es geht um mehr als nur die psycho-physische Gesundheit. Es geht letztlich um das Leben als Ganzes. Es geht um das ,salusʻ, das Heil, das ,Heil-Seinʻ in einer ganzheitlichen, umfassenden Hinsicht.192
Die bereits bei Antonovsky angelegte Verknüpfung von Gesundheit und Heil-Sein explizit herauszuarbeiten ist das Ziel der Beiträge dieses Sammelbandes in einer „Entfaltung der theologischen Implikationen“193. Dabei wird im Eingangsbeitrag der Herausgeber auf die große Nähe des ‚Heil-Seins‘ mit der jüdisch-christlichen Tradition verwiesen. Was bei Antonovsky allerdings eine nicht-intendierte und unbestimmte Heilsausrichtung sei, werde im Christentum durch die Orientierung auf Jesus Christus konkret.194 Die enge Rückbindung des Gesundheits- und Heilsverständnisses sowie des Kohärenzgefühls an die christlich-biblische Tradition ist das Spezifikum dieses Sammelbandes. Dabei steht neben der inhaltlichen Erschließung der salutogenetischen Perspektive für Theologie und kirchliche Praxis der Gewinn dieser Sichtweise für Kirche als Arbeitgeberin im Fokus.195 Zusätzlich zur positiven Aufnahme des Modells fehlt dem Sammelband auch nicht die kritische Stimme. Eine gesundheitsfördernde Ausrichtung, so Christoph Morgenthaler, dürfe nicht mit einer theologischen Haltung gleich und absolut gesetzt werden.
192 Von Heyl, Andreas, Konstanze Kemnitzer und Klaus Raschzok: Einführung. Salutogenese im Raum der Kirche – ein Handbuch. In: Salutogenese im Raum der Kirche. S. 13. (künftig zitiert als: Von Heyl, Kemnitzer und Raschzok: Einführung). 193 Von Heyl, Kemnitzer und Raschzok: Einführung. In: Salutogenese im Raum der Kirche. S. 6. 194 Die Überraschung der Autoren darüber, dass Antonovskys Konzept „ureigene[..] biblisch-theologische[…] Vorstellungen berührt“, verwundert etwas. Als amerikanischjüdischer Wissenschaftler, der in den 1960er Jahren nach Israel emigrierte und sich in seiner Forschung u. a. mit jüdischen Holocaust-Überlebenden beschäftigte, legt es sich doch vielmehr nahe, dass Antonovskys Verständnis von ‚Heil‘ und ‚Heil-Sein‘ durch die jüdische und biblische Tradition geprägt ist. 195 Vgl. zahlreiche Einzelbeiträge des Sammelbandes, z. B. von Heyl, Andreas: Pfarrberuf und Arbeitsgesundheit. S. 347-372; Weigelt, Andreas: Salutogenese als kirchenleitende Herausforderung. S. 399-414; Bedford-Strohm, Heinrich und Rüdiger Glufke: Salutogenese in der öffentlichen Theologie. S. 553-560 u. a. In: Salutogenese im Raum der Kirche.
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Wenn Gesundheit alles und alles Gesundheit wird, ist kritische theologische Reflexion herausgefordert. Das Heil, von dem die Kirche spricht, ist nicht identisch mit ,Salusʻ in SalutoGenese. Der zentrale Code, auf den sich Kirchen als soziale Systeme beziehen, ist nicht Gesundheit, sondern das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz.196
Der Vorbehalt Morgenthalers ist aus theologischer Perspektive ernst zu nehmen. Auch ein umfassendes, den Aspekt des Heiles inkludierendes Gesundheitsverständnis ist nicht identisch mit dem Heil des christlichen Glaubens. Dass die systemischen Codes von Transzendenz und Immanenz (bzw. Gesundheit und Krankheit) so klar getrennt und die Zuordnungen so eindeutig sind, wie es hier vorausgesetzt wird, stellt die These der hier vorliegenden Untersuchung jedoch in Frage. In der Seelsorge wird das Label ‚Salutogenese‘ ebenfalls aufgegriffen und für die Praxis als Handlungsmodell weiterentwickelt.197 Der Therapeutin und Pfarrerin Heike Schneidereit-Mauth geht es in der „Ressourcenorientierte[n] Seelsorge“ darum, „eine konsequente salutogenetische Sichtweise in der Seelsorge zu etablieren und aufzuzeigen, dass dies durchaus biblisch zu begründen und theologisch plausibel ist“198. Den Fokus ihrer theoretischen Ausführungen legt sie auf das Kohärenzgefühl und bringt dies mit religiösen Ressourcen in Verbindung. Dabei greift sie zum einen in theologischer Deutung auf nicht religiöse Stabilisatoren des Kohärenzgefühls wie soziale Netzwerke oder materielle Sicherheit zu; zum anderen hebt sie Glaube und Spiritualität als eigenständige, „internale Widerstandsressource[n]“199 hervor. Religion und „Spiritualität als heilsame Kraft“200 hätten in den letzten Jahren deutlich an Popularität gewonnen, wären aber weniger von Seiten der Theologie als aus der Richtung der Medizin thematisiert worden. Als Theologin plädiert die Autorin dafür, dieses Feld nicht allein der medizinischen Forschung zu überlassen. […] [S]ollen wir als Seelsorgende die Sorge um die spirituellen Bedürfnisse nur den Gesundheitswissenschaften überlassen? Die neueren Konzepte von Spiritual Care haben ihren Ursprung nämlich nicht in der Praktischen Theologie, sondern sind vor allem in der Palliativmedizin und der Psychoonkologie entstanden. Das ist einerseits erfreulich, weil die 196 Morgenthaler, Christoph: Soziale Kontexte der Salutogenese. Soziologisch-systemische Grundorientierung. In: Salutogenese im Raum der Kirche. S. 48. 197 Schneidereit-Mauth, Heike: Ressourcenorientierte Seelsorge – Salutogenese als Modell für seelsorgerliches Handeln. Gütersloh 2015. (künftig zititert als: SchneidereitMauth: Ressourcenorientierte Seelsorge). 198 Schneidereit-Mauth: Ressourcenorientierte Seelsorge. S. 10. 199 Ebd. S. 51. 200 Ebd. Überschrift S. 48.
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spirituellen Fragestellungen so eine Aufwertung erfahren, andererseits führt es aber auch zu einer Funktionalisierung und einer Verflachung in der spirituellen Versorgung. Die spirituellen Bedürfnisse von Patienten lassen sich nicht über einen Kamm scheren und verlangen ebenso wie andere medizinische Spezialgebiete von den Seelsorgenden eine fundierte Ausbildung. Eine professionelle theologische und seelsorgerliche Qualifikation garantiert zwar keine positive religiöse Bewältigung, ist aber das Fundament, dass Spiritualität von den Patienten als gesundheitsfördernde Ressource entdeckt und erlebt werden kann.201
Auf der einen Seite wird der Gewinn einer Perspektive deutlich, die auch spirituelle und religiöse Bedürfnisse von PatientInnen in den Blick nimmt und diese als förderlich für eine Heilung fokussiert; auf der anderen Seite zeigt sich die Gefahr einer Instrumentalisierung religiöser Inhalte und Formen. In der Seelsorge auf die förderlichen Ressourcen zuzugreifen, die sich (auch) in religiösen Aspekten zeigen, ist das Ziel dieser salutogenetisch orientierten Seelsorge. Während Antonovsky als Soziologe beobachtet, befragt und schließlich eine Theorie entwickelt, um seine Entdeckungen zu systematisieren, zielt die Rezeption seines Konzeptes, wie die Beispiele von von Heyl und Schneidereit-Mauth gezeigt haben, deutlicher auf ressourcenorientierte Handlungsmodelle. 3.2.1.2.3 Resilienz
Eine ebenfalls in den 1970er Jahren erschienene Studie der US-amerikanischen Entwicklungspsychologin Emmy E. Werner bildet den Ausgangspunkt der Forschung zum Thema Resilienz. In ihrer Längsschnittstudie „The Children of Kauai. A Longitudinal Study from the Prenatal Period to Age Ten“202 untersuchte sie mit ihrer Forschungsgruppe Kinder mit einem „hohe[n] Entwicklungsrisiko“, was sich darin zeigte, dass diese „in chronische Armut hinein geboren wurden, geburtsbedingten Komplikationen ausgesetzt waren und in Familien aufwuchsen, die durch elterliche Psychopathologie und dauerhafte Disharmonie belastet waren“203. Zwei Drittel der Kinder, die mit den genannten Schwierigkeiten konfrontiert waren, entwickelten Lern- und Verhaltensprobleme, Schwierigkeiten in der Schule oder 201 Ebd. S. 61. 202 Werner, Emmy E., Jessie M. Bierman and Fern E. French: The Children of Kauai. A Longitudinal Study from the Prenatal Period to Age Ten. Honolulu 1971. (künftig zitiert als: Werner u. a.: The Children of Kauai). 203 Werner, Emmy E.: Entwicklung zwischen Risiko und Resilienz. In: Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz. Hrsg. v. Günther Opp und Michael Fingerle. 3. Aufl. München 2008. S. 21. (künftig zitiert als: Werner: Risiko und Resilienz).
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in ihrem emotionalen Verhalten. Ebenso wie in Antonovskys Untersuchung überraschte die ForscherInnen jedoch auch in dieser Studie weniger, dass der Weg der Kinder mit hohem Entwicklungsrisiko negativ verlief als vielmehr, dass sich ein Drittel dieser Kinder „zu leistungsfähigen, zuversichtlichen und fürsorglichen Erwachsenen“204 entwickelte, die in vielen Lebensbereichen205 als überdurchschnittlich positiv eingeordnet wurden. Diesen Kindern wurde eine hohe psychische Widerstandsfähigkeit attestiert, sie wurden als resilient bezeichnet. Mit Werner (und ähnlich auch Ann S. Masten und Sir Michael Rutter) soll unter Resilienz die erfolgreiche Adaption an herausfordernde Lebensumstände durch protektives Verhalten verstanden werden: Der Begriff ,protektivʻ oder ,schützendʻ beschreibt in diesem Zusammenhang Faktoren oder Prozesse, die dem Kind oder Jugendlichen helfen, sich trotz hohem Risiko normal zu entwickeln. ,Resilienzʻ oder ,Widerstandskraftʻ ist das Produkt dieser schützenden Einflüsse.206
In der Folge der Erkenntnisse von Werner und anderen207 hat das Thema Resilienz, ähnlich wie das ihm verwandte Modell der Salutogenese, an Popularität im Forschungsdiskurs gewonnen. Zunehmend vor allem seit den 2000er Jahren ist es auch aus der (Entwicklungs-)Psychologie heraus für andere Fachgebiete auf204 Die Untersuchung wurde nach der ersten Veröffentlichung 1971 fortgesetzt. So wurden die Daten der ersten Studie, die direkt nach der Geburt, im Alter von zwei Jahren und im Alter von zehn Jahren erhoben worden waren, ergänzt durch Untersuchungen der StudienteilnehmerInnen im Alter von 18, 32 und 40 Jahren. Werner: Risiko und Resilienz. S. 21. 205 Die Ergebnisse der ersten Untersuchung bestätigten sich auch in der längerfristigen Perspektive. Zwei Drittel der TeilnehmerInnen entwickelten ein auffälliges Lern- und Leistungsverhalten, waren physisch und/oder psychisch gesundheitlich beeinträchtigt oder entwickelten sich anderweitig unterdurchschnittlich (herangezogen wurden die Kategorien: schulische Leistungen, Intelligenz, Wahrnehmungsschwierigkeiten, sprachliche, emotionale und gesundheitliche Entwicklung, vgl. Werner u. a.: The Children of Kauai. S. 21ff.), während ein Drittel der TeilnehmerInnen sich trotz der Risikofaktoren positiver entwickelte als eine durchschnittliche Vergleichsgruppe im Blick auf Faktoren wie Gesundheit, Erwerbstätigkeit, Scheidungsrate, Gesetzestreue und Einschätzung der eigenen Zukunftsperspektiven. Vgl. Werner: Risiko und Resilienz. S. 21. 206 Werner: Risiko und Resilienz. S. 20. 207 Neben Emmy Werner sind vor allem ihre Kollegin Ruth Smith, der britische (Kinder-) Psychologe Sir Michael Rutter und die amerikanische Entwicklungspsychologin Ann S. Masten als Forschende im Bereich Resilienz zu nennen.
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gegriffen worden.208 Neben der Konjunktur in der wissenschaftlichen Forschung zeigt sich das Thema auch in einem breiten öffentlichen Diskurs mit bspw. zahlreichen Publikationen im Bereich Ratgeber-Literatur.209 Auch diese öffentlichkeitswirksame Verbreitung des Begriffs Resilienz macht das Feld zu einem relevanten Resonanzraum der hier vorliegenden Untersuchung. Auch die Theologie greift das Thema Resilienz seit einiger Zeit auf und fragt nach den Anknüpfungspunkten für die eigene Arbeit und einer theologischen Profilierung. Hervorzuheben ist dabei die interdisziplinäre Forschungsgruppe „Resilienz und Spiritualität“, die federführend durch die Systematische Theologin Cornelia Richter initiiert wurde. Für Richter hat der Resilienz-Begriff sowohl großes Potential als auch Gefahren. Dies hänge, so Richter, v. a. damit zusammen, dass Resilienz zu „einer Art ,Zauberwort‘ […], zu einem […] Schlüsselbegriff“210 geworden zu sein scheine, der Hoffnungen für Veränderungsprozesse in schwierigen Situationen wecke, der Ermöglichungen und Fördermaßnahmen im Kontext schwerer Krankheiten, Krisen, Ängste oder Notfallsituationen berge. Vor dem Hintergrund dieser Wünsche als „Sehnsuchtsbegriff“211 gebraucht, bestehe allerdings die Gefahr, das Konzept zu überlasten. Resilienz werde dann zu „der unbedingt wünschenswerten und therapeutisch zu befördernden Fähigkeit zur raschen Überwindung krisenhafter Erfahrungen“212. Daneben verweisen Richter und Blank in ihrem Artikel „,Resilienzʻ im Kontext von Kirche und Theologie“ auch auf eine ambivalent-kritische und 208 Vgl. Buchholz, Ulrike und Susanne Knorre: Interne Unternehmenskommunikation in resilienten Organisationen. Berlin, Heidelberg 2012; Fragile Stabilität – stabile Fragilität. Hrsg. v. Stephan A. Jansen, Eckhard Schröter und Nico Stehr. Wiesbaden 2013; Resilienz im Sozialen. Theoretische und empirische Analysen. Hrsg. v. Martin Endreß und Andrea Maurer. Wiesbaden 2015; Multidisziplinäre Perspektiven der Resilienzforschung. Hrsg. v. Rüdiger Wink. Wiesbaden 2016. u. v. a. 209 Vgl. z. B. Siegrist, Ulrich und Martin Luitjens: 30 Minuten Resilienz. Offenbach 2011; Heller, Jutta: Resilienz. 7 Schlüssel für mehr innere Stärke. München 2013; Berndt, Christina: Resilienz. Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft. Was uns stark macht gegen Stress, Depression und Burn-out. 4. Aufl. München 2015; Greitens, Eric: Navy Seal Resilienz. Werden Sie mental stark wie ein Elitesoldat und finden Sie den Weg aus jeder Krise. München 2016. u. v. a. 210 Richter, Cornelia und Jennifer Blank: ,Resilienzʻ im Kontext von Kirche und Theologie. Eine kurze Einführung in den Stand der Forschung. In: Praktische Theologie. Zeitschrift für Praxis in Kirche, Gesellschaft und Kultur. 2-2016. S. 69. (künftig zitiert als: Richter und Blank: ,Resilienzʻ im Kontext von Kirche und Theologie). 211 Richter und Blank: ,Resilienzʻ im Kontext von Kirche und Theologie. S. 69. 212 Ebd. S. 69.
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eine negative Konnotation des Begriffes, die bspw. im Kontext soziologischer oder politischer Fragestellungen virulent werde213. Hier sei es nötig, so die Autorinnen, einen komplexen Resilienzbegriff zu gewinnen. Solange Resilienz als ein unbedingt erstrebenswertes Ziel im Sinne eines Enhancement verstanden wird, könnte man verleitet sein, sie als eine eher statische Fähigkeit zu beschreiben, die man hat oder nicht, die man aber in jedem Fall gerne hätte, um für den Fall einer Krise gerüstet zu sein. Doch das wird der komplexen Dynamik des Resilienzphänomens nicht gerecht: Stattdessen ist in den Blick zu nehmen, dass sich resilientes Verhalten möglicherweise erst im Durchleben der Krise zeigt und Resilienz selbst daher von einer tiefen Ambivalenz geprägt ist, dass sie sozusagen ein Krisenphänomen par excellence ist.214
Mit einem solchen Verständnis der Gleichzeitigkeit und wechselseitigen Bezogenheit von Krise und Resilienz melden die Autorinnen einen Vorbehalt gegen einen einseitigen Gebrauch des Resilienzbegriffs an und finden in der Sorge-Thematik einen naheliegenden Anschluss an ein theologisches Kernthema: Resilienz kann durchaus verstanden werden als die Fähigkeit, Sorge, Ohnmacht, Angst und Verzweiflung auszuhalten, ihnen standhalten zu können, sich in Angst und Sorge von Angst und Sorge nicht überwältigen zu lassen.215
Fokussiert wird hier auf eine Ausrichtung, die nicht allein die „selbstaktivierenden Kräfte[…]“216 wie Selbstbehauptung, Autonomie oder Konfliktlösung in den Blick nimmt. Ein durch theologische Positionen profilierter Resilienzdiskus könne vielmehr deutlich machen, dass Resilienz „zwischen Gabe und Übung, bewusster 213 Als resilient können u. U. auch politische Unrechtsregime oder diktatorische Machthaber bezeichnet werden, die sich als besonders dauerhaft erweisen. Spätestens mit einer solchen Verwendung wird eine ausschließlich positive Haltung zu diesem Begriff nicht mehr zu vertreten sein. Vgl. Richter und Blank: ,Resilienzʻ im Kontext von Kirche und Theologie. S. 70. 214 Richter und Blank: ,Resilienzʻ im Kontext von Kirche und Theologie. S. 71. Hervorhebung im Original. 215 Ebd. S. 72. Hervorhebung im Original. 216 Richter, Cornelia: Einleitung: Ohnmacht und Angst aushalten. Zu Kritik und Ergänzung dominant aktiver Resilienzfaktoren. In: Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie. Stuttgart 2017. (= Religion und Gesundheit. Hrsg. v. Dietrich Korsch und Cornelia Richter. In Zusammenarbeit mit HansRainer Buchmüller u. a. Bd. 1). Stuttgart 2017. S. 20. (künftig zitiert als: Richter: Einleitung: Ohnmacht und Angst aushalten).
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Förderung und zuvorkommender Gnade schwankt“217 und sich hier ein „Resonanzund Entwicklungsraum für das allmähliche Austarieren von aktiven und passiven Faktoren“218 auftue. 3.2.1.2.4 Zwischenfazit: Stress-Coping-Modelle
Die unter dem Begriff Stress-Coping-Modelle zusammengefassten und hier exemplarisch rekapitulierten Ansätze von Coping, Salutogenese und Resilienz reagieren von soziologischen und psychologischen Perspektiven aus auf die als unzureichend empfundenen Denkwege der modernen Medizin. Dabei geraten die Folgen des funktionalistischen Körper- und Menschenbildes in Verbindung mit der zunehmenden Technisierung, Beschleunigung und als zu einseitig empfundenen Spezialisierung in die Kritik. Die vorgestellten Modelle intendieren die Überwindung eines rein physiologischen Körper- und Gesundheitsverständnisses. Sie sehen nicht ausschließlich organische Faktoren, sondern eine Vielzahl von sozialen, persönlichen, spirituellen u. a. Einflüssen als verantwortlich für das Befinden einer Person an. In dieser Perspektive ist nicht Gesundheit ‚normal‘ im Sinne von selbstverständlich, sondern ein unwahrscheinliches Phänomen in Anbetracht widriger Umstände und Belastungen, mit denen Menschen umzugehen lernen müssen. Dieser Perspektivwechsel ist das grundlegend Neue am Salutogenese-Modell. Mit Antonovsky kann von einem Kontinuum gesprochen werden, wobei Gesundheit und Krankheit nie in Reinform vorkommen, sondern als heuristische Grenzen die Extrempunkten des Kontinuums aufspannen. Dabei hatte Antonovsky ein analytisches Konzept und einen Fragebogen zur Datenerhebung entworfen, kein gesundheitsförderndes Programm. Die Bestimmung des Menschen als krank oder gesund ließe sich insofern als Deutung auf dieser Skala denken – jede Person ist dann zu unterschiedlichen Zeiten stärker auf der einen oder anderen Seite positioniert. Durch eine ressourcenorientierte Perspektive lässt sich diese Position beeinflussen; der Mensch wird in den Stress-Coping-Modellen als kompetent in eigener Sache gedacht. Der Blick auf einzelne theologische Modelle hat gezeigt, dass hier begonnen wird, die auf medizinischer, psychologischer bzw. soziologischer Seite entwickelten Ansätze auf ihren Ertrag für Theologie und Religionspraxis zu befragen. Ein Gewinn dieser Rezeption ist eine klar ressourcenorientierte Haltung, die in der Praktischen Theologie, v. a. in der Poimenik, zur Stärkung Einzelner und zum Aufbau förderlicher Strukturen beitragen kann. Die Auseinandersetzung mit der als fehlend herausgearbeiteten Leiblichkeitsperspektive bleibt dabei jedoch eben217 Richter: Einleitung: Ohnmacht und Angst aushalten. S. 7. 218 Richter: Einleitung: Ohnmacht und Angst aushalten. S. 20.
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so außen vor wie die gedankliche Möglichkeit, Religion und Medizin nicht allein als vollständig getrennte Systeme zu sehen, die nur geringfügige Berührungs- und Einflusspunkte haben, sondern einen fluiden Übergangsbereich zu fokussieren, in dem medizinisch-körperliche und transzendente Aspekte ineinanderspielen. 3.2.1.3 Spiritual Care – Spiritualität als Ressource im Krankheitsfall
Ebenfalls von medizinischer Seite ausgehend stellt das Spiritual Care-Modell ein relevantes Diskursfeld dar. Seit den 2000er Jahren gewinnt es zwischen Medizin und Religion an Bedeutung sowohl in der Praxis als auch in der wissenschaftlichtheoretischen Reflexion219. Die Initiatoren eines Spiritual Care-Modells gehen davon aus, dass Menschen im Falle einer existentiell bedrohlichen Krankheit nicht nur einer medizinischen, pflegerischen und ggf. palliativen Versorgung bedürfen, sondern auch mit ihren spirituellen Anliegen gehört werden sollen. Ursprünglich in der Palliativmedizin entstanden, löste sich die Frage nach Spiritualität im Krankheitsfall vom unmittelbar bevorstehenden Sterben und es wird zunehmend eine Ausweitung auf den gesamten Kontext ärztlicher Versorgung und die Integration in den Krankenhausablauf angestrebt.220 Die Herangehensweise ist auch hier ressourcenorientiert: Spiritualität wird als wichtiger Resilienz- und Copingfaktor gesehen und es wird darauf verwiesen, dass eine Vernachlässigung der spirituellen Bedürfnisse von PatientInnen zu einer Verschlechterung ihres Zustandes führe.221 219 Durch einen interdisziplinären Arbeitskreis aus ÄrztInnen, KlinikseelsorgerInnen, PsychologInnen sowie universitären TheologInnen und EthikerInnen an der LMU München maßgeblich vorangetrieben, wurde 2010 die erste Professur für Spiritual Care in Deutschland ins Leben gerufen und ökumenisch mit einem katholischen Theologen und Psychiater und einem evangelischen Theologen besetzt. Derzeit (Stand: Januar 2021) wird die Stiftungsprofessur durch die Erzdiozöse MünchenFreising finanziert und ist mit Prof. Dr. Constatin Klein besetzt. 220 „Es wäre aber ein Missverständnis, spirituelle Bedürfnisse im Sinne eines ‚letzten Strohhalms‘ ausschließlich im Bereich der Palliativmedizin zu verorten, da diese Bedürfnisse […] auch schon nach einer Diagnosestellung […] von Bedeutung sein können.“ Büssing, Arndt und Eckhard Frick: Psychosoziale und spirituelle Bedürfnisse chronisch Kranker. In: Dem Gutes tun, der leidet. S. 4. 221 Vgl. Kohli Reichenbach, Claudia: Spiritualität im Care-Bereich. Begriffsklärungen zu Palliative Care, Spiritual Care und Spiritualität. In: Palliative und Spiritual Care. Aktuelle Perspektiven in Medizin und Theologie. Hrsg. v. Isabelle Noth und Claudia Kohli Reichenbach. Zürich 2014. S. 16. (künftig zitiert als: Kohli Reichenbach: Spiritualität im Care-Bereich). Vgl. dazu auch die Hinweise auf die Praxis in den
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Ziel des Konzepts ist eine stärkere Integration von Spiritualität in den medizinischen Prozess und eine Sensibilisierung des medizinischen Personals im ambulanten sowie stationären Bereich für spirituelle Anliegen und Fragen von PatientInnen. Diese sollen jederzeit zur Sprache kommen können – nicht nur dann, wenn eine Pfarrperson bzw. der oder die KrankenhausseelsorgerIn zugegen ist. Möglicherweise sei der Arzt erster Ansprechpartner für spirituelle Fragen, die ggf. indirekt in medizinischen Fragen (etwa nach Prognose und Lebenserwartung) gestellt würden. „Der [Arzt] freilich muss geschult sein, die dahinter liegende Dimension des Fragens und Redens wahrzunehmen.“222 Dass spirituelle und religiöse Anliegen bereits ihren Ort in Kliniken haben, ist durch die Institution der Krankenhausseelsorge gegeben. Wie sich dieser Ort genau bestimmt, wird auch in Auseinandersetzung mit dem Spiritual Care-Modell (wieder) ausgehandelt. Befürworter des Modells sehen spirituelle Begleitung als „vierte Säule einer somatisch, psychisch und sozial ausgerichteten ganzheitlichen Therapie“, die zu einer „Dienstleistung“, einem „Qualitätsmerkmal[…] von Einrichtungen des Gesundheitswesens“ werden solle.223 Dem steht ein kritischer Verweis auf die Seelsorge „als Gegenüber des Krankenhauses“224 entgegen, deren Alleinstellungsmerkmal und spezifisch religiöse Perspektive gerade darin bestehe, sich einer vom Gesundheitssystem differenten Leitcodierung zu bedienen.225 Befürworter wie Skeptiker des Konzepts heben dabei gerade die Differenzierung von Religion und Medizin hervor, die sich sowohl als enorm leistungsfähig erwiesen habe als auch vor paternalistischen oder ganzheitlich-totalitären Vereinnahmungen bewahre.226 USA, wo eine „spirituelle Anamnese“ bei der Aufnahme ins Krankenhaus Standard sei. Schneidereith-Mauth: Ressourcenorientierte Seelsorge S. 54. 222 Riedner, Carola: Spiritualität in der Psychoonkologie. In: Spiritualität und Medizin. Gemeinsame Sorge für den kranken Menschen. Hrsg. v. Eckhard Frick und Traugott Roser. 2., aktual. Aufl. Stuttgart 2011. S. 137. (Sammelband künftig zitiert als: Spiritualität und Medizin). 223 Vgl. Roser, Traugott: Spiritual Care. Ethische, organisationale und spirituelle Aspekte der Krankenhausseelsorge. Ein praktisch-theologischer Zugang. Stuttgart 2007. Zitate S. 266. (künftig zitiert als: Roser: Spiritual Care). 224 Karle Isolde: Perspektiven der Krankenhausseelsorge. Eine Auseinandersetzung mit dem Konzept des Spiritual Care. In: Wege zum Menschen. 62. Jg. 2010. S. 544. Hervorhebung P. S. (künftig zitiert als: Karle: Perspektiven der Krankenhausseelsorge). 225 Vgl. Karle: Perspektiven der Krankenhausseelsorge. S. 550. 226 Vgl. Frick, Eckhard: Spiritual Care in der Psychosomatischen Anthropologie. In: Spiritualität und Medizin. S. 109 sowie Karle: Perspektiven der Krankenhausseelsorge. S. 538; 551.
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Diskutiert wird dabei auch der Spiritualitätsbegriff, der dem Konzept zugrunde liegt und für den keine einheitliche Definition vorliegt.227 Für Traugott Roser, seinerzeit einer der Lehrstuhlinhaber der Professur für Spritual Care in München, bedeutet die Verwendung des Begriffs Spiritualität, dass es „[…] um eine universal für alle Menschen gültige anthropologische Kategorie jenseits konfessioneller und geprägt-religiöser Bestimmung [geht], deren Pointe jedoch in der persönlichen Erfahrung, in der persönlichkeitsspezifischen Ausprägung liegt.“228
Dass nicht mit einem einheitlich definierten Begriff gearbeitet wird, sieht Roser positiv: „Der Begriff ist über konfessionelle Grenzen hinweg für religiöse und nicht-religiöse Weltanschauungen anschlussfähig.“229 Die „Chance der Unschärfe“230 dient so als Möglichkeit, vielfältige Formen spiritueller Bedürfnisse und Transzendenzbezüge in existentiell bedrohlichen Lebenssituationen fruchtbar zu machen. Dieser Offenheit stehen jedoch der Wunsch nach einer klaren Abgrenzung des Begriffs231 und die Befürchtung mangelnder Spezifik gegenüber.232
227 Vgl. Kohli Reichenbach: Spiritualität im Care-Bereich. S. 15 und Spiritualität und Medizin. S. 9. Dass die Herkunft der Begriffe und die institutionelle Bindung des Konzepts christlich-ökumenisch (im Sinne evangelisch-katholischer Zusammenarbeit auf universitärer und (landes)kirchlicher Ebene) ist, wird in den Wortmeldungen zur inhaltlichen Ausdifferenzierung deutlich. 228 Roser: Spiritual Care. S. 270. 229 Roser: Spiritual Care. S. 249. Als Vorteil wird auch die Anschlussfähigkeit für nichtchristliche Spiritualitätspraktiken gesehen. So wird etwa die Tragfähigkeit des Konzepts explizit auch für andere Religionen erfragt. Vgl. das Thema der Jahrestagung der Internationalen Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität 2016: „Spiritual Care und Islam“ sowie Teil D des Sammelbandes: Interkulturelle und interreligiöse Perspektiven. In: Spiritualität und Medizin. S. 167-224. 230 Roser, Traugott: Spiritualität und Gesundheit. Überlegungen zur Bedeutung eines unbestimmbaren Begriffs im interdisziplinären Diskurs. In: Spiritualität im Diskurs. Spiritualitätsforschung in theologischer Perspektive. Hrsg. v. Ralph Kunz und Claudia Kohli Reichenbach. Zürich 2012. S. 227. 231 Vgl. Teil A: Spiritualität: Zur Theorie eines vieldeutigen Begriffs. In: Spiritualität und Medizin. S. 11-56; Versuch der Abgrenzung des Spiritualitätsbegriffs. Körtner, Ulrich H. J.: Spiritualität, Religion und Kultur – eine begriffliche Annäherung. In: Spiritualität, Religion und Kultur am Krankenbett. Hrsg. v. Ulrich H. J. Körtner u. a. Wien, New York 2009. S. 1-17. 232 Karle: Perspektiven der Krankenhausseelsorge. S. 552ff.
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Die Kritik beschäftigt sich von theologischer Seite aus vor allem mit der Verhältnisbestimmung zur Krankenhausseelsorge und hebt medizinischerseits besonders die Errungenschaften einer fachlichen Differenzierung hervor. Als zu würdigende Leistung des Modells wird jedoch betont, dass die Trennung von medizinisch-physischen und ‚anderen‘ Bedürfnissen in Frage gestellt wird. So werde die Möglichkeit geschaffen, auch soziale, persönliche oder eben spirituelle Aspekte im Krankheitsfall stärker in den Blick zu nehmen. 3.2.1.3.1 Zwischenfazit: Spiritual Care
Im Blick auf die Frage nach den Defiziten einer rein physiologisch-funktionalistischen Medizin stellt das Spiritual Care-Konzept gerade die als fehlend markierten Aspekte ins Zentrum des Interesses. Neu an diesem Modell ist, dass besonders spirituelle Bedürfnisse einen angemessenen Ort im Kontext der medizinischen Versorgung erhalten sollen. Dabei gehen die Vertreter dieses Modells davon aus, dass Spiritualität auch dort relevant ist, wo sie nicht explizit wird, sondern ggf. indirekt erschlossen werden muss. Insofern ist die Aufmerksamkeit für Spiritualität allen im Krankenhaus Arbeitenden aufgegeben. Auch die religiöse Offenheit des Ansatzes, wie sie konzeptionell vertreten wird, spielt dabei eine wichtige Rolle, auch wenn zugleich die Frage nach der inhaltlichen Abgrenzung (etwa des Spiritualitätsbegriffs) zu stellen ist. Deutlich geworden ist auch, dass das Modell v. a. den medizinischen Prozess sowie das medizinische Personal im Blick hat, wenn es eine Weitung des Zuständigkeitsbereichs über rein physiologische Behandlungen hinaus anregt. Eine umgekehrt dazu erwünschte Perspektiverweiterung durch religiöse ExpertInnen in medizinische Abläufe hinein ist dagegen nicht im Fokus. Im Blick auf die institutionelle Verfasstheit der sich hier begegnenden Systeme ist zunächst einmal von einer klaren Trennung auszugehen (deren Vorteile in der Diskussion hervorgehoben wurden), die auch in diesem Modell beibehalten wird.233 Die systemübergreifende Perspektive der hier vorliegenden Untersuchung greift somit nicht; zugleich ist die Idee, durch die Infragestellung der klar abgegrenzten Zuständigkeiten im
233 Im Blick auf eine Institutionalisierung von Spiritual Care ist auf einige Entwicklungen der letzten Jahre zu verweisen. Es gibt einige Publikationen v. a. seit den 2000er Jahren (siehe dazu in den Literaturangaben), 2011 wurde der Verein „Internationale Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität“ (IGGS) gegründet, der auch die Zeitschrift „Spiritual Care“ herausgibt, von der Professur in München wurde bereits gesprochen, eine weitere gibt es in Zürich seit 2015, derzeit (Stand: Januar 2021) besetzt mit Prof. Dr. Simon Peng-Keller.
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Interesse der PatientInnen eine Öffnung zu schaffen und die verengende Trennung zu überwinden, hervorzuheben. 3.2.1.4 N aturheilkunde und Alternativmedizin – Alternativen im System aturheilkunde, Alternativmedizin und Integrative Medizin 3.2.1.4.1 N im institutionellen Kontext
Neben den Konzepten, die sich kritisch zur akademischen Medizin positionieren und Vorschläge zur komplementären Erweiterung einer als verengt empfundenen funktionalistischen Grundhaltung in der Medizin machen, ist auf solche Konzepte zu verweisen, die mit einer engen Anbindung an den universitären Kontext und innerhalb institutionell gefestigter Strukturen Änderungen anregen. Hier ist auf Lehrstühle für Naturheilkunde an Universitätskliniken zu verweisen sowie auf die Idee der Integrativen Medizin einzugehen. Unter Naturheilkunde wird die „Behandlung u[nd] Vorbeugung von Krankheiten unter Einsatz von Naturheilmitteln u[nd] Naturheilverfahren“234 verstanden, wobei möglichst wenig veränderte „Substanzen, Stoffgruppen, Gegenstände, Kräfte u[nd] Prozesse“235 der Natur eingesetzt und sich deren Wirkmechanismen und Einflüsse auf den Organismus zu nutze gemacht werden, etwa die Effekte von Wärme und Kälte im Körper, von Wasser, Ernährung oder Pflanzen(extrakten). Eine genaue Abgrenzung der Naturheilkunde sowohl gegenüber alternativer Heilkunde als auch gegenüber der Biomedizin ist allerdings auch mit dieser Definition schwierig: Auch viele der in der Biomedizin eingesetzten Medikamente gehen auf ursprünglich pflanzliche bzw. natürliche Wirkstoffe zurück236 und durch die in der Praxis häufig kombinierte Anwendung von Naturheilverfahren und anderen alternativen Heilmethoden sind die Übergänge fließend237.
234 Artikel: Naturheilkunde. Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 266., aktual. Aufl. 2014. S. 1452. (künftig zitiert als: Pschyrembel). 235 Artikel: Naturheilmittel. Pschyrembel. S. 1452. 236 Vgl. z. B. die Entdeckung und Gewinnung von antibakteriellem Penicillin aus einer in einem natürlichen Prozess verschimmelten Nährlösung. 237 Vgl. z. B. die Kombination von klassischen Naturheilverfahren mit Homöopathie, Akupunktur und anderen traditionellen Heilverfahren an der Charité Universitätsmedizin Berlin oder am Comprehensive Cancer Center der LMU München sowie im Kontext der Bezeichnung universitärer Lehrstühle z. B. an der Universität DuisburgEssen den „Lehrstuhl für Naturheilkunde und Integrative Medizin“.
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Relevant ist der Bereich Naturheilkunde im Kontext universitärer und klinischer Anwendung insofern, als hier eine (Re-)Integration einer alternativmedizinischen Methode in die wissenschaftliche Forschung und in die akademisch geprägte klinische Praxis stattfindet. Während die moderne Naturheilkunde238 in ihren Anfängen Mitte des 19. Jh. deutlich in Abgrenzung zur Biomedizin stand239, wurden seit den 2000er Jahren an verschiedenen Kliniken und Universitäten Abteilungen und Lehrstühle für Naturheilkunde gegründet, die eine Einbindung naturheilkundlicher (und anderer komplementärmedizinischer240) Ansätze und Methoden in die und als wissenschaftlich-evidenzbasierte Medizin vorantreiben sollten.241 Häufig wurde die Finanzierung dieser Einrichtungen von Stiftungen übernommen.242 238 Die Verwendung der Bezeichnung „die Naturheilkunde“ ist aus den o. g. Gründen und auch historisch uneindeutig. Naturheilkunde ist ein Sammelbegriff. Der Name entstand Mitte des 19. Jh. „als Umbenennung der radikal vertretenen Hydropathie bzw. Kaltwasserheilkunde“ und bezeichnete eben v. a. die Heilanwendungen von Wasser. Erst nach und nach wurden weitere Elemente wie Ernährungskunde, Heilpflanzen, Licht und Ordnungstherapie ebenfalls dieser Bezeichnung zugeordnet. Uehleke, Berhard und Annette Kerckhoff: Geschichte der Komplementärmedizin und Naturheilverfahren. In: Checkliste Komplementärmedizin. S. 24-37. Zitat S. 26. 239 Dabei ist natürlich historisch gesehen die Reihenfolge der Entstehung anders herum. Während sich die Biomedizin moderner Prägung maßgeblich im 19. Jh. entwickelte (vgl. Kapitel 3.1.2.1), sind Verfahren, die heute unter dem Begriff Naturheilkunde gefasst werden, erheblich älter. So hat etwa die Hydrotherapie ihre Wurzeln in der Antike und die Anwendung von Heilpflanzen ist vermutlich so alt wie die Menschheit. In ihrer modernen Ausprägung, methodischen Erweiterung und Neuentwicklung im 19. Jh. sind jedoch deutliche Abgrenzungsbemühungen zur Biomedizin nachzuweisen. Vgl. z. B. die Auseinandersetzungen um die Begriffe „Heilpfuscher“ (und den damit einhergehenden Kompetenzkampf) oder „Schulmedizin“ in den 1870er Jahren. Uehleke, Berhard und Annette Kerckhoff: Geschichte der Komplementärmedizin und Naturheilverfahren. In: Checkliste Komplementärmedizin. S. 25f. 240 s. o. FN 237. 241 Zu den Einrichtungen mit Forschungsbereichen zu Naturheilkunde, Integrativer Medizin oder Komplementärmedizin zählen u. a. Charité Berlin, Immanuel-Krankenhaus Berlin (Lehrkrankenhaus der Charité), Universität Duisburg-Essen, Institut zur wissenschaftlichen Evaluation naturheilkundlicher Verfahren an der Universität Köln, Klinikum rechts der Isar (TU München), Universität Rostock, Universität Witten/ Herdecke u. a. 242 Vgl. z. B. in Rostock (seit 2002; Stifterkreis verschiedener (v. a. regionaler) Kliniken, Vereine und pharmazeutischer Unternehmen), Duisburg-Essen (seit 2004; Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Berlin (erste Prof. 1989, Stiftungsprof. seit
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Auch der Lehrstuhl für Naturheilkunde in Rostock, der an der Universitätsmedizin angesiedelt ist, ist bestrebt, alternative Ansätze mit den Validierungsverfahren der (natur-)wissenschaftlichen Medizin als wirksam zu erweisen und für deren komplementäre Aufnahme in den medizinischen Prozess einzutreten.243 Im Blick auf die anthropologischen Grundlagen versteht sich das Institut als integratives Gegenüber zu einer Körpermedizin: „Die Naturheilkunde integriert Körper, Geist, Seele und Umfeld in ihre diagnostischen und therapeutischen Methoden. Jeder Patient wird in seiner Einzigartigkeit wahrgenommen und behandelt.“244 Das Schlagwort Integrative Medizin hat ebenfalls seit dem Jahr 2000 an Popularität gewonnen. Dabei wird an ein ursprünglich aus dem US-amerikanischen Kontext stammendes Konzept angeknüpft. Integrative Medicine steht für Krankenhausabteilungen, in denen komplementärmedizinische Methoden, die sich sowohl in der Praxis bewährt haben als auch in der wissenschaftlichen Theorie validiert wurden, ins Behandlungsspektrum aufgenommen wurden. Die nachgewiesene Wirksamkeit und Sicherheit der angewandten (und in den biomedizinischen Kontext integrierten) Methoden nach wissenschaftlichen Standards ist somit konstitutiv für diese Bezeichnung.245 Der Ansatz versteht sich explizit nicht 2009; Carl und Veronika Carstens-Stiftung) und München (seit 2010; Erich Rothenfußer Stiftung). 243 Vgl. das Selbstverständnis des Lehrstuhls: „Weltweit werden Anstrengungen unternommen, ihre [der Naturheilverfahren, Anm. P. S.] Wirksamkeit bei den verschiedenen Krankheiten nach modernen wissenschaftlichen Standards zu belegen. Für einzelne Teilgebiete und Behandlungsverfahren ist dies dank der staatlichen Unterstützung durch Länder wie USA, Norwegen oder Kanada bereits gelungen. In unserer Ambulanz verwenden wir nur Verfahren, deren Wirksamkeit wissenschaftlich belegt oder plausibel ist. Sie können mit den medizinischen Standardverfahren in der Regel sehr gut kombiniert werden.“ https://naturheilkunde.med.uni-rostock.de/menus/schnellzugriff/naturheilverfahren/ Aufgerufen am 8. Mai 2017. 244 https://naturheilkunde.med.uni-rostock.de/menus/schnellzugriff/naturheilverfahren/ Aufgerufen am 8. Mai 2017. 245 Vgl. die Begriffsbestimmung des an die Universität Wien angegliederten Dokumentationszentrums für traditionelle und komplementäre Heilmethoden der österreichischen Kultur- und Sozialanthropologin Michaela Noseck-Licul: http://www.cam-tm. com/de/integrative-medizin.htm. Aufgerufen am 7. Dezember 2016. Seite im Original nicht mehr verfügbar. Abzurufen in der Wayback Machine des Internet Archive unter https://web.archive.org/web/20161027040055/http://www.cam-tm.com/de/integrative-medizin.htm. Aufgerufen am 20. Juli 2019. Einen guten Überblick über den USamerikanischen Ursprungskontext bietet das „Academic Consortium for Integrative Medicine and Health“. Hier werden viele der Kliniken und Forschungsabteilungen
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als Gegenmodell zur konventionellen Medizin, sondern als Ergänzung und Anregung zur Erweiterung.246 In diesem Sinne versteht sich auch das Selbstverständnis hiesiger Kliniken mit naturheilkundlichen Lehrstühlen, etwa der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin an den Kliniken Essen-Mitte.247 Da es sich bei der Bezeichnung um einen Sammelbegriff für die Einbindung verschiedener Methoden in die wissenschaftliche Medizin handelt, hängen die konkreten Methoden und Verfahren von den jeweils praktizierenden Anwendern und Kliniken ab. Eine Ausrichtung der Integrativen Medizin, die sogenannte Mind-Body Medicine, setzt sich zum Ziel, konventionellen Medizin um traditionelle Naturheilverfahren zu erweitern sowie dabei einen „ganzheitliche[n] Ansatz“248 zu verfolgen, der eine Verbindung körperlicher, geistiger, seelischer, sozialer und spiritueller Faktoren zur Herstellung, Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit involviert. Mind-body medicine focuses on the interactions among the brain, mind, body, and behavior, and the powerful ways in which emotional, mental, social, spiritual, an behavioral factors can directly affect health.249
Eine in diesem Sinne verstandene Integrative Medizin nimmt in ihrer anthropologischen Grundannahme Anleihen an verschiedenen der hier vorgestellten Ansätze. Wie in der Psychosomatik werden geistig-seelische Faktoren integriert, ebenso wird auf soziale Faktoren Bezug genommen, wie sie in den Stress-Coping-Modellen eine Rolle spielen und auch spirituelle Aspekte sollen in den Blick kommen,
von Universitäten für Integrative Medicine gelistet. Das Gremium versteht es als seine Aufgabe, Integrative Medizin in akademischen Institutionen und in der Praxis des Gesundheitssystems zu verbreiten. Vgl.: https://imconsortium.org/. Aufgerufen am 2. Juli 2019. 246 Vgl. Dobos, Gustav u. a.: Mind-Body Medicine als Bestandteil der Integrativen Medizin. In: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz. 49. Jg. Berlin, Heidelberg 2006. S. 722 (künftig zitiert als: Dobos: Mind-Body Medicine). Vgl. auch die Beschreibung des Instituts für Integrative Medizin (IFIM) der Universität Witten/Herdecke: http://www.uni-wh.de/gesundheit/institut-integrative-medizinifim/. Aufgerufen am 2. November 2016. 247 Vgl.
http://kliniken-essen-mitte.de/leistung/fachabteilungen/naturheilkunde-u-inte-
grative-medizin/home.html. Aufgerufen am 2. November 2016. 248 Dobos: Mind-Body Medicine. S. 723. 249 Zitat der Definition des National Institutes of Health, Washington D. C., zitiert nach: Dobos: Mind-Body Medicine. S. 723.
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wie es auch im Spiritual Care-Ansatz von Bedeutung ist. Ein solch umfassend gedachter Ansatz zeigt sich als Beispiel einer Entdifferenzierungsbewegung.250 3.2.1.4.2 H arald Walach und das Institut für transkulturelle Gesundheitswissenschaften
In diesem Abschnitt soll auch ein Blick auf die Arbeit von Prof. Harald Walach und das von ihm an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder 2007 gegründete „Institut für transkulturelle Gesundheitswissenschaften“251 geworfen werden. Das Institut wurde bis 2016 von Walach geleitet und dann nach einem kurzen Wechsel der Leitung geschlossen. Wie bei den im vorhergehenden Abschnitt vorgestellten Einrichtungen und Lehrstühlen ist auch für dieses Institut
250 Vgl. Die Entwicklung im Bereich Integrativer Medizin verläuft derzeit schwerpunktmäßig in Richtung Prävention, Verhaltensänderung sowie Aus- und Weiterbildung für medizinisches Personal https://www.uni-due.de/naturheilkunde/37-0-Fortbildung. html. Aufgerufen am 7. Dezember 2016. Dabei bliebt aber die Entwicklung der Forschung und Anwendung dieses noch recht jungen Ansatzes abzuwarten. Insgesamt scheint durch die Aufnahme diverser Ansätze und die Ablehnung eines konfrontativen Vorgehens zwischen akademischer und alternativer Medizin hier ein interessanter Diskurs zu entstehen. 251 Das Institut war von Anfang an nicht unumstritten. Kritik handelte sich das Institut u. a. durch die enge Kooperation mit alternativmedizinischen Vereinen und Praxen sowie durch die Drittmittelfinanzierung u. a. durch die Firma Heel, einer der größten Pharmafirmen im Bereich Naturheilkunde und Homöopathie, ein. Im Rahmen der Evaluierung durch die Hochschulstrukturkommission des Landes Brandenburg wurde darauf hingewiesen, dass Vorhaben und Anspruch des Instituts zwar in eine wichtige Forschungslücke vorstießen, in der Umsetzung jedoch eine „qualitative Problematik“ auftrete. Vor allem die mangelhafte Kooperation mit akademischer Medizin sowohl in der Lehre als auch auf Ebene der Forschung wurde angemahnt. Durch die Kommission wurde 2012 die Schließung bzw. Ausgliederung des Instituts empfohlen. Vgl. Abschlussbericht der Hochschulstrukturkommission des Landes Brandenburg. 2. Aufl. 2012. S. 197ff. Verfügbar unter: http://www.mwfk.brandenburg.de/media_fast/4055/ Bericht_Endfassung.pdf. Aufgerufen am 30. November 2016. Der Empfehlung wurde von Seiten der Hochschule vorerst nicht nachgekommen. Nachdem auf der Homepage des Instituts 2016 über einen „Neuanfang an einer anderen Hochschule und auch unter einem neuen Namen“ berichtet wurde, finden sich aktuell (Stand Juli 2019) keine Verweise mehr auf das Institut von Seiten der Hochschule.
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das universitäre Setting hervorzuheben. Zugleich nimmt Walach im akademischen Raum eine klare Außenseiterposition ein.252 Laut Selbstverständnis widmete sich das kulturwissenschaftliche Institut in Forschung und Lehre gesundheitswissenschaftlichen Fragestellungen vor dem Hintergrund zunehmender Internationalisierung der Medizin. Es versteht sich als Bindeglied zwischen Medizin, Kultur, Recht und Wirtschaft. Transkulturell orientierte Gesundheitswissenschaften beschäftigen sich in der Forschung mit unterschiedlichen kulturell geprägten Begriffen wie Gesundheit, Krankheit, Heilung und dem diesen Konzepten zugrunde liegenden Menschenbild.253
Die kulturelle Prägung und Deutungsbedürftigkeit von Begriffen wie Krankheit oder Heilung sollte hier erforscht werden, die Komplexität und Konstruktivität dieser würde nicht nur anerkannt, sondern explizit zum Thema gemacht. Dazu würden, so die Selbstbeschreibung, auch die anthropologischen Grundlagen dieser Prägungen in den Blick genommen. Der Zugang zum Diskursfeld führt dabei über die Frage nach einem angemessenen Verständnis von Heilung sowie die Annahme, das derzeit dominierende Menschenbild der Medizin greife für die Herausforderungen von Krankheit und Gesundheit zu kurz.254 Über die Themen des Instituts hinaus ist für den klinischen Psychologen, Philosophen und Wissenschaftstheoretiker Walach ein wissenschaftstheoretischer Schwerpunkt von Bedeutung. Vor diesem Hintergrund nimmt er für sich in Anspruch, die Bewertung von Messergebnissen und medizinischen Prozessen anders beurteilen zu können und plädiert v. a. für einer Erweiterung biomedizinischen Denkens um komplementäre Themen wie Placebo- und Homöopathie-Forschung, Religiosität und Spiritualität. So kommt er bspw. zu einer positiven Bewertung von Placebo, welches über wirkstofffreie Substanzen „therapeutische Effekte mit
252 Derzeit arbeitet Walach als Professor an der Medizinischen Universität Poznan, Polen und als Leiter seines „Change Health Science Institut“. Vgl. https://harald-walach.de/ person/. Aufgerufen am 11. Juli 2019. 253 https://www.europa-uni.de/de/forschung/institut/institut_intrag/Selbstverstaendnis. html. Hervorhebung im Original. Aufgerufen am 30. Dezember 2016. Im Original nicht mehr verfügbar, Abzurufen in der Wayback Machine des Internet Archive unter https://web.archive.org/web/20161229103600/https://www.europa-uni.de/de/forschung/institut/institut_intrag/Selbstverstaendnis.html. Aufgerufen am 20. Juli 2019. 254 Vgl. http://harald-walach.de/person/. Aufgerufen am 4. November 2016. Walach, Harald: Selbstheilung – die Medizin denkt um. In: momentum. Gesund leben bei Krebs. 1/2016. S. 7-8.
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weniger Nebenwirkungen […] als die konventionelle Medizin“255 erzeuge und daher als „Selbstheileffekt“256 positiv in den Blick genommen und genutzt werden sollte. Auch im Bereich Homöopathie spricht sich Walach für eine Öffnung der Medizin aus und argumentiert gegen eine seines Erachtens mangelhafte Neutralität der Bewertung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Beweise.257 255 Walach, Harald: Selbstheilung – die Medizin denkt um. In: momentum. Gesund leben bei Krebs. 1/2016. S. 9. 256 Ebd. S. 9. 257 Vgl. Walach, Harald und Klaus Fischer: Scientabilität – ein brauchbares Konzept? Erschienen als Leserbrief in: Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen. Verfügbar unter: http://harald-walach.de/media/Walach-Leserbrief_Christian-Weymayr_ZEFQ_2013-lang.pdf. Aufgerufen am 4. November 2016; Ders.: Mehr Daten? Mehr denken? Umdenken! In: Forschende Komplementärmedizin. Wissenschaft, Praxis, Perspektiven. 23/2016. S. 3-5; Ders.: Verfahren der Komplementärmedizin. Beispiel: Heilung durch Gebet und geistiges Heilen. Ein Beitrag zur Diskussion. In: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz. 49.Jg. Berlin, Heidelberg 2006. S. 788-795. Nicht zu unterschätzen sind im Kontext des Themas Homöopathie die Grabenkämpfe zwischen Befürwortern und Gegnern, besonders auch in der Frage eines wissenschaftlich fundierten Wirksamkeitsnachweises. Sowohl in seinen Publikationen als auch – in besonderem Maße – in seinem Internetblog kommt Walach nicht ohne sarkastische Formulierungen aus, die ihn als direkt in diese Auseinandersetzungen involviert zeigen. Vgl. http://harald-walach.de/2016/11/14/krebs-die-modernen-mythen-von-der-macht-unserer-medizin/. Aufgerufen am 29. November 2016. Auf Seiten der Kritiker tritt besonders prominent Edzard Ernst hervor, ein britischer Mediziner deutscher Herkunft, der von 1993 bis zu seiner Emeritierung 2011 einen Lehrstuhl für Alternativmedizin an der Universität Exeter inne hatte. Sein Anliegen ist dabei die wissenschaftlich-evidenzbasierte Erforschung alternativmedizinischer Therapien und Ansätze. Er erstellt klinische Studien und v. a. Übersichtsarbeiten zum Thema. Dabei erweist er sich als strikter Gegner der Homöopathie und scheut keine Auseinandersetzung. Vgl. Singh and Ernst: Trick or treatment; Ernst, Edzard: Homeopathy – The Undiluted Facts. Including a Comprehensive A-Z Lexicon. Cham 2016; vgl. auch: http://edzardernst.com/about/, aufgerufen am 15. Mai 2017; zu einer der Auseinandersetzungen z. B.: http://www. zeit.de/zeit-wissen/2012/01/Portrait-Ezard-Ernst, aufgerufen am 18. Mai 2017. Ebenfalls diskutiert wurde die Kritik von Natalie Grams, selbst vormals Homöopathin und nun strikte Kritikerin der Methode. Vgl. Grams, Natalie: Homöopathie neu gedacht. Was Patienten wirklich hilft. Heidelberg 2015. Vgl. auch http://www.sueddeutsche. de/gesundheit/homoeopathie-die-globulisierungsgegnerin-1.3335446?reduced=true. Aufgerufen am 18. Januar 2017. Auch in Universitätskliniken und im Rahmen der
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Zusätzlich dazu ist die Rolle von Spiritualität im Kontext von Gesundheit und Krankheit für Walach zentral. Zwar verwehrt er sich gegen die Aussage, eine spirituelle oder religiöse Praxis trage zu einer Besserung der Gesundheit bei (oder lasse sich gar gezielt für diese einsetzen), umgekehrt formuliert er aber, „dass spirituelles Nichtpraktizieren […] als ein gesundheitlicher Risikofaktor betrachtet werden sollte“258. Spiritualität sei „ein Bezogensein auf eine über das unmittelbare Ich und seine Ziele und Bedürfnisse hinausreichende Dimension“259 und – in Abgrenzung zur Religion – auf die eigene Erfahrung aufbauend: „Spiritualität [deutet] auf eine subjektive und existentielle Dimension erfahrungsbasierter Transzendenz hin[…]“260. Spiritualität ist somit für Walach, neben organischen, psychischen und systemischen261 Aspekten eine zentrale Dimension für einen angemessenen und gesunden Umgang mit dem menschlichen Organismus als komplexem System. Wie eine solche erfahrungsbasierte Transzendenz praktisch aussieht oder ggf. im Prozess von Krankheit und Heilung gefördert werden kann, wird nicht konkretisiert. 3.2.1.4.3 Zwischenfazit: Naturheilkunde und Alternativmedizin
Auch innerhalb der akademisch-institutionell verankerten Medizin zeigen sich v. a. seit Beginn des 21. Jh. Auseinandersetzungen über die anthropologischen universitären Ausbildung ist Homöopathie immer wieder Thema. Vgl. u. a. http:// www.klinikum.uni-muenchen.de/Kinderklinik-und-Kinderpoliklinik-im-Dr-vonHaunerschen-Kinderspital/de/ambulanzen/homoeopathie/index.html sowie https:// www.uniklinik-freiburg.de/naturheilkunde/uni-zentrum-naturheilkunde/naturheilkunde-ambulanz/leistungskatalog.html. Beide aufgerufen am 11. Juli 2019. 258 Kohls, Niko und Harald Walach: Spirituelles Nichtpraktizieren – ein unterschätzter Risikofaktor für psychische Belastung? In: Spiritualität transdisziplinär. Wissenschaftliche Grundlagen im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit. Hrsg. v. Arndt Büssing und Niko Kohls. Heidelberg 2011. S. 134. (künftig zitiert als: Kohls und Walach: Spirituelles Nichtpraktizieren). 259 Kohls und Walach: Spirituelles Nichtpraktizieren. S. 135. 260 Ebd. S. 135. Hervorhebung im Original. 261 „Systemisch“ wird hier verwendet im Sinne eines Austausches und Einflusses verschiedener, in sich jeweils komplexer Systeme, die sich wechselseitig beeinflussen, z. B. Familie, Arbeit, Gesellschaft u. a. Vgl. Vortrag „Gesundheit – Ordnung – Krankheit – Chaos: Muster in Medizin und Heilkunde“ bei der Tagung „Sinn des Lebens – Muster und Lebenssinn. Ordnung im Chaos?“ im Deutsch-Amerikanischen Institut (DAI) Heidelberg. März 2016. Nachzuhören unter: http://harald-walach.de/mediathek/sinn-des-lebens-vortrag-ganzes-video/. Aufgerufen am 4. November 2016.
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Grundlagen der Medizin und die Folgen der hochspezialisierten und funktionalistischen Verengung des eigenen Faches. Die Frage nach den sich aus diesen Entwicklungen für die angewandten medizinischen Methoden und ihre (Neben-)Wirkungen ergebenden Folgen, werden aus verschiedenen Disziplinen für die Diskussion aufgegriffen. Im Zentrum steht dabei weniger die Konfrontation verschiedener Modelle als die Idee einer Integration im Sinne einer Weiterentwicklung bzw. der Erweiterung des vorhandenen methodischen Kanons. Auf diese Weise sollen die Erfolge der modernen technischen Medizin beibehalten werden können und zugleich ihre negativen Begleiterscheinungen reduziert werden. Die Lehrstühle für Naturheilkunde und Integrative Medizin sind dabei bestrebt, sich nicht als Alternative, sondern als Ergänzung der konventionellen Medizin darzustellen. Dabei ist bemerkenswert, dass das medizinische System selbst mit der Aufnahme von natur- bzw. komplementärmedizinischen Angeboten versucht, Perspektiven zu (re-) integrieren, die sich gerade über die Abgrenzung von diesem System definieren. Hier ist somit von einer Institutionalisierung zu sprechen, die auch als Reaktion auf einen Zuständigkeits- und Deutungsmachtkonflikt verstanden werden kann. Die Mind-Body-Medicine als eine Form der Integrativen Medizin nimmt dabei eine große Bandbreite an Aspekten auf, die mit Gesundheit und Heilung korreliert werden und so als symptomatisch für die jüngeren Entwicklungen gesehen werden können, die Gesundheit einen besonderen Stellenwert in der Gesellschaft zusprechen. Eine ähnlich umfassende Perspektive strebt die Position Walachs an, die trotz der berechtigten Kritik eine interessante Entwicklung abbildet. Die vielfältigen Erweiterungen, die dieser Ansatz vorschlägt, um den Herausforderungen der modernen westlichen Gesellschaft begegnen zu können, nehmen zusätzlich zur akademischen Medizin alternative medizinische Methoden und traditionelle Medizinsysteme in den Blick sowie kulturelle Prägungen und Spiritualität. Im akademischen Diskurs stehen diese Ansätze vor einer doppelten Anerkennungsherausforderung: einerseits sind sie aus Sicht der Biomedizin nicht in ausreichendem Maße naturwissenschaftlich-evidenzbasiert und werden für relativ wirkungslos gehalten, andererseits gehören sie aus der Perspektive der nicht-institutionellen Alternativmedizin schon durch ihre institutionelle Anbindung eindeutig in den akademischen Kontext und sind damit Teil des biomedizinischen ‚Systems‘. Die dem akademischen Umfeld geschuldete Verortung lässt zudem auch in diesen Ansätzen nicht die Perspektive eines fluiden spätmodernen Verständnisses zu, wie es in der Untersuchung des Forschungsfeldes bei den AkteurInnen dieses Feldes angenommen wird.
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3.2.2 Religionskultur – Praktische Theologie und religiöse Praxis Dass der Theologie und der Religionskultur mit dem Abblenden von Leiblichkeitsbezügen ein Aspekt von zentraler Relevanz für das religiöse Subjekt verloren geht, wird in verschiedenen Kontexten seit den 1970er Jahren aufgegriffen (3.2.2.1). Zudem wird deutlich, dass Krankheit und Heilung als Themen der Religionstheorie im Zuge der Ausdifferenzierung und Spezialisierung gesellschaftlicher Systeme aus dem Blick geraten sind.262 Erst seit den 1980er Jahren werden diese zentralen Inhalte wieder verstärkt zum Thema religionstheoretischer Diskurse (3.2.2.2). Insofern lassen sich parallel zu den Vermittlungsdiskursen innerhalb der Medizin auch in der Religionskultur Reaktionen auf die epistemische Trennung des Menschen in Einzelbereiche wahrnehmen. 3.2.2.1 Leiblichkeitsdiskurs – Der Mensch als unteilbare Einheit
Leiblichkeit spielte in der Tradition der abendländischen Philosophie und Theologie lange eine eher marginalisierte Rolle. Erst in den 1970er Jahren wurde Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit als Thema wiederentdeckt: zunächst in den Humanwissenschaften, mit einiger Verzögerung in der Theologie. Für die Praktische Theologie war es die Poimenik, die seit den 1980er Jahren nach Leiblichkeitsbezügen fragte, welche sich zuvor im Schatten der Dialektischen Theologie und ihrer Fokussierung auf die Homiletik nicht durchsetzen konnten. Die Liturgik nahm diese Diskurse seit den 1990er Jahren auf, wobei sie dabei auf die deutlich früheren, aber zeitweilig in Vergessenheit geratenen Anstöße der Liturgischen Bewegungen zurückgreifen konnte.263 Die deutsche Sprache ermöglicht, anders als etwa das Englische oder Französische, eine Differenzierung der Begriffe Leib und Körper. Damit stellt sich zugleich die Frage, welche unterschiedlichen Implikationen der Gebrauch der
262 Grundmann, Christoffer: Heilung als Thema der Theologie. Erschienen in: Theologische Literaturzeitung. 130. Jg., Heft 3, Leipzig 2005. Sp. 231-246. Im Internet abrufbar auf der Seite http://www.mmh-mms.com/downloads/grundmannheilungtheologie.pdf. Aufgerufen am 27. April 2016. (künftig zitiert als: Grundmann: Heilung als Thema der Theologie). 263 Auf die Liturgischen Bewegungen und ihre Gedankenanstöße zu Aspekten der Leiblichkeit wurde bereits verwiesen. Auch darauf, dass diese Bewegungen in der Gesamtentwicklung religiöser Theorie und Praxis eher randständig blieben (vgl. FN 108).
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jeweiligen Semantiken mit sich bringt. Etymologisch lassen sich beide Begriffe nicht eindeutig voneinander trennen.264 In philosophischen und theologischen Kontexten ist die Unterscheidung dennoch nicht nur gebräuchlich, sondern in ihrem unterschiedlichen Gebrauch vielfach essentiell, da sie eine zentrale inhaltliche Differenzierung transportiert.265 Dabei wird theologisch auf die biblische Tradition der paulinischen Unterscheidung von soma (σϖμα) und sarx (σάρξ) rekurriert.266 Unter Rückgriff auf den Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty wird in theologischer Lesart differenziert zwischen Körper-Haben und Leib-Sein. Dies greift etwa der Systematische Theologe Eilert Herms auf, wenn er in seiner Monographie zum Thema Sport schreibt: Wie in der Umgangssprache fassen wir mit dem Ausdruck ‚Leib‘ unseren Körper ins Auge und das uns durch ihn aufgenötigte Verhalten zur Welt. Aber im Begriff des Leibes wird mehr als bloß dies gedacht. Es wird ständig mitgedacht, daß […] dieses unser körperliches Verhalten zur Welt ständig begleitet und umfaßt ist von einem Verhalten zu uns selbst, zu unserem Leben im ganzen und damit immer auch zum Grunde unseres Lebens. Der Begriff ‚Leib‘ erfaßt die Einheit von körperlichem und geistigem Sein; und die Tatsache, daß kraft 264 Laut etymologischem Wörterbuch leitet sich Körper von lat. corpus ab, welches aber sowohl mit der deutschen Bezeichnung ‚Leib‘ wie auch ‚Körper‘ wiedergegeben wird und es „[e]rsetzt die älteren Wörter Leib und Leiche“. Leib wird abgeleitet von ahd. lib ‚Leben‘. Eine Bedeutungsdifferenzierung gegenüber Körper wird hier insofern vorgenommen, als dieser Begriff neben der Bedeutung ‚Körper‘ im Frühneuhochdeutschen auch für ‚Person‘ verwendet wurde. Vgl. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 24., durchges. und erw. Aufl. Berlin, New York 2002. 265 Zu der Herausforderung, dass die semantische Denotation von unterschiedlichen Konnotationen überlagert wird, kommt hinzu, dass Körper und Leib in den Publikationen z. T. synonym verwendet werden bzw. keine genaue begriffliche Bestimmung vorgenommen wird. So weist das Stichwortverzeichnis bei Bieritz z. B. nur ein Stichwort für Körper/Leib auf vgl. Bieritz: Liturgik; Meyer-Blanck verwendet ausschließlich Leib und nimmt keine Verhältnisbestimmung zum Körper vor, auch wenn dieser Begriff immer wieder in seinen Zitaten genannt wird. Vgl. Meyer-Blanck, Michael: Leben, Leib und Liturgie. Die Praktische Theologie Wilhelm Stählins. Berlin, New York 1994. S. 149ff, 159 u. ö. (künftig zitiert als: Meyer-Blanck: Leben, Leib und Liturgie). 266 Vgl. Art. Leib/Leiblichkeit. Heinz-Horst Schrey. In: TRE Bd. 20. Berlin, New York 1990. S. 639f. Vgl. auch den Exkurs zum Verhältnis von Leib, Körper und Seele unter 3.1.2.2.
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dieser Einheit von Körper und Geist, kraft des Eingebettetseins unseres körperlichen in unser geistiges Leben, dieser bestimmte Körper unhintergehbar für uns da ist als je meiner. Der Leib ist das in das selbstbewußte Leben der Person eingelassene, von ihrem Verhalten zu sich selbst und zum Grunde ihres Lebens begleitete und umfaßte und deshalb einer Person jeweils zueigen seiende körperliche Leben. Insofern gilt dann: Wir haben zwar einen Körper, aber wir sind unser Leib.267
Leiblichkeit umfasst mehr und anderes als Körperlichkeit. Das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen ist grundlegend von seiner Leiblichkeit geprägt und als solches nicht nur von der Beziehung des (objektivierbaren) Körpers zur Welt, sondern von leib-geistigen Bezügen. Mit einfachen Worten fasst es Herms so zusammen: „Die Grundeinsicht theologischer Anthropologie, die in diesem Begriff des Leibes festgehalten wird, ist eben die Einsicht in die Einheit unseres körperlich-geistigen Lebens […].“268 Den Gedanken, dass mit dem Leib mehr gesagt und gemeint ist als mit dem Körper-Begriff zum Ausdruck gebracht wird, führt die Systematische Theologin Christina Aus der Au weiter. Leiblichkeit beinhaltet, so ihre Ausführung zu diesem „Schlüsselbegriff“269, die Erfahrung der Welt aus der Perspektive des Subjekts: Unsere Leiblichkeit ist die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, und für reine Körper […] gibt es keine Qualia. Dass sich Erfahrungen für mich irgendwie anfühlen, bedingt, dass ich zum einen einen Körper habe, der mir das Tor zur Welt ist, dessen sinnliche und neuronale Fähigkeiten funktionieren, dass zum anderen aber ich Leib bin, in meinem Körper stecke, nicht als ein kartesisches Kasperlein irgendwo drin, sondern durch und durch mit meinem Körper als Leib verwoben. Mein Schmerz, meine Freiheit, meine Gotteserfahrung. Nur dann ist es Schmerz, Freiheit, Gotteserfahrung.270
Der Leib wird hier qualifiziert als Voraussetzung der Erfahrung von Welt. Durch die dem Subjekt eigene Möglichkeit, sich selbst als leibliches Wesen wahrzuneh267 Herms, Eilert: Sport. Partner der Kirche und Thema der Theologie. Hannover 1993. S. 18. Hervorhebung im Original. (künftig zitiert als: Herms: Sport). 268 Herms: Sport. S. 18. Hervorhebung P. S. 269 Vgl. den Titel einer ihrer Publikationen: Körper, Leib, Seele, Geist. Schlüsselbegriffe einer aktuellen Debatte. Hrsg. v. Christina Aus der Au. Zürich 2008. (künftig zitiert als: Aus der Au: Schlüsselbegriffe). 270 Aus der Au, Christina: Das Erklärungsmonopol des Körpers. Gehirn und Geist in der Diskussion. In: Körper – Kulte. Wahrnehmungen von Leiblichkeit in Theologie, Religions- und Kulturwissenschaften. Hrsg. v. Christina Aus der Au und David Plüss. Zürich 2007. S. 147.
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men, werden umfassende Bezüge zur Welt (und zum Grund des Lebens) möglich. Deutlich wird in dieser Passage zugleich, dass damit keine Disqualifikation des Körpers ausgesagt ist. Der Körper als ‚Tor zur Welt‘ ermöglicht erst die Weltwahrnehmung und ist insofern existentiell. Eine Distanzierung vom Körper kann aber, so Aus der Au, mitunter notwendig sein, um diesen durch Objektivierung als „physikalisch und neurowissenschaftlich beschrieben[e] und mit Bezug auf Ursache-Wirkungs-Beziehungen und Naturgesetze erklärt[e]“271 Größe zu fassen, denn nur so sei es denkbar, „sich auf den Operationstisch des Chirurgen [zu] legen und [zu] erwarten, dass der Beinbruch, der geplatzte Blinddarm oder der Tumor nach allen Regeln der medizinischen Kunst repariert und er also wieder geheilt wird“272. Die Ambivalenz dieser objektivierenden Distanz wird dabei von Autoren wie Herms, Aus der Au und Rieger mitgedacht.273 Die im systematisch-theologischen Diskurs mitgeführte Relevanz des LeibBegriffs rückt Hans-Martin Rieger noch einmal deutlich ins Zentrum, wenn er schreibt, dieser stelle „die von Gott geschaffene Gesamtwirklichkeit menschlicher Existenz“274 heraus. Ohne lebendige Seele und also ohne den von außen ihm zukommenden Lebensodem Gottes verfällt der lebendige Leib zu einem leblosen Körper.275
Dem Körper ist mit der lebendigen Seele und dem durch Gott verursachten Lebensprinzip die Qualität der Leiblichkeit gegeben. Auch für die Religionspädagogik-Professorin Elisabeth Naurath steht besonders der Aspekt der Gabe der Leiblichkeit im Fokus. So drückt der Begriff Leiblichkeit für sie aus, „daß das wahrnehmbare Körper-Haben und Körper-Besitzen immer und letztlich unverfügbar bleibt“276. Dabei akzentuiert sie v. a. die theorierelevante Unterscheidung beider Begriffe, die hilfreich sei, um „verschiedene Dimensionen der Komplexität der Existenz“277 auszudrücken. So positiv Naurath den Gewinn der Unterscheidung von Körper und Leib bewertet, so kritisch weist die katholische Theologin Regina Ammicht Quinn dar271 Aus der Au, Christina: Einleitung. In: Aus der Au: Schlüsselbegriffe. S. 13. 272 Aus der Au, Christina: Einleitung. In: Aus der Au: Schlüsselbegriffe. S. 13. 273 „[Die] Erfahrung unserer Leiblichkeit […] entlarvt, daß die – immer auch mögliche – Betrachtung und Behandlung unseres Leibes lediglich als eines physiologischen Systems eine – u. U. lebensgefährliche – Abstraktion ist.“ Herms: Sport. S. 18. 274 Rieger: Gesundheit. S. 118. 275 Ebd. S. 118. 276 Naurath: Seelsorge als Leibsorge. S. 119. 277 Ebd. S. 120.
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auf hin, dass es sich bei der aufgezeigten Differenzierung von Leib und Körper und der damit verbundenen hohen Wertschätzung des Leibes um eine begriffliche Verschiebung statt einer Lösung handeln könnte. Sie sieht die Gefahr einer Hierarchisierung von Seele, Leib und Körper, die letztlich den Konflikt in der Verhältnisbestimmung von Körper und Seele auf einen Konflikt zwischen Körper und Leib umlenke: Der Leib wird dabei ebenso von der Möglichkeit eines rein objektivierenden Umgangs wie vom Makel grundsätzlicher Sündhaftigkeit befreit. Um den Leib aber in solcher Weise hoch schätzen und jede Art von ‚Leibfeindlichkeit‘ abwehren zu können, wird dem Dualismus eine kleine, unbeachtete Hintertür geöffnet: ‚Leib‘ darf nicht und nie mit Körper verwechselt werden. Die Hochschätzung des Leibes wird durch den Dualismus der Körper-Leib-Debatte gestützt und erkauft, sei es, indem der ‚Leib‘ explizit vom Körper abgesetzt wird, sei es, daß niedere – körperlich-materielle – von höheren – geistig-personalen – Seinsbereichen unterschieden werden.278
Die Kritik von Ammicht Quinn ist nicht ganz unberechtigt und die definitorische Trennung in der Theologie hat als Setzung ihre Schwachstellen. Eine Abwertung des Körpers ist schon aus den o.g. Überlegungen im Anschluss an Aus der Au zu vermeiden. Nichtsdestotrotz ist der Gewinn der Differenzierung zu betonen und bei der Verwendung der Begriffe mitzudenken. Dabei steht auf der einen Seite die genannte Möglichkeit der Verobjektivierung (mitsamt ihren Konsequenzen), die dem Körperbegriff zugedacht wird, im Zentrum, während auf der anderen Seite im theologisch akzentuierten Leib-Begriff der Unverfügbarkeitsgedanke mitführt wird. Auch wenn die Trennung sprachlich, wie gezeigt, nicht immer sauber durchgehalten wird und daher auch in der Rekonstruktion der Diskurse mitunter verwischt, bleibt die inhaltliche Akzentuierung gerade für die theologische Reflexion von Bedeutung. Der Leib-Begriff umfasst mehr (und anderes) als den rein physiologisch gedachten Körper. Der Leib-Seele-Mensch als Einheit und in seiner Geschöpflichkeit als auf Gott bezogenes Wesen steht im Fokus einer theologischen Anthropologie. Damit ist er zugleich theologischer Vorbehalt gegenüber einer vollständigen Verfügbarkeit des Menschen. Die Impulse der früheren Liturgischen Bewegungen und des Diskurses der Human- und Kulturwissenschaften wurden mit einigem zeitlichen Abstand in der Praktischen Theologie aufgenommen. Seit den 1980er Jahren greift der Praktische Theologie Dietrich Stollberg (1937-2014) als einer der ersten eine leibliche Perspektive in seinen Überlegungen auf und macht diese sowohl für die Poimenik 278 Ammicht Quinn: Körper, Religion, Sexualität. S. 32.
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als auch für die Liturgik fruchtbar. In seiner Seelsorgetheorie von 1978 „Wahrnehmen und Annehmen“279 sind die Bezüge noch zurückhaltend. Im Rückgriff auf die altkirchliche Tradition der Bestimmung Christi als vere deus et vere homo weist Stollberg auf die anthropologischen Konsequenzen dieser Christologie hin. Nicht allein die transzendent, seelisch oder unsterblich gedachten Anteile des Menschen können (oder sollen) Gegenstand der christlichen Seelsorge sein, sondern die „ganzheitliche[…] Sorge um den einen Menschen“280. So konstatiert er: „Seelsorge und Leibsorge [lassen sich] prinzipiell nicht trennen“281. Im Blick auf die seelsorgerliche Methodik macht Stollberg deutlich, dass nicht nur der Klient oder die Klientin der Seelsorge in seelischer und leiblicher Dimension relevant ist, sondern auch der oder die SeelsorgerIn selbst. Zentral ist für Stollberg das seelsorgerliche Gespräch als Beziehungsgeschehen: „Eine Beziehung ist mehr und geht tiefer als die sie begleitenden Gespräche, weil Menschen nicht Ohr und Mund mit Gehirn, sondern ganzer Körper sind.“282 Dass für eine christliche Theorie eine leiborientierte Perspektive nicht nur wünschenswert, sondern geradezu essentiell ist, darauf verweist Stollberg seit den 1980er Jahren im Kontext seiner liturgischen Überlegungen. Seine „Liturgische Praxis“283 von 1993 ist in nahezu allen Teilbereichen von einer leiblich-körperlichen Orientierung durchdrungen. Mit dem Verweis auf eine „anthropologische Wende der Theologie“284 stellt er zu Beginn des Buches eine Prämisse auf, die für seine weiteren Ausführungen prägend ist. Die Entwicklungen in der Theologie liefen hinaus [a]uf eine ‚Wiederentdeckung des Leibes‘, der Ganzheitlichkeit menschlichen Verhaltens und Glaubens und der Sinne als theologisch relevanten menschlichen Bedingungen.285
Die Leiborientierung zieht sich als roter Faden durch diese liturgische Anleitung. Im Durchgang durch liturgische Stücke wird auf die „Funktionen von Empfangen (Hören, Sehen, Schmecken und Riechen, Tasten)“286 verwiesen, im Reflexions279 Stollberg, Dietrich: Wahrnehmen und Annehmen. Seelsorge in Theorie und Praxis. Gütersloh 1978. (künftig zitiert als: Stollberg: Wahrnehmen und Annehmen). 280 Stollberg: Wahrnehmen und Annehmen. S. 37. Hervorhebung im Original. 281 Ebd. S. 37. Hervorhebung im Original. 282 Ebd. S. 102. Hervorhebung im Original. 283 Stollberg, Dietrich: Liturgische Praxis. Kleines evangelisches Zeremoniale. Göttingen 1993. (künftig zitiert als: Stollberg: Liturgische Praxis). 284 Stollberg: Liturgische Praxis. S. 16. 285 Ebd. S. 16. 286 Ebd. S. 20.
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kapitel über die Erfahrungen liturgischer und homiletischer Universitätsseminare werden neben anderen die Kategorien „Raum“, „Sitzen“, „Stehen“, „Körpersprache“, „Liegen“, „Sinneseindrücke“, „Gehen“287 ausgeführt und auch die Zusammenfassung steht mit Themen wie „Bewegungen und Haltungen“288 oder „Gebärden und Gesten“289 im Zeichen einer leiblichen Ausrichtung. Liturgie vollzieht sich nach Stollberg in leiblichen Kategorien und ist in diesen zu beschreiben, um dem Menschen als leib-seelische Einheit gerecht zu werden. Im unbedarften Gebrauch des Begriffes ‚Ganzheitlichkeit‘ zeigt sich, dass Stollberg am Anfang eines theologischen Leiblichkeitsdiskurses steht, in dem eine Tendenz zur Anpassung theologischer Aussagen an „‚ganzheitliche‘ Sinnangebote“290 nicht völlig von der Hand zu weisen ist. Auf diese teils unkritische Aufnahme antworten spätere Autoren wie Meyer-Blanck mit der Forderung nach einem reflektierten Leibbegriff. Die Bedeutung, die sich aus dem Ernstnehmen einer leiblichen Dimension des Menschen für die Theologie ableitet, ist mit Stollberg kaum zu überschätzen. Der reformatorische Zentralgedanke der Rechtfertigung des Sünders zeigt sich für Stollberg auch in einer „Rechtfertigung des Leibes“: Es geht um die Wiedergewinnung der Sinnlichkeit, um die Rechtfertigung des Leibes, der wir als Sünder sind. Es geht um das Ja zu unseren Augen und Ohren, zu unserer Nase und zu unserem Mund, zu unseren Armen und Beinen, unserem Rumpf und unserem Kopf. Es geht schließlich darum, daß wir unseren Glauben an den gnädigen Gott auch auf unseren mangelhaften und oft genug kranken Körper beziehen.291
Die Wertschätzung des Menschen sowohl als Körper wie auch als umfassende leibliche Existenz hat in theologischer Perspektive eine besondere Bedeutung. Praktische Theologie muss leibliche Perspektiven integrieren. Prominent aufgegriffen wurde der Leiblichkeitsdiskurs seit den 1980er Jahren in der feministischen Theologie. Ausgehend vom biblischen Befund der Bedeutung des Leibes bzw. Körpers, entwirft die feministische Theologin Elisabeth Moltmann-Wendel292 eine Verlust- und Verdrängungsgeschichte einer leiborien287 Ebd. S. 25ff. 288 Ebd. S. 94. 289 Ebd. S. 94. 290 Meyer-Blanck: Leben, Leib und Liturgie. S. 399. 291 Stollberg, Dietrich: Rechtfertigung des Körpers. Zur Körpersprache im Gottesdienst – eine Einführung. In: Zeitschrift für Gottesdienst und Predigt. Heft 1/1985. S. 29. 292 Elisabeth Moltmann-Wendel (1926-2016), Promotion 1951, galt als eine der bekanntesten feministischen Theologinnen und war v. a. durch eine rege Publikations- und Vortragstätigkeit bekannt. Zu ihren Veröffentlichungen zählen u. a.: Moltmann-Wen-
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tierten Perspektive. In „Mein Körper bin Ich“ von 1994 heißt es mit Bezug auf die neutestamentliche Geschichte der blutflüssigen Frau (Mk 5,24ff.): Mir macht die Geschichte klar, wie zentral der Körper Gottes (Jesu) und der Körper des Menschen (der Frau) einmal im Christentum waren und wie sie uns mit ihrem Wissen von Körper-Verlust als Selbstverlust und von Körper-Energie-Austausch motivieren könnten, in der Gegenwart neu nach unseren Körpern zu fragen. […] Dabei haben wir eine Kultur, die – massiv unterstützt durch die christlichen Kirchen – den Körper stets verdrängte und die alles Fleischliche, Leibliche, Materielle ausblendete oder erniedrigte.293
Etwas weniger scharf, aber in ähnlicher Stoßrichtung heißt es im Wörterbuch der Feministischen Theologie mit Blick auf die Tradition des Christentums: „Das Verhältnis des Christentums zum Körper, der in der Theologie meist Leib, d.i. beseelter Körper, genannt wird, ist höchst ambivalent.“294 Nach verschiedenen Perspektiven auf den Körper („Körper und Gesellschaft“; „Frauenkörper“; „Männerkörper“295 u. a.) und einer Kontextualisierung von Körper und Christentum, entwirft Moltmann-Wendel eine „Theologie der Leiblichkeit“, die dem Körper bzw. Leib einen prominenten Ort im theologischen Denken und religiösen Handeln eröffnen will: Theologie der Leiblichkeit will keine neue Theologie entwerfen, sie will aber einen vergessenen und heute wichtigen Ort auftun, von dem aus theologisch gedacht und gehandelt werden kann: den Körper des Menschen oder, anders ausgedrückt, den Leib als beseelten Körper.296
Körper bzw. Leib soll demnach in der Theologie eine größere Bedeutung zukommen, die sich auf die zentrale Stellung der Leiblichkeit als anthropologisches und theologisches Thema rückbesinnt. Konkret führt Moltmann-Wendel dafür die del, Elisabeth: Wenn Gott und Körper sich begegnen. Feministische Perspektiven zur Leiblichkeit. Gütersloh 1989 sowie: Dies.: Mein Körper bin Ich. Neue Wege zur Leiblichkeit. Gütersloh 1994. (künftig zitiert als: Moltmann-Wendel: Mein Körper bin Ich). 293 Moltmann-Wendel: Mein Körper bin Ich. S. 12. 294 Artikel: Körper der Frau/Leiblichkeit. In der Geschichte des Christentums. Ammicht Quinn, Regina und Elisabeth Moltmann-Wendel. In: Wörterbuch der Feministischen Theologie. Hrsg. v. Elisabeth Gössmann u. a. 2., vollst. überarb. und grundl. erw. Aufl. Gütersloh 2002. S. 336. 295 So die Kapitelüberschriften in: Moltmann-Wendel: Mein Körper bin Ich. 296 Moltmann-Wendel: Mein Körper bin Ich. S. 132.
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Geburtlichkeit des Menschen, (analog zu Stollberg) die Inkarnation Gottes, die „konkrete Körpersprache [in] Symbole[n], Mythen, Märchen“297 und das Leiden und Sterben des Menschen (und Jesu) an.298 Unter Rückgriff auf die christliche Tradition werden so (wenige) „Gedanken zu einer Theologie der Leiblichkeit“299 formuliert, die jedoch eher Gedankenanstöße denn eine ausformulierte theologische Leiblichkeitstheorie darstellen. Viel ausführlicher wird Leiblichkeit bei Elisabeth Naurath verhandelt, die darüber ihren poimenischen Zugriff profiliert. Ihre Monographie von 2000 mit dem programmatischen Titel „Seelsorge als Leibsorge“ stellt Leiblichkeit nicht nur als eine von vielen für die Seelsorge relevanten Kategorien dar, sondern kritisiert die „theoretische[…] wie praktische[…] Fixierung von Seelsorge als eine Art ‚geistlicher Zusatzversorgung‘“300 und fokussiert die „vordringliche Aufgabe, leibseelische Integrationsarbeit“301 zu leisten. Nach einem Durchgang durch die historischen und exegetisch-hermeneutischen Grundvoraussetzungen des Verhältnisses von Leib und Seele analysiert Naurath verschiedene für ihren Kontext relevante Seelsorgetheorien unter dem Fokus einer etwaigen Leiborientierung und kommt zu dem Schluss einer notwendigen Veränderung: Ich gehe im folgenden von der These aus, daß die Leiblichkeit des Menschen als konstitutiver Faktor einer Neubestimmung der Krankenseelsorge auszumachen ist. Auch wenn die wissenschaftstheoretische Fundierung hierzu noch fehlt, gibt es eindeutige Tendenzen einer wachsenden Realisierung des Desiderats einer leibintegrierenden Seelsorgetheorie. […] Seelsorge ist gerade im Krankenhaus auch als Leibsorge (heraus)gefordert: nicht nur aufgrund der biblisch bestimmten Reintegration der Leiblichkeit in das Seelenverständnis, nicht nur weil im individuellen Erleben von Krankheit der Körper – und damit theologisch gesprochen die Leiblichkeit des Menschen – zur Sprache kommen will, nicht nur weil im multikulturellen Kontext des modernen Krankenhauses eine streng konfessionell ausgerichtete, wortlastige Seelsorge keine Zukunft hat, sondern auch weil im gesellschaftlichen Kontext der Körperboom Sehnsüchte und Möglichkeiten ‚ganzheitlicheren‘ Menschseins, aber auch Gefahren im Sinne neuer Einseitigkeiten und Abhängigkeiten zeigt, die eine theologisch-kritische Klärung von Leiblichkeit dringend fordern.302
297 Ebd. S. 134. 298 Vgl. ebd. S. 132ff. 299 Ebd. S. 132. 300 Naurath: Seelsorge als Leibsorge. S. 13. 301 Ebd. S. 13. 302 Ebd. S. 109f.
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Als Konsequenz aus diesem Desiderat entwirft Naurath selbst „Perspektiven einer leibintegrierenden Krankenseelsorge“303 und konkretisiert diese exemplarisch an zwei Themen. Zum einen fokussiert sie auf die Relevanz der Körpersprache in der „unvermittelt als Begegnung von Mensch zu Mensch“304 geschehenden Seelsorge; zum anderen nimmt sie die Perspektive von Geschlechterbildern und deren Implikationen für die Seelsorge auf305, wobei die Ausführungen einer konkreten Umsetzung der Konsequenzen ausbleiben. Unter Rückgriff auf die bereits vorhandenen Impulse aus der Liturgik des frühen 20. Jh. und aus der Poimenik nimmt der Göttinger Praktische Theologe Manfred Josuttis 1991 eine körperlich-leiblich orientierte Neubestimmung des gottesdienstlichen Geschehens vor306 und reiht sich damit in verschiedene Entwicklungen „innerhalb und außerhalb der Theologie“307 ein, zu denen er auch eine „Neuentdeckung von Körperlichkeit und Sinnlichkeit“308 zählt. Alle gottesdienstlichen Stücke und liturgischen Verhaltensweisen stellt Josuttis schon in seinen Kapitelüberschriften unter körperliche Bezüge wie „Gehen“, „Sitzen“, „Sehen“ etc.309 Seine Perspektive für den Gottesdienst beschreibt Josuttis u. a. so: Eine Liturgik auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage arbeitet also nicht pastorenzentriert, sondern gemeindeorientiert, nicht ideen-, sondern körperbezogen, nicht dogmatisch, sondern anthropologisch.310
303 Ebd. S. 170. 304 Ebd. S. 171. 305 In der Konsequenz heißt das für Naurath etwa eine bewusste Reflexion nonverbaler Interaktionen, eine Entlastung von SeelsorgerInnen durch eine bewusste Sensibilisierung für die Wirkungen und Begrenzungen des Körperlichen der eigenen Person und des Gegenübers, die Empfehlung einer inhaltlichen Thematisierung des Körpers bzw. Leibes, v. a. im Kontext des Krankenhauses oder auch die Anregung, eine „Reise durch den Körper“ anzuleiten, die sichtbar machen könne, welche Themen „konkret und personzentriert zum seelsorgerlichen Gesprächsinhalt werden können“. S. 221f. Poimenische oder liturgische Anleitungen (z. B. für eine Segnung oder Salbung) formuliert Naurath nicht. 306 Josuttis, Manfred: Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage. München 1991. (künftig zitiert als: Josuttis: Weg in das Leben). 307 Josuttis: Weg in das Leben. S. 12. 308 Ebd. S. 12. 309 Ebd. S. 7. 310 Ebd. S. 9.
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Diese körperbezogene, anthropologische Perspektive wird in einzelnen Teilkapiteln noch einmal zugespitzt, etwa in den Abschnitten zu „Körperarbeit“311 oder „Tanz“312. Dabei greift Josuttis für seinen praktisch-theologischen Durchgang durch den christlichen Gottesdienst auch immer wieder auf ethnographisches Material zurück, um darüber den Blick zu schärfen für die körperlich-leiblichen Bezüge, die sich in spätmoderner Religionspraxis finden und aufdecken lassen. Die z. T. sehr drastischen Darstellungen indigener Initiationsriten dienen ihm bspw. als Hintergrundfolie zur Erschließung körperlicher Präparationshandlungen vor dem Gottesdienst. […] [D]ie Gebetsattitüden, die die Gottesdienstbesucher andeutungsweise noch immer vollziehen, bevor sie auf der Kirchenbank Platz nehmen, sind reduzierte Relikte ursprünglich sehr viel breiter ausgeführter Präparationshandlungen. Schließlich dient auch das Schweigen, das normalerweise im protestantischen Kultraum vor dem Gottesdienst herrscht, der inneren Einstellung auf die liturgische Feier. Und wenn in der Gegenwart die Körperarbeit der Investition nur noch von den zentralen Akteuren vollzogen wird, die ihre Amtstracht anlegen, dann ist das sicherlich […] Folge jenes Verinnerlichungsprozesses, der gerade das religiöse Verhalten in der Neuzeit geformt hat […].313
Eindrücklich lässt sich Josuttis’ Verständnis darüber, welchen Einfluss körperliche Handlungen auf religiöse Prozesse haben, am Beispiel des Sitzens wahrnehmen. Unter der Überschrift „Körperformierung“ macht er deutlich, dass das statische Sitzen im Gottesdienst mit der Verinnerlichung religiöser Praxis einherging. Leibliche und inhaltliche Aspekte religiöser Praxis werden hier in einer sich wechselseitig beeinflussenden Prägung gedacht: Weil für den Glauben nicht die körperliche Verzückung, sondern die seelische Entrückung im Vordergrund steht, ist die Fixierung der Leiber […] ein konsequenter Schritt in der Entwicklung kirchlicher Verhaltensregeln gewesen. […] Wer in der Kirchenbank sitzt, soll sich […] konzentrieren. Aber es geht dabei weder um ein fundiertes Verhältnis zur Erde noch um eine entspannte Praxis des Atmens. Die Lebenskraft und die Lebenswahrheit, der man sich in dieser Stellung aussetzen soll, erreichen den Einzelnen in der strukturierten Gestalt von Wörtern und Sätzen und wollen demgemäß seine Innenwelt formen. Das Sitzen in der Kirchenbank dient nicht der Ent-Spannung, sondern
311 Ebd. S. 97. 312 Ebd. S. 120. 313 Ebd. S. 99.
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soll Seele und Geist mit bestimmten Inhalten füllen und den Körper zu einem bestimmten Verhalten führen.314
An diesem Beispiel wird deutlich, wie weitreichend in Josuttis‘ Perspektive die Auswirkungen der körperlich-leiblichen Modifikationen religiöser Praxis für den Wahrnehmungs- und Handlungsprozess sind. Die Notwendigkeit einer Neuorientierung von Praktischer Theologie und religiöser Praxis ergibt sich für den Autor auch aus den weitreichenden Konsequenzen einer leibbewussten Religion.315 Über den gottesdienstlichen Kontext hinaus erschließt Josuttis die Leiblichkeitsperspektive in späteren Publikationen für weitere praktisch-theologische Handlungsfelder. Vor dem Hintergrund, „Religion als Handwerk“316 zu verstehen, ist er bestrebt, die Handlungslogiken von Theologie und Religionspraxis nachzuzeichnen, wobei deren leibliche Verortung als Prämisse voransteht. Verschiedene Felder religiöser Handlungen werden thematisiert, so bspw. Heilung, welche der Autor unter Rückgriff auf die jesuanische Tradition als leiblich-geistige und energetische (Be-)Handlungsweise versteht. Diese, so Josuttis, könnten in Form von Salbungen oder Handauflegungen heute wieder aufgenommen und umgesetzt werden, wobei zugleich magischen oder synkretistischen Vorstellung zu wehren sei.317 1994 erschien unter dem Titel „Leben, Leib und Liturgie“318 die Habilitationsschrift von Michael Meyer-Blanck, die über die Arbeiten des Praktischen Theologen Wilhelm Stählin319 den Leiblichkeitsdiskurs für die Praktische Theologie aufnahm und weiterentwickelte. Meyer-Blanck benennt für die Theologie Stählins die drei hermeneutischen Schlüsselkategorien „Leben“, „Leib“ und „Liturgie“, die er ausführlich aus Stählins Werk heraus aufschlüsselt. Für die Kategorie Leib arbeitet Meyer-Blanck als zentral heraus, diese stehe für Stählin wie für die liturgische Bewegung, zu deren Mitbegründern er gehört, „gegen eine theologische 314 Ebd. S. 122ff. 315 Weitergedacht wird Josuttis Perspektive in ihren Auswirkungen für den (gottesdienstlichen) Raum u. a. in Klie, Thomas: Zeichen und Spiel. Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der Pastoraltheologie. Gütersloh 2003. S. 269ff. 316 Josuttis, Manfred: Religion als Handwerk. Zur Handlungslogik spiritueller Methoden. Gütersloh 2002. 317 Vgl. ebd. S. 188ff. 318 Meyer-Blanck: Leben, Leib und Liturgie. 319 Wilhelm Stählin (1883-1975), Studium der Theologie 1901-1905; Promotion 1913; Tätigkeit als Pfarrer; Prof. für Praktische Theologie in Münster ab 1926. Mitbegründer des Berneuchener Kreises und der Michaelsbruderschaft als Gemeinschaften, die sich für eine spirituelle und liturgische Erneuerung in der Kirche einsetzten. Vgl. Meyer-Blanck: Leben, Leib und Liturgie.
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Lehre und gegen eine Kirchlichkeit, die das ‚lebendige Leben‘ vernachlässigen, in diesem Fall den Leib als den einzig möglichen Ort, an welchem Denken und Glauben geschehen können.“320 Von den Bestimmungen Stählins ausgehend erarbeitet Meyer-Blanck den „Verstehenszugewinn“321 dieser Kategorien und hebt dabei den Wert eines reflektierten Leibbegriffs für die Praktische Theologie hervor: Die Kategorie ‚Leib‘, […] in der Spannung von Individualität und Sozialität, von Welt- und Gottesbezug sowie vor allem von Anthropologie und Ekklesiologie […], ist angesichts der […] Impulse der feministischen Theologie und angesichts der Methodenvielfalt gegenwärtiger christlicher Praxis und Praktisch-theologischer Theorien […] von unmittelbarer Plausibilität, um menschliche Individualität und Selbsterfahrung zu umreißen und damit Impulse für die Praktisch-theologische Aufgabe im Bereich christlicher Praxis des einzelnen zu geben. Gleichzeitig erfüllen die an Stählins Leitbegriffen aufgewiesenen Spannungen wiederum eine ideologiekritische Funktion, indem diese die menschliche Leiblichkeit gerade als im ekklesiologischen (und auch im eschatologischen) Kontext verortet beschreiben und eine naive lebensphilosophisch-jugendbewegte Leibverherrlichung vom Gottesbezug her eindeutig hinter sich lassen. Damit ist gleichzeitig einer übereilten Anpassung der Theologie an ‚ganzheitliche‘ Sinnangebote, welche eine integre Leiblichkeit zum existentiellen Heil stilisieren, ein Riegel vorgeschoben.322
Mit Stählin ist für Meyer-Blanck ein reflektierter Leibbegriff für die religiöse Theorie und die christliche Praxis zu gewinnen, der eine Balance von anthropologischer Konkretion und theologisch geschultem Vorbehalt gegenüber Leibverabsolutierung zu leisten vermag. Pointiert fasst Meyer-Blanck die Aufgaben der Praktischen Theologie zusammen, bei der er dem Leiblichkeitsdiskurs eine zentrale Stellung zugedenkt: Praktische Theologie ist Hermeneutik christlicher Praxis und reflektiert christliche Praxis im Hinblick auf neues theologisches Verstehen und im Hinblick auf verändertes kirchliches Handeln. Dabei hat sie zu explizieren, was das verheißene christliche Leben im Kontext moderner Lebensentwürfe ausmacht, wie die christlich verstandene Leiblichkeit moderne Individualität neu qualifiziert und wie christliche Liturgie als Form der Zuwendung zu dem dreieinigen Gott im Kontext moderner Ritualisierungen das Evangelium von Jesus Christus sinnlich wahrnehmbar repräsentiert.323
320 Meyer-Blanck: Leben, Leib und Liturgie. S. 149. 321 Ebd. S. 394. 322 Ebd. S. 399. 323 Ebd. S. 401. Im Original kursiv.
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Der 2004 erschienene Liturgik-Band324 des Rostocker Praktischen Theologen Karl-Heinrich Bieritz räumt ebenfalls dem Leib bzw. Körper eine zentrale Stellung in der Praktischen Theologie ein. Unter der Überschrift „Körper“ fasst er mit Bezug auf Umberto Eco in semiotischer Perspektive „liturgische Zeichensysteme zusammen, die sich körperlicher Ausdrucksformen bedienen“325. Ihre Bedeutung hebt er einleitend hervor: Das hier zu behandelnde Feld liturgischer Ausdrucksformen ist differenziert und vielschichtig. Wir begegnen darin – im Zusammenspiel kinetischer, hodologischer, proxemischer und taktiler (haptischer) Codes – einer eigenen ‚Ausdrucksdimension‘ des christlichen Gottesdienstes neben dem Wort und dem Ton. Ihre Bedeutung für Gottesdienst und Predigt kann kaum überschätzt werden: Jedes Wort, das sich Gehör verschaffen will, muss sich verleiblichen. Und es schafft sich nicht nur ganz selbstverständlich einen ‚Klangleib‘, sondern nimmt die Leiblichkeit der Beteiligten in jeder Weise in Anspruch, seien sie redend, betend, singend, handelnd, hörend oder schauend am Geschehen beteiligt. Auch für den Gottesdienst gilt: ‚Ein Mensch kann aufhören zu sprechen, er kann aber nicht aufhören, mit seinem Körper zu kommunizieren […]‘.326
Dass Bieritz dem Leiblichkeitsdiskurs im Rahmen seiner Liturgik eine so große Bedeutung beimisst, lässt auch erkennen, dass er schon auf eine leiborientierte liturgiewissenschaftliche Tradition zurückgreifen kann, auch wenn 2004 noch nicht von einer selbstverständlichen Akzentuierung in dieser Richtung gesprochen werden kann. Unter Aufnahme und Anwendung einer semiotischen Perspektive wirft er einzelne Schlaglichter auf Zeichen, Gebärden und liturgische Geräte im Gottesdienst.327 Auch außerhalb des explizit den Körper thematisierenden Kapitels findet sich das Stichwort durchgängig immer wieder in diesem praktisch-theologischen Entwurf. Allein im Kontext der Auflistung liturgischer Codes ist bemerkenswert, dass die „Körpersprachen“328 die größte Gruppe ausmachen. Ebenfalls in die Zeit der beginnenden 2000er Jahre fällt der Prozess um die Erneuerung der gottesdienstlichen Agende und die Konzeption des Evangelischen Gottesdienstbuches. Die Wirkungen der Diskussion um den Ort leiblicher Aspekte in der Liturgie zeigen sich auch im Kontext dieser Neugestaltungen.329 324 Bieritz: Liturgik. 325 Ebd. S. 205. 326 Ebd. S. 205. Hervorhebung im Original. 327 Vgl. ebd. S. 205ff. 328 Bieritz: Liturgik. S. 45f. 329 Vgl. Schwier, Helmut: Die Erneuerung der Agende. Zur Entstehung und Konzeption des „Evangelischen Gottesdienstbuches“. Hannover 2000. S. 400ff.; 483ff.; Hering,
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Im aktuellen theologischen Diskurs wird der bisher gegenüber dem Leib zurückstehende Begriff des Körpers neu aufgenommen. Dem philosophischen und von der Theologie aufgegriffenen „Verkörperungsdiskurs“330 liegt als Fundament die Einsicht der Körpergebundenheit des Menschen zugrunde: Die Philosophie der Verkörperung und die […] Theologie der Verkörperung teilen eine entscheidende Einsicht, die sich auch empirisch einholen lässt: Der menschliche ‚Geist [ist] nicht nur zufällig, sondern innig an einen Körper gebunden und innig in seine Welt eingebettet.‘331
Diese schon durch ältere Publikationen wie die von Herms, Meyer-Blanck oder Aus der Au vertretene Einsicht der körpergebundenen Verfasstheit des Menschen wird hier noch einmal deutlich herausgehoben und als Bedingung philosophischen und theologischen Denkens profiliert. Selbst in einer Positionierung gegen den (eigenen) Körper, kann sich der menschliche Geist nicht von der Verkörperung lösen. Sobald menschliches Bewusstsein erwacht, findet es sich als verkörpertes vor. Der Mensch kann sich zwar zu seinem Körper verhalten, sich denkerisch auch gegen seinen Körper definieren, aber auch seine raffiniertesten Denkoperationen bleiben in körperliche Vollzüge eingebettet.332
In ihrer Einleitung zum Sammelband „Verkörperung als Paradigma theologischer Anthropologie“ arbeiten die Herausgeber Georg Etzelmüller und Annette Weissenrieder heraus, dass es durch ein Ernstnehmen dieser Prämisse des Menschen der Philosophie und Theologie gelingen könnte, den cartesianischen Dualismus zu überwinden und die enge Verbindung von Geistigem und Organischem im Diskurs wieder zu stärken.333 Als besonders relevant wird die Verbindung des Körper-Bewusstseins mit der Wertung dieses Körpers herausgearbeitet. Im Normalfall trete der Körper reibungslos funktionierend hinter eine bewusste Wahrnehmung zurück und ermögTheodor: Gottesdienst und Gotteserkenntnis. Dogmatische Entscheidungen im Hinblick auf das „Evangelische Gottesdienstbuch“. Göttingen 2001. S. 390ff. 330 Vgl. Verkörperung als Paradigma theologischer Anthropologie. Hrsg. v. Georg Etzelmüller und Annette Weissenrieder. Berlin, Boston 2016. (künftig zitiert als: Verkörperung als Paradigma). 331 Verkörperung als Paradigma. S. 1. 332 Ebd. S. 2. 333 Vgl. ebd. S. 5f.
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liche so die Konzentration auf geistige Prozesse oder praktische Tätigkeiten. Aber, so die Autoren, diese „Körpervergessenheit schlägt oftmals in Körperverachtung um“334, weil der Körper erst im Moment des Funktionsdefizits – und dann als begrenzend – bewusst wahrgenommen werde. Um dieser Abwertung des Körpers zu wehren, führen die Autoren ein „Körperschema“335 ein, welches die Differenz von Körper und Leib aufhebt und deutlich macht, dass sich die inneren (leiblichen, von der ersten Person her gedachten) und äußeren (körperlichen, von der dritten Person her und naturwissenschaftlich verobjektivierbar gedachten) Körperbeziehungen wechselseitig beeinflussen.336 Auch die Theologie könne aus diesem gedanklichen Anstoß insofern gewinnen, als sie „im 20. Jahrhundert zwar erfolgreich mit der Unterscheidung von Körper und Leib gearbeitet [hat], dabei aber aufgrund dieser Unterscheidung das Körperschema und mit ihm die Weisheit des Leibes […] aus dem Blick verloren“337 hat. Dies hat, so Etzelmüller/Weissenrieder, theologisch weitreichende Konsequenzen. Die Kritik an einer möglichen geistigen Verengung des Leibbegriffs wird hier aufgenommen und die weitreichenden Folgen eines konsequent körperlich gedachten Leibes deutlich gemacht: Schon der natürliche Leib ermöglicht Freiheit und Kommunikation. Indem der menschliche Leib aber auf lebensförderliche Umgebungen angewiesen ist, wird zugleich deutlich, dass sich auch Veränderungsprozesse, das Neuwerden der Kreatur, nicht nur in einem vermeintlichen Innenraum des Menschen vollziehen können, sondern immer auch in dessen Umgebung, als lebensförderliche Transformation derselben, ereignen müssen.338
3.2.2.1.1 Zwischenfazit: Leiblichkeitsdiskurs
Die Erkenntnis, dass Körper bzw. Leib relevante Kategorien für einen religionskulturellen Diskurs sind, hat sich erst spät im 20. Jh. durchgesetzt. Aufgenommen zuerst in den Humanwissenschaften, in Philosophie und Kulturwissenschaften, findet eine thematische Auseinandersetzung in der Theologie verstärkt seit den 1980er Jahren statt. Besonders im Kontext von Poimenik und Liturgik erschließen Praktische Theologen wie Stollberg, Josuttis u. a. diesen Diskurs für die eigene Reflexion und reagieren damit auch auf eine im Zuge von Ausdifferenzierung und 334 Ebd. S. 3. 335 Ebd. S. 9ff. 336 Ähnlich wie Ammicht Quinn sehen auch Etzelmüller/Weissenrieder den Leibbegriff nicht nur als Erweiterung des Körperlichen (wie es etwa bei Herms der Fall ist), sondern auch als (in anderer Weise als der Körperbegriff) verengt. 337 Verkörperung als Paradigma. S. 13. 338 Ebd. S. 13.
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religiöser Verinnerlichung verlorengegangene Dimension religiöser Subjekte. Die aus der Phänomenologie mitgeführte Differenz von Leib und Körper macht trotz ihrer Unzulänglichkeiten gerade für den theologischen Diskurs essentielle Unterscheidungen sichtbar. Nur in der Bezogenheit des Körpers auf das Subjekt wird die Leiblichkeitskategorie relevant, wie Herms, Aus der Au u. a. herausarbeiten. Der Leib als nicht verobjektivierbare Kategorie wird als je mit dem eigenen Sein verbundene Größe die unhintergehbare Voraussetzung der Erfahrung von Welt in der Einheit von Körper und Geist. Am konsequentesten umgesetzt findet sich diese Perspektive freilich bei Josuttis, der in seiner Forderung nach einer leiborientierten Theologie diese für praktisch-theologische Handlungsfelder wie Liturgik und Poimenik durchbuchstabiert und darüber auch Themen wie Heilung oder Weihen in den Blick nehmen kann. Zugleich zeigt der jüngst aufgekommene Diskurs um die Verkörperung, dass die semantische Differenzierung gegenüber der inhaltlichen insofern sekundär ist, als gerade nicht der Eindruck entstehen darf, mit der Aufnahme der Kategorie ‚Leib‘ werde nur die Verschiebung eines verinnerlichten und geistig-seelisch eng geführten Verständnisses des Subjekts vorgenommen. Vielmehr ist eine leib-körperliche Dimension untrennbar mit zentralen religiösen und christlichen Topoi verbunden. Eine um diese Aspekte erweiterte Perspektive der Religionstheorie kann Ausgangspunkt eines Diskurses von Religion und Medizin sein. 3.2.2.2 Krankheit und Gesundheit als Thema der Religionskultur
Der Diskurs um das Verhältnis von Religion und Medizin in der Theologie, genauer: um den Ort der Frage nach Gesundheit und Heilung in der religiösen Praxis und deren theoretischer Reflexion, ist, analog zur Thematisierung von Leiblichkeit bzw. Körperlichkeit, lange Zeit vernachlässigt worden.339 Seit etwa den 1990er Jahren rückt das Thema wieder verstärkt in die Wahrnehmung. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist, parallel zum Bedeutungszuwachs von Gesundheit in verschiedenen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Bereichen, auch in der Theologie eine vermehrte Auseinandersetzung mit Gesundheit, Krankheit und Heilung zu beobachten. Exemplarisch wird diese Neuausrichtung anhand einiger Publikationen nachgezeichnet. Als eine frühe einschlägige Veröffentlichung ist die Monographie des Systematischen Theologen, Ethikers und Krankenhausseelsorgers Ulrich Eibach „Heilung für den ganzen Menschen?“ zu nennen, die 1991 erschien.340 Die Grundlage 339 Vgl. Grundmann: Heilung als Thema der Theologie. 340 Eibach, Ulrich: Heilung für den ganzen Menschen? Ganzheitliches Denken als Herausforderung von Theologie und Kirche. Neukirchen-Vluyn 1991. (künftig zitiert als:
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dieser Publikation bilden v. a. Vorträge Eibachs aus seiner Fortbildungstätigkeit für KrankenhausseelsorgerInnen. Er zielt damit auf eine reflektierte Praxistheorie. Als eine zeitgeschichtliche Diagnose beginnt Eibach mit der Feststellung der Popularität ‚ganzheitlicher Denkweisen‘. Zu Beginn der 1990er Jahre blickt er damit bereits auf eine Entwicklung zurück, die zu einer Verbreitung des Themas ‚Ganzheitlichkeit‘ in der Gesellschaft geführt hat; im theologischen Diskurs ist es zu dieser Zeit noch nicht angekommen. Die Kritik an den dem Descartschen Denken verhafteten rationalen, analytischen und reduktionistischen Wissenschaften und der ihnen folgenden Technik ist in Mode gekommen, weil dieses Denken in der Tat eine der Ursachen der Krisen unserer Zivilisation ist. Demgegenüber werden ganzheitliche Denkweisen propagiert und in zahlreichen Gruppen im Leben erprobt. Wer Gehört finden will, muß den Anspruch erheben, ganzheitlich zu denken und zu handeln, die Ganzheit des Lebens, ja der Welt erfassen zu wollen und erkennen zu können […].341
Eng mit dieser Idee des ‚ganzheitlichen Denkens‘ verbunden sieht Eibach ein spezifisches Verständnis von Heilung, welches den Anspruch verfolge, eben diese ‚Ganzheitlichkeit‘ zu integrieren: Ganzheitliches Denken will heilendes Denken sein und heilendes Handeln initiieren. ‚Heil‘ und glücklich ist der Mensch, der ganzheitlich existiert, der sich letztlich mit der Ganzheit des Seins verbunden weiß und in Harmonie mit ihr lebt, der alle Spaltungen in sich und mit dem Dasein außerhalb seiner selbst überwindet. So werden Heilung (Gesundheit) und Heil identisch.342
Diese von Eibach konstatierte Identität von Heilung und Heil ist einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Diskussionspunkt in der theologischen Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Krankheit, Gesundheit und Heilung und bleibt dies auch in den kommenden Jahren bis hin zu aktuellen Publikationen, in denen diese Verhältnisbestimmung zentral diskutiert wird.343 Auch Eibach verweist darauf, in seinen Ausführungen die „Ansprüche“344 dieses ‚ganzheitlichen Eibach: Heilung für den ganzen Menschen?). 341 Eibach: Heilung für den ganzen Menschen? S. 15. 342 Ebd. S. 15f. Hervorhebung P. S. 343 Vgl. Rieger: Gesundheit.; Karle, Isolde: Sehnsucht nach Heil und Heilung in der kirchlichen Praxis. Probleme und Perspektiven. In: Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. (künftig zitiert als: Karle: Sehnsucht nach Heil und Heilung). 344 Eibach: Heilung für den ganzen Menschen? S. 16.
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Denkens‘ kritisch prüfen und auf ihre Implikationen für Theologie und religiöse Vollzüge hin befragen zu wollen. Dass dies zentral mit dem Gesundheitsbegriff und dessen anthropologischen Voraussetzungen zusammenhängt, wird deutlich, wenn Eibach feststellt: Für den Menschen des 20. Jahrhunderts, für den […] Seelenheil und Heilung weitgehend identisch sind, ist der Fortschritt zum ‚Heil‘ nicht mehr Gottes Wunder und Gegenstand der Hoffnung […], sondern offenbar Planungsziel und eine für machbar gehaltene Größe.345
Dass auch der Autor selbst die Abgrenzung von religiösem Heil gegenüber ‚ganzheitlichen‘ Heilungsansprüchen nicht klar vornimmt, muss dabei kritisch angefragt werden. Im Blick auf einen von seinem Standpunkt aus angemessenen theologisch akzentuierten Gesundheitsbegriff hält Eibach eine Weiterung des Begriffs für notwendig, welche die Störungen und das unvermeidliche Leiden eines Lebens integriert.346 Neben dieser systematisch-theologischen Perspektive ist auf die interdisziplinäre Publikation „Heilung – Energie – Geist“ zu verweisen, die mit deutlichem zeitlichem Abstand 2005 erschien. Der häufig zitierte Sammelband wurde vom Professor für Religionspädagogik Werner H. Ritter347 und dem Pfarrer und Leiter des Forschungs- und Informationszentrums Neue Religiosität Bernhard Wolf herausgegeben.348 In seinem Beitrag „Heilung, Energie, Geist als wissenschaftliche Herausforderung“ stellt Ritter seine Sicht auf die Phänomene und gesellschaftlichen Entwicklungen im Kontext von Gesundheit und Religion pointiert dar. So konstatiert er Defizite auf beiden Seiten: Die auf Technik und Medikamente reduzierte moderne Medizin wecke das Bedürfnis nach einer ‚anderen Medizin‘, die 345 Ebd. S. 23. 346 Vgl. Ebd. S. 48. Hier findet sich eine Ähnlichkeit zu der Gesundheitsvorstellung der Stress-Coping-Modelle. Das Verhältnis zu Krankheit und Gesundheit ist nur einer von verschiedenen thematischen Bezugspunkten, die Eibach zu seinem Fokus des ‚ganzheitlichen Denkens‘ korreliert. Er fragt auch nach den Herausforderungen, die dieses Denken der Theologie stellt und hat dabei als Gegenüber v. a. die New-AgeBewegung im Blick. 347 Ritter ist v. a. über seine Beiträge zum Erfahrungsdiskurs in der Religionspädagogik bekannt, vgl. Ritter, Werner H.: Erfahrungsdiskurs. Glaube und Erfahrung im religionspädagogischen Kontext. Die Bedeutung von Erfahrung für den christlichen Glauben im religionspädagogischen Verwendungszusammenhang. Eine grundlegende Studie. Göttingen 1989. 348 Heilung – Energie – Geist. Heilung zwischen Wissenschaft, Religion und Geschäft. Hrsg. v. Werner H. Ritter und Bernhard Wolf. Göttingen 2005.
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dem Subjekt (wieder) gerecht werde und heile statt zu behandeln – die Theologie, die sich „mit der Wissenschafts- und Rationalitäts-Kultur überidentifiziert“349, führe zur Sehnsucht nach einer ‚anderen Theologie‘, in der Heilung, Energie und Geist nicht skeptisch bis ablehnend behandelt würden, sondern eine tragende Rolle spielten. Aufgrund dieser Defizite könnte weder die eine noch die andere Disziplin allein befriedigende Antworten für das moderne Individuum bieten. Dass die akademische disziplinäre Trennung lange maßgeblich war, zunehmend aber von der Praxis her überwunden und überholt werde, verdeutlicht Ritter mithilfe eines Bultmann-Zitats, welcher „[i]n einer Art Ausschlussklausel“350 formuliert habe: ‚Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen […] und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testamentes glauben.‘ Man kann nicht!351
Dem hält Ritter entgegen: Längst können sie [die Menschen, Anm. P. S.] beides: nämlich moderne Technik nutzen und für Geist/Spiritualität und Heilung (Wunder) offen sein, wissenschaftliche Medizin in Anspruch nehmen und zu Heilerinnen und Heilern gehen.352
Vor diesem Hintergrund votiert Ritter für einen neuen interdisziplinären Dialog und plädiert für eine Haltung der Parallelität, der „Gleichzeitigkeit verschiedener Wissensformen“353. Wenn in diesem Sinne Gesundheit und Heilung als Thema aus der klaren Dichotomie von vergeistigtem Weltbild und kausal-naturwissenschaftlichen Erklärungsmustern herausgelöst werde, entstünden Perspektiven, die sowohl biblisch-theologisch anschlussfähig als auch alltagstauglich seien, wie Ritter durch Alltagsbeobachtungen und biblische Zitate bekräftigt. In diesem Sinne wirbt der Autor für eine integrierende Perspektive jenseits der disziplinären Segmentierung. Dass der von Ritter geforderte Dialog in der Folgezeit durchaus 349 Ritter, Werner H.: Heilung, Energie, Geist als wissenschaftliche Herausforderung. In: Heilung – Energie – Geist. Heilung zwischen Wissenschaft, Religion und Geschäft. Hrsg. v. Werner H. Ritter und Bernhard Wolf. Göttingen 2005. S. 19. (künftig zitiert als: Ritter: Heilung, Energie, Geist). 350 Ritter: Heilung, Energie, Geist. S. 20. 351 Ebd. S. 20. 352 Ebd. S. 22. Hervorhebung im Original. 353 Ebd. S. 25. Dass die Idee der Gleichzeitigkeit der Wissensformen bzw. die Umsetzung einer energie- und geist-reichen Theologie weitreichende Konsequenzen nach sich zieht, zeigen etwa die Entwürfe von Josuttis. Auch für religionspädagogische Kontexte kann nach den Auswirkungen einer solchen Perspektive gefragt werden.
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in Gang gekommen ist, zeigen die interdisziplinären Tagungen und (daraus entstandene) Sammelbände zum Thema.354 Einer dieser Sammelbände ist das sehr umfangreiche, 2009 erschienene Buch „Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft“, das aus einem Forschungsprojekt der Praktischen Theologin Isolde Karle und des Systematischen Theologen Günter Thomas entstanden ist. In ihrem Beitrag „Die Sehnsucht nach Heil und Heilung in der kirchlichen Praxis“ stellt Karle eine verstärkte Aufmerksamkeit für Heilung und Heil in der kirchlichen Praxis und der theologischen Reflexion fest und verweist darauf, dass in diesem Diskurs ein Verständnis von Heilung zum Tragen komme, welches eine „spirituelle, seelische und körperliche Dimension“355 beinhalte. Den Fokus richtet die Theologin in ihrem Beitrag auf das Thema Heilungs- und Salbungsgottesdienste und fragt, „warum Heilungs- und Salbungsgottesdienste in einer hoch entwickelten Gesellschaft mit einem äußerst elaborierten Gesundheitssystem auf Resonanz stoßen“356. Unter den verschiedenen Motiven für das zunehmende Interesse nennt Karle u. a. die funktionale Ausdifferenzierung, die Professionalisierung und Medikalisierung. Zugleich identifiziert sie einen Transzendenzverlust, wodurch „Gesundheit […] Gott als höchstes Gut gewissermaßen abgelöst [hat] und […] religiös verklärend zum Kultobjekt“357 geworden sei. Vor diesem Hintergrund ließen sich kirchliche Angebote wie Heilungs- und Salbungsgottesdienste zunächst einmal als Ausdruck der gesamtgesellschaftlichen Konjunktur von Gesundheit verstehen und von einer Kultur, die „dazu tendiert, Heil und Gesundheit miteinander zu identifizieren“358. Zugleich wertet Karle diese Gottesdienste auch als Ausdruck einer Solidarität gegenüber denjenigen, die nicht am Heil in Form von Heilung und Gesundheit Anteil haben. Darin würdigt
354 Vgl. das Forschungsprojekt „Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft“, das in den Jahren 2005/06 insgesamt drei interdisziplinäre Symposien veranstaltete und aus deren Beiträgen einen Sammelband erstellte: Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch. Hrsg. v. Günter Thomas und Isolde Karle. Stuttgart 2009. Auch der Band „Religion und Krankheit“ geht auf ein Symposium zurück, zu dem 2008 ReferentInnen unterschiedlicher Forschungsrichtungen nach Heidelberg geladen wurden. Vgl. Religion und Krankheit. Hrsg. v. Georg Etzelmüller und Annette Weissenrieder. Darmstadt 2010. 355 Karle: Sehnsucht nach Heil und Heilung. S. 543. 356 Ebd. S. 545. 357 Ebd. S. 547. Hervorhebung im Original. 358 Ebd. S. 547.
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sie die Angebote explizit in ihrer „leib-seelisch-geistlichen Zuwendung“359, die „von vielen Menschen als heilsam und stärkend“360 empfunden werde. Besonderen Wert legt Karle darauf, die Differenzierung von Heil und Heilung, die sich „in vieler Hinsicht als segensreich und effektiv“361 erwiesen habe, beizubehalten. Dabei gehe es nicht um eine strikte Trennung, Heilung und Heil seien in vielerlei Hinsicht aufeinander bezogen. Zentral sei die Differenzierung aber als Vorbehalt gegenüber Schuldzuschreibungen, als Widerstandsmoment und im Aufzeigen von Grenzen. Bei allem Einfluss, den Menschen auf ihre Gesundheit und Heilung nehmen (können), bleibt das religiöse Heil als absolut unverfügbar anzunehmen. „Heil kann keine sinnvolle therapeutische Zielsetzung sein […].“362 Das Ideal der Ganzheitlichkeit ist ein moderner Heilsmythos, der uns daran hindert, das uns lebbare Leben mit seinen Brüchen und Schwächen zu leben. Die Lebenslüge vollkommenen Glücks erstickt unsere schüchternen und unvollkommenen Versuche zu leben im Keim. Wer die wirklichen Härten und Wunden – gerade im Fall von Krankheit – ernstnehmen will, muss auf das große Krisenpathos verzichten […]. Nicht jeder ist krank – die inflationäre Rede von Krankheit entwertet all diejenigen, die tatsächlich krank sind […]. Dies gilt es bei der Rede von Heil und Heilung […] zu beachten. Der Grund für die subjektive Empfindung von Mangel ist nicht in jedem Fall zu wenig Erfüllung oder zu wenig Gesundheit, sondern zuviel Erwartung.363
In diesem Sinne sieht Karle die Herausforderung des theologischen Diskurses wie des praktischen religiösen Handelns darin, gegenüber gesellschaftlichen Verabsolutierungstendenzen einen begrenzenden Vorbehalt und einen „heilsamen Realismus“364 zu vertreten. Ist das Christentum eine Religion der Heilung und wie verhält es sich zu Heilungsansätzen seiner Umgebung? Diese Frage eröffnet den Leitartikel von Annette Weissenrieder und Georg Etzelmüller in dem von ihnen herausgegeben Band „Religion und Krankheit“ von 2010.365 In diesem fragen verschiedene Autoren 359 Ebd. S. 548. 360 Ebd. S. 548. 361 Ebd. S. 548. 362 Ebd. S. 550. 363 Ebd. S. 554f. Hervorhebung im Original. 364 Ebd. S. 556. 365 Weissenrieder, Annette und Georg Etzelmüller: Christentum und Medizin. Welche Kopplungen sind lebensförderlich? In: Religion und Krankheit. Hrsg. v. Georg Etzelmüller und Annette Weissenrieder. Darmstadt 2010. (künftig zitiert als: Weissenrieder und Etzelmüller: Christentum und Medizin).
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nach dem Verhältnis von Religion sowohl zu Heilkulten als auch zu naturwissenschaftlich-rationaler Medizin. Beleuchtet wird in jeweils unterschiedlichen historischen Kontexten und Epochen die Auseinandersetzung des Christentums mit den es umgebenden Heiltraditionen. Im Fokus stehen die Besonderheiten des Corpus Hippocraticum, die Auseinandersetzung des neutestamentlichen Christentums mit antiken Heilkulten, die Rezeption alttestamentlicher Heiltraditionen im frühen Christentum sowie die reformatorischen Bewegungen. Der Leitartikel nimmt in systematisch-theologischer Perspektive auf die Deutung von Krankheit als Strafe Gottes Bezug. Vor paulinischem Hintergrund seien, so die Autoren, die Konsequenzen des eigenen Verhaltens betont worden, die „mit seelischen und körperlichen Folgen“366 für andere und die eigene Person einhergingen. Dass diese Deutung von Krankheit höchst problematisch sei, zumal, da sie historisch lange als „die christliche Deutung“367 gegolten habe, werde in ihrer langen Tradition bis in die Spätmoderne hinein sichtbar. Wenn sich das Christentum als Religion der Heilung in der Nachfolge Jesu Christi versteht, dann muss es zuallererst dieser Deutung von Krankheit entgegentreten. Wenn Christus die Kranken, die ihn um Hilfe baten, nicht auf ihre Schuld angesprochen, sondern allein ihre Not gesehen hat, dann sollte auch die Kirche Menschen mit Krankheiten als notleidende und nicht als sündige ansprechen und behandeln.368
Dieser fatalen Deutung halten die Autoren entgegen: Nicht Krankheit ist Folge von Sünde, sondern dass wir Krankheit als selbstverschuldete Strafe deuten, ist Ausdruck der Macht der Sünde, der wir immer wieder erliegen.369
Vor dieser Tradition plädieren Weissenrieder und Etzelmüller für einen entschiedenen Widerstand gegen (diese Deutung von) Krankheit als die Haltung, welche christliche Religion einnehmen und stärken sollte. Eine entsprechende religiöse (etwa liturgische) Praxis sei daher geboten, um das Christentum als „Religion der Heilung“ sichtbar zu machen.370 Die 2013 erschienene Monographie von Hans-Martin Rieger „Gesundheit. Erkundungen zu einem menschenangemessenen Konzept“ entwirft auf der Grundlage des aktuellen Diskurses um Gesundheit, Krankheit, Heilung und Heil in der 366 Weissenrieder und Etzelmüller: Christentum und Medizin. S. 26. 367 Ebd. S. 27. Hervorhebung im Original. 368 Ebd. S. 27. 369 Ebd. S. 28. 370 Ebd. S. 30ff.
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Theologie und unter Bezugnahme auf verschiedene historische und philosophische Konzepte einen eigenen Vorschlag zur Konzeptualisierung eines theologisch verantworteten Gesundheitsverständnisses. Zunächst konstatiert Rieger die hohe gesellschaftliche Relevanz des Themas, indem er auf die Implikationen verweist, die „Gesundheit als Zukunftsthema“371 mit sich bringe. Gesundheit werde im beginnenden 21. Jh., im Zeitalter einer „Gesundheitsgesellschaft“372, als höchster Wert verstanden, der zugleich als machbar gilt und damit verbunden zu einem wichtigen wirtschaftlichen Wachstumsmotor geworden sei.373 Die Medizin habe durch ihre Entwicklung zur technisch-funktionalen Naturwissenschaft dazu geführt, vormals schicksalhaft Hinzunehmendes als Behandelbares zu verstehen. Das Verhältnis des modernen Menschen zu Gesundheit und Krankheit ist Teil einer Geschichte, deren Formel lautet: Depotenzierung des Schicksals, Potenzierung der Machbarkeit.374
Als negative Parallelentwicklung dieser Machbarkeitsauffassung entstehe ein zunehmender Imperativ einer entsprechenden Umsetzung: Die Kehrseite der Zunahme von ‚Machbarkeit‘ ist ihr in Pflicht nehmender Charakter. Auf der ersten Stufe lautet es meist: Was machbar ist, soll auch gemacht werden können! Auf der zweiten Stufe heißt es dann: Was machbar ist, soll auch gemacht werden! Auf der dritten schließlich: Was machbar ist, muss auch gemacht werden! Die Vorstellung von einer Zieloffenheit der naturwissenschaftlich orientierten Medizin käme einer Illusion gleich, würde sie missachten wollen, dass zwischen Tun und Lassen immer schon ein großes Ungleichgewicht besteht.375
Vor diesem Hintergrund leitet sich für Rieger die Frage nach einer „menschenangemessenen“ (theologisch profilierten) Perspektive auf Krankheit und Heilung und deren anthropologische Grundannahmen ab. Dafür nimmt er zunächst eine Rekapitulation verschiedener medizinischer und philosophischer Gesundheitsund Krankheitsbegriffe vor und befragt diese jeweils auf ihre anthropologischen Grundlagen.376 Zum Abschluss dieses Durchgangs fokussiert Rieger auf eine theo371 Rieger: Gesundheit. S. 9. 372 Ebd. S. 9. 373 Vgl. ebd. S. 9. 374 Ebd. S. 18. 375 Ebd. S. 20. 376 Beginnend mit Galens Humoralpathologie spannt Rieger den Bogen über Hildegard von Bingen und ihr Verständnis einer Unabhängigkeit von äußerlichem, körperlichem
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logische Perspektive und stellt heraus, dass Leiblichkeit theologisch zugleich als Gabe und Aufgabe gilt, sofern sie kontingent gegeben und geworden ist, aber ein Recht auf Erhaltung und Pflege in sich berge. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungslinien erstellt Rieger einen eigenen Vorschlag eines menschenangemessenen Gesundheitsverständnisses. Er hält es für zentral, dass Gesundheit als mehrdimensionales und dynamisches Modell gedacht wird, denn „Menschen sind nicht entweder gesund oder krank, sie sind mehr oder weniger gesund oder krank“377, was sich auf unterschiedlichen Ebenen äußern kann. Dabei müssen die Komponenten Funktionsfähigkeit und Umgangsfähigkeit so miteinander korreliert gedacht werden, dass sie verschiedene Grade an Fähigkeiten und Einschränkungen abbilden können. Da dieses Modell auch einschließt, mit Krankheiten oder Einschränkungen ‚gesund‘ umzugehen oder aber sich trotz hoher körperlicher Funktionsfähigkeit als nicht vollständig gesund zu empfinden, ermöglicht es eine Perspektive, die „lebenslaufsensibel und situationsvariabel“378 ist. Theologisch zielt Rieger, besonders mit seinem letzten Kapitel, auf die essentielle theologische Leitdifferenz von Heilung und Heil. Unter Aufnahme der Unterscheidung Bonhoeffers zwischen Letztem und Vorletztem plädiert Rieger für eine „Gesundheitstranszendenz“379, die nicht Gesundheit um ihrer Selbst willen Gesundheitszustand und innerer, geistlicher Krankheit oder Gesundheit hin zu Paracelsus und seiner fundamental verändernden Annahme einer Wirkursächlichkeit im Kontext körperlicher Vorgänge. Für das 19. Jh. wird Rudolf Virchow mit seinem zellularpathologischen Konzept herausgehoben. Viktor von Weizsäcker nimmt Rieger als Beispiel für die psychosomatische Auffassung, Krankheit lasse sich erst in der Begegnung mit dem kranken Menschen erfassen. Der 1971 veröffentlichte Grundriss von Medard Boss fokussiert unter dem Vorzeichen einer daseinsanalytischen Medizin auf die Bestimmung eines Krankheitsbegriffs und arbeitet dabei die für Rieger wichtige Grundlage heraus, Krankheit habe v. a. mit einem veränderten Selbst- und Weltverhältnis zu tun und werde insofern erst über die Veränderungen durch den Verlust der Gesundheit thematisch. Als weitere Entwürfe werden Georges Canguilhems Verständnis von Gesundheit als Normalität und Normativität aufgenommen, die leibphänomenologische Auffassung des Vorgegebenseins und der Unverfügbarkeit des Leibes und damit verbunden einer Fremdheitserfahrung in der Krankheit und schließlich die salutogenetische Konzeption Antonovskys. Vgl. Rieger: Gesundheit. S. 54ff. 377 Rieger: Gesundheit. S. 187. Diese Auffassung greift die inhaltliche Bestimmung von Krankheit und Gesundheit im Sinne eines Kontinuums von Antonovsky auf. 378 Ebd. S. 209. 379 Ebd. S. 220. Anders als Karle kann Rieger eine ‚Gesundheitstranszendenz‘ positiv verstehen, indem sich sein Fokus nicht auf eine zu kritisierende Transzendierung einer
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in den Mittelpunkt stellt, sondern sie darüber hinaus einordnet in den „teleologischen Rahmen der Frage nach dem Lebensziel bzw. dem Lebenssinn […]. Wir leben nicht, um gesund zu sein, sondern wir […] wollen gesund sein, um zu leben.“380 Mit dieser Ausrichtung auf das Wozu hinter dem Wunsch nach Gesundheit zeigt sich der theologische Vorbehalt und die existentielle Orientierung in Riegers Modell: In theologischer Hinsicht wird damit bereits der Struktur nach einem wichtigen Aspekt der erwähnten grundsätzlichen Differenz von Heil und Heilung entsprochen: Heil als das heilvolle Zusammensein mit Gott und Mitmenschen […] ist mehr als Heilung und Gesundheit. […] Zugleich kommen Heilung und Gesundheit als fragmentarischer Verkörperung des Heils […] die Bedeutung eines herausragenden Hinweiszeichens für das Ganze des Heils zu.381
Aus der Arbeitsgruppe um Isolde Karle und Günter Thomas ging auch die 2016 erschienene Dissertation von Sabine Winkelmann „Religiöse Deutungen in schwerer Krankheit“382 hervor. Diese empirische Studie verknüpft Religion und Krankheit in der Weise, als hier mit dem Fokus auf schwerst erkrankte Menschen nach den Möglichkeiten des Umgangs mit der einschneidenden Erfahrung Krankheit gefragt wird; der Blick richtet sich so auf (religiöse) Coping-Strategien. Dabei wird auch auf die gesellschaftlichen und religiösen Veränderungsprozesse wie Ausdifferenzierung oder Medikalisierung Bezug genommen.383 Zudem wird die Differenzierung von Heilung und Heil explizit hervorgehoben: Um Krankheit aus theologischer Sicht zu reflektieren, muss zunächst der Tatsache Rechnung getragen werden, dass das Leiden an einer Krankheit körperlich erfahren wird und damit der medizinisch-anamnetische Aspekt immer eine Rolle spielt. Die menschliche Existenz ist als leiblich und weltlich ernst zu nehmen. Aus religiöser Perspektive kann eine Heilung somit Teil der Erfahrung von Heil sein, doch lassen sich Heilung und Heil nicht einfach als deckungsgleich identifizieren.384
absolut gesetzten Gesundheit richtet, sondern gerade auf die Erweiterung des Gesundheitsverständnisses um eine transzendente Komponente des ‚Wozu?‘. 380 Ebd. S. 221. 381 Ebd. S. 221. 382 Winkelmann: Religiöse Deutungen. 383 Vgl. Ebd. S. 5ff. 384 Ebd. S. 4.
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Wenn auch die „Präsenz […] einer breiten Vielfalt an mehr oder weniger religiösen Deutungskulturen“385 neben kirchlich verfasster Religiosität angenommen wird und Winkelmann davon ausgeht, dass dies „entsprechende[…] Auswirkungen im Problemfeld Gesundheit/Krankheit“386 nach sich ziehe, liegt der Fokus der Studie klar auf einer kirchlich-religiösen Perspektive. Die Interviews fragen gezielt danach, welche Rolle Glaube oder Religion für die PatientInnen spielen oder ob die PatientInnen bspw. glauben, „Gott [habe] irgendetwas mit ihrer Krankheit zu tun“387 Die Nähe der Untersuchung zu den Arbeiten und Fragen der CopingModelle wird deutlich und fokussiert sich bei Winkelmann darauf, was religiöse Coping-Modelle für Menschen leisten können. Die evangelische Kirche reagierte seit dem Ende der 1990er Jahre auf die beobachteten Veränderungen auf dem Gesundheitsmarkt.388 Mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung wurden Themen aufgegriffen, die als relevant für die Kirchen und ihre Mitglieder im Diskurs um Gesundheit und Religion erachtet wurden. Die thematische Weite des Feldes bildet sich dabei auch in der Breite der behandelten Themen von alternativ-medizinischen Methoden über Spiritualität im Heilungsprozess bis hin zu Wellness ab. Einige wichtige Publikationen seien hier exemplarisch genannt. Aus dem Jahr 1995 stammt das Buch „Medizin, Magie, Moral. Therapie und Weltanschauung“389, in dem der damalige Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW)390 Michael Nüchtern aus dezidiert christlich-
385 Ebd. S. 8. 386 Ebd. S. 8. 387 Ebd. S. 239. 388 Auch von katholischer Seite gab es Publikationen zur Verhältnisbestimmung von Religion und Medizin, die auf die gesellschaftlichen Entwicklungen reagierten, vgl. z. B. den Band: „Was macht uns gesund?“ von 2006. Diese im Nachgang einer Tagung der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg entstandene Publikation vereint Beiträge renommierter (nicht nur katholischer) WissenschaftlerInnen, darunter von Anne Koch, Dietrich Korsch, Eckhard Frick u. a. Vgl. Was macht uns gesund? Heilung zwischen Medizin und Spiritualität. Hrsg. v. Verena Wetzstein. Freiburg i. Br. 2006. 389 Nüchtern, Michael: Medizin, Magie, Moral. Therapie und Weltanschauung. Mainz, Stuttgart 1995. (künftig zitiert als: M. Nüchtern: Medizin, Magie, Moral). 390 Die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen ist eine Institution der Evangelischen Kirche in Deutschland, die „religiöse und weltanschauliche Strömungen und Gemeinschaften der Gegenwart“ wissenschaftlich untersucht, dokumentiert und als Auskunfts- und Beratungsstelle dient. Zudem wird die Beobachtung religiösweltanschaulicher Entwicklungen und die Klärung ihrer Bedeutung für die Evangeli-
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beratender Perspektive die Voraussetzungen und „Weltanschauungen“391 unterschiedlicher „naturwissenschaftlicher“392 und „alternativer“393 Medizinmethoden gegenüberstellt und in einen theologischen Kontext einordnet. Besonders wird dabei hervorgehoben, dass die Gemeinsamkeit und Stärke alternativer Therapien in der „Radikalität ihres Ausgangspunkts beim Einzelfall und beim einzelnen Subjekt“394 liege. In beratender Diktion weist M. Nüchtern darauf hin, dass Weltanschauungen machtwirksam seien – auch und gerade, wenn sie nicht offen kommuniziert würden, wie dies in therapeutischen Angeboten häufig begegne.395 Eine häufig in der einschlägigen Literatur zitierte Publikation396 ist das von der Ärztin Elisabeth Nüchtern geschriebene und von der EZW herausgegebene Heft „Was Alternativmedizin populär macht“397. Dabei befasst sich E. Nüchtern mit der Attraktivität medizinischer Außenseitermethoden und zeigt, wie diese ihre Inhalte über Semantiken wie „Individualität“398, „Ganzheitlichkeit“399 oder „Natürlichkeit“400 als „Verheißungen“401 platzierten und so PatientInnen für komplementäre Methoden gewönnen. Besonders betont E. Nüchtern dabei die Deutungsinkongruenzen, die sowohl zwischen den Begründungszusammenhängen verschiedener alternativmedizinischer Angebote als auch gegenüber der naturwissenschaftlichen Medizin entstünden. Jeder einzelne Therapeut und jeder, der seine Gesundheit mit komplementärmedizinischen Mitteln stärken will, kann voller Überzeugung auf die je propagierte Methode setzen. Wer jedoch die Fülle der Methoden aus einigem Abstand betrachtet, dem will es nicht gelingen, sche Kirche zu den Aufgaben dieser Institution gezählt. Vgl. http://www.ezw-berlin. de/html/7.php, aufgerufen am 27. Juni 2016. 391 M. Nüchtern: Medizin, Magie, Moral. S. 16; 33 u. ö. 392 Ebd. S. 16ff. 393 Ebd. S. 33ff. 394 Ebd. S. 33ff. 395 Ebd. S. 10ff. 396 Zitiert z. B. in: Ritter: Heilung, Energie, Geist; Wolff, Eberhard: Alternativmedizin und Gesundheitsgesellschaft – kulturelle Hintergründe einer anhaltenden Popularität. In: „Neue“ Wege in der Medizin. Alternativmedizin – Fluch oder Segen? Hrsg. v. Raymond Becker u. a. Heidelberg 2010. S. 177-185. 397 Nüchtern, Elisabeth: Was Alternativmedizin populär macht. EZW-Texte 139. Berlin 1998. (künftig zitiert als E. Nüchtern: Alternativmedizin populär). 398 E. Nüchtern: Alternativmedizin populär. S. 5. 399 Ebd. S. 6. 400 Ebd. S. 6. 401 Ebd. S. 5.
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die unterschiedlichsten Verfahren gleichzeitig gelten zu lassen. Er kann nicht gleichzeitig glauben, daß Krankheit Folge gestörten Energieflusses sei, wovon die Akupunktur ausgeht, und der Qi-Fluß durch Einstiche in den Körper korrigiert werden kann; daß sie Folge falscher Ernährung sei und Gesundheit durch radikale Diäten (beispielsweise Krebs-Diäten“ [sic!]) wiedergewonnen wird; daß sie auf krankmachenden elektromagnetischen Strahlen beruht und durch Berührung eines kleinen Kästchens, das die Strahlen sortiert, zurechtgerückt wird; daß sie aus dem Blick in die Iris oder auf die Handlinien erkannt, durch Massage des Fußes, durch einen Magneten, durch Darmspülung, Frischzellen oder durch Verbrennung von Substanzen auf der Haut geheilt werden kann.402
Im Kontext des Diskurses um Religion und Medizin ist zudem E. Nüchterns Auseinandersetzung mit der Frage signifikant, inwieweit sich das zunehmende Interesse an Alternativmedizin mit der schwindenden Bindungskraft religiöser Institutionen erklären lasse: [Es] könnte der Gedanke naheliegen, die Zunahme nicht rational begründeter Verfahren in der Medizin hänge zusammen mit nachlassender Bindungskraft der großen Religionen und dem bleibenden menschlichen Bedürfnis nach Halt gebenden Riten […]. Bei einzelnen, sehr aufwendigen Methoden, die den Lebensalltag ihrer Anhänger völlig bestimmen, trifft dies sicher zu. Als Erklärung für das Phänomen insgesamt trägt diese Hypothese jedoch nicht. Viel zu wenig bindet die Komplementärmedizin […] – gerade der Methodenpluralismus, das Hüpfen von einer Methode zur andern, ist ja ein Kennzeichen der Alternativmedizin.403
Dass E. Nüchtern davon ausgeht, der Methodenpluralismus alternativmedizinischer Angebote lasse sich nicht mit der These vereinbaren, Alternativmedizin fülle möglicherweise eine Leerstelle, die im Kontext spätmoderner Religiosität und schwindender Kirchenbindung entstand, ist vor dem Hintergrund einer Vorstellung von Religionspatchwork nicht plausibel.404 Hier ist vielmehr mit einem Verständnis moderner fluider Religiosität nach Analogien und Differenzen zu fragen. In den 2000er Jahren erscheinen mehrere Hefte zum Themenbereich Gesundheit, Wellness und Religion in der Schriftenreihe der EZW. Während sich die Publikation „Kann Glauben gesund machen? Spiritualität in der modernen
402 Ebd. S. 18. 403 Ebd. S. 26. 404 Vgl. die Ausführungen zum religionshermeneutischen Zugriff dieser Arbeit unter 4.4 sowie entsprechende Publikationen wie Knoblauch, Hubert: Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft. Frankfurt 2009. (künftig zitiert als: Knoblauch: Populäre Religion).
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Medizin“405 von 2005 auf Spiritualität als Ressource, auf das Krankenhaus als Ort der Arzt-Patienten-Begegnung und Aufgabe der Spiritual Care fokussierte, stand ein Jahr später mit dem Heft „‚Du salbest mein Haupt mit Öl …‘ – Wellness – Körperkultur oder Sinnfrage?“406 die Frage nach dem Verhältnis von Leiblichkeit, Anthropologie und Verheißungen durch eine vom Gesundheitsimperativ dominierte Gesellschaft im Vordergrund. Reinhard Hempelmann stellt dann 2007 fest, ‚ganzheitliche‘ Heilungsansätze seien zentrales Thema neuer Religiosität; zugleich gibt das Heft eine Orientierungshilfe für das Wechselverhältnis von „Christliche[r] Identität, alternative[n] Heilungsansätzen und moderne[r] Esoterik“.407 Eine Sammlung verschiedener Beiträge legte die VELKD 2011 vor, um einige Schlaglichter auf alternative Medizinmethoden und Perspektiven der Heilung zu werfen.408 3.2.2.2.1 Z wischenfazit: Krankheit und Gesundheit als Thema der Religionskultur
Verbunden mit dem Abblenden der Leiblichkeitsthematik wurde auch das Thema Krankheit und Heilung in der Theologie wie der christlich-religiösen Praxis über lange Zeit nicht explizit verhandelt. Die Frage eines spezifisch theologischen Umgangs mit Krankheit und Heilung wurde ebenso wie die der Verhältnisbestimmung von Religion zur Medizin in der Theologie erst im späten 20. Jh. aufgegriffen und etwa seit der Jahrtausendwende vertieft thematisiert. Die Entwicklungen verliefen weitgehend parallel in verschiedenen Theorie- und Praxisfeldern, so dass sich die Diskurse aus Humanwissenschaften, Theologie sowie Praxis überlagerten. Während v. a. in den Publikationen der 1990er Jahre (vgl. Eibach, EZW-Texte) auch eine Auseinandersetzung mit angrenzenden Diskursen wie dem ‚Ganzheitlichkeitsdiskurs‘ stattfindet, legen die jüngeren, seit den 2000er Jahren erschienenen Texte den Fokus stärker auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und ringen um einen theologisch und anthropologisch angemessenen Krankheits- bzw. Gesundheitsbegriff.
405 Kann Glauben gesund machen? Spiritualität in der modernen Medizin. Hrsg. v. Simone Ehm und Michael Utsch. EZW-Texte 181/2005. 406 ‚Du salbest mein Haupt mit Öl …‘ Wellness – Körperkultur oder Sinnfrage? Hrsg. v. Ulrich Dehn und Erika Godel. EZW-Texte 183/2006. 407 Christliche Identität, alternative Heilungsansätze und moderne Esoterik. Hrsg. v. Reinhard Hempelmann. EZW-Texte 191/2007. 408 Heil und Heilung – Beobachtungen aus dem Arbeitskreis Religiöse Gemeinschaften der VELKD. Texte aus der VELKD 156/2011.
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Als theologisches Spezifikum erweist sich dabei die Bestimmung und unbedingte Aufrechterhaltung der Differenz von Heilung und Heil. V. a. Karle und Rieger heben diese Unterscheidung hervor und profilieren ein theologisches Verständnis von Gesundheit und Heilung, das weder in körperlicher Funktionsfähigkeit aufgeht noch Gesundheit als transzendentes Gut überhöht, sondern in Heilung und Gesundheit besondere, doch aber fragmentarische „Hinweiszeichen[…] für das Ganze des Heils“409 sieht. Mit dieser Ausrichtung sind diese theologischen Positionen unbedingt hervorzuheben. Dennoch bleibt die epistemische Trennung bestehen. Während die Religionstheorie die Relevanz des Themas Krankheit und Gesundheit für Religion erschließt, findet auf diskursiver Ebene kaum eine Auseinandersetzung statt. Von Seiten der Medizin richtet sich das Dialogangebot nicht an die akademische Theologie, sondern an die praktische Religion, wie sich bspw. in der Idee zeigt, ‚Spiritualität‘ als eigenständigen Faktor in den Behandlungsprozess einzubeziehen. Der Blick auf die Reflexionen religiöser Praxis hat zudem deutlich gemacht, dass die Verhältnisbestimmung von Religion und Medizin, sofern sie Medizin als alternative Heilkunde fokussiert, v. a. von Abgrenzungsbestrebungen geprägt ist. Eine mögliche Religionsoffenheit (alternativ-)medizinischer Kontexte kommt nicht in den Blick. Auch dadurch erhalten die AutorInnen die systemische Trennung aufrecht.
3.3 FAZIT Der exemplarische Durchgang durch die Medizin- und Religionstheorie hat eine differenzierungstheoretisch plausible Genealogie sichtbar werden lassen. Die zunehmende Ausdifferenzierung und professionelle Profilierung v. a. seit dem 19. Jh. haben sich in den gesellschaftlichen Teilbereichen Medizin und Religion in einer hochgradig funktionalen Spezialisierung abgebildet. Einerseits ermöglichen Spezialisierung und Professionalisierung große Erkenntnisgewinne innerhalb einzelner Fachbereiche. So ist für beide Systeme deutlich geworden, dass sie sich als selbständige Disziplinen etabliert und institutionalisiert und dabei ihre je spezifische inhaltliche Abgrenzung sowie eine eigene Methodik herausgebildet haben. Die technisch-funktional orientierte Medizin wurde als Naturwissenschaft erfolgreich und generierte ihr Wissen dabei vorwiegend auf experimentellem Wege. Mit ihren Erfolgen einhergehend entwickelte sich eine Idee der Machbarkeit von Gesundheit. Heilung wird als grundsätzlich verfügbar gedacht. Die Praktische Theologie als Theorie gelebter Religion hat sich in ihrer wissenschaftlichen Entwicklung ebenfalls spezialisiert und ausdifferenziert und 409 Rieger: Gesundheit. S. 221.
Fazit | 125
dabei zugleich ein geistig orientiertes Paradigma entwickelt, welches in einer vorwiegend intellektuell entkoppelten Theoriebildung und einer verinnerlichten Praxis deutlich wird. Der Mensch als leibliches Wesen geriet als Ort der Erfahrung und Voraussetzung des unverfügbaren Heils aus dem Blick. Auf beiden Seiten geht die epistemische Trennung mit einer Reduktion der Komplexität konkreter lebensweltlicher Phänomene einher410 und die Diskurse in Theorie und Praxis werden zunehmend als einseitig bzw. verkürzt empfunden. Als Reaktion darauf werden in der Folge die Grenzbereiche der Systeme durchlässig: In der Praxis lassen sich mehr und mehr Phänomene identifizieren, die sich einer Zuordnung innerhalb der klaren Grenzen entziehen. Neue Diskurse entstehen (und greifen ältere Traditionen auf), bewusst werden Perspektivwechsel angeregt und vorgegebene Denkwege in Frage gestellt. Die v. a. seit den 1970er und 1980er Jahren entstandenen Entdifferenzierungsdiskurse wurden hier exemplarisch nachgezeichnet. Von medizinischer wie religiös-theologischer Seite ausgehend sind vornehmlich aus der Praxis Ansätze entstanden, die – trotz der Anerkennung der Leistungen spezialisierter Disziplinen – deren Begrenztheit hervorheben und damit den Anspruch der umfassenden lebensweltlichen Angemessenheit hochspezialisierter Systeme hinterfragen. In den dargestellten Diskursen zeigt sich dies besonders im Blick auf anthropologische Grundfragen. Hier wird für die Medizin eine Aufnahme psychischer, sozialer, kultureller bzw. spiritueller Aspekte gefordert und z. T. aufgenommen, während in Religionspraxis und Theologie die Öffnung einer leiborientierten Perspektive angeregt wird. Die Attraktivität dieser Entdifferenzierungsdiskurse speist sich dabei u. a. aus ihrer kritischen Funktion und dem Anspruch einer gegenüber den Spezialdiskursen größeren Wirklichkeitsnähe. Die Breitenwirkung dieser Diskurse bleibt dabei jedoch beschränkt. Sie finden ihren Ausdruck v. a. in den Randbereichen der Praxis sowie in Theoriediskursen, werden aber innerhalb der systemtragenden Institutionen erst einmal nur sehr begrenzt umgesetzt. Vor diesem Hintergrund öffnet sich das Feld für die vorliegende Untersuchung. Alternative Heilkunde als Phänomen des Grenzbereichs institutionalisierter Medizin gerät dabei als eine Praxis in den Blick, in der sich diese Entdifferenzierungsdynamik in besonderem Maße beobachten lässt. Dabei sind für alternative Heilverfahren als medizinische Angebote grundsätzlich die Merkmale der Medizin als methodische Prämissen anzunehmen, etwa die experimentelle Methodik (wenn auch ggf. unter variierten Bedingungen) oder auch die Annahme der Möglichkeit, 410 Dabei steht außer Frage, dass die Abbildung lebensweltlicher Phänomene in Theorie immer auch eine Komplexitätsreduktion mit sich bringt. Im Blick zu behalten ist dabei jedoch das Verhältnis zwischen notwendiger Reduktion und möglicher Komplexität, um zu einer angemessenen Abbildung zu gelangen.
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Heilung bewirken und somit über den zentralen Inhalt des Angebotes verfügen zu können. Entgegen dieser Annahme weisen die Beobachtungen jedoch auf einen religionskulturellen Übergangsbereich hin, in dem nicht nur ein die systemische Trennung überwindendes Menschen- und Körperverständnis anzunehmen, sondern auch eine diese Trennung unterlaufende Deutung von Heilung anzunehmen wäre. Dies ist zu überprüfen. Die Untersuchung beleuchtet diesen religionskulturellen Grenzbereich auf der Ebene der AnbieterInnen. In den Blick genommen werden dabei Performanzen und Deutungsangebote, die sich als ‚ganzheitlich‘ darstellen und darin den Anspruch erheben, die Defizite einer epistemischen und institutionell verfestigten Differenz zu überschreiten. Untersucht wird somit ein Phänomenbereich des Übergangs, der die Frage der Zuordnung in medizinische bzw. religiöse Kontexte fokussiert. Zu klären ist also, wie sich die Vermutungen zum religionshybriden Charakter dieser Phänomene empirisch fassen und theoretisch abbilden lassen. Welche Perspektiven eröffnen sich in der Annahme eines religionshybriden Übergangsbereichs? Und wie verhält sich in den Angeboten der untersuchten AkteurInnen das nominell verfügbare Gut der Heilung zum Unverfügbaren (Heil)? Um diese Fragen in den Blick zu nehmen, greift die Untersuchung als eine Referenz auf die heuristische Idee der Religionshybride zurück. Darüber hinaus lässt sich fragen: Wenn hier Unverfügbares (Heil, Sinn, Lebensordnung) angeboten wird, wie setzt es sich durch und wird machtwirksam? Im Blick auf die Einordnung der Phänomene ist zudem zu fragen, wie traditionelle Deutungen ins Wanken geraten bzw. in Frage gestellt werden können und welche Mechanismen sich in der Entstehung eines durchlässigen Grenzbereichs zeigen. Die Deutungsmachttheorie dient zur Untersuchung dieser Fragen als zweite Referenztheorie und profiliert darüber zusätzlich die Arbeit als exemplarisches Anwendungsfeld dieses Konzepts. Beide Zugriffe und ihre Fragehorizonte deutlich zu machen sowie sie in Vorbereitung auf die Arbeit am empirischen Material zu operationalisieren, ist Gegenstand des folgenden Kapitels.
4 Eine deutungsmachtsensible religionshermeneutische Analyse
4.1 WARUM HIER VON DEUTUNG SPRECHEN? Als Heilung bezeichnet man den biologischen Prozess der Rückbildung einer Erkrankung bzw. einer pathologischen Gewebsveränderung in Richtung des gesunden Ausgangszustands. Der Heilungsvorgang basiert auf körpereigenen Reparaturmechanismen, die durch Maßnahmen eines Therapeuten ermöglicht, unterstützt oder auch nur beschleunigt werden können. Die vollständige Heilung ohne bleibende Narben oder Schäden bezeichnet man als restitutio ad integrum, während sich die Reparationsheilung (Defektheilung) definitionsgemäß unter Zurückbleiben von Schäden vollzieht.411 Heilung heißt Ganzwerdung. Sucht man den Ursprung des Begriffs gesund, stößt man auf die germanische Wurzel sunda- im Sinne von stark, kräftig. Heilung ist Ganzwerdung, der Kraft und Stärke entspringen. Kraft resultiert aus dem Miteinander unterscheidbarer Teile, die ihren jeweils passenden Platz im Ganzen einnehmen. Folglich ist Heilung ein integrativer Prozess. Dabei wird Fehlendes von Unfertigem angenommen.412
Zwei von vielen Definitionen von Heilung. Schon an diesen beiden zeigt sich, dass die Spannbreite dessen, was unter Heilung verstanden werden kann, groß ist und es ließen sich weitere Bestimmungen ergänzen.413 An den beiden hier herausge411 Exemplarisch für eine akademisch-medizinische Perspektive: Dr. med. Frank Antwerpes: http://flexikon.doccheck.com/de/Heilung. Aufgerufen am 7. Juni 2017. 412 Exemplarisch für eine holistische Perspektive: Dr. med. Michael Depner: http://www. seele-und-gesundheit.de/therapie/heilung.html. Aufgerufen am 8. Juni 2017. 413 Vgl. z. B. die Definition des Klinischen Wörterbuchs Pschyrembel: Unter Heilung wird „die Krankenbehandlung nach § 27 SGB V […], z. B. ärztliche, psychotherapeutische, zahnärztliche ambulante Behandlung, Versorgung mit Arzneimitteln, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln sowie Krankenhausbehandlung“ verstanden. Pschy-
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griffenen Beispielen zeigen sich grundsätzliche Unterschiede der im Hintergrund stehenden Referenzen. Während die erste Lesart eine funktionale Sicht auf den Menschen zugrunde legt und vor dem Hintergrund des l‘homme machine-Modells denkt, steht ihr mit der zweiten Lesart eine holistische Sicht mit Orientierung auf prozessuale und integrierende Aspekte gegenüber. Auch die Rekonstruktion der Diskurse in Kapitel 3 hat gezeigt, dass unterschiedliche Begriffe und Implikationen im Spiel sind, wenn von Krankheit, Heilung oder Gesundheit gesprochen wird. Die Differenzen zeigen sich sowohl zwischen verschiedenen Akteuren innerhalb einer Theorietradition als auch über deren Grenzen hinweg und in den fließenden interdisziplinären Übergängen. Jeweils unterschiedliche Aspekte werden in die verwendete Terminologie integriert und so wird mit äquivoken Benennungen Differentes bezeichnet. Die mitgeführten Implikationen wirken sich nicht nur in den Begründungszusammenhängen, sondern auch im Blick auf die therapeutischen Optionen aus. Gezeigt hat sich auch, dass die Prozesse historischen Wandlungen unterworfen sind. So lassen sich bestimmte Perspektiven nur zu bestimmten Zeiten fruchtbar in den Diskurs einbringen, während andere Vorstellungen außerhalb des (kollektiven) Denkhorizontes liegen.414 Jeder historische und gesellschaftliche Kontext impliziert, dass bestimmte Vorstellungen denk- bzw. sagbar sind – und andere nicht. Vor diesem Hintergrund lässt sich mit Blick auf den Phänomenbereich der vorliegenden Thematik von Deutungen sprechen. Gegenstand der Untersuchung sind vor dem Hintergrund des empirischen Materials also weniger medizinische Fakten, unzweifelhaft definierte Begriffe oder gar Objekte, sondern vielmehr Konstruktionen bzw. Deutungen. Diese verändern sich, werden verändert, lassen rembel Klinisches Wörterbuch, demgegenüber bspw. die Bestimmung der Heilpraktikerin Andrea Thomas, die in ihrem Heilungsverständnis Aspekte indianischer Kultur einbezieht und dies zu ihrer Arbeitsgrundlage macht: „Heilung [bezieht sich] nicht allein auf den Menschen selbst, sondern auf den gesamten Kosmos. […] Heilung kann also nur dadurch erfolgen, dass das Gleichgewicht zwischen Körper und Seele, Mensch und Umwelt sowie Mensch und Kosmos wieder hergestellt wird.“ http:// www.medizintipi.de/heilung-indianisch/indianische-heilkunde.html. Aufgerufen am 21. Juni 2017. Im Original nicht mehr verfügbar, Abzurufen in der Wayback Machine des Internet Archive unter https://web.archive.org/web/20161030135730/http://www. medizintipi.de/heilung-indianisch/indianische-heilkunde.html. Aufgerufen am 20. Juli 2019. 414 Exemplarisch ist hier die Einschätzung Antonovskys, sein Salutogenese-Konzept sei zum richtigen Zeitpunkt erschienen und treffe genau den Nerv der Zeit. Im Gegensatz dazu blieb die Verbreitung und Wirkung in der Anfangszeit eher gering (und es dauerte ein Jahrzehnt bis zum Erscheinen einer Übersetzung); vgl. FN 185.
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bestimmte Aspekte eines Phänomens, einer Wirklichkeit, in den Vordergrund treten, während andere in den Hintergrund rücken. Deutungen bezeichnen etwas. Während das Signifikat recht klar ist, wenn ein Referenzobjekt präsent ist (‚Das ist ein Stuhl.‘),415 zeigt sich die kulturrelative graduelle Abstufung solcher Benennungen schon in einer Aussage wie ‚Das ist blau.‘ Entsprechend weniger klar ist das Verhältnis von Signifikant und Signifikat, wenn es um komplexe Phänomene wie ‚Leben‘, ‚Welt‘, ‚Heilung‘ oder ‚Krankheit‘ geht, die eine Vielzahl von kulturellen und subjektiven Implikationen, Assoziationen und Erfahrungen in differenter Weise integrieren. Krankheit und Heilung als so verstandene komplexe Phänomene erfordern Deutung als diejenige Form, mit der Subjekte sich diese Phänomene erschließen und zugänglich machen können.
4.2 DEUTUNG Deutung ist der zentrale menschliche Welterschließungsvorgang. Wirklichkeit ist, so die hier vertretene kulturhermeneutische These, nur über Deutungen zugänglich. Mit Philipp Stoellger kann gesagt werden: „Nicht alles ist Deutung, auch wenn alles nur in Deutungen gegeben ist.“416 Oder, um die Frage nach den dahinterliegenden Sachverhalten noch stärker zu suspendieren, lässt sich mit Martina Kumlehn sagen: „Es ist nicht alles Deutung, aber ohne Deutung […] ist für uns nichts von Bedeutung.“417 Wenn Deutungen als in dieser Weise essentiell für den menschlichen Zugang zu Welt und Wirklichkeit verstanden werden sollen, dann gilt es, dem Deutungsbegriff noch genauer nachzugehen.
415 Diese Aussage gilt, wenn man mitdenkt, dass ein bestimmtes Sprachsystem und ein kultureller Kontext als Referenzrahmen implizit angenommen werden. Sobald diese grundlegend in Frage stehen, unbekannt sind oder nicht geteilt werden, ist die Eindeutigkeit der Referenz schon fraglicher. 416 Stoellger, Philipp: Theologie als Deutungsmachttheorie. Zur Hermeneutik von Deutungsmacht im systematischen Diskurs. In: Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten. Hrsg. v. Philipp Stoellger. Tübingen 2014. S. 483 (künftig zitiert als: Stoellger: Theologie als Deutungsmachttheorie). (Sammelband künftig zitiert als: Deutungsmacht). 417 Kumlehn, Martina: Vorlesungsmanuskript: Was ist Deutungsmacht? Perspektiven der Deutungsmachtanalyse. Ringvorlesung des GRK Deutungsmacht, 6. April 2017. S. 7. (künftig zitiert als: Kumlehn: Vorlesungsmanuskript: Was ist Deutungsmacht?).
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Deutungen sind „meist intentionale (also gerichtete […]) Erschließungen von Teilen objektiver, subjektiver und fiktionaler Wirklichkeit“418. In philosophischer Perspektive charakterisiert Heiner Hastedt Deutungen als Welterschließungsvorgänge, die sich auf ein Wirklichkeitsverständnis beziehen, welches konstruierte Komponenten (objektiver, subjektiver und sogar fiktionaler Wirklichkeit) integriert, ohne dabei einen radikalen Konstruktivismus zu implizieren.419 Insofern bemüht sich diese Lesart um eine Balance zwischen Konstruktion und Wirklichkeit. An die Überlegung, Deutungen als Erschließungs- (und Konstruktions-)vorgänge zu denken, schließt auch der Vorschlag Jörg Lausters an, Deutungen als Reaktionen auf das zu verstehen, was uns als Menschen begegnet. Sie geben „Antworten darauf, wie wir Wirklichkeit erleben“.420 In diesem Sinne benennen sie, was erfahren wird: ‚Dieses Widerfahrnis ist xy‘; ‚dieses Befinden ist Krankheit‘; ‚dieser Prozess ist Heilung‘. Damit wird hier insofern von einem weiten Deutungsbegriff ausgegangen, als sich dieser nicht auf Deutung im Sinne der Interpretation von Texten oder Bildern beschränkt, sondern zum einen davon ausgeht, dass immer schon gedeutet wird, wenn Menschen Welt begegnen und sie sich aneignen421, zum anderen Deutung zumindest heuristisch von regelgeleiteter Interpretation unterschieden wird422. Zugleich wird der über die Interpretation hinausgehende, geöffnete Deutungsbegriff von einem pejorativen Verständnis abgegrenzt, welches 418 Hastedt, Heiner: Was ist ‚Deutungsmacht‘? Philosophische Klärungsversuche. In: Deutungsmacht. S. 91. (künftig zitiert als: Hastedt: Was ist ‚Deutungsmacht‘?). 419 Vgl. Hastedt: Was ist ‚Deutungsmacht‘? S. 92. 420 Lauster, Jörg: Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute. Darmstadt 2005. S. 14. (künftig zitiert als: Lauster: Religion als Lebensdeutung). 421 Vgl. auch Angehrn, Emil: Die Differenz des Sinns und der Konflikt der Interpretation. In: Deutungsmacht. S. 108. (künftig zitiert als: Angehrn: Differenz des Sinns). 422 Dass die Linie zwischen Deutung und Interpretation auch anders oder möglicherweise gar nicht eindeutig gezogen werden kann, zeigt schon der Versuch einer Übersetzung, der deutlich macht, dass bspw. weder im Englischen noch im Französischen verschiedene Begriffe für Deuten und Interpretieren zur Verfügung stehen. Dennoch wird hier nicht zugleich von Interpretation gesprochen, wenn Deutung gesagt wird. Vielmehr soll Deutung im Sinne eines Oberbegriffs verstanden werden, der auch „Interpretation als die methodisch disziplinierte Praxis der Deutung“ umfasst, darüber hinaus aber auch anderes beinhaltet: das Wagnis, das „Grenzwertige“, den „Sprung ins Deuten“, der etwas Neues hervorbringt, das nicht aus dem Vorfindlichen ableitbar ist. Erstes und zweites Zitat: Stoellger, Philipp: Deutungsmachtanalyse. Zur Einleitung in ein Konzept zwischen Hermeneutik und Diskursanalyse. In: Deutungsmacht. S. 18. Hervorhebung im Original. (künftig zitiert als: Stoellger: Deutungsmachtanalyse). Drittes Zitat: Kumlehn: Vorlesungsmanuskript: Was ist Deutungsmacht? S. 8.
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Deutung als willkürlich erachtet sowie im Sinne von ‚etwas ist nur Deutung‘ die Wirkungs- und Geltungsansprüche der Deutung nicht angemessen in den Blick nehmen kann.423 Mit Stoellger wird Deuten hier über die Lesart als Reaktion auf Wirklichkeit hinaus auch vom Zeigen her verstanden. Deuten ist dann eine kommunikative Handlung, die etwas sehen lässt und macht.424 Die Deutung zeigt etwas auf und hebt es aus einer Menge hervor bzw. von einem Hintergrund ab. Durch die Deutung wird auf etwas gezeigt. Nicht alles ist gleich-gültig, wenn auf ein Ding, einen Vorgang, ein Phänomen hingedeutet und dieses in einer bestimmten Weise gedeutet wird. Die „Deutung dient der Lenkung der […] Aufmerksamkeit“425. Indem etwas hervorgehoben wird, verändert Deutung das Bild. Manches wird dadurch anders gesehen, einiges überhaupt erst sichtbar, anderes tritt in den Hintergrund oder wird gänzlich unsichtbar. Deutung verändert: „Gedeutet wird zum Zweck […] Unterschiede zu machen.“426 Aber nicht nur das Herausheben von etwas ist ein Effekt der Deutung, sondern auch das Kennzeichnen als etwas. Deutungen lassen etwas als etwas sehen – und nicht als etwas anderes. „Deutungen sind Prädikationsvorgänge, […] in denen ‚etwas als etwas verstanden wird‘“427, wie Lauster schreibt. Diese Formel von ‚etwas als etwas‘ (sehen, zeigen oder verstehen) ist eine gewinnbringende Perspektive für die praktisch-theologische Operationalisierung des Deutungsbegriffs. Deutungen differenzieren und benennen und weisen damit Dinge, Wahrnehmungen, Phänomene als etwas Bestimmtes aus. In einem deiktischen Sinne kann ‚etwas als etwas verstehen‘ erweitert werden in Richtung des Zeigens oder Sehen lassens bzw., sofern auch eine Selbstwirksamkeit der Deutung mitgedacht wird, des Sich-zeigens.428 Gegenüber Lausters Implikation, deuten und verstehen gleichzusetzen, ist mit Stoellger auch die Möglichkeit des Scheiterns mitzudenken, in der eine Deutung nicht anerkannt wird und somit Konkurrenz und Konflikt von Deutungen denkbar werden.429 423 Vgl. dazu auch unter 4.3. 424 Vgl. Stoellger: Deutungsmachtanalyse. S. 12. 425 Ebd. S. 12. 426 Ebd. S. 12. 427 Lauster: Religion als Lebensdeutung. S. 10. Hervorhebung im Original. 428 Vgl. Stoellger: Deutungsmachtanalyse. S. 18. 429 Vgl. Stoellger: Theologie als Deutungsmachttheorie. S. 483f. Auf die spätmodernen gesellschaftlichen Entwicklungen im Verhältnis von Religion und Säkularität sehen Stolz u. a. Konflikt und Konkurrenz sogar als grundlegenden Entwicklungsantrieb. Dieser Ansatz zeigt seine Stärke darin, eine Vielzahl zu beobachtender Phänomene über das Modell der religiös-säkularen Konkurrenzbeziehung erklären zu können.
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Dies ließe sich im Blick auf die exemplarische Anwendung veranschaulichen. Die medizinische Diagnose selbst ist das Exempel par excellence für das Sehen lassen, Zeigen bzw. Verstehen von etwas als etwas: ‚Dein Schmerz im Knie ist eine Arthrose‘, würde der akademisch ausgebildete Mediziner sagen, während der Heilpraktiker denselben Schmerz möglicherweise als energetische Störung identifiziert. Im Sinne eines Sich-zeigens ist an das Symptom zu denken: Es zeigt sich und wird dadurch zum Zeichen für ein ganzes Krankheitsbild. Auch hier lässt sich noch weiterfragen: Wofür steht das Symptom? Als was wird es in welchem Interesse gedeutet? Ist ein atopisches Ekzem eine Neurodermitis mit genetisch-immunologischen Ursachen oder wird es als Ausdruck einer gestörten Mutterbindung mit Berührungsdefiziten plausibel gemacht?430 Im Akt der Benennung zeigt sich Verstehen von etwas als etwas als Konstruktionsprozess, der für Lauster ähnlich wie für Hastedt in der Schwebe zwischen Realismus und Konstruktivismus zu halten ist: Die Bezeichnung eines Gegenstandes wäre dann zwar Konstruktion, aber eben eine, die durch die Wahrnehmung einer vorfindlichen Wirklichkeit und unter Bezugnahme auf diese hervorgebracht wird.431 Die Deutungen sind nicht willkürlich, sondern haben Anhaltspunkte an der Wirklichkeit. Insofern sind sie von einem ‚Gegenstand‘ her, vom ‚Anderen der Deutung‘432 mitbestimmt, so dass eine Unterscheidung von Deutung und NichtDeutung zu treffen sinnvoll ist. Sie sind nicht beliebig, auch wenn sie kontingent
Dabei zeige sich die Konkurrenz in einem Streben nach Macht, Einfluss und Deutungshoheit. Religionshybride Übergangsphänomene in den Blick zu nehmen gelingt in der dichotomen Abgrenzung jedoch nur unzureichend. Vgl. Stolz, Jörg u. a.: Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-)Glaubens. Zürich 2014. 430 Dass diese Deutungen im Blick auf ihre Wirkung und Geltung abhängig sind von ihrer Plausibilität und Anerkennung zeigt sich hier schon im Nebeneinander dieser Beispiele, wird aber unter 6.8.3 noch weiter ausgeführt. 431 Vgl. Lauster: Religion als Lebensdeutung. S. 13f. 432 Dass die Gegenüberstellung von Fakten und Deutungen nur bedingt weiterführt, macht Stoellger deutlich, wenn er hervorhebt, mit dieser „Denkfigur von ‚Faktum versus Deutung‘“ sei es weder möglich, „den Deutungscharakter von ‚Fakten‘, noch die Faktizität von Deutungen zu begreifen“. Stoellger: Theologie als Deutungsmachttheorie. S. 477. Zugleich ist für das hier vorgeschlagene Verständnis von Deutung auch ein ‚Anderes der Deutung‘ notwendig, das nach der Plausibilität und Relevanz bestimmter Deutungen fragen lässt, um nicht in einen ‚Relativismussog‘ zu geraten, der eine Auflösung der Differenzierung von Deutung und Nicht-Deutung, ein ‚Es ist ohnehin alles (nur) Deutung.‘ zur Folge hätte.
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sind – sie können so oder auch anders sein.433 Denn wenn etwas in einer bestimmten Weise sichtbar gemacht wird, können – sofern die Deutung als Deutung erkennbar (gemacht) wird – immer auch Alternativen mitgedacht werden. Die genannten Beispiele der Schmerzdeutungen zeigen, dass eine mögliche Deutung auch anders sein könnte, ohne dass sich der Bezugspunkt geändert hat. Der Schmerz, der eine Diagnose erfordert, ist der gleiche ‚Gegenstand‘. Kontingenz ist ein Charakteristikum von Deutung. „Deutung hat eine Lizenz zur Kontingenz, einerseits aufgrund der relativen Unbestimmtheit des Gedeuteten, andererseits aufgrund einer relativen Freiheit des Deutenden – bis dahin, dass die Adressaten dem folgen können, aber nicht müssen […].“434 Neben Kontingenz ist die Herstellung und Stabilisierung wie auch die Labilisierung von Ordnung eine Funktion von Deutung im Kontext des hier vorgeschlagenen Deutungsbegriffs. Deutungen geben Orientierung, schon indem sie etwas als etwas benennen: Sie zeigen auf dieses und nicht auf etwas anderes, sie heben das eine gegenüber dem anderen heraus, sortieren, orientieren, gewichten damit Einzelnes gegenüber Anderem. Zugleich ist es möglich, dass alternative Deutungen auftreten und eine bestehende Ordnung labilisieren bzw. sogar bewusst zur Labilisierung eingesetzt werden. In diesem Sinn formuliert Stoellger: Gedeutet wird mit dem Fernziel, ‚Sinn‘, ‚Orientierung‘ oder ‚Wahrheit‘ zu erschließen, von denen her (als Ordnung) das Einzelne (Ding, Erfahrung, Ereignis o. ä.), ggf. Außerordentliche, bestimmt und eingeordnet wird. Einordnung ist der Normalfall: der Grenzfall ist, dass das Gedeutete fremd oder außerordentlich ist und bleibt (ohne, außer oder wider die Ordnung, ggf. als Anfang einer anderen Ordnung).435
Durch die Deutung wird somit ein Ereignis in einen größeren Zusammenhang eingeordnet. Auf diese Weise ermöglicht die Deutung die (Wieder-) Herstellung einer Ordnung und gibt Orientierung in der Begegnung mit der Welt. Wo die Ordnungsfunktion über eine Deutung nicht hergestellt werden kann, bleibt eine Krise, ein Bruch in der Ordnung, der möglicherweise zur Modifikation der Ordnung oder zu einer neuen Ordnung führen kann. Ungeordnetes wird geordnet und mit Bedeutung versehen. Geht man „von der Ungeordnetheit und Unbeständigkeit, Unübersichtlichkeit und Ungewissheit 433 Kontingenz wird hier mit Luhmann verstanden als „Negation von Unmöglichkeit und Notwendigkeit“. Kontingente Sachverhalte sind somit „auch anders möglich […], also nicht notwendig, nicht unmöglich, sondern etwas dazwischen“. Luhmann: Einführung Systemtheorie. S. 318. 434 Stoellger: Deutungsmachtanalyse. S. 23. Hervorhebung im Original. 435 Ebd. S. 12f.
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dessen aus, was wir ‚Welt‘ nennen, so können Ordnung und Bestand, Übersicht und Gewissheit nur durch Deutungen zustandekommen“436. In diesem Sinne lässt sich auch eine Nähe von Deutungen zu solchen Phänomenen konstatieren, die die Unübersichtlichkeit und Ungewissheit der Lebenswelt ausmachen, die als Unverfügbarkeiten herausfordern. Wie in Kapitel 3 herausgearbeitet wurde, ist unverfügbares Heil als Inhalt religiöser Theorie und Praxis in jedem Fall deutungsaffin. Im Blick auf das Verständnis von Heilung ist das Verhältnis von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit zu untersuchen. Während jeder Erschließungsvorgang von Welt implizit deutet, erfordern besonders komplexe Begriffe und ambivalente Phänomene explizite Deutung: Von Deutung […] wird oft dann gesprochen, wenn es um komplexe Größen geht wie ‚Leben‘ und ‚Welt‘ oder um unerfahrbare Größen wie ‚Tod‘ oder ‚Jenseits‘ oder um ‚Undinge‘, ‚Ungegenständliches‘ und ‚Unanschauliches‘ wie Gott, Sünde oder Glaube. Gedeutet wird, wo Deutungsfähigkeit vorliegt, Undeutlichkeit, Deutungsbedarf oder Mehrdeutigkeit. […] [M]an [hat] es diesseits und jenseits methodischer, wissenschaftlicher Disziplinierung stets mit Themen und Größen zu tun […], die ‚überschießend‘, zu groß, zu komplex, zu kompliziert, gar entzogen oder prinzipiell unanschaulich sind, als dass man ohne Überschreitung der Grenzen methodischer Interpretation von ihnen sprechen könnte.437
Diese „(über-)komplexen“438 Themen und Erfahrungen haben alltagspraktisch eine höhere Deutungsaffinität als z. B. Artefakte der Objektwelt, wenn auch in graduellen Abstufungen.
4.3 MACHTANSPRÜCHE UND DEUTUNGSMACHT Ein in der hier ausgeführten Weise verstandener Deutungsbegriff kann sich, folgt man Stoellger, Kumlehn u. a., nicht der Verwobenheit in Machtdynamiken entziehen. Denn die Deutung selbst ist es, die schon immer eine Nähe zur Macht insofern in sich trägt, als sie „Aufmerksamkeit, Zustimmung oder Wirkung erzielen“439 will. Die Deutung ist somit im Blick auf ihre Zielrichtung machtaffin, wenn sie anstrebt, dass sie Gültigkeit erlangt, dass sie und dass ihr geglaubt wird.
436 Stegmaier, Werner: Von Religionsstiftern lernen: Deutungsmacht als Kraft zur Orientierung. In: Deutungsmacht. S. 123. 437 Stoellger: Deutungsmachtanalyse. S. 20. Hervorhebung im Original. 438 Stoellger: Theologie als Deutungsmachttheorie. S. 442, u. ö. 439 Kumlehn: Vorlesungsmanuskript: Was ist Deutungsmacht? S. 3.
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Die Deutung ist in ihrer Wirksamkeit von der Anerkennung durch RezipientInnen abhängig. Am bereits genannten Beispiel der Diagnose lässt sich zeigen: Wird eine Diagnose, die zuerst einmal als ein (mit in vielfältiger Weise einflussreichen Evidenzfaktoren versehener) Vorschlag erscheint, nicht vom Patienten als gültig anerkannt, kann sie auch nicht machtwirksam werden. Tritt dann zu einer Diagnose eine weitere hinzu (‚ärztliche Zweitmeinung‘ bspw.), geraten beide in Konflikt. Deutungsangebote gehen (z. B. in Form von Diagnosen) durch den mit ihnen verbundenen Geltungsanspruch über den Charakter eines Vorschlags hinaus und können dadurch überhaupt erst konfliktiv werden. „Deutungen sind mehr als Verstehensvorschläge. Deutungen beanspruchen Geltung, sie besitzen Macht, sie erzeugen Konflikte. Sie tun dies, weil sie in das Leben der Menschen eingreifen.“440 Dieser „Zug zur Macht“441 liegt aber auch insofern in der Deutung selbst, als sie ihrem Charakter nach differenzerzeugend, unterscheidend, hervorhebend von etwas aus etwas und als etwas ist. In dem Unterschied, den Deutungen machen, ist eine Wirksamkeit der Deutung ausgesagt, die auch als Macht der Deutung benannt werden kann. Oder, um noch einmal Stoellger zu zitieren: „Die Spur der Macht in der Deutung zeigt sich bereits liminal, wenn etwas auffällt und damit Aufmerksamkeit auf sich zieht. Was ins Auge fällt oder springt, wird gesehen und immer gesehen worden sein. Insofern ist bereits das ‚Sichzeigen‘ von etwas (Phänomenalität) eine liminale Deutungsmacht […].“442 Werden Deutungen als in dieser Weise immer schon mit einer Nähe zur Macht ausgestattet verstanden, so kann im nächsten Schritt gefragt werden, welche Perspektiven ein Konzept Deutungsmacht, das diese beiden Aspekte – Deutung und Macht – zusammendenkt, eröffnen kann. Wenn Deutung und Macht miteinander korreliert werden, so lässt sich eine dreifache Verhältnisbestimmung differenzieren und mithilfe dieser fragen, wie Deutungen als Sinnstiftungsprozesse mächtig werden. In Anlehnung an Stoellger lässt sich unterscheiden zwischen Macht zur Deutung, Macht von Deutung und Macht vorgängiger Ordnung.443 Mit dem Ziel einer Anwendung dieses Konzepts als Analyseinstrument können anhand dieser Dimensionen Fragen zusammengetragen werden, die sich im Anwendungsfeld den Phänomenen nähern und im Modus einer Spurenlese nach wirkmächtigen Deutungen fragen. Die Macht zur Deutung ist v. a. durch einen personalen Machtaspekt bestimmt und lässt danach fragen, wer deutet, warum gerade diese Person in dieser Weise 440 Angehrn: Differenz des Sinns. In: Deutungsmacht. S. 103. 441 Kumlehn: Vorlesungsmanuskript: Was ist Deutungsmacht? S. 3. 442 Stoellger: Deutungsmachtanalyse. S. 13. 443 Vgl. ebd. S. 36ff.
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spricht, in wessen Namen sie dies tut, durch welche Rollen, Ämter oder Kontextbedingungen eine Person, Gruppe oder Institution zur Deutung ermächtigt wird. Im Hintergrund dieses Machtverständnisses steht eine personal-handlungslogische Position, wie sie klassisch in der Bestimmung von Max Weber zu finden ist. Demnach ist Macht, so Weber, die „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“444. Dieser akteusbezogene Aspekt der Macht bildet eine Komponente im Kontext von Deutungsmacht und verweiset darauf, die personalen Konstellationen, sozialen Gefüge und individuellen Positionen in den Blick zu nehmen.445 Im Vorausblick auf das Anwendungsfeld ließe sich etwa fragen, wie die Rolle des Arztes oder Heilpraktikers die Wirkung der jeweiligen Deutung beeinflusst, die diese Person ausspricht oder auch, welche konkreten Faktoren die Position des Deutenden festigen – Ausbildung und Zertifikate, Leumund oder Charisma? Die Macht von Deutung fokussiert dagegen stärker die Dynamiken, die die Deutungen selbst entfalten. Neben der Macht von Akteuren und der von Strukturen wird so ein Moment der Eigendynamik von Deutungen gedacht. Die Deutungen selbst sind mächtig, wie bereits gezeigt wurde. Sie machen Unterschiede, zeigen Wirkungen. Sie sind grundlegend auch über ihre Medialität und über die Art und Weise ihrer Kommunikation bestimmt. „Somit stammt die Macht einer Deutung weder vom Akteur noch von den Rezipienten allein, sondern entsteht in deren Kommunikationsverhältnis […], das strukturiert wird durch vorgängige Ordnungen […].“446 Deutungen können nur dann wirksam werden, wenn sie in einer bestimmten Weise kommuniziert werden. Dazu gehört z. B., dass es offene Anschlussstellen braucht, die eine Integration der Deutung in das eigene Ord444 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5., rev. Aufl. Hrsg. v. Johannes Winkelmann. Tübingen 1976. S. 28. 445 In dieser Stoßrichtung verweist die ebenfalls von einem personalen Anfangspunkt ausgehende Kommunikationsmacht von Jo Reichertz auf die Aspekte der sozialen Position und der Autorität einer sprechenden Person sowie auf Charisma als zentraler Eigenschaft in Kommunikations- und damit verbundenen Anerkennungsprozessen. Vgl. Reichertz, Jo: Kommunikationsmacht. Was ist Kommunikation und was vermag sie? Und weshalb vermag sie das? Wiesbaden 2009. S. 211ff. (künftig zitiert als: Reichertz: Kommunikationsmacht). Für Reichertz ist Macht zur Deutung nicht an die Deutung bzw. das Argument gebunden, da diese von sich aus keine Macht haben. Vielmehr entfaltet sich die Macht durch die soziale Beziehung als dem zentralen Anerkennungs- und Wirkungshintergrund. Vgl. Reichertz: Kommunikationsmacht. S. 216ff. 446 Stoellger: Deutungsmachtanalyse. S. 38.
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nungs- und Überzeugungssystem ermöglichen. So ließe sich beispielhaft postulieren, dass nur das grundsätzliche Für-Möglich-Halten transsomatischer Bezüge in der Ursachenbeschreibung einer Krankheit das Potential bietet, dass eine derartige Deutung Wirkung entfalten kann. Allgemeiner lässt sich nach der Macht von Deutungen z. B. über die Fährte ihres deiktischen Charakters fragen: Was zeigt eine Deutung, was blendet sie ab? Was wird gesagt, was wird verschwiegen? Wie lenkt die Deutung die Aufmerksamkeit und zu welcher Wirkung führt dieser Blickwechsel? Innerhalb dieser beiden Bezugsrichtungen von Deutung und Macht kann nicht ausgeklammert werden, dass Deutungen eingebettet sind in bereits bestehende Zusammenhänge, in Traditionen, Denkfiguren und komplexe Strukturen, die unter dem Begriff der Macht vorgängiger Ordnungen zusammengefasst werden. Keine Deutung steht kontextunabhängig für sich. Damit geht auch einher, dass nur bestimmte Deutungen zu bestimmten Zeiten möglich, denkbar bzw. sagbar sind und diese Konstellationen von diversen Kontextbedingungen abhängig sind. Die Macht vorgängiger Ordnungen ließe sich z. B. darüber erfragen, welche Deutungen sich besonders plausibel in ein bestehendes System von Überzeugungen, Wissen und Werten einfügen oder welche gesellschaftlichen Konventionen die Anerkennung einer Deutung begünstigen (oder auch als unwahrscheinlich bis unmöglich darstellen). Ist Deutung in dieser Weise von der Anerkennung anderer zur Erlangung der Gültigkeit abhängig, so ist davon auszugehen, dass Deutungsangebote auch abgelehnt, i. S. v. nicht angenommen werden können. Im Blick auf das Anwendungsfeld wäre bspw. nach institutionellen Strukturen zu fragen (Ausbildungssysteme, Kliniken, Krankenkassen etc.), die die Durchsetzung einer Deutung unterstützen, aber auch erschweren können. Deutungsmacht als spezifische Machtform ist u. a. darüber charakterisiert, dass sie als latente und genuin nicht explizite Macht ihre größte Stärke und Wirksamkeit in der Selbstverständlichkeit und Unhinterfragbarkeit entfaltet.447 Der Normalfall von Deutungsmacht ist unmittelbare Evidenz, die keiner Nachfrage oder Explikation bedarf bzw. diese sogar verunmöglicht. Erst das Sichtbarwerden (oder -machen) der Deutung als Deutung (z. B. durch eine Alternative) lässt die Deu447 Damit korrespondiert die hier vertretene Auffassung von Deutungsmacht mit den Eigenschaften, die der Philosoph Byung-Chul Han in seiner Theorie grundsätzlich für Macht anführt: „Die Macht wird dort gleichsam unverwüstlich, wo sie als Niemandes Macht wahrgenommen wird, d.h. nicht eigens wahrgenommen wird. […] Eine absolute Macht wäre die, die nie in Erscheinung träte, die nie auf sich hinwiese, die vielmehr mit der Selbstverständlichkeit ganz verschmölze. Macht glänzt durch Abwesenheit.“ Han, Byung-Chul: Was ist Macht? Stuttgart 2005. S. 62 und S. 64. Hervorhebung im Original.
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tungsmacht fraglich und befragbar werden. Deutungen können dann nebeneinander stehen und miteinander um Anerkennung konkurrieren. Im Hintergrund dieser Überlegungen zur Sichtbarmachung steht die Foucaultsche Idee der Genealogie, die das Ziel verfolgt, „in den Schichten des Diskurses die Bedingungen seiner Geschichte bloßzulegen“448. In diesem Freilegen werden die Kontexte des Entstehens und Vergehens von Macht und Anerkennung sowie von Evidenzen innerhalb der Diskurse sichtbar. In dieser Spur zeigt sich, dass die Bedingungen von Deutungen veränderlich sind und sich sowohl die Kontexte als auch die Deutungen selbst in Bewegung befinden. Nach veränderlichen Deutungen fragt die vorliegende Untersuchung im Feld alternativmedizinischer Heilkunde und ist dabei bestrebt, dem Wechselverhältnis von Stabilisierungen und Labilisierungen nachzugehen.
4.4 RELIGIONSHERMENEUTISCHER ZUGRIFF Im Blick auf Praktisch-theologische Diskurse bieten sich über den Deutungsbegriff direkte Anschlussstellen. So lässt sich (Praktische) Theologie mit Wilhelm Gräb, Jörg Lauster u. a. als Deutungswissenschaft449 verstehen, die die „Praxis lebensgeschichtlicher Sinndeutung“450 reflektiert. Gegenstand einer so verstandenen Theologie ist „Religion als Deutung des Lebens“451. Gedeutet wird dabei freilich nicht ‚nur‘ das ‚Leben‘, sondern jene als überkomplex oder letztbegründend bezeichneten Inhalte, die den Menschen in der Begegnung mit Welt und Selbst, im Fragen nach Gott und Sinn zu Klärung und (Ein-)Ordnung herausfordern. Eine in diesem Sinne verstandene Praktische Theologie bewegt sich dabei in doppelter Spur: Sie beschäftigt sich in der theoretischen Reflexion mit christlicher Religion als Praxis der Lebensdeutung – und sie sucht zugleich selbst die lebensgeschichtlichen Sinndeutungen christlicher Prägung plausibel zu machen.452
448 Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt a. M. 1985. S. 17. (künftig zitiert als: Foucault: Die Geburt der Klinik). 449 Als Deutungswissenschaft wird die (Praktische) Theologie u. a. von Jörg Lauster, Dietrich Korsch oder Wilhelm Gräb profiliert. Vgl. dazu: Lauster: Religion als Lebensdeutung; Korsch, Dietrich: Religionsbegriff und Gottesglaube. Dialektische Theologie als Hermeneutik der Religion. Tübingen 2005; Gräb, Wilhelm: Religion als Deutung des Lebens. Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion. Gütersloh 2006. (künftig zitiert als: Gräb: Religion als Deutung des Lebens). 450 Gräb: Religion als Deutung des Lebens. S. 5. 451 So der Titel von Gräbs Entwurf. 452 Vgl. Gräb: Religion als Deutung des Lebens. S. 18.
Religionshermeneutischer Zugriff | 139
So wie allgemein Deutungen als Welterschließungsvorgänge gedacht werden können, versteht Lauster Religion als eine Weise, wie Menschen sich Welt durch Deutung erschließen: Religion ist […] eine besondere Weise, sich die Welt durch Verstehen zu erschließen. Speziell für die christliche Religion gilt es zu zeigen, dass sie die Form menschlicher Lebensdeutung im Horizont der Erfahrung von göttlicher Transzendenz in der Welt ist.453
In dieser Bestimmung von Religion zeigt sich ein weit angelegter, hermeneutisch geprägter Deutungsbegriff. Die Hermeneutik, die Lehre vom auslegenden Verstehen, gilt als zentrale Referenztheorie der Theologie, nicht nur im exegetischen Arbeiten in der Auslegung und Interpretation biblischer und systematisch-theologischer Texte. Hier wird Hermeneutik darüber hinaus als Auslegung und Verstehen von Leben und Welt gedacht. Lauster macht die Aufgaben der Theologie als theoretische Reflexion von einer als Lebensdeutung verstandenen Religion in dieser Weise deutlich: Die Deutung des Lebens im Lichte der christlichen Religion lässt jedoch nicht auf die Bibelauslegung beschränken (sic!), und Theologie geht darum auch nicht allein in Schriftauslegung auf. Religiöse Lebensdeutung erfordert darüber hinaus, sich mit den kulturellen Transformationen der urchristlichen Lebensdeutungen vertraut zu machen und die Prozesse zu analysieren, mit denen Menschen sich immer schon verstehend in ihrem Leben orientieren. Denn dieses in Geschichte und Gegenwart vollzogene Sich-Selbst-Verstehen des Menschen bildet den unerlässlichen Anknüpfungspunkt der religiösen Lebensdeutung. Die theologische Hermeneutik ist daher die allen theologischen Disziplinen aufgegebene Herausforderung, die religiösen Deutungen des Christentums im Horizont gegenwärtiger Lebensdeutungen zu entfalten.454
In dieser weiten hermeneutischen Perspektive sind mit der Bezugsgröße ‚Leben‘ als Referenz der religiösen Deutung sowie der Orientierungs- und Ordnungsfunktion zentrale Aspekte dessen aufgegriffen, was zum Deutungsbegriff ausgeführt wurde. Im verstehenden Orientieren kommt ein weiterer Aspekt hinzu. Deutungen haben nach Lauster die Fähigkeit, „zu dem bloßen Phänomen eine Bedeutung hinzuzufügen“455 und damit „deutende[…] Sinnstiftungsprozesse“456 zu eröffnen. Darin wird die Figur des Erschließens von (vorhandenem – gegebenem – durch 453 Lauster: Religion als Lebensdeutung. S. 7. 454 Ebd. S. 7f. Hervorhebung P. S. 455 Ebd. S. 14. 456 Ebd. S. 14.
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Andere produzierten?) Sinn im Deuten um die Idee geweitet, dass die Deutungen selbst Sinn generieren. Obwohl Lauster sich hier auf eine Perspektive von religiösen Deutungen als Praxis des Christentums beschränkt, ist spätestens mit der Weitung des Deutungsbegriffs auf Sinnstiftungsprozesse auch eine Perspektive über christliche Phänomene und Deutungen hinaus möglich. Anders als die hier in der theoretischen Konzeption aufgegriffenen (systematisch-)theologischen Ansätze geht das interdisziplinäre Projekt Religionshybride457 in dieser Beziehung einen Schritt weiter und öffnet die Perspektive auch für sinngenerierende Formen und Praktiken außerhalb institutionalisierter Religion. Da sich in dieser Spur die angesprochenen spätmodernen Entdifferenzierungsphänomene systematisch in den Blick nehmen lassen, soll dieser Ansatz im Folgenden verfolgt und ausgeführt werden. Eine religionshermeneutisch ausgelegte Analyse muss allererst bestimmen, mit welchem Verständnis von Religion sie arbeitet, um transparent zu machen, welche Analysekategorien an den Gegenstand angelegt werden. Hinsichtlich des Religionsbegriffs458 ist mit Hubert Knoblauch festzuhalten, dass Religion in der 457 Das in der Zeit von 2010 bis 2015 von der DFG geförderte Projekt Religionshybride – Kirchbauvereine, Gutshausvereine und alternative Gemeinschaften in Mecklenburg-Vorpommern wurde in Kooperation von Praktischer Theologie, Religionswissenschaft und Soziologie beantragt und durchgeführt. Gegenstand des Projekts waren „als ‚religionshybrid‘ charakterisierte Ausdrucksgestalten transzendenzbezogener Sinnproduktionen und ihrer Vergemeinschaftungsformen, wie sie sich vornehmlich im Kontext dreier in den Blick genommener Phänomenbereiche zeigen: in Kirchbauvereinen, Gutshausvereinen und alternativen Gemeinschaften.“ Dabei wurde gefragt, wie „hybride Formen religionsaffiner, religionsäquivalenter oder explizit religiöser Szenen beschrieben werden können. […] Dieser Gegenstandsbereich [wurde] auf die Muster subjektiver Sinngebungen und die Logik einer gemeinsam geteilten performativen Praxis hin befragt, ohne die Konsistenz einer positiven Religion vorauszusetzen. Zu untersuchen [waren] dabei religiöse Sinnsichten, die nicht bzw. nicht mehr im Zentrum der kulturellen Wahrnehmung stehen und sich in bestimmte Szenen verlagern bzw. dort neu erwachsen.“ Berger, Peter A., Klaus Hock und Thomas Klie: Religionshybride – Zur Einführung. In: Religionshybride. Religion in posttraditionalen Kontexten. Hrsg. v. Peter A. Berger, Klaus Hock und Thomas Klie. Wiesbaden 2013. S. 7. Hervorhebung im Original. (künftig zitiert als: Berger, Hock und Klie: Religionshybride – Zur Einführung). (Sammelband künftig zitiert als: Religionhybride). Vgl. zum Projekt auch: https://www.wiwi.uni-rostock.de/religionshybride/?L=ist. Aufgerufen am 16. Juni 2017. 458 Der Religionsbegriff und die Fallstricke seiner Bestimmung können hier nicht ausführlich diskutiert werden. Dazu sei auf entsprechende Literatur verwiesen, vgl. die
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Spätmoderne komplexen Transformationsprozessen unterliegt459 und spätestens vor diesem Hintergrund weder ein rein funktionaler, von der Wirkung oder Funktion der Religion her zu bestimmender Begriff, noch ein rein substantielles, allein über den Inhalt definiertes Verständnis von Religion zielführend ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich Religion in vielfältiger Weise in der späten Moderne verändert hat und diese Umformungsprozesse nach wie vor anhalten. Dabei ist ausgehend von einem Rückgang institutionell verfasster Religion sowohl ein „Rückzug in die Privatheit individueller Lebensentwürfe“460 zu beobachten als auch die Herausbildung neuer Formen religiöser Vorstellungen und Praktiken. Die entstehenden neuen religiösen Formen und Deutungen sollen mithilfe eines Religionsverständnisses in den Blick genommen werden, welches den Transformationsprozessen Rechnung trägt und auch Phänomene in einem religiös-kulturellen Übergangsbereich abbildet, ohne dabei beliebig zu werden. Ausgehend von den bisherigen Überlegungen und im Blick auf den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bietet das Projekt Religionshybride eine anschlussfähige Definition von Religion: Religion ist der Vollzug komplexer Praktiken mit dem Ziel der Kontingenzbewältigung mittels Transzendierung der alltäglichen Lebenswelt (‚Kultur‘) bei gleichzeitiger Vergegenwärtigung der Transzendenz in Gestalt religiöser Sinnformen, die zum bestimmenden Orientierungspunkt der Performanz sinnhaften Handelns werden.461
Diese Definition von Berger, Hock und Klie beschreibt ein Wechselverhältnis von Transzendierung der Lebenswelt und Vergegenwärtigung der Transzendenz als Charakteristikum von Religion. Die sich aus dieser doppelten Bewegung generierenden religiösen Formen werden zu Ordnungskategorien, die eine Person in ihrem Handeln orientieren. Die Fokussierung auf Handlungsorientierung durch religiöse Sinnformen erlaubt es den Autoren, auch Phänomene außerhalb kirchlicher und institutionalisierter Funktionszusammenhänge in den Blick zu nehmen. Werden die einzelnen Aspekte, aus denen ein Orientierungssystem besteht, als beliefs verstanden, lässt sich von Überzeugung bzw. Glauben sprechen, die bzw. ausführliche Übersicht in: Hock, Klaus: Einführung in die Religionswissenschaft. 5. Aufl. Darmstadt 2014, besonders S. 7-21; Religionswissenschaft. Hrsg. v. Michael Stausberg. Berlin, Boston 2010; sowie allgemein die Diskussion in den meisten religionswissenschaftlichen Einführungen. 459 Vgl. Knoblauch: Populäre Religion sowie Berger, Hock und Klie: Religionshybride – Zur Einführung. 460 Berger, Hock und Klie: Religionshybride – Zur Einführung. S. 23. 461 Ebd. S. 27.
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der als religiöse Ausdrucksform gedacht werden kann, aber nicht muss und insofern eine epistemische Offenheit ermöglicht. Dabei stehen die beliefs nicht frei und unzusammenhängend im Raum, sondern bilden ein „strukturiertes Netz von Überzeugungen“462, welche unterschiedlich tief verankert und damit auch unterschiedlich beständig sind. Die im Religionshybride-Projekt postulierte Fluidität, die gerade als Charakteristikum spätmodern transformierter Religionsformen angenommen wird, lässt sich von der Bestimmung des belief systems her als derart strukturiert denken, dass die Verknüpfungen zwischen einzelnen beliefs unterschiedlich fest bzw. veränderbar sind. Innerhalb eines (individuellen) belief systems sind manche Überzeugungen (fast) unumstößlich, während andere neu integriert oder ausgeschlossen werden können (oder müssen): so verändert sich ein belief system „durch die […] Vernetzung neuer beliefs mit alten, die nach und nach – nicht eklatant und plötzlich – die alten beliefs so unvernetzbar werden lässt (d. h. das Maß an tolerierbaren Widersprüchen im belief system übersteigt), dass diese auf unbemerkte Weise ausgeschlossen, abgesondert werden“463. Mit der Bestimmung von Religion als Wechselverhältnis von Transzendierung der Lebenswelt und gleichzeitigem re-entry der Transzendenz in einen immanenten Bereich nehmen Berger, Hock und Klie einen Konzeptualisierungsvorschlag von Detlef Pollack auf.464 Die Bewegung von Abstraktion und Konkretion wird bei Pollack immer dann als religiös bezeichnet, wenn das dahinter liegende Bezugsproblem die Kontingenzerfahrung des Menschen ist.465 Über Pollack hinaus wird mit Hubert Knoblauch zudem deutlich gemacht, dass sich die Antwort auf das Kontingenzproblem nicht in christlichen oder überhaupt spezifisch religiösen Formen manifestieren muss, sondern sich in vielfältigen Varianten zeigen oder
462 Wodianka, Stephanie: Vorlesungsmanuskript: Denis Diderot. Die Encyclopédie als belief system der Aufklärung? Ringvorlesung des GRK Deutungsmacht, 2. Juni 2017. S. 3 (künftig zitiert als: Wodianka: Vorlesungsmanuskript: Denis Diderot.), in Anlehnung an und Aufnahme von Nicholas Wolterstorff über die Anordnung der Überzeugungen einer Person (oder Gruppe von Personen), die er bestimmt als „the totality of a person‘s belief at a given time – not the totality of judgments she is making at that time but the totality of beliefs she holds at that time. Such a totality is not just a collection. It‘s structured, organized; it‘s a system“. Wolterstorff, Nicholas: Thomas Reid and the story of epistemology. Cambridge 2001. S. 235. Hervorhebung im Original. 463 Wodianka: Vorlesungsmanuskript: Denis Diderot. S. 10. 464 Pollack greift hier seinerseits wiederum auf Luhmann zurück. Pollack, Detlef und Gergely Rosta: Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich. Frankfurt a. M. 2015. S. 66ff. (künftig zitiert als: Pollack und Rosta: Religion in der Moderne). 465 Vgl. Pollack: Religion in der Moderne. S. 63ff.
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bzw. und diffus bleiben kann.466 Ebenfalls auf Knoblauch geht die Überlegung zurück, eine strikte duale Trennung von Transzendenz und Immanenz aufzulösen, da diese „der Vielfalt der Religionen und der Bandbreite des Religiösen“467 nicht gerecht werde. Stattdessen plädiert er dafür, von „Transzendierung“468 zu sprechen und damit den Prozess der „Verbindung und Entgrenzung als Überschreitung und Überwindung dessen, was als Grenze oder Differenz angesehen werden kann“469 als charakteristisch religiöse Praxis zu verstehen. Ebenfalls in dieser Spur steht Martin Riesebrodt im Hintergrund der Arbeitsdefinition des ReligionshybrideProjektes, wobei er zusätzlich in besonderer Weise die religiöse Praxis gegenüber der Theorie heraushebt. So definiert Riesebrodt Religion als „Komplex religiöser Praktiken, die auf der Prämisse der Existenz in der Regel unsichtbarer persönlicher oder unpersönlicher übermenschlicher Mächte beruhen“470 und plädiert für eine Privilegierung von religiösen Vollzügen bei der Bestimmung eines Religionsbegriffs.471 In der Konkretisierung und weiteren Systematisierung des Religionsbegriffs im Rahmen des Projekts Religionshybride nimmt Arnaud Liszka zusätzlich die soziologische Perspektive von Danièle Hervieu-Léger auf, um besonders die Transformationsprozesse von Religion in der späten Moderne beschreiben zu können. Dadurch geraten noch einmal verstärkt solche Phänomene in den Blick, die nicht als explizit religiös bezeichnet werden, wohl aber religionsaffine Züge tragen472 bzw. im ausgeführten Sinne als beliefs in einem religionskulturellen Übergangsbereich Orientierung generieren. Den Vorschlag Knoblauchs, eine strikte Trennung von Transzendenz und Immanenz aufzulösen zugunsten des Prozesses der Transzendierung, nimmt Liszka auf, um besonders diejenigen Phänomene zu beschreiben, die „durch die Erschaffung einer Sinnwelt in der Spannung zwischen den Polen expliziter Religion und expliziter Nicht-Religion graduell eingetragen werden können“473. Die in diesem Sinne als Religionsaffinität bezeichnete Hybridform wird bei Liszka als eigenständige Analysekategorie profiliert. Religionsaffinität bezeichnet in diesem 466 Vgl. Knoblauch: Populäre Religion. S. 265ff. 467 Ebd. S. 54. 468 Ebd. S. 56. 469 Ebd. S. 55. 470 Riesebrodt, Martin: Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen. München 2007. S. 113. (künftig zitiert als: Riesebrodt: Cultus und Heilsversprechen). 471 Vgl. Riesebrodt: Cultus und Heilsversprechen. S. 125ff. 472 Vgl. Liszka, Arnaud: Die Vermehrung der Religionshybride. In: Religionshybride. S. 79. (künftig zitiert als: Liszka: Vermehrung der Religionshybride). 473 Liszka: Vermehrung der Religionshybride. S. 79.
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Modell die inhaltliche Bezugnahme auf religiöse Referenzen, etwa eine transzendente Deutung außerhalb eines explizit religiösen Rahmens. Dem gegenüber steht der Begriff der Religionsäquivalenz, der, ebenfalls in dieses Modell eingefügt, strukturelle Analogien zu Religion ohne inhaltliche Entsprechung oder Explikation sichtbar macht. In diesem Sinne fasst Liszka zusammen: Das Konzept ‚Religionshybride‘ weist auf die Erschaffung von Sinnwelten als Ergebnis eines Prozesses des Bastelns hin, in dem einzelne religiöse Grundelemente in größeren Sinnsystemen neu zusammengefügt werden. Er verweist insbesondere auf diejenigen Sinnsysteme, die trotz der Wiederverwendung religiöser Elemente nicht als explizit religiöse Sinnsysteme wahrgenommen werden und dementsprechend weder von den Kirchen als Konkurrenz noch von den Gruppen, die sie teilen, als Alternative zur institutionalisierten Religion anerkannt werden […].474
In Aufnahme dieser Ausführungen zum Religionsverständnis sowie unter Bezugnahme auf die Abschnitte zu Deutung und Deutungsmacht soll im Folgenden eine Operationalisierung vorgenommen werden, um in der anstehenden Analyse zweierlei in den Blick nehmen zu können: Zum einen wird nach den religionsaffinen und religionsäquvalenten Bezügen in den Deutungen und Performanzen der AkteurInnen gefragt. Auf diese Weise können alternativmedizinische Angebote religionshermeneutisch untersucht und als Grenzphänomene einer spätmodernen Entdifferenzierungsdynamik in den Blick genommen werden. Zum anderen soll die Perspektive der Deutungsmacht als Analyseinstrument die Spuren der Er- und Entmächtigungsbewegungen im Kontext religionshybrider Deutungsprozesse aufzeigen.
4.5 OPERATIONALISIERUNG DER REFERENZTHEORIEN RELIGIONSHYBRIDE UND DEUTUNGSMACHT Unter Aufnahme der vorangegangenen Ausführungen zu Deutungen, ihren Geltungsansprüchen und Wirkungen sowie zum Verständnis spätmoderner Religion sollen im Folgenden analytische Kategorien entwickelt werden, die eine Bearbeitung des empirischen Materials auf zwei Ebenen ermöglichen. Zum einen soll untersucht werden, inwieweit sich die in Interviews erhobenen und aus beobachteten Performanzen rekonstruierten Vorstellungen und Deutungen alternativmedizinischer AnbieterInnen als religionsaffin bzw. religionsäquivalent 474 Liszka: Vermehrung der Religionshybride. S. 82.
Operationalisierung der Referenztheorien Religionshybride u. Deutungsmacht | 145
verstehen und als Religionshybride einordnen lassen, zum anderen soll mithilfe der Deutungsmachtanalyse nach Mechanismen der Er- und Entmächtigung von Deutungsprozessen gefragt werden. Das folgende Teilkapitel dient insofern der Überführung der vorgestellten Referenztheorien in analytische Kategorien für die Untersuchung des empirischen Materials. Beide Theorien – Religionshybride sowie Deutungsmacht – werden dazu in jeweils vier Kategorien unterteilt. Die Kategorien werden anhand ihrer aus den Theorien abgeleiteten Merkmale beschrieben und soweit konkretisiert, dass sie anschließend als Orientierungskategorien für die Untersuchung des Datenmaterials in Anspruch genommen werden können. Die Kategorien dienen dabei als leitende Raster, die die Untersuchung des Materials bzw. den Blick darauf orientieren. Zudem werden im Rahmen der Kategorienbildung in diesem Kapitel Leitfragen formuliert, die die Analyseperspektive für die Untersuchung verdeutlichen. Die Herleitung und Beschreibung der Kategorien wird jeweils durch ein Ankerbeispiel aus dem empirischen Material zur Veranschaulichung vervollständigt. Selbstredend wird bei der Bildung von Kategorien, die ein Material strukturieren und als Leitlinien für die Analyse herangezogen werden, immer auch gedeutet – und damit im oben ausgeführten Verständnis auch (Deutungs-)Macht ausgeübt. Welche Kategorien werden gebildet? Warum diese und nicht andere? Mit welchen Argumenten, Theorien und AutorInnen wird eine Kategorie plausibilisiert und der oder die LeserIn zu überzeugen versucht? Usw. Auch dort, wo von Deutungen und Deutungsmachtprozessen gesprochen wird, sind die Untersuchenden selbst nicht frei von ihnen. Das wird an der einen oder anderen Stelle der Arbeit explizit sichtbar (gemacht). Es bleibt aber auch an den anderen Stellen mitzudenken – und vielleicht dort besonders, wo die Evidenzen so groß sind, dass die Kontingenz der Deutung in den Hintergrund zu treten scheint.
4.5.1 Kategorien der religionshermeneutischen Untersuchung Der erste Teilbereich der Analyse, der eine religionshermeneutische Perspektive intendiert, orientiert sich an der Leitfrage: Welche religionsäquivalenten und religionsaffinen Bezüge zeigen sich in den Deutungen und Performanzen von AnbieterInnen alternativmedizinischer Heilungsmethoden? Dabei nimmt die Theorie der Religionshybride die Phänomene auf zweierlei Weise in den Blick. Sie differenziert in „einen religionsaffinen und einen religionsäquivalenten [Bereich] […]: Im ersten Fall haben wir es mit einer zitativen Bezugnahme auf explizit Religiöses zu tun, in der sich inhaltlich bestimmbare Referenzen identifizieren lassen, im
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zweiten Fall mit einer strukturellen Analogie, in der lediglich funktionale Bezüge aufweisbar sind“475. Kriterien für die Bildung von Orientierungskategorien, anhand derer nach religionshybriden Phänomenen gefragt werden kann, sind die Transzendierung der Alltagswelt sowie die Vergegenwärtigung der Transzendenz in religiösen Sinnformen, wie sie mit Berger, Hock und Klie sowie in Anlehnung an Knoblauch u. a. als Charakteristika von Religion und Religionshybriden herausgearbeitet wurden.476 Im Blick auf die Frage nach Religionsaffinität werden daher die Kategorien Transzendenzbezug und Sinnstiftung gebildet, da diese als Indizien der hier bestimmten Wechselbewegung im Kontext von Transzendierungsprozessen gelesen werden können. Die Religionsäquivalenz wird über die Kategorie Rituale bzw. Riten untersucht, die zur Vergegenwärtigung von Transzendenzen dienen können sowie über die Kategorie Vergemeinschaftung, die als kollektives Merkmal religionshybrider Formen verstanden werden kann. Der Bereich der Religionsaffinität, in dem es vornehmlich um die Frage nach inhaltlichen Bezügen geht und der daher im Kontext der Interviewanalyse von besonderer Bedeutung ist, wird anhand zweier Kategorien untersucht: Gefragt wird nach Sinnstiftung und Transzendenzbezug. Wie in Kapitel 4.4 über das hier zugrundegelegte spätmoderne Religionsverständnis ausgeführt, kann ein Transzendenzbezug als zentraler Aspekt religiöser Deutung bestimmt werden. Ob dabei eine strikte Trennung von Transzendenz und Immanenz postuliert oder, wie von Knoblauch477 vorgeschlagen, der Prozess der Transzendierung fokussiert wird, ist für die Frage religiöser bzw. religionshybrider Deutungen insofern sekundär, als beide Varianten – eine Immanenz-Transzendenz-Dualität ebenso wie ein Transzendierungsprozess – als relevante Merkmale für Religionsaffinität stehen. Die Weitung des als religiös Verstandenen, die Knoblauch durch seine Tranzendenzbestimmung vornimmt, ist dabei jedoch von besonderem Gewinn. Er geht davon aus, dass es gerade nicht die Annahme strikt getrennter Zuständigkeitsbereiche von Religion und Nicht-Religion, von Transzendenz und Immanenz ist, die spätmoderne Religiosität angemessen verstehen lässt: Für das Verständnis von Transzendenz478 ist entscheidend, dass man sie nicht als Teil einer binären Unterscheidung sieht. […] Der Begriff der Transzendenz ist indes weiter (als der 475 Berger, Hock und Klie: Religionshybride – Zur Einführung. S. 28. Hervorhebung im Original. 476 Vgl. Kapitel 4.4. 477 Vgl. Knoblauch: Populäre Religion. S. 55ff. 478 Transzendenz versteht Knoblauch dabei nicht nur als Eigenschaft oder Beschreibung für religiöse Phänomene und Deutungen, sondern er verwendet den Begriff alternativ
Operationalisierung der Referenztheorien Religionshybride u. Deutungsmacht | 147
der Religion, Anm. P. S.) […]. Deswegen muss diese nicht-binäre Vorstellung der Transzendenz von jener binären Vorstellung unterschieden werden, die Transzendenz im Gegensatz zur Immanenz definiert. Die nicht-binäre Transzendenz, wie ich sie hier verstehe, bedarf keines Gegensatzes. Im Sinne des lateinischen ‚transcendere‘ bedeutet sie zwar das Hinübersteigen oder Überschreiten. Der Begriff setzt jedoch keineswegs notwendig eine Unterscheidung zwischen zwei festgelegten Bereichen voraus. Statt der Unterscheidung bezeichnet er die Verbindung und Entgrenzung als Überschreitung und Überwindung dessen, was als Grenze oder Differenz angesehen werden kann. […] Wie wir sehen werden, wird die ‚Ganzheitlichkeit‘ der modernen Spiritualität viele Beispiele für das Ausbleiben der Grenzziehung bieten.479
Dieser weite Transzendenzbegriff, der für eine Entgrenzung steht, wird hier als Referenz für religionsaffine Deutungen herangezogen. Dadurch werden Transzendierungen des Alltäglichen, fluide Entgrenzungen und Überschreitungen vorhandener Grenzziehungen hin auf transzendente Inhalte und Vorstellungen sichtbar und lassen sich somit als Indikatoren religionsaffiner Deutungen lesen. Vor diesem Hintergrund werden für die Analyse mithilfe der Orientierungskategorie Transzendenzbezug u. a. folgende Leitfragen zugrunde gelegt: Finden sich (explizite oder implizite) Transzendenzbezüge in den Semantiken oder Performanzen der InterviewpartnerInnen? Lassen sich Transzendierungs- bzw. Entgrenzungsprozesse beobachten? Zeigen sich Transzendierungen von Alltäglichem (z. B. transzendente Ursachenbeschreibungen von Befindlichkeiten) oder Vergegenwärtigungen von Transzendenzen (bspw. in Form von übermenschlichen Wesen, holistischen Vorstellungen, Schicksalsmächten, transzendenten Energien u. a.)? Im folgenden Beispiel findet sich die Vorstellung, übermenschliche Mächte hätten Einfluss auf den Lebensweg der Person genommen. Eine Interviewpartnerin begründet ihre Entscheidung, Heilpraktikerin zu werden und diese Arbeit in der von ihr beschriebenen Weise auszuüben damit, durch etwas oder jemanden geleitet worden zu sein: C: […] Das ist mein Job. Und ich bin da hingeschubst worden und ich darf das machen. I: Wer hat Sie da hingeschubst? C: Das Schicksal, der liebe Gott, meine Engel. Egal. Interview Cornelia, Z. 416-419
zu Religion. Warum er Transzendenz in der Verwendung vorzieht, begründet Knoblauch ausführlicher ab S. 53ff. in seinem Buch. Vgl. Knoblauch: Populäre Religion. S. 53ff. 479 Ebd. S. 55f. Hervorhebung P. S.
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Als zweite Kategorie, die den Bereich der Religionsaffinität in den Blick nimmt, wird nach Sinnstiftung gefragt. Damit wird ein zentraler Aspekt sowohl der Charakterisierung von (religiöser) Deutung480 als auch eines spätmodernen Religionsverständnisses aufgenommen. Das Generieren von Sinn, welches weder in den sprachlichen oder performativen Formen noch mit den Inhalten traditioneller religiöser Systeme hervorgebracht werden muss, wird, wie unter 4.4 gezeigt wurde, im vorliegenden Kontext als tendenziell religionsaffin verstanden. Diese Sinnstiftung zeigt sich etwa als Kontingenzbewältigung, wenn lebensweltliche Widerfahrnisse geordnet, im Kontext der eigenen Lebensgeschichte sinnvoll gedeutet und so ihrer (erfahrenen) Zufälligkeit enthoben werden.481 In anderer Weise findet sich Sinnstiftung auch mit der Funktion der Handlungsorientierung, die sich etwa aus der Ordnung und Strukturierung von Erfahrungen herausbilden und zur Maxime der eigenen Handlungen werden kann. Für die vorliegende Untersuchung werden als Leitfragen bspw. relevant: Zeigen sich in den Deutungen und Performanzen Sinnstiftungsprozesse? Werden Sinnfragen aufgeworfen und wenn ja, in welchem Kontext werden sie sichtbar? Werden Sinnzusammenhänge konstruiert und als Verstehenszusammenhänge angeboten? Wird aus dem Sinnstiftungsangebot eine Handlungsorientierung abgeleitet? Im Ankerbeispiel wird der Themenbereich Sinnstiftung im Zusammenhang mit der Bestimmung von Heilung durch die Heilpraktikerin angesprochen. Für sie heißt Heilung, den eigenen Lebensweg, eine Bestimmung, einen Sinn im Leben zu finden und diesem zu folgen: Also, Heilung, glaube ich, in dem Sinne, ist schon immer so ein aus-, also so ein-, also, ganz still mal zu sein und zu hören, was bin ich, was will ich, was ist meine Aufgabe? Was will ich eigentlich in diesem Leben? Und dann auch den Mut haben, diesen Weg auch zu gehen, auch wenn er unangenehm ist. Interview Katja, Z. 185-188
Dem Bereich der Religionsäquivalenz kommt in den Interviewdaten, bei denen die inhaltlichen Deutungen und Ausführungen der HeilpraktikerInnen gegenüber den Performanzen im Vordergrund stehen, eine nachgeordnete Rolle zu. Im Blick auf die teilnehmenden Beobachtungen, die bei einigen Anbietern alternativer Heilkunde gemacht wurden, werden sie jedoch besonders relevant. Hier wird 480 Vgl. Lauster: Religion als Lebensdeutung. S. 14 sowie die Ausführungen unter 4.4. 481 Vgl. in einem ähnlichen Sinne das Verständnis von Deutung bei Lauster als Antwort auf die Widerfahrnisse der Lebenswelt. Im Gegensatz zum Deutungsverständnis von Lauster und zu funktionalen Religionstheorien, die Kontingenzbewältigung als zentrales Merkmal von Religion heranziehen, wird hier auf Kontingenz reduzierende Sinnstiftung außerhalb explizit religiöser Kontexte rekurriert.
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nach strukturellen Analogien zu Religion gefragt, die keine oder zumindest nicht zwingend inhaltliche Bezüge zu Religion aufweisen. Als zentrale Untersuchungsmerkmale werden hier exemplarisch Riten bzw. Rituale und Vergemeinschaftungsformen in den Blick genommen. Unter Ritual soll im Rahmen dieser Untersuchung eine verdichtete symbolische Handlung verstanden werden, die sich primär durch ihr Herausgehobensein aus alltäglichen Handlungsvollzügen auszeichnet. Sie unterscheidet sich von nicht-rituellem Handeln darin, dass sie spezifischen Formen und Abläufen folgt und somit nicht beliebig (wohl aber kontingent) ist.482 Rituale lassen sich im Sinne einer Arbeitsdefinition beschreiben als: in der Regel bewusst gestaltete, mehr oder weniger form- und regelgebundene, in jedem Fall aber relativ stabile, symbolträchtige Handlungs- und Ordnungsmuster, die von einer gesellschaftlichen Gruppe geteilt und getragen werden […]. Sie vermindern Unberechenbarkeit und Unsicherheit menschlicher Handlungsmöglichkeiten, indem sie allgemein akzeptierte Handlungsformen vorgeben, die aber durch ‚praktische Logik‘, Performanz und Aktualisierung stetig verändert und angepasst werden […].483
Aus dieser Beschreibung sind v. a. zwei Aspekte besonders hervorzuheben. Zum einen nehmen neben Regelhaftigkeit, Formgebundenheit und Stabilität der Handlungen die dynamischen Aspekte und die Perspektive einer permanenten Veränderung eine wichtige Rolle ein. Zum anderen wird auf die ordnende Funktion ritualisierter Handlungen hingewiesen, die Berechenbarkeit und Verstehen fördert. 482 Das heißt nicht, dass es nicht auch Alltagsrituale gibt. Auch diese heben sich jedoch aus dem Alltagshandeln insofern heraus, als sie etwa durch Wiederholungen oder soziale Konnotation geprägt sind wie etwa Begrüßungsrituale o.ä. Die Auffassung, dass sich Rituale von nicht-ritualisiertem Handeln unterscheiden, ist in der Ritualforschung ebenso verbreitet wie die Diskussionen darum, wo die Grenze zwischen beiden verläuft und wie das Verhältnis von Ritual und Ritualisierung zu beschreiben ist. Diese Diskussion nachzuzeichnen ginge jedoch über den Rahmen dieser Operationalisierung weit hinaus. Daher sei nur auf entsprechende Ausführungen dazu verwiesen wie bspw. in Krieger, David J. und Andréa Belliger: Ritual und Ritualforschung. In: Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. Hrsg. v. Andréa Belliger und David J. Krieger. 5., aktual. Aufl. Wiesbaden 2013. oder in Brosius, Christiane, Axel Michaels und Paula Schrode: Ritualforschung heute – ein Überblick. In: Ritual und Ritualdynamik. Schlüsselbegriffe, Theorien, Diskussionen. Hrsg. v. Christiane Brosius, Axel Michaels und Paula Schrode. Göttingen 2013. (künftig zitiert als: Brosius, Michaels und Schrode: Ritualforschung heute). 483 Brosius, Michaels und Schrode: Ritualforschung heute. S. 15.
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Auch Catherine Bell weist besonders auf die Ordnungsfunktion von Ritualen hin, mithilfe derer Menschen ermöglicht werde, „[to] embody assumptions about their place in a larger order of things“484. In dieser Ordnungsfunktion zeigen sich Überschneidungen im hier vorausgesetzten Verständnis von Ritualen mit den bereits ausgeführten Überlegungen zur Deutungsmacht. Diese lassen sich beschreiben als Verhältnisbestimmung: Auch in Ritualen und durch diese findet Deutung statt, in diesem Sinne transportieren Rituale Deutungen. Damit kommt beiden die Fähigkeit zu, einzuordnen, zu strukturieren, zu erschließen. Dass Handlungen als Rituale wahrgenommen werden können, hängt auch mit einer Differenzerfahrung zusammen. Es geht um eine bestimmte Handlung, an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit, die durch signifikante Unterschiede zum Handlungskontext gekennzeichnet ist. Durch ein entsprechendes Framing – in Form wie Inhalt – wird sie als Ritual wahrgenommen. As noted with regard to sacral symbols, distinctions between sacred and profane, the special and the routine, transcendent ideals and concrete realities can all be evoked by how some activities, places, or people are set off from others. Intrinsic to performance is the communication of a type of frame that says, ‘This is different, deliberate, and significant – pay attention!’ By virtue of this framing, performace is understood to be something other than routine reality […].485
Da Rituale in diesem Untersuchungskontext auch als individuell gebildete Handlungen zu verstehen sind, ist ihre konkrete Ausführung relevant. Die Ritualhandlung geht „mit psychischen und kognitiven, emotionalen und sinnlichen Prozessen bei den aktiven und passiven Ritualteilnehmern einher“486. Thomas Klie hat für die Praktische Theologie auf die Unschärfe eines durch zunehmende Popularisierung nahezu ubiquitär gewordenen Ritualbegriffs hingewiesen487 und plädiert für die Liturgik (und darüber hinaus) alternativ für die Rede vom Ritus. Ritus charakterisiert er als „eine in sich stimmige, kontingente Handlungsüblichkeit, bei der im Modus somatischer Kommunikation vor und mit 484 Bell, Catherine: Ritual. Perspectives and Dimensions. New York 2009. S. XI. (künftig zitiert als: Bell: Ritual). 485 Bell: Ritual. S. 160. 486 Brosius, Michaels und Schrode: Ritualforschung heute. S. 13. 487 Vgl. zur Popularisierung des Ritualdiskurses auch den im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe „Ritualistik und Religionsgeschichte“ entstandenen Aufsatz: Lüddeckens, Dorothea: Neue Rituale für alle Lebenslagen. Beobachtungen zur Popularisierung des Ritualdiskurses. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte. 56/2004. S. 37-53.
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anderen ein Sinnzusammenhang kommuniziert wird“488. Der Gewinn dieser Bestimmung und des Gebrauchs des Ritusbegriffs liegt v. a. in seiner Präzisierungsleistung. Im Zentrum dieser Charakterisierung stehen ein leiblicher Vollzug, eine performative, kontingente Handlung sowie eine sinnvolle, mitunter sinnstiftende Darstellung. Während das Ritual auf die Wiederholung bereits bekannter Inhalte abzielt, weist dieses Verständnis vom Ritus stärker auf einen dynamischen Prozess hin, in dem auch die sinnhafte Einordnung und Darstellung variabler bzw. noch nicht fest etablierter Inhalte zum Ausdruck kommen kann.489 Der Ritus sichert erst, was das Ritual bereits als gesichert darstellt und wiederholt. In der zitierten Bestimmung liegt auch der Zugewinn dieses Vorschlags in der Anwendung auf das vorliegende Untersuchungsfeld: Im Bereich alternativmedizinischer Angebote bringen rituelle Performanzen nicht (nur) fest etablierte Zusammenhänge zur Darstellung, sondern befinden sich mit der (Suche nach einer) stimmigen Darstellung ihrer Deutungen in einem Sinnstiftungs- und Etablierungsprozess.490 Hier entstehen rituelle Formen, die herausgehoben aus dem Alltagshandeln Sinnzusammenhänge kommunizieren, sich aber in Form und Inhalt erst etablieren (müssen).491 Für die Untersuchung werden folgende Leitfragen formuliert: Lassen sich in den Performanzen strukturelle Analogien zu Religion finden, die sich in der Durchführung von Riten bzw. Ritualen zeigen, die keine religiöse Deutung erfahren? Finden in den performativen Handlungen Ritualisierungen statt, die sich als religionsproduktiv erweisen? Lassen sich Riten oder Rituale beschreiben, in denen Sinnzusammenhänge zur Darstellung kommen bzw. etabliert werden (sollen)? Finden über Ritualisierungen (Ein-)Ordnungsprozesse statt? Der folgende Ausschnitt einer teilnehmenden Beobachtung, der hier als Ankerbeispiel dient, beschreibt die Situation während eines Reiki-Abends. Nach einer ausführlichen theoretischen Einführung sollen alle Teilnehmerinnen in 488 Klie: Fremde Heimat Liturgie. S. 202. Im Original kursiv. 489 Vgl. Klie: Fremde Heimat Liturgie. S. 201f. 490 Inwieweit sich dieser Prozess verstetigen und aus sich etablierenden etablierte Sinnzusammenhänge werden, die dann möglicherweise in festen Ritualen zum Ausdruck kommen, könnte erst im Nachgang längerfristiger Beobachtungen beurteilt werden. 491 Mit Dücker lässt sich die Untersuchungskategorie im Sinne des Rituellen verstehen als dynamische Form, die ausdrückt, dass etwas in neuen Zusammensetzungen Verwendung findet: So werden „bisher eher statische Einheiten dynamisiert“, so dass „ihre Inhalte aushandelbar werden […]. Rituelle Handlungen, die für eine Religion konstitutiv waren, Wertmuster, die eine Kultur unverkennbar machten, werden zu ‚Bausteinen‘ und damit für beliebige synkretistische Formen verfügbar.“ Dücker, Burckhard: Rituale. Formen, Funktionen, Geschichte. Eine Einführung in die Ritualwissenschaft. Stuttgart 2007. S. 19.
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einem praktischen Teil durch die anderen Teilnehmerinnen Reiki übertragen bekommen. Die Leiterin des Kurses, die ‚Reiki-Meisterin‘, erläutert dazu, wie sich jede Person vorbereiten solle: durch einen imaginierten ‚Schutzmantel‘ in ‚energiereichen‘ Farben solle jede Teilnehmerin sich vor dem Verlust eigener Energie schützen und dazu die Hände vor der Brust zusammenlegen. Die Leiterin spricht dazu eine ‚Sammlung‘, die deutliche Assoziationen zu einem Gebet, bspw. einem Kollektengebet in der Liturgie des christlichen Gottesdienstes, aufweist, jedoch keine christliche Deutung erfährt: In der Zwischenzeit erklärt die Kursleiterin, wie eine ‚Einheit‘ jeweils ablaufen wird: Jede Teilnehmerin solle etwa fünf Minuten Reiki bekommen. Sie werde jeweils eine Einleitung oder Sammlung sprechen, in der sich alle auf ihre Energie konzentrieren und sammeln sollen. Es wird darauf hingewiesen, wie wichtig es dabei sei, seinen eigenen ‚Schutzmantel‘ zu aktivieren, um keine eigene Energie zu verlieren. Diesen solle man sich in besonders ‚mächtigen‘ und ‚energiereichen‘ Farben vorstellen: blau, weiß und/oder goldfarben seien hilfreich. Dabei könne man die Hände vor der Brust zusammenlegen. Anschließend würden die Hände jeweils an unterschiedlichen Körperstellen bei der liegenden Person aufgelegt und die ‚Energie‘ dabei ‚übertragen‘. Eine Teilnehmerin liegt auf der Liege, alle anderen stehen um die Liege herum und haben die Hände vor der Brust zusammengelegt. Die Kursleiterin beginnt und formuliert frei ihre ‚Sammlung‘, etwa so: ‚Wir kommen jetzt zur Ruhe. Wir konzentrieren uns auf die Energie, die wir empfangen und weitergeben wollen. Um uns herum bauen wir unseren Schutzmantel auf. Wir bitten um die Energie aus dem Universum, die wir uns jetzt gegenseitig weitergeben wollen.‘ Daran anschließend schlägt sie die Klangschale an und nun beginnt die ‚Energieübertragung‘, indem alle Teilnehmerinnen ihre Hände auf die Liegende legen. Teilnehmende Beobachtung Reiki, Z. 251-269
Des weiteren soll in der Untersuchung religionsäquivalenter Strukturen nach Vergemeinschaftungsformen gefragt werden. Wie in der empirischen Forschung des Religionshybride-Projektes herausgearbeitet, lassen sich Vergemeinschaftungsprozesse im Sinne posttraditionaler Gemeinschaften für die Beschreibung hybrider Übergangsformen von Religion und Kultur heranziehen.492 Wie bei anderen Formen der Vergemeinschaftung auch zählen nach Hitzler u. a. die Abgrenzung nach außen durch ‚Wir‘ und ‚Nicht-Wir‘, ein Zu(sammen)gehörigkeitsgefühl, ein geteiltes Interesse bzw. Anliegen, eine innerhalb der Gemeinschaft anerkannte Wertsetzung sowie den Mitgliedern zugängliche Interaktions(zeit)räume zu
492 Vgl. Berger, Hock und Klie: Religionshybride – Zur Einführung. S. 29.
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den Merkmalen posttraditionaler Vergemeinschaftungsformen.493 Entscheidendes Merkmal dieser Gemeinschaftsbildung ist dabei, dass sie weder aus vorgegebenen, etwa politischen, biologischen oder religiösen Zugehörigkeiten entsteht noch sich auf gesellschaftlich-ständische Zwänge gründet, sondern sich durch kürzere oder längere Perioden der Anwesenheit an bestimmten Orten bzw. durch Teilnahme an bestimmten Events oder Riten herausbildet. Die Mitglieder finden sich freiwillig und aufgrund einer (tatsächlichen oder vermuteten) „gemeinsame[n] Interessenfokussierung“494 zusammen. In ihrer Entstehung und Funktion lassen sich diese Gemeinschaftsbildungen auch als Reaktion auf das Schwinden verlässlicher Strukturen und Regeln in einer fluiden Spätmoderne begreifen – und fungieren dabei wiederum als Ordnungsstabilisatoren: Angesichts […] des Schwindens von formaler Verlässlichkeit in modernen Gesellschaften in Folge von bzw. im Zusammenhang mit gravierenden und […] nachhaltigen sozialstrukturellen Transformationsprozessen erscheint jedoch die Frage, wie wir (wieder) ‚Sicherheit‘ gewinnen können […], immer unabweisbarer. Als eine ‚Antwort‘ auf diese Frage wird nun eben jener […] virulente Modus sozialer Aggregation erkennbar, der sich insbesondere dadurch auszeichnet, dass die freiwillige Einbindung des Individuums auf seiner kontingenten Entscheidung für eine temporäre Mitgliedschaft in einer so genannten ‚posttraditionalen Gemeinschaft‘ beruht.495
Die Eingebundenheit der Mitglieder in eine freiwillige Gemeinschaft auf überschaubare Zeit beruht auch auf der Tatsache, dass Gemeinschaften dieser Form weder über die Gewalt noch über die Mittel verfügen, eine Mitgliedschaft gegen den Willen der Mitglieder aufrecht zu erhalten. Lediglich die freiwillige Entscheidung der Mitglieder begründet ihre Teilhabe in dieser Interessengemeinschaft. Dabei ist die Überzeugung, oder wie Hitzler es nennt: Verführung, die einzige Möglichkeit der Gruppe, ein Mitglied dauerhaft im ‚Wir‘ zu halten: Diese Art von Gemeinschaft existiert […] nur durch den und im Glauben an ihre Existenz; sie besitzt nur Autorität, weil ihr und solange ihr Autorität zugestanden wird. Denn ihre Protagonisten verfügen typischerweise nicht über (genügend) institutionelle Sanktions493 Vgl. Hitzler, Ronald, Anne Honer und Michaela Pfadenhauer: Zur Einleitung: „Ärgerliche“ Gesellungsgebilde? In: Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen. Hrsg. v. Ronald Hitzler, Anne Honer und Michaela Pfadenhauer. Wiesbaden 2008. S. 10. (künftig zitiert als: Hitzler, Honer und Pfadenhauer: „Ärgerliche“ Gesellungsgebilde?). 494 Hitzler, Honer und Pfadenhauer: „Ärgerliche“ Gesellungsgebilde? S. 10. 495 Ebd. S. 13. Hervorhebung im Original.
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potentiale zur Durchsetzung ihrer Weltsicht. Ihre Macht gründet folglich nicht auf Zwang und Verpflichtung, sondern auf Verführung, auf der per Definition freiwilligen emotionalen Bindung der sich selbst als ‚Mitglieder‘ ansehenden Individuen an die Gemeinschaft.496
Vor diesem Hintergrund lassen sich religionsäquivalente Phänomene auch im Kontext posttraditionaler Gemeinschaften vermuten. Die Verbundenheit über ein gemeinsames Interesse als Grundlage der Vergemeinschaftung, das Zusammenfinden zu Events bzw. Veranstaltungen mit rituellen Praxen, die freiwillige und mitunter kurzlebige Teilnahme könnten dabei Merkmale einer lohnenden Untersuchung sein. Im Kontext einer deutungsmachtsensiblen Untersuchung ist auf die Überlegung besonders hinzuweisen, die Anerkennung der Gemeinschaft und ihrer Inhalte führe nicht über Zwang o. ä., sondern allein über Selbstbindung aufgrund von Überzeugung – eine Form von Deutungsmacht, die eine Gruppe teilt und die sie zusammenhält. Für die Untersuchung der beobachteten Veranstaltungen alternativmedizinischer Anbieter werden folgende Leitfragen formuliert: Spielen Vergemeinschaftungsprozesse im Rahmen der beschriebenen Veranstaltungen eine Rolle? Lassen sich diese als posttraditionale Gemeinschaften charakterisieren? Lassen sich Patientenbeziehungen im alternativmedizinischen Kontext als posttraditionale Vergemeinschaftungen charakterisieren? Entstehen in diesen Gemeinschaftsformen Religionshybride, etwa durch die Aufnahme bzw. Neugestaltung von Riten, durch Symbole, Handlungen oder Liturgien, die sich als Religionsäquivalente beschreiben lassen? Das Ankerbeispiel beschreibt einen Heiltag, der in der Gemeinschaft um einen Heilpraktiker besucht wurde. Nach den beschriebenen Kriterien lässt sich dies als Beispiel einer posttraditionalen Vergemeinschaftung mit Religionsproduktivität verstehen. Die Mitglieder der Gemeinschaft gehören dieser freiwillig an, es gibt ein konzentrisch geordnetes Zugehörigkeitssystem, Veranstaltungen werden organisiert, an denen feste Mitglieder und entfernt Interessierte teilnehmen können und so über eine „gemeinsame Interessenfokussierung“497 verbunden sind. Wie in den Ausschnitten aus der dichten Beschreibung deutlich wird, zeigt sich eine klar strukturierte ‚Liturgie‘ mit fester Rollenverteilung in der besuchten Veranstaltung: Auf dem Fußboden des Raumes sind Sitzplätze vorbereitet. […] Ein Platz ist deutlich von den anderen herausgehoben. Er befindet sich zentral vor dem flachen Tisch vor der Fensterseite. […] Zusätzlich zu seiner Position in der zentralen Achse von Eingangstür, Tischmitte und Fenster ist der Platz auch durch das Sitzmöbel herausgehoben. Es ist ein sehr niedriger Stuhl, in der Sitzhöhe etwa 20 cm über dem Boden, so dass beim Sitzen die Beine auf dem 496 Ebd. S. 12. Hervorhebung im Original. 497 Hitzler, Honer und Pfadenhauer: „Ärgerliche“ Gesellungsgebilde? S. 10.
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Boden abgelegt werden. Der Stuhl selbst ist dagegen größer, er hat eine gepolsterte Sitzfläche, eine hohe gepolsterte Rückenlehne und Armlehnen. […] Während sich die Plätze im Kreis nach und nach füllen[,] […] bleibt der zentrale Platz vor dem Tisch leer. Auch als die Veranstaltung beginnt, ist der Platz noch nicht besetzt. […] Nachdem alles vorbereitet ist, alle TeilnehmerInnen und das Team der AssistentInnen ihre Plätze eingenommen haben – zur linken und zur rechten Seite des leeren Mittelplatzes sitzen jeweils drei AssistentInnen – und es erwartungsvoll ruhig im Raum wird, wird die Veranstaltung durch eine der Assistentinnen, die auf dem Platz direkt neben dem leeren Stuhl sitzt, eröffnet. Sie begrüßt die TeilnehmerInnen, erklärt, wie der Tag ablaufen werde, bittet darum, während der Heiler selbst anwesend ist und mit Personen aus dem Kreis spricht, nicht hinauszugehen. […] Nach dieser kurzen Einführung steht die erste Assistentin auf und geht zur kleinen Tür an der rechten Seite des Raums. Dort geht sie hinaus und kommt kurz darauf zurück, um sich wieder in den Kreis zu setzen. Wenige Minuten später geht die Tür erneut auf und der Heiler selbst kommt durch diese Tür in den Raum. […] In langsamem, leicht gebrechlich wirkendem Gang geht er an der rechten Seite des Raumes entlang und setzt sich auf den freien, zentral herausgehobenen Stuhl. Nachdem er schweigend auf dem Stuhl Platz genommen hat, hält er die Hände vor dem Gesicht gerade aneinandergelegt, wie zu einem Gruß oder einem Gebet und hält einen Moment inne. Dann verbeugt er sich und nimmt Blickkontakt in den Kreis der TeilnehmerInnen auf. Er spricht langsam, leise und ruhig […]. Teilnehmende Beobachtung Heilungsseminar, Z. 40-81; Ausschnitte
4.5.2 Kategorien der deutungsmachtanalytischen Untersuchung Der zweite Teil der Untersuchung rückt die Deutungsmachtaspekte stärker in den Fokus. Die leitende Frage für eine deutungsmachtanalytische Untersuchung lautet: Wie werden Deutungen mächtig bzw. brüchig? Gefragt wird also nach Er- und Entmächtigungen von Deutungen bzw. nach Stabilisierungs- und Labilisierungsmomenten. Eine Vielzahl von Kategorien ließe sich formulieren, um Er- und Entmächtigungen von Deutungen zu analysieren und die damit verbundenen Prozesse sichtbar zu machen. Deutungsmachtanalyse kann auf vielfältige Art durchgeführt werden und dabei unterschiedliche Kategorien und Abstraktionsebenen fokussieren.498 Hier muss selbstverständlich eine Beschränkung stattfinden. Die Kategorien, die für die vorliegende Analyse gebildet wurden, sind Naturalisierung und 498 Vgl. zu anderen Anwendungen und Formen der Deutungsmachtanalyse z. B.: Stoellger: Theologie als Deutungsmachttheorie sowie weitere Publikationen des GRK Deutungsmacht.
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Normalisierung, Wissenschaftlichkeit und Faktizität, Genese sowie Person.499 Dabei wird sowohl in der folgenden theoretischen Abgrenzung als auch in der späteren Anwendung deutlich, dass die Kategorien nicht absolut voneinander abgegrenzt sind, sondern sich z. T. überlappen, bedingen, verstärken und wiederum er- bzw. entmächtigen können. Anknüpfend an Stuart Hall wird mit der Kategorie Naturalisierung und Normalisierung ein äußerst wirkungsvoller Aspekt von Deutungsmachtgenerierung aufgegriffen. Naturalisierung und Normalisierung meint dabei, dass Phänomene, Prozesse oder Deutungen als natürlich, naturgegeben oder auch normal dargestellt werden. Mithilfe dieser Perspektive werden sie plausibel gemacht und stabilisiert. Was natürlich ist, lässt sich nicht so leicht verändern – und entzieht jeglichen kritischen Argumenten den Boden. Hall bezieht sich in seiner Auseinandersetzung mit Naturalisierung und Repräsentationslogiken auf die Darstellung schwarzer (und in Differenz dazu weißer) Menschen in Medien und schreibt dazu: Die Logik des Naturalisierens ist einfach. Wenn die Unterschiede zwischen Schwarzen und Weißen ‚kulturell‘ sind, können sie modifiziert und verändert werden. Wenn sie jedoch ‚natürlich‘ sind – wie die Sklavenhalter glaubten –, dann befinden sie sich jenseits von Geschichte, sind permanent und festgeschrieben. ‚Naturalisierung‘ ist deshalb eine Strategie der Repräsentation, die dazu da ist, ‚Differenz‘ festzuschreiben und sie so für immer zu sichern. Sie ist der Versuch, das unvermeidbare ‚Entgleiten‘ von Bedeutung aufzuhalten und eine diskursive und ideologische ‚Schließung‘ sicherzustellen.500
Verallgemeinert ließe sich der hier beschriebene Vorgang der Einordnung von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe auf diverse Inhalte übertragen. Funktioniert etwas von Natur aus in einer bestimmten Art und Weise, erscheint es erst einmal nicht naheliegend, dies in Frage zu stellen. Entsprechend werden zu diesem natürlichen Prozess Analogien gebildet und diese als Begründungen aufgerufen. Dass dabei natürliche Gegebenheiten mitunter stärker konstruiert als rekonstruiert werden, darauf hat Maureen Maisha Eggers im Kontext rassistisch begründeter 499 Weitere Kategorien, die eine Deutungsmachtanalyse, wie sie hier betrieben wird, untersuchen könnte, wären bspw. Fragen von Visibilisierung bzw. Invisibilisierung, Aspekte der Deutung (und des Stellens von Machtansprüchen) durch Benennung bzw. Namensgebung, Untersuchung der narrativen Strukturen, in denen Deutungen wirksam werden oder ihre Wirksamkeit verlieren, institutionelle Ordnungen, die Deutungsmacht generieren u. a. 500 Hall, Stuart: Das Spektakel des ‚Anderen‘. In: Hall, Stuart: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Hrsg. v. Juha Koivisto und Andreas Merkens. Hamburg 2004. S. 130. Hervorhebung im Original.
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Machtdifferenzen hingewiesen.501 Ob es sich bei einer naturalisierenden Deutung um faktische, ‚reale‘ oder konstruierte Naturgegebenheiten handelt, ist für die Frage ihrer Überzeugungskraft mitunter sekundär. Eine naturalisierende Perspektive kann mithilfe verschiedener Argumentationslinien gestützt werden, etwa evolutionärer oder auch ätiologischer Argumente. Die Kategorie soll hier nicht normativ in Anschlag gebracht werden, sondern funktional: Wird etwas als natürlich, naturgegeben dargestellt? Dass dabei auch Aspekte von Machtaffinität mitklingen, ist evident nach den vorangegangenen Ausführungen zum Verhältnis von Deutungen und (ihrer) Macht. Natürlichkeit bzw. Natur tritt zudem in der Analyse in zweifacher Weise in Erscheinung. Zum einen geht es um Naturalisierung im eben ausgeführten Sinne, darum, dass etwas als natürlich, naturgegeben charakterisiert wird; zum anderen steht Natur als inhaltlicher Aspekt im Fokus, sofern Natur selbst als zentrales Begründungsmoment verwendet werden kann bis dahin, dass der Naturbegriff zu einer transzendenten Größe aufgehoben wird. Hier zeigt sich bspw. die angesprochene Überschneidung von Kategorien (Transzendenzbezug und Naturalisierung), die sich mitunter gegenseitig stabilisieren. Um die Kategorie Naturalisierung in den Blick nehmen zu können, wird in der Analyse u. a. gefragt: Welche Deutungen und Praktiken werden als natürliche Gegebenheiten begründet? Werden Analogien zu natürlichen Prozessen gebildet? Wird über die Argumentation mit Natürlichkeit Plausibilität, Evidenz bzw. Selbstverständlichkeit hergestellt? Am Beispiel aus dem empirischen Material wird deutlich, dass der Bereich Ernährung und damit verbunden das Thema (Trink-)Wasser für diese Kategorie eine zentrale Rolle spielt. Hier begründet eine Heilpraktikerin ihre Ablehnung von kohlensäurehaltigem Wasser mit der Unnatürlichkeit dieses Nahrungsmittels: Ja, Thema Wasser zum Beispiel. Kann ich auch in die Natur gehen und gucken. Kein Tier trinkt Wasser mit Kohlensäure. Das ist ein saures Wasser. Das ist nicht gut für uns. Interview Jessica, Z. 298-299 501 Eggers identifiziert dabei vier Ebenen rassifizierter Machtordnung und weist neben Markierung, Positionierung und Ausgrenzung auf Naturalisierung als wichtiges Machtinstrument hin: „Die erfundenen oder konstruierten Differenzmerkmale werden naturalisiert. Sie werden als unüberwindbarer Teil der ‚Natur‘ von rassistisch markierten ‚Anderen‘ gesetzt. Die auf diese Weise konstruierte Differenz wird festgelegt und verabsolutiert.“ Eggers, Maureen Maisha: Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive in der Kritischen Weißseinsforschung in Deutschland. In: Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Hrsg. v. Maureen Maisha Eggers u. a. 2. überarb. Aufl. Münster 2009. S. 57.
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Die Kategorie Naturalisierung wird in der vorliegenden Untersuchung mit der Praxis der Normalisierung verbunden. Beiden Aspekten ist gemeinsam, dass sie – natürliche oder aber gesellschaftliche – Gegebenheiten im Sinne eines normativen Sosein-sollens (re-)konstruieren und durch diese Rekonstruktion Überzeugungskraft generieren. Dabei können beide Argumentationen in ähnlicher Weise funktionieren, wobei sich jeweils die Bezugsgröße – Natur bzw. (gesellschaftliche) Normalität – unterscheidet.502 Im Sinne der Evidenz, der Selbstverständlichkeit als besonders wirkmächtiger Form des Auftretens einer Deutung, wurde unter 4.3 unter anderem mit Bezug auf Byung-Chul Han auf Normalität als Deutungsmachtfaktor bereits hingewiesen. Das, was normal ist, wird nicht hinterfragt und ist insofern besonders wirkungsvoll. Dabei ist das, was als normal gilt, kulturell und historisch variabel; in seiner aktuell gültigen Form aber jeweils von hoher Durchsetzungskraft. Im Denken Foucaults spielt Norm eine zentrale Rolle. Er sieht das Normale als ein wichtiges gesellschaftliches Formierungsprinzip. Dabei gehe Normalität eine enge Verbindung mit Sichtbarkeit und Disziplin ein, die zu einer Überwachung und letztlich zu einer Durchsetzung des Normalen führten. Die „Macht der Norm“503 etabliere sich, so Foucault, in einer Gesellschaft der Normalisierung als so wirkmächtig, weil sie sowohl Homogenität herstelle bzw. stärke als auch individualisierend jeden noch so kleinen Unterschied vermessen und festschreiben ließe. Die Nähe, die Normalisierung und Norm in den Ausführungen Foucaults haben, greift Marc Rölli auf und differenziert mit Blick auf den Normalisierungsprozess weiter: Wenn Foucault von einer ‚Norm‘ spricht, zeigt diese dann an, was in der Regel geschieht, oder setzt sie das fest, was rechtmäßig zu geschehen hat? Hinter diesem Alternativschema steht der Gegensatz von Natur und Freiheit, Normalität und Normativität, Regelmäßigkeit 502 Natürliche und gesellschaftliche Normalität als Kategorien der Deutungsmachtanalyse werden hier im Sinne eines Gegensatzpaares insofern als strukturell analog aufgefasst, als die Argumentation über das Gegebene, Evidente und in gewisser Weise Unverfügbare, zumindest aber nicht ohne weiteres zu Ändernde funktioniert. Über diese strukturellen Analogien hinaus sind beide Bereiche insofern verbunden, als offensichtlich in Kultur und Gesellschaft, indirekt aber auch im Kontext von Natur produktive und aktive sowie genealogische Aspekte mitzudenken sind. Vgl. dazu beispielhaft die Idee, Natur ‚wiederherstellen‘ zu können: Lauer, David: Die ‚Wiederbelebung‘ einer Nashornart ist ein tragischer Akt. Philosophischer Wochenkommentar im Deutschlandfunk Kultur. Zu finden unter http://www.deutschlandfunkkultur.de/philosophischer-wochenkommentar-die-wiederbelebung-einer.2162. de.html?dram:article_id=413951. Aufgerufen am 27. März 2018. 503 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 11. Aufl. Frankfurt a. M. 1995. S. 237. (künftig zitiert als: Foucault: Überwachen und Strafen).
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und Regelbefolgung, Verhaltensgewohnheiten und Handlungsvorschriften […]. Es ist klar, dass der Begriff der Normalisierung den Anspruch erhebt, diesen Gegensatz zu unterlaufen, indem er die Produktion der Normalität als einen normativ gesteuerten Prozess beschreibt, so dass die Trennung der beiden Bereiche zwar methodisch möglich ist […], aber de facto nirgends dem empirischen Befund entspricht.504
Normalisierung lässt sich somit als normierende Kategorie verstehen, die im Sinne einer naheliegenden, natürlichen oder eben ‚normalen‘ Handlungs- oder Begründungsweise vorgehen lässt. Das Normale wird somit auch das der Norm gemäße. Wo sich diese Allianz bildet, werden Deutungen mit einem hohen Maß an Überzeugungskraft ausgestattet. Im Umkehrschluss lässt sich über die Strategie der Ent-Normalisierung die Labilisierung und Destabilisierung einer Deutung (oder Handlung) erzeugen. Dass die Medizin, insbesondere die Psychologie, in der Bestimmung von Normalität eine herausragende Rolle spielt, hat ebenfalls Foucault herausgearbeitet505, wird aber auch in anderen Darstellungen zum Thema Normalität deutlich506. 504 Rölli, Marc: Normalisierung – eine Kategorie zwischen Normalität und Normativität? In: Zwischen Normativität und Normalität. Theorie und Praxis der Anerkennung in interdisziplinärer Perspektive. Hrsg. v. Claudia Czycholl, Inge Marszolek und Peter C. Pohl. Essen 2010. S. 53f. Hervorhebung im Original. 505 Vgl.: „Hingegen orientiert sich die Medizin des 19. Jahrhunderts mehr an der Normalität als an der Gesundheit. […] [I]hr Gegenstand – der Mensch mit seinen individuellen und kollektiven Verhaltensweisen und Realisationen – wurde in einem Feld konstituiert, das vom Gegensatz zwischen dem Normalen und Pathologischen bestimmt ist.“ Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. S. 53. „Wir sind in eine Art Gesellschaft eingetreten, in der die Macht des Gesetzes im Begriff ist, nicht zu regredieren, aber sich in eine viel allgemeinere Macht zu integrieren: im Großen und Ganzen die Macht der Norm. […] Wir werden zu einer im Wesentlichen durch die Norm bestimmten Gesellschaft. Und das impliziert ein ganz anderes Überwachungs- und Kontrollsystem. Eine unaufhörliche Sichtbarkeit, eine durchgehende Klassifizierung der Individuen, eine Hierarchisierung, eine Qualifizierung, das Aufstellen von Grenzen und Erstellen von Diagnosen. Die Norm wird zum Kriterium für die Unterteilung der Individuen. Von dem Moment an, da eine Gesellschaft der Norm sich wirklich auszubilden im Begriff ist, wird die Medizin als die Wissenschaft schlechthin für das Normale und das Pathologische zur Königswissenschaft.“ Foucault, Michel: Die gesellschaftliche Ausweitung der Norm. In: Foucault, Michel: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 3. Hrsg. v. Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Frankfurt a. M. 2003. S. 100. Vgl. auch: Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. 10. Aufl. Frankfurt a. M. 1993. 506 Vgl. Frances: Normal.
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In der vorliegenden Untersuchung wird gefragt: Inwiefern werden Normalitätsvorstellungen als Begründungsmaßstab herangezogen? Wird die eigene Deutung als ‚normal‘ gekennzeichnet und insofern als nicht begründungsbedürftig charakterisiert? Wird eine entgegengesetzte Position als von der Norm abweichend dargestellt bzw. wird die Normalität dieser Aussage bzw. das Konzept der Normalität als solches in Frage gestellt? Der als Ankerbeispiel herangezogene Ausschnitt aus einem Interview zeigt diesen letzten Aspekt auf: Normwerte werden aufgestellt bzw. entstünden sie „irgendwie“, werden aber durch die Heilpraktikerin als dem Individuum nicht gerecht werdend hinterfragt: […] dass gerade Leute mit-, also, die müde und schlapp sind, doch so ein bisschen zu tun haben mit Schilddrüse. Also ohne dass die jetzt krank ist, sondern dass einfach das, was da ist, für denjenigen zu wenig ist. Obwohl er sicherlich noch im Normbereich ist, so von den Blutwerten her oder so was. Das ist eben das-, wir funktionieren alle anders als-. Halt irgendwie entstehen diese Normwerte, aber wir sind alle für uns individuell. Interview Jessica, Z. 355-360
Als weitere Kategorie der Deutungsmachtanalyse wird in der Untersuchung auf den Aspekt der Faktizität bzw. Wissenschaftlichkeit fokussiert. Mit der Frage nach Faktizität wird eine zentrale Perspektive im Kontext von Deutungsmachtfragen aufgegriffen. Wie unter 4.2 ausgeführt wurde, ist die Frage nach dem Anderen der Deutung, nach den Fakten oder dem Wahrheitsgehalt hinter einer Deutung ebenso wenig zu beantworten wie zu ignorieren. Sie ist vom Standpunkt der Deutungsmachttheorie her möglicherweise (vorerst) zu suspendieren, stellt jedoch als Bemühen eine wichtige Strategie im Streben nach Überzeugung dar. Weniger als um die Klärung von ‚wahr‘ oder ‚falsch‘, ‚real‘, ‚faktisch‘ oder ‚erdacht‘, geht es dabei um Plausibilisierung. Können allgemein als überzeugend angesehene Daten, Studien, Personen oder andere Autoritäten herangezogen werden, um Plausibilität zu generieren? Dass dabei in einer spätmodernen westlichen Gesellschaft Wissenschaft eine eminent wichtige Rolle spielt, hat Eva Barlösius herausgearbeitet: „Wissenschaft ist in modernen Gesellschaften unbestritten die wichtigste Instanz, Grundlagen für einen neuen Common Sense507 zu generieren und Konsensbil507 So wie Barlösius den Begriff Common Sense (bzw. an anderer Stelle im Buch auch den Begriff Konsens) verwendet, lassen sich große Überschneidungen zum Deutungsmachtkonzept erkennen, etwa wenn es um Fragen der Anerkennung und Legitimation oder der Veränderbarkeit von Deutungen bzw. geteilter Überzeugungen geht. So stellt Barlösius etwa die These auf, dass „Forderungen und Ansprüche, die nicht wenigstens ein gewisses Streben nach Anerkennung und Legitimierung erkennen lassen, in der Mehrzahl der Fälle als weitgehend unstatthaft und unberechtigt beurteilt“ und
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dungsprozesse zu fördern – allein schon deshalb, weil sie in modernen Gesellschaften als einzig legitime Objektivierungsmethode anerkannt ist.“508 Wissenschaftliche Be- und Nachweisbarkeit wird somit herangezogen, um Argumente zu stützen und als nicht-gedeutet, sondern faktisch gegeben plausibel zu machen – ein Aspekt, der in besonderem Maße im hier verhandelten Feld medizinischer Phänomene eine Rolle spielen könnte, wird doch gerade im Bereich naturwissenschaftlicher Forschung auf die Fakten- bzw. Evidenzbasiertheit besonders Wert gelegt. Dass im Sinne einer deutungsmachtsensiblen Perspektive eine dichotome Trennung von wissenschaftlich beweisbarem Fakt einerseits und unwissenschaftlicher, womöglich sogar willkürlicher Deutung nicht sinnvoll aufrecht zu erhalten ist, wurde unter 4.2 schon ausgeführt und ist auch in der Wissenschaftsgeschichte
abgelehnt würden. Auch moderne Gesellschaften funktionierten nicht ohne die Herstellung eines Common Sense. Vgl. Barlösius, Eva: Die Macht der Repräsentation. S. 175. Zitat: Ebd. 508 Barlösius, Eva: Die Macht der Repräsentation. S. 179. Dabei macht Barlösius auch deutlich, dass sich die Wissenschaft zwar als einzig legitime Methode der modernen, aufgeklärten Orientierung herausgebildet hat, zugleich aber selbst nicht unangefochten steht, sofern sie Wissenschaft in einer demokratischen Gesellschaft ist, welche grundsätzlich keiner Einzelinstanz die volle Verbindlichkeit in Orientierungsfragen zugesteht: „Die Rolle der Wissenschaft ist jedoch ambivalent: ‚science as an attack on common sense‘, wenn alltägliche Selbstverständlichkeiten durch Wissenschaft als ‚unrichtig‘ oder ‚unangemessen‘ entlarvt werden; ‚science as organized common sense‘, wenn Wissenschaft Regeln und Sichtweisen hervorbringt, die allgemein anerkannt werden und gegen die sich nur ‚Nischenmeinungen‘ auflehnen […]. Wissenschaft allein reicht jedoch zur Generierung von Common Sense nicht aus. Es bedarf einer zusätzlichen Legitimationsquelle, denn in demokratischen Gesellschaften hat keine Einzelgruppe das Vorrecht, selbstherrlich allgemein verbindliche Ziele und Werte festzulegen – selbstverständlich auch nicht die Wissenschaft.“ Barlösius, Eva: Die Macht der Repräsentation. S. 179f. Besonders der zweite Punkt, den Barlösius anspricht, die ‚science as organized common sense‘ ist im Blick auf Deutungsmachtfragen interessant. Wenn (wissenschaftlich generierter) Common Sense herrscht, der nur durch Nischenmeinungen – durch Alternative/n – angefragt wird, gibt es Überlagerungseffekte mit anderen Kategorien wie etwa dem Bereich Naturalisierung/Normalisierung. Ein als natürlich, evident gekennzeichneter Vorgang kann gegenüber einem wissenschaftlich (re-)konstruierten im Blick auf die Überzeugungskraft der Deutung durchaus die Oberhand gewinnen – auch wenn diese Deutung mit viel weniger anderen Machtmitteln wie personellem Prestige, Forschungsgeldern oder medialer Reichweite daherkommt.
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nicht neu.509 Nichtsdestotrotz bleibt, verbunden mit dem (Selbst-)Verständnis und der im Sinne Barlösius‘ angenommenen Stellung von Wissenschaft in der Gesellschaft, (postulierte) Faktizität und Wissenschaftlichkeit ein wichtiges Stabilisierungsmoment von Deutungen. Als für die Analyse leitend werden daher folgende Fragen formuliert: Werden Argumente durch das Heranziehen von Fakten gestützt – unabhängig davon, ob oder durch welche Instanzen diese Fakten selbst wiederum verifiziert werden? Spielt der Bezug zu Wissenschaft/ Wissenschaftlichkeit – direkt oder indirekt – eine Rolle? Wird Wissenschaft(lichkeit) zur Argumentation und Begründung abgelehnt oder als Konzept in Frage gestellt? Das Interviewbeispiel zeigt, wie im Blick auf die Entstehung von Krankheiten über den Begriff „Energie“ argumentiert und dieser in einen als (natur)wissenschaftlich gekennzeichneten Kontext eingeordnet wird: Ich, ich benenne es als Energie, weil ich sehe das ganzheitlich. Der Körper ist Energie, nur feste, Blut ist auch Energie. Wir können da von Atomen reden, von Molekülen reden. Das ist ja alles Energie. Wir sind ja alle irgendwo aus irgendwas entstanden. Und ich betrachte das dann einfach nur als Energiestörung. […] Das ist nur für mich so ein bisschen, ein kleinerer Begriff. Also, ich spreche nicht von spirituellen Geschichten. Sondern wirklich von Physik, von Atomen und Molekülen und daraus, woraus der Körper besteht. Auch unsere Zellen sind ja Verbindungen von Atomen, von Molekülketten. Wir haben da noch den Zellkern, und da spricht man ja wirklich vom Kraftwerk. Das Kraftwerk der Zelle, die Energie der Zellkerne, sagt man auch im anatomischen Bereich, im schulmedizinischen Bereich. Interview Josefine, Z. 170-189, Ausschnitte
Sind Deutungen anerkannt und stabil, lassen sie sich kaum hinterfragen. Soll dies gelingen, ist dagegen nach den Prozessen der Anerkennung bzw. des Vergehens ihrer Überzeugungskraft zu fragen. Wirksame, anerkannte Deutungen können also nicht im Ist-Zustand untersucht werden, sondern müssen über die Spuren, die sie hinterlassen (haben), rekonstruiert werden.510 Anerkennungsprozesse nachzuvoll509 Vgl. z. B. Fleck: Entstehung und Entwicklung sowie Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2. rev. Aufl. Frankfurt a. M. 1976. 510 Den Gedanken, Deutungsmacht nicht im Ist-Zustand, sondern allein über ihre Spuren, ihre Zeichen, wahrnehmen zu können, da es keinen Standpunkt außerhalb gibt, sofern Deutungsmacht wirksam ist, führt Kurt Röttgers für Macht im Allgemeinen aus: Macht ist nie zu beschreiben ohne selbst von ihr Gebrauch zu machen. Erst im Nachhinein kann sie über die Spuren, die sie hinterlassen hat und den Veränderungsprozess erkennbar gemacht werden. Die Spuren freilich, so schreibt er, „in denen einer gerade noch steht, [kann man] nicht lesen […]. Erst wenn er sie verlassen hat, sind sie als
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ziehen ist unter diesen Voraussetzungen nur historisch, im Nachhinein oder möglicherweise auch prospektiv, im Entstehen einer Anerkennung möglich, wobei im zweiten Fall die Bestätigung noch aussteht, dass diese oder jene Überzeugung letztlich wirklich Selbstverständlichkeit geworden ist. Dieser Aspekt der Genese stellt eine weitere Orientierungskategorie der vorliegenden Arbeit dar. Die Untersuchung der Entstehung (und des Vergehens) der Anerkennung einer Deutung nimmt dabei Anleihen bei Foucaults Vorhaben, geistesgeschichtliche Vorfindlichkeiten, Ideen, Überzeugungen in ihrer Gewordenheit auszuleuchten.511 Schon der wissenschaftssoziologische Klassiker Ludwik Flecks über die Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher Tatsachen streicht den Gedanken heraus, dass wissenschaftliches Wissen (oder auch nicht-wissenschaftliche Überzeugungen) nicht einfach gegeben, sondern geworden sind: Erstens gibt es wahrscheinlich keine vollständigen Irrtümer, so wenig wie vollständige Wahrheiten. […] Zweitens, ob wir wollen oder nicht, wir können nicht von der Vergangenheit – mit allen ihren Irrtümern – loskommen. Sie lebt in übernommenen Begriffen weiter, in Problemfassungen, in schulmäßiger Lehre, im alltäglichen Leben, in der Sprache und in Institutionen. […] [D]ie heutigen Forschungsmittel sind eben Ergebnis der historischen Entwicklung, sie sind so und nicht anders eben durch solche und nicht andere Vorgeschichte. Auch der heutige Begriff der Krankheitseinheit z. B. ist Entwicklungsergebnis und nicht die logisch einzige Möglichkeit. […] Vom einfach Gegebenen kann hier überhaupt nicht gesprochen werden.512
Solange eine Deutung als selbstverständlich überzeugt, ist ihre Genese unsichtbar. Wird diese aber sichtbar (gemacht), wird ihre Kontingenz deutlich. MögliSpuren eines nunmehr aus den Spuren Abwesenden lesbar. […] Wichtiger noch als die Frage nach der Möglichkeit der Identifikation der Spuren der Macht oder nach den Machtwirkungen an den Menschen erweist sich aber immer mehr die Frage der Interpretationen. Die Spurenkundigen […] verstehen sich darauf, aus dem Abwesenden im Gegenwärtigen, oder sagen wir: aus dem bloß symptomatisch (als Spur) Anwesenden auf die Merkmale des Abwesenden zu schließen.“ Röttgers, Kurt: Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik. Freiburg, München 1990. S. 31ff. 511 Diese Methode der Genealogie, das Herausarbeiten des Gewordenseins von Normen und Ideen, wird bspw. in „Die Geburt der Klinik“ deutlich, in der Foucault die Veränderungsprozesse des ärztlichen Blicks und der Krankenhausentwicklung Ende des 18., Anfang des 19. Jh. untersucht oder auch in „Überwachen und Strafen“, das die Entwicklung des Gefängniswesens nachzeichnet. Vgl. Foucault: Die Geburt der Klinik; Foucault: Überwachen und Strafen. 512 Fleck: Entstehung und Entwicklung. S. 31ff.
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cherweise ist schon eine konkurrierende Überzeugung aufgekommen. Die Genese einer anerkannten Deutung ist dabei in zwei Schritten zu denken: Im ersten Aufkommen, im Entstehen gegenüber anderen Deutungen wird sie erst einmal als Konkurrenz auftreten (müssen) und so hinterfragt wie begründungsbedürftig sein. Sie muss mit entsprechenden Argumenten versehen, wiederholt vorgetragen, von einer zunehmenden Zahl an Rezipienten anerkannt und unterstützt, mit Autorität versehen werden usw., um Plausibilität zu generieren. Erst in einem zweiten Schritt, wenn die Argumente und/oder die Autoritäten überzeugt haben, wenn sich die Deutung als common sense durchgesetzt hat, werden die Plausibilisierungsmechanismen unnötig – und die Deutung wird selbstverständlich, sie erlangt „reine Geltung“513. Mit André Brodocz lässt sich, in der Übertragung seiner Analyse des Machtdiskurses auf den spezifischen Diskurs um Deutungsmacht, die Genese von Deutungsmacht in der Ambivalenz von „Behaupten und Bestreiten“514 nachzeichnen. Im Durchsetzungsprozess einer Deutung findet sich ein Wechselspiel der Behauptung des Wahrheitsanspruches einer Deutung ebenso wie seine Bestreitung. Dabei strebt die Deutung nach dauerhafter Anerkennung – und bleibt doch zugleich fragil und „Ausdruck umkämpfter und immer nur vorübergehend durchgesetzter Ordnungsbehauptungen“515. Im Blick auf die Arbeit am Material lassen sich aus diesem Gedankengang folgende Leitfragen entwickeln: Weist das Material Argumentationen auf, die auf eine Begründungsbedürftigkeit einer Deutung hinweisen? Wird auf Veränderungsprozesse in der Anerkennung von Deutungen hingewiesen – sowohl im Blick auf eigene, als auch auf Überzeugungen anderer? Wird auf die Dauerhaftigkeit einer Deutung hingewiesen – und damit möglicherweise eine Genese, ein Gewordensein verdeckt? Ein Beispiel für die Begründungsbedürftigkeit einer Deutung zeigt der folgende Ausschnitt aus dem Interview mit einer Heilpraktikerin. Sie zeichnet nach, wie ein gängiges und bis heute anerkanntes Erklärungsmuster der Medizin
513 Brodocz, André: Behaupten und Bestreiten. Genese, Verstetigung und Verlust von Macht in institutionellen Ordnungen. In: Institutionelle Macht. Genese, Verstetigung, Verlust. Hrsg. v. André Brodocz u. a. Köln 2005. S. 19. (künftig zitiert als: Brodocz: Behaupten und Bestreiten). 514 Brodocz: Behaupten und Bestreiten. 515 Ebd. S. 32. Wie groß oder klein die Zeiträume von „vorübergehend durchgesetzt“ dabei sind, spielt dabei weniger eine Rolle. Es gibt Ordnungssysteme, die extrem langlebig und in ihren Deutungen langfristig nicht hinterfragt sind, etwa Religionssysteme oder soziale Hierarchien; andere hingegen sind von kürzerer Dauer, z. B. wissenschaftliche Hypothesen, die ggf. nach wenigen Jahren oder Jahrzehnten als überholt gelten müssen.
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entstand und in seiner Entstehungsgeschichte umstritten war – für sie selbst ein Indiz, dass die gängige Überzeugung nicht unbedingt die richtige ist: Und das ist eine Geschichte, die bis in die 30er Jahre zurückgeht. Als ein-, also Robert Koch ja ganz groß im Kommen war oder schon ein anerkannter Arzt war, er aber einen Zeitgenossen hatte, den Professor Enderlein, der im Prinzip an gleichen Sachen, also an Bakterien, geforscht hat, aber andere Verfahren benutzt hat, und zwar die Dunkelfeldmikroskopie und gesehen hat, dass die Erreger, die sozusagen uns krank machen, sich doch anders entwickeln als angenommen wurde, ne, so. Und das eben so in unserem Körper auch passiert, und er auch gesehen hat, dass diese Erreger sozusagen ihre ganze Entwicklungs-, Evolutionsgeschichte, also so Mikroevolutionsgeschichte, dass man die auch wieder zurückschrauben kann. Und es gab immer ewig diesen Streit zwischen diesen beiden, ne. Denn Robert Koch sagt: ‚Die Erreger, die sind monomorph‘, das heißt, die sind so da, wie wir sie sehen. Und der Professor Enderlein hat aber etwas anderes gesehen in seinem Dunkelfeldmikroskop […]. Interview Jessica, Z. 24-36
Auch das Thema Subjekt bzw. Person wird als ein Schwerpunkt für die Deutungsmachtuntersuchung herangezogen. Wurde v. a. im Kontext von Naturalisierung und Normalisierung sowie im Zusammenhang mit Deutungsmacht als latente Wirksamkeit, als unhinterfragte Überzeugungen und Selbstverständlichkeit die Wirkmacht von Deutungen unabhängig von konkreten Subjekten oder Handlungen herausgearbeitet, soll in diesem Abschnitt der Fokus auf den Einfluss von Personen gelegt werden. Auch wenn der nicht-personalen Macht, sowohl im Sinne einer strukturellen Machtkomponente als auch mit einem modalen Verständnis von Macht516 in der Deutungsmachtanalyse ein besonderer Wert zukommt, ist die Kategorie Person bzw. Subjekt aufschlussreich für die Analyse von Deutungsmachtstrukturen und soll daher nicht außer Acht gelassen werden. Dazu kann in zweifacher Weise gefragt werden – sowohl nach dem Urheber einer Deutung, nach seiner Funktion, Autorität, seinem Amt usw., wie es unter 4.3 unter dem Aspekt Macht zur Deutung deutlich geworden ist, als auch nach den Rezipienten einer Deutung, denen als Instanz der Aufmerksamkeit und Anerkennung (oder
516 Ein modales Verständnis von Macht, wie es im Kontext des Deutungsmachtdiskurses gedacht wird, lenkt den Fokus auf eine Ermöglichung jenseits handelnder Subjekte: In diesem Sinne „organisiert Macht Strukturen des Möglichwerdens und arbeitet an Grenzverschiebungen des für möglich Gehaltenen“. Zitat: Kumlehn: Vorlesungsmanuskript: Was ist Deutungsmacht? S. 12.
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auch Anerkennungsverweigerung) ein unverzichtbarer Anteil an der Stabilisierung einer Deutung zukommt. Die im Rahmen der Untersuchung erfragten Deutungen alternativer HeilungsanbieterInnen gewinnen ihre Relevanz dadurch, dass sie als Deutungen und Erschließungsangebote für die RezipientInnen bedeutungsvoll und wirksam werden. Als solche sind sie Teil der Kommunikation zwischen heilender und hilfesuchender Person. In dieser Kommunikation werden Deutungen nicht nur vorgeschlagen, Argumente nicht nur vorgebracht und unabhängig von Kontextbedingungen wirksam. Vielmehr gilt: „Argumente haben von sich aus keine Kraft und keine Macht.“517 Ihre Wirksamkeit hängt sowohl vom gesellschaftlichen und historischen Kontext als auch von derjenigen Person ab, welche die (sprachliche) Äußerung vorbringt. Entstehen Theorien quasi ‚zur falschen Zeit‘, werden sie z. B. aufgrund historischer Rahmenbedingungen nicht wirksam. Im Blick auf die Durchsetzung in Abhängigkeit von Personen ist die soziale Stellung einer Person und die damit verbundene gesellschaftliche Autorität ebenso zu bedenken wie ihr (vorhandenes oder fehlendes) Charisma. Auch ein Amt unterstützt in der Regel die Deutungen des Amtsinhabers. Dass auch Gewalt oder Zwang eine Deutung zur Anerkennung bringen können, sei hier erwähnt, wobei dies in der vorliegenden Untersuchung – und allgemein im Kontext von Deutungsmachtgeschehen – nicht im eigentlichen Sinne relevant ist. Interessant ist dagegen der von Jo Reichertz stark gemachte Aspekt der Verlässlichkeit: Eine Deutung als Kommunikation hat dann die Chance auf Anerkennung, wenn sie durch eine Person von hoher Verlässlichkeit vorgebracht wird.518 Dabei muss nicht nur im Sinne Reichertz‘ an die Kongruenz von Sprechen und Handeln gedacht werden, vielmehr spielen hier auch Vertrauen in bzw. Glauben an eine Person eine Rolle. Als (sprach-)handelnde Subjekte sind die alternativmedizinischen AnbieterInnen in diese Untersuchung einzubeziehen. Dabei ist sowohl die Ebene ihrer Deutungen als auch die ihrer Handlungen relevant und wird über folgende Leitfragen untersucht: Welche Personen sprechen oder handeln? Mit welcher Autorität, in wessen Namen, aufgrund welches Amtes oder welcher (Berufs-)Rolle? Lassen sich über die Äußerungen oder Handlungen Effekte der Stabilisierung oder Labilisierung beobachten? (Wie) Zeigen sich Hinweise auf die Anerkennung einer Deutung durch die RezipientInnen? Der folgende Interviewausschnitt dient als Ankerbeispiel dieser Orientierungskategorie: Hier zeigt sich zum einen etwas im Blick auf die Rolle der Heilpraktikerin selbst, zum anderen gerät sie als Rezipientin in den Blick, wenn sie auf die Relevanz eines von ihr zitierten Forschers, Heilers und Autors verweist. 517 Reichertz, Jo: Kommunikationsmacht. S. 196. 518 Vgl. Ebd. S. 217.
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Sie selbst versuche in verschiedenen gesellschaftlichen Rollen – als Freundin, Bekannte und Heilpraktikerin – ihre Auffassung zu vermitteln und durchzusetzen, sieht aber zugleich in dem Autor, über den sie spricht, eine höhere Autorität. Weil ich mich immer auch als Aufklärer sehe: ‚Oh, nicht das Handy am Ohr‘ und ‚Nicht das Handy am Bett‘. […] Und nicht die Mikrowelle-. Und-, ich habs schon immer versucht mal so, im Bekannten- und Freundeskreis oder im Patientenkreis zu verkaufen. Mehr oder weniger erfolgreich. Und dann sehe ich eben, was er da alles in der Richtung macht und denke: Wow, wow, wow, wow! Interview Marisa, Z. 605-611
Mithilfe der hier vorgestellten, aus den Referenztheorien abgeleiteten Orientierungskategorien wurde das Datenmaterial analysiert und systematisiert. Die Vorgehensweise dafür wird im folgenden Kapitel zur Methodik ausgeführt, bevor dann im 6. Kapitel die Ergebnisse der Analyse anhand reichhaltigen Materials dargestellt und interpretiert werden.
5 Methoden der empirischen Arbeit
Die methodischen Grundlagen einer wissenschaftlichen Untersuchung werden zuallererst durch ihren Gegenstand und ihre Fragestellung bestimmt. Damit verbunden sind weitreichende Konsequenzen im Blick darauf, was wie sichtbar gemacht werden kann und welche Aspekte in einer Analyse nicht gezeigt werden können. Für die hier vorliegende Untersuchung wird eine qualitative Forschungsmethode gewählt, da diese der zentralen Fragestellung und den aus ihr abgeleiteten Forschungsfragen am besten gerecht zu werden versprach. Im Zentrum der Untersuchung steht das Vorhaben, Deutungen und Vorstellungszusammenhänge (belief systems) in alternativmedizinischen Kontexten zu rekonstruieren, so dass ein qualitatives Instrumentarium aus teilnehmender Beobachtung und Einzelinterviews genutzt wird.519 Anders als bei der Erfassung quantitativer Größen zielt dieses Verfahren nicht auf repräsentative, verallgemeinerbare Aussagen520, sondern auf die Sichtbarmachung sozialer Handlungs- und Begründungsstrukturen, Sinnkonstruktionen sowie Wissensbestände, um diese vor dem Hintergrund der Bezugstheorien zu interpretieren. Da es nicht die eine allgemeingültige Methode qualitativer Sozialforschung gibt, setzt sich auch diese Arbeit zusammen aus Anteilen und Anregungen unterschiedlicher Methoden und Theoriekonzepte. Dabei wird auf verschiedene For519 Kelle, Udo und Susann Kluge: Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung. 2., überarb. Aufl. Wiesbaden 2010. S. 10ff. (künftig zitiert als: Kelle und Kluge: Vom Einzelfall zum Typus). 520 Die Nicht-Repräsentativität von qualitativen Studien im Blick auf statistisch verallgemeinerbare Aussagen bedeutet nicht zugleich, dass nicht auf eine möglichst hohe Aussagekraft der Daten im Blick auf die Fragestellung Wert gelegt würde. Mithilfe welcher Methoden eine möglichst gute Datenbasis erreicht werden kann, wird im Folgenden ausgeführt. Vgl. zu diesem Problem: Kelle und Kluge: Vom Einzelfall zum Typus. S. 41ff.
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men qualitativer Interviews ebenso zurückgegriffen wie auf Ideen aus der Grounded Theory oder eben auf Überlegungen zur Deutungsmachtanalyse. Welche Aspekte im Einzelnen zum Tragen kommen, ist Thema der folgenden Abschnitte.
5.1 SAMPLE Für die Zusammenstellung des Samples einer qualitativen Untersuchung können verschiedene Paradigmen herangezogen werden.521 Anders als in einer quantitativen Untersuchung, z. B. einer repräsentativen Umfrage, wird die Fallauswahl hier nicht nach der Prämisse einer möglichst vollständigen Abbildung des Feldes getroffen bzw. eine höchstmögliche Anzahl an Fällen herangezogen. Stattdessen wird anhand vorab bestimmter, für die Untersuchung relevanter Kriterien eine Auswahl von Fällen bestimmt – in der hier vorliegenden Untersuchung bspw. über das Kriterium der staatlichen Anerkennung der InterviewpartnerInnen als HeilpraktikerInnen. Qualitative Forschung erhebt den Anspruch, Aussagen über Verhalten oder innere Einstellungen zu treffen und insofern etwas darzustellen bzw. zu repräsentieren. Um im Sinne dieser Art qualitativer Repräsentativität522 das untersuchte 521 Und schon die Auswahl der Daten und die Frage ihrer Erhebung beeinflusst die Aussagen, die aus ihnen zu treffen sind. Besonders vor dem Hintergrund der Deutungsmachtthematik ist nicht nur die Auswertung von Daten, sondern bereits ihre Erhebung kritisch zu reflektieren. So ist mit Stausberg und Engler darauf hinzuweisen, dass Daten nicht einfach vorliegen und „collected“/„gesammelt“ werden können, sondern dass sie im Prozess des Forschens selbst „produced“/„gemacht“ werden. Während die Perspektive des Sammelns den Eindruck erweckt, die Daten lägen unabhängig vom Forschungsprozess vor und könnten, ähnlich der Arbeit von Archäologen, entdeckt und gehoben werden, betont die Perspektive des Producing, dass der Zugang, die Zusammenstellung und Abgrenzung, die Gewichtung und damit die Zuweisung von Relevanz, aber auch der eigentliche Modus der Daten durch den Forschungsprozess und die Forscherin selbst beeinflusst werden. „Data are not simply ‚out there‘, independent of the observer and the observation. There are no data without methods and theories. Methods help us to analyze reality but, at the same time, they, in part, produce the data that are to be analyzed.“ Vgl. hierzu ausführlicher: The Routledge Handbook of Research Methods in the Study of Religion. Ed. by Michael Stausberg and Steven Engler. Oxon 2011. Zitat S. 4. 522 Vgl. Przyborski, Aglaja und Monika Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. 4., erweiterte Aufl. München 2014. S. 177ff. (künftig zitiert als: Przyborski und Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung).
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Feld aussagekräftig beschreiben zu können, sind verschiedene Varianten des Samplings möglich. In der auf Barney Glaser und Anselm Strauss zurückgehenden Grounded Theory wird das Sample nicht vor Beginn der Untersuchung festgelegt und dann ‚abgearbeitet‘, sondern während des Forschungsprozesses laufend variiert. Dieser Prozess des theoretical sampling sieht vor, nach vorab festgelegten Kriterien erste Daten zu erheben, diese dann auszuwerten und aus den Ergebnissen die Kriterien für die anschließend zu erhebenden Daten abzuleiten bzw. zu modifizieren. Dann wird eine weitere Erhebungsrunde eröffnet und dieser Prozess mehrfach wiederholt.523 Dabei soll nicht willkürlich, sondern flexibel geforscht werden: „Zum größten Teil muß theoretisches Sampling gut durchdacht werden: eher geplant als zufällig, aber immer mit einem gewissen Maß an Flexibilität.“524 Innerhalb verschiedener Theorien qualitativer Sozialforschung ist das Zusammenspiel von Fallvergleich und Fallkonstrastierung relevant. Dabei ist die Vorstellung leitend, dass neben Kriterien der Ähnlichkeit, die einen gemeinsamen Rahmen für die Untersuchung bieten und überhaupt das Feld als solches erst konstituieren, auch Gegen- bzw. Kontrastbeispiele aufgezeigt werden sollen, um die Grenze des Feldes bzw. einer These oder Theorie deutlich zu machen. Während dieser Anspruch in der Grounded Theory über die Prinzipien der Minimierung und Maximierung abgedeckt wird, fordern andere Theorien die explizite Suche nach Gegenbeispielen oder, wie etwa beim Sampling auf Grundlage von Stichprobenplänen, eine Zusammenstellung des Samples nach Ähnlichkeit und Kontrast.525 Im Gegensatz zum Sampling der Grounded Theory geht die Arbeit mit Stichprobenplänen nach einer stark vorstrukturierten Zusammenstellung von Fällen aus. Anhand einer zuvor festgelegten Auswahl von Kriterien wird vorgegeben, welche Fälle bzw. Personen aufgrund der Erfüllung bestimmter Kriterien untersucht bzw. befragt werden sollen. Dieses Verfahren bedarf einiger Vorkenntnisse bzw. Vorannahmen über das Feld, um anhand dieser einen Stichprobenplan 523 Die hohe Flexibilität, die das theoretical sampling beinhaltet, fordert, anders als etwa ein Stichprobenplan, auch ein flexibles Ende bei der Generierung neuer Fälle. Dazu formulieren Glaser und Strauss bzw. in der Folge Strauss und Corbin das Prinzip der theoretischen Sättigung, wonach die Erhebung dann abgeschlossen sein soll, wenn keine relevanten kontrastierenden Fälle mehr gefunden werden können. In der praktischen Umsetzung durch einzelne ForscherInnen ist dieses Prinzip jedoch kaum in dem als ideal angesehenen Maß einzuhalten. Vgl. u. a. Strauss, Anselm und Juliet Corbin: Grounded Theory. Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim 1996. S. 159. (künftig zitiert als: Strauss und Corbin: Grounded Theory). 524 Strauss und Corbin: Grounded Theory. S. 150. Hervorhebung im Original. 525 Vgl. Kelle und Kluge: Vom Einzelfall zum Typus. S. 46.
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erst aufstellen zu können. Dabei spielen sowohl klassische soziodemographische Merkmale wie Beruf, Alter, Geschlecht etc. eine Rolle als auch die Ausprägung spezifischer, für die Untersuchung besonders relevanter Merkmale. Der Vorteil dieses Verfahrens ist, dass vorab getroffene Überlegungen und Entscheidungen bezüglich der Konstituierung des Feldes einbezogen werden können und sich mögliche Hypothesen in der Fallauswahl abbilden und untersuchen lassen. Zudem lässt sich das Sample übersichtlicher halten. Der Nachteil von Stichprobenplänen liegt allerdings zum einen in einer möglicherweise erhöhten Schwierigkeit, GesprächspartnerInnen zu finden, die der Kombination aller Kriterien entsprechen und zum anderen in der Gefahr, durch einen starren Plan vorab nicht erwartete Erkenntnisse bzw. Entwicklungen der Theorie mit dem gewählten Sample nicht abbilden bzw. entdecken zu können. Auch hier ist also bei aller Planung Flexibilität nötig.526 Auch das Snowball-Sampling gilt als mögliche Form, Personen für eine qualitative Untersuchung zu gewinnen; es ist besonders geeignet, wenn die Forscherin sich neu in einem Feld bewegt und zu diesem folglich erst Zugang gewinnen muss. Dabei werden die (Netzwerk-)Strukturen und Beziehungen eines Feldes genutzt: Über einen ersten Kontakt im Feld können Empfehlungen für weitere Kontakte erhalten werden und über diese ggf. wieder weitere Kontakte hergestellt werden. Auf diese Weise kommen mitunter Gespräche mit Personen zustande, die ohne eine persönliche Empfehlung nicht zur Mitarbeit an einem Forschungsprojekt bereit wären. Der Vorteil dieses Verfahrens, das Nutzen von persönlichen Beziehungen, ist zugleich sein größter Nachteil: Eine implizite Lenkung der Forschenden, eine vorherige Absprache zwischen den InterviewpartnerInnen, eine Beeinflussung jenseits der eigenen Interessen sind hierbei nicht unwahrscheinlich, zumindest nicht auszuschließen.527 Die vorliegende Untersuchung verbindet ausgewählte Aspekte der hier vorgestellten Sampling-Verfahren. Dabei wurde unter den Gesichtspunkten Relevanz für die Fragestellung, theoretische Nachvollziehbarkeit sowie auch Anwendbarkeit entschieden. Das Sampling bietet somit eine Kombination von Stichprobenplan, d. h. vorab festgelegten Auswahlkriterien, Snowball-Prinzip sowie Anregungen des theoretical sampling. Vorab definiertes Auswahlkriterium war die Gewinnung alternativmedizinischer Anbieter als InterviewpartnerInnen, die als HeilpraktikerInnen staatlich anerkannt sind. Geographisch und soziokulturell wurde auf eine Nähe der Inter526 Vgl. Kelle und Kluge: Vom Einzelfall zum Typus. S. 50ff sowie Przyborski und Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung. S. 182ff. 527 Vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung. S. 184.
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viewpartnerInnen geachtet. Dagegen wurde eine möglichst große Vielfalt bei der Abbildung der durch die ProbandInnen angewandten therapeutischen Methoden angestrebt. Auch im Blick auf weitere soziodemographische Faktoren wie Alter oder Geschlecht wurde eine Gruppe möglichst hoher Varianz gebildet. In Anlehnung an die Grundsätze des theoretical sampling wurde im Laufe des Projekts etwa auf den überproportional hohen Anteil an weiblichen InterviewpartnerInnen reagiert und angestrebt, mehr männliche Gesprächspartner zu gewinnen, da überprüft werden sollte, ob sich die Deutungszusammenhänge zwischen männlichen und weiblichen Anbietern signifikant unterscheiden und hier somit eine Erwartung für neue Erkenntnisse bestand.528 Im Sinne des Snowball-Samplings wurde auf Empfehlungen von „Türöffnern“ im Feld reagiert und diese genutzt, um weitere Kontakte zu generieren.529 Einige der formulierten Ansprüche im Blick auf das Sampling konnten nicht umgesetzt werden, sondern mussten hinter den Gegebenheiten des Feldes zurückstehen. So konnte bspw. keine geschlechterparitätische Befragungsgruppe gebildet werden. Dies lag sowohl an der höheren Präsenz von Frauen – als Klientinnen sowie als Anbieterinnen – im alternativmedizinischen Feld530 als auch daran, dass es von den angefragten männlichen Anbietern einen höheren Anteil an Absagen bzw. ausbleibenden Reaktionen gab und dadurch nur wenige Gespräche zustande kamen.
528 Vgl. Flick, Uwe: Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. 8., völlig überarb. Neuaufl. Hamburg 2017. S. 159. (künftig zitiert als: Flick: Sozialforschung. Einführung). 529 Vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung. S. 184f. 530 Vgl. unterschiedliche Studien, die einen höheren Frauenanteil im Blick auf die Wertschätzung und Nutzung alternativmedizinischer und naturheilkundlicher Angebote feststellen, z. B.: Härtel, U. und E. Vogler: Inanspruchnahme und Akzeptanz klassischer Naturheilverfahren und alternativer Heilmethoden in Deutschland – Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsstudie. In: Forschende Komplementärmedizin und Klassische Naturheilkunde 11/2004. S. 327-334; Gesundheitsorientierung und Gesundheitsvorsorge. Eine im Auftrag der Identity-Foundation im Jahre 2000 durch das Institut für Demoskopie Allensbach durchgeführte Studie. Abrufbar unter: https:// www.ifd-allensbach.de/uploads/tx_studies/6184_Gesundheitsorientierung.pdf. Aufgerufen am 13. September 2018. Vgl. auch den zusammenfassenden und verschiedene Studien auswertenden Sammelbandbeitrag: Hoefert, Hans-Wolfgang und Harald Walach: Krankheitsvorstellungen und Motivationen bei Nutzern der komplementäralternativen Medizin. In: Krankheitsvorstellungen von Patienten. Herausforderung für Medizin und Psychotherapie. Hrsg. v. Hans-Wolfgang Hoefert und Elmar Brähler. Lengerich 2013. S. 279-306.
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Den Corpus der Untersuchung bilden 13/14 Interviews.531 Dabei stehen im Zentrum 11 Interviews mit staatlich anerkannten HeilpraktikerInnen. Exkurs: HeilpraktikerInnen in Deutschland Die Bezeichnung Heilpraktiker ist in Deutschland gesetzlich geschützt532 und darf nur durch entsprechend zugelassene Personen geführt werden. Diese unterliegen dem Heilpraktikergesetz. Das Gesetz war historisch gesehen die staatliche Antwort auf den Vorwurf, sogenannte „Kurpfuscher“ würden ohne entsprechende Kenntnisse Heilbehandlungen durchführen – und dabei die Gesundheit ihrer PatientInnen stärker aufs Spiel setzen als sie zu schützen oder wiederherzustellen. Bis heute ist die Frage um Zulassungen und Befugnisse ein zentraler Punkt von gesellschaftlichen Debatten, Expertendiskussionen und nicht zuletzt rechtlichen Auseinandersetzung geblieben.533 Dennoch haben HeilpraktikerInnen in Deutschland im europäischen Vergleich einzigartig weitgehende Befugnisse. Das Heilpraktikergesetz legt fest, dass derjenige, der „die Heilkunde, ohne als Arzt bestallt zu sein, ausüben will, […] der Erlaubnis [bedarf]“534. Als Heilkunde neben der klassischen ärztlichen Tätigkeit zählt dabei „jede berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körper531 Eines der Interviews wurde mit zwei Personen geführt. Da die Aussagen der beiden Personen unabhängig voneinander in die Auswertung einbezogen werden können, sind somit in 13 Interviews 14 GesprächspartnerInnen zu rechnen. 532 Das Heilpraktikergesetz (HeilprG) wurde 1939 erlassen und sollte in seiner ursprünglichen Fassung nicht nur die zuvor geltende Kurfreiheit regeln bzw. beschränken, sondern durch die Beschränkung der Zulassung die Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung über kurz oder lang beenden. Das Gesetz und die ersten Durchführungsverordnungen folgten somit der Zielsetzung „der Verdrängung der Heilpraktiker und Errichtung eines Ärztemonopols“. Zitat: Guttau, Thomas: Nichtärztliche Heilberufe im Gesundheitswesen. Notwendigkeit, Zulässigkeit und Umsetzung einer verstärkten Einbeziehung unter besonderer Berücksichtigung des Heilpraktikergesetzes. BadenBaden 2013. S. 68. (künftig zitiert als: Guttau: Nichtärztliche Heilberufe.) Nach verschiedenen Änderungen (letzte Aktualisierung 2016) ist das Gesetz in seiner aktualisierten Form bis heute gültig und regelt die Heilkunde außerhalb der ärztlichen Medizin. Vgl. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, http://www. gesetze-im-internet.de/heilprg/BJNR002510939.html. Aufgerufen am 23. April 2018. 533 Vgl. Guttau: Nichtärztliche Heilberufe. 534 § 1 Abs. 1 HeilprG, http://www.gesetze-im-internet.de/heilprg/BJNR002510939.html. Aufgerufen am 23. April 2018. Bestallt sind Personen, die die staatliche Zulassung haben, als Arzt oder Ärztin zu arbeiten, nachdem sie ein Medizinstudium inklusive entsprechender Prüfungen und Praktika absolviert haben und approbiert worden sind.
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schäden bei Menschen, auch wenn sie im Dienste von anderen ausgeübt wird“535. D.h. auch wenn eine Behandlung auf expliziten Wunsch einer kranken Person hindurchgeführt wird, braucht die behandelnde Person eine gesetzliche Zulassung, um diese (legal) durchzuführen. Bei der Frage, welchen Personen eine entsprechende Zulassung erteilt werden soll, legt der Gesetzgeber neben Voraussetzungen wie einem Mindestalter oder dem Nachweis der eigenen Gesundheit fest, dass die „Vorgaben hinsichtlich Kenntnissen und Fähigkeiten“536 angemessen erfüllt sein müssen.537 Diese medizinischen Kenntnisse, die Teil der Zulassungsvoraussetzungen sind, werden durch einen Amtsarzt des Gesundheitsamts überprüft. Die Prüfung besteht aus einem Multiple-Choise-Test und einer anschließenden mündlichen Befragung und umfasst Themen wie Berufs- und Gesetzeskunde, einschließlich der rechtlichen Grenzen der nichtärztlichen Ausübung der Heilkunde, Erkennen von Infektionskrankheiten, Erkennen und Erstversorgung akuter medizinischer Notfälle, Anatomie, Physiologie, Anamnese usw.538 Im Gegensatz zur Überprüfung selbst ist die Vorbereitung darauf nicht 535 § 1 Abs. 2 HeilprG, http://www.gesetze-im-internet.de/heilprg/BJNR002510939.html. Aufgerufen am 23. April 2018. 536 § 2 Abs. 1 HeilprG, http://www.gesetze-im-internet.de/heilprg/BJNR002510939.html. Aufgerufen am 23. April 2018. 537 Die entsprechenden Ausführungsbestimmungen darüber, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um eine Zulassung zum/zur HeilpraktikerIn zu erhalten, werden von den Bundesländern erlassen. In der Regel gehört zu den Voraussetzungen die Vollendung des 25. Lebensjahres zum Prüfungszeitpunkt, eine abgeschlossene Volksschulausbildung, die Vorlage eines polizeilichen Führungszeugnisses, die Vorlage eines ärztlichen Attests über geistige, körperliche und psychische Gesundheit sowie das Freisein von Drogen oder anderen Süchten. Vgl. u. a. die Zulassungsvoraussetzungen in Berlin https://www.berlin.de/ba-tempelhof-schoeneberg/politik-und-verwaltung/ aemter/gesundheitsamt/heilpraktikerbereich/zulassungsvoraussetzungen-und-unterlagen-zur-antragstellung-379579.php. Aufgerufen am 15. Mai 2018. Nach dem Einreichen des Antrags und der entsprechenden Unterlagen kann die Zulassung zur Heilpraktikerprüfung erteilt werden, deren Bestehen die Grundlage für die Zulassung zur eigentlichen Berufsausübung ist. Diejenigen Zulassungsvoraussetzungen, die eindeutig der Entstehungszeit des Gesetzes in den 1930er Jahren und ihrem Geist geschuldet waren (wie die Nichtzulassung aufgrund „nicht deutschen oder artverwandten Blutes“ oder aufgrund eines Mangels an „politischer Zuverlässigkeit“), wurden 1945 von den Alliierten für ungültig erklärt. Vgl. Arndt, Klaus Friedrich: Heilpraktikerrecht. Entstehung, Funktionswandel, Berufszulassungsregelung. Frankfurt a. M. 1985. S. 50ff. 538 Laut Bekanntmachung des Bundesministeriums für Gesundheit zählen zu den relevanten Themen für die Überprüfung von HeilpraktikerInnen: Rechtliche Rahmenbedingungen (u. a. Strukturen des Gesundheitssystems in Deutschland, rechtliche
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eigens geregelt. Es ist sowohl eine selbständige Vorbereitung auf die Überprüfung möglich als auch die Ausbildung an einer Heilpraktikerschule.539 Nach der amtlichen Zulassung ist eine Heilpraktikerin bzw. ein Heilpraktiker dazu berechtigt, freiberuflich zu arbeiten und sich bspw. mit einer eigenen Praxis niederzulassen. Da bis zu diesem Zeitpunkt jedoch allein rechtliche und medizinische Grundkenntnisse überprüft wurden, ist in der Regel nachfolgend (oder bereits parallel dazu) eine methodische Ausbildung und Spezialisierung für bestimmte Anwendungsbereiche nötig.
Im Blick auf die Kosten für die Heilbehandlungen gibt es keine gesetzlichen Vorgaben. Gesetzlich geregelt ist lediglich der (auch mündliche) Abschluss eines Dienstvertrags mit dem Austausch einer Dienstleistung sowie entsprechender Vergütung.540 Mit dem aus einer Umfrage unter Heilpraktikern erstellten „Gebührenverzeichnis für Heilpraktiker“ liegt jedoch ein durch Heilpraktikerverbände herausgegebenes „Verzeichnis der durchschnittlich üblichen Vergütung“541 vor, das Grenzen der eigenen Tätigkeit), Qualitätssicherung (u. a. Hygiene, Dokumentation), Notfallsituationen, Kommunikation (u. a. Kenntnis von Fachtermini, Fähigkeit, diese angemessen gegenüber PatientInnen zu kommunizieren), medizinische Kenntnisse (u. a. Anatomie, Physiologie, Erkennen und Behandeln physischer und psychischer Erkrankungen) und anwendungsorientierte medizinische Kenntnisse (u. a. Verstehen und Bewerten von Laborbefunden, Anwendung von Therapiemaßnahmen ohne die Gefährdung der Gesundheit von PatientInnen). Vgl. Bekanntmachung von Leitlinien zur Überprüfung von Heilpraktikeranwärterinnen und -anwärtern nach § 2 des Heilpraktikergesetzes in Verbindung mit § 2 Absatz 1 Buchstabe i der Ersten Durchführungsverordnung zum Heilpraktikergesetz. Hrsg. v. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Dezember 2017. https://www.bundesanzeiger.de/ebanzwww/wexsservlet?page.navid=to_bookmark_official&bookmark_ id=d6Pk1lbZta8EPCulJuE. Aufgerufen am 15. Mai 2018. 539 Sowohl der Besuch der Heilpraktikerschule als auch die Durchführung der Prüfung selbst ist mit z. T. erheblichen Kosten verbunden. Die Prüfung kostet je nach Bundesland etwa 350 – 450 €, die Ausbildung je nach Art der Kurse (Vollzeit-Studium, Abend- oder Wochenendkurse, Fernstudium etc.) und Anbieter etwa 4000 – 6000 €, mitunter sogar bis zu 10 000 €. Damit wird auch deutlich, dass die in der Studie befragten Personen einer bestimmten sozialen Schicht angehören, nämlich jener, die sich mindestens entsprechende Ausbildungskosten leisten kann. 540 Vgl. § 611 BGB, https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__611.html. Aufgerufen am 16. Mai 2018. 541 Informationen für HeilpraktikerInnen von der Homepage des „Fachverband Deutscher Heilpraktiker e.V.“ http://www.heilpraktiker.org/gebuehrenverzeichnis-fuerheilpraktiker. Aufgerufen am 16. Mai 2018.
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als Richtlinie für die Berechnung von Behandlungskosten dient. Hier wird festgeschrieben, was eine Akupunktur, eine ausführliche Anamnese oder ein Aderlass durchschnittlich kosten und welche Gebühren als Maßstab gelten, sofern im Einzelfall keine anderen Absprachen zwischen HeilpraktikerIn und PatientIn getroffen wurden. Die Thematik der Gebühren ist nicht nur im Blick auf die Einnahmen der HeilpraktikerInnen wichtig, sondern auch für die PatientInnen relevant, von denen ein erheblicher Teil SelbstzahlerInnen sind. Dies gilt v. a. für Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen. Zwar werden alternativmedizinische Angebote z. T. von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen, jedoch nur, sofern diese von (naturheilkundlich) weitergebildeten ÄrztInnen durchgeführt werden.542 Um eine Übernahme der Behandlung durch HeilpraktikerInnen zu erhalten, wird z. T. eine Zusatzversicherung für alternative Heilverfahren in Anspruch genommen bzw. ein entsprechender Zusatztarif der Krankenkasse gewählt.543 Mehrheitlich werden die Behandlungen jedoch privat bezahlt. Im Gegensatz dazu werden bei Mitgliedern von privaten Krankenkassen erheblich höhere Anteile der alternativen Angebote übernommen.544 Die Mehrheit derer, die die Angebote von HeilpraktikerInnen 542 Übernommen werden, sofern von Ärzten durchgeführt, z. B. Akupunktur von AOK, TK, Barmer GEK, DAK-Gesundheit, IKK classic, BKK Mobil Oil, KBS; Homöopathie von TK, Barmer GEK, DAK-Gesundheit, IKK classic, BKK Mobil Oil, KBS, Naturheilverfahren im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben von AOK, Barmer GEK, DAK-Gesundheit, KBS. Weitere Informationen dazu finden sich auf den Internetseiten der entsprechenden Krankenkassen. Es ist jedoch noch einmal zu unterstreichen, dass die Übernahme der Kosten durch die gesetzlichen Krankenkassen auf Behandlungen beschränkt ist, die von ÄrztInnen durchgeführt werden und keine Behandlung durch HeilpraktikerInnen umfassen. 543 Zusatzversicherungen speziell für die Übernahme von Heilpraktikerleistungen ergänzend zur gesetzlichen Krankenversicherung bieten z. B. AXA, ARAG, württembergische u. a. Die TK bietet für diesen Fall einen Zusatztarif in Kooperation mit einem privaten Anbieter an. https://www.tk.de/techniker/service/leistungen-und-mitgliedschaft/leistungen/alternative-medizin/heilpraktiker/welche-zusatzversicherungambulanten-behandlungen-heilpraktiker-2007692. Aufgerufen am 16. Mai 2018. Der Zusatztarif der AOK zu Naturarzneimitteln bezieht sich, analog zur vorhergehenden Ausführung, nur auf die Behandlung durch MedizinerInnen. https://www.aok.de/inhalt/naturarzneimittel-wahltarif/. Aufgerufen am 16. Mai 2018. 544 Bei privaten Krankenversicherungen ist die Erstattungsleistung in der Regel abhängig vom konkreten Tarif bzw. kann ebenfalls über Zusatztarife variiert werden, gerundet lässt sich jedoch von einer Erstattung von 75 – 100 % der Heilpraktikerleistungen ausgehen. Vgl. z. B. die Übernahme bei debeka, DKV, AXA u. a. Weitere Informationen dazu finden sich z. B. auf den Internetseiten der entsprechenden Krankenkassen.
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in Anspruch nehmen, ist aber eben beides – PatientIn und KundIn. Wenn also nach Bedingungen von Anerkennung, Erwartungen und Wirksamkeit im Blick auf HeilpraktikerInnen gefragt wird, ist immer auch ein ökonomischer Aspekt mitzudenken. Bewusst wurden für die Untersuchung HeilpraktikerInnen befragt und nicht HeilerInnen, BesprecherInnen, SchamanInnen oder andere AnbieterInnen von Heilverfahren, die keine staatlich anerkannte Zulassung vorweisen können und entsprechend nicht den gesetzlichen Regelungen wie dem Heilpraktikergesetz unterliegen. HeilerInnen, die sich aufgrund bestimmter Fähigkeiten oder vor dem Hintergrund eines eigenen Berufenseins, selbst als solche bezeichnen ohne diese Bezeichnung anderen, etwa staatlichen Prüfungsbehörden, gegenüber rechtfertigen zu müssen, bewegen sich sowohl im Blick auf ihre methodischen Herangehensweisen als auch in ihren Deutungsmustern z. T. weit abseits des schulmedizinischen Feldes bzw. generell eines medizinischen Diskurses.545 HeilpraktikerInnen dagegen müssen sich zumindest im Rahmen ihrer Prüfung und Zulassung mit dem Wissen und Stand der Schulmedizin beschäftigen, einiges von deren Erkenntnissen und dem Stand ihrer Forschung lernen, sich im Rahmen ihrer Prüfung der Diskussion mit SchulmedizinerInnen stellen – und ihre eigenen Erklärungs- und Deutungsrahmen zur evidenzbasierten Medizin ins Verhältnis setzen. Gerade hierin besteht für die Untersuchung der Reiz und das Interesse an dieser Berufsgruppe: Welche Erklärungsmuster sind für Menschen relevant, die die evidenzbasierte Medizin kennen und die sich zugleich bewusst von ihr absetzen? Welche Vorstellungen und Deutungen haben sie davon, was Krankheit, Gesundheit und Heilung ist oder sein sollte? Welche Begründungszusammenhänge bilden für sie das Fundament ihrer Arbeit? Und schließlich: Lassen sich darin religionshybride Phänomene erkennen? Als Vergleichsmaterial zu den Gesprächen mit den HeilpraktikerInnen wurden ein Interview mit einer naturheilkundlich orientierten Allgemeinmedizinerin sowie zwei Interviews mit alternativmedizinischen AnbieterInnen ohne Heilpraktikerzulassung herangezogen.
545 Zudem wurde diese theoretische Überlegung durch ein praktisches Argument ergänzt: Mehrere Interviewanfragen an HeilerInnen bzw. SchamanInnen ohne Heilpraktikerzulassung bzw. an Personen, auch mit Zulassung, die sehr ungewöhnliche bzw. stark kritisierte Methoden anbieten, wurden nicht beantwortet oder abgelehnt. Zwei Gespräche, die zustande kamen – eine Gesprächspartnerin war Besprecherin, ein Gesprächspartner (Heilpraktiker) praktizierte die stark in der Kritik stehende „Germanische Neue Medizin“ – durften durch die Forscherin nicht aufgezeichnet werden.
Interviews | 179
Tabelle 1: Übersicht Sample. Eine ausführliche Tabelle mit weiteren Informationen wie Alter, Methoden, Pseudonym etc. findet sich im Anhang. Kategorie
InterviewpartnerIn
Pretests
HeilpraktikerIn Heilende (ohne HP-Zulassung) Ärzte Patienten
Hauptuntersuchung 11 10w; 1m 2 1w; 1m 1 1w 0
1w; 1m ohne Aufnahme 1w ohne Aufnahme 1m 1w
Ergänzt wird das Material durch Beschreibungen verschiedener teilnehmender Beobachtungen. Diese wurden im Rahmen der Angebote von HeilpraktikerInnen bzw. einer Heilerin gemacht und umfassen einen Reiki-Kurs mit theoretischer Einführung und praktischer Reiki-Anwendung in einer Kleingruppe; ein Heilungsseminar, in dem die Zusammenhänge und Hintergründe von Krankheiten und Heilung ausgeführt werden sollten; eine Tagung, die mit wissenschaftlich orientieren, medizinischen Vorträgen, alternativmedizinischen Ausführungen und praktischen Anwendungen eine Hybridform von Tagung und Heilungsseminar darstellte; sowie einen ‚Tag der Heilung‘ bei einem Heilpraktiker, der in einer Gruppe von etwa 20 TeilnehmerInnen auf Grundlage der Schilderungen der KlientInnen und seiner eigenen Eingebung mithilfe von Worten sowie manuell Behandlungen durchführte. Zu diesen Beobachtungen wurden dichte Beschreibungen angefertigt, um sie in zweierlei Hinsicht nutzen zu können: Zum einen dienen sie dem vertieften Zugang zum Feld und der Möglichkeit, Hintergründe zu verstehen sowie die Interviews ggf. in einen größeren Kontext einordnen zu können. Zum anderen stehen sie selbst für die Analyse zur Verfügung und lassen so auch die Performanzen und Handlungslogiken der AkteurInnen des Feldes in den Blick nehmen.
5.2 INTERVIEWS Hauptdatenquelle der vorliegenden Untersuchung sind halbstrukturierte, leitfadengestützte Interviews sowie teilnehmende Beobachtungen. – Bei den Interviews wird darauf Wert gelegt, strukturierende Fragen und Impulse auf der einen Seite mit freien narrativen Anteilen auf der anderen Seite zu kombinieren. Die Strukturierung eines Gesprächs durch vorgegebene Fragen ist zentrales Merkmal eines leitfadengestützten Interviews. Während in freien, nicht strukturierten Interviewkonstellationen, wie dem narrativen oder themenzentrierten Interview, das Zentrum des Interesses die Person bzw. ein spezielles Problem ist und sich diese offenen Interviewformen daher bspw. für die Untersuchung biographischer The-
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men anbieten, nimmt die vorliegende Untersuchung eine Kombination persönlicher und fachlicher Inhalte in den Blick. Gerade für den Einstieg in das Gespräch ist es hilfreich, einen offenen Impuls zu setzen und so den InterviewpartnerInnen die Möglichkeit zu geben, frei zu erzählen und schon hier die für die eigene Biographie und die eigenen Vorstellungszusammenhänge relevanten Deutungen und Themen anzusprechen. Dabei wird davon ausgegangen, dass in einem narrativen Interview bzw. in den narrativen Passagen eines teilstrukturierten Interviews „die Erzählung – und zwar die nicht vorbereitete Stegreiferzählung – am ehesten die Orientierungsstrukturen des faktischen Handelns reproduziere“546. Für die im Rahmen dieser Untersuchung geführten Interviews wird daher mit dem Einstiegsimpuls: „Bitte erzählen Sie zu Beginn, wie Sie dazu gekommen sind, HeilpraktikerIn zu werden! Gab es einen besonderen Auslöser und wie hat sich Ihr Weg bis heute entwickelt?“ der Impuls für ein solches offenes Erzählen gesetzt. Den Interviewten wird so direkt zur Eröffnung des Gesprächs die Möglichkeit gegeben, aus der eigenen Biographie zu erzählen, eine Verknüpfung eigener Erfahrungen mit der Entscheidung für ihren Beruf (und möglicherweise ihre Berufung) herzustellen und persönlich relevante Aspekte einzubringen. Zugleich bietet diese Frage insofern einen guten Einstieg in das Gespräch, als hier jede Person etwas aus der eigenen Erfahrung berichten kann, ohne dass professionelles Wissen notwendig wäre und sofort abrufbereit sein müsste. Im weiteren Gespräch stehen dann neben den persönlichen auch die fachlichen Fragen im Zentrum, so wurde nach Ausbildung(en), Methoden und fachlich-professionellen Kompetenzen ebenso gefragt wie nach persönlichen Vorstellungen und dahinterliegenden Überzeugungen. Auf den offenen Einstieg folgen im halbstrukturierten, leitfadengestützten Interview Fragen und Impulse eines vorab festgelegten Fragebogens. Diese dienen der inhaltlichen Ausrichtung des Interviews, um sicherzustellen, dass zentrale Themen und Kategorien, die für die Forschungsfrage relevant sind, tatsächlich in den Fokus gestellt werden. Nach dem offenen Einstieg gehen die weiteren Impulse und Fragen in der Ausrichtung vom Allgemeinen zum Spezifischen vor. Sie können sich dabei am Eingangsvotum orientieren und etwa über Nachfragen die Ausführungen des Interviewten präzisieren und daran anknüpfen. Zu den Vorteilen eines schriftlich vorliegenden Fragebogens gehört neben der Lenkung der thematischen Ausrichtung eine bessere Vergleichbarkeit der Interviews sowie die Förderung der Sicherheit in der Gesprächsführung. Wichtig ist dabei jedoch ein flexibler Umgang mit dem Leitfaden, so dass immer auch aufgrund der „situati-
546 Przyborski und Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung. S. 80. Hervorhebung im Original.
Teilnehmende Beobachtungen | 181
ve[n] Kompetenz der interviewenden Person“547 spontane Zwischenfragen möglich sind, die Reihenfolge der Fragen oder Themen geändert werden kann bzw. „dem oder der Interviewten die Möglichkeit [ge]geben [werden] darf, eigene Themen neu einzuführen“548. So wird auch vom Leitfaden abgewichen, wenn bspw. ein im Leitfaden später vorgesehenes Thema bereits im Eingangsstatement angesprochen oder bereits ausreichend dargelegt wurde.549 Der für die vorliegende Untersuchung entworfene Interview-Leitfaden wurde nach der Pretest-Phase leicht verändert und gekürzt sowie v. a. im Blick auf die offenen bzw. narrativen Anteile ausgebaut. In der Testphase stellte sich heraus, dass die Interviewten auf die offenen Impulse mehrheitlich mit interessanten und thematisch relevanten Ausführungen reagierten, so dass an diese Ausführungen inhaltlich gewinnbringend angeknüpft bzw. diese im weiteren Gesprächsverlauf zumeist aufgenommen werden konnten. Der überarbeitete Leitfaden findet sich im Anhang. In den konkreten Gesprächssituationen wurde dieser Fragenkatalog als Orientierung herangezogen, jedoch im Sinne einer sinnvollen Gesprächsführung flexibel gehandhabt. So wurde nach der Maxime von Wohlrab-Sahr und Przyborski verfahren: „[D]ie sachliche Ordnung, die sich die Interviewerin vorab erarbeitet hat, [bleibt] der Darstellungslogik des Interviewpartners nachgeordnet.“550
5.3 TEILNEHMENDE BEOBACHTUNGEN Die teilnehmende Beobachtung ist neben der Interviewführung eine zentrale Methode der qualitativen Sozialforschung. Ihr Gewinn besteht in der Möglichkeit, einen direkten Einblick in das Forschungsfeld zu erhalten. Ihre besondere Herausforderung besteht im Austarieren der Balance zwischen Nähe und Distanz, die eine gewinnbringende und aussagekräftige Forschung ermöglicht. Dabei muss die Forscherin soweit in das Feld aufgenommen werden, dass sie das Vertrauen der Personen im Feld gewinnt und diese sich ihr öffnen. Das heißt auch, die eigene „kritische Reserviertheit gegenüber deren Praxis und Überzeugungen ein ganzes Stück zurück[zu]nehmen und sich in eine Perspektive hinein[zu]denken, aus der all dies selbstverständlich sinnvoll scheint“551. Zugleich bleibt ein analytischer und 547 Schlehe, Judith: Formen qualitativer ethnographischer Interviews. In: Methoden ethnologischer Feldforschung. Hrsg. v. Bettina Beer. 2. überarb. und erw. Aufl. Berlin 2008. S. 127. (künftig zitiert als: Schlehe: Formen qualitativer Interviews). 548 Schlehe, Judith: Formen qualitativer Interviews. S. 127. 549 Vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung. S. 130. 550 Ebd. S. 130. 551 Ebd. S. 45.
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kritisch-reflektierender Blick die Grundvoraussetzung für eine Forschungsperspektive. Die teilnehmenden Beobachtungen für diese Untersuchung wurden bei vier unterschiedlichen Veranstaltungen durchgeführt. Ausgewählt wurden diese v. a. unter thematischen Gesichtspunkten. Die Veranstaltungen sollten sich mit Fragen von Krankheit und Heilung aus alternativmedizinischer Perspektive beschäftigen und dabei zugleich eine offene Flanke zum Feld der Religionshybride bieten. Somit wurden Angebote herausgesucht, die ein ‚Mehr‘ an Deutung bzw. Begründung für Heilungsprozesse zu bieten versprachen bzw. bei denen bereits in der Beschreibung oder Ankündigung der Veranstaltung Transzendierungstendenzen oder einschlägige thematische Bezüge wie ‚Energie‘, (Hinter-)Gründe für Krankheit und Heilung, holistische Ansätze oder die Erfahrung außergewöhnlicher Heilung bspw. durch eine bestimmte Person oder Methode anklangen. Zugleich sollte ein praktischer Anteil, eine Übung, Anwendung o. ä. in der Veranstaltung enthalten sein, um so die Angebote auch durch die Forscherin selbst erfahrbar und beschreibbar zu machen.
5.4 DATENERHEBUNG Im Sommer 2014 wurde ein erster Leitfaden für die Interviews entwickelt und in Pretests im September und Oktober 2014 in fünf Interviews (Heilpraktikerin, Heilpraktiker, Heilerin, Patientin, Arzt) getestet. Dabei erwies sich ein Teil der Fragen bereits als angemessen, andere Impulse wurden überarbeitet. Besonders der offene Einstiegsimpuls wurde gestärkt, um hier den Interviewten die Möglichkeit zu eröffnen, in selbst gewählter Ausführlichkeit von ihren Motivationen und Beweggründen zu sprechen und ggf. eigene thematische Schwerpunkte für das Gespräch zu eröffnen. Die Interviews wurden dann zwischen April und Mai 2015 sowie zwischen März und August 2017 geführt. Alle Interviews wurden durch die Autorin selbst geführt. Da das Ziel der Interviews eine offene Thematisierung der Vorstellungen und Deutungen der Interviewten war, wurde bereits in den Vorgesprächen552 deutlich 552 Die Kommunikation vor dem Interview fand in einigen Fällen ausschließlich per EMail, in der Regel jedoch sowohl per E-Mail als auch telefonisch statt und umfasste jeweils mindestens zwei Kontakte. Zudem wurde direkt vor Beginn des Interviews eine kurze Einführung gegeben, in der der thematische Schwerpunkt des Gesprächs sowie Fragen von Aufzeichnung und Weiterverarbeitung noch einmal besprochen wurden.
Datenerhebung | 183
gemacht, nach welchen Kriterien das Interview geführt und im Nachhinein verarbeitet würde. Besonders betont wurde dabei, dass es keine ‚richtigen‘ oder ‚falschen‘ Antworten auf einzelne Fragen gibt, da die Erfahrungen und subjektiven Vorstellungszusammenhänge der Interviewten im Zentrum standen. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass die Daten gemäß forschungsethischen Standards anonymisiert sowie mit Pseudonym versehen verarbeitet würden, so dass weder ein Wiedererkennen der Interviewten noch eine Zuordnung einzelner Aussagen zu konkreten Personen möglich ist.553 Um einen guten Einblick in die Arbeit der InterviewpartnerInnen zu erhalten und um ihnen zusätzlichen Aufwand zu ersparen, wurden die Interviews in der überwiegenden Mehrheit der Fälle in den Praxen bzw. Arbeitsräumen der Interviewten geführt.554 Dadurch bestand auch die Möglichkeit, auf Einrichtungsgegenstände, medizinische Ausstattung oder aufgehängte Urkunden und Zertifikate einzugehen bzw. z. T. die Räume nach dem Interview zu besichtigen. Zudem ermöglicht das Gespräch auf ‚eigenem Terrain‘ eine entspannte Atmosphäre für die Befragten. Die Interviews wurden mithilfe eines Aufnahmegerätes aufgezeichnet und anschließend für die weitere Verarbeitung transkribiert. Dabei wurde auf eine wörtlich genaue Transkription wert gelegt, auch Wiederholungen und Betonungen wurden transkribiert. An Stellen mit markanten Unterbrechungen oder längeren Pausen (≥ 5 sec.) wurden entsprechende Markierungen gesetzt. Da es um die Ana553 Dass sich in qualitativer Forschung immer wieder ethische Fragen stellen und sich diese nicht nach einem einheitlichen Schema für jeden Einzelfall im Voraus beantworten lassen, haben von Unger u. a. deutlich und anschaulich herausgearbeitet. Als zwar unverbindliche, aber sinnvolle Orientierung kann dennoch der Ethik-Kodex der Soziologie, herausgegeben 1993 von den beiden Berufsverbänden DGS (Deutsche Gesellschaft für Soziologie) und BDS (Berufsverband deutscher Soziologinnen und Soziologen), gelten. Die hier formulierten Grundsätze sind: Objektivität und Integrität der Forschenden, Risikoabwägung und Schadensvermeidung, Freiwilligkeit der Teilnahme, informiertes Einverständnis, Vertraulichkeit und Anonymisierung. Zu einigen dieser Grundsätze wird im Text ausführlicher Stellung genommen. Vgl. Forschungsethik in der qualitativen Forschung. Reflexivität, Perspektiven, Positionen. Hrsg. v. Hella von Unger, Petra Narimani und Rosaline M´Bayo. Wiesbaden 2014. (künftig zitiert als: Forschungsethik. von Unger, Narimani und M´Bayo.) Besonders ausführlich, auch im Blick auf verschiedene Ethik-Kodizes: von Unger, Hella: Forschungsethik in der qualitativen Forschung: Grundsätze, Debatten und offene Fragen. In: Forschungsethik. von Unger, Narimani und M´Bayo. S. 15-40. 554 In zwei Fällen, in denen die InterviewpartnerInnen keine eigenen Praxisräume hatten, fanden die Interviews im privaten Wohnzimmer bzw. in einem Café statt.
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lyse der Inhalte und zentralen Deutungen ging, wurde dagegen auf die Transkription weiterer Details wie Dialekt, Aussprachefehler o. ä. verzichtet und eine bereinigte Orthographie verwendet. An schwer oder nicht verständlichen Stellen wurde die vermutete Aussage in Klammern notiert sowie in diesen Fällen eine zeitliche Notiz im Transkript gemacht. Eine Liste der genutzten Transkriptionsregeln findet sich im Anhang. Die teilnehmenden Beobachtungen wurden bei vier Veranstaltungen unterschiedlicher Anbieter durchgeführt. Der Zeitraum der Teilnahme an den Veranstaltungen erstreckte sich von Oktober 2014 bis April 2017. Eine Veranstaltung erforderte keine Anmeldung, die drei anderen waren jeweils mit einer Anmeldung verbunden, die im Vorfeld via Internet durchgeführt wurde. Die erste Veranstaltung (V1R), die im Rahmen des Forschungsprojekts besucht wurde, war ein Abend zum Kennenlernen der Reiki-Methode. Er fand in der Praxis einer Heilpraktikerin statt, die zusammen mit einer Reiki-Meisterin die Leitung des Abends inne hatte. Insgesamt waren bei dieser Veranstaltung sechs Personen anwesend. Der Abend bestand aus zwei Teilen, einem theoretischen Vortragsteil, in dem eine grundlegende Einführung in die Methode gegeben und Hintergründe erläutert wurden sowie einem anwendungsorientierten Teil, bei dem alle Teilnehmerinnen eine Reiki-Behandlung erhielten. Eine weitere Veranstaltung (V2G) wurde, ebenfalls mit einer recht geringen Teilnehmerzahl von sieben, bei einem Heilpraktiker besucht, der die Entstehung und Bekämpfung von Krankheiten zu seinem Thema machte. Dieser Seminartag beinhaltete einen ausführlichen und detaillierten Vortrag zu den Zusammenhängen von Krankheit und Heilung, immer wieder mit Beispielen versehene Begründungszusammenhänge, jedoch keine praktischen Anwendungen. Eine mehrtägige Veranstaltung (V3T), die von einem größeren Team vorbereitet und durchgeführt wurde, stand unter der Leitung einer Heilerin, die jedoch nicht alle angebotenen Einheiten selbst durchführte. Sie war bei einigen Einheiten anwesend und hatte die Leitung einzelner Veranstaltungsteile, war aber quasi als spiritus rector der Gesamtveranstaltung präsent. Im Verlauf der Tage fanden Vorträge, Workshops mit Diskussionsanteilen sowie Anwendungen und praktische Übungen statt. Das Leitungsteam der Veranstaltung war aus Menschen unterschiedlichster Alters- und Berufsgruppen zusammengesetzt, darunter auch SchulmedizinerInnen mit alternativmedizinischer Zusatzqualifikation. Insgesamt wurde die Zusammenkunft von etwa 200 Personen besucht, mehrere Übungen und Vorträge fanden im Verlauf der Veranstaltung parallel statt, so dass hier die Größe der Gruppen variierte. In der vierten Veranstaltung (V4H) war ebenfalls ein ganzes Team von Personen rund um einen Heilpraktiker an der Vorbereitung und Durchführung der Veranstaltung beteiligt. Auch hier war der leitende Heilpraktiker nicht die ganze Zeit
Datenerhebung | 185
während der Veranstaltung anwesend, wenn auch ebenfalls im Sinne eines spiritus rector präsent (hier noch deutlicher als bei V3T durch einen repräsentierenden leeren Platz). Auch hier gab es neben praktischer Anwendung referierte Anteile, jedoch wurden diese in die praktischen Einheiten eingeschoben und jeweils aus der Anwendung heraus verallgemeinernd abgeleitet. Im Zentrum standen somit die Anliegen der 25 Teilnehmenden. Je nach Charakter der Angebote konnten z. T. während der Veranstaltung Notizen gemacht werden; in den anderen Fällen wurden nachträglich Gedächtnisprotokolle angefertigt. Bei V1R war es aufgrund der Struktur der Veranstaltung sowie der geringen Teilnehmerzahl nicht möglich, während des Abends Notizen zu machen. Hier wurde nach dem Ende der Veranstaltung ein Gedächtnisprotokoll verfasst und der Abend in Form einer dichten Beschreibung aufbereitet. Die Veranstaltung V2G bot sich hingegen für recht detaillierte Mitschriften und Notizen an, da sie weniger praktisch denn referierend angelegt war und somit das Mitschreiben der Art der Veranstaltung angemessen war. Auch andere TeilnehmerInnen machten sich Notizen. Zudem gab es immer wieder Pausen im Ablauf, die es ermöglichten, weitere Besonderheiten zu notieren oder Beschreibungen der Umgebung, der TeilnehmerInnen etc. hinzuzufügen. Die mehrtägige Veranstaltung V3T setzte sich aus unterschiedlichen Einheiten zusammen, so dass auch die Form der Protokollierung variiert werden musste. Die Zeiten mit Vorträgen oder Workshops konnten zu großen Teilen über Mitschriften festgehalten werden. Die Übungs- und Anwendungseinheiten sowie Gespräche außerhalb des geplanten Programms fanden wiederum ihren Niederschlag in Gedächtnisprotokollen bzw. dichten Beschreibungen. Auch bei V4H konnten während der Veranstaltung selbst nur wenige Notizen gemacht werden, da es sich um eine Veranstaltung mit hohem Praxisanteil handelte, die nur wenige explizite Vortragselemente umfasste. Zudem war die Sitzordnung der TeilnehmerInnen in einem Kreis zur Mitte gerichtet und man saß auf dem Fußboden, so dass jede Person genau im Blickfeld einer anderen saß. Da niemand hier Notizen machte, war dies auch für die Forscherin nicht möglich. Auch hier wurde daher auf nachträgliche Notizen zurückgegriffen und eine dichte Beschreibung angefertigt. Der Zugang zum Feld wurde zuerst über öffentliche analoge Kanäle wie Flyer, Visitenkarten oder Aushänge gewählt. Nach ersten Kontakten kamen weitere auch über mündliche Empfehlung von Personen aus dem Feld zustande. Zusätzlich wurden InterviewpartnerInnen über ihre Internetpräsenz angefragt und häufig auch gewonnen. Insgesamt waren bis auf eine Person alle GesprächspartnerInnen mit eigenen Seiten im Internet vertreten. Eine Herausforderung stellt die Frage der Information der Interviewten bzw. beobachteten Personen dar. Je nach Forschungsthematik kann es notwendig sein, die GesprächspartnerInnen und TeilnehmerInnen an einer Veranstaltung mög-
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lichst wenig konkret über die Hypothesen der Untersuchung zu informieren, um so eine Verzerrung der Antworten zu umgehen. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung war es beispielsweise weder intendiert, spezifisch religionstheoretische noch explizit deutungs- oder machtreflexive Aussagen zu generieren, sondern vielmehr die Vorstellungszusammenhänge und persönlichen Überzeugungen der InterviewpartnerInnen in Erfahrung zu bringen. Der nordostdeutsche Kontext der Untersuchung lässt ggf. Vorbehalte gegenüber einer religionstheoretischen Perspektive vermuten und eine Assoziation von Macht mit Herrschaft und Gewalt solche gegenüber einem machttheoretischen Ansatz.555 Zugleich gebietet die Forschungsethik, die Interviewten so gut wie möglich über Ziele und Zwecke der Forschung in Kenntnis zu setzen und ihnen gegenüber mit größtmöglicher Offenheit aufzutreten. Diese beiden Ansprüche bleiben im Forschungsvorhaben eine Gratwanderung. Gerade auch im Blick auf die Teilnahme an Veranstaltungen, bei denen eine Beobachtung durchgeführt wurde, war die verdeckte Teilnahme eine Herausforderung, zugleich aber notwendig, um als eine ‚normale‘ Teilnehmerin durch die Anbieter wahrgenommen zu werden und mit anderen Teilnehmenden in Kontakt treten zu können.556
5.5 AUSWERTUNG Für die Auswertung der gewonnenen Daten wurde, ebenso wie bei Sampling und Interviewgestaltung, eine Kombination verschiedener Methoden gewählt, um so der Fragestellung sowie dem Gegenstand angemessen arbeiten zu können. Ziel der Untersuchung ist es, Aussagen über die Vorstellungen und Deutungen alternativmedizinischer AnbieterInnen treffen zu können sowie im Sinne einer religionshermeneutischen und deutungsmachtorientierten Perspektive mögliche Begründungsfiguren sichtbar zu machen. Um die erhobenen Daten interpretieren zu können, müssen sie als Texte aufbereitet, strukturiert und analysiert werden. Dafür wurden die Beobachtungen ausgehend von den Mitschriften bzw. von den unmittelbar im Anschluss an die Veranstaltungen gefertigten Gedächtnisprotokollen in Form dichter Beschreibungen und die Aufnahmen der Interviews als Transkripte aufbereitet. Die Texte wurden
555 Beide Vorbehalte traten im Rahmen der Pretests zutage, in denen Interviewanfragen abgelehnt wurden oder z. T. nach längerem Erklärungsvorlauf stattfinden konnten, weil die Angefragten ihre Angebote nicht mit macht-, deutungs- oder religionstheoretischen Fragestellungen verbunden sehen wollten. 556 Vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung. S. 42f.
Auswertung | 187
anschließend mithilfe von MaxQDA bearbeitet und auf diese Weise codiert und analysiert. Codierung ist ein mögliches Verfahren für die Aufbereitung von qualitativen Daten – der Begriff ist v. a. durch die Theorie von Glaser und Strauss557 in der qualitativen Forschung präsent und spielt in verschiedenen Forschungsdesigns eine Rolle. Während die Grounded Theory mit ihrem Ziel der Theoriegenerierung aus den Daten zuerst in einem völlig offenen Herangehen an den Text die Codierung vornimmt und diese im Verlauf der Analyse zu übergeordneten Kategorien zusammenfasst und abstrahiert, kann auch ausgehend von formulierten Hypothesen bzw. der Vorannahme von Codes bzw. Kategorien aus zugrundeliegenden Theorien eine Codierung erfolgen, die dann der Prüfung von Theorie am Material dient.558 Kluge und Keller fassen als gemeinsame Merkmale des Codierens in verschiedenen Modellen qualitativer Forschung folgende Aspekte zusammen, wonach: 1. Textpassagen […] kodiert werden, indem ihnen bestimmte Kategorien zugeordnet werden, 2. Textpassagen, die bestimmte Kategorien und ggf. weitere Merkmale gemeinsam haben, synoptisch verglichen und analysiert werden, 3. und […] angestrebt wird, auf der Grundlage dieses Vergleichs Strukturen und Muster im Datenmaterial zu identifizieren, die dann etwa zur Bildung neuer Kategorien bzw. Subkategorien führen können.559
Der Prozess des Codierens dient somit der Strukturierung der Texte im Blick auf die Fragestellung und führt zur materialen Füllung der bisher deduktiv gewonnenen heuristischen Kategorien sowie ggf. zur Bildung weiterer Kategorien. Zudem soll im Laufe der Untersuchung die Abstraktionsebene der Kategorien erhöht werden, um so aus den heuristischen Orientierungskategorien und dem Material Kategorien der Theorieprüfung bilden zu können. Zunächst wird so nah wie möglich am Text gearbeitet. So wurde auch in der vorliegenden Untersuchung verfahren: die Codierung wurde mithilfe von MaxQDA direkt am Text vorgenommen. 557 Vgl. die im englischen Original 1967 erstmals erschienene Theorie von Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss mit dem Titel „The Discovery of Grounded Theory“, in der deutschen Übersetzung u. a. zugänglich in: Glaser, Barney G. und Anselm L. Strauss: Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. 3. unveränderte Aufl. Bern 2010. 558 Vgl. Flick, Uwe: Stationen des qualitativen Forschungsprozesses. In: Handbuch Qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen. Hrsg. v. Uwe Flick u. a. 3., neu ausgestattete Aufl. Weinheim 1995. S. 164f. 559 Kelle und Kluge: Vom Einzelfall zum Typus. S. 59.
188 | Methoden der empirischen Arbeit
Dabei wurden Textpassagen, die für die Fragestellung relevant waren bzw. sich als besonders markant im Text darstellten, codiert. In der ersten Analysephase wurden die codierten Textstellen als induktive Codes bzw. in Form von Merkmalsgruppen zusammengefasst. Dabei wurde nicht nur innerhalb eines Interviews eine Gruppierung vorgenommen, sondern die Interviewtexte wurden synoptisch betrachtet und fallübergreifende Codes gebildet. Mithilfe der Merkmalsgruppen bzw. Codes wurden die zuvor formulierten Orientierungskategorien zunehmend gefüllt und konkretisiert. Um diese gefüllten Kategorien besser nachvollziehbar zu machen, werden sie über ihre zugehörigen Eigenschaften und Merkmale beschrieben. Der im Verlauf der Arbeit zunehmende Grad an Füllung, Interpretation und schließlich Abstraktion, der zur Verdichtung der Kategorien führt, ermöglicht das Herausarbeiten von „Strukturen und Muster[n]“560 bzw. „Begriffsnetzen“561. Auch die Texte der dichten Beschreibungen, die im Nachgang der teilnehmenden Beobachtungen entstanden sind, wurden für die Analyse mit induktiven Codes versehen. Hier wurde im Blick auf die inhaltlichen Bezüge häufig mit den bereits vorliegenden Codierungen bzw. Codes der Interviewanalyse gearbeitet; für die strukturellen Bezüge, die ihren Ort vornehmlich in den Performanzen haben, wurden eigene Codes vergeben. Nach dem ersten Analyseschritt an den Texten, in dem relevante Textstellen codiert und so induktiv Codes aus dem Material gewonnen wurden, diente der folgende Arbeitsschritt der Verschränkung der Codes mit den heuristischen Kategorien der Bezugstheorien. Ausgangspunkt dafür sind die theoretischen Vorannahmen der Deutungsmacht- und Religionshybridekonzepte, die in Kapitel 4.5 operationalisiert und als Orientierungskategorien (Transzendenzbezug, Normalisierung etc.) beschrieben wurden. Diese heuristischen Kategorien sind insofern leitend, als sie in der Funktion von Suchrastern die Bearbeitung des Materials in der Wechselseitigkeit von deduktiver und induktiver Vorgehensweise orientieren und strukturieren. Anhand eines Ankerbeispiels soll hier die Herleitung der Codes und die Füllung der Kategorien verdeutlicht werden. Aus der Theorie Religionshybride wurde die Orientierungskategorie Transzendenzbezug hergeleitet. Diese Kategorie wurde vor dem Hintergrund der Referenzkonzepte theoretisch beschrieben (vgl. 4.5.1). In der Analyse des empirischen Materials wurden innerhalb der acht Orientierungskategorien Codierungen vorgenommen. Um diese übersichtlicher und aussagekräftiger zu ordnen, wurden die Codierungen in Subkategorien zusammengefasst. Eine Orientierungskategorie umfasst dabei zwischen drei und neun Subkategorien. In der Orientierungskategorie Transzendenzbezug wurden bspw. 560 S. Ebd. 561 Flick: Sozialforschung. Einführung. S. 388.
Auswertung | 189
Codierungen vergeben, die sich in der Subkategorie höheres Wesen zusammenfassen lassen. Als zu diesem Code gehörig wurde dann bspw. die Textstelle codiert, in der eine Heilpraktikerin über ihren Weg in den Beruf berichtet: C: […] Das ist mein Job. Und ich bin da hingeschubst worden und ich darf das machen. I: Wer hat Sie da hingeschubst? C: Das Schicksal, der liebe Gott, meine Engel. Egal. Interview Cornelia, Z. 416-419
Mithilfe dieser und weiterer codierter Textstellen, auf die jeweils der Code höheres Wesen zutrifft, wird die Kategorie gefüllt. So können die heuristischen Kategorien verdichtet, gefüllt und ergänzt werden. Die Struktur dieser Analyse veranschaulicht untenstehende Tabelle mit zwei möglichen Analysesträngen, die sich entsprechend für die anderen Orientierungskategorien ergänzen ließe. Tabelle 2: Zusammenfassung: Operationalisierung der Referenztheorien Theorie Religionshybride Orientierungs- Transzendenzbezug kategorie Subkategorie
höheres Wesen
Deutungsmacht Naturalisierung/Normalisierung Analogie als Beispiel für Natürlichkeit
Codiert werden Textstellen, die Codiert werden Textstellen, die von einem höheren Wesen, von
Analogien zu Tieren als Begründung
Gott, Göttern, Engeln, höheren dafür heranziehen, dass etwas für Mächten etc. sprechen.
den Menschen gut, richtig bzw.
Codierte
C: […] Das ist mein Job.
geboten oder verboten sei. J: Ja, Thema Wasser zum Beispiel.
Textstelle
Und ich bin da hingeschubst
Kann ich auch in die Natur gehen
worden und ich darf das
und gucken. Kein Tier trinkt Wasser
machen.
mit Kohlensäure. Das ist ein saures
I: Wer hat Sie da
Wasser. Das ist nicht gut für uns.
hingeschubst? C: Das Schicksal, der liebe Gott, meine Engel. Egal. Interview Cornelia, Z. 416-419
Interview Jessica, Z. 298-299
6 Ergebnisse
Das folgende Kapitel stellt die Ergebnisse der Untersuchung des empirischen Materials dar. Die Struktur des Kapitels richtet sich dabei nach den in Kapitel 4 gebildeten Orientierungskategorien, die deduktiv aus den Referenztheorien abgeleitet wurden. Zugleich findet dabei die Verknüpfung von deduktivem und induktivem Vorgehen statt, da die Codierungen und die daraus gebildeten Subkategorien aus dem Material gewonnen wurden. Die nach Kategorien präsentierten Ergebnisse werden durch ausführliches Material aus den Interviewtranskriptionen und dichten Beschreibungen ergänzt. Sofern möglich, wird dabei ein Interview, in dem die entsprechende Kategorie besonders markant zu Tage tritt, als Referenz herangezogen und die interviewte Person dazu in einem kurzen Fallportrait vorgestellt.562
6.1 TRANSZENDENZBEZUG Die Orientierungskategorie Transzendenzbezug, die als zentrales Merkmal des hier zugrundegelegten Religionsverständnisses und damit auch als wichtiges Kriterium für die Einordnung von Semantiken und Performanzen als Religionshybride herausgearbeitet wurde, wurde in allen untersuchten HeilpraktikerInnenInterviews und in allen vier dichten Beschreibungen codiert. Dabei wurden die Codierungen in neun Subkategorien gruppiert und unter folgenden Bezeichnungen zusammengefasst: höheres Wesen, Dankbarkeit, Schicksal, ‚andere Ebene‘, 562 Anders als bei den dichten Beschreibungen, die im Anhang zu finden sind, werden die Interviewtranskripte nicht vollständig abgedruckt, um die Anonymität der InterviewpartnerInnen zu gewährleisten. Um die GesprächspartnerInnen trotzdem ‚kennenzulernen‘ und eine Zuordnung von Interviewzitaten, Personen, Heilungsmethoden u. ä. zu ermöglichen, werden alle InterviewpartnerInnen in einem kurzen Fallportrait vorgestellt.
192 | Ergebnisse
Ganzheitlichkeit, Energie, transzendentes Körperverständnis, weitere Transzendenzbezüge sowie Abgrenzung. 6.1.1 Höheres Wesen Die Subkategorie höheres Wesen umfasst Textpassagen, die von einem oder mehreren höheren Wesen, von Gott, Göttern, Engeln, Mächten o. ä. sprechen. Auch indirekte Aussagen wurden mit dieser Codierung versehen, so z. B., wenn davon die Rede ist, dass sich eine Heilpraktikerin vor der Anwendung einer Heilmethode ‚nach oben‘ verbinde oder um ‚Kraft von oben‘ für eine Behandlung bitte. Sehr deutlich wird dieses Thema in mehreren Passagen des Gesprächs mit Cornelia. Cornelia ist knapp 60 Jahre alt. Sie hat einen schulmedizinischen Ausbildungsberuf gelernt und praktiziert seit mehr als 20 Jahren hauptberuflich in einer eigenen Heilpraktikerpraxis einer norddeutschen Mittelstadt. Nach ihrer medizinischen Ausbildung wollte Cornelia Medizin studieren, was ihr aber aus persönlichen Gründen nicht möglich war. Ein Bekannter brachte sie auf die Idee, eine Heilpraktikerausbildung zu machen, die sie auch innerhalb kurzer Zeit absolvierte. Nach und nach eignete sie sich über Literatur und Kurse diverse Methoden an. Parallel dazu arbeitete sie vorerst noch weiterhin in der Schulmedizin. Cornelia bietet eine große Auswahl alternativer Methoden und Therapien an u. a. Baunscheidtieren, Akupunktur, Ausleitverfahren, Bioresonanztherapie sowie Hypnose.
Im Gespräch über ihre Methoden beschreibt Cornelia, was sie unter einem Heilungsprozess versteht. Dabei gehe es ihr nicht primär darum, dass das Anliegen einer Patientin oder eines Patienten verschwinde, sondern dass diese „damit so leben“ (Z. 413)563 könnten. Auf die Nachfrage nach ihrer Rolle in diesem Prozess kommt das Gespräch auf höhere Wesen:
563 Sofern sich Zitate in der Auswertung und Interpretation des Materials direkt auf die vorhergehend zitierte Passage eines Interviews oder einer Beobachtungsbeschreibung beziehen, wird im Fließtext zugunsten der Lesbarkeit auf die Angabe der Zeilennummern verzichtet. Stammt ein Zitat aus einer Textpassage, die erst anschließend im Fließtext oder in der Fußnote zitiert wird, wird die Zeilennummerierung hinzugefügt, um die Zuordnung zu erleichtern. Sofern die Zitate aus dem Text stammen, der im vorherigen oder nachfolgenden Abschnitt zitiert ist und so die Aussagen einer Person eindeutig zugeordnet werden können, wird lediglich die Zeilenangabe hinzugefügt. Handelt es sich um Zitate aus anderen Interviews oder Beobachtungsbeschreibungen, die thematisch passend sind, aber im Fließtext an dieser Stelle nicht ausführlicher
Transzendenzbezug | 193
C: Es ist nie ganz weg. Aber sie können damit so leben. Ja, das ist auch ein Heilungsprozess. I: Und den Sie sozusagen anstoßen vielleicht? C: Ich hoffe. [Lachen] Das ist mein Job. Und ich bin da hingeschubst worden und ich darf das machen. I: Wer hat Sie da hingeschubst? C: Das Schicksal, der liebe Gott, meine Engel. Egal. I: Irgendwas, was Sie so auf diesen Weg gebracht hat. C: Ja, doch. Und seitdem ich Hypnose mache – da arbeiten Sie ja sehr viel intuitiv – sehe ich viele Sachen auch ganz anders. Ich weiß, dass es ganz viel zwischen Himmel und Erde gibt. Interview Cornelia, Z. 413-423
Auf die Nachfrage, ob sie selbst für den Heilungsprozess bei ihren PatientInnen verantwortlich sei, macht die Heilpraktikerin deutlich, worin sie ihre Rolle dabei sieht. Prozesse anstoßen, hoffentlich – darin zeigt sich auch, dass in diesem Vorgang ein Moment der Unverfügbarkeit liegt. Und doch sei das ihr „Job“. Dass sie aber in diesen „hingeschubst“ wurde und das machen „darf“, zeigt, dass die Arbeit mit den PatientInnen trotz der Wortwahl mehr als ein Job ist. Cornelia fühlt sich berufen, scheint hier an diesen Ort gestellt worden zu sein. Und auf die Nachfrage, wer sie denn geschubst habe, zeigt sich, dass die Heilpraktikerin hier höhere Mächte am Werk sieht. Nicht sie selbst hat sich diesen Weg ausgesucht, sondern „das Schicksal, der liebe Gott, meine Engel“ haben sie zu dieser Aufgabe gebracht. Welche höheren Wesen sie genau auf diesen Weg gelenkt haben, bleibt dabei unbestimmt. Für Cornelia, die keine biographischen Anknüpfungspunkte an eine religiöse Prägung hat, ist es letztlich „egal“, welche transzendente Macht sie leitet. Dies lässt weniger an einen christlich-personalen Gott denken als an ein unbestimmtes höheres Wesen oder auch eine sie leitende Schicksalsmacht. Dass diese indifferent bleibt, weist darauf hin, dass der Heilpraktikerin die Abgrenzung wichtiger ist als die Bestimmung. Welche Macht genau sie leitet? Egal. Aber es ist ‚Nicht-Ich‘, sondern außerhalb ihrer selbst und es ist nicht institutionalisierte Religion. Die Vorstellung, sich als in dieser Weise geleitet zu verstehen, ist bei Cornelia erst im Laufe der Jahre entstanden und verdankt sich vor allem ihrer Arbeit. Besonders durch die Methode Hypnose, die sie anwendet, habe sie gelernt, „dass es ganz viel zwischen Himmel und Erde“ gebe. Die Vorstellung von den Dingen, die sich „zwischen Himmel und Erde“ abspielen (Z. 423; Z. 447f), leitet auch die nächste Passage, die sich fast unmittelbar an den vorherigen Gesprächsabschnitt besprochen werden, wird die Zeilenangabe durch ein Kürzel des entsprechenden Dokuments ergänzt. Die Kürzel finden sich in der Tabelle im Anhang.
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anschließt und in der die Heilpraktikerin über das Besprechen von Krankheiten Auskunft gibt. Diese Methode, die sie als die Anwendung von „Heilgebeten“ (Z. 443) beschreibt, habe in ihr den „Lernprozess“ (Z. 455) gefördert, sich auf Phänomene und Erfahrungen einzulassen, die für sie nicht zu erklären sind. I: […] [I]ch habe […] gesehen, dass Sie auch Krankheiten besprechen? C: Ich beschränke mich da aber auf ein paar. Also, Warzen gehen ganz gut, Herpes Zoster, Gürtelrose geht gut. Ähm, es gehen auch Ekzeme. Aber da muss ich sagen, da schaltet sich mein Verstand ein. Weil, wenn der weiter seine Süßigkeiten isst und seine Milch trinkt, wird der sein Ekzem immer behalten. Deshalb beschränke ich mich und schicke die Leute, die andere Sachen haben, nachdem ich natürlich versucht habe, sie zu befragen und ein bisschen aufzuklären, schicke ich dann nach H-Dorf oder hier nach G-Dorf, oder einem, die das noch machen. //I: Okay. Und-.// Aber Warzen, geht richtig gut. I: Und, wie haben Sie das gelernt? Oder wo-? Oder ist das sozusagen auch eine Methode, die man sich //C: Ja.// einfach aneignet sozusagen? C: Ja, also wenn Sie jemanden haben-. Bei mir war es sogar eine Frau. Also, so wie das früher war, ne: nur von Mann zu Frau und umgekehrt, ist nicht mehr. Ich habe es von einer Frau. Ich habe das auch bezahlt. Und habe diese-, das sind ja Heilgebete. Das sind die Gebete der weisen Frauen von früher. Gibt es auch Bücher drüber. Und ja, und die hat dann, wie soll ich sagen, hat sie mich befähigt? Hat sie mir das gegeben? Ich weiß es nicht. Das sind so die Sachen zwischen Himmel und Erde, wissen Sie. Die werde ich wahrscheinlich nicht mehr ergründen in meinem Leben. I: Obwohl Sie schon mittendrin sind, oder? Die zu ergründen oder-? C: Ja, gut. Ich weiß ja, dass es funktioniert. Ich weiß ja auch, wenn ich in Resonanz mit jemandem gehe-. Oder ich weiß auch, dass Sie sehr wissenschaftlich orientiert sind. […] Das sehe ich oder das merke ich einfach. Und das ist das, was ich meine. Dass ich mich-. Ich war ja früher auch so. Ich habe ja alles, was ich nicht anfassen konnte – ich bin Norddeutscher – habe ich nicht geglaubt. Das ist ein Lernprozess. Und da bin ich auch dankbar dafür. […] Dieses Gefühl müssen Sie einfach nur immer zulassen und weiterentwickeln. Und dann haben Sie nachher auch diese Intuition. Und dann denke ich, kann man auch die Gebete machen. Ja, ich weiß ja nicht, ob Sie an den lieben Gott glauben, oder-. Das ist ja ganz egal. Darum bitten, dass dieser Patient dann von dem und dem befreit wird. So funktioniert das. I: Also, da ist sozusagen was, was Sie quasi-, wo Sie vielleicht auch sagen würden: Das verstehen wir nicht vollständig, aber das können wir anwenden. Oder das, ja, oder-. C: Ja, also ich verbinde mich schon nach oben. Zu irgendwas Imaginärem. Und ich merke das auch. Ich merke das richtig körperlich. Wenn ich durchkomme, dann krabbelt das hier oben. Ne, ich weiß ja nicht, ob man das jetzt sagen darf oder ob ich das jetzt verliere. Nein.
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Es ist ganz eigenartig. Und ich merke, dass es bei manchen auch nicht klappt. Und dann sage ich das auch. Dass ich nicht durchkomme. I: Dass dann bei Ihnen die Verbindung sozusagen nicht stattfindet? C: Ja, ja. Und dann kann ich es nicht machen. Interview Cornelia, Z. 428-474
Auch dieser Abschnitt des Gesprächs ist geprägt von den Dingen „zwischen Himmel und Erde“, die für Cornelia schwer zu „ergründen“ sind. Während sie als jüngere Frau – so wie sie es bei der Interviewerin vermutet – sehr auf das orientiert gewesen sei, was man „anfassen“ oder durch „wissenschaftlich[e]“ Orientierung verstehen könne, habe sich diese Haltung mit den Jahren durch ihre Arbeit verändert. Bei der Methode des Besprechens von Krankheiten kommt diese veränderte Haltung zum Tragen. Diese Form der „Heilgebete“, die sie gelernt habe und mit denen sie sich in der Tradition der „weisen Frauen von früher“ sieht, könne nur dann durchgeführt werden, wenn man eine Verbindung „nach oben“ herstelle. Bemerkenswert ist auch, dass Cornelia sich in der passenden Wortwahl nicht sicher ist, als sie beschreibt, wie sie die Methode erlernt hat. Eine andere Frau habe ihr diese Fähigkeit vermittelt564, aber: „Und ja, und die hat dann, wie soll ich sagen, hat sie mich befähigt? Hat sie mir das gegeben? Ich weiß es nicht.“ Auch dieser Abschnitt enthält ein Moment der Unverfügbarkeit, durch die sich die Methode auszeichnet. In der Formulierung der Verbindung „nach oben“ zeigt sich die Vorstellung einer transzendenten Größe. Noch deutlicher als im ersten Interviewausschnitt 564 Die hier beschriebene Weitergabe des Besprechens verweist auf das Thema der Sukzession. Das Wortfeld wurde, ähnlich der hier vorliegenden Verwendung, zum terminus technicus im Umfeld griechischer Philosophenschulen, in denen „Namensreihen von Lehrer-Schüler-Ketten“ gebildet wurden, um die Nachfolge zu besonderen Lehrern zu bezeugen. Seit den ersten Jahrhunderten n. Chr. wurde der Begriff auch auf die Weitergabe der Lehre sowie des Amtes in der Kirche durch die Bischöfe angewandt und Lehre und Amt in der apostolischen Sukzession auf die biblisch bezeugten Apostel zurückgeführt. Dabei ist zu unterscheiden, ob das Hauptaugenmerk auf eine Personal- oder eine Lehrkontinuität gelegt wird. Vgl. Art. Sukzession, apostolische. I. Zum Begriff. Markschies, Christoph; II. Geschichtlich. 1. Alte Kirche. Markschies, Christoph; 2. Katholisch. Wohlmuth, Josef. In: 4RGG. Hrsg. v. Hans Dieter Betz u. a. Tübingen 2004. Bd. 7. Sp. 1857ff. Offensichtlich wird hier jedoch nicht nur die Sukzessionsfolge betont, indem deutlich wird, dass die Methode allein über die Weitergabe von Person zu Person erlernt werden kann, sondern auch, dass diese bei aller Regelhaftigkeit Modernisierungsprozessen unterliegt (hier: Weitergabe von Frau zu Frau) und dennoch ihre Gültigkeit behält.
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wird in dieser Passage, dass es sich dabei nicht um eine personale Gottesvorstellung handelt. Die indirekte Frage an die Interviewerin, ob sie an „den lieben Gott“ glaube, wirkt distanziert und wie eine Floskel.565 Schließlich sei es aber auch nicht relevant, welche Vorstellung einer transzendenten Größe man habe. Cornelia selbst nennt für sich die Verbindung zu „irgendetwas Imaginärem“. Solange man die (Heil-)Gebete jedoch ernsthaft anwende und darum bitte, dass die PatientInnen gesund würden, wäre die Methode erfolgreich. „So funktioniert das.“ Ohne die Verbindung zu einer Transzendenz ist das Besprechen wiederum nicht durchführbar. Die Heilpraktikerin selbst habe diese Erfahrung bereits gemacht, dass ohne die Verbindung, d.h. auch ohne die „Vergegenwärtigung der Transzendenz“566, die Methode nicht anwendbar sei. Was sie sonst „richtig körperlich“ spüre, komme in diesem Fall nicht zustande und dann „kann ich es nicht machen“. Einige der Motive, die sich in den Interviewaussagen Cornelias zu Vorstellungen eines höheren Wesens gezeigt haben, finden sich auch in den Aussagen anderer Heilpraktikerinnen. Marisa etwa berichtet über eine Methode, eine geistige Operation, die auf den Philippinen gelehrt werde, die sie zwar nicht selbst anwende, wohl aber ihre „Lehrerin“ (IMw, Z. 786). „Das ist für mich die höchste Kunst der energetischen Arbeit und da wirst du auch-, kriegst du so Infos von oben und es wird gemacht durch dich, du bist nur das Werkzeug.“ (IMw, Z. 800-802) Die Vorstellung, Informationen „von oben“ zu empfangen, wird hier verbunden mit einem Moment der Passivität. Diejenigen, die in dieser Weise Behandlungen vornehmen, seien „Werkzeug“, sie handelten nicht selbst, sondern eine höhere Kraft handle durch sie.567 Auf andere Weise klingt im Gespräch mit Josefine die 565 Vgl. auch die indifferente Aneinanderreihung transzendenter Mächte in Z. 419, in der der „liebe Gott“ neben den „Engeln“ und dem „Schicksal“ als eine mögliche lenkende Ursache für Cornelias Weg in den Heilpraktikerberuf genannt wird. 566 Berger, Hock und Klie: Religionshybride – Zur Einführung. S. 27. 567 Das Motiv der Indienstnahme, des Wirkens einer höheren, göttlichen Kraft durch einen Menschen ist religionsgeschichtlich weit verbreitet. Dabei ist bspw. an die Rolle der Propheten zu denken, die in Judentum, Christentum und Islam als Boten Gottes auftreten und dabei als „‚Sprachrohr‘ Gottes“ mit einem „unausweichlichen göttlichen Auftrag[…]“ versehen verstanden werden und in seinem Namen reden oder (Zeichen-)Handlungen ausführen. Vgl. für das Alte Testament u. a. Jes 20; Ez 4;12. Im Neuen Testament ist es etwa die Figur des Paulus, die als Werkzeug Gottes dargestellt wird. Vgl. die Aufforderung Gottes an Hananias, Paulus nach seinem Berufungserlebnis von Blindheit zu befreien und zu segnen, denn „dieser ist mein auserwähltes Werkzeug“, Apg. 9,15; ähnlich auch in der Selbstdarstellung Röm 15,18: „Denn ich werde nicht wagen, etwas zu reden, das nicht Christus durch mich gewirkt hat […]“. Zentral für das Verständnis des biblischen Gottes ist zudem die Vorstellung, Gott kön-
Transzendenzbezug | 197
Vorstellung eines höheren Wesens an, wenn sie etwa bekennt, sie glaube „an das Universum“ (IJow, Z. 243) oder habe eine personale Vorstellung von „Mutter Natur“, die „uns das [die Fähigkeit zur geistigen Heilungsarbeit, Anm. P. S.] mitgegeben hat“ (IJow, Z. 240).568 Auch in der Analyse der besuchten Veranstaltungen wurden mehrfach Textpassagen mit dem Code höheres Wesen kodiert. Ähnlich wie in der Vorstellung Cornelias, sie müsse sich für das Besprechen von Krankheiten „nach oben“ verbinden, stellt sich die Situation im Rahmen der Tagungsveranstaltung (V3T) dar. Die auf dieser Tagung im Mittelpunkt stehende Heilmethode, die von der Leiterin der Gemeinschaft entwickelt wurde und von ihr gelehrt wird, wird im Rahmen der Veranstaltung durch Personen, die diese Methode anwenden und solche, die als PatientInnen die Anwendung erfahren haben, beschrieben. Eine Therapeutin, die mit dieser Methode arbeitet, beschreibt dabei als notwendige Voraussetzung für die Anwendung die Vorstellung, in Verbindung zu einer transzendenten Größe zu treten. [D]ie Referentin [stellt] dar, ‚was die Heilerin macht‘: Sie nehme über ‚das Herz und das dritte Auge‘569 wahr, wie es um ‚den Menschen und sein Energiefeld‘ stehe. Dann ‚verbinde‘ sie sich ‚mit dem Kosmos und der Erde‘. So ‚verbinde ich unsere beiden Herzen mit der göttlichen Kraft‘, erklärt die Therapeutin. Teilnehmende Beobachtung Tagung, Z. 388-391
Auch in diesem Fall ist nicht direkt von einer personalen Vorstellung von Transzendenz auszugehen. Zumindest wird sie jedoch als „göttliche Kraft“ bezeichnet. Deutlich wird auch, dass eine Verbindung zu dieser Kraft die Voraussetzung für ne sich auch andere, fremde Menschen oder Herrscher zu seinem Werkzeug machen. Vgl. die Rolle Kyrus‘ als Werkzeug Gottes, Jes 41; 45. Vgl. ausführlicher zu Propheten: Art. Prophet, Prophetin, Prophetie. In: 4RGG. Zitate: Art. Prophet, Prophetin, Prophetie. I. Religionswissenschaftlich. Bärbel Beinhauser-Köhler. Sp. 1693. 568 „Ich betrachte es eher als eine normale, geistige Arbeit. Was wir Menschen einfach so können. Weil, keine Ahnung, Mutter Natur uns das mitgegeben hat. Also, ich betrachte das nicht so als Spirituelles wie manch anderer. Ich bin da ziemlich auf dem Boden geblieben und sehe das eher sehr, sehr nüchtern. So, ich habe da eine andere Art. Natürlich habe ich auch einen Glauben. Ich glaube auch irgendwo an das Universum und dass wir irgendwo entstanden sind. Aber mehr in Richtung Physik. Mehr so-, alles noch, was man so ein bisschen erklären kann.“ Interview Josefine, Z. 238-244. 569 Die Vorstellung des „dritten Auges“ ist verbunden mit der Chakren-Lehre. Nach dieser wird das „dritte Auge“ dem sechsten Chakra zugeordnet und steht für Erkenntnis, Intuition und übersinnliche Wahrnehmung.
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die erfolgreiche Durchführung der Heilmethode ist. Neben der „göttlichen Kraft“ wird im selben Kontext wenige Sätze später auch davon gesprochen, sich einer „höheren Macht anzuvertrauen“ (V3T, Z. 409) und sich, ähnlich der Deutung Marisas, die Heilpraktikerin sei ein Werkzeug für eine durch sie wirkende höhere Information, ganz „in den Dienst zu stellen“ (V3T, Z. 409). Auch im Reiki-Seminar (V1R) zeigt sich die Vorstellung, durch Personen könne wie durch Werkzeuge gewirkt werden. So stellt die Reiki-Meisterin fest: „Wir sind nur die Werkzeuge, die Anwender, aber was da wirkt, ist diese höhere, universelle Energie.“570 (V1R, Z. 215f.) Für einen bei der Tagung anwesenden Schulmediziner sei „das Wichtigste an der Methode [der Lehrerin, Anm. P. S.], mit dem ‚großen Schöpferischen da oben‘ in Verbindung zu gehen und dadurch die Energie fließen zu lassen“ (V3T, Z. 432-434), die eine erfolgreiche Behandlung ermögliche. Ebenfalls auf dieser Veranstaltung wird ein durch die Lehrerin entwickeltes Anamnesesystem vorgestellt, welches über die Abfrage verschiedener körperlicher und geistiger Aspekte eine Diagnose und adäquate Behandlung ermöglichen soll. Im Anschluss an den Vortrag zu diesem Anamneseinstrument wird noch einmal auf die Vorstellung eines höheren Wesens in Form einer Schöpferkraft Bezug genommen. Da im Laufe des Vortrags im Kontext der Ausführungen zu Chakren auch das Thema AuraSehen angesprochen wurde, greift eine Teilnehmerin dies auf. ‚Die meisten Menschen, auch Therapeuten, können nicht Aura-Sehen – wie funktioniert es trotzdem? Warum stimmt die Intuition so sicher?‘, fragt sie. Sie könne es nicht nachvollziehen, warum die Therapeuten immer richtig lägen mit ihrer Vermutung dazu, welcher Bereich der Aura bzw. welches Chakra betroffen sei. Die Antwort der beiden Referenten [selbst Therapeuten bzw. Ärzte, Anm. P. S.] lautet: ‚Wir glauben an die schöpferische Kraft, den Geist‘. Auf diesen beriefen sie sich. Zudem hätten sie viel Erfahrung, sie könnten sich also auch auf die Empirie berufen […]. Teilnehmende Beobachtung Tagung, Z. 254-260
570 Vgl. dazu den Kontext: „Die Teilnehmerin berichtet außerdem davon, wie sie einmal versucht habe, sich selbst Reiki zu geben, um damit Rückenschmerzen bei sich selbst zu behandeln. Sie habe im Bett gelegen und sich die Hände in die ‚Nierenposition‘ gehalten, da sich hier der Rückenschmerz befunden habe. Das sei ihr aber nach kurzer Zeit zu unbequem gewesen, weswegen sie also die Hände nach vorne auf die Solarplexus-Position genommen habe. So habe sie sich die Energie an dieser Position gegeben. Der Effekt sei gewesen, dass die Rückenschmerzen abgeklungen seien, trotz der Energiegabe an der ‚falschen‘ Position. – ‚Siehst du‘, bestätigt die Kursleiterin, ‚Reiki wirkt; und zwar auch durch uns hindurch. Wir sind nur die Werkzeuge, die Anwender, aber was da wirkt, ist diese höhere, universelle Energie.‘“ (V1R, Z. 208-216)
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Die schöpferische oder göttliche Kraft, von der die TherapeutInnen und ÄrztInnen auf dieser Tagung immer wieder sprechen, nimmt eine zentrale Stellung für die Anwendung der hier vertretenen Heilmethode sowie für weitere therapeutische Handlungen ein. Zudem wird sie, wie die zitierte Passage zeigt, neben „Empirie“ als gleichwertige Begründung für das ärztliche Handeln herangezogen. Die „Schöpferkraft“ (V3T, Z. 608) ist es auch, bei der sich die Moderatoren der Veranstaltung am Ende des Tages bedanken – neben den Organisatoren, den freiwilligen HelferInnen, den MitarbeiterInnen in der Küche und an der Technik. Auch im Gesundheitsseminar wird auf die Vorstellung höherer, transzendenter Wesen Bezug genommen und von dort eine direkte Verbindungslinie zu Krankheit gezogen. „Krankheit sei wie ein ‚böser Geist‘ und es gelte, sich gegen diesen eine ‚Schutzhülle‘ zuzulegen“ (V2G, Z. 114f.), macht der Referent dieser Veranstaltung deutlich.571 6.1.2 Dankbarkeit Für einen weiteren Aspekt der Orientierungskategorie Transzendenzbezug kann ebenfalls das Gespräch mit Cornelia exemplarisch herangezogen werden. Der Code Dankbarkeit wurde in der Analyse dieses Interviews mehrfach an signifikanten Textstellen vergeben. Im folgenden Abschnitt erzählt die Heilpraktierin davon im Kontext der Methode Hypnose: Ja, doch. Da bitte ich auch um Erfolg. Das mache ich bei meiner ganzen Arbeit. Und da geht es ja einfach nur darum, dass man dankbar ist, dass man das machen darf. Und auch kann. Und dass man einfach um Kraft bittet. Das haben die Leute früher jeden Tag gemacht. Und das ist heute leider alles verloren gegangen, weil das alles selbstverständlich ist. Und dieses Selbstverständnis, dass wir überhaupt leben dürfen-. Ich habe eine Freundin, die ist mit 30 gestorben an Krebs ganz jämmerlich. Und, das ist jetzt auch schon 25 Jahre her. Und seitdem war das für mich jetzt nicht mehr so selbstverständlich, dass ich jeden Tag gesund aufstehe, meinen Tag machen kann. Dass ich meine [Kinder] so gut unterhalten kann und so. Also, das ist ein Großteil meiner Arbeit geworden. Dass ich mich eben halt auch be-
571 Mit der Deutung, Krankheit als „böse[n] Geist“ zu verstehen, bewegt sich der Referent in einem Vorstellungszusammenhang, der an biblische Hintergründe denken lässt. V. a. in verschiedenen neutestamentlichen Texten wird die Überzeugung, Krankheiten stünden mit Geistern oder Dämonen im Zusammenhang, deutlich, so z. B. Mt 8,28ff., Mk 1,32ff. u. ö.
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danke und viel intuitiv auch machen kann. So, das kann man jetzt alles nicht so richtig in Schubladen packen.
Interview Cornelia, Z. 478-488572
Für Cornelia ist Dankbarkeit ein zentrales Merkmal ihrer Arbeit und als Haltung, als Habitus, Grundlage ihrer (Be-)Handlungen. Ausgelöst u. a. durch den frühen Tod einer Freundin und, wie sie im weiteren Gespräch erzählt, einen eigenen lebensgefährlichen Unfall, sei sie davon überzeugt, dass sie ihr Leben und die Fähigkeiten zu ihrer Arbeit nicht aus sich heraus entwickelten, sondern sie diese von außerhalb ihrer selbst erhalten habe und dafür dankbar sein könne. Wem oder was genau sie sich dabei verdankt, macht sie erneut nicht explizit. Vielmehr hält sie es für charakteristisch, dass ihre Deutungen eben „nicht so richtig in Schubladen [zu] packen“ seien. Aus der Vorstellung des Sichverdankens heraus ergibt sich für die Heilpraktikerin auch der Gedanke, im Rahmen ihrer Arbeit Bitten auszusprechen. Sie bitte „um Erfolg“, aber auch „um Kraft“ und sehe sich damit in der Tradition von Menschen, die „früher jeden Tag“ darum gebeten – darum gebetet – haben, gesund zu bleiben oder zu werden, die Arbeit oder den eigenen Alltag bewältigen zu können. Beides gehört für Cornelia zusammen, sie bittet und sie bedankt sich – jeden Tag. Auch in anderen Interviews sowie in den beobachteten Veranstaltungen spielt das Thema Dankbarkeit eine Rolle. Anders als im Gespräch mit Cornelia steht bei den anderen Heilpraktikerinnen weniger das Danken als Grundhaltung für die eigene Arbeit im Mittelpunkt als vielmehr Dankbarkeit für den eigenen Weg. Eine signifikante Veränderung des Lebensweges wird mehrfach angesprochen, auch verstanden als Fügung, auf diesen Weg in den Beruf (und die Berufung) geführt worden zu sein. Neben Cornelia (ICw, Z. 116f.) betont auch Edith, dass sie den Weg, auf dem sie sich jetzt befindet, als „Geschenk“ (IEw, Z. 68) verstehe. Dankbarkeit für ihren Weg äußert auch Heidrun, die es als „Glück“ (IHw, Z. 44) bezeichnet, im Heilpraktikerberuf zu arbeiten, „so viele Bausteine, die mich so wirklich faszinieren“ (IHw, Z. 43f.) kennenzulernen und die darüber dankbar sei, was sie sich „alles angucken darf“ (IHw, Z. 45). Auch Katja betont, sie sei dankbar für die Wendung, die ihr Leben genommen habe. Nach Beginn der Heilpraktikerausbildung, „ging alles ganz schnell. Also, ich habe das dann wirklich durchgezogen, weil ich gewusst habe, dass es genau das Richtige ist. Und dass ich genau das bis zum Ende meines Lebens machen möchte!“ (IKw, Z. 42ff.). Sie wiederholt we572 Sofern ein Gesprächsausschnitt die Aussagen nur einer Person aufführt, gilt, dass es sich dabei um die Äußerung der genannten Heilpraktikerin bzw. des genannten Heilpraktikers handelt. Die Buchstabenkürzel vor einer Aussage, die die Äußerung der befragten Person oder der Interviewerin zuordnen, werden nur verwendet, wenn ein Dialog beider Personen zitiert wird.
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nige Sätze später, sie habe „alles so aufgesogen“ (IKw, Z. 45), denn sie „wusste einfach, dass es das Richtige ist“ (IKw, Z. 45). Im weiteren Verlauf des Gesprächs betont Katja, wie wichtig es sei, die für einen selbst bestimmte Aufgabe im Leben zu finden. Sie selbst fühle sich in ihrer Arbeit, die sie als „Geschenk“ (IKw, Z. 594) bezeichnet, „geführt“(IKw, Z. 596). In der Analyse der Veranstaltungen wurde Dankbarkeit nur in einem Fall codiert. Auf der besuchten Tagung war es ein zentrales Thema und wurde in verschiedenen Vorträgen und praktischen Anwendungen aufgenommen. Im Zusammenhang des Vortrags eines Arztes und seiner Frau, die alternativmedizinische Heilbehandlungen anbietet, wurde ausführlich über Dankbarkeit als Heilungsursache gesprochen. Dabei wurde auch gefragt: „Kann Dankbarkeit heilen?“ (V3T, Z. 137f.) Im Gegenüber zur modernen westlichen Medizin sahen die ReferentInnen in indigenen sowie religiösen Traditionen besonders wirkungsvolle Heilungsmethoden, die mit Dankbarkeit korreliert seien. „Das Herangehen der westlichen Medizin wäre ein ‚zielgerichtetes Handeln‘, ein ‚absichtliches Hervorrufen von Reaktionen‘. Die indianische Medizin und religiöse Traditionen würden dagegen anstreben, einen ‚höheren Bewusstseinszustand‘ zu erreichen und ‚dann wird Heilung oft geschenkt‘.“ (V3T, Z. 138-141) Der Zusammenhang von Dankbarkeit und Heilung ist für die ReferentInnen evident. „Bestätigt werde diese Herangehensweise auch durch die ‚neueste Hirnforschung‘, die ‚Neurowissenschaften‘, wie etwa die Forschung von Prof. Tania Singer573 zum Nachweis darüber, wo Dankbarkeit, Mitgefühl und Liebe im menschlichen Körper zu verorten seien und wie sie trainiert werden könnten. Singer habe, ‚mit der ganzen Autorität des MaxPlanck-Instituts‘ ‚beweisen‘ können, dass durch Meditation, die Dankbarkeit und einen höheren Bewusstseinszustand fördere, Hirnregionen aktiviert würden, die auch für Krankheit und Gesundheit zuständig seien.“ (V3T, Z. 141-147) Während bei diesem Vortrag unbestimmt bleibt, an wen sich die Dankbarkeit richten solle,574 573 Tania Singer (*1969), Neurowissenschaftlerin, Psychologin, zum Zeitpunkt der Veranstaltung und bis 2018 Direktorin am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Seit 2019 wissenschaftliche Leiterin der Max-PlanckForschungsgruppe Soziale Neurowissenschaften in Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. die Erforschung von Mitgefühl, Empathie, sozialem Verstehen und Verhalten. Vgl. http://www.cbs.mpg.de/abteilungen/soziale-neurowissenschaft/forschungsschwerpunkte. Aufgerufen am 27. Juni 2019. 574 Lediglich indirekt lässt sich hier auf einen christlichen Hintergrund und damit möglicherweise auf den christlichen Gott als Adressaten des Dankes schließen, da es in der folgenden Passage des Vortrags um den Benediktinermönch David Steindl-Rast und um Dankbarkeit und Achtsamkeit durch Meditation geht. In diesem Zusammenhang fügen die ReferentInnen auch ein Bibelzitat in den Vortrag ein. Vgl. V3T, Z. 148-
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wird bei einer Meditation, die ebenfalls im Rahmen dieser Tagung durchgeführt wurde, der Adressat der Dankbarkeit explizit gemacht: Zu Beginn der Meditation „werden die TeilnehmerInnen aufgefordert, ‚dem Leben zu danken‘.“ (V3T, Z. 615f.) An anderer Stelle der Tagung ist es auch die „Schöpferkraft“ (V3T, Z. 608), an die die Dankbarkeit adressiert wird.575 6.1.3 Schicksal Ebenfalls im Kontext der Orientierungskategorie Transzendenzbezug konnte der Code Schicksal identifiziert werden. Auch diesem lassen sich Textstellen verschiedener Interviews zuordnen. Während Cornelia im Zusammenhang mit ihrem Weg in den Beruf der Heilpraktikerin explizit vom „Schicksal“ (ICw, Z. 419) spricht, welches sie an diesen Ort gebracht habe, wird in anderen Gesprächen die Vorstellung einer schicksalhaften Fügung indirekt deutlich. Annita etwa beginnt auf die Frage, wie sie dazu gekommen sei, Heilpraktikerin zu werden, von ihrer Kindheit zu erzählen. Schon als Kind habe sie sich Fragen über die Zusammenhänge in der Welt gestellt und im Laufe ihrer Ausbildung zur Heilpraktikerin habe sie Antworten dazu gefunden. Also, also, was mir jetzt erst klar geworden ist eigent-, also, jetzt erst durch verschiedene Ausbildungen, vor allen Dingen durch die körpertherapeutische Ausbildung, ist-, kriege ich jetzt erst häufig den Link dazu, was ich früher als Kind schon immer irgendwie mich gefragt habe, ne. Interview Annita, Z. 13-16
In der Perspektive der Heilpraktikerin fügt sich durch ihre Ausbildungen nach und nach zusammen, was sich für sie wie ein Bogen über den Zeitraum fast ihres gesamten Lebens spannt. Fragen ihrer Kindheit finden jetzt eine Entsprechung in den Erkenntnissen während der Ausbildungen zur Heilpraktikerin und zu verschiedenen therapeutischen Methoden. Hier fügt sich etwas in Annitas Leben zu154. Andererseits wird im Folgenden auch auf die „bewusstseinschaffende göttliche Matrix“ (V3T, Z. 159) Bezug genommen, die Veränderungen in der Welt bewirken könne. 575 Dass ‚Leben‘ und ‚Schöpfer‘ hier als Adressaten der Dankbarkeit ins Zentrum gestellt werden, ist insofern plausibel als diese Vorstellungen für viele Teilnehmende anschlussfähig sind und in verschiedene belief systems integriert werden können. Die angesprochenen indigenen Traditionen knüpfen ebenso an Vorstellungen von schöpferischen Kräften an wie auch die jüdische und christliche Tradition mit dem biblischen Gott als dem Schöpfer der Welt.
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sammen. Diese Haltung, dass sich Dinge so fügten, wie sie sein sollten und wie sie passend seien, hat die Heilpraktikerin auch im Blick auf ihre PatientInnen. Sie habe noch nie den Eindruck gehabt, bei einer Patientin oder einem Patienten an ihre Grenzen zu kommen oder jemanden wegschicken zu müssen. „Und ich bin auch fast der Überzeugung, die werden gar nicht kommen. Das passt einfach nicht. Ich glaube, es ist schon häufig so: es kommt, was passt.“ (IAw, Z. 337-338) Auch im Gespräch mit Katja kommt das Thema Schicksal bzw. Fügung zum Tragen. So hebt sie als einen Leitspruch ihrer Arbeit hervor: Oder, dass ich Dinge einfach so annehme, wie sie sind. Das ist so mein Praxisleitspruch, den ich da immer stehen habe. Wo wir auch ganz oft ins Gespräch kommen. Ich sage: ‚Guck mal, das ist manchmal einfach wie es ist.‘ Und ich-, es bringt mir nichts zurück zu gucken, und es bringt auch nichts manchmal vor zu gucken. Und das Leben ist nun mal nicht planbar. Interview Katja, Z. 194-198
Katja hat selbst gegenüber dem Leben die Haltung, Dinge „einfach so an[zu]nehme[n]“. Ihre Einstellung, sich dem Schicksal und seinen Wegen zu fügen, weil es nicht sinnvoll sei, sich dagegen aufzulehnen oder dagegen „wie es ist“ anzukämpfen, vermittelt sie auch ihren PatientInnen. Anschließend an die zitierte Passage geht sie ausführlich darauf ein, was „immer dieses Kämpfen und Anstrengen“ (IKw, Z. 201f.) im Sinne eines Auflehnens gegen das Schicksal für Folgen habe: „[D]as macht krank. Das macht auf die Dauer einfach krank.“ (IKw, Z. 202) Burnout sei eine offensichtliche Folgeerkrankung dieser Weigerung, das Schicksal anzunehmen. Zugleich wirkt die Vorstellung von Katja, die Wege des Schicksals annehmen zu müssen, nicht fatalistisch oder deprimierend. Vielmehr wird deutlich: Der vorbestimmte Weg ist gut, wenn man die eigene Aufgabe gefunden hat, und auf diesem kann man erfahren, geführt zu werden. „Und, ja, und dann kommt eins zum anderen. Und dann wird man da so durchgeführt und weiß, was man als nächstes tun muss, und was nicht. Also, das Gefühl habe ich.“ (IKw, Z. 595-597) Auch im Interview mit Marisa ist Schicksalhaftigkeit relevant, wenn es um die Deutung dessen geht, was ihrer Meinung nach während ihrer Behandlungen geschehe. Sie gebe sich zwar Mühe und versuche auch, gute Techniken und Methoden zu lernen, so Marisa, der entscheidende Anteil ihrer Behandlungen liege aber außerhalb ihrer selbst. Also, ich habe keinen Einfluss. Ich kann natürlich präsent sein einfach und der Rest findet statt. Denke ich. Interview Marisa, Z. 472f.
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Hier wird deutlich, dass die Arbeit der Heilpraktikerin nicht vollständig methodisch erklärt werden kann und ihre Wirkung nicht nur – in der Sichtweise Marisas nicht einmal primär – in der Methodik entfaltet. Vielmehr „findet [es] statt“, es fügt sich, ist aber dem „Einfluss“ der Heilpraktikerin vollkommen entzogen. Anders als in den Interviewtexten wurde der Code Schicksal oder auch Bezüge zum Themenbereich Fügung o. ä. im Kontext der besuchten Veranstaltungen nicht vergeben. 6.1.4 ‚Andere Ebene‘ Die Vorstellung, die Welt bestehe aus verschiedenen Ebenen bzw. Sphären, die dem Menschen nur bedingt zugänglich seien, wurde mit dem Code ‚andere Ebene‘ codiert. Teil dieser Vorstellung ist, dass diese andere(n) Ebene(n) nicht direkt zugänglich oder durch den Menschen zu manipulieren seien, dass sie aber umgekehrt immanente Prozesse wirksam beeinflussen würden. Hier geht es also um Wirkungen, deren Ursache nicht eindeutig zu bestimmen ist, die aber zu Auslösern im Kontext von Heilungsprozessen werden können. Im Gespräch mit Marisa spielt diese Deutung eine wichtige Rolle. Marisa ist etwa 40 Jahre alt. Sie praktiziert in Norddeutschland als Heilpraktikerin und Kursleiterin ohne eigene Praxisräume, stattdessen bei Hausbesuchen, in Seminar- und Vortragsräumen oder auch mal in der eigenen Wohnung in einer norddeutschen Großstadt. Marisa hat in einem künstlerischen Beruf gearbeitet, bevor sie ein Burn-out hatte und einige Zeit nicht arbeiten konnte. Sie hat daraufhin eine Therapie gemacht und begonnen, sich umzuorientieren. Um ihren Plan umzusetzen, zukünftig anderen Menschen mit Burnout zu helfen, hat sie sich für eine Heilpraktikerausbildung entschieden. Sie hat Ausbildungen in verschiedenen alternativmedizinischen Techniken und Methoden absolviert. Ihr thematischer Schwerpunkt ist Stressbewältigung.
Marisa leuchtet im Gespräch das Verhältnis von Methoden, von erlerntem therapeutischen Wissen und unverfügbarem Heilungsgeschehen aus. Dabei macht sie deutlich, dass sie ihre eigenen Einflussmöglichkeiten für sehr begrenzt hält. Sie habe zwar viele Methoden gelernt und könne auch aufgrund ihrer Ausbildungen verschiedene Therapien anbieten, „eigentlich“ (Z. 447) fänden die Prozesse aber auf einer anderen, ihr nicht zugänglichen Ebene statt. M: Natürlich, denke ich, und so denken wir alle, wir haben gute Ausbildungen, damit haben wir gute Diagnostiken und Therapiemöglichkeiten. Und durch die Anwendung dieser erfolgt Genesung. Das halte ich für absurd. [beide: Lachen] So denke ich natürlich auch,
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aber so ist es nicht. Also, weißt du, was ich meine? Also, natürlich denke ich, wenn ich jetzt noch diese Ausbildung habe, ist mein Fächer noch größer und ich kann den Leuten noch mehr anbieten. Aber, wenn ich bestimmte Literatur lese, sehe ich, was eigentlich stattfindet. Jemand kommt zu dir und du musst gar nicht mit dem reden, der begibt sich in dein Feld und da passiert etwas auf einer Ebene, von der wir keine Ahnung haben. Dann geht der raus und es geht ihm gut. Ich meine nicht, dass der meine Energie nimmt und damit losläuft, sondern es findet ein Prozess statt aufgrund von dem, was ich hier im Angebot habe. Und das sind nicht Diagnostiken und gute Therapien, sondern das ist einfach wie ein energetischer Raum. Und der kommt dahin und hält sich darin auf und gut ist. […] [I]ch glaube, da geht auf einer Ebene noch was anderes. I: Und das ist sozusagen auch was, was quasi außerhalb von dir ist? Also, was sozusagen, //M: Keine Ahnung, woher soll ich wissen-,// also hast du darauf Einfluss, oder-? M: Woher soll ich wissen, wo das ist? Interview Marisa, Z. 441-464
So wie andere HeilpraktikerInnen gehe auch sie vordergründig von einer Wirksamkeit der erlernten Methoden aus, so Marisa. Über das Lesen „bestimmte[r] Literatur“ werde ihr aber bewusst, dass das Erlernen und Anbieten alternativmedizinischer Methoden letztlich zweitrangig sei gegenüber einem anderen Wirkmechanismus. Die Heilpraktikerin stelle ein „Feld“ zur Verfügung, einen „energetische[n] Raum“, der eben „auf einer Ebene, von der wir keine Ahnung haben“ liege – hier fänden die eigentlich wirksamen Prozesse statt. Interessant ist die Diskrepanz, die sich in den Aussagen Marisas über diese andere Ebene zeigt: Zwar weiß die Heilpraktikerin um diese Ebene, sie kennt die Wirkungen, die hier ausgelöst werden, sie hat aber keinen Zugang zu dieser und kann selbst nicht bewusst über diese Ebene wirken. Allein die Frage nach einem Einfluss darauf scheint dieser hintergründigen Sphäre nicht angemessen: „Woher soll ich wissen, wo das ist?“ Die eigentliche Ebene der Heilung liegt nicht nur außerhalb ihrer Verfügbarkeit bzw. ihres Einflusses, sondern letztlich auch außerhalb ihrer detaillierten Kenntnis. In dieser anderen Ebene, „von der wir keine Ahnung haben“, zeigt sich eine Vergegenwärtigungsform transzendenter Vorstellungen. Auch andere GesprächspartnerInnen vertreten die Vorstellung von einer hintergründigen Ebene, die Prozesse im Kontext von Heilbehandlungen beeinflusst. Die Heilpraktikerin Marlene etwa benennt diese andere Ebene bei der Beschreibung einer der Methoden, die sie anwendet. Hier, so die Heilpraktikerin, übertrete man nun „den Bereich von rational und nichtrational“ (Z. 356). Nicht nur im Blick auf diese Methode befänden sich HeilpraktikerIn und PatientIn immer in einem „Feld“ (Z. 385), durch welches die Prozesse der Heilung beeinflusst würden.
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I: […] Und du hattest noch was zu dieser […]-Methode-. Kannst du das noch ein bisschen erklären, weil, die ist-. M: Die ist es-, jetzt übertreten Sie den, den, den Bereich von rational und nichtrational, sozusagen. Das ist so dieser Bereich dazwischen. […] Und es ist so, dass das wirklich eine Technik ist, die mir nachhaltig geholfen hat. Und zwar auf eine sehr effektive Art und Weise. Alles, was mir nachhaltig geholfen hat, effektiv, mache ich hier. Ist so. […] Also [Methode]576 ist so, dass es einerseits sehr rational ist, man kann das so und so sehen. Also, man bespricht ein Thema: Mir geht es nicht gut. […] Und wenn man das so merkt, zum Beispiel, dann ist es halt sehr schön, wenn man sich dann dieses Themas bewusst wird und dann gibt es eine energetische Phase, das ist, was ich meinte mit dem Graubereich, wo sich tatsächlich auch die Patienten drauf einlassen, was ich sehr, sehr-, auch die ganz rationalen Patienten, die liegen dann, also das geht dann einmal ins Liegen, sozusagen, weil der Körper in die Ruhe kommen soll. Also er kriegt das Angebot, […] mal aus der Kontrolle rauszugehen. In dem Moment arbeite ich einmal energetisch und da werden dann die Blockaden sozusagen einmal aufgelöst. Und das wird dann auch aufgezeichnet oder aufgemalt und dann wird das danach ausgewertet. Das ist [Methode]. […] I: […] Und was heißt: Du arbeitest energetisch, also was passiert dabei? M: Na, da gehe ich halt sozusagen-. Naja, man sitzt ja immer in einem Feld, ne. Entweder man fühlt sich miteinander wohl oder man denkt-. Auch, wenn man vielleicht dahinten hochguckt, ne. Man geht ja in Verbindung: Ah, da oben sitzt die nette Heilpraktikerin. Ah, ist ja immer so gemütlich. Oder: Die schon wieder! Ne, war doof. Man geht ja in eine Verbindung mit was. Und so gehe ich auch, auch ich in Verbindung mit dem Patienten. Das ist das Gleiche wie bei der Körpertherapie. Ich gehe also in Verbindung mit den Blockaden im Gewebe. Interview Marlene, Z. 354-391, Ausschnitte
Die Ebene, auf der nach Marlenes Vorstellung die von ihr bevorzugte Methode wirksam wird, befindet sich in einem „Bereich dazwischen“, der sich weder als rational noch als irrational eindeutig einordnen lässt. Im Sinne einer unsichtbaren, vielleicht auch unbewussten Verbindungsebene wird für Marlene darüber hinaus sämtliche menschliche Interaktion verstanden. „[M]an sitzt ja immer in einem Feld“, so beschreibt die Heilpraktikerin diese Verbindungsebene, in der sich etwas jenseits rationaler Methoden ereignet. Im Kontext der besuchten Veranstaltungen wurde der Code ‚andere Ebene‘ selbst nicht vergeben, indirekt wurde die Vorstellung einer anderen, transzendenten Ebene, die in immanente Prozesse hineinwirkt, jedoch deutlich, etwa in Text576 Der Name der Methode, den die Heilpraktikerin hier nennt, ist durch den Sammelbegriff ersetzt, da die Methode wenig verbreitet ist.
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stellen, in denen über ‚höhere Bewusstseinszustände‘ oder über ‚Aura‘ gesprochen wurde. Während der Tagungsveranstaltung wurde etwa die Diskrepanz zwischen westlicher und indigener, traditioneller Heilweise anhand einer ähnlichen Vorstellung herausgestellt. Die beiden ReferentInnen, ein Arzt und seine alternativmedizinisch tätige Frau, machten deutlich, dass die Vorgehensweise „westlicher“ (Z. 138) auf der einen und „indianischer“ bzw. „religiöser“ (Z. 139) Heiltraditionen auf der anderen Seite sich grundlegend unterscheide. Das Herangehen der westlichen Medizin wäre ein ‚zielgerichtetes Handeln‘, ein ‚absichtliches Hervorrufen von Reaktionen‘. Die indianische Medizin und religiöse Traditionen würden dagegen anstreben, einen ‚höheren Bewusstseinszustand‘ zu erreichen und ‚dann wird Heilung oft geschenkt‘. Teilnehmende Beobachtung Tagung, Z. 138-141
Der Ausgangspunkt der Heilung in indigenen bzw. traditionell religiösen Heilweisen sei das Bestreben, einen „höheren Bewusstseinszustand“ zu erreichen. Damit wird eine Ebene angesprochen, die sich außerhalb der direkten Einflussmöglichkeiten der AnwenderInnen befinde. Über diese sei dann indirekt häufig eine Genesung feststellbar, es werde „Heilung oft geschenkt“, betonen die Referierenden. Machbar sei sie aber nicht, das „zielgerichtete“, „absichtliche“ Handeln der westlichen Medizin könne nicht zu dieser Form der Heilung führen. Auch während des Vortrags zum Anamneseinstrument, das im Rahmen der Heilungsmethode der Lehrerin entwickelt wurde, kommt die Idee einer nicht sichtbaren, aber wirksamen Ebene zur Sprache. Hier wie auch in den Ausführungen zu Chakren und Aura, die in den Vorträgen folgen, wird deutlich, dass die Vorstellung vorhanden ist, eine andere Ebene habe Einfluss auf den menschlichen Körper und die Gesundheit. Mehrere referierende Therapeuten fordern etwa, „an die Chakren zu glauben, ‚auch wenn man sie nicht sieht‘“ (V3T, Z. 272f.), denn dies sei wichtig für den Heilungsprozess. Leider sei ihnen das „‚in der Ausbildung aberzogen worden‘, so das Statement eines Mediziners“ (V3T, Z. 273f.). Was die Chakren bzw. die Aura sei und wie genau diese transzendente Ebene beschaffen sei und wirke, wird auf der Tagung nicht explizit geklärt. Ein Vortrag macht deutlich, dass es keine Zweifel dran geben könne, dass die Aura existiere, denn es „gebe […] auch ‚Menschen, die können Aura sehen und als Heiler behandeln‘. Der Referent stellt nun als rhetorische Frage in den Raum: ‚Woraus besteht Aura?‘ Und antwortet selbst: ‚Wir wissen es nicht.‘“ (V3T, Z. 311-313) Anders als in den Ausführungen Marisas wird bei der Tagung jedoch eine Einflussmöglichkeit auf die Aura-Ebenen angenommen. In Behandlungen nach der Heilmethode der Leiterin werden die manuellen Anwendungen sowohl mit Berührung auf dem Körper als auch mit einigem Abstand zum Körper durchgeführt. Dabei wird die Entfer-
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nung zum Körper variiert, um so verschiedene Ebenen der Aura, die sich wie eine unsichtbare Hülle um den Körper herum befinde, behandeln zu können. Die Behandlung beginnt mit einer leichten Berührung der Füße. Diese wird ohne große Bewegung über einen längeren Zeitraum gehalten. Danach wird der ganze Körper in streichenden Bewegungen berührt. Dieselben Bewegungen werden nach der Berührung auch ohne Berührung noch einmal ausgeführt. Dabei wird der Abstand zum Körper jeweils variiert – dadurch sollen verschiedene Aura-Ebenen, die sich unterschiedlich weit vom Körper entfernt befinden, behandelt werden. Teilnehmende Beobachtung Tagung, Z. 561-565
Die hier beschriebene Performanz kann nur dann als sinnvoll verstanden werden, wenn angenommen wird, dass die Aura-Ebenen beeinflusst werden können. So wird davon ausgegangen, dass Handlungen in der Nähe des Körpers eines Patienten bzw. einer Patientin auf einer nicht sichtbaren Ebene wirken, sehr wohl aber die behandelte Person konkret und wirksam beeinflussen. Die Vorstellung einer Aura, die alle lebendigen Dinge um sich herum oder in sich hätten, wird auch im Gesundheitsseminar (V2G) vertreten. Die Aura habe Einfluss auf den Menschen, etwa über die Ernährung.577 Ob hier die Vorstellung verschiedener Aura-Ebenen bestimmend ist und ob auf diese aktiv eingewirkt werden kann, wird nicht ausgeführt.
577 In diesem Seminar wird das Thema Aura besonders im Kontext von Ernährungsfragen besprochen. Dies habe aber, so der Referent, auch Einfluss auf die Gesundheit und sei daher für den Kontext des Seminars sehr wichtig. „Ein zentrales Problem bei SchulmedizinerInnen und Personen der Pharmaindustrie sei, dass sie bei ihrer Problemanalyse ‚die Aura der Dinge‘ vergäßen. Nur Nahrungsmittel, die ‚noch leben‘ seien zum Essen geeignet, etwa ein Getreidekorn, das noch ‚sprießfähig‘ sei und erst ‚direkt vor der Verarbeitung gemahlen‘ werde. Bereits gemahlenes Mehl zu kaufen hieße dagegen, dass dieses Nahrungsmittel bereits ‚tot‘ sei und seine wichtigsten Stoffe verloren habe. Nachgewiesen werde dies über ‚Aurakameras‘, die in der Lage seien, die ‚Bioenergie zu fotografieren‘. Die ‚Aura‘ übertrage sich zu 100%, während die Nährstoffe in einem Nahrungsmittel immer nur zu gewissen Teilen vom Menschen aufgenommen werden könnten. ‚Die Aura der Möhre geht beim Essen in deine Aura über.‘ […] Wie wichtig die ‚Aura‘ für die Ernährung sei, zeige sich etwa auch darin, dass es Menschen gäbe, die gar nicht essen müssten. Eindeutige Beweise dafür wären geliefert worden, indem Menschen sich hätten einsperren lassen und dann von einer Kamera beobachtet wurden, während sie sich ausschließlich von Sonnenlicht ernährten.“ (V2G, Z. 326-338)
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Auch beim Tag der Heilung (V4H) kommt die Vorstellung einer anderen Ebene indirekt zum Tragen. Mit der Auffassung, der Heiler behandle Personen, indem er „aus dem inneren Sehen“ (V4H, Z. 86) Informationen erhalte, wie eine Person zu Heilung gelangen könne, wird von einer anderen Ebene ausgegangen, die dem Heiler im Gegensatz zu den Teilnehmenden zugänglich sei. 6.1.5 Ganzheitlichkeit Codierungen zu Ganzheitlichkeit werden hier ebenfalls als Inhalte der Orientierungskategorie Transzendenzbezug gelesen. Im Sinne der unter 4.4 herausgearbeiteten und mit einem spätmodernen Religionsverständnis korrelierten Annahme von Transzendenz als Transzendierung, als Überschreitung und Entgrenzung sind holistische Vorstellungen hier zuzuordnen. Im Rahmen der Interviewauswertung wurde der Code Ganzheitlichkeit in acht von elf Interviews vergeben. Dabei unterschieden sich die codierten Textstellen sowohl in der Häufigkeit des Vorkommens in einem Text als auch im Modus. Während drei der InterviewpartnerInnen die Ganzheitlichkeit des eigenen Heilungsansatzes lediglich mit wenigen Worten erwähnten und diese Thematik im Gespräch nicht weiter ausführten, war das Thema in den fünf anderen Gesprächen zentral und wurde von den GesprächspartnerInnen als markantes Merkmal ihres eigenen Deutungs- und Heilungsansatzes dargestellt. Heidrun ist eine dieser GesprächspartnerInnen, für die Ganzheitlichkeit eine wichtige Rolle spielt. Heidrun ist etwa 50 Jahre alt. Sie praktiziert in einer norddeutschen Großstadt als Heilpraktikerin in einer Gemeinschaftspraxis. Die Praxis hat sich bereits etabliert und existiert über zehn Jahre. Heidrun hat sich schon als Kind für Kräuter und Heilverfahren interessiert und wollte beruflich in Richtung Medizin oder Tiermedizin gehen, was ihr aber aus persönlichen Gründen nicht möglich war. Anlass, sich für eine Heilpraktikerausbildung zu entscheiden, war eine eigene Erkrankung und die positive Erfahrung mit einer alternativen Heilmethode in diesem Kontext. Daraufhin hat sie verschiedene Heilverfahren kennengelernt und sich darin ausbilden lassen sowie die Ausbildung zur Heilpraktikerin absolviert. Ihre methodischen Schwerpunkte sind Shiatsu, Yoga und Achtsamkeitstraining.
Wie die folgende Interviewpassage zeigt, beschreibt die Heilpraktikerin den Wandel ihrer Perspektive im Kontext des Kennenlernens verschiedener alternativmedizinischer Heilmethoden und ihrer Ausbildungen als Entwicklungsprozess hin zu einer ganzheitlichen Sichtweise:
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Also vorher hab‘ ich das wirklich auch sehr organisch und sehr getrennt, von innen und außen gesehen, und das finde ich sehr faszinierend jetzt auf dem Weg, auf dem ich bin, dieses wie es dann doch alles ineinander webt, also bin ich immer wieder erstaunt. Dass tatsächlich nichts losgelöst ist, //mh// also so ist mein Erkennen, immer wieder, im Kleinen und- im Neuen, im Alten, wo man schon denkt, das ist vertraut und dann merkt man: Ne, ich hab‘ nur ein Stück gesehen, war eigentlich gar nicht alles. Ja. [Lachen] Interview Heidrun, Z. 54-60
Heidrun beschreibt ihre Entwicklung zu einer ‚ganzheitlichen‘ Perspektive über die Differenz von Davor und Danach. Die Sprache weckt dabei Assoziationen zu religiösen Bekehrungserlebnissen. Die Trennung in eine Zeit davor und eine danach, das „Erkennen“ in der neuen Sichtweise; diese Aspekte sind deutlich auszumachen. Während Heidruns Perspektive „vorher“ beschränkt war, als sie die Dinge einzeln, „sehr organisch und sehr getrennt“ gesehen habe, sieht sie sich „jetzt“ in der Lage, zu erkennen, dass „alles ineinander webt“ und „nichts losgelöst ist“. Die Interviewerin wird dabei in die Gruppe derjenigen Personen eingeordnet, die diese Erkenntnis (noch) nicht haben, wie die Formulierung, sie habe das „vorher […] auch“ so gesehen, zeigt. Die Idee der ‚Ganzheitlichkeit‘ verwirklicht sich dabei auf unterschiedlichen Ebenen. Sowohl synchron in der Hinsicht, dass die Trennung von „innen und außen“ nicht mehr relevant ist, als auch in der diachronen Perspektive, „[d]ass tatsächlich nichts losgelöst ist, […] im Neuen, im Alten, wo man schon denkt, das ist vertraut und dann merkt man: Ne […]“.578 Im Erkennen des vorher Gewussten als partiell wird zugleich die gegenwärtig gewonnene Erkenntnis als ‚ganzheitlich‘ hervorgehoben und sprachlich durch ein abschließend betonendes „Ja.“ bestätigt: „[U]nd dann merkt man: Ne, ich hab‘ nur ein Stück gesehen, war eigentlich gar nicht alles. Ja. [Lachen]“.579
578 Die diachrone Perspektive der Verbindung von Altem und Neuem wird im Interview auch im Blick auf die Bezeichnung für die eigene Tätigkeit hervorgehoben. „[…] dieses ‚Komplementärmedizin‘ gefällt mir eigentlich sehr gut, also dieses Verknüpfen // mhm// von altem und neuem Wissen.“ (Z. 73f.) 579 Bemerkenswert ist, dass diese ‚ganzheitliche‘, umfassende Erkenntnis der Heilpraktikerin immanent möglich ist, lässt doch die sprachliche Formulierung an Paulus denken und seine Vorstellung davon, wie und wann dem Menschen umfassende Erkenntnis gewährt wird: „Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. […] Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.“ 1. Kor 13,9-10.12.
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Auf die eigene Erkenntnis bezogen deklariert auch Annita ihr Wissen jetzt als umfassend und ‚ganzheitlich‘ im Gegensatz zu vorher. Dabei hebt sie hervor, wie sie sich schon als Kind mit existentiellen Fragen auseinander gesetzt habe und auf der Suche nach Antworten dazu gewesen sei. Und das war so, dass ich irgendwie mit, weiß nicht, keine Ahnung, fünf, sechs Jahren irgendwie, also, […] ganz häufig […] gesessen als Kind und so in die Wiesen geguckt. Wir hatten irgendwie so ein weites Feld hinter dem Haus, und das fand ich immer irgendwie ganz spannend und habe immer schon so gedacht: ‚Ah, was ist das? Mit den Sternen. Und warum?‘, und so. Und das war dann so irgendwie so ein Wunsch, das möchte ich irgendwie mal verstehen, ne. Wie das alles so zusammenhängt, warum ich hier sitze und warum es den gibt oder warum es das gibt? Interview Annita, Z. 16-23
In Annitas Perspektive haben Fragen nach den Lebenszusammenhängen schon in ihrer Kindheit begonnen. Beim Anblick des Sternenhimmels und in der Betrachtung der weiten Landschaft ihrer Kindheit entsteht in ihr der „Wunsch, das möchte ich irgendwie mal verstehen“. Dabei geht es sowohl um das Bedürfnis, Relationen und Verbindungen zu verstehen, „wie das alles so zusammenhängt“ und „was […] das [ist]“, als auch darum, in den Vorgängen der Natur und des menschlichen Lebens einen Grund und Sinn zu finden, wie sich in der mehrfachen Wiederholung der Warum-Frage in dieser Passage zeigt.580 Im Laufe ihrer Ausbildungen fügt sich 580 Die Formulierung der Heilpraktikerin löst zwei Assoziationen aus, die hier nicht explizit zitiert werden, aber möglicherweise als philosophisch-kultureller Hintergrund mitgedacht werden können. Zum einen lässt sich hier an Kants Satz aus der Kritik der praktischen Vernunft denken: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“ Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. 21. Aufl. Frankfurt a. M. 2014. S. 300. Zum anderen lässt sich an Schleiermachers Religionsverständnis denken. So wie die Heilpraktikerin ergriffen ist von der Betrachtung der Sterne und der Weite der Landschaft als Kind, bestimmt Schleiermacher das Wesen der Religion: „Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüßen will sie sich in kindlicher Paßivität ergreifen und erfüllen lassen.“ Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). Hrsg. v. Günter Meckenstock. Berlin, New York 2001. S. 79. Aus einer solchen Ergriffenheit und dem immer zuneh-
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vieles für Annita zusammen und es ergeben sich Antworten auf ihre Fragen. Daher ist das für sie überzeugendste Modell in ihrer Arbeit auch die Integrale Psychologie, zu der sie eine Ausbildung absolviert.581 Diese empfindet die Heilpraktikerin deshalb als angemessen, weil neue Erkenntnisse die vorherigen nicht ablösen, sondern gemeinsam zu einer größeren, ‚ganzheitlichen‘ Sichtweise auf den Menschen anregen und so höhere Erkenntnis ermöglichen sollen. Die bei Heidrun angesprochene Verbindung von Altem und Neuem wird auch hier aufgegriffen. Also, meine Erfahrung, und das, was ich mir da noch so nebenbei auch anlese, ist, es ist alles schon da. Es war auch immer alles schon da zu jeder Zeit und es gab immer schon Menschen, die wussten genau schon das, was wir heute langsam immer mehr auch in der ganzen Forschung feststellen, […].582 Interview Annita, Z. 242-245
Die Verbindung von Altem und Neuem ist für Annitas Sichtweise zentral und wird in dieser und der folgenden Passage aus dem Gespräch deutlich. Für sie ist es gar nicht denkbar, dass aus einer nicht-‚ganzheitlichen‘ Sicht wirkliche Erkenntnis hervorgehen könnte. So hält sie es auch für eine Illusion, überhaupt von neuen Erkenntnissen auszugehen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt neu gewonnen werden könnten, vielmehr „ist alles schon da. Es war auch immer alles schon da zu jeder Zeit […]“. Erst in der ‚ganzheitlichen‘ Betrachtung, in der Integration alter und neuer Ansichten sei es möglich, Antworten zu finden, in denen sich „alles zusammen“ (Z. 315) zu einem „größeren Bewusstsein“ (Z. 309) verbinde. Die Heilpraktikerin selbst dient hier als Beleg für diese Erkenntnis, denn sie „empfinde [das] jetzt auch selber persönlich so“ (Z. 309) und habe das „am eigenen Leib erfahren“ (Z. 310). menden Interesse an den Dingen der Welt und ihren Zusammenhängen scheint für die Heilpraktikerin der Wunsch entstanden zu sein, sich Wissen über die Phänomene der Welt anzueignen. 581 Vgl. z. B. folgende Passagen: „[…] die Integrale Psychologie oder Psychotherapie. […] Das ist auch total spannend, da bin ich auch im Moment ganz glücklich, das nochmal so gefunden zu haben. Die beschreiben nochmal-, also, auch gar nichts neues, also, das, was es alles schon gibt, nur die haben das in so einen schönen Kontext gebracht.“ (Z. 292-296); „Alles, was mal war, wurde entweder weggeschoben, und das ist eben nach integraler Sicht auch nicht gut, weil das gehört trotzdem mit darein.“ (Z. 563f.) 582 Vgl. hier die Verbindungen zur Orientierungskategorie Genese: Die Argumentation der Heilpraktikerin baut darauf auf, dass etwas, das „immer schon“ gewusst wurde, nicht völlig falsch sein kann, auch wenn diese intuitive Erkenntnis durch die Forschung „heute langsam“ erst wiedergewonnen werden kann. Vgl. auch Abschnitt 6.7.
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[U]nd jede neue Geschichte, oder, oder, wie sagt man, Zeitgeschichte oder Kulturgeschichte befindet sich immer auf einer Ebene, die dann sagt: ‚Und wir sind jetzt die Neue. Alles andere ist jetzt alt und kann weg. Wir sind jetzt neu.‘ Und das ist irgendwie falsch so, nach der integralen Meinung, weil es ist alles da gewesen, schon immer, und es muss einfach nur integriert werden. So, und und indem man das dann integriert, bekommt es einfach ein größeres Bewusstsein, und das empfinde ich jetzt auch selber persönlich so. Ich glaube da, das kann ich so, das habe ich so am eigenen Leib erfahren, dass ich, immer wenn ich ein Buch gelesen habe, […] bin ich dann losgelaufen und habe gedacht: ‚Ja, das kann ich jetzt erzählen und so ist es‘, und war immer frustriert, dass ich dachte: ‚Nein, damit ecke ich überall an. Das scheint, irgendwie ist da was quer. Das, was die anderen sagen, ist auch nicht so falsch.‘ Und das kriege ich jetzt so mit dieser Integralen Psychologie alles zusammen. Interview Annita, Z. 304-315
Stärker auf die PatientInnen und das Verständnis ihrer Anwendungen bezogen wird das Thema ‚Ganzheitlichkeit‘ von anderen HeilpraktikerInnen. Bei Edith findet sich die klassische Gegenüberstellung einer alternativmedizinisch holistischen Perspektive auf den Körper im Kontrast zur Sicht der Schulmedizin – freilich dargestellt aus dem Blickwinkel einer Alternativmedizinerin. E: […] Aber meistens kommen dann irgendwelche anderen Symptome, die-, zum Vorschein. […] Das ist dieses ganzheitliche Arbeiten. Man schaut halt auf den ganzen Menschen und wenn der Patient […] mit Schulterschmerzen kommt, dann gucke ich mir auch auf jeden Fall die Hüfte an, weil es eben kooperiert. Oder mehr, auch die Füße haben damit zu tun. I: […] Ist das […] Ihr Eindruck, dass es dann […] ein tiefer liegendes Problem gibt, was sich […] verschiedene Symptome sozusagen sucht? //E: Genau.// Kann man das so-? E: So ist es auch. Es ist wahrscheinlich etwas Tiefes, also ‚wahrscheinlich‘-, es ist so, dass es etwas Tiefes ist und das baut sich dann nacheinander auf. […] Und das ist dann eben dieses,[…] was ich unterscheide zwischen Schulmedizin und eben Naturheilkunde. Man guckt ein bisschen weiter, ganzheitlicher. I: […] [W]as verstehen Sie unter dem Begriff ganzheitlich? E: Körperlich und seelisch. Also ich nehme mit einer Anamnese alle Symptome auf. Und auch den seelischen Zustand des Patienten. Und das ist dieses Ganzheitliche. Also, ich gehe nicht nur auf die Schulterschmerzen jetzt ein, sondern mich interessiert nicht nur die Schulter, mit den Schulterschmerzen war der Patient meistens schon irgendwie beim Arzt und irgendwie wurde da nicht so viel festgestellt, vielleicht eine Verkalkung, aber ich gucke mir den Patienten komplett an. Und behandle dann meistens was anderes und dadurch wird die Schulter dann-, werden die Schulterschmerzen besser. Interview Edith, Z. 248-279
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Edith beschreibt ihre eigene Arbeit als Heilpraktikerin als „ganzheitlich[…]“. Ausgangspunkt für diese Einschätzung ist die Beobachtung, dass sich häufig verschiedene Symptome bei PatientInnen abwechseln würden – sei das eine Symptom behoben, zeige sich ein anderes. Durch diese Beschreibung kommt auch die Frage der Interviewerin zustande, ob die Heilpraktikerin in einem solchen Fall von einem tiefer liegenden Problem ausgehe, welches sich über verschiedene Symptome zeige. Die Heilpraktikerin bestätigt, mit Betonung: „So ist es auch.“ An diesem Punkt liegt für sie auch die zentrale Differenz zur sogenannten Schulmedizin. Sie selbst schaue „ein bisschen weiter, ganzheitlicher“. ‚Ganzheitlich‘ meine dabei „[k]örperlich und seelisch“. Wenn sie eine Anamnese durchführe, dann nehme sie „alle Symptome auf. Und auch den seelischen Zustand des Patienten. Und das ist dieses Ganzheitliche.“ Mit der Darstellung dessen, was sie als Grundlage ihrer Arbeit sieht, steht Edith hier exemplarisch für ein belief system von ‚ganzheitlicher‘ Heilweise. Körper und Seele gehören in Anamnese und Behandlung zusammen, die Trennung, die sich in der Folge von Differenzierung und Spezialisierung herausgebildet hat, empfinde sie als hinderlich – eine Perspektive, die auch in anderen Interviews zum Tragen kommt.583 Auch für Doreen ist ‚Ganzheitlichkeit‘ zentraler Fokus ihrer Arbeit. Ihre PatientInnen müssten immer auch selbst Verantwortung übernehmen und einen Eigenanteil leisten, wenn sie bei ihr in Behandlung seien. Jede Person sollte sich bewusst sein, auch selbst etwas verändern zu wollen, „wenn denn das Große und Ganze das Ziel sein soll. Und das ist für mich total wichtig.“ (IDw, Z. 304f.) Was dieses „Große und Ganze“, das sie hier als Zielvorstellung benennt, für sie bedeute, beschreibt Doreen auf Nachfrage: Das große Ganze? Das stelle ich-, also, stelle ich mir darunter vor, dass sie einfach mit sich selbst … im, im, im guten Kontakt sind. Das ist für mich immer das Wichtigste. Und eine gewisse Ausgeglichenheit, dass die vorherrscht. Dass ich eine gute Beziehung zu mir selber habe, dass ich mich gut spüren kann, dass ich genau merke, wo, wie nehme ich mich wahr, an welcher Stelle muss ich auf mich acht geben, diese ja, diese-, diese Feinheit zu spüren. Und dass ich natürlich irgendwo, ich versuche jedem irgendwie so weit mitzugeben, in so eine erste Hilfe, dass ich die selbst für mich gut hinkriege. Bis zu einem gewissen Grad. Also das war jetzt, dass ich einfach weiß, aber, wenn ich jetzt ganz viel Stress habe und der Kopfschmerz tritt jetzt so und so auf und in diesem und diesem Abstand und so, dann weiß ich: Mensch, da hatten wir schon mal drüber gesprochen, das und das und das muss ich 583 Vgl. z. B. Marisa, die deutlich macht, dass sie die Spezialisierung der Medizin in zahlreiche Einzeldisziplinen für falsch hält: „Diese ganzheitliche Betrachtung hat sich aufgrund der wissenschaftlichen Möglichkeiten immer mehr gesplittet, aber nicht zu unserm Besten.“ (IMw, Z. 883-885)
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jetzt machen und das und das Mittel kann ich jetzt nehmen und das nehme ich in diesen und jenen Abstände. Dass ich einfach dieses: Hilfe zur Selbsthilfe. Das ist für mich das Große und Ganze. Interview Doreen, Z. 324-335
Die Beschreibung dessen, was hier als das „Große und Ganze“ gilt, changiert zwischen Deutlichkeit und Undeutlichkeit. Dabei ist der erste Impuls sehr klar: „Dass sie einfach mit sich selbst […] im guten Kontakt sind. Das ist für mich immer das Wichtigste.“ Der Kontakt zu sich selbst, auch das Finden einer inneren Mitte584, wird nicht nur von dieser Heilpraktikerin als Ziel beschrieben. Das Wichtigste sei es, in sich selbst und mit sich selbst im Einklang zu stehen. Diese kurze Beschreibung beschließt Doreen mit dem Satz: „Das ist für mich immer das Wichtigste.“ Daran anschließend folgt nun aber eine lange Ausführung dazu, was sonst noch zum „Großen und Ganzen“ gehört: „Ausgeglichenheit“, „gute Beziehung“ zu sich selbst, sich „spüren“, „merke[n]“, wo etwas getan werden muss, eine Kompetenz für „erste Hilfe“ für sich selbst zu entwickeln. So endet sie bei der Formel „Hilfe zur Selbsthilfe“ und beschließt diese Beschreibung wieder mit einem Abschlusssatz: „Das ist für mich das Große und Ganze.“ Die Passage macht in ihrer Unbestimmtheit deutlich: Eine ‚ganzheitliche‘ Perspektive lässt sich für diese Heilpraktikerin nicht mit einem Satz beschreiben und meint nicht nur einen einzelnen Vorgang (im Körper), sondern muss über eine Vielzahl von Faktoren zusammengesetzt werden. In drei weiteren Interviews wurden Textstellen codiert, die ‚Ganzheitlichkeit‘ thematisierten, jedoch wurde dieser Aspekt lediglich erwähnt ohne weitere Ausführungen.585 Bei der Analyse der Beobachtungen fiel auf, dass Codierungen zum Thema Ganzheitlichkeit bzw. Holismus häufig in der Beschreibung zur Tagungsveranstal584 Vgl. zum Thema ‚innere Mitte‘ die Ausführungen zum Code Sinnstiftung unter 6.2. 585 Exemplarisch dafür steht diese Passage aus dem Gespräch mit Mario: „Wenn man an der Hauptursache gearbeitet hat, verschwinden auch viele andere Sachen. Ich sag mal, jemand, der Rückenschmerzen hatte, der hat gar nicht mehr gemerkt, dass er gar nicht den Schulterblick im Auto mehr kann, weil ihm die Halswirbelsäule blockiert war. So, und da wir ganzheitlich arbeiten, beseitigen wir solche Sachen teilweise auch schon nach der ersten Behandlung.“ (IMm, Z. 354-359) Mario erwähnt zwar, dass er und seine KollegInnen in der Praxis ganzheitlich arbeiten würden, was genau er darunter versteht, führt er jedoch nicht weiter aus. Nach dem hier zitierten Satz lässt sich am ehesten auf eine Vorstellung des Zusammenspiels verschiedener Muskeln und Körperteile schließen, da auf die Wirkungen der Behandlung im Blick auf verschiedene Teile des Körpers hingewiesen wird.
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tung vergeben wurden, bei den anderen Veranstaltungen aber keine wesentliche Rolle spielten. Der Eröffnungsvortrag der Tagung beschreibt die Vorstellung einer Getrenntheit und „Differenz von Mensch und Natur“ (Z. 121f) als „Grundproblem“ (Z. 121) der Welt. [D]as ‚Grundproblem‘ der Welt [sei] die Differenz von Mensch und Natur […] sowie die mangelnde Bereitschaft, der Natur ihre Rechte zuzugestehen. Die westliche Weltsicht gleiche einer ‚Trance‘, in der unbewusste, nicht hinterfragte Annahmen leitend seien. Eine dieser Annahmen sei die Vorstellung: ‚Wir sind getrennt‘. Diese sei eine Folge der Wissenschaft als Trennung des Lebens in Einzelbereiche. Daraus entstünde eine Vielzahl an Folgeproblemen. Die Lösung hierfür wäre[…] ein holistischer Ansatz […]. Dies zeige sich auch in verschiedenen Traditionen, etwa der buddhistischen Tradition, die annehme, dass ‚alles zusammengehört‘ oder der indianischen, die in dem Bewusstsein lebe, ‚wir alle sind mit allem verwandt‘. Zur Zeit gebe es eine Veränderung, es entstehe eine ‚neue Kulturgeschichte‘, die, von der Wissenschaft gestützt, die Welt verändere. […] [D]ie Referenten [seien] davon überzeugt, dass es darum gehe, ‚auf persönlicher und kollektiver Ebene in Beziehung‘ zu treten. Darüber entstehe auch Heilung, denn ‚alles, was der Verbundenheit dient, ist Heilung‘. Teilnehmende Beobachtung Tagung, Z. 120-133
Erneut wird hier ein Gegensatz von westlichem und traditionellem Ansatz aufgemacht. Während durch die neuzeitliche Entwicklung und die Prägung durch die Wissenschaft die „Trennung des Lebens in Einzelbereiche“ mit einer „Vielzahl an Folgeproblemen“ die spätmoderne europäische Gesellschaft präge, sei ein „holistischer Ansatz“ die „Lösung“. Neben allgemeinen Weltproblemen wird auch konkret auf die Frage der gesundheitlichen Folgen Einzelner eingegangen. Ganzheitlichkeit sei auch die Lösung in Fragen der Heilung, denn „alles, was der Verbundenheit dient, ist Heilung“, so die Referenten. Dabei sollten Grenzziehungen auf verschiedenen Ebenen aufgehoben werden: Die Abgrenzung einzelner wissenschaftlicher Spezialgebiete wird ebenso als Teil des Problems dargestellt wie eine Trennung von Mensch und Natur sowie eine Trennung des Einzelnen von der gesellschaftlichen Gemeinschaft. Dass die Überwindung dieser „Illusion der Getrenntheit“ (V3T, Z. 422) essentiell sei, wird auch in der Beschreibung der hier praktizierten Heilungsmethode deutlich. In der Erklärung dieser Methode wird betont, es „gebe […] eine Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos: In der kleinen energetischen Aufladung geschehe auch etwas für das Große.“ (V3T, Z. 437f.) Hier wird eine Entgrenzung von Mensch und Welt gedacht. Wo durch die Heilmethode an einer einzelnen Person gehandelt werde und eine „energetische
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Aufladung“ (V3T, Z. 438) stattfinde, wirke sich dies auf „das Große“ (V3T, Z. 438), auf den „Makrokosmos“ (V3T, Z. 437) aus. 6.1.6 Energie Die Subkategorie Energie wird als weitere Konkretisierung der Orientierungskategorie Transzendenzbezug aus den vergebenen Codes gebildet.586 Codiert werden dabei Textpassagen, in denen von Energie im nicht-physikalischen Sinne einer Kraft, Macht oder transzendenten Größe gesprochen wird, in denen die Eigenschaften und Wirkungen dieser Energie aufgezeigt werden oder auch, wenn eine explizite Abgrenzung von Energie als physikalischer Größe stattfindet. Der Code Energie wurde in acht von elf Interviews vergeben sowie in allen Beschreibungen teilnehmend beobachteter Veranstaltungen. Am häufigsten wurde im untersuchten Feld von Energie im Modus einer Selbstverständlichkeit gesprochen. Für die HeilpraktikerInnen, die den Begriff verwendeten, war keine Erklärung oder detaillierte Ausführung dazu nötig, vielmehr wurde die Allgemeinverständlichkeit vorausgesetzt. Beispielhaft für diese Verwendung ist das Gespräch mit Marisa.587 Sie spricht von Energie, ohne weitere Ausführungen zu ergänzen. Bei einer von ihr angewandten Methode würden etwa Punkte auf den „Energiemeridiane[n]“ behandelt, um so „wirklich innerhalb von Sekunden Ängste bis Traumata auf[zu]lösen. Super Ding.“ (IMw, Z. 235f.) Als sie über die Methode ihrer Lehrerin spricht, wird diese selbstverständlich als „ener586 Dieser Subkategorie ist es in ihrer Anlage bereits inhärent, dass sie sich in einem engen Bezugsverhältnis zur Orientierungskategorie Wissenschaftlichkeit/Faktizität darstellt, besonders zu der dort aufgeführten Subkategorie Anbindung an Wissenschaft. Gerade in einem den naturwissenschaftlichen Kontext übersteigenden Gebrauch wird das Wortfeld Energie als Transzendenzbezug relevant. An einigen Stellen wird auf die explizite Verbindung oder auch Abgrenzung, die in den codierten Textstellen thematisch wird, hingewiesen. 587 Vgl. zu dieser Art des Gebrauchs auch das Gespräch mit Katja, die über eine von ihr angewandte Methode zur Behandlung von Allergien spricht: Die Anwenderin „versucht mit dieser Methode, diese Energie wieder ins Fließen zu bringen, indem sie Akupunkturpunkte mit bestimmten Informationen am Körper massiert. Man hält das Allergen in der Hand. Man macht bestimmte Atemtechniken dazu. Und versucht das abzuspeichern, dem Körper sozusagen beizubringen, dass er das, was er in der Hand hat, nicht mehr als fremd, oder feindlichen Stoff anerkennt.“ (IKw, Z. 437-441); vgl. auch die Beschreibung von Marlene, die mehrere Phasen in der Anwendung einer Methode unterscheidet: „In dem Moment arbeite ich einmal energetisch und da werden dann die Blockaden sozusagen einmal aufgelöst.“ (IMlw, Z. 377f.)
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getische Arbeit“ (IMw, Z. 787) bezeichnet.588 Auch in der im Folgenden zitierten Passage spricht Marisa ganz explizit und dabei in der schon festgestellten Selbstverständlichkeit über Energie als wichtigen Aspekt ihrer Heilungsmethoden. Jemand kommt zu dir und du musst gar nicht mit dem reden, der begibt sich in dein Feld und da passiert etwas auf einer Ebene, von der wir keine Ahnung haben. Dann geht der raus und es geht ihm gut. Ich meine nicht, dass der meine Energie nimmt und damit losläuft, sondern es findet ein Prozess statt aufgrund von dem, was ich hier im Angebot habe. Und das sind nicht Diagnostiken und gute Therapien, sondern das ist einfach wie ein energetischer Raum. Und der kommt dahin und hält sich darin auf und gut ist. Interview Marisa, Z. 447-453
Marisas Vorstellung nach ist es selbstverständlich, dass sie von einem „Feld“ umgeben sei, in das sich ihre PatientInnen hinein begäben und in dem dann „ein Prozess“ stattfinde, der den eigentlichen Grund der Wirksamkeit einer HeilpraktikerIn oder HeilerIn bilde. Dieses „Feld“ beschreibt sie als „energetische[n] Raum“, wobei die in diesem Raum vorhandene Energie wirke, allein durch die Tatsache, dass jemand „sich darin auf[hält]“ und „[d]ann geht der raus und es geht ihm gut“. Energie wird hier als etwas verstanden, das an sich und ohne Lenkung durch den Menschen wirksam ist.589 Eine andere Vorstellung wird im Interview mit Heidrun deutlich. Auch sie geht selbstverständlich von einer Energie aus, die für Krankheit und Heilungsprozesse relevant sei, zugleich nimmt sie aber an, dass diese Energie durch sie als Heilpraktikerin beeinflusst und gelenkt werden könne. […] [A]lso in der Traditionellen Chinesischen Medizin gibt es, gibt es diesen Ausdruck des Schmerz ist der Schrei von dem Gewebe; wenn es jetzt im körperlichen Gewebe statt-
588 Vgl. Abschnitt 6.1.1 zur Subkategorie höheres Wesen, in der diese Passage zitiert und besprochen wird. 589 Diese Vorstellung Marisas weckt Assoziationen zu der von Hermann Schmitz begründeten Neuen Phänomenologie. Ohne hier ausführlich auf diese philosophische Richtung und das Konzept Schmitz‘ eingehen zu können, lässt sich doch an dessen Auffassung denken, Menschen würden von „Situationen, […] Eindrücke[n] und Atmosphären“ geprägt und beeinflusst. Schmitz kritisiert, dass „Atmosphären, die den Menschen leiblich spürbar ergreifen oder beschleichen“ in der philosophischen Tradition subjektiviert würden, statt ihnen einen Status als „ergreifende Atmosphären“ zuzugestehen, die den Menschen existentiell prägten. Vgl. Schmitz, Hermann: Der Leib, der Raum und die Gefühle. Ostfildern 1998. Zitate: S. 11, 94.
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findet, was energetisch unterversorgt ist, also bring ich dort Energie rein und durchflute das wieder […]. Interview Heidrun, Z. 208-211.
In der Vorstellung von Heidrun ist es möglich, als Heilpraktikerin selbst die Energie zu bewegen. Wenn ein „körperliche[s] Gewebe“ von ihr als „energetisch unterversorgt“ identifiziert wurde, wird sie selbst „dort Energie rein[bringen]“, um es zu „durchflute[n]“. Damit hat diese Heilpraktikerin selbst eine wirksame Methode in der Hand, um Schmerzen zu behandeln. Sie lässt in dieser Beschreibung allerdings offen, woher die Energie stammt, die sie dort in das Gewebe lenkt. Kommt die Energie im belief system der Heilpraktikerin aus ihrer Person selbst oder geht sie von einer höheren Energie aus, wie es bspw. in den Überlieferungen zu Reiki verstanden wird? Besonders häufig wurde der Code Energie im Gespräch mit der Heilpraktikerin Edith vergeben. Sie verwendet den Begriff ebenfalls mit der Selbstverständlichkeit, die bereits im Kontext der vorherigen Beispiele hervorgehoben wurde. Die Häufigkeit der Verwendung hängt im Fall dieser Heilpraktikerin damit zusammen, dass Edith ihr ganzes belief system zu Krankheit und Heilung über das Wortfeld ‚Energie‘ aufbaut. So ist Krankheit für sie eine „Energieflussstörung“ (IEw, Z. 186; 188; 495 u. ö.)590 und ihre Aufgabe als Heilpraktikerin bestehe darin, diese Störung zu beheben und die Energie wieder ins Fließen zu bringen (IEw, Z. 189; 190; 470 u. ö.). Durch die Vorstellung des „Energieflusses“ gerät auch das semantische Feld zu ‚Fließen‘ in den Fokus und wird mit dem Thema Energie verbunden. Als eine ihrer Aufgaben sieht die Heilpraktikerin etwa die „Narbenentstörung“ (IEw, Z. 306 u. ö.). Die Entstörung funktioniere über das Lenken der Energie in der Narbe – je nach Bedarf ausleiten, auffüllen oder auch umlenken der Energie, was „wirklich Arbeit [ist], diese Energie dann wieder in diese Narbe hineinzubringen.“ (IEw, Z. 325f.) Wenn sie die Behandlung begonnen habe, erhielten ihre PatientInnen für die Nachbehandlung eine Creme und die Aufgabe, die Energie in der Narbe in einer bestimmten Richtung fließen zu lassen, indem sie diese „in die richtige Flussrichtung [aus]streichen jeden Tag, mit so einer bestimmten Creme.“ (IEw, Z. 328f.) Die Vorstellung von Edith ist von einer Einflussmöglichkeit auf die Energie geprägt. Im Sinne einer komplementären Ergänzung wird zusätzlich zur (unsichtbaren) Energielenkung im Körper für die PatientInnen als ‚sichtbares Zeichen‘ eine Creme empfohlen, mit der sie die Ausstreichungen vor590 „[I]ch versuche das dann wieder, diese Energieflussstörung, so kann man es ja nennen, das wird auch in der Natur-, also, in der chinesischen Medizin so genannt, eine Energieflussstörung, eine Krankheit ist eine Energieflussstörung. Und um da wieder entgegenzuwirken, bringt man die Energie wieder in den Fluss.“ (IEw, Z. 186-189).
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nehmen sollten. Die Quelle der Energie benennt sie nicht – ob sie aus dem Menschen selbst kommt oder ihren Ursprung an einem transzendenten Ort hat, wird nicht explizit – durch verschiedene Methoden kann die Energie aber bei vorliegender Störung wieder „in den Fluss“ gebracht werden. Auch im Interview mit Josefine wird ‚Energie‘ häufig thematisiert. Für sie ist das Thema als ausgebildete Reiki-Behandlerin relevant, aber auch im Kontext ihrer Krankheitsvorstellung rekurriert sie auf dieses Wortfeld. Krankheit verstehe sie als „Energiestörung“ (IJow, Z. 172). Diese Beschreibung sei für sie einfacher und „kleiner[…]“ (IJow, Z. 176) als von „Krankheit“ (IJow, Z. 175) zu sprechen oder auch von „Heilung“ (IJow, Z. 175)591, darum bevorzuge sie diese Begrifflichkeit. Während im Kontext theoretischer Ausführungen zu Reiki häufig auf einen universell-transzendenten Energiebegriff Bezug genommen werde, hat dieser thematische Bereich in ihrer eigenen Darstellung für Josefine keinen „[g]eheimnisvolle[n]“ (Z. 212) oder übernatürlichen Aspekt, sondern wird hier als etwas ganz „Natürliches“ (Z. 210) dargestellt, wie der folgende Auszug aus dem Interview deutlich macht. J: […] Man sagt, wir haben das von Klein-Auf an: Wenn das Kind hinfällt, hält es sich die Hand aufs Knie. Oder Zahnschmerzen, man hält die Hand drauf. Das ist was Intuitives. Und Reiki ist wirklich etwas, wo ich sage, ich unterstütze den Energiefluss, der gerade gestört ist mit meiner Energie. Mit der Energie, die ich mir von außen hole, und schaue, dass ich so ein bisschen das Gleichgewicht wieder hin bekomme. Ich mache das, was er eigentlich selber machen könnte: Hand auflegen. […] Das ist so dieses Rüberstreicheln, was Mütter auch bei Babys machen. Im Prinzip eine natürliche Art der Energiearbeit. Also, ich sehe es als sehr natürlich an. Nicht als irgendwas von Gott Gegebenes, oder Prohephetenhaftes, sondern schon was Natürliches, was wir hier alle haben von Klein-Auf an. Und, was im Prinzip nur, wo jeder nur dran erinnert werden muss. Und jeder kann es für sich nutzen. Das ist nichts Geheimnisvolles oder so. I: Und die [Energie, Ergänz. P. S.] ist sozusagen einfach im Menschen quasi drin, undJ: Überall, ja. // Okay.// Also, wirklich, es ist das, woraus wir bestehen. Die gesamte Energie, die da ist. Und, die wir auch von Anfang an haben. Und es gibt halt Kinder, die nutzen das noch. Wir Erwachsenen, wir vergessen das irgendwie, wie das ist, mal die Hand aufzulegen oder sich zu beruhigen, oder-. Das vergessen wir so ein bisschen. Und da ist Reiki für
591 „Und ich betrachte das dann einfach nur als Energiestörung. Dass ich dann sage: Irgendwo in unserem Kreislauf ist eine Störung. Da ist zu viel Energie, und da ist zu wenig Energie. Das ist ein einfacherer Begriff für mich, als wenn ich dann von einer Krankheit spreche oder von Heilung spreche. Ich nutze dann lieber das kleinere Wort, für mich kleinere Wort. (IJow, Z. 172-176).
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zuständig dann im Prinzip. Es ist eine schöne Technik, um nochmal so an das rangeführt zu werden, was man als Kind intuitiv gemacht hat. Es ist eine schöne Energiearbeit. Interview Josefine, Z. 197-221
Bemerkenswert an dieser Passage ist die zu beobachtende Grenzverschiebung zwischen expliziter Erklärung und impliziter Verwendung des Energiebegriffs. Während Josefine davon spricht, auf „was Natürliches“ zu rekurrieren, das jeder Mensch „von Klein-Auf“ habe und „intuitiv“ einsetze, scheint sie selbst diese „[ü]berall“ vorhandene Energie, „woraus wir bestehen“, „von außen“ holen (und damit verfügbar machen) zu können, um den Energiefluss „so ein bisschen [in] das Gleichgewicht“ wieder zu bringen. Auch im Kontext der besuchten Veranstaltungen wurde Energie häufig thematisiert und in den Beschreibungen entsprechend codiert. In allen vier Veranstaltungen fand das Wortfeld Verwendung. Dem Reiki-Abend war das Thema Energie schon deshalb inhärent, weil die Methode in der Weitergabe von Reiki-‚Energie‘ ihren Fokus hat. In der Ausführung bei der Veranstaltung hieß es dazu, „Reiki stehe für ‚universelle Lebensenergie‘, die immer vorhanden sei, jedoch nicht immer gut genutzt werde. Überall sei Reiki und alle haben diese Energie, sonst könne niemand leben.“ (V1R, Z. 136ff.) Der Mensch diene der „universellen Energie“ (V1R, Z. 166; 189; 216; u.ö.) als „Kanal“ (V1R, Z. 189), durch den diese fließen könne und weitergegeben werde.592 Im Kontext des Gesundheitsseminars wurde besonders die Energie geographischer Orte hervorgehoben. Als Beispiele dafür wurde auf energiereiche Orte wie Steinkreise, Energie- oder Heilorte hingewiesen, an denen sich Außergewöhnliches ereigne. Dabei wurde auch auf die Institution Kirche Bezug genommen, indem ausgeführt wurde, „[a]uch in Kirchen gebe es manchmal sehr gute Energien […]. Ein besonderes Beispiel sei der Kölner Dom. Dort gebe es einen Bereich am Altar, der ein solcher ‚besonderer Energiepunkt‘ sei.“ (V2G, Z. 242-245) An diesen als besonders energiereich bezeichneten Orten könne ein Aufenthalt für Menschen „spürbare Folgen“ (V2G, Z. 249) haben. Relevant ist die Frage der Energie geographischer Orte für den Referenten auch insofern, als „[j]eder Ort […] seine eigene Energie und seine eigenen ‚Informationen‘“ (V2G, Z. 250) habe, die auf Menschen wirkten. Auf diese Vorstellung gründet der Referent auch seine 592 Da Energie im Kontext dieser Methode und damit auch der besuchten Veranstaltung eine derart zentrale Rolle spielt, muss es hier dabei belassen werden, auf diese wenigen Passagen explizit aufmerksam zu machen, in denen deutlich wird, welche Vorstellung von Energie hier im Hintergrund steht. Für die weitere Füllung der Kategorie sei auf die ganze dichte Beschreibung dieser teilnehmenden Beobachtung im Anhang verwiesen.
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Haltung, importierte Lebensmittel seien grundsätzlich zu meiden. Darüber hinaus wird hier auf Energie in einem umfassenden Sinne rekurriert. „Alles in der Welt sei ‚Energie‘“ (V2G, Z. 413), so der Referent und „die ‚pure Energie‘, die durch das Geradesitzen in einen hineinfließe, sei wichtiger als alles, was man esse“ (V2G, Z. 350f.). Im Hintergrund dieser Aussage zeigt sich somit die Vorstellung einer allumfassenden Energie als Lebensessenz. Beim Heilungsseminar wurde der Code Energie ebenfalls mehrfach vergeben. Dabei sind die Passagen, in denen Energie thematisiert wird, ähnlich wie im Kontext der Interviews herausgearbeitet, von einer großen Selbstverständlichkeit im Gebrauch des Wortfeldes geprägt. Der Heiler weist mehrfach seine AssistentInnen an, mit TeilnehmerInnen in den Nebenraum zu gehen und dort eine „energetische[…] Aufladung“ (V4H, Z. 128f.; mit ähnlichen Formulierungen Z. 168ff.; Z. 334ff.) durchzuführen. Auch bei seinen eigenen Behandlungen spielt das Thema eine zentrale Rolle. So sieht er etwa „energetische Blockade[n]“ (Z. 177)593 bei mehreren Teilnehmenden als Problem. Exemplarisch steht dafür die folgende Passage, in der die Beobachterin behandelt wird: Er [der Heiler; Anm. P. S.] sagt, das Thema, welches er in der Teilnehmerin sehe, sei ‚nicht zugelassene Angst‘. Deutlich sehe er in ihr eine ‚energetische Blockade im Herzzentrum‘. Die Aufgabe dieser Teilnehmerin sei somit das ‚Fließen lassen‘, das ‚Zulassen von Angst‘. Diese Angst und die Energie müssten im ‚Herzzentrum‘ gespürt werden, nur so könnten sie zugelassen werden, die Energie könne wieder fließen […]. Nachdem die Beobachterin sich in Rückenlage […] in den Kreis der TeilnehmerInnen hinein hingelegt hat, werden ihr die Hände […] auf den Brustkorb und auf den Kopf gelegt. So werden sie etwa eine halbe Minute gehalten. […] Anschließend wird, […] auf den Kehlkopf gedrückt und dieser hin und her geschoben, um, wie nun kurz erklärt wird, in der Patientin die ‚Energieknoten zu lösen‘. Teilnehmende Beobachtung Tag der Heilung, Z. 176-202, Ausschnitte
Bemerkenswert an der hier dargestellten Behandlung ist zum einen, dass die diagnostizierte „energetische Blockade“ als Antwort auf ein sehr vage formuliertes Anliegen594 als grundlegendes Problem der Teilnehmerin und als Aufgabe zur Bearbeitung für sie identifiziert wird und damit zugleich den Modus der Behand593 Vgl. auch den indirekten Verweis auf eine Blockade durch die Formulierung, es sei notwendig, „die Energie wieder ins Fließen zu bringen“ (V4H, Z. 288). 594 „Nachdem die Beobachterin ein Anliegen in nur einem kurzen Satz vorgetragen hat und dazu zu weiteren Ausführungen ansetzen will, beginnt schon der Lehrer mit seiner Antwort.“ (V4H, Z. 174ff.)
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lung bestimmt (Handauflegung, Klopfen auf den Brustkorb, Behandlung des Kehlkopfes)595. Die Energieblockade erscheint dabei als so essentielles Thema, dass das Lösen dieser Blockade und die Wiederherstellung eines durchgängigen Energieflusses fast unabhängig vom konkreten Anliegen als Aufgabe gesehen werden kann. Die Energie scheint Unwohlsein, Unzufriedenheit, Krankheiten, Beziehungsstörungen u. ä. zu lösen und wie ein Lebensprinzip den Menschen zu bestimmen. Zum anderen ist hervorzuheben, dass bei dieser sowie der Behandlung einer weiteren Teilnehmerin (vgl. V4H, Z. 270ff.) jeweils der Kehlkopf bzw. die Kehle durch den Heiler bearbeitet wird. Hier liegt die Vorstellung einer Lokalisierbarkeit der Energie bzw. der Blockade im Körper der Behandelten zugrunde. Die Verortung der essentiellen Energie an dieser Körperstelle ist insofern interessant, als der Hals- bzw. Kehlbereich nicht nur physiologisch als Ort der Luftzirkulation mit dem lebensnotwendigen Atmen verbunden ist, sondern darüber hinaus an die alttestamentlich-altorientalische Vorstellung der nefesh () ֶנפֶׁש, die eine ganze Bandbreite von Bedeutungen transportiert, denken lässt. Während die Vokabel nefesh ( ) ֶנפֶׁשzum einen mit ‚Atem‘, ‚Leben(-skraft)‘ oder ‚Seele‘ übersetzt wird, etwa wenn Gott selbst dem Menschen im Schöpfungsprozess den Lebensatem einhaucht, enthält sie auch die Bedeutungsaspekte ‚Kehle‘ oder ‚Hals‘.596 Auch im Kontext der Tagungsveranstaltung wird von Energie gesprochen und auch hier findet die Verwendung in großer Selbstverständlichkeit statt. In verschiedenen Vorträgen, im Plenum, besonders auch im Kontext der Präsentation der Heilmethode der Leiterin der Gemeinschaft wird über das „Energiefeld“ (V3T, Z. 390), das „menschliche Energiesystem“ (V3T, Z. 392) oder die Energie, die durch die Verbindung mit dem „Schöpferischen da oben“ (V3T, Z. 433f.) fließe, gesprochen. Für die Heil(ungs)-Methode der Lehrerin selbst scheint das Thema Energie absolut essentiell zu sein. Im Impulsreferat, welches in die Methode einführen soll, heißt es: „Ausgangspunkt für die Arbeit [sei] die Überzeugung: ‚Wir sind alle energetische Wesen.‘ Im Menschen befänden sich Energiebahnen, die von innerhalb und außerhalb des menschlichen Körpers beeinflusst würden.“ (V3T, Z. 378ff.) Die ganze Behandlungsmethode stütze sich auf die Vorstellung, hier würden „die Energiepunkte des Körpers ‚energetisch aufgeladen‘“ (V3T, Z. 382) und das „gesamte elektromagnetische Feld der Aura“ (V3T, Z. 383) würde dadurch angesprochen. Eine in interessanter Weise changierende Kontextualisierung des Begriffs ist während eines Vortrags wahrzunehmen, in dem drei NaturwissenschaftlerInnen 595 Vgl. ausführlich zum Ablauf der ganzen Behandlung V4H, Z. 169-216. 596 Vgl. Art. Seele. 2. Alter Orient und Altes Testament. Seebass, Horst. In: 4RGG. Hrsg. v. Hans Dieter Betz u. a. Tübingen 2004. Bd. 7. Sp. 1091f sowie ausführlicher unter 3.1.2.2.
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ihre Vorstellungen über einen Zusammenhang von „Naturwissenschaft und Feinstofflichkeit“, so der Vortragstitel, ausführen. Einer der Referierenden gibt den ZuhörerInnen dabei mit auf den Weg, sich selbst bzw. die eigenen Körperzellen gesund zu erhalten, die einer Vielzahl von Stressoren ausgesetzt wären: Wichtig sei, die Zellen immer wieder mit genug Energie zu versorgen. Die Strahlen von ‚E-Smog, Beamer-Licht‘ oder anderen Quellen ‚destruieren die Struktur der Zellen‘. Es sei ‚so viel Strahlung‘ von Handys o. ä. da, ‚dass man ganz viel Energie braucht, um das auszugleichen‘. Teilnehmende Beobachtung Tagung, Z. 333-335
Wird hier auf der einen Seite über Quellen von „Strahlung“ wie „Handys“, „ESmog“, „Beamer-Licht“ u. a. gesprochen, also über Geräte, die ausschließlich durch die regelmäßige Zufuhr von Energie in Form von Elektrizität funktionieren, wird auf der anderen Seite als Schutz und Abwehr dieser postulierten Gefahr die Zufuhr von „ganz viel Energie“ empfohlen. Dass hier eine andere Form der Energie gemeint sein muss und diese sich von der elektrischen Energie nicht nur abhebt, sondern diese möglicherweise sogar aufhebt bzw. vor den negativen Folgen dieser schützen kann, steht als Deutung im Hintergrund und ist die gedankliche Voraussetzung, um diese Zusammenhänge den ZuhörerInnen verständlich zu machen. Auch in der Performanz kommt das Thema bei dieser Veranstaltung zum Tragen. Während einer Qigong-Übung haben alle TeilnehmerInnen die Aufgabe, sich gegenseitig in Partnerarbeit „energetisch zu unterstützen“ (V3T, Z. 537) und sich „durch das in die Nähe halten oder Auflegen der Hände über einer bestimmten Körperstelle Energie zu geben“ (V3T, Z. 537f.). Auch bei dieser Übung wird der selbstverständliche Gebrauch einer transzendenten Energie vorausgesetzt – sowohl in der Semantik als auch mit Blick auf die Performanz. 6.1.7 Transzendentes Körperverständnis Die Vorstellung eines transzendenten Körperverständnisses wurde ebenfalls mehrfach im Material codiert und als eine Subkategorie zusammengefasst. Codiert wurden dabei Textausschnitte, in denen eine Deutung des Körpers zum Tragen kommt, die über ein rein physiologisches Verständnis hinausgeht, in der eine mechanisch orientierte Körpervorstellung ohne eine Verbindung mit Seele oder Geist bzw. eine Trias aus Körper, Geist und Seele nicht denkbar wäre oder wenn davon gesprochen wurde, dass Heilung bzw. Gesundheit von einer inneren Qualität des Körpers abhänge, etwa, dass dieser ‚im Gleichgewicht‘ oder ‚in der inneren Mitte‘ sei.
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Bei Marisa wird diese Vorstellung eines Gleichgewichts bzw. einer Balance deutlich. Sie verweist mit Blick auf ihr Krankheitsverständnis darauf, dass es immer um die Frage gehe, wo „kommen [wir] aus unserem Gleichgewicht“ (IMw, Z. 66). Wo dieses Gleichgewicht gestört sei und wir „nicht unserer Natur entsprechen“ (IMw, Z. 70f.), bekämen wir Hinweise durch den Körper, der sage: „[W]o bist du nicht in deiner Mitte? Wo bist du nicht authentisch? Wo lebst du nicht dein Leben, sondern das Leben der anderen? Und dann korrigiere deinen Kurs.“ (IMw, Z. 74ff.) Auch bei anderen HeilpraktikerInnen ist die Vorstellung präsent, der Körper teile dem Menschen etwas mit. Er scheint eine über einen funktionalen Zusammenhang hinausgehende ‚Kenntnis‘ zu haben, mitunter auch ein besseres Verständnis und Wissen über eine Person und darüber, was diese brauche als die Person selbst. Im Gespräch mit Heidrun wird das deutlich: [A]ber ich denke schon oder beobachte einfach, dass Schmerzen oder Krankheiten, pathogene Geschehen im Körper, fast immer-, der Körper, das merke ich jetzt, ist der Schlauste, der weiß ganz genau- und er streikt irgendwann, also wenn es nicht mehr geht, wenn die Belastung, was ich ihm zumute, von der Ernährung oder vom Schlaf, vom Stress, wenn ich da-, jeder Körper hat eine andere Kraft, aber wenn ich da über die Stränge schlage, ähm ja, dann knickt er irgendwo ein. Und ich muss mich ihm zuwenden und die Regeneration-. Und manchmal wird es wirklich nicht verstanden, manchmal ist es dann eine Wiederholung. Aber der Körper ist eigentlich dann derjenige, der die Reißleine zieht […]. Interview Heidrun, Z. 83-91
Marisa, Heidrun und auch Katja teilen im Blick auf den Körper die Überzeugung, diesem komme eine besondere, eigenständige Position zu. Der Körper wird so als ein vom Gesamtzusammenhang der Person gelöstes ‚Subjekt‘ verstanden, das nicht nur unabhängig von der Person zu wissen und ggf. zu handeln scheint (indem er z. B. „die Reißleine zieht“), sondern auch mit der Person in eine Auseinandersetzung eintreten kann. Diese Personifizierung des Körpers als eigenständige Größe, die ihm Kompetenzen jenseits der Grenzen seiner physiologischen Funktion zuschreibt, zeigt sich auch, wenn davon gesprochen wird, dass der Körper etwas mitteilen möchte (IHw, Z. 85; IKw, Z. 166ff.), dass es nötig sei, dem „Körper […] Gehör [zu] schenken“ (IKw, Z. 131) oder „die Sprache des Körpers über Empfindungen, Gefühle, Temperatur und Flüssigkeiten, Rhythmen [zu] spür[en]“ (IKw, Z. 82f.). Neben dieser Vorstellung vom Körper als selbständiger Größe dominiert in den Gesprächen die Auffassung, der Körper sei mehr als ein physiologisch funktionierender Mechanismus. Dieses Mehr finde sich in der ‚Ganzheit‘ des Körpers und gehe nicht auf in der Aneinanderreihung einzelner Teile und Funktionen des Körpers.
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Und dieses […] Gliedern der Schulmedizin in Einzelteile. Wir sind doch keine Maschinen wie ein Auto, das aus Rad, Getriebe, Motor und Zylinder besteht. Und wenn der Zylinder schwach macht, wechsele ich den aus. Nein, wir sind ein Mensch, das ist eine, eine, einemehr als die Summe der Teile, wir sind eine Einheit und du kannst das nicht so spezialisieren. Der Rückenarzt guckt sich nur den Rücken an […]. Interview Marisa, Z. 877-882
Für Marisa ist entscheidend, dass der Mensch „eine Einheit“ sei, die man „nicht so spezialisieren“ könne. In Gegenüberstellung zu dem, was ihrer Ansicht nach durch die „Schulmedizin“ praktiziert werde, verweist sie auf das „[M]ehr“, das über die „Summe der Teile“ hinaus in einer Person vorhanden sei und den Menschen gegenüber der Addition körperlicher Organe und deren Einzelfunktion hervorhebe. Die Abwehr gegenüber einem mechanistischen Verständnis des Menschen führt bei Marisa zu der Überzeugung: „Du bist ein Mensch, du bist eine Seele.“ (IMw, Z. 843) Bemerkenswert an diesem Körperbild, das bei den zitierten HeilpraktikerInnen im Hintergrund steht, ist das über physiologische Eigenschaften Hinausgehende, das den Körper qualifiziert und dem Signifikat [Beschriebenen] damit Aspekte zuweist, die die phänomenologisch und theologisch tradierte Differenz von Körper und Leib aufheben. Keine der interviewten Personen verwendet die Bezeichnung ‚Leib‘, wenngleich zumindest die hier zitierten mit dem Signifikant [Wort] ‚Körper‘ einen weiten Vorstellungsraum eröffnen, der über physiologische Aspekte hinausweist.597 Was sich in den Beispielen aus den Interviewtexten andeutet, wird in den Performanzen der beobachteten Veranstaltungen noch deutlicher. Der Körper besteht in den hier im Hintergrund stehenden Vorstellungen aus weit mehr Ebenen als einer biologisch-physiologischen. Das Reiki-Seminar baut etwa auf der Überzeugung auf, dass „es die universelle Energie in jedem Körper gibt“ (V1R, Z 163f.). Der Körper ist hier Träger, „Kanal“ (V1R, Z. 186) dieser besonderen Energie, durch den Körper des Menschen werde sie aufgenommen und weitergegeben. Auch beim Heilungsseminar ist ‚Körper‘ nicht allein eine Zusammensetzung verschiedener Organe, die jeweils eine bestimmte Funktion erfüllen sollen. Vielmehr geht der Heiler bei diesem Seminar von verschiedenen Körpern bzw. Körperebenen aus, denen jeweils unterschiedliche Funktionen zugewiesen werden. Im Kontext des Seminars ist der als ‚feinstofflicher Körper‘598 bezeichnete Aspekt 597 Vgl. ausführlicher zur Differenzierung von ‚Leib‘ und ‚Körper‘ unter 3.2.2.1. 598 Die Idee einer ‚Feinstofflichkeit‘ lässt sich bis in antike Vorstellungen zurückverfolgen. Dabei wird eine zwischen Materie und Immateriellem befindliche dritte Ebene angenommen, die z. T. als Erklärung für immaterielle Phänomene herangezogen bzw. als Vermittlungsinstanz zwischen grobstofflich-materieller und immaterieller Ebene
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von besonderer Bedeutung. Der Heiler sehe sich selbst als „Spezialisten für den Geist und den feinstofflichen Körper. Darüber hinaus arbeite er dann mit Ärzten zusammen, die Spezialisten für den materiellen Körper seien.“ (V4H, Z. 245ff.) Diese Differenzierung in ‚materiellen‘ und ‚feinstofflichen‘ Körper macht deutlich, dass eine Deutung des Körpers als Entität verschiedener Ebenen die Grundlage des Seminars bildet. Auch das Körperbild, das die Basis der Tagungsveranstaltung bildet, baut auf einer Vorstellung diverser Ebenen auf. Im Rahmen der Chakrenmeditation zeigt sich etwa folgende Denkweise: Im Körper befänden sich verschiedene ChakrenZentren, jeweils ein Chakra sei einem bestimmten Ort im Körper zugeordnet.599 Mit der Konzentration auf das Chakra und die ihm zugewiesene Eigenschaft wird eine Vergegenwärtigung transzendenter Momente erzielt (etwa „Lebendigkeit“ (V3T, Z. 223), „das ‚Eins-Sein‘“ (V3T, Z. 235) u. v. a.) und über die Meditation bzw. Energetisierung dieser körperlich verorteten Aspekte könnten Harmonie, persönliches und „allgemeine[s] Wohl“ (V3T, Z. 98), „das Lebenswürdige“ (V3T, Z. 99) und letztlich Heilung erlangt werden. Auch das Anamneseinstrument der Behandlungsmethode der Gemeinschaft weist mit der Idee einer ‚ganzheitlichen‘ Anamnese von Körper, Geist und Seele auf ein holistisches Bild des Körpers hin. Vertreten wird hier auch die Vorstellung, dass die Übergänge zwischen physiologischem und transzendentem Körper-Bereich fließend seien. So weist ein Referent darauf hin, laut der Lehre der Gemeinschaft seien „Messungen am Übergangsbereich von Körper und erster Aura-Schicht möglich“ (V3T, Z. 295f.). Der hier angedeutete Übergang zwischen den ‚Körpern‘ eines Menschen macht deutlich, dass ein rein physiologischer Begriff die dahinterliegende Überzeugung dessen, was bzw. wie der Körper des Menschen ist, nicht adäquat abbilden würde. Explizit heißt es auch, die hier gelehrte und durchgeführte „Behandlungsmethode unterstütze den physischen und den feinstofflichen Körper der PatientInnen“ (V3T, Z. 380f.).
verstanden wird. Wissenschaftlich nachweisen lässt sich eine solche ‚Feinstofflichkeit‘ nicht, nicht wenige alternativmedizinische Methoden beruhen jedoch auf dieser Grundannahme, so z. B. die Vorstellung von Chakren, Aura, alle energetischen Heilsysteme etc. 599 Vgl. „Während die TeilnehmerInnen zuerst aufgefordert werden, sich auf ein Chakra zu konzentrieren und die Leiterin beschreibt, an welcher Stelle des Körpers dieses Chakra zu spüren sei, erfolgt dann eine Meditation dieses Chakras durch eine Beschreibung von Eigenschaften, die diesem Chakra zugeschrieben werden und mit anschließender Stille.“ (V3T, Z. 92-95)
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6.1.8 Weitere Transzendenzbezüge In der nächsten Code-Gruppe werden diejenigen codierten Textstellen subsumiert, die ebenfalls der Orientierungskategorie Transzendenzbezug zuzuordnen sind, jedoch nur ein Mal oder zumindest so selten vorkamen, dass die Bildung einer eigene Subkategorie nicht gerechtfertigt wäre. Diese Gruppe muss in ihrer Ausführung exemplarisch bleiben, da hier diverse Inhalte zusammengefasst werden. Ein interessantes Feld lässt sich unter thematischen Bezügen zu Tod und jenseitigem Leben ausmachen. Josefine etwa schließt an die Ausführungen zu ihrem Verständnis von Energie ein Bekenntnis zu ihrem Glauben an und nimmt dabei auch auf ein Leben nach dem Tod Bezug: „[W]ir Menschen können vielleicht körperlich sterben, aber der Geist, irgendwo muss er bleiben. Also, so an ein Leben nach dem Tod, glaube ich auch.“ (IJow, Z. 247ff.) Welche Form dieses „Leben nach dem Tod“ haben könnte, führt sie jedoch nicht aus. Ihre Betonung des Weiterlebens des Geistes, der ja „irgendwo […] bleiben“ müsse, lässt eher an eine platonische Vorstellung denken, denn an eine paulinisch geprägte Überzeugung einer Auferstehung in der Integrität der Person.600 Indirekt kommt eine Vorstellung von einem Leben jenseits dieser Welt im Gespräch mit Annita zum Ausdruck und zugleich findet in dieser Passage eine bemerkenswerte Verhältnisbestimmung von Heilung und Heil statt: Also, Heilung würde für mich jetzt nicht darin bestehen zu sagen, er [der Patient, Anm. P. S.] müsste ganz tief alle seine Probleme klären, damit er geheilt ist, sondern ich glaube, wenn er sagen kann: ‚Mein Leben ist stimmig. Ich komme damit gut klar, auch, selbst mit den schwierigen Situationen in meinem Leben‘, die für jeden dazugehören. Das ist ja auch ein Trugschluss für viele, gerade auch heute, dass so alles immer easy sein muss. Ich glau600 Voraussetzung für die Vorstellung, wie ein Leben nach dem Tod aussehen könnte, ist die Frage, welcher Stellenwert der Leiblichkeit des Menschen zugeschrieben wird. Wird diese als lediglich vorübergehend notwendige Form oder äußere Hülle einer unsterblichen Seele verstanden, so die durch Platon und nach ihm vielfach vertretene Position, dann werden Leib und Seele im Tod (wieder) getrennt und allein die Weiterexistenz der Seele ist von Belang. Ein ähnlicher Vorstellungszusammenhang könnte im o.g. Zitat im Hintergrund stehen, wenn darüber gesprochen wird, dass Menschen zwar „körperlich sterben“ könnten, aber der „Geist“ weiterlebe. Im Gegensatz dazu gilt nach neutestamentlichem Zeugnis christlich die Überzeugung der konstitutiven Identität des Menschen als Leib und Seele. Vgl. 1. Kor 15; 2. Kor 5. Vgl. Art. Auferstehung. I. Auferstehung der Toten. 4. Neues Testament. Sellin, Gerhard; 5. Dogmatisch. Schwöbel, Christoph. In: 4RGG. Hrsg. v. Hans Dieter Betz u. a. Tübingen 1998. Bd. 1. Sp. 917-921.
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be, dass das auch krankheits-(#00:52:55# [Lachen]), dass das alles toll sein muss, das kann ja auch zur Krankheit-, also zur Störung führen, weil es einfach nicht vorgesehen ist, dass hier keine Schmerzen zu sein haben. Das finde ich auch manchmal bedenklich. In der Welt leben wir einfach nicht, das ist nicht die Realität. Interview Annita, Z. 639-648
Heilung bedeutet für Annita nicht, dass jemand „alle seine Probleme“ geklärt und gelöst habe, sondern dass er mit dem, was ihm im Leben begegnet, gut zurechtkomme. Was für den Einzelfall gilt, hebt die Heilpraktikerin hier auch auf eine grundsätzliche Ebene: Zu glauben, alles müsse „immer easy“ sein, habe für sie den Wert einer Krankheit bzw. einer Störung. Die nun folgende Begründungsfigur lässt sich als eschatologischer Vorbehalt lesen: Es sei eben nicht so, „dass hier keine Schmerzen zu sein haben“. Vielleicht denkt Annita dabei auch an eine räumliche und/oder zeitliche Perspektive, in der dies anders sein könnte – „hier“ aber sei es nicht so, „[i]n der Welt leben wir einfach nicht“. Dass dabei eine transzendente, lenkende Macht mitgedacht sein könnte, legt die Formulierung nahe, dass ein schmerzfreies Leben hier „nicht vorgesehen“ sei. Wie diese andere Welt, ohne Schmerzen etwa, aussehen könnte, bleibt im Gespräch letztlich unbestimmt. Auch in einer anderen Passage des Interviews mit dieser Heilpraktikerin wird das Themenfeld Tod angesprochen, hier unter der Perspektive, diesen als eines der letzten ungeklärten Geheimnisse unseres Daseins aufzufassen. Deswegen ist es auch gut, dass es Medikamente gibt, es ist auch gut, dass es diese ganzen Forschungssachen gibt […] Und es gehört einfach auch zur menschlichen Entwicklung dazu. Selbst, also, evolutionär. Wir waren eben alle auch mal mystisch veranlagt und wussten nicht, warum jetzt ein Gewitter passiert, bis es eben klarer wurde. Und dann war, ja, okay, da ist es, und trotzdem haben wir es nicht bis in das letzte Detail noch nicht geklärt, warum wir hier sind [Lachen], ist ja immer noch so. Man kann so viel erklären, doch das Letzte nicht. Der Tod ist noch da und keiner weiß, wo es hingeht. Interview Annita, Z. 564-572
Für Annita ist klar: Viele Fragen seien gestellt und durch die Forschung beantwortet worden, „[m]an kann so viel erklären“ – den Grund unseres irdischen Lebens aber, den Tod und die Frage, wie oder wo es danach weitergehe, das alles, „das Letzte“, wisse bis heute niemand. Bemerkenswert ist dieser Abschnitt des Gesprächs insofern, als die Heilpraktikerin hier explizite Fragen zu den letzten Dingen formuliert, zu den „komplexe[n] Größen“601, die sich durch eine besondere Deutungsaffinität auszeichnen, durch eine Herausforderung zur Deutung. Sie fragt 601 Stoellger: Deutungsmachtanalyse. S. 20.
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danach, „warum wir hier sind“ und „wo es hingeht“ und bleibt das Angebot einer Deutung bzw. eine Antwort schuldig. Eine etwas konkretere Vorstellung bietet da ein Vortrag der besuchten Tagung. Hier kommt der Referent ebenfalls auf den Tod des Menschen zu sprechen und beschreibt dabei einen Vorgang, in dem „die ‚Informationen‘ aus den Zellen […] an andere Zellen weitergegeben“ (V3T, Z. 338) würden. Diese Weitergabe zeige sich manchen Menschen in Form eines „Lichtblitz[es]“ (V3T, Z. 340). In der auf den Vortrag folgenden Diskussion rekonstruieren eine Teilnehmerin und der Referent gemeinsam eine Vorstellung davon, was nach dem Tod eines Menschen geschehe: „Eine Teilnehmerin fragt, ob das Licht zurückgehe, wenn ein Mensch sterbe, denn es komme ja in der Geburt und dann erneut in der Wiedergeburt mit der Seele. Ja, antwortet der Referent, so könne man sich den Kreislauf des Lebens vorstellen.“ (V3T, Z. 343-346) Die Vorstellung des Lichtes, welches „in der Geburt“ in den Menschen komme bzw. auch die eines „Lichtblitz[es]“, der im Menschen sichtbar sei, lässt an gnostische Strömungen denken, nach denen sich im Menschen ein „göttlicher Funke“602 finde. Die Vorstellung einer seelischen Wiedergeburt legt, ähnlich der Überzeugung Josefines, eher eine gedankliche Linie von platonischer Tradition her nahe, denn eine christlich geprägte personale Auferstehungsvorstellung.603 Eine weitere Thematik, die in diese Subkategorie eingeordnet werden kann, ist Unverfügbarkeit bzw. Abhängigkeitsbewusstsein. Im Kontext mehrerer Gespräche wurde durch die InterviewpartnerInnen deutlich gemacht, dass sie ihre Arbeit als nicht (komplett) verfügbar betrachten, dass sie sich insofern in einer Abhängigkeit sehen, als die Ergebnisse, die sie erzielen wollen, von ihnen nicht einfach gemacht werden können. Mehrere GesprächspartnerInnen wiesen explizit 602 Art. Gnosis/Gnostizismus. II. Christentum. Markschies, Christoph. Sp. 1045. Mit der Bezeichnung Gnosis wird eine religionsgeschichtlich in verschiedenen Religionen vorfindliche Tradtitionslinie zusammengefasst, deren Hauptmerkmale sich unter den Punkten 1) Erfahrung eines fernen Gottes, 2) Einführung weiterer göttlicher Figuren, 3) Annahme der Boshaftigkeit von Welt und Materie, 4) Einführung eines eigenen Schöpfergottes, 5) mythologisches Drama, 6) Erkenntnis (Gnosis) über den eigenen Zustand über eine jenseitige Erlösergestalt, 7) Erlösung aufgrund des im Menschen befindlichen göttlichen Funken, 8) Dualismus bündeln lassen. In der Erzählung des mythologischen Dramas bzw. in der Begründung der Erlösungsfähigkeit des Menschen wird von einem göttlichen Lichtfunken ausgegangen, der in der Schöpfung in die böse Welt hinabfällt und aus dem Menschen befreit werden kann. Vgl. Art. Gnosis/Gnostizismus. II. Christentum. Markschies, Christoph. In: 4RGG. Hrsg. v. Hans Dieter Betz u. a. Tübingen 2000. Bd. 3. Sp. 1045-1053. 603 Vgl. FN 600.
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darauf hin, dass sie sich nicht selbst als diejenigen verstehen, die Heilung bewirken könnten. Jessica etwa sagt: „[…] also Heilung kann niemand mit jemandem machen. Das geht nicht.“ (IJw, Z. 166f.) Und auch Katja sieht sich selbst und ihre (Be-)Handlungen nicht als im eigentlichen Sinne ursächlich, wenn eine Heilung geschehe: „Ich kann begleiten. […] Aber heilen in dem Sinne kann ich nicht.“ (IKw, Z. 312f.) Die angesprochene Unverfügbarkeit, die die HeilpraktikerInnen hier thematisieren, führt sie letztlich auch in eine Haltung, die sich als Demut beschreiben lässt. Im Herausheben der Unverfügbarkeit von Heilung zeigt sich eine (bewusste oder unbewusste) Selbstzurücknahme, die möglicherweise auch eine Offenheit gegenüber religiösen Traditionen eröffnet, in denen Demut eine zentrale Kategorie darstellt.604 6.1.9 Differenzkategorie Die letzte Subkategorie, die unter der Orientierungskategorie Transzendenzbezug aufgeführt werden muss, wurde als Differenzkategorie bezeichnet. Codiert wurden hier Textstellen, die explizit eine Abgrenzung von transzendenten oder religiösen Bezügen betonen. Dabei konnte auf die Eigenschaften einer Person verwiesen werden, etwa dass diese besonders ‚bodenständig‘ oder ‚ergebnisorientiert‘ sei, um so der Vorstellung einer geistigen Heilweise oder eines Transzendenzbezugs entgegenzuwirken, oder aber die Abgrenzung von religiösen Institutionen wurde in den Mittelpunkt gestellt. 604 Demut als „bewußte[…] Erniedrigung bzw. Unterwerfung“ (Sp. 653) spielt in verschiedenen (religiösen) Traditionen eine Rolle. Dabei kann unterschieden werden zwischen der als Tugend verstandenen gesellschaftlichen bzw. zwischenmenschlichen Demut und ritueller Demut, die sich als zeitweilige, im Rahmen des Ritus dargestellte und vollzogene Umkehr vorhandener Ordnungen und Hierarchien zeigt. Demut als Tugend weist dabei in zwei Richtungen – auf das Verhältnis zu Gott sowie auf die Mitmenschen – und wird in Judentum, Christentum und Islam traditionell hoch geschätzt. Während Demut im Christentum besonders in der monastischen Tradition (Benediktsregel; Franz von Assisi) eine wichtige Rolle spielte, geriet sie in der Reformation aufgrund der Gefahr eines Leistungsgedankens in die Kritik. Vgl. Art. Demut. I. Religionswissenschaftlich. Jödicke, Ansgar. Sp. 653. V. Kirchengeschichtlich. Köpf, Ulrich. Sp. 657ff. In: 4RGG. Hrsg. v. Hans Dieter Betz u. a. Tübingen 1999. Bd. 2. Im Sinne eines „prinzipielle[n] Bewußtsein[s] von Grenzen menschlicher Verfügungsgewalt“ (Sp. 811) bleibt eine aus dem Bewusstsein von Unverfügbarkeit entstandene Demut auch in spätmodernen Gesellschaften relevant. Vgl. Art. Unverfügbarkeit. I. Religionsphilosophisch. Rosenau, Hartmut. In: 4RGG. Hrsg. v. Hans Dieter Betz u. a. Tübingen 2005. Bd. 8. Sp. 811f.
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Während Josefine über ihre Arbeit, ihre Vorstellungen von Energie sowie die Lenkung und Weitergabe dieser Energie berichtet, grenzt sie sich explizit von einem transzendenten Energiebegriff ab und stellt ihre Arbeit und sich selbst als grundsätzlich „auf dem Boden geblieben“ (Z. 241) dar: Was wir Menschen einfach so können. Weil, keine Ahnung, Mutter Natur uns das mitgegeben hat. Also, ich betrachte das nicht so als Spirituelles wie manch anderer. Ich bin da ziemlich auf dem Boden geblieben und sehe das eher sehr, sehr nüchtern. So, ich habe da eine andere Art. Natürlich habe ich auch einen Glauben. Ich glaube auch irgendwo an das Universum und dass wir irgendwo entstanden sind. Aber mehr in Richtung Physik. Mehr so-, alles noch, was man so ein bisschen erklären kann. […] [D]as heißt, wir Menschen können vielleicht körperlich sterben, aber der Geist, irgendwo muss er bleiben. Also, so an ein Leben nach dem Tod, glaube ich auch. Aber ich habe sonst so, ich gehöre keiner Kirche, Sekte oder irgendwas an. Bin da eherInterview Josefine, Z. 239-250
Während auf die Diskrepanz in der Verwendung des Energiebegriffs (explizite Abgrenzung bei gleichzeitiger Verwendung des Begriffs mit transzendenten Aspekten) bereits hingewiesen wurde, steht hier die Selbstdarstellung der Interviewpartnerin im Vordergrund. Auch hier kommt eine Diskrepanz und Indifferenz in wenigen Sätzen deutlich zum Ausdruck. Sie sehe ihre Arbeit auf keinen Fall in einem spirituellen Zusammenhang, so Josefine, vielmehr sei sie „auf dem Boden geblieben“ und „sehr, sehr nüchtern“, sie gehöre auch „keiner Kirche, Sekte oder irgendwas an“. Einen Glauben habe sie aber nichtsdestotrotz, „an das Universum“ etwa und „an ein Leben nach dem Tod“. Der abgebrochene Satz am Ende dieser Passage deutet jedoch auch an, dass die Abgrenzung Josefine wichtiger ist als die eigene Zuordnung. Auch Heidrun ist es wichtig, die Differenz zu spirituellen Bezügen explizit zu machen. Sie störe es, wenn HeilpraktikerInnen „so diese Mütze der Spiritualität oder irgendwie so da über[…]gestülpt“ (IHw, Z. 281f.) bekämen. Vielmehr habe man auch bei HeilpraktikerInnen „ein weites Feld, da haben Sie ‚von bis‘“ (IHw, Z. 283) – wie geistig, spirituell oder auf Fakten aus dem Labor orientiert jemand arbeite, lasse sich nicht in einem Satz sagen. Auch Marlene grenzt sich gegenüber spirituellen Assoziationen ab. Sie habe keine Klientel, die es bevorzugen würde, wenn sie „die Wände rosa streiche und Engel ran male“ (IMlw, Z. 133), obwohl sie selbst sich als „nicht kritisch“ (IMlw, Z. 134f.), sondern auch „sehr traumhaft veranlagt“ (IMlw, Z. 136) sieht. Dennoch: Hier bin ich recht bodenständig, sozusagen. Also es muss schon helfen, wir wollen Ergebnisse sehen so ein bisschen. Darauf bin ich aus. Interview Marlene, Z. 136f.
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Marlene ist es für ihre Selbstbeschreibung wichtig, sich als „recht bodenständig“ darzustellen und darauf hinzuweisen, dass es in ihrer Arbeit „Ergebnisse“ geben solle. Auch an anderer Stelle im Gespräch betont sie, wie wichtig ihr diese bodenständige, ergebnisorientierte Arbeit sei. Wenn sie PatientInnen treffe, denen es gut gehe nach der Behandlung bei ihr, sei sie sich sicher: „Okay, ich bin hier kein Leute-gut-Reder, sondern wir machen hier tatsächlich ernste Arbeit.“ (IMwl, Z. 809f.) Auch die Betonung der Eigenverantwortung im Kontext von Gesundheit und Heilung kann als Abgrenzung von Transzendenzbezügen gelesen werden. Sechs von elf InterviewpartnerInnen thematisieren die Verantwortung der PatientInnen dafür, gesund oder geheilt zu werden. Exemplarisch soll hier aus dem Gespräch mit Katja zitiert werden. Für diese Heilpraktikerin ist eindeutig, dass Heilung aus dem Inneren des Menschen komme. Zugleich sieht sie darin auch für die PatientInnen selbst eine Aufgabe: Und ich glaube, dass jeder von innen heraus immer daran irgendwie mitarbeiten muss, dass er wieder gesund wird. Und das auch wollen muss. Und dafür auch einen Teil tun muss. Interview Katja, Z. 367-369
In Analogie zu Katja argumentieren auch Heidrun und Doreen: Wer wirklich gesund werden wolle, der habe einen großen Teil an Mitverantwortung daran. Diese äußere sich auf zwei Ebenen. Die PatientInnen müssten „das auch wollen“ und sie müssten „dafür auch einen Teil tun“. Hier findet sich eine strikt immanente Vorstellung von Krankheit und Heilungszusammenhängen. Vor einem solchen Hintergrund muss Gesundheit bzw. Heilung im Modus der Machbarkeit verstanden werden. Die Perspektive eines Geschenkes oder einer Gabe ist hier beschnitten.605 Der Aspekt der Unverfügbarkeit scheint so lediglich im Blick auf die HeilpraktikerIn relevant zu sein, die nicht gesund machen kann. Für die PatientInnen selbst besteht aber durchaus die Aufgabe der Arbeit an Gesundheit bzw. Heilung. 6.1.10 Fazit: Transzendenzbezug Die aus der Codierung gewonnenen Subkategorien haben sich durch zahlreiches und differentes Material aus den Interviews und Beobachtungsprotokollen füllen lassen. Dadurch erhielt die Kategorie inhaltlich Kontur. Deutlich geworden ist,
605 Vgl. dazu den Vorschlag Riegers, ein theologisch und anthropologisch angemessenes Konzept von Gesundheit vorzulegen, welches Gesundheit in einem ausgewogenen Verhältnis von Gabe und Aufgabe zu verstehen sucht. Vgl. Rieger: Gesundheit. S. 131 u. ö. Vgl. auch die Ausführungen zu dieser Publikation unter 3.2.2.2.
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dass einige Texte kaum Transzendenzbezüge aufwiesen, während in anderen Gesprächen und Beschreibungen dieser Aspekt sehr deutlich in den Blick kam. Die verschiedenen Subkategorien zeigen sich unterschiedlich markant im Material. Codierungen zur Vorstellung eines höheren Wesens sind in mehreren Gesprächen deutlich geworden, dabei blieben sie in ihrer Bestimmung indifferent und wurden als Engel, Schicksal, ‚lieber Gott‘, Schöpferkraft, Verbindung nach oben etc. aufgerufen. Eine konkrete Vorstellung und persönliche Ansprache stand hier weniger im Fokus denn die vage Verbundenheit mit einem unbestimmten Wesen. In Anknüpfung an die höheren Wesen lässt sich die Subkategorie Dankbarkeit lesen, die in einigen Texten deutlich wurde. Dabei steht jedoch nur vereinzelt die Dankbarkeit einem bestimmten Adressaten gegenüber im Mittelpunkt (vgl. den Dank, den Cornelia an einen Adressaten ‚da oben‘ richtet und die Analogie, die sie selbst darin zum alltäglichen Gebet sieht). Deutlicher treten dabei zwei andere Aspekte ins Blickfeld: Dankbarkeit als grundsätzliche Haltung, die Gesundheit und Heilung fördert sowie eine nicht explizit gerichtete Dankbarkeit im Blick auf den eigenen Weg in den Beruf und die Berufung. Die Vorstellung eines Schicksals oder einer Fügung findet sich in mehreren Interviewtexten, jedoch nicht in den Beschreibungen der teilnehmenden Beobachtungen. Diejenigen GesprächspartnerInnen, die von einer schicksalhaften Bestimmung ihres Lebens oder einer Fügung im Blick auf Krankheit oder Heilung ausgehen, sind dabei nicht fatalistisch in ihrer Haltung. Das Schicksal wird vielmehr als Gegebenheit des Lebens anerkannt und angenommen. Positiv gewendet kann hier auch eine Führung bzw. Fügung für das eigene Leben (und das der PatientInnen) gesehen werden. Codierungen zur Subkategorie ‚andere Ebene‘ wurden ebenfalls in verschiedenen Texten vergeben und zeichnen ein sehr markantes und zugleich abstraktes Bild der Vorstellung einer Welt multipler Dimensionen. Hier zeigt sich eine starke Vergegenwärtigung transzendenter Vorstellungen in der Annahme einer dem direkten Einfluss des Menschen entzogenen Ebene, die zugleich durch ihre Wirkungen in der Wirklichkeit wahrgenommen werden kann. Auch die Kategorie der Ganzheitlichkeit wurde als Perspektive eines Transzendenzbezugs herausgearbeitet, bietet sie doch zahlreiche Anknüpfungspunkte für Entgrenzungen, Transzendierungen des Alltäglichen und weitet so immanente Vorstellungen aus. Explizite wie implizite Anknüpfungen wurden hier im Material sichtbar. Die Subkategorie Energie stellt ebenfalls einen deutlichen Bezug zu transzendenten Vorstellungen dar und wurde in zahlreichen Interview- und Beobachtungstexten codiert. Das Wortfeld ist besonders im fokussierten Kontext von Krankheit und Heilung relevant, zeigt es sich doch als zentraler Baustein eines belief systems, welches Krankheit und Heilung in einen direkten Zusammenhang mit einem intakten oder gestörten ‚Energiefluss‘ stellt. Häufig und selbstverständlich ist der Gebrauch einer transzendenten (Be-)Deutung von Energie, sei es die Vorstellung eines Aufenthalts in
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einem ‚energetischen Raum‘ bzw. ‚Feld‘, das ‚Fließen lassen‘ oder anderweitige Einflussnahmen auf die postulierte universelle Energie. Auch im Blick auf den Körper haben sich Transzendierungen gezeigt, ein transzendierendes Körperverständnis lässt sich im Material einem physiologischen gegenüberstellen. Darüber hinaus finden sich diverse thematische Bezüge, die sich aufgrund ihrer Differenzen nicht ohne weiteres unter einer Überschrift bündeln lassen und daher als weitere Transzendenzbezüge zusammengefasst wurden. Auch hier bergen die Texte reichliches Material, diese Kategorie zu füllen, sei es im Blick auf Leben und Tod oder etwa im Bewusstsein einer Unverfügbarkeitserfahrung. Auch die unter der letzten Überschrift zusammengefassten Aspekte einer Abgrenzung tragen zur Konturgebung der Orientierungskategorie bei, sowohl in ihrer Widersprüchlichkeit (wie es die Abgrenzungsbemühungen im Gespräch mit Josefine deutlich machen) als auch in den Passagen, die tatsächlich eine immanente Perspektive verfolgen. Die Orientierungskategorie Transzendenzbezug wurde mithilfe des Materials inhaltlich gefüllt und eröffnet aus dem Material zahlreiche religionstheoretische Anknüpfungsmöglichkeiten.
6.2 SINNSTIFTUNG Codierungen zur Orientierungskategorie Sinnstiftung wurden in allen Interviews sowie in drei von vier dichten Beschreibungen ausgemacht. Dabei lassen sich die Codes in Gruppierungen zusammenfassen, die die inhaltlichen Bestimmungen zu Sinnstiftungsprozessen aus Kapitel 4.5.1 abbilden. Thematisiert wird das Fragen nach Sinn, die Formulierung einer Sinnsuche, eines Wunsches oder der Sehnsucht, etwas als sinnvoll zu erfahren oder zu deuten. Darüber hinaus ist die Konstruktion von Sinn relevant, die in einer angebotenen Deutung eine sinnvolle Einordnung ermöglicht sowie eine daraus abgeleitete Handlungsorientierung bzw. Leitlinien, die das Handeln bestimmen. Zusammengefasst werden diese Themen in den drei Subkategorien Fragen und Suchen, Sinnkonstruktion und Handlungsorientierung. 6.2.1 Fragen und Suchen Der Code Fragen und Suchen wurde in drei Interviews an markanten Textstellen vergeben sowie in drei der vier Beobachtungen und soll anhand dieses Materials im Folgenden vorgestellt und die Subkategorie so inhaltlich gefüllt werden. Da Codierungen zu dieser Kategorie im Gespräch mit Katja an inhaltlich besonders relevanten Stellen vergeben wurden, wird dieses Interview exemplarisch herangezogen und zitiert.
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einem ‚energetischen Raum‘ bzw. ‚Feld‘, das ‚Fließen lassen‘ oder anderweitige Einflussnahmen auf die postulierte universelle Energie. Auch im Blick auf den Körper haben sich Transzendierungen gezeigt, ein transzendierendes Körperverständnis lässt sich im Material einem physiologischen gegenüberstellen. Darüber hinaus finden sich diverse thematische Bezüge, die sich aufgrund ihrer Differenzen nicht ohne weiteres unter einer Überschrift bündeln lassen und daher als weitere Transzendenzbezüge zusammengefasst wurden. Auch hier bergen die Texte reichliches Material, diese Kategorie zu füllen, sei es im Blick auf Leben und Tod oder etwa im Bewusstsein einer Unverfügbarkeitserfahrung. Auch die unter der letzten Überschrift zusammengefassten Aspekte einer Abgrenzung tragen zur Konturgebung der Orientierungskategorie bei, sowohl in ihrer Widersprüchlichkeit (wie es die Abgrenzungsbemühungen im Gespräch mit Josefine deutlich machen) als auch in den Passagen, die tatsächlich eine immanente Perspektive verfolgen. Die Orientierungskategorie Transzendenzbezug wurde mithilfe des Materials inhaltlich gefüllt und eröffnet aus dem Material zahlreiche religionstheoretische Anknüpfungsmöglichkeiten.
6.2 SINNSTIFTUNG Codierungen zur Orientierungskategorie Sinnstiftung wurden in allen Interviews sowie in drei von vier dichten Beschreibungen ausgemacht. Dabei lassen sich die Codes in Gruppierungen zusammenfassen, die die inhaltlichen Bestimmungen zu Sinnstiftungsprozessen aus Kapitel 4.5.1 abbilden. Thematisiert wird das Fragen nach Sinn, die Formulierung einer Sinnsuche, eines Wunsches oder der Sehnsucht, etwas als sinnvoll zu erfahren oder zu deuten. Darüber hinaus ist die Konstruktion von Sinn relevant, die in einer angebotenen Deutung eine sinnvolle Einordnung ermöglicht sowie eine daraus abgeleitete Handlungsorientierung bzw. Leitlinien, die das Handeln bestimmen. Zusammengefasst werden diese Themen in den drei Subkategorien Fragen und Suchen, Sinnkonstruktion und Handlungsorientierung. 6.2.1 Fragen und Suchen Der Code Fragen und Suchen wurde in drei Interviews an markanten Textstellen vergeben sowie in drei der vier Beobachtungen und soll anhand dieses Materials im Folgenden vorgestellt und die Subkategorie so inhaltlich gefüllt werden. Da Codierungen zu dieser Kategorie im Gespräch mit Katja an inhaltlich besonders relevanten Stellen vergeben wurden, wird dieses Interview exemplarisch herangezogen und zitiert.
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Katja ist etwa 45 Jahre alt. Ihre Heilpraktikerpraxis, in der sie hauptberuflich arbeitet, befindet sich in einer norddeutschen Mittelstadt. Katja hatte zuvor in einem Werbeberuf gearbeitet und dann aufgrund von Schwangerschaften und Kindererziehungszeiten pausiert. Nach dieser Pause und dem Umzug in eine andere Stadt hat sie sich beruflich neu orientieren wollen. Über den Wunsch, ihre Kinder alternativmedizinisch zu behandeln, ist sie zur Heilpraktikerausbildung gekommen. Katja bietet u. a. Cranio-Sacral-Therapie, Reiki, sowie einige weniger verbreitete Körpertherapie-Methoden an.
Nachdem Katja im Interview einiges über ihren eigenen Werdegang erzählt und ausführlich die Methoden, mit denen sie arbeitet, vorgestellt hat, wendet sich das Gespräch der Frage zu, welche Vorstellungen sie mit Krankheit und Heilung verbindet. Dabei wird deutlich, dass diese Themen für Katja eng mit grundsätzlichen Lebensfragen zusammenhängen, etwa der Frage nach dem eigenen, richtigen (Lebens-)Weg. Auch die Suche nach einem Sinn und die Frage nach dem „was wir eigentlich wirklich wollen“ (Z. 163) verknüpft sie mit ihrer Deutung von Krankheit, wie der folgende Ausschnitt aus dem Gespräch zeigt. Also, Krankheit, glaube ich, entsteht immer, wenn das, was wir fühlen und denken nicht im Einklang steht mit das, was wir leben, und was wir handeln. Also, ich habe das Gefühl, wenn wir einfach nicht wir selbst sind, das, was wir ganz, ganz, also- Jeder hat ja so seine Träume im Leben und wir kommen aber immer irgendwie wieder vom Wege ab. Wir haben das Gefühl, wir müssen Dinge erfüllen, wir müssen dafür sorgen, wir müssen den und den Job machen. Wir müssen Geld verdienen. Wir müssen, wir müssen, wir müssen. Und wir müssen so viel, aber irgendwie hören wir gar nicht mehr auf das, was wir eigentlich wirklich wollen im Leben. Also, die meisten verlieren sich sozusagen. Und dann kommt erst ein Symptom, was sie vielleicht darauf hinweist, dass irgendwas nicht in Balance ist. Oder dass sie auf irgendwas in ihrer Seele oder ihrem Körper nicht hören. Und dann kommt das nächste. Und wenn sie gar nicht hören, wird es irgendwann chronisch. Interview Katja, Z. 157-168
Auf die Frage, welche Vorstellungen sie mit Krankheit verbinde, antwortet diese Heilpraktikerin, Krankheit entstehe, wenn das eigene Leben, Denken und Handeln nicht miteinander im Einklang stünden und „wir einfach nicht wir selbst“ seien. In gesellschaftlichen Verpflichtungen und Zwängen, im „[M]üssen“ – das Verb kommt in den zitierten Sätzen acht Mal vor – gehe das Gefühl dafür verloren, was jemand „eigentlich wirklich [will] im Leben“. Die Suche nach den eigenen „Träume[n]“, nach dem „Wege“, nach dem, was dem eigenen Leben Sinn und Richtung gibt, wird für Katja zum Indikator für Krankheit bzw. Gesundheit. Wo die Träume, der Sinn und die Richtung immer wieder in den Hintergrund treten,
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wo sie durch alltägliche Anforderungen „in diesem Hamsterrad“ (IKw, Z. 141) vergessen werden, da gingen die Menschen „sich irgendwie auch verloren“ (IKw, Z. 141; vgl. auch Z. 165) und es entstünden Krankheiten. Bemerkenswert an der hier zitierten Antwort ist, dass die Heilpraktikerin so gut wie kein medizinisches Vokabular verwendet. Lediglich die Feststellung, dass ein „Symptom“ auftrete und eine Krankheit auch „chronisch“ werden könne, deuten auf ein medizinisches Bezugssystem. In der Ausführung zu ihren Überzeugungen, zu den im Kontext ihrer Arbeit wirksamen Deutungen, wird dieser Bereich ausgeklammert. Auch in der folgenden Passage, die die Antwort auf die Frage nach ihrer Deutung von Heilung zitiert, wird dies sichtbar. In beiden Fällen zeigt sich: Obwohl konkret nach ihrem Verständnis von Krankheit und Heilung gefragt, nehmen die Ausführungen der Heilpraktikerin keine physiologischen Zusammenhänge oder medizinischen Methoden in den Blick – Krankheit und Heilung hängen daran, die eigenen Bedürfnisse im Leben angemessen umzusetzen und das Leben darin als sinnvoll zu erfahren. Im unten zitierten Ausschnitt folgt daher auf die Diagnose, „die meisten verlieren sich“, die konsequente Herangehensweise in der Behandlung: Für Katja geht es bei ihrer Arbeit darum, mit den PatientInnen gemeinsam auf die Suche nach dem richtigen Weg zu gehen. Sie bemühe sich dann „Stück für Stück sozusagen, sie wieder dahin zu führen, dass sie wieder so in ihrer Mitte sind, oder sich selber spüren, oder selber neue Lösungswege“ (IKw, Z. 142f.) finden könnten. So könne Heilung stattfinden. Also, Heilung, glaube ich, in dem Sinne, ist schon immer so ein aus-, also so ein-, also, ganz still mal zu sein und zu hören, was bin ich, was will ich, was ist meine Aufgabe? Was will ich eigentlich in diesem Leben? Und dann auch den Mut haben, diesen Weg auch zu gehen, auch wenn er unangenehm ist. Und Heilung ist ja wirklich, also, ist für mich wirklich, auch wenn es immer wieder so eine Floskel ist, aber das ist wirklich eine Balance von Körper, Geist und Seele. Und das, was ich denke und fühle, dass ich das auch leben kann. Und dass ich mich nicht verstellen muss. […] Und dass ich manchmal auch gegen den Strom schwimme. Oder, dass ich Dinge einfach so annehme, wie sie sind. Interview Katja, Z. 185-195
Heilung könne geschehen, so Katja, wenn der vorbestimmte Weg gegangen werde, wenn eine Person authentisch lebe, mitunter auch gegen gesamtgesellschaftliche Tendenzen. In beiden aus dem Gespräch mit Katja zitierten Textabschnitten wird über die Vokabel „eigentlich“ angezeigt, dass es der Gesprächspartnerin hier um einen tieferen, hinter oberflächlichen Themen liegenden Sinn geht. Die Vorstellung, dass es neben dem, was Menschen alltäglich beschäftigt, noch ein Eigentliches gäbe, wird immer wieder im Interview mit Katja deutlich. Es geht dabei um die Suche nach dem eigentlichen Wollen, darum, „ehrlich zu sein und
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[…] bestimmte Rollen [zu verlassen]“ (IKw, Z. 177), darum, seine „Lebenseinstellung“ (IKw, Z. 213) zu ändern u. ä. Katja fragt im Kontext von Krankheit und Heilung nach Sinnzusammenhängen und dem richtigen Weg. Darin bietet sie auch – sich und ihren PatientInnen – Sinnkonstruktionen. Wie im vorhergehenden Zitat deutlich wurde, erfolgt über eine eigene Aufgabe und einen guten Weg für das eigene Leben die Herstellung sinngebender Ordnung und die Möglichkeit der Orientierung, was die Heilpraktikerin wiederum mit ihrer Vorstellung von Heilung korreliert. Die von Katja angesprochene Herausforderung, die das konsequente Verfolgen des eigenen Weges mit sich bringt (s.o.), hebt auch die Heilpraktikerin Jessica hervor. […] wenn ich so an mein Leben so zurückdenke, bevor ich Heilpraktiker geworden bin oder bevor ich das überhaupt alles hatte, gab es eine Zeit, da war ich gesund. Da ging es mir gut. Da war alles total in Ordnung. So, und dann öffnen sich aber auf einmal andere Wege, man stößt auf andere Sachen, gräbt da immer tiefer drin rum und dann ist es so, dass eben diese Schichten, die vielleicht erst noch zu sind, sich dann langsam öffnen […]. Interview Jessica, Z. 207-212
Das Leben könnte auch ganz einfach sein, so der Rückblick dieser Heilpraktikerin. Früher, bevor sie die Dinge gelernt habe, mit denen sie nun als Heilpraktikerin arbeite, „da war ich gesund“, „[d]a ging es mir gut“. Alles war „total in Ordnung“. Trotzdem ist Jessica der Überzeugung, dass es der richtige, der bessere Weg sei, in tiefere „Schichten“ vorzudringen und sich auf „andere Wege“ zu begeben, Fragen zu stellen, nach Hintergründen und Zusammenhängen zu suchen und nicht in einem Zustand zu bleiben, in dem es einer Person einfach (aber eben nur oberflächlich) gut geht. Bemerkenswert in diesem Abschnitt ist auch die vorausgesetzte Differenz von Gesundheit und Heilung. Während sie früher „gesund“ war, ist die Heilpraktikerin nun (mit ihren PatientInnen) auf dem Weg in andere, tiefere Ebenen. Das Thema, sich auf die Suche zu begeben, spielt auch im Rahmen der beobachteten Veranstaltungen eine Rolle. Objekt dieser Suche kann dabei Unterschiedliches sein. Bei der Tagung weist eine Referentin auf die Notwendigkeit hin, in medizinische Therapien „Sinnsuche“ (V3T, Z. 502) zu integrieren, die anschließende Diskussion zum Vortrag greift verschiedentlich „das Motiv der ‚Suche‘ – nach dem richtigen Weg, nach Sinn, nach Gemeinschaft –“ (V3T, Z. 521f.) auf. Auch die Lehrerin selbst weist darauf hin, dass wir „alle[…] […] auf der Suche seien“ und die Aufgabe hätten „ein ‚kollektives Bewusstsein‘ und eine ‚liebevolle, klare Haltung‘ zu entwickeln“ (V3T, Z. 86f.). Bei der Vorstellung der in der Gemeinschaft praktizierten Form der Anamnese wird ebenfalls die Sinnfrage
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virulent. Eine Anwenderin gibt dazu einen Erfahrungsbericht und sagt, „[s]ie habe an einer Hauterkrankung gelitten und sei zu dieser Anamnese und diesem Heilverfahren vor allem motiviert worden über den Wunsch, die ‚Krankheitsursache zu verstehen‘.“ (V3T, Z. 243ff.) Und nicht nur von der Suche wird hier berichtet, sondern auch davon, dass die Methode ihr auf dem Weg zu einer sinnhaften Einordnung geholfen habe. „Sie habe in einer tiefen Beziehungskrise gesteckt und im Laufe der Arbeit mit dieser Heilmethode gelernt, sich ‚angenommen zu fühlen‘.“ (V3T, Z. 245ff.) Beim Tag der Heilung steht wiederum besonders die Suche nach dem eigenen, richtigen Weg im Zentrum. Für zwei der TeilnehmerInnen ist die Suche nach dem eigenen Weg überhaupt der Anlass, sich bei diesem Heilpraktiker in die Behandlung zu begeben.606 Im Kontext des Gesundheitsseminars wird auf die heutige Gesellschaft verwiesen und die Schwierigkeit, Gewissheit und Orientierung zu finden. Zugleich weist der Referent darauf hin, dass alle Zusammenhänge im Kontext von Krankheit und Heilung einfach zu erkennen seien607 und – nach diesem Seminar – eine weitere Suche letztlich nicht mehr nötig sei. 606 Die Behandlung einer der TeilnehmerInnen beginnt damit, dass sie folgendes Anliegen vorbringt: „Sie könne sich immer wieder nicht ganz auf das einlassen, was ihr der Lehrer sage und was er an Lernaufgaben in ihr sehe. […] Daraufhin fordert er [der Heiler, Anm. P. S.] F2 auf, sich vor die Assistentin zu setzen, während diese die
Augen schließt, um zu sehen und mitzuteilen, was sie ‚in‘ der Teilnehmerin sieht. Sie sehe ‚Eigenwillen‘, der gegen die innere Person von F2 arbeite. Sie brauche eine ‚Entschmelzung‘ von dem ‚trotzigen Kind‘, das sie in sich habe, um erwachsen zu werden und ihren Weg weiter gehen zu können.“ (V4H, Z. 141-148). Im Laufe des Tages wird auch eine ältere Teilnehmerin aufgefordert, ihr Anliegen zu nennen: „Die nächste Teilnehmerin ist eine ältere Frau, zwischen 60 und 70 Jahre alt, die nun als vorletzte auf dem Kissen vor dem Lehrer Platz nimmt. Sie sei mit Entscheidungen in ihrem Leben unzufrieden. Sie habe nicht immer den richtigen Weg gefunden, sondern auch ‚aus Feigheit hinterhältige Wege‘ gewählt. Sie möchte aus diesem Verhalten herauskommen. Es sei gut, so der Lehrer, dass sie diese Entscheidung getroffen habe: ‚Das Versteckspiel hat ein Ende.‘ Sie sei auf einem guten Weg.“ (V4H, Z. 346-350)
607 „Dabei stellt er [der Referent, Anm. P. S.] als eines der zentralen Probleme der heutigen Zeit den ‚Zweifel‘ dar. Es gebe keine sicheren Wege, kausale Zusammenhänge zu erkennen. Sei man aber durch Zweifel bestimmt, blockiere dieser die Handlungsinitiativen. Wenn aber in Wirklichkeit – wie er noch ausführen werde – alle Erkenntnisse im Blick auf Gesundheit eindeutig seien, müsse man fragen, warum diese dann nicht von allen angewandt würden, so dass niemand mehr krank wäre oder an Krankheiten sterben müsse.“ (V2G, Z. 83-88)
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6.2.2 Sinnkonstruktion Neben der Frage bzw. der Suche nach Sinn, mit der die HeilpraktikerInnen ihre PatientInnen zitieren bzw. die sie selbst ansprechen, ist auch die Einordnung von Krankheit oder Heilung als sinnvoll im Rahmen der Orientierungskategorie Sinnstiftung zu erfassen. Wie im vorherigen Abschnitt bereits an einem Beispiel deutlich wurde, geht die Frage nach dem Sinn mitunter direkt in die Konstruktion eines Sinnzusammenhangs über. Eine Einordnung kann jedoch auch unabhängig davon erfolgen, ob die Frage nach Sinnstiftung zuvor explizit gestellt wurde oder nicht. Dass Krankheit eins zu eins als etwas Positives gedeutet und von dieser Perspektive aus als sinnvoll angesehen wird, kommt im vorliegenden Material nur selten vor. Eine Heilpraktikerin wertet die eigene Krankheit und Krise als Chance608, zudem wird im Kontext einer Veranstaltung die Gleichsetzung von Krankheit „als Geschenk“609 vorgenommen. Von diesen Beispielen abgesehen, sind die GesprächspartnerInnen zurückhaltend im Blick auf eine direkte sinnhafte Deutung von Krankheit. Häufiger wird dagegen Heilung in Sinnkontexte eingeordnet. Dies funktioniert u. a. über die Verwendung von Metaphern wie ‚Heilung als Weg‘, ein Motiv, das bspw. Jessica heranzieht: […] [I]ch denke Heilung, das ist immer, das ist eigentlich so ein Lebensweg. Das ist nichts: ‚Ach, jetzt mache ich mich mal heil und dann bin ich heil und dann bin ich das.‘ Weil so funktionieren wir ja nicht. Wir haben ja im Prinzip so ein langes Leben vor uns, wo uns so viel begegnet und so viel passiert, dass es immer ein Auf und Ab gibt. Dass man nie den Zustand der kompletten Heilung auf ewig hat. Interview Jessica, Z.183-187
Jessica versteht Heilung als Lebensweg. Da das Leben ein „Auf und Ab“ sei, könne man nicht davon ausgehen, dass man im Sinne eines statischen Zustands einmalig Heilung herbeiführen und sie dann behalten könne. Vielmehr wird Heilung hier verstanden als Prozess, als Lebensweg, der immer wieder Veränderun-
608 Sie habe dadurch erst das gelernt, was sie heute anwende, so Marisa. Vgl. IMw, Z. 136ff. 609 Ein Patient berichtet bei einem Podiumsgespräch von seiner Erfahrung mit der hier praktizierten Heilungsmethode: „Für den Patienten gibt es ‚viele Dinge, wegen derer ich in Behandlung war‘, u. a. ‚eine große, schwere Krankheit‘, die ‚ich heute als Geschenk sehe‘.“ (V3T, Z. 452f.) Zu beachten ist hier, dass diese Aussage als Selbstbeschreibung dient und keineswegs zugleich beinhaltet, dass auch für andere Personen diese Perspektive übernommen würde.
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gen unterworfen sei. Analog formuliert auch Josefine: „Der Weg ist Heilung.“ (IJow, Z. 137; 155)610 Acht HeilpraktikerInnen sprechen indirekt von einer Sinnkonstruktion im Blick auf Krankheit und Heilung als sie diese mit einer Form von Übereinstimmung, Einklang oder Harmonie korrelieren. Die konkreten Ausdrucksweisen dafür sind verschieden, die inhaltliche Bestimmung gleichwohl ähnlich. Mehrfach heißt es, jemand müsse in seine ‚Mitte‘ oder ‚innere Mitte‘ kommen, wie es bspw. Katja formuliert: Ja, und dann versuchen wir Stück für Stück sozusagen, sie wieder dahin zu führen, dass sie wieder so in ihrer Mitte sind, oder sich selber spüren, oder selber neue Lösungswege auch für sich finden. Interview Katja, Z. 141-143
Auch Marisa (IMw, Z. 75), Marlene (IMlw, Z. 315) und Mario (IMm, Z. 201; 350) sprechen davon, dass es nicht gut für die PatientInnen sei, wenn sie nicht ‚mittig‘ seien oder formulieren als Ziel, die PatientInnen wieder ‚in ihre Mitte‘ bringen zu wollen. Bei Heidrun heißt es, der Weg über die Krankheit habe sie zu der Erkenntnis geführt, man müsse anstreben, wieder „in die eigene Kraft“ (IHw, Z. 54) zu kommen; auch die Formulierungen „bei sich sein“ (IJow, Z. 27; 62), eine gute „Anbindung zu seinem Inneren“ (IJow, Z. 395) zu haben, „mit sich selbst […] im guten Kontakt“ (IDw, Z. 324) zu sein oder „zu sich zurückzufinden“ (IEw, Z. 439) werden verwendet, um diese Deutung von Heilung in Worte zu fassen. Die hier ausgewiesenen Sequenzen sind insofern für die Codierungen im Kontext von Sinnkonstruktion relevant, als sie zwei Aspekte aufzeigen: Zum einen lässt sich die angesprochene Verwendung des Motivs der ‚inneren Mitte‘ als Verweis auf eine Art Kern des Menschen verstehen. In seinem Innersten, seiner Mitte, zu der der Mensch Kontakt halten oder wieder aufbauen sollte, lässt sich etwas finden, das zur Heilung führt. Dieser Kern wird dabei nicht körperlich verortet, diese Mitte ist nicht im Bauchraum oder einem einzelnen Organ zu finden, sondern bekommt als Vorstellung einer fast unabhängigen kraftvollen Größe, eines transzendierten Inneren eine besondere Bedeutung für die Person. Zum anderen kann über die Deutungsfigur der ‚inneren Mitte‘ eine nachvollziehbare Struktur für Prozesse von Krankheit und Heilung geschaffen werden. Während ‚aus der Mitte kommen‘, abweichen, den Kontakt oder die Anbindung verlieren, zu Krankheit führe, könne die Wiederherstellung dieser Verbindung eben gerade das Gegenteil bewirken. 610 Vgl. eine mögliche Anlehnung an das Konfuzius (≈ 550-480 v. Chr.) zugeschriebene Zitat: „Der Weg ist das Ziel“.
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Über den Kontext Krankheit und Heilung hinaus, entwerfen InterviewpartnerInnen Sinnkonstruktionen, die auf Lebenszusammenhänge im Allgemeinen bezogen sind, wie ein weiteres Exempel aus dem Gespräch mit Katja verdeutlicht. Oder, dass ich Dinge einfach so annehme, wie sie sind. Das ist so mein Praxisleitspruch […] Ich sage: ‚Guck mal, das ist manchmal einfach wie es ist.‘ Und ich-, es bringt mir nichts zurück zu gucken, und es bringt auch nichts manchmal vor zu gucken. Und das Leben ist nun mal nicht planbar. Und das ist das Wichtigste, dass wir mit jedem Augenblick einfach so gut zurechtkommen, wie es eben möglich ist, und das Leben so annehmen, wie es ist. Interview Katja, Z. 194-200
Wie eine allgemeine Lebensregel formuliert Katja hier ihre Auffassung davon, wie man mit den Gegebenheiten des Lebens umgehen sollte. Dinge anzunehmen, sich nicht darauf zu verlassen, dass man besonders viel planen oder auf den Verlauf des Lebens Einfluss nehmen könne. Als wichtigsten Punkt dabei sieht sie die Anforderung, „mit jedem Augenblick einfach so gut zurecht[zu]kommen“. Die Bedeutung, die Katja dem Lebensverlauf zuschreibt, findet sich nicht in einem (göttlichen) Plan, einer Fügung oder einem jenseitigen Ziel, sondern in der Akzeptanz dessen, was dem Menschen diesseitig und in „jedem Augenblick“ begegnet. In diesem Lebensverlauf ist auch der eigene Weg bestimmt, den zu finden und zu gehen für Katja die entscheidende Voraussetzung bildet zum Finden von Heilung. Zusätzlich zu der Orientierungsfunktion, die die GesprächspartnerInnen über die von ihnen angebotenen Sinnkonstruktionen hervorbrachten, äußerten zehn der elf befragten HeilpraktikerInnen konkret den Wunsch, ihren PatientInnen Orientierung und Hilfe sein zu wollen. Hierbei fällt auf, dass es sich dabei um alle weiblichen Befragten handelt, während im Gespräch mit dem männlichen Heilpraktiker in einem anderen Modus über das Helfen gesprochen wurde.611 Hier wurde 611 Bemerkenswert ist an diesem Analyseergebnis die geschlechtsspezifische Differenz, in der sich der Wunsch zu helfen als ‚typisch weibliche Eigenschaft‘ darstellt. Unabhängig von möglichen Ursachen, wie sie z. B. Stefanie Schmitt-Bauer untersucht hat, bildet sich diese geschlechtsdifferente Zuschreibung von Eigenschaften und eine damit verbundene Berufswahl im Gesundheitssystem in Arbeitsmarktzahlen ab, die deutlich machen, dass Frauen in nichtärztlichen Gesundheits- und Pflegeberufen sowie in Berufen der Sozialen Arbeit mit ca. 80% (bei gleichzeitig etwas unter dem Bevölkerungsdurchschnitt liegender Beschäftigungsquote) deutlich überrepräsentiert sind. Vgl. Lenk, Lisa-Marie: Diversity-Management im Sozial- und Gesundheitswesen. Am Beispiel des Genderaspekts. Nordhausen 2015. S. 30ff. Zu Ursachen etc.: Schmitt-Bauer, Stefanie: Erfolg. Macht. Frau. Spurensuche nach Ursachen der Ge-
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nicht der Wunsch zu helfen genannt, sondern festgestellt, dass der Heilpraktiker seinen PatientInnen „sehr souverän und gut helfen“ (IMm, Z. 140f.) könne. Die Heilpraktikerinnen sehen sich im Blick auf ihre Funktion als Hilfe- und Orientierungsgeberinnen in unterschiedlichen Rollen (als Hilfe612, als Begleitung bzw. Unterstützung613), die jedoch in dem Anliegen übereinstimmen, für die PatientInnen und mit ihnen einen Weg zu suchen, Fragen gemeinsam zu klären oder ein Problem bzw. eine Krankheit zu verstehen. Dabei sind die Übergänge von angebotener Sinnstiftung zu Handlungsorientierung fließend. In der Mehrzahl der Gespräche wurde nicht nur der Wunsch geäußert, Hilfe und Begleitung zu sein, sondern auch darauf verwiesen, wo und wie dies konkret geschehe. Dass die Vorstellung, den PatientInnen Orientierung bieten zu können, auch durch Zweifel geprägt sein kann, macht die Heilpraktikerin Cornelia deutlich. Sie fühle sich selbst mitunter verunsichert, gar nicht mehr zu wissen, was sie „den Leuten raten soll“ (Z. 315). Manchmal wünsche sie sich gar einen anderen Beruf. C: […] Manchmal denke ich, warum bin ich nicht Sekretärin geworden. I: Und dann? C: Ja, naja, Sie können eigentlich keinem mehr richtig raten, was er machen soll. Das Wasser aus der Leitung, da haben Sie alle möglichen Sachen drin. Es lebt nicht mehr. Das ist nicht mehr zellgängig. Eignet sich also nicht zur Reinigung. Obst und Gemüse können Sie vergessen. Ist alles denaturiert. Vom Fleisch wollen wir gar nicht reden. Wir haben ganz viele krebsbildende Substanzen um uns herum. Ich weiß manchmal nicht mehr, was ich den Leuten raten soll. Interview Cornelia, Z. 306-315
schlechterdisparität in Leitungspositionen. Berlin 2017. Vgl. weiter, v. a. zu dem Aspekt, dass Pflege- und ‚Sorge‘-Arbeit hauptsächlich von Frauen verrichtet wird, z. B. The Subject of Care. Feminist Perspectives on Dependency. Ed. by Eva Feder Kittay and Ellen K. Feder. Lanham, Maryland 2002. 612 Vgl. beispielhaft: „[I]ch bin die Hilfe. Ich bin generell nur eine Hilfe, egal, was ich hier mache.“ (IMlw, Z. 434f.); „Und dann helfe ich ihnen, indem ich Mittel raussuche oder eben Ideen zur Verfügung stelle, Wege aufzeige, die er dann gehen kann.“ (IDw, Z. 506f.); „Und ja, ich habe einfach gemerkt, dass es mir Spaß macht, den Leuten zuzuhören, den Menschen zu helfen. Ja, und, einfach für sie da zu sein.“ (IJow, Z. 37f.) u. ö. 613 „[…] da ist auch der Wunsch nach Unterstützung, nach Verständnis, nach, ja, Begleitung.“ (IHw, Z. 153f.); „Welcher Weg ist ein guter Weg? Welche Mittel können dir hier helfen, können dich unterstützen? Und wie kannst du künftig deinen Weg gut beschreiten, mit oder ohne Hilfe?“ (IDw, Z. 646ff.)
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6.2.3 Handlungsorientierung Unterstützung, Hilfe und Orientierung sind hier wichtige Motive der alternativmedizinischen Arbeit. Die Übertragung von einer abstrakten Sinn- und Orientierungsebene auf eine konkrete Handlungsebene wurde in einigen Gesprächen thematisiert und über den Code Handlungsorientierung gebündelt. Dabei lassen sich zwei Bereiche unterscheiden: Während es auf der einen Seite um Aufforderungen dazu geht, seine innere Einstellung zu ändern, werden auf der anderen Seite ganz konkrete Übungen bzw. Aufgaben genannt, die die PatientInnen durchführen sollten. Exemplarisch für die erste Variante steht das folgende Beispiel aus dem Gespräch mit Marisa. M: […] wir bräuchten überhaupt keine Angst mehr haben, wenn Symptome da sind, weil wir wissen, das Symptom ist, auch wenn es sich vielleicht verstärkt nochmal oder ein Entzündungsprozess stattfindet, ist das schon die Lösung von etwas, was viel früher stattgefunden hat. Und dass man aufhört, an diesen Symptomen rumzudoktern und auch aufhört, Angst zu haben vor Myomen, vor Tumoren und so […]. I: Das ist dann-, also eine ziemlich weitreichende Konsequenz dann? M: Hm. Aber auch eine, die den Anwender, also uns, total entspannt. Also, vorher hatte ich auch die Auffassung: Krankheit ist etwas-, wir kommen aus unserem Gleichgewicht. […] Das heißt, dass das ein Hinweis für dich ist, dass du irgendwo nicht im Gleichgewicht bist und nicht einen Schreck kriegst, sondern gucke, wo bist du nicht in deiner Mitte? Wo bist du nicht authentisch? Wo lebst du nicht dein Leben, sondern das Leben der anderen? Und dann korrigiere deinen Kurs. Und dann hast du die Krankheit auch nicht mehr nötig und die kann sich auflösen. Aber jetzt geht das eben ja noch einen Schritt weiter, dass diese Krankheit, die stattfindet, sicher auch das Ergebnis von einem Konflikt ist, aber dass das schon der Lösungsprozess ist. Interview Marisa, Z. 57-80, Ausschnitte
Marisa gibt – sich und ihren PatientInnen – über ihre vor kurzem neu gewonnene Auffassung davon, was Krankheit sei, eine Handlungsanweisung: Sich keine Sorgen zu machen. Man brauche „überhaupt keine Angst mehr [zu] haben“, fordert sie, denn Krankheit sei „das Ergebnis von einem Konflikt“, der bereits stattgefunden habe und nun befinde man sich in einem „Lösungsprozess“. Neben der Aufforderung, sich nicht durch eine Krankheit beunruhigen zu lassen, weist sie auch auf die konkreten therapeutischen Konsequenzen dieser Haltung hin: „dass man aufhört, an diesen Symptomen rumzudoktern“. Die Schlussfolgerung, die Marisa hier aus ihrer Krankheitsdeutung zieht, ist natürlich mit weitreichenden Folgen für den Behandlungsprozess verbunden. Zugleich gilt es für sie, die Eigeninitiative
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ihrer PatientInnen zu stärken. Die dafür gegebene Handlungsanweisung holt sie auch methodisch ein, mit dem Wunsch, „jeder Mensch sollte eine so eine Methode kennen“ (IMw, Z. 558f.), mit der er selbst in der Lage sei, sich zu helfen. Diese Vorstellung einer konkreten Methode, die ihre PatientInnen haben sollten, weist dabei schon auf die zweite Variante der Handlungsorientierung hin, nämlich auf konkrete Aufgaben, Übungen etc. Marisa führt dazu noch weiter aus. „Oder Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, ich habe es gestern gerade wieder einer Frau gezeigt, die Kopfschmerzen hatte und Rückenschmerzen. Du kannst es sofort selber wegmachen. Und ich finde, jeder sollte so ein Ding-. Das ist alles da und das gibt es.“ (IMw, Z. 572ff.) Auch bei Doreen sind die Handlungsanweisungen sehr konkret. Sie gebe ihren PatientInnen „Hausaufgaben“ (IDw, Z. 308) mit, Übungen, die diese umsetzen sollten, um zu dem gemeinsam verabredeten Ziel zu gelangen. Ähnlich folgert auch Katja aus ihrer Überzeugung im Blick auf Krankheit und Heilung eine Handlungsorientierung. Sie verknüpft den Heilungsprozess mit einer Haltung des Vergebens. Ich sage dann immer wirklich-, weil viele können auch sich selbst nicht verzeihen. Und das ist ja auch immer so ein ganz großer Schritt zur Heilung. Sich selbst zu verzeihen, oder etwas zu vergeben, was ich vielleicht falsch gemacht habe im Leben. Jemandem anders zu vergeben und mir selbst zu vergeben. Das blockiert ganz viel Heilung. Interview Katja, Z. 281-285
Wenn Heilung geschehen solle, sei es notwendig, sich selbst und anderen zu vergeben, so Katjas Auffassung und aus dieser abgeleitet ihre Handlungsanweisung. Mit der Vorstellung der Vergebung zeigt sich ein religionsaffines Motiv, mit dem Katjas Heilungsbegriff eng verbunden ist. Dabei bleibt es in ihrer Verwendung zwar bei einem (zwischen-)menschlichen Vorgang, in dem es darum geht, „[j]emandem anders zu vergeben und mir selbst zu vergeben“. Im christlich-theologischen Gebrauch wird der rein menschliche Vorgang dagegen um die Erfahrung der Vergebungsbedürftigkeit des Menschen vor Gott und um den Glauben an die in Christus geschenkte Vergebung erweitert. Dass trotz dieses Geschenks der Mensch anfällig für Verfehlungen bleibt und der Vergebung immer wieder bedarf, fasst die Wendung vom simul iustus et peccator.614 In der Verwendung durch die Heilpraktikerin werden Vergebung und Heilungsdeutung direkt miteinander verbunden. Durch diesen Gebrauch wird Heilung durch einen zusätzlichen Bedeutungsaspekt erweitert, der sich nicht medizinisch abbilden lässt, wohl aber an 614 Vgl. Art. Sünde/Schuld und Vergebung. VII. Dogmatisch. Krötke, Wolfgang. In: RGG. Hrsg. v. Hans Dieter Betz u. a. Tübingen 2004. Bd. 7. Sp. 1887ff.
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die theologische Botschaft der „heilenden Kraft des christl[ichen] Glaubens“615 anknüpfen kann. 6.2.4 Fazit: Sinnstiftung Codierungen zur Orientierungskategorie Sinnstiftung wurden in der Mehrzahl der untersuchten Texte vergeben und füllen so die Orientierungskategorie sowie die strukturierenden Subkategorien. Die codierten Textabschnitte weisen dabei einen sehr unterschiedlichen Explikationsgrad auf. Von der Suche nach Sinn und dem Fragen nach einem ‚Eigentlichen‘ hinter den Dingen wurde vielfach gesprochen. Insgesamt sind die Motive im Kontext der Sinnsuche, der Fragen, des Suchens nach einem bzw. dem richtigen Weg u. ä. sehr deutlich vertreten. Hier zeigt sich, dass die InterviewpartnerInnen eine Verbindung von Krankheit und Gesundheit zu Fragen des (Lebens-)Sinns herstellen. Weniger explizit sind die Sinnkonstruktionen. Codierungen zu diesem Aspekt wurden in nahezu allen Interviews vergeben und bilden sich in den Motiven der ‚inneren Mitte‘, des Weges bzw. auch der Akzeptanz einer Fügung des eigenen Lebens ab. Im Blick auf die inhaltliche Füllung der Sinnkonstruktionen zeichnet sich das untersuchte Feld jedoch durch Indifferenz aus. Die von den Interviewpartnerinnen formulierten Sinnangebote bleiben bei tendenziell vagen Motiven wie ‚Weg‘ oder ‚innerer Mitte‘. Bemerkenswert ist im Blick auf die Handlungsorientierung das durch alle Heilpraktikerinnen geäußerte Bestreben, Orientierung oder Hilfe geben bzw. sein zu wollen. Allerdings bleibt es in den Äußerungen der Gesprächspartnerinnen vornehmlich bei dem Wunsch nach Ordnung und Orientierung, ohne dass dabei auf konkrete inhaltliche Anweisungen Bezug genommen würde oder daraus direkt Handlungsanweisungen abgeleitet würden. Nur vereinzelt wird über die konkrete Anweisung zu Übungen oder Verhaltensänderungen berichtet. Besonders stark zeigt sich die Orientierungskategorie im Gespräch mit Katja, deren Deutungen von Krankheit und Heilung sich in allen drei Subkategorien zeigen und deren belief system von Krankheit und Heilung sich ganz im Kontext von Lebenssinnfragen und -konstruktionen abbildet. In diesem Interview wurden Sinnfragen virulent, Sinnkonstruktionen angeboten und Handlungsorientierung gegeben und dabei jeweils deutlich eine Verbindung hergestellt zu der durch sie vertretenen Deutung von Krankheit und Heilung – und diese ist alles andere als medizinisch.
615 Art. Sünde/Schuld und Vergebung. IX. Praktisch-theologisch. Sievernich, Michael. In: 4RGG. Hrsg. v. Hans Dieter Betz u. a. Tübingen 2004. Bd. 7. Sp. 1895.
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6.3 RITEN UND RITUALE Die Orientierungskategorie Riten bzw. Rituale wurde wie die vorangegangenen aus der Religionshybride-Theorie abgeleitet. Dabei werden im Besonderen diejenigen Performanzen in den Blick genommen, die sich als Riten bzw. Rituale verstehen lassen, in denen Sinnzusammenhänge zur Darstellung kommen. Diese Handlungen werden als strukturelle Religionsanalogien verstanden, erfahren jedoch keine religiöse Deutung. Zugleich wird der Blick auch auf solche Handlungen gelenkt, die sich als religionsproduktiv bezeichnen lassen, indem sie etwa Transzendierungen in Ritualen abbilden oder Rituale neu bilden und etablieren. Aufgrund der vorgenommenen Codierung wurde diese Orientierungskategorie in vier Subkategorien unterteilt, die als Riten und Rituale, leiblicher Vollzug, Ordnungsfunktion und Religionsproduktivität benannt sind. 6.3.1 Riten und Rituale Codierungen zu Riten bzw. Ritualen wurden an den Textabschnitten vergeben, in denen ritualisierende Elemente wie bestimmte Abläufe oder Merkmale ritueller Handlungen beschrieben wurden. Da sich in dieser Kategorie der Fokus von der Semantik hin zur Performanz verschiebt, kommen hier vermehrt die teilnehmenden Beobachtungen in den Blick. Die in einer Gemeinschaft besuchte Tagungsveranstaltung weist zahlreiche Elemente ritualisierender Handlungen auf. Bereits die zu Beginn der Veranstaltung stattfindende Meditation ist für diese Untersuchungskategorie relevant. Zwei Moderatoren eröffnen die Tagung und kündigen nach der Begrüßung und der Vorstellung des Programms die Leiterin der Gemeinschaft an, ‚unsere spirituelle Lehrerin auf unserem Weg zu Liebe und Heilung‘. Sie werde nun die Tagung durch eine angeleitete gemeinsame Chakrenmeditation inhaltlich eröffnen. […] Nach der Ankündigung durch den Moderator steht eine ältere, große, kraftvoll wirkende Frau auf. […] Sie stellt sich vor den Stuhl, blickt in das große Publikum. Die TeilnehmerInnen reagieren sofort, indem sie ihre Schreibunterlagen beiseite legen und sich in eine aufrechte, gespannte Haltung setzen. Der Ablauf scheint bekannt zu sein, denn die TeilnehmerInnen reagieren ohne Aufforderung allein auf die Haltung der Lehrerin. […] [Sie] legt die Hände vor der Brust zusammen, wartet einige Zeit und verbeugt sich. Dann sagt sie ‚Danke‘ und setzt sich hin. ‚Meine Seele ist fröhlich, sie springt vor Freude, mein Herz ist offen‘, beginnt die Leiterin. Sie freue sich sehr über das Zustandekommen dieser Veranstaltung. Es sei wichtig, sich an das ‚anzubinden‘, was ‚Leben, Körper, Schöpfung‘ sei. […]
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Nach diesen einleitenden Worten beginnt die ‚Chakrenmeditation‘. Eingeleitet wird sie durch die Aufforderung, sich auf den eigenen Atem zu konzentrieren. Nachdem die TeilnehmerInnen sich einige Minuten auf das Ein- und Ausatmen konzentriert haben, beginnt eine inhaltlich angeleitete Meditation der sieben Chakren616. Die Struktur dieser Meditation ist für jedes meditierte Chakra zweigeteilt: Während die TeilnehmerInnen zuerst aufgefordert werden, sich auf ein Chakra zu konzentrieren und die Leiterin beschreibt, an welcher Stelle des Körpers dieses Chakra zu spüren sei, erfolgt dann eine Meditation dieses Chakras durch eine Beschreibung von Eigenschaften, die diesem Chakra zugeschrieben werden und mit anschließender Stille. Teilnehmende Beobachtung Tagung, Z. 65-95, Ausschnitte
Die hier durchgeführte Meditation, die den inhaltlichen Anfangspunkt der Tagungsveranstaltung bildet, weist verschiedene Merkmale auf, die als charakteristisch für Rituale vorgestellt wurden, wie eine Form- und Regelgebundenheit, die relative Stabilität (von der angesichts der Reaktion der TeilnehmerInnen auszugehen ist, vgl. Z. 75ff.), auch das Framing, welches schon in der Ankündigung durch die Moderation gegeben ist. Zudem wird dieser Teil der Veranstaltung durch die Semantik als religiös kontextualisiert („Chakren“, „Meditation“, Anbindung an die „Schöpfung“). Eine explizit religiöse Deutung erfährt die Meditation jedoch nicht, ist sie doch Programmpunkt im Ablauf einer Tagung und keiner religiösen Veranstaltungsform, findet in einem Tagungsraum statt und hat ihren Ort zwischen Vorträgen von MedizinerInnen. Ebenfalls im Rahmen dieser Veranstaltung nahm die Beobachterin an einer Behandlung mit der Heilmethode der Gemeinschaft teil, die als Workshop während der Tagung angeboten wurde. Auch in diesem Teil der Veranstaltung sind die Performanzen deutlich ritualisiert. Im Dachgeschoss des Gemeinschaftshauses findet der Workshop statt. Der Raum ist niedrig und über eine schmale Treppe zu erreichen. Am unteren Ende der Treppe werden die TeilnehmerInnen gebeten, die Schuhe auszuziehen. Der Raum ist als Meditationsraum ausgebaut, der Boden mit Teppich ausgelegt, die Dachbalken sind freigelegt und strukturieren den Raum.
616 Aus dem Hinduismus stammende Vorstellung von sog. Energiepunkten, die sich entlang des menschlichen Körpers befinden. Die Punkte – von denen jeder Mensch je nach Lehre sieben oder weniger besitzt – werden durch Energiebahnen im Körper verbunden. Ähnliche Lehren sind auch aus anderen Kulturen, zum Beispiel indianischen, bekannt. Durch Yoga, Qigong oder andere Praktiken soll es möglich sein, über diese Punkte sog. innere Blockaden aufzulösen, Menschen zu harmonisieren und zu heilen.
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Der Raum ist bereits vorbereitet durch diejenigen, die die Heilmethode durchführen werden. Vorbereitet sind Plätze für acht Behandlungen. Jeder Platz ist durch eine Liege gekennzeichnet, neben der jeweils ein Behandler bzw. eine Behandlerin steht. Alle TeilnehmerInnen ordnen sich jeweils einer der Heilpersonen zu und stellen sich schweigend neben die Liege und die Person. Es wird während der ganzen Behandlung bzw. während des ganzen Aufenthalts in diesem Raum kaum gesprochen. Die wenigen Worte, die gesagt werden, sind im Flüsterton. Als alle TeilnehmerInnen einem Platz zugeordnet sind, bekommen sie von den BehandlerInnen ein Zeichen und nehmen daraufhin auf der Liege Platz. Gelegen wird in Rückenlage, ein Kissen wird unter den Kopf, bei Bedarf ein weiteres unter die Knie gelegt; eine leichte Decke wird zum Zudecken verwendet. Nun beginnt synchron die Behandlung für alle TeilnehmerInnen. Diese Synchronizität wird die ganze Zeit über beibehalten. Die Behandlung beginnt mit einer leichten Berührung der Füße. Diese wird ohne große Bewegung über einen längeren Zeitraum gehalten. Danach wird der ganze Körper in streichenden Bewegungen berührt. Dieselben Bewegungen werden nach der Berührung auch ohne Berührung noch einmal ausgeführt. Dabei wird der Abstand zum Körper jeweils variiert – dadurch sollen verschiedene Aura-Ebenen, die sich unterschiedlich weit vom Körper entfernt befinden, behandelt werden. Anschließend werden mit leichter Berührung verschiedene Punkte am Hinterkopf, an den Schläfen und an der Stirn berührt. Die Berührungen sollen jeweils der Übertragung von Energie dienen. Die ganze Behandlung dauert etwa eine Stunde. Teilnehmende Beobachtung Tagung, Z. 546-569
Deutlich wird bereits durch die räumliche und zeitliche Struktur der Behandlung das Framing als Ritual, als etwas, das besonders ist, Aufmerksamkeit verlangt und aus dem Alltäglichen herausgehoben ist.617 Zugleich folgt die ganze Behandlung bestimmten Regeln und Formen, wie sich u. a. in der Synchronizität zeigt. Alle BehandlerInnen gehen nach einem bestimmten Muster, einer Methode vor und folgen einem gleich bleibenden Ablauf. Der Charakter der (Be-)Handlungen als symbolträchtig wird u. a. durch das Ausführen berührungsloser Behandlung deutlich. Neben Berührungen auf dem Körper wird ein Teil der Behandlung ohne direkten Körperkontakt durchgeführt – und diesem Teil eine gleichermaßen bedeutende Wirkung zugerechnet. Über diese beiden Sequenzen hinaus ließen sich zahlreiche Beispiele von dieser Veranstaltung ergänzen, die rituelle Elemente aufweisen. So sei auf den musikalischen Abend verwiesen, in dem gemeinsam Lieder verschiedener kultureller und religiöser Traditionen gesungen wurden (V3T, Z. 357ff.), auf die Durchführung der Qigong-Übungen (V3T, Z. 529ff.) oder auch auf die zum Abschluss der Veranstaltung erneut durch die Lehrerin geleitete Meditation (V3T, Z. 611ff.). 617 Vgl. Bell: Ritual. FN 484.
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In der Beschreibung zum Tag der Heilung wurden ebenfalls Codierungen zu diesem Themenbereich vorgenommen, wie z. B. im Kontext des stark rituell inszenierten Ablaufs der Veranstaltung. Während alle Teilnehmenden und die Assistierenden bereits im Raum anwesend sind, sich ruhig und erwartungsvoll auf ihre Plätze gesetzt haben und der Beginn der Veranstaltung unmittelbar bevorsteht, ist der Heiler selbst noch nicht in Erscheinung getreten. Eröffnet wird das Seminar durch eine der AssistentInnen, die auch im weiteren Verlauf der Veranstaltung immer wieder eine zentrale Rolle spielt und v. a. für den Ablauf und die Durchführung der Gesamtveranstaltung verantwortlich zu sein scheint. Nach einer Begrüßung und einigen Hinweisen steht die erste Assistentin auf und geht zur kleinen Tür an der rechten Seite des Raums. Dort geht sie hinaus und kommt kurz darauf zurück, um sich wieder in den Kreis zu setzen. Wenige Minuten später geht die Tür erneut auf und der Heiler selbst kommt durch diese Tür in den Raum. […] Die erste Assistentin kündigt an, dass es jetzt eine Pause geben wird. Sie bedankt sich bei dem Lehrer für die bisher geleistete Arbeit. Daraufhin steht dieser auf und verlässt als erstes den Raum, während alle anderen TeilnehmerInnen und AssistentInnen noch im Kreis sitzen bleiben. Die erste Assistentin sagt, dass alle zum gemeinsamen Mittagessen im Haus gehen können. Sie weist darauf hin, dass während der Mittagszeit für eine Stunde im Haus geschwiegen werden soll. […] Nachdem die letzte Teilnehmerin durch den Heiler behandelt wurde und sich wieder auf ihren Platz im Kreis gesetzt hat, beendet der Heiler das Seminar. Dann steht er auf und verlässt wiederum als erster den Raum, während alle anderen noch sitzenbleiben. Danach schließt die erste Assistentin noch einmal das Seminar, indem sie alle verabschiedet, einen guten Heimweg wünscht, auf weitere Veranstaltungen hinweist und zur weiteren Arbeit mit dem Meister einlädt, wenn die TeilnehmerInnen durch die Weise, wie der Lehrer ‚in euch sieht und mit euch arbeitet‘ angesprochen und auf ihrem Weg weitergebracht worden seien. Teilnehmende Beobachtung Tag der Heilung, Z. 69-72; Z. 300-304; Z. 368-374
Der Ablauf des Heilungsseminars ist klar strukturiert und ritualisiert. Alle Mitwirkenden und TeilnehmerInnen haben dabei jeweils feste Rollen inne. Schon vor der Eröffnung des Seminars nehmen die TeilnehmerInnen still ihre Plätze ein. Während die erste Assistentin das Seminar eröffnet, ist der Heiler selbst noch nicht anwesend. Die Liturgie sieht seinen Einzug erst nach der Eröffnung der Veranstaltung vor. Und auch zur Pause bzw. am Ende des Seminars ist für den Seminarleiter ein vorzeitiger Auszug vorgesehen, während die Teilnehmenden noch auf
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ihren Plätzen sitzen bleiben.618 Deutliche Assoziationen werden hier zu Ein- und Auszug im Rahmen der katholischen Messfeier geweckt. Die Gemeinde ist schon vor Ort, hat still ihre Plätze eingenommen und erwartet den Beginn der Messe, bevor der Priester – allerdings mit seinen ‚AssistentInnen‘, den MessdienerInnen – in den Kirchraum einzieht.619 Nicht nur in religionshermeneutischer, auch in deutungsmachttheoretischer Perspektive ist dieser Ablauf bemerkenswert. Durch die Abwesenheit des Heilers in jenen Momenten, die sich mit Organisation, Mittagessen oder Veranstaltungshinweisen beschäftigen, gewinnen die Themen, zu denen er sich äußert, besonders an Gewicht und seine Deutungen werden herausgehoben. Auch der Ablauf jenseits dieser Ein- und Ausgangssequenzen folgt klar strukturierten und ritualisierten Vorgaben, wie die feste Abfolge der jeweiligen Behandlungseinheiten zeigt: eine Teilnehmerin bzw. ein Teilnehmer wird ausgewählt, setzt sich auf einen speziellen, herausgehobenen Platz, bringt ihr bzw. sein Anliegen vor, erhält eine erste Deutung dieses Anliegens, ggf. mit weiteren Nachfragen, wird zum Hinlegen aufgefordert und einer Behandlung, zumeist mit Berührung, unterzogen.620 Auch kleinere Gesten lassen sich als ritualisierte Handlungen lesen. So etwa die mehrmals durch den Heiler beim Tag der Heilung sowie auch durch die Lehrerin bei der Tagungsveranstaltung durchgeführte Geste, die Hände schweigend vor der Brust oder dem Gesicht zusammenzulegen, einen Mo618 Eine hier nur angedeutete Anregung zu der Frage, welche Rolle die ‚präsente Abwesenheit‘ des Heilers in diesem Setting spielt, bieten die Überlegungen von Stoellger und Klie in der Figur der „Präsenz im Entzug“. In der Einleitung des gleichnamigen Bandes heißt es zur Frage der „Intensivierung[…] von Präsenz“ im Repräsentierenden (z. B. Bild): „Dabei wird stets zu fragen sein, ob nicht der Entzug von realer Gegenwart zur Maximalpräsenz geraten kann? Im Entzug die Präsenz zu gewärtigen – provoziert das nicht eine Steigerung […]?“ Stoellger, Philipp: Entzug der Präsenz – Präsenz im Entzug. Ambivalenzen ikonischer Performanz als Grund von Iconoclashs. In: Präsenz im Entzug. Ambivalenzen des Bildes. Hrsg. v. Philipp Stoellger und Thomas Klie. Tübingen 2011. S. 6. Hervorhebungen im Original. 619 In der Alten Kirche war der Introitus die Eröffnung der Messe und „begleitete […] die feierliche Einzugsprozession des Papstes oder Bischofs mit seinem Klerus“. Heute sind in der römisch-katholischen Messe vor den Introitus das „Stufengebet“ sowie die „Altarinzensation“ getreten, wobei der Priester auch heute feierlich in den Kirchraum einzieht, dabei von den MinistrantInnen begleitet wird und vorerst vor den Stufen des Altars stehen bleibt, um hier zu beten. Vgl. Fiedrowicz, Michael: Die überlieferte Messe. Geschichte, Gestalt und Theologie des klassischen römischen Ritus. 4. aktual. Aufl. Fohren-Linden 2017. Zitat S. 81. 620 Vgl. zu diesem sich wiederholenden Ablauf die Beschreibung zum Tag der Heilung im Anhang.
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ment Stille zu halten und sich dann leicht zu verbeugen (V3T, Z. 80; 622); (V4H, Z. 80). Diese Geste ist in verschiedenen Kulturen als Begrüßungsritual, darüber hinaus aber auch als religiöse Gebetsgeste621 gebräuchlich. Darüber hinaus ist auf den Reiki-Abend zu verweisen, der mit seinen klar form- und regelgebundenen Abläufen rituellen Charakter aufweist, ritualisierte leibliche Vollzüge und auch religionsproduktive Elemente enthält.622 Auch in den Interviews kamen Aspekte von Riten bzw. Ritualen ins Blickfeld. Dabei war weniger die konkrete Durchführung dieser im Fokus als vielmehr die Beschreibung einzelner Merkmale in den Aussagen der InterviewpartnerInnen. So wurde bspw. über Methoden berichtet, deren Durchführung an besondere Zeiten, etwa Mondphasen, gebunden wäre.623 Auch über ritualisierte leibliche Vollzüge wurde im Rahmen der Interviews berichtet, etwa bei einer ‚energetischen‘ Behandlungsmethode, die Marlene beschreibt624 oder in der Darstellung von Hyp621 Im Sinne einer Demuts- und Ehrfurchtsgeste wird das Zusammenlegen oder Falten der Hände, ggf. in Verbindung mit einer Verneigung, als Gruß- oder Gebetsgeste praktiziert, wobei entweder die Hände „ineinander verschränkt“ oder „üblicherweise […] die Handflächen vor der Brust aneinander gelegt werden“. Zitat: Bieritz: Liturgik. S. 224. Vgl. auch Art. Gesten/Gebärden, Liturgische. Schmidt-Lauber, Hans-Christoph. In: TRE. In Gemeinschaft mit Horst Balz u. a. hrsg. v. Gerhard Müller. Bd. 13. Berlin, New York 1984. S. 151-155. 622 Der Reiki-Abend wird im folgenden Abschnitt zu den Ordnungsfunktionen von Riten ausführlicher behandelt. 623 „Also, diesen Druck aus dem Körper auszuleiten und beim Aderlass passiert, dass unser ganzer Stoffwechsel einmal, also, es regt unglaublich den Stoffwechsel an. […] Es gibt auch mehrere Krankheitsbilder, die man damit behandeln kann. Das ist das Tolle, also, es ist nicht nur Bluthochdruck, sondern auch Schilddrüsenüberfunktion, -unterfunktion. Auch so diese-. Oder Hauterkrankungen, Neurodermitis, wird auch damit behandelt. Also, um den Körper nochmal neu sortieren zu lassen, sozusagen. Das ist so einfach, das kann man machen nach dem Vollmond. Ich mache das nach Hildegard von Bingen. Und sie beschreibt es auch so in ihren Büchern, dass man das eben nach dem Vollmond machen sollte. Ist-, wurden auch Studien gemacht dazu, die-, ähm, also, da hat sich jemand damit befasst, ich weiß jetzt nicht den Namen genau, aber der dann halt ganz genau auch das Blut beobachtet hat und genau in der Zeit mehr-, eine bessere Entgiftung stattgefunden hat.“ (IEw, Z. 147-166, Ausschnitte) 624 Die Heilpraktikerin Marlene beschreibt eine der Methoden, die sie bei ihren PatientInnen anwendet. Nach dem mündlichen Austausch über die Probleme folgten verschiedene weitere, auch rituell strukturierte Phasen, die zu dieser Methode gehörten: „Also [Methode] ist so, dass es einerseits sehr rational ist, man kann das so und so sehen. Also, man bespricht ein Thema: Mir geht es nicht gut. Immer lässt mein Partner
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nose- oder Reiki-Behandlungen, wie sie Josefine, Cornelia, Mario oder Doreen praktizieren. 6.3.2 Leibliche Vollzüge Auch Codierungen zu ritualisierten leiblichen Vollzügen wurden in drei von vier Beobachtungsbeschreibungen gesetzt.625 In der Darstellung des Heilungsseminars wurde dieser Code mehrfach an markanten Textstellen vergeben. Exemplarisch für diese soll hier aus der Behandlung der Beobachterin durch den Heiler zitiert werden. Als nächstes wird die Beobachterin durch die Assistentin in den Kreis geholt. Die Situation, im Kreis zu sitzen, ist sehr persönlich und stellt die Person sehr offen in den Mittelpunkt. Zudem ist der Kontakt zum Heiler sehr direkt und fast intim, da die behandelte Person direkt vor ihm sitzt und durch den Blickkontakt und den geringen Abstand der Körper voneinander eine große Nähe und Intimität erzeugt wird. In der Position im Innenkreis gibt es kaum die Möglichkeit, dem Blick des Heilers auszuweichen. Nachdem die Beobachterin ein Anliegen in nur einem kurzen Satz vorgetragen hat […], beginnt schon der Lehrer mit seiner Antwort. […] Nach diesen Ausführungen wird auch die Beobachterin aufgefordert, sich in den Schoß des Heilers zu legen. Hier wird die vorher bereits große Nähe, die durch den Augenkontakt und den geringen Abstand der Sitzpositionen gegeben war, durch die direkte Berührung noch einmal erhöht. Nachdem die Beobachterin sich in Rückenlage mit dem Kopf auf den Schoß und die Beine in den Kreis der TeilnehmerInnen hinein hingelegt hat, werden ihr die Hände ebenfalls auf den Brustkorb und auf den Kopf gelegt. So werden sie etwa eine halbe Minute gehalten, bevor der Heiler erneut seine erste Assistentin auffordert, dazu zu […], dann streiten wir, dann […]. Und wenn man das so merkt, zum Beispiel, dann ist es halt sehr schön, wenn man sich dann dieses Themas bewusst wird und dann gibt es eine energetische Phase, das ist, was ich meinte mit dem Graubereich, wo sich tatsächlich auch die Patienten drauf einlassen, was ich sehr, sehr-, auch die ganz rationalen Patienten, die liegen dann, also das geht dann einmal ins Liegen, sozusagen, weil der Körper in die Ruhe kommen soll. Also er kriegt das Angebot, mal nicht sich ständig zu kratzen oder zu gucken, sondern mal aus der Kontrolle rauszugehen. In dem Moment arbeite ich einmal energetisch und da werden dann die Blockaden sozusagen einmal aufgelöst. Und das wird dann auch aufgezeichnet oder aufgemalt und dann wird das danach ausgewertet. Das ist [Methode].“ (IMlw, Z. 363-374) 625 Die Codierung wurde in den Texten zum Reiki-Abend, zur Tagungsveranstaltung sowie zum Tag der Heilung vorgenommen. Um Redundanzen zu vermeiden, wird für diese Subkategorie nur eines der drei Beispiele herangezogen.
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kommen. Sie kniet sich neben die Beobachterin und legt eine Hand auf den Bauch und die andere Hand auf den Arm. […] Nachdem der Heiler und seine erste Assistentin die Hände einige Minuten dort gehalten haben, wird die Beobachterin ganz auf dem Boden abgelegt. Der Heiler steht nun auf, bleibt aber vorerst an ihrem Kopf. Sie wird aufgefordert, tief zu atmen. Dann geht er neben sie auf die Seite und beginnt, ihr kräftig auf den Brustkorb zu klopfen. Diese Schläge sind sehr kräftig bis schmerzhaft. Anschließend wird der Oberkörper der Beobachterin unter den Achseln kurz angehoben und dann wieder auf den Boden fallen gelassen. Dies geschieht mehrfach und ist recht schmerzhaft im Rücken. Anschließend wird, auch das unangenehm bis schmerzhaft, auf den Kehlkopf gedrückt und dieser hin und her geschoben, um, wie nun kurz erklärt wird, in der Patientin die ‚Energieknoten zu lösen‘. Nachdem diese verschiedenen Handgriffe an der Beobachterin durchgeführt wurden, liegt sie nun noch auf dem Fußboden in der Mitte des Kreises. Nun wird ihr etwas Wasser über die Stirn geträufelt, das an den Schläfen herunterläuft. Nachdem auch dieser Vorgang vorüber ist, wird die Beobachterin aufgefordert, sich wieder aufzurichten […]. Teilnehmende Beobachtung Tag der Heilung, Z. 169-206, Ausschnitte
Die Behandlungen, für die hier die an der Beobachterin exemplarisch beschrieben wurde, folgen einem formgebundenen, mit wenigen Variationen wiederholten Ablauf, in dessen Zentrum ein somatischer Vollzug steht. Dieser wird zwar durch wenige sprachliche Erklärungen gerahmt, der Großteil der Handlungen wird jedoch ohne inhaltliche Ausführungen durchgeführt. Die Symbolhaftigkeit, die rituellem Handeln eigen ist, kommt in der hier beschriebenen Performanz mehrfach zum Ausdruck. Das Auflegen der Hände etwa, die an verschiedenen Körperstellen (Kopf, Bauch, Brustkorb) gehalten werden, ohne dass hier eine manuelle Behandlung z. B. im Sinne einer physiotherapeutischen Anwendung durchgeführt wird, lässt sich als Vorstellung einer Übertragung von Energie verstehen. Bemerkenswert ist auch das Drücken und Schieben an der Hals- und Kehlregion mit der Begründung, hier einen „Energieknoten […] lösen“ zu müssen.626 Auch das im Anschluss an die Behandlung stattfindende Beträufeln der Stirn der Beobachterin mit Wasser, ist als symbolträchtige Handlung hervorzuheben.627 Die Assoziation zu
626 Vgl. dazu FN 596 sowie unter 3.2.2.1. 627 Auch anderen TeilnehmerInnen wurde im Anschluss an die Besprechung ihres Anliegens und die manuelle Behandlung durch den Heiler Wasser über die Stirn geträufelt bzw. wurden sie mit AssistentInnen für Anwendungen mit Wasser in den Nebenraum geschickt. Vgl. u. a. V4H, Z. 127; Z. 281ff.; Z. 333.
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Reinigungsriten verschiedener religiöser Traditionen628 wird hier ebenso geweckt wie im Speziellen zum christlichen Taufritus, bei dem ebenfalls Wasser über die Stirn des zu Taufenden fließt629. Die wichtige Bedeutung, die das leibliche Berühren im Kontext einiger alternativmedizinischer Methoden hat, wird auch im Interview mit Katja deutlich. [I]ch gebe immer einen Ratschlag für zu Hause mit auf den Weg, eine Übung, ein Buch, ein Wickel, ein Kraut, einen Tee. Aber eigentlich wollen sie [die PatientInnen; Anm. P. S.] auf die Liege, sie wollen berührt werden. Und sie wollen ihrem Körper auch mal Gehör schenken. Für manche ist das eine tolle Erfahrung, die arbeiten über den Körper ganz viel auf, auch in den Wochen danach, und es verändert sich viel. Manche kriegen auch einen Schreck, wenn sie sich wieder anfangen, selber zu spüren, über den Körper und wenn sie sich verändern. […] [E]s sind in der Regel Menschen, die sehr-, also wirklich schon eine längere Geschichte hinter sich haben. Oder einfach so gestresst sind, dass sie hier sitzen und sagen: ‚Ich spüre mich gar nicht mehr. Ich funktioniere noch in meinen Rollen, aber ich kriege keine Luft mehr. Können wir da irgendwas machen?‘ 628 Die Differenzierung von rein und unrein und damit verbunden die Durchführung von Reinigungsriten kennen zahlreiche religiöse Traditionen. Religionsgeschichtlich lässt sich diese Vorstellung bis zu frühesten Quellen in Ägypten und Mesopotamien zurückverfolgen und ist sowohl in den Kulturen bzw. Religionen schriftloser Völker als auch in sog. Hoch- oder Weltreligionen zu finden. Verbunden ist damit in der Regel eine Ordnungsvorstellung. Reinigungsriten wurden mit Wasser, Feuer, Räuchern, Fasten o. a. vollzogen. Bis in die Gegenwart haben sich rituelle Waschungen erhalten u. a. im Islam als Vorbereitung vor dem Gebet. Auch der christliche Taufritus ist mit Reinigungsvorstellungen und dem Glauben an die Abwaschung von Sünde verbunden. Vgl. Art. Reinheit. I. Religionsgeschichtlich. Maier, Bernhard sowie V. In Kirche und christlicher Kultur. Hartmann, Gert. In: TRE. In Gemeinschaft mit Horst Balz u. a. hrsg. v. Gerhard Müller. Bd. 28. Berlin, New York 1997. S. 473-477 sowie 493-497. 629 Der Taufritus mit Wasser weist Analogien zu Reinigungsriten auf. Wenn auch in seiner Herkunft nicht einlinig abzuleiten und in seinem „Symbolkosmos“ über religionsgeschichtliche Analogien hinausgehend, sind Tauch- und Waschungsriten frühzeitig mit der Taufe verbunden worden. Auch die besonders starke Ausprägung von Taufriten an zentralen Wasseradern ist bemerkenswert. So lässt sich festhalten: „Zusammen mit einem Ritualtext oder einer Beschwörungsformel übernimmt das Wasser den ‚elementaren Teil‘ im Reinigungs- und Taufprozeß und bereitet auf diese Weise die sakramentalen Grundlagen für einen Ritus vor, der in einer großen Vielfalt überall in der Religionsgeschichte zumindest angelegt ist.“ Vgl. Art. Taufe. I. Religionsgeschichtlich. Gerlitz, Peter. In: TRE. In Gemeinschaft mit Horst Balz u. a. hrsg. v. Gerhard Müller. Bd. 32. Berlin, New York 2001. S.659-663. Zitat S. 662.
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Ja, die sich irgendwie auch verloren haben teilweise, in diesem Hamsterrad. Ja, und dann versuchen wir Stück für Stück sozusagen, sie wieder dahin zu führen, dass sie wieder so in ihrer Mitte sind, oder sich selber spüren, oder selber neue Lösungswege auch für sich finden. Und das Gute ist, dass man bei diesen Methoden halt nicht unbedingt viel kommunizieren muss, wenn man nicht möchte. Gerade bei Männern, die wollen eigentlich nicht reden. Die haben auch ihre Sorgen und ihr Päckchen […]. Aber die wollen darüber definitiv nicht reden. Und man kann es trotzdem behandeln. Interview Katja, Z. 129-147
Die Heilpraktikerin hebt hervor, welch große Bedeutung die somatische Behandlung ihrer PatientInnen hat. Der Körper gilt ihr dabei als wichtiges Gegenüber, mit ihm tritt sie in den eigentlichen Kommunikationsprozess, über „Stichworte, die mir der Körper über so Protokolle gibt“ (IKw, Z. 149). Obwohl sie auch Tipps, „eine Übung, ein Buch, […] ein Kraut“, mitgebe, wäre den meisten von ihr Behandelten das Wichtigste die Berührung. Erst im leiblichen Vollzug entfalten die Methoden von Katja ihre Wirkung, nicht in der Information der PatientInnen oder im Gespräch über ein Anliegen. Sie hebt sogar noch einmal hervor, dass einige ihrer PatientInnen „definitiv nicht reden“ wollten. Durch die Berührung könne sie sie aber „trotzdem behandeln“, das sei „das Gute […] bei diesen Methoden“, die sie anwende. Ein ähnlicher Aspekt kommt auch im Gespräch mit Josefine zum Tragen, wenn sie erklärt, warum sie ihr Repertoire um Methoden erweitert habe, die weniger verbal denn leiblich orientiert seien: „Worte haben nicht so viel Kraft.“ (IJow, Z. 264f.) 6.3.3 Ordnungsfunktion In den Ausführungen zu Riten und Ritualen wurde bereits auf deren Ordnungsfunktion verwiesen. Auch diese wurde in der Analyse des Materials untersucht. Bei der besuchten Reiki-Veranstaltung kam die als ordnend und strukturierend verstandene Wirkung von Reiki-Handlungen mehrfach zur Sprache. Berichtet wurde etwa über die Anwendung von „Reiki-Duschen“ (V1R, Z. 120). Während die Kursleiterin eine Einführung in Reiki gab, wurde sie von einigen Teilnehmerinnen gebeten, […] noch etwas zum Thema ‚Reiki-Duschen‘ zu erzählen, die quasi als ‚Energie-Duschen‘ imaginär in einen Raum gehängt werden können, um die Energie, die Atmosphäre im Raum bzw. zwischen den Anwesenden zu verbessern. Die einzelnen Punkte ergänzen die Teilnehmerinnen immer wieder durch eigene Geschichten und Beispiele. So erzählt z. B. eine Teilnehmerin, wie sie einmal, als es viel Ärger im Team auf der Arbeit gab, eine Energie-Dusche dort aufgehängt habe und wie sehr sich daraufhin die Arbeitsatmosphäre verändert habe.
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Die KollegInnen und selbst der Chef hätten sich gewundert, wie sich das Klima im Team gebessert habe. Teilnehmende Beobachtung Reiki, Z. 145-152
Eine der Teilnehmerinnen berichtet von der Durchführung eines als energetisch verstandenen Rituals und von dessen merklicher Wirkung. Durch das Ritual sei die „Arbeitsatmosphäre verändert“ worden, das „Klima im Team“ habe sich spürbar gebessert. Die Anwendung des Rituals lässt eine strukturierende, ordnende Funktion erkennen. Dabei wird auch deutlich gemacht, dass für die Wahrnehmung der Wirkung keine Kenntnis der rituellen Handlung oder eine Beteiligung daran notwendig sei. Die Teilnehmerin vermerkt, dass sich „[d]ie KollegInnen und selbst der Chef“ gewundert hätten über die spürbare Veränderung. Während der Veranstaltung selbst entsteht mehrmals Verwunderung über energetische Wirkungen, die, wie dann jeweils erklärt wird, durch rituelle Handlungen der Reiki-Meisterin ausgelöst worden seien. Zum einen wird durch einige Teilnehmerinnen darauf verwiesen, wie intensiv die Energie an diesem Abend bei den Anwendungen zu spüren sei (V1R, Z. 294). Daraufhin erklärt die Kursleiterin, sie habe „vor dem Treffen den Raum noch einmal intensiv ‚energetisch gereinigt‘“ (V1R, Z. 295f.). Eine solche Reinigung des Raumes durch die Meisterin, die den Kurs leite, sei besonders wirkungsvoll (V1R, Z. 296ff.). Zum anderen wurde zu Beginn des Abends auf eine unruhige, angespannte Atmosphäre im Veranstaltungsraum hingewiesen, die einer Teilnehmerin aufgefallen sei (V1R, Z. 121f.). Am Ende des Abends wird dieser Aspekt noch einmal aufgegriffen. Die Teilnehmerin, die zuvor auf die ‚energetische Unruhe‘ hingewiesen hat, sagt nun, wie angenehm es jetzt im Raum wäre, die vielen ‚umherschwirrenden Energien‘ und die Bewegung im Raum habe sich gelegt. ‚Was so ein [Schutzsymbol] so alles bewirkt‘, meint die Kursleiterin. Auf Nachfrage erklärt sie: ‚Nachdem Du vorhin gesagt hast, hier wäre so viel unruhige Energie, die herumschwirrt, habe ich mal einen [Schutzgeist] aktiviert.‘ Alle Teilnehmerinnen sind begeistert von dem kausalen Zusammenhang, der sich hier zu zeigen scheint. Teilnehmende Beobachtung Reiki, Z. 317-323
In beiden beschriebenen Fällen wird deutlich: Die ordnende Wirkung entfaltet das Ritual unabhängig vom Wissen der Anwesenden oder ihrer Beteiligung an dessen Durchführung. Zentral scheint aber – und dieser Aspekt ist deutungsmachttheoretisch interessant – die Anerkennung der Wirkung durch die RezipientInnen. Die „Handlungs- und Ordnungsmuster“630, das belief system von Energien im Raum, die besonders unruhig sein bzw. beruhigt werden können, von der Wirkung ener630 Brosius, Michaels und Schrode: Ritualforschung heute. S. 15.
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getischer Reinigungen von Räumen u. ä., müssen geteilt werden, um die Ordnung, die hier durch die Teilnehmerinnen empfunden wird, herstellen zu können. Der im Kontext von Theorien zu Riten bzw. Ritualen immer wieder thematisierte Aspekt der Wiederholung und Etablierung ritualisierter Handlungen kommt im vorliegenden Material nur vereinzelt zum Tragen. So wird im Reiki-Seminar darauf hingewiesen, wie wichtig eine regelmäßige Anwendung von Reiki sei (V1R, Z. 124ff.). Auch bei der besuchten Tagung wird darauf hingewiesen, die „Behandlung [mit der Heilmethode, Anm. P. S.] lebe […] von der ‚regelmäßigen‘ Anwendung, von der ‚Wiederholung‘“ (V3T, Z. 462f). Die Aussagen der interviewten HeilpraktikerInnen zu Fragen der regelmäßigen Anwendung bzw. Wiederholung können in ihrer Begründung nicht klar von ökonomischen Anreizen getrennt werden und bleiben daher hier unberücksichtigt.631 6.3.4 Religionsproduktivität Ebenfalls in dieser Orientierungskategorie untersucht wurde die Frage der Religionsproduktivität. Entsprechende Codierungen wurde jeweils an solchen Textstellen vorgenommen, an denen sich auf semantischer oder performativer Ebene Aspekte von Religionsproduktivität wie Transzendierungen, Vergegenwärtigung transzendenter Vorstellungen z. B. im rituellen Kontext, Aufnahme oder Neubildung religiöser Rituale o. ä. zeigten. Als ein Thema dieser Subkategorie kamen (Ein-)Weihungen zur Sprache. Beim besuchten Reiki-Abend wurde darauf verwiesen, dass die Fähigkeit, Reiki weiterzugeben nicht über Zertifizierungen vermittelt und bestätigt würde, sondern via Einweihungen in unterschiedliche Grade von einer Meisterin oder einem Meister weitergegeben würde.632 Dabei entstehen auch Sukzessionslinien, die durch die MeisterInnen z. T. explizit angegeben werden.633 Den in Reiki Eingeweihten kämen auch besondere Eigenschaften zu, etwa eine erhöhte Empfindsamkeit für Energien 631 Selbstverständlich ist es für die HeilpraktikerInnen lukrativ, eine Wiederholung ihrer Anwendungen zu verordnen, denn nur darüber können die AnbieterInnen ihre Selbständigkeit finanzieren. Ob auch eine methodische Begründung für eine regelmäßig wiederholte Anwendung vorliegt, lässt sich daher aus dem Material nicht zweifelsfrei erkennen. 632 „Es wird […] erläutert, dass es sich […] nicht um Abschlüsse im Sinne von zu bestehenden Prüfungen handle, sondern dass es dabei um ‚Einweihungen‘ gehe. Es gebe insgesamt etwa zehn Grade, in die man jeweils eingewiesen werden müsse. Die Leiterin, die bereits in den vierten Grad eingeweiht ist, kann auch selbst Einweihungen vornehmen.“ (V1R, Z. 155-159) 633 Vgl. zum Thema Sukzession FN 564.
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(V1R, Z. 194f.). Für die praktische Übung während der Veranstaltung ist die Frage der Einweihung ebenfalls relevant. Während alle anderen Teilnehmerinnen bereits mindestens in den ersten Reiki-Grad eingeweiht seien (V1R, Z. 119f.), wird die Beobachterin aufgrund ihrer fehlenden Einweihung einer Überprüfung unterzogen.634 Die Überprüfung findet statt, indem die Beobachterin ihre Hand über den Arm der Meisterin hält und diese deren Energiestatus testet. Schließlich kommt die Kursleiterin zu dem Ergebnis, es sei „keine weitere Einweihung nötig“ (V1R, Z. 234f.). Die Beobachterin „habe genug Energie, wenn auch nicht so rein und ausgebildet im Blick auf den Energie-Kanal, aber das könne man auch ohne Einweihung nicht erwarten“ (V1R, Z. 235f.). Bemerkenswert ist diese Struktur der Weitergabe insofern, als die ‚Methode Reiki‘ so nicht methodisch vermittelt wird und Zertifizierungen nicht über Institutionen vergeben werden, sondern die Weitergabe durch MeisterInnen und in Form von Einweihung in die Anwendung erfolgt, so dass eine Beschreibung als religionsproduktives Feld plausibel erscheint. Ebenfalls im Kontext des Reiki-Abends wird die Verknüpfung dieses Einweihungsgedankens mit einer katholisch inspirierten Vorstellung vom Leben nach dem Tod kommuniziert. Thema dieses Gesprächsabschnitts ist das von einer Teilnehmerin vorgebrachte Unwohlsein beim Besuch von Friedhöfen. Die Kursleiterin erklärt daraufhin, warum dies der Teilnehmerin schwer falle. Als eine in Reiki Eingeweihte sei die Teilnehmerin besonders nah an der ‚universellen Lebensenergie‘ und am Licht. Auf einem Friedhof dagegen bewegten sich besonders viele ‚erdgebundene Seelen‘, die sich in einer Art ‚Zwischenstadium‘ befänden, aus dem sie noch nicht gehen könnten, solange sie z. B. noch etwas auf der Erde zu klären hätten. Da sie besonders wenig Energie hätten und eben an die Erde gebunden seien, würden sie versuchen, an ein ‚Lichtwesen‘ heranzukommen und von ihm Energie zu erhalten. Damit wäre die Teilnehmerin als Lichtquelle und Mensch mit sehr hoher Energie für diese Wesen ein besonderer Anziehungspunkt. […] [D]ieses Problem sollte sich nach Ansicht der Leiterin jedoch bessern, wenn der ‚Energie-Kanal‘ der Teilnehmerin wieder gereinigt und stabilisiert wäre. Teilnehmende Beobachtung Reiki, Z. 194-203
Verschiedene religionsaffine Motive treten in dieser Beobachtung zusammen. Die Vorstellung einer Zwischenzeit bzw. eines „Zwischenstadium[s]“, in dem sich „Seelen“ nach dem Tod befänden, wie von der Lehrerin hier vertreten, erinnert an 634 „Nach etwa einer Stunde soll nun der praktische Teil des Abends beginnen, bei dem alle Teilnehmerinnen einander Reiki ‚geben‘. Dazu muss allerdings erst festgestellt werden, ob die Beobachterin ebenfalls daran mitwirken kann, d.h. es muss getestet werden, ob sie genug ‚eigene Energie‘ besitzt, um ohne weitere Einweihung durch die Meisterin an der Energieübertragung teilzunehmen.“ (V1R, Z. 215-219)
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die in der römisch-katholischen Tradition überlieferte Überzeugung, die Seelen derjenigen, die nicht direkt nach dem Tod in den Himmel kämen, würden erst nach einer Zeit der Reinigung in den Himmel eingehen.635 Zugleich weist der katholische Katechismus darauf hin, dass die Vorstellung von Geistern, die „in der Luft zwischen Himmel und Erde angesiedelt“636 seien und „dem Menschen den Himmel verstellen“637 wollten, nicht der katholischen Tradition entspräche, sondern sich im Volksglauben tradiert habe. Hier findet somit eine Aufnahme verschiedener Traditionen statt, die zu der Vorstellung verbunden werden, für die „erdgebunden[n] Seelen“, die sich auf dem Friedhof bewegten, wäre die Teilnehmerin als in Reiki eingeweihtes „Lichtwesen“ ein besonderer „Anziehungspunkt“. Diese Auffassung, in der Elemente von katholischer Tradition, Volksglaube und Reiki-Vorstellungen zusammengefügt werden, lässt sich als religionshybrid beschreiben. Mit der Codierung als religionsproduktiv wurden auch Äußerungen oder Handlungen versehen, die sich an religiöse Praktiken wie Gebete, Meditationen o. ä. anlehnen. Auf der Tagungsveranstaltung wurden etwa mehrfach Meditationen durchgeführt (V3T, Z. 65ff; Z. 527; Z. 603; Z. 612ff.) (und noch häufiger auf deren positive und heilende Wirkung hingewiesen), auf die Geste der zusammengelegten Hände mit anschließender Verbeugung wurde bereits verwiesen. Eine Situation des Reiki-Abends soll noch einmal detaillierter unter dieser Perspektive in den Blick genommen werden. Als der praktische Teil des Abends beginnt und alle Teilnehmerinnen sich gegenseitig Energie übertragen sollen, wird durch die Meisterin eine Einstimmung angeleitet, damit alle sich sammeln könnten. Dabei empfiehlt die Kursleiterin wiederum die Haltung der zusammengelegten Hände vor der Brust und formuliert die Einstimmung, […] in der sich alle auf ihre Energie konzentrieren und sammeln sollen. Es wird darauf hingewiesen, wie wichtig es dabei sei, seinen eigenen ‚Schutzmantel‘ zu aktivieren, um keine eigene Energie zu verlieren. Diesen solle man sich in besonders ‚mächtigen‘ und ‚energiereichen‘ Farben vorstellen: blau, weiß und/oder goldfarben seien hilfreich. Dabei könne man die Hände vor der Brust zusammenlegen. Anschließend würden die Hände jeweils an unterschiedlichen Körperstellen bei der liegenden Person aufgelegt und die ‚Energie‘ dabei ‚übertragen‘. 635 Katholischer Erwachsenenkatechismus. Hrsg. v. der Deutschen Bischofskonferenz. Bd. I. S. 408. http://www.alt.dbk.de/katechismus/index.php. Aufgerufen am 1. Dezember 2018. 636 Katholischer Erwachsenenkatechismus. Hrsg. v. der Deutschen Bischofskonferenz. Bd. I. S.195. http://www.alt.dbk.de/katechismus/index.php. Aufgerufen am 1. Dezember 2018. 637 Ebd.
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Eine Teilnehmerin liegt auf der Liege, alle anderen stehen um die Liege herum und haben die Hände vor der Brust zusammengelegt. Die Kursleiterin beginnt und formuliert frei ihre ‚Sammlung‘, etwa so: ‚Wir kommen jetzt zur Ruhe. Wir konzentrieren uns auf die Energie, die wir empfangen und weitergeben wollen. Um uns herum bauen wir unseren Schutzmantel auf. Wir bitten um die Energie aus dem Universum, die wir uns jetzt gegenseitig weitergeben wollen.‘ Daran anschließend schlägt sie die Klangschale an und nun beginnt die ‚Energieübertragung‘, indem alle Teilnehmerinnen ihre Hände auf die Liegende legen. Teilnehmende Beobachtung Reiki, Z. 250-264
Verschiedene Aspekte der beschriebenen Episode lösen Assoziationen zu religiöser Praxis aus: Die angesprochene Geste der Handhaltung, die stille, meditative Atmosphäre während die Kursleiterin ihre „Sammlung“ spricht, der Zeitpunkt dieser Sammlung ebenso wie die verwendete Semantik sowie die im Anschluss zum Klingen gebrachte Klangschale. Neben der als Gebetshaltung gebräuchlichen Geste erinnern der Zeitpunkt zum Beginn der Performanz sowie die Semantik dieser Sammlung an ein Vorbereitungsgebet in der Liturgie des christlichen Gottesdienstes. Das Zusammenkommen, die Konzentration und „Ruhe“, das „[E]mpfangen und [W]eitergeben“, die Bitte um etwas, das aus der Transzendenz erwartet wird – es zeigen sich semantische und inhaltliche Analogien. Zugleich ist die angesprochene transzendente Größe des „Universum[s]“ sowie die Bitte um Energie (statt um Segen, Gegenwart Gottes, den Heiligen Geist o. ä.) eine klare Differenz zur christlichen Religionspraxis. 6.3.5 Fazit: Riten und Rituale Die unter der Kategorie Riten und Rituale gefassten Codierungen zeigen deutlich, dass ritualisierte Handlungen für das Untersuchungsfeld eine Rolle spielen. Bei drei von vier beobachteten Veranstaltungen wurden ritualisierte Handlungen durchgeführt, die vierte Veranstaltung ist hier aufgrund ihrer Struktur außen vor zu lassen.638 Die Riten finden ihren Ausdruck in Gesten und Semantiken, teilweise in längeren Abläufen, die rituell geprägt sind. Auch einzelne Praktiken und symbolhafte Handlungen sind hier zu nennen wie (Ein-)Weihungen, Wasser- bzw. Reinigungsrituale, Handauflegungen o. ä. Im oben ausgeführten Sinne lassen sich 638 Das Gesundheitsseminar hatte keine praktischen Anteile wie Übungen o. ä., sondern war als Vortrag angelegt, so dass hier nicht mit der Beobachtung ritualisierter Handlungen zu rechnen war. Dass der Referent und seine ebenfalls als Heilpraktikerin tätige Frau Rituale durchführen, ist ihren Angeboten zu entnehmen, wurde jedoch während des Seminars nicht explizit thematisiert.
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die beobachteten Praktiken dabei eher als Riten denn als fest etablierte Rituale beschreiben, umfassen sie doch eine „stimmige, kontingente Handlungsüblichkeit“639, etwa in der Ausführung der Einstimmung zur Reiki-Übertragung oder in der Durchführung der Heilbehandlung nach der Methode der beobachteten Gemeinschaft, „somatische Kommunikation vor und mit anderen“640, etwa in der gemeinsamen Durchführung der Performanzen, im leiblichen Vollzug von Handauflegungen u. a. sowie die Kommunikation eines „Sinnzusammenhang[s]“641, so bspw. die Heilung von physischem Körper und Aura-Körper in der Heilbehandlung. Im Hintergrund der Handlungen stehen dabei Ordnungsmuster, wie die Deutung der unruhigen Energien im Raum beim Reiki-Abend, die in der Ausführung ritueller Praktiken aktualisiert und gefestigt werden. Die in dieser Aktualisierung stattfindenden Einordnungsprozesse etablieren die angebotenen Sinnzusammenhänge und stellen so eine Ordnungsfunktion dar. Die beobachtete Selbstverständlichkeit, mit der die TeilnehmerInnen jeweils auf das Angebot bzw. die Ankündigung der rituellen Handlungen sowie in deren Verlauf reagieren, lässt auf eine Offenheit gegenüber Riten im Allgemeinen und auf eine gewisse Praxis in der Durchführung dieser speziellen Performanzen schließen. Die Varianz der Praktiken sowie die z. T. als notwendig empfundenen und daher gegebenen Erklärungen zeigen zugleich, dass hier in einer Weise gehandelt wird, die sich im Entstehungsund Etablierungsprozess befindet, so dass (noch) nicht von fest etablierten Ritualen zu sprechen ist. Dass die beobachteten Performanzen als religionshybrid und z. T. als religionsproduktiv beschrieben werden können, ist in der Einzelanalyse exemplarisch gezeigt worden. Im Material der erhobenen Interviews finden sich ebenfalls Passagen, die die Durchführung von Riten bzw. ritualisierten Handlungen beschreiben. Auch in der Einzelbehandlung durch die HeilpraktikerInnen finden demnach rituelle Handlungen statt, wenngleich diese aufgrund der Anlage der Untersuchung nicht beobachtet, sondern lediglich aus der Beschreibung der InterviewpartnerInnen rekonstruiert werden konnten.
6.4 VERGEMEINSCHAFTUNGSPROZESSE Die Orientierungskategorie Vergemeinschaftung wurde ebenfalls aus der Religionshybride-Theorie gebildet und lehnt sich in der dortigen Herleitung v. a. an die Beschreibung posttraditionaler Gemeinschaften an. Die durch Hitzler u. a. 639 Klie: Fremde Heimat Liturgie. S. 202. Im Original kursiv. 640 Ebd. S. 202. Im Original kursiv. 641 Ebd. S. 202. Im Original kursiv.
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die beobachteten Praktiken dabei eher als Riten denn als fest etablierte Rituale beschreiben, umfassen sie doch eine „stimmige, kontingente Handlungsüblichkeit“639, etwa in der Ausführung der Einstimmung zur Reiki-Übertragung oder in der Durchführung der Heilbehandlung nach der Methode der beobachteten Gemeinschaft, „somatische Kommunikation vor und mit anderen“640, etwa in der gemeinsamen Durchführung der Performanzen, im leiblichen Vollzug von Handauflegungen u. a. sowie die Kommunikation eines „Sinnzusammenhang[s]“641, so bspw. die Heilung von physischem Körper und Aura-Körper in der Heilbehandlung. Im Hintergrund der Handlungen stehen dabei Ordnungsmuster, wie die Deutung der unruhigen Energien im Raum beim Reiki-Abend, die in der Ausführung ritueller Praktiken aktualisiert und gefestigt werden. Die in dieser Aktualisierung stattfindenden Einordnungsprozesse etablieren die angebotenen Sinnzusammenhänge und stellen so eine Ordnungsfunktion dar. Die beobachtete Selbstverständlichkeit, mit der die TeilnehmerInnen jeweils auf das Angebot bzw. die Ankündigung der rituellen Handlungen sowie in deren Verlauf reagieren, lässt auf eine Offenheit gegenüber Riten im Allgemeinen und auf eine gewisse Praxis in der Durchführung dieser speziellen Performanzen schließen. Die Varianz der Praktiken sowie die z. T. als notwendig empfundenen und daher gegebenen Erklärungen zeigen zugleich, dass hier in einer Weise gehandelt wird, die sich im Entstehungsund Etablierungsprozess befindet, so dass (noch) nicht von fest etablierten Ritualen zu sprechen ist. Dass die beobachteten Performanzen als religionshybrid und z. T. als religionsproduktiv beschrieben werden können, ist in der Einzelanalyse exemplarisch gezeigt worden. Im Material der erhobenen Interviews finden sich ebenfalls Passagen, die die Durchführung von Riten bzw. ritualisierten Handlungen beschreiben. Auch in der Einzelbehandlung durch die HeilpraktikerInnen finden demnach rituelle Handlungen statt, wenngleich diese aufgrund der Anlage der Untersuchung nicht beobachtet, sondern lediglich aus der Beschreibung der InterviewpartnerInnen rekonstruiert werden konnten.
6.4 VERGEMEINSCHAFTUNGSPROZESSE Die Orientierungskategorie Vergemeinschaftung wurde ebenfalls aus der Religionshybride-Theorie gebildet und lehnt sich in der dortigen Herleitung v. a. an die Beschreibung posttraditionaler Gemeinschaften an. Die durch Hitzler u. a. 639 Klie: Fremde Heimat Liturgie. S. 202. Im Original kursiv. 640 Ebd. S. 202. Im Original kursiv. 641 Ebd. S. 202. Im Original kursiv.
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beschriebenen Merkmale posttraditionaler Gemeinschaften werden dabei um die Frage ergänzt, ob sich zusätzlich zu den Vergemeinschaftungsprozessen religionshybride Aspekte zeigen. Aufgrund der vorgenommenen Codierung und der abgeleiteten Merkmalsgruppen wurde die Orientierungskategorie in sechs Subkategorien gegliedert: freiwillige, kurzzeitige Gruppenbildung; (vermutete) gemeinsame Interessen; Abgrenzung von Wir und Nicht-Wir; Events; Leitungsperson; Religionshybride. 6.4.1 Freiwillige, kurzzeitige Gruppenbildung Die Subkategorie der freiwilligen, kurzzeitigen Gruppenbildung ist mit Blick auf das Material zu differenzieren. Für alle vier beobachteten Seminare bzw. Tagungen gilt, dass die TeilnehmerInnen freiwillig vor Ort waren und die Veranstaltung besuchten. Bei allen war zudem eine unterschiedlich hohe Teilnahmegebühr zu entrichten (in der Spanne von rund 10 bis 150 €), die die Teilnehmenden jeweils aufbringen mussten und offensichtlich zu zahlen bereit waren. Im ausgeführten Sinne posttraditionaler Gemeinschaften lagen hier keine Bindungen wie gesellschaftliche oder religiöse Zwänge vor, sich dieser Gemeinschaft zuzurechnen und an ihren Veranstaltungen teilnehmen zu müssen. Während ein Seminar als einmaliger Termin angeboten wurde und nach dieser kurzzeitigen Zusammenkunft der Personen als Seminargruppe keine Fortführung angelegt war, gilt diese Perspektive bei den drei anderen Veranstaltungen im Blick auf die Dauerhaftigkeit und den Grad der Verbindlichkeit nicht. So wurde beim Reiki-Abend etwa deutlich, dass die Teilnehmerinnen sich gut kannten und regelmäßig an den Treffen teilnahmen.642 Noch klarer war dies bei den beiden anderen Veranstaltungen der Fall, da zumindest für einen Teil der SeminarbesucherInnen offensichtlich eine enge Bindung zur Gemeinschaft bestand, diese über einen längeren Zeitraum auf-
642 „[…] [D]ie beiden Frauen besprechen, ob es schon 19 Uhr sei und ob sich jemand für den heutigen Termin abgemeldet habe. Es habe keine Abmeldungen gegeben. Die Frauen beschließen, noch etwas mit dem Beginn zu warten. Eine Kirchenglocke ist zu hören. Es ist 19 Uhr. Kurz darauf klingelt es. Die Eingangstür wird geöffnet und es sind Schritte im Treppenhaus zu hören; einige Zeit später Stimmen im Eingangsbereich. Es gibt ein großes Hallo und eine vertraute, freundschaftliche Begrüßung, jemand wird auf einen neuen Haarschnitt angesprochen, es wird besprochen, ob noch jemand fehlt. Man kennt sich offensichtlich.“ (V1R, Z. 72-80)
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recht erhalten wurde643, z. T. verbunden mit dem Wohnen in der Gemeinschaft644 oder einer Mitgliedschaft in einem die Gruppe tragenden Verein. In beiden Gemeinschaften waren auch Kinder von TeilnehmerInnen vor Ort (ohne an den Seminaren teilzunehmen), so dass im Blick auf die Frage der Dauerhaftigkeit der Beziehung zur Gemeinschaft auch an eine Verbindung über Generationengrenzen hinaus gedacht werden muss, wobei die jeweilige Gründung der Gemeinschaften für eine Beurteilung dieser Überlegung noch nicht lange genug zurückliegt. 6.4.2 (Vermutete) gemeinsame Interessen Auch im Kontext der Interviews mit den HeilpraktikerInnen wurde teilweise angesprochen, dass die PatientInnen aus eigenem Antrieb zu den BehandlerInnen kämen (vgl. freiwillige Gruppenbildung). Damit verbunden wurde auf die (vermuteten) gemeinsamen Interessen eingegangen. So wurde in den Gesprächen deutlich, wie divers die Anlässe seien, aufgrund derer die PatientInnen zu einer Heilbehandlung kämen. Genannt wurden dabei Krisen (IMw, Z. 399f.), Burn-out (IMlw, Z. 159; IMm, Z. 205), Schwangerschaftsbeschwerden (IMlw, Z. 160ff), verschiedene Hautkrankheiten (IDw, Z. 80) u. v. a. m.645 Als Gemeinsamkeit wur643 „F3 wohnt […] in einer anderen Stadt, ist aber schon häufiger bei Veranstaltungen der Gemeinschaft gewesen. Sie selbst ist Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Seit meh-
reren Jahren durchläuft sie das Ausbildungssystem unter der Leitung der Lehrerin und absolviert die mehrstufige Heil(ungs)-Ausbildung nach der Methode, die durch die spirituelle Lehrerin in der Kombination aus Elementen verschiedener traditioneller Heilweisen und spiritueller Traditionen entwickelt worden ist.“ (V3T, Z. 196-201); vgl. die Rolle der AssistentInnen beim Tag der Heilung (V4H, Z. 86ff.) 644 „M1 gehört bspw. zum engeren Kreis der Gemeinschaft. Er ist etwa 60 Jahre alt und lebt schon länger in der Gemeinschaft und auf dem Gelände der Siedlung.“ (V3T, Z.
179f.) 645 Auf die Frage, welche Anliegen die PatientInnen zu ihm in die Praxis brächten, antwortet etwa Mario: „Alles. //I: Kann man das so-? [Lachen]// Von-, also wirklich von banalen-, Immunschwäche, Hautkrankheiten, Verdauungsstörungen, Angststörungen, also ganz viel auch Bandscheibenvorfälle. Rückenschmerzen im Allgemeinen, also Störungen des Bewegungsapparates. Dann Knieschmerzen, Fußschmerzen, Handgelenksschmerzen, (#00:07:52#), Frauen oft auch mit Migräne. Man hat ganze Familien auch da, ne. Also Kleinkinder, Säuglinge, Kinder, die zweieinhalb Wochen alt sind, Schreikinder, Milchunverträglichkeiten. Man hat Krebspatienten, die härteren Fälle mehr, ja. Man hat Leute, die irgendwo auch ein bisschen psychisch einen Knacks haben, die psychologisch betreut oder psychotherapeutisch betreut werden müssen. Suchtbehandlung im Sinne von Alkohol, Tabak und ja, also wirklich eigentlich fast
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de von mehreren HeilpraktikerInnen jedoch betont, ihre PatientInnen hätten schon einen langen Weg durch das „gesellschaftliche[…] medizinische[…] Angebot“ (IMlw, Z. 164) hinter sich und suchten dann auf eigenen Wunsch die BehandlerInnen auf. Manche sähen sie gar als „letzte Rettung“ (IDw, Z. 242), wie die Heilpraktikerin Doreen es formuliert.646 Das verbindende Element, das gemeinsame Interesse der PatientInnen, fasst ein Gesprächsabschnitt aus dem Interview mit Marlene zusammen: Also ja, also eigentlich jeder, der so dreimal beim Arzt war oder 30 Mal beim Arzt war und merkt, meine Neurodermitis ist immer noch da oder meine Kopfschmerzen sind immer noch da oder soll ich impfen, soll ich nicht impfen, was soll ich eigentlich machen, ich sehe nicht durch. […] Ja, also eigentlich, wenn man jetzt oft genug beim Arzt war und immer noch Schnupfen und Mittelohrentzündung hat und eigentlich denkt: ‚Jetzt habe ich schon zehnmal Antibiotika genommen, das kann es ja nicht sein.‘ Und dann darf der Weg zu mir gewählt werden, so ungefähr. Interview Marlene, Z. 169-177
Das ihre PatientInnen Verbindende ist für diese Heilpraktikerin die Abgrenzung gegenüber der sogenannten Schulmedizin. Von denjenigen, die sich mit ihren Anliegen „beim Arzt“ nicht ausreichend behandelt sähen, könne „der Weg zu mir gewählt werden“, so Marlene. Auch für andere HeilpraktikerInnen ist das, was sie und ihre PatientInnen ebenso verbindet wie die PatientInnen untereinander, die Suche nach Alternativen. Viele hätten schon Etliches an medizinischer Behandlung hinter sich und suchten nun nach einer Methode, einer Person oder einem Deutungsangebot, das ihnen wirksam helfe.
alles.“ (IMm, Z. 123-133) Ähnlich wie er zählen auch die meisten anderen Befragten eine ganze Liste an Krankheiten und Beschwerden auf, mit denen die PatientInnen zu ihnen kommen. 646 „Ich habe natürlich Patienten, die kommen und sagen: ‚Sie sind meine letzte Hilfe, meine letzte Rettung.‘ Das habe ich gar nicht gerne, muss ich sagen. Weil natürlich das Ganze impliziert, dass da vorher auch schon ganz schön viel rumgedoktert wurde und die mit Sicherheit auch schon von A nach B nach C gelaufen sind und jeder hat irgendetwas anderes mit denen ausprobiert. Und dann bin ich der rettende Strohhalm und es ist natürlich auf der einen Seite schön zu hören, auf der anderen Seite ist es gar nicht schön für mich, weil es eine unglaubliche Bürde ist, die mir da so auferlegt wird.“ (IDw, Z. 241-247)
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Aber die Patienten kommen ja nicht umsonst zu uns. Die sind ja meistens diese ganze medizinische Schiene durchlaufen, sind verzweifelt und dann ist man oft selbst schon der letzte Anker. Interview Mario, Z. 137-139
Ähnlich wie Doreen formuliert auch Mario hier die Aufgabe des Heilpraktikers, als „letzter Anker“ den PatientInnen Wege aufzuzeigen, die ihnen bisher auf ihrer „verzweifelt[en]“ Suche nicht eröffnet wurden. Ebenfalls ein gemeinsames Interesse, welches auf Seiten der AnbieterInnen deutlich formuliert wird, ist das Ziel, zu begleiten. Sechs von elf HeilpraktikerInnen ist die Begleitung647 bzw. einer weiteren die Führung648 ihrer PatientInnen ein zentrales Anliegen. Das darin formulierte Motiv gründet jenseits der konkreten Anliegen der PatientInnen sowie unabhängig von den mit den Methoden verbundenen Vorstellungen auf dem gemeinsamen Interesse von Begleitung bzw. Führung, in der sich auch ein Vergemeinschaftungsprozess zeigt. Dies ist den HeilpraktikerInnen eine (Be-)Handlungsmotivation. Analog zu der Einordnung der Interviewaussagen, die ihren Fokus auf die Alternative zu klassischen Behandlungswegen legen, kann auch im Kontext der Veranstaltungen die Suche nach Alternativen bzw. allgemein die gemeinsame „Suche“ (V3T, Z. 8) als verbindendes Interesse formuliert werden. Darüber hinaus verbinde die TeilnehmerInnen der Tagung der Wunsch, „gemeinsam in einen Heilraum einzutreten“ (V3T, Z. 210). Auch die Suche nach Orientierung und Deutung von Anliegen, die eine Person oft schon lange Zeit beschäftigen, ist ein Beispiel eines solchen gemeinsamen Interesses.649 6.4.3 Abgrenzung von Wir und Nicht-Wir Auch auf die Frage, ob sich die Gemeinschaften durch eine Abgrenzung von Wir und Nicht-Wir auszeichnen, lassen sich Beispiele aus dem Material anführen, die dieses Merkmal tragen und unter diesem Aspekt für eine Bestätigung der Kategorie sprechen. Besonders markant etwa ist im Rahmen des Heiltages der Hinweis darauf, die während der Behandlungen gemachten Aussagen sollten nicht mit Personen außerhalb des Kreises der Anwesenden besprochen werden. 647 Katja (IKw, Z. 255; 261), Heidrun (IHw, Z. 403; 452), Jessica (IJw, Z. 163), Josefine (IJow, Z. 95; 437; 468), Doreen (IDw, Z. 258; 533), Marlene (IMlw, Z. 462; 577; 597). 648 Annita (IAw, Z. 457). 649 Vgl. das Anliegen, das einer der Teilnehmer beim Heilungstag vorbringt und welches sich in seiner und der Deutung des Heilers bis in die früheste Kindheit des Patienten zurückverfolgen lässt. (V4H, Z. 251ff.)
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Sie [die Assistentin; Anm. P. S.] begrüßt die TeilnehmerInnen, erklärt, wie der Tag ablaufen werde, bittet darum, während der Heiler selbst anwesend ist und mit Personen aus dem Kreis spricht, nicht hinauszugehen. Sie fordert die TeilnehmerInnen auf, zuzuhören, zu schweigen und auch über den Seminarkontext hinaus die besprochenen persönlichen Anliegen nicht weiter zu verbreiten. Teilnehmende Beobachtung Tag der Heilung, Z. 64-68
Schon im Ablauf des Heiltages ist eine klare Grenze zwischen Innen und Außen markiert. Interessanterweise gilt dies v. a. (oder sogar nur dann), wenn der Heiler selbst anwesend ist. Dann sollten die TeilnehmerInnen „nicht hinaus[…]gehen“. Auch sind die Anliegen, die während der Veranstaltung besprochen würden, nur für den Kreis des ‚Wir‘ bestimmt und sollten „über den Seminarkontext hinaus“ nicht kommuniziert werden. Diejenigen, die nicht zum Wir gehören, das sich in diesem Moment durch die Anwesenheit im Raum konstituiert, werden auch nach Ablauf der zeitlich begrenzten Interaktion außerhalb des Wir gehalten. Damit konstituiert sich die Gemeinschaft einerseits kurzzeitig während der Veranstaltung, wird andererseits aber darüber hinaus durch das gemeinsame Hören der Anliegen und deren Einordnung durch den Heiler – ein Vorgang, der nur den Anwesenden zugänglich ist – verlängert. Auch der Reiki-Abend, bei dem eine Differenz von Wir und Nicht-Wir deutlich wird und die Formierung der Gruppe auch über den konkreten Moment der Zusammenkunft hinaus fortbesteht, kann hier exemplarisch herangezogen werden. Deutlich wird die Zugehörigkeit zum Wir im Gespräch der Reiki-Meisterin mit einer Teilnehmerin über deren Schwierigkeit, Friedhöfe zu besuchen oder zu besichtigen. Das liege, so die Lehrerin, daran, dass die Teilnehmerin eine „in Reiki Eingeweihte“ (V2R, Z. 194f.) sei und daher besondere Eigenschaften habe. Die in der Einweihung übertragenen Eigenschaften reichen folglich über den Moment der Zusammenkunft hinaus und formieren so ein Wir im Gegenüber zu anderen (Menschen oder hier ‚Seelen‘). Die besonderen Eigenschaften, die den Eingeweihten zukommen, und die Differenz von Wir und Nicht-Wir wird auch im Vorfeld der praktischen Anwendung von Reiki an diesem Abend deutlich. Bevor die Energieübertragung stattfinden kann, muss überprüft werden, ob die Beobachterin genug „eigene Energie“ (V1R, Z. 217) habe, um an der Übertragung teilzunehmen. Hier zeigt sich: Das durch die Einweihung konstituierte Wir der Gruppe schließt das Nicht-Wir derjenigen aus, die keine Erfahrung mit bzw. Einweihung in Reiki haben. Zugleich ist das Wir durchlässig genug, um auch eine Person von außerhalb (vorübergehend) aufzunehmen, ohne ihr in einer Einweihung vollständig die Eigenschaften der Gruppenmitglieder zu übertragen (V1R, Z. 234ff.).
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6.4.4 Events Natürlich ist auch die Teilnahme an den Veranstaltungen selbst, das gemeinsame Erleben der Events, ein Interesse, dass die TeilnehmerInnen verbindet. V. a. für diejenigen, die jeweils nicht zum engsten Kreis der Gemeinschaft gehören bzw. nicht vor Ort wohnen, sind die Seminare, Heiltage, Versammlungen, Tagungen, die einzelnen Behandlungen, auch das gemeinsame Singen und die Mahlzeiten Möglichkeiten, „Interaktions(zeit)räume“650 zu betreten und um die Gemeinschaft, der sie sich zugehörig fühlen, nicht nur zu wissen, sondern sie zu erleben und zu vergegenwärtigen. Während das Gesundheitsseminar v. a. auf eine kurzzeitige und einmalige Zusammenkunft angelegt war, bei der es um die Vermittlung der durch den Referenten vertretenen Theorien ging, waren besonders die Tagung und der Tag der Heilung auf das Erleben der Heilmethoden bzw. Behandlungen und der Gemeinschaft angelegt. Von den TeilnehmerInnen beider Veranstaltungen wohnte die größere Anzahl nicht dauerhaft in der Gemeinschaft am jeweiligen Veranstaltungsort, so dass die Teilnahme an Events eine wichtige Kontaktmöglichkeit darstellt. 6.4.5 Leitungsperson Die Leitungsperson der Gemeinschaft und ihre Rolle ist besonders bei zwei der besuchten Veranstaltungen hervorzuheben. Die Codierung wurde hier jeweils gewählt, wenn es um die Rolle der zentralen Figur einer Gemeinschaft ging, wenn über die Eigenschaften dieser Person berichtet wurde oder sie in der Besonderheit ihrer Rolle als LeiterIn der Gruppe beschrieben wurde. Als herausgehoben markant ist die Rolle der Leiterin der Gemeinschaft zu beschreiben, in der die Tagungsveranstaltung stattfand sowie der Heilpraktiker, in dessen Gemeinschaft der Tag der Heilung besucht wurde. Bei der besuchten Tagung wird die besondere Rolle der Leiterin für die Gemeinschaft an verschiedenen Punkten deutlich. Exemplarisch dafür steht das erste Auftreten der Heilerin während der Veranstaltung. Nach dieser Einleitung wird die Leiterin der Gemeinschaft angekündigt, ‚unsere spirituelle Lehrerin auf unserem Weg zu Liebe und Heilung‘. Sie werde nun die Tagung durch eine angeleitete gemeinsame Chakrenmeditation inhaltlich eröffnen. Beide Moderatoren sprechen von der Leiterin in ehrfürchtiger Weise, die TeilnehmerInnen blicken sie, offenbar in der ersten Reihe am Mittelgang sitzend, erwartungsvoll an. Nach der Ankündigung durch den Moderator steht eine ältere, große, kraftvoll wirkende Frau auf. Sie trägt eine weite, lange 650 Hitzler, Honer und Pfadenhauer: „Ärgerliche“ Gesellungsgebilde? S. 10.
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Tunika-Bluse in schwarz-weiß, graues Haar und eine schwarze, große Brille. Ihr wird von einem der Moderatoren ein Stuhl zentral in der Verlängerung des Mittelgangs mit Blickrichtung zu den TeilnehmerInnen bereit gestellt. Als ein kleines Mikrofon an ihrer Bluse befestigt werden soll, ist ihr das offensichtlich unangenehm, sie lässt es aber geschehen. Sie stellt sich vor den Stuhl, blickt in das große Publikum. Die TeilnehmerInnen reagieren sofort, indem sie ihre Schreibunterlagen beiseite legen und sich in eine aufrechte, gespannte Haltung setzen. Teilnehmende Beobachtung Tagung, Z. 65-76
Mehrere Aspekte lassen die Besonderheit der Leiterin deutlich werden. Die Bezeichnung der Leiterin als „Lehrerin auf unserem Weg zu Liebe und Heilung“ macht deutlich, dass es sich in den Augen der Mitglieder nicht nur um die Gründerin der Gruppe handelt, die zufällig die Idee hatte, diese ins Leben zu rufen, sondern dass der Leiterin eine besondere Führungsrolle für die ganze Gemeinschaft zukommt. Dabei führt sie nicht nur in eine bestimmte Methode ein oder lehrt diese – wobei sie auch das tut, indem sie (als einzige) die von ihr selbst entwickelte Heil(ungs)-Methode lehrt und weiterverbreitet (vgl. V3T, Z. 374ff.) –, sondern ihre Führungsrolle besteht darüber hinaus auf ein höheres Ziel hin: „Liebe und Heilung“. Auch der Modus, in dem die Teilnehmenden und die Moderatoren die Lehrerin darstellen, indem sie „ehrfürchtig[…]“ von ihr sprechen, sich selbst, unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Status oder akademischen Grad, als ihre „Schülerin“ (V3T, Z. 484) bezeichnen oder über ihren eigenen großen Erfahrungsschatz in der Behandlung von PatientInnen die Antworten der Lehrerin auf alle ihnen noch offenen Fragen (V3T, Z. 260ff.) stellen, macht deutlich, welche besondere Rolle ihr zugeschrieben wird. Auch im Blick auf die Ausbildung in der Heil(ungs)-Methode wird sie besondere Stellung der Lehrerin als zentrale Figur der Gemeinschaft deutlich. Sie selbst sei es, die alle der etwa 150 nach dieser Methode arbeitenden TherapeutInnen ausgebildet habe (V3T, Z. 385ff.). Ohne die Lehrerin wäre die Fortsetzung der Ausbildung zumindest auf die Probe gestellt und die Gemeinschaft müsste sich u. a. in diesem Punkt neu organisieren. Auch die Gemeinschaft, in deren Verantwortung der Heiltag stattfand, schreibt ihrem Leiter eine besondere, zentrale Rolle zu, was sich in Performanzen und Semantiken zeigt. Bereits verwiesen wurde auf die Liturgie des Ablaufs, in der die Rolle des Heilers deutlich von den TeilnehmerInnen, aber auch von den AssistentInnen abgehoben wird. Schon in der Anordnung des Raumes und der Sitzpositionen wird ein Platz durch die Positionierung in der zentralen Achse sowie die besondere Ausstattung deutlich von den anderen abgesetzt (vgl. V4H, Z. 44ff.). Auch die Gestaltung des Ablaufs mit dem nachträglichen Erscheinen des Heilers
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nach dem ersten Beginn der Veranstaltung651 sowie der Ablauf der Behandlungen heben die besondere Position der Gründungs- und Leitungsfigur hervor. In beiden Gemeinschaften wird zudem darauf verwiesen, dass die Leitungsperson EmpfängerIn einer oder mehrerer Vision(en) sei. Diese werden zwar auf den Veranstaltungen selbst nicht thematisiert, machen aber deutlich, dass den Gründungsfiguren über mögliche andere Kompetenzen hinaus aufgrund einer unverfügbar gegebenen Vision eine besondere Rolle zusteht, die nicht hintergehbar ist652 und sie weisen zugleich die Ursprungsnarration der Gemeinschaft als religionshybrid aus. Im Kontext des Reiki-Abends wird die herausgehobene Rolle der Leiterin ebenfalls auf verschiedenen Ebenen ausgedrückt. Die Anrede als „Reiki-Meisterin“ (V1R, Z. 86 u. ö.) wird von der Praxisinhaberin und Co-Leiterin ebenso selbstverständlich verwendet wie von den Teilnehmerinnen. Dieser Rolle sind zudem bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, etwa die Fähigkeit, andere in Reiki einzuweisen (V1R, Z. 113), die Überprüfung der Beobachterin und die der möglichen Nachfolgerin vorzunehmen (V1R, Z. 215ff.). 6.4.6 Religionshybride Auf die letzte Subkategorie, die die Vergemeinschaftungsprozesse spezifiziert, Religionshybride, ist insofern nur knapp einzugehen, als die Inhalte z. T. bereits unter dem Aspekt Riten bzw. Rituale (6.3) behandelt wurden. Der Ablauf des Heilungstages ist hier ebenso einzuordnen (6.3.1) wie die Heilbehandlung, die an der Beobachterin während der Tagung vorgenommen wurde (6.3.2). Auch die Aufnahme traditioneller religiöser Symbole wurde hier codiert. Dabei ist noch einmal besonders auf den Heiltag hinzuweisen. Sowohl in den Performanzen, etwa den Gesten oder auch der Durchführung von Wasserriten (6.3.2), als auch in den Artefakten wird eine Aufnahme klassischer religiöser Motive deutlich. Die im Raum platzierten Artefakte nehmen dabei Anleihen an verschiedenen religiösen und kulturellen Traditionen.
651 Vgl. ausführlich zu diesem Ablauf unter Riten und Rituale (6.3). 652 Dieser Verweis geschieht nicht explizit bei den Veranstaltungen, ist aber vielfach im Sinne eines ‚Gründungsmythos‘ der Gemeinschaft tradiert und festgehalten, z. B. in Publikationen der LeiterIn, in Beschreibungen durch Mitglieder der Gemeinschaft oder bspw. im CV der Leitungsfigur auf der jeweiligen Internetseite. Beim Tag der Heilung wird zudem in den Behandlungen selbst auf die Fähigkeit rekurriert, Visionen zu empfangen, denn durch diese „sieht“ der Heiler in den PatientInnen die Antwort auf deren Anliegen (V4H, Z. 86; 165f. u. ö.).
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Im vorderen Bereich des Raumes, vor der Fensterseite, steht ein langer, niedriger Tisch. Auf diesem steht zentral ein Kruzifix, auf der rechten Seite eine Buddha-Figur sowie die Figur eines Löwen, auf der linken Seite befindet sich eine schwarze Figur, ein großer Kristallstein sowie ein Portrait eines asiatischen Mannes, möglicherweise eines buddhistischen Mönches. Im Raum wurden Räucherstäbchen angezündet, die einen dezenten Duft verbreiten. Es läuft leise meditative Musik im Hintergrund. Teilnehmende Beobachtung Tag der Heilung, Z. 34-39
Die Anknüpfung an die christliche Tradition wird durch das aufgestellte Kruzifix zentral in der Raumachse deutlich. Dazu ergänzt wurden verschiedene Elemente aus der buddhistischen Tradition, etwa die Buddha-Figur, das an einen buddhistischen Mönch erinnernde Bild sowie die Räucherstäbchen653. Weniger klar zuzuordnen sind die schwarze Figur sowie der Kristallstein, die diese Anordnung ergänzen. Auch bei der Tagung wurde immer wieder auf verschiedene religiöse Kontexte Bezug genommen. Wichtig ist etwa der Aspekt der Meditation, über den hier religiöse Traditionen aufgegriffen und dabei z. B. konkret auf moderne christliche Mystik654 verwiesen wird. Auch auf die Figur des Sufi655 wird rekurriert, ebenso wie auf indianische religiöse Traditionen Bezug genommen wird (V3T, Z. 119ff.) oder im Rahmen des Liederabends bspw. Lieder aus „explizit christlichem oder jüdischem religiösen Kontext mit textlichen Bezügen zum ‚Schöpfer‘ oder zu ‚Eli‘“ (V3T, Z. 365f.) gesungen werden. Vereinzelte Bezüge zu institutionalisierter Religion weisen auch der ReikiAbend sowie das Gesundheitsseminar auf, wobei diese sich v. a. auf Aspekte 653 Räucherstäbchen werden im Buddhismus, aber auch im Kontext anderer asiatischer Religionen wie Hinduismus oder Konfuzianismus in Tempeln sowie bei Zeremonien verwendet, wobei ihr Rauch als reinigend gilt. 654 So z. B. auf den Benediktinermönch Willigis Jäger OSB, der sich als Zen-Meister und Mystiker bezeichnet und eine Form moderner christlicher Mystik praktiziert und lehrt. 655 Einen Vortrag im Rahmen der Tagung hält „eine Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin […]. Sie war bis vor einigen Jahren in der Lehre an einer Universität tätig, bezeichnet sich nun als ‚Schülerin‘ der Leiterin der Gemeinschaft und als in der Tradition der Sufi auf dem Lernweg.“ (V3T, Z. 482-484) Als Sufismus wird „eine zentrale Form rel[igiöser] Virtuosität im I[slam]“ bezeichnet, deren Anhänger durch Askese einen „Pfad […] zur Gottesschau bzw. zum ‚Entwerden‘ in Gott“ zurücklegen wollen, um zu einem „Bleiben in Gott“ zu gelangen – einem Standort, von welchem aus wieder die Rückkehr zur Welt möglich sei. Vgl. Artikel Islam. II. Lehre. 5. Askese und Mystik. Jürgen Paul. 4RGG. Hrsg. v. Hans Dieter Betz u. a. Tübingen 2001. Bd. 4. Sp. 264ff., Zitate ebd.
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christlicher Religion beziehen.656 Im Kontext des Reiki-Abends ist noch einmal auf das Ritual der Energieübertragung und die damit im Zusammenhang stehende Gestaltung der Sammlung zum Eingang zu verweisen (6.3.4). 6.4.7 Fazit: Vergemeinschaftungsprozesse Die Merkmale posttraditionaler Gemeinschaften sind bei den im Feld untersuchten Gruppen weitgehend gegeben. Der Zusammenschluss findet freiwillig, eher kurzzeitig aufgrund gemeinsamer Interessen statt, dazu spielen Events als Versammlungs- und Interaktions(zeit)räume eine wichtige Rolle. Zugleich sind die Subkategorien im Blick auf die konkreten Anwendungen zu differenzieren. Dies wurde bspw. bei der Frage der Kurzzeitigkeit der Vergemeinschaftung deutlich. Die beobachteten Gemeinschaften waren nicht vordergründig auf kurzzeitige Versammlung angelegt, sondern mit der Einbindung von Familien, gemeinsamen Wohnformen, Organisation über Vereinsstrukturen etc. auf Dauerhaftigkeit angelegt. Hier muss jedoch auch zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft bzw. dauerhaft und langfristig Teilnehmenden auf der einen und BesucherInnen, TagungsteilnehmerInnen etc. auf der anderen Seite unterschieden werden, da letztere sehr wohl kurzfristige EventteilnehmerInnen mit einem geringen Verbindlichkeitsgrad sein können. Die Gruppenbildung erfolgt, wie gezeigt, vornehmlich über das (vermutete) gemeinsame Interesse der Suche nach Alternativen, des Fragens nach einem Anderen. Die Abgrenzungen von Wir und Nicht-Wir sind deutlich sichtbar geworden. Bemerkenswert ist dabei die unterschiedliche Durchlässigkeit der Gruppengrenzen. Wo sich eine Gruppe als Wir konstituiert hat, kann im Kontext eines Events eine Öffnung und Neusetzung dieser Grenzen erfolgen, wobei auch deutlich geworden ist, dass die Grenzen in ihrer zeitlichen Dimension von der konkreten Zusammenkunft unabhängig sein können. Darüber hinaus ist bei mehreren der besuchten Veranstaltungen auf die besondere Rolle der Leitungsfigur hingewiesen worden. Ergänzt wurde die Frage nach Vergemeinschaftungsprozessen im Rahmen dieser Untersuchung um die Perspektive der Religionshybride. Die Analyse des Materials hat dabei deutlich gezeigt, dass religionshybride Formen in der Durch-
656 Der Referent des Gesundheitsseminars nimmt mehrfach Bezug auf die Bibel (V2G, Z. 136ff.; 472ff.), ihren (in seiner Weise dargestellten) Entstehungs- und Veränderungsprozess sowie auf die Figur Jesu, v. a. im Sinne einer Vorbildfunktion (V2G, Z. 137; 477f.). Im Rahmen des Reiki-Seminars wird eine Anlehnung indirekt darin deutlich, dass sich in der gastgebenden Naturheilpraxis der „Andere Adventskalender“ befindet (V1R, Z. 70; s. a. dortige Fußnote).
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führung von Riten, in der Aufnahme religiöser Traditionen und Praktiken bzw. in der Verwendung religiöser Artefakte sichtbar wurden. Die Frage, inwieweit sich neben den untersuchten Gemeinschaften auch die Eins-zu-eins-Patientenbeziehungen im alternativmedizinischen Kontext als posttraditionale, religionshybride Vergemeinschaftungen charakterisieren lassen, lässt sich nur bedingt beantworten. Auch im Interviewmaterial wurden Codierungen vorgenommen, die die ausgewiesenen Merkmale wie Freiwilligkeit, Kurzzeitigkeit, die gemeinsamen Interessen wie etwa der deutliche Zusammenhalt über eine Abgrenzung von Wir (komplementär- und alternativmedizinisch Behandelnde) und Nicht-Wir (Schulmedizin), bestätigen. Zugleich lässt sich aufgrund der Anlage der Untersuchung nur eine unzureichende Übertragung der Kategorie vornehmen und keine Aussage zu den konkreten Prozessen im Kontakt von HeilpraktikerInnen und PatientInnen oder über mögliche religionshybride Bezüge machen.
6.5 NATURALISIERUNG UND NORMALISIERUNG Die Orientierungskategorie Naturalisierung/Normalisierung stellt die erste der vier Kategorien im Bereich der Deutungsmachtanalyse dar und bildet somit den Übergang zu den aus dieser zweiten Referenztheorie abgeleiteten Kategorien. Wie unter 4.5.2 gezeigt, stellt die Praxis der Naturalisierung und in Analogie dazu die der Normalisierung eine wichtige Strategie in Deutungsmachtprozessen dar. Aus den am Material vergebenen Codes wurde eine Unterteilung dieser Orientierungskategorie in insgesamt fünf Subkategorien vorgenommen, die im Folgenden unter Naturgegebenheit bzw. Natürlichkeit; Analogien und Vergleiche; Transzendentes Naturverständnis; Normalitätsvorstellungen sowie Infragestellung von Normalitätskonzepten vorgestellt und durch das Material aus den Interviews und den Beobachtungsbeschreibungen gefüllt werden. 6.5.1 Naturgegebenheit bzw. Natürlichkeit Der Code Naturgegebenheit bzw. Natürlichkeit wird im Material jeweils dann vergeben, wenn Phänomene, Abläufe oder Zusammenhänge in einer Weise dargestellt werden, die sie als natürlich oder naturgegeben einordnen und über diese Einordnung Evidenz erzeugt werden soll. Durch die Begründung eines Ablaufes oder die Darstellung eines Phänomens als naturgegeben bzw. natürlich wird, wie in 4.5.2 ausgeführt, in hohem Maße Deutungsmacht generiert. Die Überzeugungskraft von Argumenten, die mit Natürlichkeit Evidenz erzeugen, liegt auch darin, dass natürlich mit ‚gut‘ oder ‚richtig‘ im normativen Sinne identifiziert wird. Ver-
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führung von Riten, in der Aufnahme religiöser Traditionen und Praktiken bzw. in der Verwendung religiöser Artefakte sichtbar wurden. Die Frage, inwieweit sich neben den untersuchten Gemeinschaften auch die Eins-zu-eins-Patientenbeziehungen im alternativmedizinischen Kontext als posttraditionale, religionshybride Vergemeinschaftungen charakterisieren lassen, lässt sich nur bedingt beantworten. Auch im Interviewmaterial wurden Codierungen vorgenommen, die die ausgewiesenen Merkmale wie Freiwilligkeit, Kurzzeitigkeit, die gemeinsamen Interessen wie etwa der deutliche Zusammenhalt über eine Abgrenzung von Wir (komplementär- und alternativmedizinisch Behandelnde) und Nicht-Wir (Schulmedizin), bestätigen. Zugleich lässt sich aufgrund der Anlage der Untersuchung nur eine unzureichende Übertragung der Kategorie vornehmen und keine Aussage zu den konkreten Prozessen im Kontakt von HeilpraktikerInnen und PatientInnen oder über mögliche religionshybride Bezüge machen.
6.5 NATURALISIERUNG UND NORMALISIERUNG Die Orientierungskategorie Naturalisierung/Normalisierung stellt die erste der vier Kategorien im Bereich der Deutungsmachtanalyse dar und bildet somit den Übergang zu den aus dieser zweiten Referenztheorie abgeleiteten Kategorien. Wie unter 4.5.2 gezeigt, stellt die Praxis der Naturalisierung und in Analogie dazu die der Normalisierung eine wichtige Strategie in Deutungsmachtprozessen dar. Aus den am Material vergebenen Codes wurde eine Unterteilung dieser Orientierungskategorie in insgesamt fünf Subkategorien vorgenommen, die im Folgenden unter Naturgegebenheit bzw. Natürlichkeit; Analogien und Vergleiche; Transzendentes Naturverständnis; Normalitätsvorstellungen sowie Infragestellung von Normalitätskonzepten vorgestellt und durch das Material aus den Interviews und den Beobachtungsbeschreibungen gefüllt werden. 6.5.1 Naturgegebenheit bzw. Natürlichkeit Der Code Naturgegebenheit bzw. Natürlichkeit wird im Material jeweils dann vergeben, wenn Phänomene, Abläufe oder Zusammenhänge in einer Weise dargestellt werden, die sie als natürlich oder naturgegeben einordnen und über diese Einordnung Evidenz erzeugt werden soll. Durch die Begründung eines Ablaufes oder die Darstellung eines Phänomens als naturgegeben bzw. natürlich wird, wie in 4.5.2 ausgeführt, in hohem Maße Deutungsmacht generiert. Die Überzeugungskraft von Argumenten, die mit Natürlichkeit Evidenz erzeugen, liegt auch darin, dass natürlich mit ‚gut‘ oder ‚richtig‘ im normativen Sinne identifiziert wird. Ver-
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geben wird der Code auch für indirekte Argumentationen, wenn über eine Abgrenzung insofern gesprochen wird, als etwas bspw. ‚eigentlich‘ nicht der Natur des Menschen entspricht, die Naturgegebenheit bzw. natürliche Ordnung folglich nicht beachtet wird. In sechs der elf untersuchten Interviews wurden Codierungen im Bereich Natur und Naturalisierung vorgenommen. Bei weiteren drei GesprächspartnerInnen wurde das Thema gestreift bzw. erwähnt, ohne einen grundlegenden Baustein in ihrer Argumentation zu bilden. Auch bei zwei der vier dichten Beschreibungen wurde der Code vergeben. Im Interview mit der Heilpraktikerin Jessica wurden zahlreiche markante Textstellen mit Codierungen der Orientierungskategorie Naturalisierung/Normalisierung gekennzeichnet, so dass dieses Gespräch hier exemplarisch als Referenz herangezogen werden soll. Jessica ist 50 Jahre alt. Sie betreibt ihre Heilpraktikerpraxis in einer norddeutschen Mittelstadt. Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitet sie seit sechs Jahren als Heilpraktikerin. Während sie zuvor ihre Methoden als Mitarbeiterin in anderen Praxen angeboten hat, ist sie seit etwa einem Jahr in ihrer eigenen Praxis hauptberuflich tätig. Jessica ist ausgebildete Krankenschwester und hat lange in diesem Beruf gearbeitet. Dabei hat sie zunehmend Zweifel am System entwickelt, am Gesundheitsbegriff, hat sich Gedanken gemacht über die Durchsetzung von Ansichten und Verfahren im medizinischen Kontext. Dazu kam die Erfahrung einer eigenen Erkrankung sowie die in diesem Kontext gemachten positiven Erfahrungen mit einem Heilpraktiker, woraufhin sie selbst diesen Ausbildungsweg eingeschlagen hat. Sie bietet verschiedene seltene alternative Verfahren an.
Jessica beschäftigt das Thema Natur und Natürlichkeit in verschiedenen Kontexten. Eine zentrale Fragestellung ist für sie dabei die Natürlichkeit des Menschen und seines Lebenswandels. Das Leben, wie wir es führen und die aus dieser Lebensweise entstehenden Krankheiten – ist das „unserer Natur gemäß“ (Z. 235) oder, wie Jessica noch schärfer formuliert, ist das „artgerecht“ (Z. 240)? [F]ür mich ist immer so dieses Thema: Leben wir denn überhaupt unserer Natur gemäß? Denn alles, was wir so Krankheit oder was wir jetzt so als Krankheit nennen, das läuft ja unter diesem großen Oberbegriff Zivilisationskrankheit. Und wenn das unter solchen Begriffen läuft, dann muss ja mit dieser Zivilisation irgendwas nicht hinhauen. Das ist eigentlich das, was so mich über die ganzen Jahre-, darum auch das Thema Ernährung und das Thema Darm, leben wir wirklich artgerecht? Muss man jetzt wirklich mal so sagen. Leben wir artgerecht? So. Interview Jessica, Z. 235-240
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Die Frage nach einer der Natur des Menschen angemessenen Lebensweise wird von Jessica in den Kontext spätmoderner westlicher Entwicklungen gestellt. Wenn unter der Bezeichnung „Zivilisationskrankheit“ Menschen hier und heute, „jetzt“, zunehmend an Krankheiten litten, die es früher657 nicht gegeben habe, dann könne daraus der Schluss gezogen werden, die Entwicklungen der Zivilisation gingen in eine falsche Richtung. Die Bezeichnungen als naturgemäß bzw. „artgerecht“ weisen dabei klar normativen Charakter auf. Naturgemäß wird hier mit gut oder zumindest besser, gesünder und wünschenswert assoziiert. Einen ähnlichen Gedanken formuliert die Heilpraktikerin auch im Kontext der Ursachenbeschreibung von Krankheiten. Als einen der wichtigsten Auslöser für Krankheit sehe sie Stress, der sich in vielfacher Form zeige (IJw, Z. 333ff.) und sie schlussfolgert: „Wir haben so ein stressreiches Leben, für das wir eigentlich auch gar nicht gemacht sind.“ (IJw, Z. 348) Die Anlage des Menschen entspricht, so Jessica, nicht dem Leben, dass er in einer modernen Gesellschaft führt; dafür sei er „eigentlich auch gar nicht gemacht“ (IJw, Z. 348). Mit dieser Haltung ist die Heilpraktikerin nicht alleine. Auch Marisa argumentiert, der Mensch sei weit weg von seiner natürlichen Lebensweise und bewertet dies negativ. Dabei weitet sie das Thema auf nahezu alle Bereiche natürlicher, sozialer, gesellschaftlicher bis hin zu politischer Entwicklung aus. Der Mensch sei „sehr weit weg von [seinem] natürlichen Ursprung, […] von der Natur“ (IMw, Z. 977f.) und werde die Auswirkungen dieses Lebenswandels schließlich auch „zu spüren“ (IMw, Z. 986) bekommen.658 Bemerkenswert in diesen Ausführungen von 657 Die Abgrenzung von „jetzt“ und einem nicht näher bestimmten anderen Zeitpunkt ist hier vage. Dennoch kann aus der Formulierung abgeleitet werden, dass Jessica von einer Entwicklung ausgeht, die für sie mit der modernen Zivilisation im Zusammenhang steht. Allein der von ihr verwendete Begriff „Zivilisationskrankheit“ („zunehmend [auftretende] Krankheitsbilder […], die bei Naturvölkern selten sind oder ganz fehlen“, Der Brockhaus Gesundheit. Schulmedizin und Naturheilkunde, Arzneimittel, Kinderheilkunde und Zahnmedizin. 8., aktual. und überarb. Aufl. München 2010. S.1260.) sowie entsprechende Zahlen im Zusammenhang damit (HerzKreislauf-Erkrankungen, Übergewicht, Schäden des Bewegungsapparates, Folgen von Bewegungsmangel etc.; vgl. u. a. den Bericht der WHO: Global Status Report on noncommunicable diseases 2014. Verfügbar unter: https://www.who.int/nmh/publications/ncd-status-report-2014/en/. Aufgerufen am 12. März 2019.) stützen die Aussagen der Heilpraktikerin, dass es sich hier um ein Problem der Moderne handle und dies an Bedeutung eher zu- denn abnehme. Die implizite Gleichsetzung von früher ≙
weniger zivilisiert ≙ natürlicher ≙ gesünder ist dabei gleichwohl zu hinterfragen.
658 „Und das ist auch ein Gedanke von mir in allen Bereichen, dass ich denke, wir sind sehr weit weg von unserem natürlichen Ursprung. Der Mensch ist sehr weit weg von
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Marisa ist, dass sie die von ihr als natürlich apostrophierte Ordnung als planvoll vorgesehen beschreibt bzw. dass sie annimmt, die heutige Lebensweise sei „so […] nicht gedacht gewesen“ (IMw, Z. 981). Dabei bleibt offen, welche Instanz hier als planende im Hintergrund gestanden habe. Für die Heilpraktikerin Jessica steht in der Folge ihrer Diagnose, der Mensch habe sich von seiner naturgemäßen Lebensweise weit entfernt, auch ihre persönliche Aufgabe fest: „[A]lso für mich ist immer so diese Frage oder oder das Thema, die Menschen wieder zu ihrer Natürlichkeit zurückzuführen.“ (IJw, Z. 306f.) Auch hier wird der normative Gedanke hinter der Einordnung als ‚natürlich‘ deutlich und die Zielsetzung der Heilpraktikerin damit plausibel. In anderer Weise argumentiert Josefine über Natürlichkeit. Ihr geht es dabei nicht um die Lebensweise der Menschen, sondern um die von ihr angewandte Methode. Diese sei „was Natürliches, was wir hier alle haben von Klein-Auf an“ (IJow, Z. 210f.), jedoch seien das Wissen und die Anwendungspraxis über die Zeit verloren gegangen. Im Gegensatz zu einer möglichen Argumentation über Wirksamkeitsnachweise wird hier die Vorstellung kommuniziert, eine an natürliche Vorgänge anknüpfende Methode sei aufgrund ihrer Naturnähe gut und sinn-
der Natur, sowohl in dem, was er zu sich nimmt, als auch in dem, wie er lebt. Als auch, wo er lebt, in diesen Plaste-Schaumstoff-Betten, wie wir leben in der sozialen, in unserem sozialen Umfeld. Das ist zum Beispiel Beziehungen, Familie, Kleinfamilie. Ich glaube, so ist das nicht gedacht gewesen. Wir Menschen sind nicht monogam, alle gehen fremd, alle sind beleidigt, dass der andere fremd gegangen ist, aber das entspricht gar nicht unserer Natur, was wir versuchen unter der Idee romantischer Liebe hier durchzuziehen. Und ich denke, viele Bereiche müssten mal nachkorrigiert werden. Wir gehen am Tag 700, 800 Meter, ausgelegt sind wir für 35 Kilometer und mehr. Ist der Wahnsinn. [7 sec] Ich glaube, das kriegen wir zu spüren. Wir beuten die Natur aus, rücksichtslos, ohne nachzudenken. Wir beuten andere Kulturkreise aus, indem wir für unsere Handys das Zubehör kriegen und die Jeans, die da abgedruckt ist und so. Also können wir das verantworten? […] Und ich denke, alle Bereiche werden nicht natürlich bedient. Natürlich versuchen wir, uns gesund zu ernähren und das. Und jeder versucht, so gut er kann, wenn er ein Gefühl dafür hat, keine Plastetüten und, und, und. Aber wenn man das so anguckt, wie wir unser Leben gestalten, ist das schon ab vom-. Wie lange die Leute arbeiten, bis sie erschöpft sind, gar keine Zeit haben für ihre Familien. Wenn man Kinder hat, dass man das aber schon möglichst früher als vor einem Jahr abgibt in der Kita. […] Dass Kinder ihr eigenes Kinderzimmer haben und nicht bei den Eltern schlafen. Wir sind doch in so einer Gruppe aufgewachsen, geborgen und geschützt. Wenn das Kind groß genug ist, wird es schon gehen. Wieso zwingen wir das in sein Bett […] [?]“ (IMw, Z. 976-1004, Ausschnitte)
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voll.659 Über die Analogie zu einem natürlichen Vorgang plausibilisiert auch Edith eine von ihr angebotene Heilmethode, den Aderlass, den sie nach Anleitung Hildegard von Bingens durchführe.660 „Und sie [Hildegard von Bingen, Anm. P. S.] beschreibt es auch so in ihren Büchern, dass man das eben nach dem Vollmond machen sollte.“ (IEw, Z. 162ff). Auf die Nachfrage, wie der Zusammenhang mit dem Vollmond zu verstehen sei, erklärt die Heilpraktikerin: Warum das mit dem Vollmond zusammen-? Naja, das ist doch wie Ebbe und Flut, kann man das so begründen. Ich meine, der Mond zieht halt und lässt auch wieder los. Wenn er nach dem Vollmond, bevor er zum Vollmond wird, zieht er eher. Und die Säfte, auch in unserem Körper bleiben eher fest, sage ich mal, und können halt nicht so gut abfließen als wenn der Vollmond, nach dem Vollmond geht es ja dann wieder in den abnehmenden Mond und er lässt wieder los. So können die Säfte aus dem Körper auch besser abfließen. Interview Edith, Z. 172-177
Die Begründungsstruktur ist hier ganz linear. Weil ein Vorgang in der Natur in einer bestimmten Weise abläuft, nämlich der Mond zum Vollmond wird und danach wieder abnimmt, funktioniert analog dazu auch die „Entgiftung“ (IEw, Z. 166) im Körper. Die „Säfte aus dem Körper“ werden angezogen und sind „fest“ so wie sich der Mond zum Vollmond formt und fließen bei abnehmendem Mond aus dem Körper heraus. Auch auf der Tagungsveranstaltung wird Natürlichkeit mitunter als Begründungsmaßstab herangezogen und als Ziel für den Menschen postuliert. So zieht ein Vortrag eine Linie von der Naturdistanzierung des Menschen zu allen anderen, letztlich daraus folgenden Problemen der Welt. Behoben werden könne dieser Missstand, indem der Mensch zu einer Einheit zurückfände, die sich ausdrücke in einer „Verbundenheit untereinander, mit der Natur, dem Leben, der Liebe und der Schöpfung“ (V3T, Z. 478). Vorbild könnten dabei indigene Völker sein. „Durch die Begegnung mit den Ureinwohnern“ (V3T, Z. 120f.) könnte man lernen, „dass das ‚Grundproblem‘ der Welt die Differenz von Mensch und Natur sei sowie die mangelnde Bereitschaft, der Natur ihre Rechte zuzugestehen“ (V3T, Z. 121f.). Das Argument der Natürlichkeit wird hier erneut mit einer Modernismuskritik verbunden, indem indigene Völker als Vorbilder dienen und die Verbindung von 659 Die Argumentationen von Jessica und Josefine ließen sich auch unter der Subkategorie Genese verhandeln, gehen sie doch von einer Parallelität von früher ≙ natürlicher ≙ besser aus. Vgl. dazu auch FN 657.
660 Das hier angeführte Beispiel ließe sich auch in die folgende Subkategorie Analogie/ Vergleich einordnen, womit sich einmal mehr die Überlagerung der Analysekategorien zeigt.
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Mensch und Natur aus der Lebensweise dieser Völker (wieder) erlernt werden solle. Zugleich findet sich hier eine Überlagerung zweier Verwendungsweisen von Natürlichkeit. Auf der einen Seite geht es um die als Maßstab postulierte natürliche Lebensweise des Menschen, im Einklang mit anderen Menschen, Schöpfung und Natur zu sein und damit erneut um Natur als normatives Argument. Auf der anderen Seite wird die Natur selbst ins Zentrum gestellt und darauf verwiesen, ihr müssten – im Sinne einer eigenständigen Persönlichkeit – „ihre Rechte“ zugestanden werden. Die Bedeutung, die der ‚Natur‘ in den Vorstellungen der befragten AlternativmedizinerInnen zugeschrieben wird, zeigt sich auch an der Verwendung des Begriffs im Kontext Ernährung, der für viele GesprächspartnerInnen und ReferentInnen der besuchten Veranstaltungen (V2G; V3T) eine zentrale Rolle spielt. In neun Interviewtexten wurde das Thema Ernährung bzw. Wasser (als Nahrungsmittel) angesprochen, wobei in fünf Fällen eine Doppelcodierung von Ernährung/ Wasser sowie Natur/Natürlichkeit vorgenommen wurde. Grundthema ist dabei die in der Gegenwart fehlende Natürlichkeit von Nahrungsmitteln, welche „durch die ganze Bearbeitung der Lebensmittel“ (ICw, Z. 99f.), durch Import (V2G, Z. 250ff.; ICw, Z. 101ff) sowie durch die Anbaubedingungen und Verpackung (IJw, Z. 315ff.) keine „Lebendinformation“ (IJw, Z. 318) mehr enthielten und für den Körper damit nutzlos seien. Auch bei der Frage, welches Wasser zum Trinken geeignet sei, herrscht große Skepsis vor und es wird immer wieder auf Natürlichkeit als Beurteilungskriterium rekurriert.661
661 Dabei wird in den Gesprächen selten explizit von ‚natürlichem Wasser‘ o. ä. gesprochen. Die Argumentation verläuft in der Regel indirekt. Explizit wird es bei Jessica, die beim „Thema Wasser“ (IJw, Z. 292) vorschlägt, „in die Natur zu gehen und [zu] gucken“ (IJw, Z. 292), welche Eigenschaften das Wasser dort habe sowie beim Gesundheitsseminar, in dem der Referent ebenfalls den Blick in die Natur vorschlägt: „‚Schau in die Natur. Das dortige Wasser hat keine zusätzlichen Inhaltsstoffe zur Entschlackung.‘ Ein derartiges Wasser sei so sauber, ‚da kannst du zusehen, wie du damit Heilung erzeugen kannst, schon allein mit gutem Wasser‘.“ (V2G, Z. 230-232) Cornelia hingegen weist auf die mangelnde Qualität des Wassers aus der Leitung hin: „Das Wasser aus der Leitung, da haben Sie alle möglichen Sachen drin. Es lebt nicht mehr. Das ist nicht mehr zellgängig. Eignet sich also nicht zur Reinigung.“ (ICw, Z. 310-312) Mario verweist darauf, dass v. a. „[s]tilles Wasser“ (IMm, Z. 210f.) getrunken werden solle. Beim Gesundheitsseminar sowie bei der besuchten Tagungsveranstaltung wird besonders hervorgehoben, wie schlecht das Wasser in Städten sei, wenn es entweder durch eine Leitung gepumpt oder in Flaschen abgefüllt werde, wobei das eine so schlecht für das Wasser (und damit für die Menschen, die es zu sich nähmen)
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6.5.2 Analogien und Vergleiche Eine Überschneidung zeigt sich beim Thema Wasser und Ernährung im Blick auf die Zuordnung sowohl zur Subkategorie Natürlichkeit als auch zur Subkategorie Analogien und Vergleiche. Im Gespräch mit Jessica kommen Analogien besonders im Kontext dieser bereits angesprochenen Thematik zum Tragen, wie die folgenden Gesprächsausschnitte zeigen. Ja, Thema Wasser zum Beispiel. Kann ich auch in die Natur gehen und gucken. Kein Tier trinkt Wasser mit Kohlensäure. Das ist ein saures Wasser. Das ist nicht gut für uns. Interview Jessica, Z. 292f. Muss man jetzt wirklich mal so sagen. Leben wir artgerecht? So. Und das ist immer so das, was ich versuche, im Laufe so der Zeit, wo die Menschen dann hier sind, mit den Leuten zu besprechen. Also das läuft nebenbei. Also häufig ist es Therapie, dass ich dann wirklich sage: keine Kuhmilch mehr. Artfremde Milch ist für Säugetiere nicht gemacht. Da kann man wirklich ins Tierreich gehen, kein Säugetier, das frei lebt, trinkt artfremde Milch nach dem Abstillen. Interview Jessica, Z. 240-246 Und es ist tatsächlich der Fakt, dass wir von unserem Stoffwechsel her, von unserem Darm her, ich sage jetzt mal, keine Fleischfresser sind. Wir sind auch eigentlich keine Allesfresser, sind wir nicht. Wir sind, unser Darm ist ein Beeren-und-Früchte-Esser-Darm. Und Fleisch hat der Mensch erst angefangen zu essen, als es verarbeitet werden konnte. Interview Jessica, Z. 271-275
In diesen drei kurzen Auszügen aus der Argumentation Jessicas wird die Stoßrichtung ihrer Begründung deutlich. Zweimal weist sie sogar explizit darauf hin, dass sie die Natur bzw. hier speziell das Tierreich als Vergleichspunkt für ihre Ausführungen heranzieht. Man könne „in die Natur gehen und gucken“ oder „wirklich ins Tierreich gehen“, dann werde man feststellen, welche Nahrungsmittel Tiere zu sich nähmen und (nur) diese seien schließlich auch gut für den Menschen. Während es im ersten Teil der Argumentation vorerst um eine (biologische) Beobachtung geht – als solche lässt sich auch die Beschreibung des Darms im dritten Ausschnitt als „Beeren-und-Früchte-Esser-Darm“ verstehen – überträgt der zweite Teil diese Beobachtung in normativer Weise auf den Menschen als „Säugetier“.
sei wie das andere, denn dadurch gingen „die Informationen des Wassers kaputt“ (V3T, Z. 338).
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Ähnlich argumentiert auch der Referent des Gesundheitsseminars, wenn er auffordert: „Bleib einfach. Schau in die Natur.“ (V2G, Z. 229f.) und mit dieser Empfehlung darauf abzielt, die Qualität verschiedener Wässer beurteilen zu können. Die hier als Naturanalogie zugeordnete Argumentationsstruktur weist die Merkmale einer Naturalisierung auf. Die als natürlich gekennzeichneten Merkmale, etwa der Nahrung oder des Wassers, erhalten hier den Rang einer Norm. Wenn ‚die Natur‘ etwas in einer bestimmten Weise vorgesehen und sich diese Ordnung seit Jahrmillionen erhalten habe, wieso sollte es dann für den (modernen) Menschen gut sein, diese Ordnung zu ändern – und etwa dem Wasser Kohlensäure zuzusetzen oder sich anders als vegan zu ernähren? Denkt man diese Analogiesetzung weiter, wird allerdings klar, dass sie als Argumentation nur partiell funktioniert. Die Heilpraktikerin würde einer Übertragung ihres Arguments von kohlensäurehaltigem Wasser auf gekochte Nahrungsmittel bspw. noch soweit zustimmen, dass sie auch diese für schlechter hält als rohe Nahrung (vgl. IJw, Z. 271ff.). Ob sie auch weiteren Übertragungen folgen würde – kein wildlebendes Tier trägt Kleidung – ist dagegen fraglich. Ein weiteres zentrales Thema im Gespräch mit Jessica baut ebenfalls auf einen Vergleich aus dem Tierreich auf. Eine von ihr angewandte Methode bedient sich, wie sie ausführt, der Eigenschaft von Katzen, zu schnurren. Die beim Schnurren der Katze erzeugten Frequenzen würden technisch nachgebildet und auf den Menschen übertragen, wodurch sich ein heilender Effekt einstelle. Es sei gelungen, die Frequenzen des Schnurrens „genau wie im lebenden Tier eins zu eins naturgetreu“ (IJw, Z. 431f.) nachzubilden. Dass diese eine positive Wirkung haben müssten, sei evident. Man sehe das, „wenn man sich überlegt, die Wildkatze hat mithilfe dieses Überlebensprinzips die ganze Evolutionsgeschichte durch überlebt. Wo ja andere Arten ausgestorben sind oder so. Da hat die das überlebt mit diesen Schnurrfrequenzen.“ (IJw, Z. 434ff.) Die Generierung von Plausibilität funktioniert in Jessicas Beschreibung über die Übertragung des in der Natur vorgefundenen Evolutionsvorteils einer Tierart auf eine andere, nämlich den Menschen. Damit sei die Anwendung der auf diesem Vorteil beruhenden Methode „wertvoll […] letztendlich auch für uns“ (IJw, Z. 423f.). 6.5.3 Transzendentes Naturverständnis Über die bereits ausgeführte Verwendung des Naturbegriffs hinaus soll eine weitere in den Blick genommen werden, die hier als transzendentes Naturverständnis bezeichnet wird. Herausgearbeitet wurde dabei ein Gebrauch des Wortfelds ‚Natur‘, der über eine deskriptive Verwendung hinaus die Vorstellung von Natur als einer transzendenten Größe einspielt. Codiert werden hier Interviewpassagen, in
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denen eine entgrenzte Naturvorstellung transportiert oder der Natur bspw. besondere Eigenschaften (auch im Sinne von Personifizierungen) zugewiesen werden. Personifizierungen der Natur kommen im untersuchten Material mehrfach zum Ausdruck. Auf die Darstellung im Rahmen einer Veranstaltung wurde bereits verwiesen, in der Natur als gleichwertiges Gegenüber zum Menschen quasi als eigenständige Person mit eigenen Rechten gesehen wird.662 Im Gespräch mit Josefine wird der Natur ebenfalls eine besondere Rolle zugewiesen. Sie wird von Josefine als „Mutter Natur“ (IJow, Z. 240) bezeichnet, die den Menschen mit den ihm eigenen Fähigkeiten ausgestattet habe. Auch die Anwendungen, die Josefine in ihrer Praxis durchführe, seien Teil dieser durch die Natur geschenkten Fähigkeiten. Darüber hinaus findet sich im untersuchten Material die Vorstellung von natürlichen Orten, denen besondere Eigenschaften zugeschrieben werden. Der Referent des Gesundheitsseminars etwa verweist auf Orte mit besonderer (heilender) Energie, die entsprechende Wirkungen auf die dort anwesenden Menschen hätten. Auch der Ort, an dem das Seminar stattfinde, sei ein solcher besonderer Platz, an dem es eine außergewöhnlich hohe Energie gebe. „Solche besonderen Energieorte, wie hier einer sei, gebe es immer wieder“ (V2G, Z. 241), so der Referent. Auch würden, so die folgende Ausführung, „Energie“ und „Informationen“ eines Ortes auf die dort wachsenden Pflanzen oder das Wasser dieses Ortes übertragen, weshalb der Referent es ablehne, importiertes (Mineral-)Wasser oder importierte Früchte in seinen Speiseplan aufzunehmen. Im Hintergrund steht hier die Vorstellung einer ‚Natur‘, die ihr ‚Wesen‘ bzw. ihre ‚Energie‘ wirkungsvoll auf andere Lebewesen übertragen könne, wobei der Wirkungsraum dabei unbegrenzt gedacht wird. Die Vorstellung einer Wesensübertragung teilen auch Jessica und Katja. Beide Heilpraktikerinnen gehen davon aus, dass Menschen und Pflanzen über Wesensähnlichkeiten verfügten, die in der Arbeit mit Heilpflanzen genutzt werden könne. Das Wesen einer Pflanze sei maßgeblich beteiligt am Heilerfolg, den eine durch die Heilpraktikerin verordnete Substanz haben könne. Jessica sagt, sie nutze gern […] so pflanzliche Ur-Tinkturen und damit arbeite ich auch sehr gerne. Weil, gerade wenn so ein Thema sich rauszeichnet-, kann ich Ihnen mal zeigen, gibt es zum Beispiel hier diese, diese Engelwurz-Tinktur, die im Prinzip Abgrenzung zwischen innen und außen schafft und die Verbindung zwischen oben und unten. Also wenn man sich das Wesen der Pflanze durchliest, dann kommt man ganz viel auf Themen, mit denen die Leute sozusagen kommen. Und da kann also so eine pflanzliche Ur-Tinktur auch viel machen. Interview Jessica, Z. 371-376 662 Vgl. Abschnitt Naturgegebenheit bzw. Natürlichkeit, 6.5.1.
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Die Pflanze, aus der eine „Ur-Tinktur“ gewonnen werde, habe bestimmte Eigenschaften, die über ihre biologisch oder chemisch nachweisbaren Inhaltsstoffe hinausgingen. Sie habe ein „Wesen“, in dessen Beschreibung die Heilpraktikerin die Beschwerden und Anliegen ihrer PatientInnen wiedererkenne. Als Beispiel führt sie dazu eine Tinktur an, die, richtig angewandt, eine „Abgrenzung zwischen innen und außen“ und zugleich eine „Verbindung zwischen oben und unten“ schaffe. Nicht allein, dass der Pflanze mit der Vorstellung von einem „Wesen“ und den Ähnlichkeiten, die sie mit bestimmten Menschen verbinde, besondere Fähigkeiten zugeschrieben werden, darüber hinaus scheinen einige der verwendeten Pflanzen ‚transzendenzfördernd‘ zu sein. Die „Engelwurz-Tinktur“ etwa, nomen est omen, bewirke eine „Verbindung zwischen oben und unten“, die Anbindung an eine transzendente Wirklichkeit scheint über diese Pflanze herstellbar zu sein. Die Wesensähnlichkeit, die in der Anwendung der Ur-Tinkturen zur Wirkung führe, macht die Nähe dieser Methode zur klassischen Homöopathie sichtbar, auf die Katja explizit verweist. Sie legt den Fokus ihrer Anmerkung dazu jedoch auf die Ähnlichkeit zwischen dem „Wesen des Menschen, der da sitzt“ (Z. 493) und dem Wesen der Pflanze.663 Und Ur-Tinkturen sind hochkonzentrierte, homöopathische Auszüge aus Pflanzen oder Pflanzenkombinationen, die konzentrierter sind als homöopathische Sachen. Wo man aber auch immer gucken muss, dass das Wesen des Menschen, der da sitzt, auch so diesem Wesen der-. Also, man versucht die passenden Pflanzen mit den Eigenschaften zum Wesen des Menschen zu finden. Und wenn man das gefunden hat, dann sind die auch hochwirksam. Auch auf emotionaler Ebene können die Prozesse total gut begleiten. Interview Katja, Z. 491-496
663 In der klassischen Homöopathie wird in der sogenannten Ähnlichkeitsregel ein wichtiges Prinzip gesehen. Similia similibus – ein Grundsatz der Lehre Samuel Hahnemanns besagt, eine Krankheit könne dadurch behandelt werden, dass im Körper ähnliche Symptome wie die der zu behandelnden Krankheit hervorgerufen würden. Bei Hahnemann heißt es daher: „Wähle, um sanft, schnell, gewiß und dauerhaft zu heilen, in jedem Krankheitsfalle eine Arznei, welche ein ähnliches Leiden für sich erregen kann, als sie heilen soll!“ Während dabei die Ähnlichkeit von Krankheit(ssymptomen) und Arznei(-wirkung) im Vordergrund stehen, fokussiert die Anwendung der Ur-Tinkturen auf die Ähnlichkeit von zu behandelnder Person und (Wesen der) (Arznei-) Pflanze. Zitat Hahnemann nach: Bleul, Gerhard und Andreas Grimm: Prinzipien der klassischen Homöopathie. In: Leitfaden Homöopathie. Hrsg. v. Jan Geißler und Thomas Quak. München 2005. S. 18.
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Die von beiden Heilpraktikerinnen herausgehobenen Wesensähnlichkeiten von PatientIn und Pflanze verweisen auf eine Naturvorstellung, die sich nicht in den nachweisbaren Wirkstoffen erschöpft, sondern Phänomenen der Natur darüber hinaus besondere Kräfte, Eigenschaften und Momente von Individualität zuweist. Dass diese aus der Natur gewonnenen Tinkturen bei richtiger Anwendung „hochwirksam“ „[a]uch auf emotionaler Ebene“ seien, zeigt noch einmal, dass hier nicht von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen gesprochen wird, wie sie im Kontext der Naturheilkunde angenommen werden (z. B. von Pflanzenextrakten in Form von Salben, Tropfen o. ä., die etwa lindernde Wirkung bei Entzündungen haben), sondern von einer anderen Ebene (vgl. 6.1.4), auf der diese Wirkungen stattfänden. Der zweite Teilbereich der Orientierungskategorie Naturalisierung/Normalisierung geht der Frage nach, inwieweit Normalität, Normen und Normierungen strukturparallel zu Naturalisierungen als Argument zur Generierung von Anerkennung herangezogen werden. Dabei wurden jeweils solche Passagen der untersuchten Texte codiert, in denen etwas als normal, selbstverständlich oder nicht begründungsbedürftig dargestellt wurde. Markiert wurden auch Aussagen, die die eigene Deutung als normal heraushoben, ggf. auch im Gegensatz zu den Deutungen anderer. 6.5.4 Normalitätsvorstellungen In sieben von elf Interviews wurden Codierungen zu Normalitätsvorstellungen und Normalisierung vergeben. Auch im Zusammenhang mit dem Krankheitsverständnis kam das Thema zur Sprache, bspw. im Gespräch mit Doreen. Doreen ist etwa 45 Jahre alt und hauptberuflich als Heilpraktikerin tätig. Sie betreibt ihre Praxis in einer norddeutschen Mittelstadt. Doreen stammt aus einer Familie von Schulmedizinern. Für sie gaben die eigenen Kinder den Anstoß, sich in Richtung alternative Heilmethoden zu orientieren, hatte sie doch den Eindruck, dass in der Schulmedizin Kinderkrankheiten häufig mit unverhältnismäßig starken Medikamenten und Maßnahmen behandelt würden. So absolvierte sie die Heilpraktikerausbildung parallel zu ihrem kaufmännischen Beruf und machte sich anschließend selbständig. Sie bietet u. a. Homöopathie und Blutegeltherapie an; ihr Schwerpunkt liegt jedoch auf Psychologischer Beratung und Begleitung.
Nach ihrem Verständnis von Krankheit gefragt, beginnt Doreen ihre Antwort zuerst einmal mit dem Kommentar: „Das ist ein ganz großgefasstes Ding.“ (IDw, Z.
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216), um anschließend eine Beschreibung dessen zu versuchen, was sie „persönlich“ (Z. 218) unter Krankheit verstehe. Dabei bezieht sie in ihre Ausführungen explizit Normalitätsvorstellungen mit ein. Krankheit, ja Krankheit, dass-, ich persönlich, ich glaube, jeder hat so seine eigene Vorstellung von-, von wann bin ich krank, das hat ja auch was mit Empfindung zu tun, mit eigener Wahrnehmung hat das was zu tun, ab wann akzeptiere ich das Ganze, auch vielleicht mein Ungleichgewicht auch als Krankheit. Insofern tue ich mich hart damit, zu sagen, was ist krank. […] Es ist spätestens dann einfach eine Auffälligkeit, wenn es mir selber nicht gut geht und es mich derartig einschränkt, dass ich meinen ganz normalen Alltag, Tagesablauf nicht mehr dem so nachgehen kann, wie ich das normalerweise kann. So. Interview Doreen, Z. 218-225
Die Beschreibung ihrer Krankheitsvorstellung ist für Doreen nicht einfach, sie äußert gar die Vermutung, dass es soweit „was mit Empfindung zu tun“ habe, dass eine allgemeingültige Antwort kaum zu formulieren wäre. Aber, soweit lässt sich doch etwas sagen, wenn das, was jemand „normalerweise“ tue und wie eine Person ihren „ganz normalen Alltag“ lebe, nicht mehr stattfinden könne, dann könne von Krankheit gesprochen werden. Normalität fungiert hier als Abgrenzungsbegriff für das Krankheitsverständnis; Alltag, Gesundheit und Normalität stehen Einschränkung, Krankheit und dem Nicht-Normalen gegenüber. Besonders auffällig und überraschend ist die Verwendung des Normalitätsbegriffs im Kontext der Gegenüberstellung verschiedener Medizinsysteme. Ganz im Sinne der Bezeichnung als AlternativmedizinerInnen benennen mehrere der befragten AnbieterInnen das schulmedizinische System als das normale. Mario etwa macht deutlich, dass es ihn nicht verwundere, dass die PatientInnen ihn (und andere HeilpraktikerInnen) in der Regel erst nach einer langen Reihe von Behandlungen in der Schulmedizin aufsuchten. […] [D]as ist normal. Wir sind es ja gewohnt, wenn wir was haben, gehen wir zum Arzt. Ich bin früher selber nie mit dem Heilpraktiker in Kontakt gekommen, gar nicht. Ne, ich kannte den Heilpraktiker vorher nicht mal. Bevor ich selber einer wurde […]. Interview Mario, Z. 542-544
Mario beschreibt damit eine selbstverständliche Haltung von PatientInnen. Auch er sei als Patient nicht zum Heilpraktiker gegangen. Normal sei der Gang „zum Arzt“. Diese (nachträgliche) Patientenperspektive lässt sich aus dem Material ergänzen durch die Einschätzung derjenigen, die selbst Teil des schulmedizinischen Systems gewesen sind. Die gelernte Krankenschwester Edith betont etwa, sie schicke ihre PatientInnen auch „zu den normaldiagnostischen Untersuchungen“
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(Z. 366), wenn sie bei der Anamnese eine Vermutung habe, die sie selbst nicht vollständig klären könne. Wenn ich mir jetzt ganz unsicher bin und höre, dass das Herz irgendwie nicht regelmäßig schlägt nach der Erstanamnese, dann schicke ich auch die Patienten zu einem Kardiologen. Also, es ist jetzt nicht so, dass ich jetzt alles über diese Energieflussstörung mache, sondern ich versuche auch, ein bisschen mehr auch die Patienten dementsprechend zu den normaldiagnostischen Untersuchungen zu schicken, wenn ich etwas vermute. Oder manche Patienten wissen ja gar nichts davon, kommen dann hierher und: ‚Ja, ich habe nur Rückenschmerzen‘, und wenn ich dann aber doch irgendwie das Herz vermute oder vielleicht eine vergrößerte Leber, dann versuche ich das dann schon irgendwie abzuklären. Abklären zu lassen. Interview Edith, Z. 362-370
Gegenübergestellt werden in diesem Gesprächsabschnitt zwei Methoden der Diagnostik: die „Energieflussstörung“ und die „normaldiagnostischen Untersuchungen“. Die Heilpraktikerin geht dabei pragmatisch vor in ihrer Einschätzung. Sie selbst arbeite über die Untersuchung von Energieflussstörungen. Sollte diese Methode ihr jedoch nicht angemessen erscheinen, schicke sie die PatientInnen auch zum Kardiologen oder einem anderen Spezialisten, um ihren Verdacht „[a]bklären zu lassen“. Für die im schulmedizinischen Bereich ausgebildete Edith bleibt der Weg durch deren Instanzen nach wie vor der ‚normale‘. In dieser Weise findet sich die Thematik auch im Gespräch mit Josefine. Sie macht deutlich, dass das schulmedizinische System für sie das ‚normale‘ sei. Sie selbst habe etwa in ihrer Ausbildung „normal schulmedizinisch auch Psychologie gelernt“ (IJow, Z. 508). Mehrfach beschreibt sie das Denken „der Schulmedizin“ (IJow, Z. 535) als das normale, „klassische“ (IJow, Z. 546) und die daraus abgeleiteten Schlüsse als die selbstverständlichen. Sie selbst aber, das wird in ihren Gegenüberstellungen ebenso deutlich, grenzt sich davon ab. Sie sei „anders, nicht so wie der Normale“ (IJow, Z. 536), sagt sie (und weist damit schon in die nächste Subkategorie). Auch Marisa argumentiert über die Kategorie der Normalität. Im Gegensatz zu den anderen Beispielen werden in diesem Gesprächsabschnitt jedoch keine Begriffe des Wortfeldes ‚Normalität‘ verwendet. Indirekt wird hier eine Normalitätsvorstellung dennoch nicht weniger klar kommuniziert. Dabei ist „wir alle“ (Z. 442) ein deutlicher Marker für eine von einer Allgemeinheit (bzw. hier der Gruppe der TherapeutInnen) geteilten, normalen Meinung. Im Zentrum des Gedankenganges steht die Selbsteinschätzung alternativmedizinischer AnbieterInnen. Dabei nimmt sich Marisa selbst aus dieser Beschreibung nicht heraus – und grenzt sich dann doch davon ab.
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Natürlich denke ich, und so denken wir alle, wir haben gute Ausbildungen, damit haben wir gute Diagnostiken und Therapiemöglichkeiten. Und durch die Anwendung dieser erfolgt Genesung. Das halte ich für absurd. [beide: Lachen] So denke ich natürlich auch, aber so ist es nicht. Also, weißt du, was ich meine? Also, natürlich denke ich, wenn ich jetzt noch diese Ausbildung habe, ist mein Fächer noch größer und ich kann den Leuten noch mehr anbieten. Aber, wenn ich bestimmte Literatur lese, sehe ich, was eigentlich stattfindet. Interview Marisa, Z. 441-447
Marisa verweist darauf, wie „wir alle“ denken: „gute Diagnostiken und Therapiemöglichkeiten“ seien die Gründe für „Genesung“. So würden alle denken, „[s]o denke ich natürlich auch“. Selbstverständnis bilde sie sich immer weiter, nehme weitere Methoden auf und mache weitere Ausbildungen, weil sie denke, so ihren PatientInnen besser helfen zu können. Dieser Weg ist der von Marisa als ‚normal‘ beschriebene. In Wirklichkeit aber, „eigentlich“, sei es nicht so, sie halte diese Auffassung für „absurd“. Die Argumentation über die Figur der Mehrheit oder auch der Gesamtheit einer in den Blick genommenen Gruppe ist über die Verwendung von Pronomina wie ‚man‘, ‚jeder‘ oder ‚alle‘ sehr subtil möglich und daher äußerst wirkungsvoll. Was alle denken, hat schon aus dieser Struktur heraus unabhängig von konkreten Inhalten eine hohe Evidenz. Marisa dagegen stellt diese Selbstverständlichkeit in Frage, indem sie betont, die Mehrheitsmeinung sei nicht zwangsläufig die richtige, auch was als normal angesehen werde, könne hinterfragt werden. 6.5.5 Infragestellung von Normalität Die beiden letztgenannten Beispiele öffnen mit den darin transportierten Deutungen die Perspektive für die Subkategorie Infragestellung von Normalität. Die in dieser Gruppe vergebenen Codierungen fassen Textpassagen zusammen, die eine Abgrenzung von Normalitätsvorstellungen ausdrücken, in denen das Normale, das Normalisierte oder auch Normalisierende in Frage gestellt oder abgelehnt sowie einzelne Deutungen, seien es die eigenen oder die anderer, als von der Norm abweichend dargestellt werden. Der bereits zitierte Abschnitt aus dem Gespräch mit Marisa (s.o. Interview Marisa, Z. 441-447) funktioniert über die Infragestellung des ‚Normalen‘ als Argumentationsfigur. Marisa stellt fest: Alle denken in der beschriebenen Weise, das sei normal, aber so sei es nicht. Auch wenn eine große Mehrheit oder gar „alle“ so dächten, sei ein Zusammenhang damit nicht zwangsläufig richtig. Über diese Argumentation hat Marisa der Mehrheitsmeinung zwar nicht den Boden entzogen – einen Zweifel daran hat sie gleichwohl deutlich gemacht. Die Frage, ob denn
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nicht eigentlich andere Wirkweisen im Hintergrund stünden, ist gestellt und damit auch die Möglichkeit gegeben, dass diese Idee Raum gewinnen kann. Auch im Gespräch mit Jessica findet sich die Infragestellung von Normalität, hier verbunden mit der Kritik an Normierung in Form von „Normwerte[n]“ (Z. 359). Das sehe ich also häufig […], dass gerade Leute mit-, also, die müde und schlapp sind, doch so ein bisschen zu tun haben mit Schilddrüse. Also ohne dass die jetzt krank ist, sondern dass einfach das, was da ist, für denjenigen zu wenig ist. Obwohl er sicherlich noch im Normbereich ist, so von den Blutwerten her oder so was. Das ist eben das, wir funktionieren alle anders als-. Halt irgendwie entstehen diese Normwerte, aber wir sind alle für uns individuell. Interview Jessica, Z. 355-360
Jessicas Einschätzung ihrer PatientInnen mit Schilddrüsenproblemen weist eine Gegenüberstellung von Normalität und Individualität auf. Die PatientInnen würden nach „Normwerte[n]“ klassifiziert, wobei diese der Individualität der Einzelnen nicht gerecht würden. Folgt man ihrem Gedankengang weiter, dann fragt sie diese „Normwerte“ als solche an, wenn sie sagt, diese entstünden „[h]alt irgendwie“, die Menschen dagegen seien jeweils für sich „individuell“. Mit dieser Individualität könne man zwar „im Normbereich“ liegen, wirklich aussagekräftig sei dies aber nicht, da ja ohnehin jeder Mensch anders „funktioniere[…]“. Mit ihrer Einschätzung macht Jessica deutlich: Wenn die Normwerte dem Einzelnen nicht gerecht werden, da sie ihn in ihrer normierenden Form nur unzureichend abbilden, dann sind ihre Funktion und ihr Nutzen grundsätzlich in Frage zu stellen. Besonders häufig und an markanten Textstellen wurden Codierungen zu Normalität und Normalisierung auch im Gespräch mit Josefine vergeben, in welchem v. a. der Aspekt der Infragestellung bzw. der Abgrenzung von der Norm im Vordergrund steht. Josefine ist etwa 40 Jahre alt. Sie hat eine Heilpraktikerausbildung angefangen, diese aber zum Zeitpunkt des Interviews nicht abgeschlossen. Sie arbeitet mit anderen HeilpraktikerInnen zusammen in einer etablierten Gemeinschaftspraxis einer norddeutschen Mittelstadt. Josefine hat einen handwerklichen Ausbildungsberuf gelernt und im Kontext ihrer beruflichen Kundenkontakte festgestellt, dass sie von vielen Menschen als Gesprächspartnerin geschätzt wird und auch ihre eigenen Fähigkeiten besonders in diesem Bereich sieht. Zudem haben persönliche Erfahrungen sie auf Methoden im Bereich Entspannung, Begleitung, Reiki etc. aufmerksam gemacht. In diesem Bereich hat sie diverse Ausbildungen absolviert sowie eine Ausbildung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie, die sie jedoch nicht
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mit einer Prüfung abgeschlossen hat, weil diese für ihren derzeitigen Arbeitsbereich nicht notwendig war. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Lebensberatung, Reiki und Hypnose.
Im Gespräch mit Josefine ist Normalität ein wichtiges Thema. Dabei hebt sie immer wieder besonders hervor, dass sie selbst sich vom ‚Normalen‘ abhebe und eine andere, nicht-normale Perspektive in ihrer Arbeit einnehme. Dass sie sich damit auch explizit vom „klassische[n] Schulmediziner“ (IJow, Z. 546) abgrenzt, macht sie immer wieder deutlich, wie die folgenden Gesprächsausschnitte zeigen. Ich weiß, ich denke sehr quer und ich bin halt ein lösungsorientierter Mensch und ich habe halt durch meine Ausbildung eher das Querdenken gelernt. Also eher in eine Richtung, die nicht schulmedizinisch ist. Viele können es nachvollziehen, aber auch ganz viele nicht. Die sagen: Hm, das ist ein bisschen davon und ein bisschen davon. Ja, es ist eine Mischung aus allem. Interview Josefine, Z. 503-507
Und im Blick auf die Einschätzung verschiedener Verhaltensweisen bzw. Befindlichkeiten bei den KlientInnen fügt sie an: Also, ich glaube das ist immer eine Beurteilungssache, wie geht man da ran. Und ich gehe halt eher von der anderen Seite ran und gucke mal […]. Ich gehe ein bisschen anders ran, als vielleicht der klassische Schulmediziner […]. Das ist so, er spricht dann halt dieses Urteil, und ich bin dann eher so, ich denke quer. Und in tausend Richtungen. Interview Josefine, Z. 543-548
Josefine schätzt an ihrem eigenen Umgang mit Situationen und KlientInnen664, dass sie „ein bisschen anders ran[gehe]“ und damit neben anderen Diagnosen auch zu anderen therapeutischen Optionen gelange als es im Rahmen einer schulmedizinischen Behandlung denkbar wäre. Mehrfach betont sie, sie „denke sehr quer“ (Z. 504; ähnlich in 505; 548) und nimmt sich selbst explizit aus der Menge der ‚Normaldenkenden‘ heraus. „Man betrachtet Dinge anders, nicht so wie der Normale“ (IJow, Z. 536), so beschreibt sie ihr Vorgehen. Dass sie damit auch an664 Da Josefine die Heilpraktiker-Prüfung nicht abgeschlossen hat (s. o. Kurzportrait), darf sie die Personen, die zu ihr in eine Behandlung kommen, nicht als PatientInnen bezeichnen. Die Verwendung dieser Bezeichnung ist rechtlich ÄrztInnen und HeilpraktikerInnen vorbehalten. Die interviewten HeilpraktikerInnen gehen insgesamt unterschiedlich mit der Bezeichnung ihrer ‚PatientInnen‘ um (vgl. dazu FN 719), die Bezeichnung ‚Klienten‘, wie Josefine sie benutzt, ist jedoch nicht unüblich.
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ecke, dass einige ihre Arbeitsweise und ihr Denken nicht nachvollziehen könnten und sie kritisierten, nimmt sie dabei in Kauf. Der Mechanismus, über den hier die Infragestellung der Deutungskategorie Normalität als Maßstab funktioniert, verläuft indirekt: Durch das eigene Herausnehmen aus der Normalität, durch die Darstellung der eigenen Position als von der Norm abweichend – und trotzdem oder dadurch erst recht hilfreich(er) oder angemessen(er) – wird die Norm selbst in ihrer bindenden Funktion hinterfragt. Während Begriffe aus dem Wortfeld Normalität bei den besuchten Veranstaltungen selbst keine Rolle spielten und auch inhaltlich auf dieses Thema kaum explizit rekurriert wurde, ist mit Blick auf das Gesundheitsseminar auf eine Analogie der Argumentation zu der Perspektive von Josefine zu verweisen. Mehrfach wird im Rahmen dieses Seminars darauf hingewiesen, dass ‚normale‘ Positionen grundsätzlich zu hinterfragen oder abzulehnen seien. Dies gelte v. a. im Blick auf Ernährung, macht der Referent deutlich. Während zu Beginn des Vortrags eher darauf verwiesen wird, man solle sich nicht ohne eigene kritische Prüfung dem „Mainstream“ (V2G, Z. 123) anpassen, wird die Mehrheitsmeinung selbst im Verlauf des Referats zur (negativen) Prüfinstanz – was die Mehrheit tue, könne nicht als Richtschnur derjenigen gelten, die im Sinne des Referenten gesund sein wollten. 6.5.6 Fazit: Naturalisierung und Normalisierung Die Orientierungskategorie Naturalisierung und Normalisierung konnte durch eine große Zahl an Beispielen aus dem erhobenen Material gefüllt und konkretisiert werden. Natur und Natürlichkeit werden im untersuchten Feld vielfach zur Bekräftigung in der Argumentation herangezogen, nahezu alle InterviewpartnerInnen beziehen sich auf diese Thematik. Hervorgetreten ist dabei die Verwendung von Natur/Natürlichkeit als ein normatives Argument, bei dem ‚natürlich‘ mit ‚gut‘ gleichgesetzt und so über Natürlichkeit Evidenz erzeugt wird. In der Folge kann dann sehr Diverses als natürlich und damit erstrebenswert dargestellt werden, von der Vermeidung von Stress über bestimmte Ernährungsempfehlungen bis hin zu nicht-monogamer Lebensführung. Auch der Mechanismus der Naturalisierung zeigte sich im Material, etwa im Kontext von Vergleichen. Mehrere HeilpraktikerInnen bildeten Analogien in der Form, dass ein in der Natur zu beobachtender Vorgang gut und daher auf den Menschen eins zu eins zu übertragen sei, hier wurde bspw. mit evolutionären Entwicklungen argumentiert und diese aus Beobachtungen im Tierreich auf den Menschen übertragen. Auch in der Subkategorie, die den Blick auf ein transzendentes Naturverständnis richtete, wurden
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Codierungen im Material vorgenommen und die Kategorie wie oben ausgeführt anhand des Materials konkretisiert. Der Umgang der GesprächspartnerInnen mit Normalität ist nach dem Durchgang durch das Material zu differenzieren. Normalität wird durch die Befragten als Argument herangezogen und fungiert bspw. als Kriterium im Blick auf die Bestimmung des Krankheitsbegriffs. Hier gilt die normative Verwendung, in der ‚anormal‘ negativ besetzt ist, wie bspw. in der Deutung von Krankheit sichtbar wird, wenn diese als Zustand der gestörten oder fehlenden Normalität gilt. In der Auseinandersetzung mit der Schulmedizin, die einen besonderen Schwerpunkt der Verwendung des Normalitätsgedankens in den Gesprächen darstellt, findet dagegen eine anders konnotierte Verwendung statt. Normal ist in der Gegenüberstellung jeweils die Schulmedizin mit ihren Methoden, Diagnosen und Therapien und damit nicht das eigene Heilungsangebot. Hier ist die Verwendung jedoch weniger positiv-normativ zu lesen als vielmehr feststellend mit Blick auf das alltagspraktische Handeln. Diese Beobachtung ist insofern interessant, als das Stabilisierungspotential, das durch das Argument der Normalität erzeugt werden könnte, von den InterviewpartnerInnen gerade nicht in Anspruch genommen wird, anders als dies im Blick auf das Argument der Natürlichkeit der Fall ist. Die Angebote der HeilpraktikerInnen sind natürlich, gut und hilfreich – normal sind sie nicht zwingenderweise. Darüber hinaus, und in Fortsetzung des vorangegangenen Gedankens ebenso bemerkenswert, ist die Infragestellung der Kategorie Normalität. Wie exemplarisch gezeigt, ist die Abgrenzung der eigenen Deutungen und Handlungen vom Normalen und von der Norm für mehrere Akteure des Feldes relevant.
6.6 WISSENSCHAFTLICHKEIT UND FAKTIZITÄT Eine weitere Orientierungskategorie, die im Rahmen der Deutungsmachtanalyse untersucht wird, ist Wissenschaftlichkeit und Faktizität. Aufgrund der vergebenen Codes wurde diese Orientierungskategorie in vier Subkategorien eingeteilt, die unter den Bezeichnungen Studien und (behauptete) Faktizität; Anbindung an die Wissenschaft; Namensnennung sowie Infragestellung von Wissenschaftlichkeit ausgeführt werden. Die zentrale Bedeutung, die dieser Kategorie im Kontext der Generierung von Deutungsmacht in einer (spät-)modernen Gesellschaft zukommt, wurde in Kapitel 4.5.2 dargestellt und wird in der Konkretisierung anhand des empirischen Materials in diesem Abschnitt wieder aufgenommen. In allen aufgezeichneten Interviews sowie allen beobachteten Veranstaltungen wurden Codierungen zum Themenbereich Wissenschaftlichkeit und Faktizität vergeben. Spielte das Thema in einigen wenigen Texten nur eine untergeordnete Rolle, war es in der großen Mehrheit der Gespräche von zentraler Bedeutung.
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Codierungen im Material vorgenommen und die Kategorie wie oben ausgeführt anhand des Materials konkretisiert. Der Umgang der GesprächspartnerInnen mit Normalität ist nach dem Durchgang durch das Material zu differenzieren. Normalität wird durch die Befragten als Argument herangezogen und fungiert bspw. als Kriterium im Blick auf die Bestimmung des Krankheitsbegriffs. Hier gilt die normative Verwendung, in der ‚anormal‘ negativ besetzt ist, wie bspw. in der Deutung von Krankheit sichtbar wird, wenn diese als Zustand der gestörten oder fehlenden Normalität gilt. In der Auseinandersetzung mit der Schulmedizin, die einen besonderen Schwerpunkt der Verwendung des Normalitätsgedankens in den Gesprächen darstellt, findet dagegen eine anders konnotierte Verwendung statt. Normal ist in der Gegenüberstellung jeweils die Schulmedizin mit ihren Methoden, Diagnosen und Therapien und damit nicht das eigene Heilungsangebot. Hier ist die Verwendung jedoch weniger positiv-normativ zu lesen als vielmehr feststellend mit Blick auf das alltagspraktische Handeln. Diese Beobachtung ist insofern interessant, als das Stabilisierungspotential, das durch das Argument der Normalität erzeugt werden könnte, von den InterviewpartnerInnen gerade nicht in Anspruch genommen wird, anders als dies im Blick auf das Argument der Natürlichkeit der Fall ist. Die Angebote der HeilpraktikerInnen sind natürlich, gut und hilfreich – normal sind sie nicht zwingenderweise. Darüber hinaus, und in Fortsetzung des vorangegangenen Gedankens ebenso bemerkenswert, ist die Infragestellung der Kategorie Normalität. Wie exemplarisch gezeigt, ist die Abgrenzung der eigenen Deutungen und Handlungen vom Normalen und von der Norm für mehrere Akteure des Feldes relevant.
6.6 WISSENSCHAFTLICHKEIT UND FAKTIZITÄT Eine weitere Orientierungskategorie, die im Rahmen der Deutungsmachtanalyse untersucht wird, ist Wissenschaftlichkeit und Faktizität. Aufgrund der vergebenen Codes wurde diese Orientierungskategorie in vier Subkategorien eingeteilt, die unter den Bezeichnungen Studien und (behauptete) Faktizität; Anbindung an die Wissenschaft; Namensnennung sowie Infragestellung von Wissenschaftlichkeit ausgeführt werden. Die zentrale Bedeutung, die dieser Kategorie im Kontext der Generierung von Deutungsmacht in einer (spät-)modernen Gesellschaft zukommt, wurde in Kapitel 4.5.2 dargestellt und wird in der Konkretisierung anhand des empirischen Materials in diesem Abschnitt wieder aufgenommen. In allen aufgezeichneten Interviews sowie allen beobachteten Veranstaltungen wurden Codierungen zum Themenbereich Wissenschaftlichkeit und Faktizität vergeben. Spielte das Thema in einigen wenigen Texten nur eine untergeordnete Rolle, war es in der großen Mehrheit der Gespräche von zentraler Bedeutung.
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6.6.1 Studien und Faktizität Für den Modus des wissenschaftlichen Arbeitens ist die Stützung der eigenen Argumente und Forschungsergebnisse durch Fakten665 bzw. die Absicherung mithilfe von Studien eine zentrale Vorgehensweise. Dabei ist die Zitation der Inhalte in der Regel gekoppelt an den Nachweis darüber, wo oder durch wen die Ergebnisse produziert wurden, unter welchen Bedingungen eine Studie entstanden ist, wo sie publiziert wurde etc. Diese Vorgehensweise ist in besonderem Maße in schriftlichen Darstellungen relevant, gilt jedoch auch für den mündlichen Kontext. Während in wissenschaftlichen Arbeiten zwei Ebenen relevant sind – das Anführen von Studien bzw. Fakten als solches und damit das Ausweisen einer Überzeugung als wissenschaftlich tragfähig einerseits sowie andererseits die Aufnahme der Inhalte dieser Studien – steht im Blick auf die Deutungsmachtanalyse die erste Ebene im Vordergrund, mit der nach der Stabilisierung von Deutungen über die Argumentation mit Faktizität gefragt wird. Das Gespräch mit Edith soll hier als exemplarische Referenz dienen, wird doch in diesem Interview u. a. deutlich, dass die Anbindung von Hypothesen an Studien für Ediths Arbeit relevant ist. Edith ist etwa 35 Jahre alt. Sie betreibt hauptberuflich eine Heilpraktikerpraxis in einer norddeutschen Mittelstadt. Die Praxis hat die gelernte Krankenschwester zum Zeitpunkt des Gesprächs seit ca. fünf Jahren. Anstoß für die Heilpraktikerausbildung gab Edith ihre Arbeit als Krankenschwester auf einer Station für Naturheilkunde im Krankenhaus, wo sie verschiedene naturheilkundliche Verfahren kennengelernte. Der Wechsel auf eine andere Station machte ihr die Diskrepanz zwischen klassischer Krankenhausbehandlung und Naturheilkunde ganz deutlich und ein familiär bedingter Umzug war dann der Auslöser für die Ausbildung zur Heilpraktikerin und schließlich die Selbständigkeit in der eigenen Praxis. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit bilden Schmerztherapie, besonders der Bereich Wirbelsäulentherapie, sowie Ausleitverfahren.
Edith verweist im Gespräch mehrfach auf Studien, auf die sie ihre Anwendungen stütze. Im Kontext der Ausleitverfahren, die sie anbietet, hebt sie dies bspw. her665 Auf die Notwendigkeit des Hinterfragens von Fakten und Faktizität (und ihrem Verhältnis zur Deutung) wurde bereits verwiesen. Vgl. FN 432. Und ebenfalls darauf, dass auf das ‚Andere der Deutung‘ dabei zugleich nicht verzichtet werden kann. Hier sei noch ergänzt, dass die Absicherung von Thesen oder Forschungsergebnissen über die Zitation von Fakten bzw. Studien als Arbeitsmethode im wissenschaftlichen Kontext unverzichtbar und zugleich der Charakter von ‚Faktizität‘ zu reflektieren ist.
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vor. Eines der von ihr angewandten Verfahren ist der Aderlass, den sie „nach Hildegard von Bingen“ (IEw, Z. 162) durchführe, genau so wie „sie […] es auch so in ihren Büchern [beschreibt]“ (IEw, Z. 163). Zu den Regeln der Anwendung gehöre, den Aderlass „nach dem Vollmond“ (IEw, Z. 163) durchzuführen. Diese alte Beschreibung, so ergänzt die Heilpraktikerin, werde auch durch Studien gestützt. Ist- wurden auch Studien gemacht dazu, die-, ähm, also, da hat sich jemand damit befasst, ich weiß jetzt nicht den Namen genau, aber der dann halt ganz genau auch das Blut beobachtet hat und genau in der Zeit mehr-, eine bessere Entgiftung stattgefunden hat. Interview Edith, Z. 164-166
Die Vorstellung, eine medizinische Anwendung an den Lauf des Mondes anzupassen, die die Heilpraktikerin aus einer mittelalterlichen Darstellung heranzieht666, bekräftigt sie durch den Verweis auf moderne „Studien“, die dazu gemacht worden seien. Die Einschränkung, dass sie „nicht den Namen genau“ wisse, wer die Studien durchgeführt habe, erwähnt sie zwar, verweist aber zugleich auf deren Aussagekraft, die sie über die Güte des Verfahrens begründet. In den Studien sei „dann halt ganz genau auch das Blut beobachtet“ und „eine bessere Entgiftung“ nach dem Vollmond festgestellt worden. Der Nachweis dieser Beobachtungen gilt 666 Hildegard von Bingen (1098-1179), Autorin, Mystikerin, Prophetin, Äbtissin. Autorin visionärer, exegetischer und hagiographischer Schriften, Lieder und Briefe sowie zweier natur- und heilkundlicher Werke. Vgl. Art. Hildegard von Bingen. Christel Meier-Staubach. In: 4RGG. Hrsg. v. Hans Dieter Betz u. a. Tübingen 2000. Bd. 3. Sp. 1733f. Vgl. inhaltlich zu dieser Heilkunde: von Bingen, Hildegard: Ursprung und Behandlung der Krankheiten. Causae et Curae. Vollst. neu übers. und eingeleitet von Ortrun Riha. Hrsg. v. Abtei St. Hildegard, Rüdesheim/Eibingen. 2. Aufl. Beuron 2012. Die Popularität und große Verbreitung der Anweisungen Hildegards hängen nicht zuletzt damit zusammen, dass die Nonne klösterliches medizinisches Wissen und Volksmedizin miteinander verband und bspw. statt lateinischer und griechischer die in der Bevölkerung verbreiteten deutschen Namen von Kräutern und Pflanzen verwendete. Obwohl keine ihrer beiden heilkundlichen Schriften im Original erhalten ist, entstand auf der Grundlage späterer Abschriften eine sogenannte „HildegardMedizin“, im Rahmen derer ÄrztInnen bis heute nach den Vorgaben und Anleitungen der Werke der Hildegard von Bingen behandeln. Vgl. dazu Reger, Karl Heinz: Hildegard Medizin. Die natürlichen Kräuterrezepte und Heilverfahren der hl. Hildegard von Bingen. Unter Mitarbeit von Sibylle Reger-Nowy. 4. Aufl. München 1989. Zitat S. 21 und Wintgen, Siegfried und Regina Webersberger: Traditionelle Europäische Medizin. Das große Praxisbuch der westlichen Heilkunst. Wien 2015. Vgl. hier auch das Literaturverzeichnis.
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für die Heilpraktikerin als Stabilisierung ihrer Überzeugung, dieses Ausleitverfahren in eben dieser Weise durchzuführen. In der Frage, wie sich Anwendungen und Studien(-ergebnisse) zueinander verhielten, ist für Edith zudem der Kontext Homöopathie relevant. Dieser Zusammenhang wird auch von mehreren anderen HeilpraktikerInnen angesprochen und stellt überdies einen der Themenbereiche dar, in denen die Frage nach Studien und Nachweisbarkeit immer wieder intensiv diskutiert wird667. Oder Homöopathie. Ich meine, klar, sind die Studien, geben die Studien da nicht wirklich oder kommen die Studien da nicht so richtig voran und ob das wirklich jetzt Placeboeffekt ist oder nicht, das ist-, wird ja immer wieder so besprochen. Aber ich denke, die Erfahrung muss jeder selbst machen. Wenn ich mich-, wenn ich mit starken Schmerzen komme und danach aber die Schmerzen wie verschwunden sind, was nach einer homöopathischen Behandlung auch teilweise wirklich möglich ist, dann fragt man sich nicht, ob das jetzt-, wie die Studien gelaufen sind, sondern man merkt es. Einfach spüren und: Wer heilt, hat Recht, sozusagen. Interview Edith, Z. 636-643
Nicht verwunderlich ist grundsätzlich der Verweis auf die Studien, die im Kontext der Homöopathieforschung gemacht werden, denn als gelernte Krankenschwester ist der Heilpraktikerin die Frage der Nachweisbarkeit einer im Behandlungsprozess angewandten Methode selbstverständlich. Die Ergebnisse der bisher auf diesem Gebiet durchgeführten Forschungen beurteilt sie als unbefriedigend, sie „geben […] da nicht wirklich“ Auskunft und kämen „nicht so richtig voran“. Als Beurteilungsinstanz bleibt daher letztlich allein die eigene „Erfahrung“. Jeder müsse es „selbst“ ausprobieren und sein Urteil durch die eigene Erfahrung verifizieren oder revidieren. Wenn die Methode helfe, was „teilweise wirklich möglich“ sei, werde eine weitere Diskussion unnötig, denn „man merkt es“ und könne es „[e]infach spüren“. Ediths Umgang mit den von ihr zitierten Studien ist insofern ambivalent. Sie verweist zwar darauf, dass Studien gemacht würden, in denen auch „ganz genau“ (IEw, Z. 165) beobachtet würde – letztlich bleibt die verbindliche Urteilsinstanz aber die einzelne Person und ihre am eigenen Leib gemachte Erfahrung, die keiner Verifizierung über externe Studien bedürfe. Der Themenkomplex Homöopathie und Nachweisbarkeit kam auch im Interview mit Doreen zur Sprache. Diese Heilpraktikerin, die über ihre Herkunft aus einer Familie mit mehreren ÄrztInnen ebenfalls einen engen Bezug zum schulmedizinischen System hat, weist besonders auf die Diskrepanzen hin, die sie in der Diskussion um Homöopathie wahrnehme. Werde auf der einen Seite behauptet, 667 Vgl. einige Verweise und Literaturangaben zu dieser Diskussion FN 257.
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Homöopathie sei „nicht wissenschaftlich nachgewiesen“ (IDw, Z. 93f.) und daher „Humbug“ (IDw, Z. 96; 101), so werde auf der anderen Seite die Erforschung der „Langzeitwirkungen“ (IDw, Z. 102) gefordert und eine Anwendung ohne Ergebnisse entsprechender Studien abgelehnt.668 Hierin besteht für Doreen ein grundlegender Widerspruch in der Argumentation von SchulmedizinerInnen. Für sie stehen weniger die Ergebnisse möglicher Studien im Zentrum ihrer Überlegungen als vielmehr die grundsätzliche Frage, wie mithilfe von Studien argumentiert wird – und in Folge dessen, inwiefern sie selbst sich auf diesen Argumentationsprozess einzulassen bereit sei. Annita nimmt im Kontext der Frage nach ihrem Krankheitsverständnis auf Studien Bezug. Sie stellt dabei gegenüber, was ihres Erachtens Mehrheitsmeinung über (psychische) Krankheiten sei und verweist dann darauf, dass es auch „andere Studien und auch Bücher dazu“ (IAw, Z. 552) gebe, die zu konträren Schlussfolgerungen im Blick auf die Krankheitsbestimmung kämen. Auch Cornelia verweist, indirekt, auf Studien, als sie über ein von ihr angewandtes Ausleitverfahren spricht. Die Methode wäre „von den Dänen und den Engländern entwickelt“ (ICw, Z. 285) worden und die Anwendung sei positiv zu beurteilen, denn „[d]as Ganze ist auch gut untersucht“ (ICw, Z. 284). Im Blick auf die Frage nach einer (behaupteten) Faktizität stehen weniger die Fakten selbst als vielmehr die Darstellung von etwas als ‚faktisch‘, ‚so gegeben‘ oder ‚als Fakt (an-)erkannt‘ im Fokus. Dabei lassen sich verschiedene Formulierungen zusammenfassen, die auf eine entsprechende Argumentation verweisen. Explizit wird diese Figur, wenn aus dem Wortfeld selbst Formulierungen heran668 „Ich erinnere mich da an einen Krebspatienten […] und wir, ich habe da also wirklich sehr sorgsam die Mittel rausgesucht und ich weiß ja auch, dass es von der Schulmedizin oftmals belächelt wird, Homöopathie – das sei ja also nicht wissenschaftlich nachgewiesen und der berühmte Tropfen im Meer und so weiter. Das heißt also, es ist, laut Aussagen einiger Schulmediziner, ich möchte um Gottes willen nicht alle in einen Topf schmeißen, ist es dann ja auch so, dass es also Humbug ist oder nicht wirkt – und da habe ich also für den Patienten wirklich gute, gut gewählte Sachen rausgesucht, die ihm hätten helfen können und das wurde seitens des behandelnden Facharztes abgelehnt, weil man die Langzeitwirkung nicht kennt. Nun frage ich mich natürlich, wenn es auf der einen Seite Humbug ist, warum besteht dann dieser Arzt auf irgendwelchen Langzeitwirkungen, wenn es ja doch nicht-, nicht wirkt. Also, das ist für mich so ein bisschen, wo ich auf der einen Seite lächeln muss. Ich habe mich auch tatsächlich persönlich mit diesem Arzt auseinandergesetzt. Ich habe ihn angerufen, ich habe also noch einmal die Kranken- und Leidensgeschichte […] aus meiner Sicht geschildert, was man tun könnte, es war kein Weg dort irgendwie gemeinsam zu beschreiten.“ (IDw, Z. 90-107)
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gezogen werden, etwas sei ein „Fakt“ (IHw, Z. 362; IJw, Z. 271) oder „faktisch“ (IHw, Z. 555) funktioniere etwas in einer bestimmten Weise. Auch die Wortgruppe „so ist das“ (IHw, Z. 97) oder der bekräftigende Abschluss „so“ (IJw, Z. 277) weisen die (behauptete) Überzeugungskraft einer Argumentation aus. Ein Zitat aus dem Gespräch mit Jessica soll noch einmal exemplarisch veranschaulichen, wie die Darstellung einer Position als „Fakt“ (Z. 271) über die Semantik und die Kombination verschiedener rhetorischer Mittel funktioniert. Und es ist tatsächlich der Fakt, dass wir von unserem Stoffwechsel her, von unserem Darm her, ich sage jetzt mal, keine Fleischfresser sind. Wir sind auch eigentlich keine Allesfresser, sind wir nicht. Wir sind, unser Darm ist ein Beeren-und-Früchte-Esser-Darm. Und Fleisch hat der Mensch erst angefangen zu essen, als es verarbeitet werden konnte. Oder können Sie sich vorstellen, rohes Fleisch zu essen? Ich nicht. [beide: Lachen] So, das ist das Problem. Also man weiß vom Stoffwechsel her, dass […] Interview Jessica, Z. 271-278
Die Heilpraktikerin weist im vorgestellten Ausschnitt des Gesprächs explizit über die Semantik die Faktizität ihrer Aussagen aus. Zudem verbindet sie verschiedene rhetorische Figuren, die der Überzeugung des Gegenübers dienen sollen. Die Einleitung dieses Gedankengangs, eine körperliche Beschaffenheit des Menschen, der Stoffwechsel, so sei „tatsächlich der Fakt“, weise ihn nicht als Fleisch- oder „Allesfresser“, sondern als Veganer aus, wird bekräftigt durch ein naturalisierendes Argument – die Natur hat den Darm des Menschen entsprechend angelegt, so dass sich daraus seine Ernährung natürlicherweise ableiten ließe – und ergänzt um eine rhetorische Frage sowie die sofort darauf gegebene Antwort. Im gemeinsamen Lachen versichert sich die Rednerin der Zustimmung ihrer Hörerin, um dann durch die Feststellung „[s]o, das ist das Problem“ diese einleitenden Gedanken abzuschließen und die detaillierteren Ausführungen dazu mit einem „man weiß“ zu beginnen, welches möglicherweise auf Studien oder Nachweise rekurriert, zumindest aber eine allgemein anerkannte Haltung ausdrückt. Ein weiterer Themenkomplex, der in sieben Interviews zur Sprache kommt, beschäftigt sich mit dem Einsatz technischer Geräte in der eigenen Praxis sowie darüber hinaus durch andere Schul- oder AlternativmedizinerInnen. Vier HeilpraktikerInnen verwenden selbst (technische) Geräte, zwei davon nutzen diese, v. a. das Dunkelfeldmikroskop, nur selten, die beiden anderen, Jessica und Cornelia, bauen einen Großteil ihrer Behandlungen auf die Verwendung von Geräten auf. Cornelia sagt, sie habe zu Beginn ihrer Arbeit als Heilpraktikerin „Bioresonanz gemacht, das hatte ich mir gleich gekauft, das Gerät“ (ICw, Z. 68). Inzwischen hält sie die Anwendung zusätzlicher Geräte schlicht für eine Notwendigkeit.
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[…] Anfang der Neunziger kam man einer Allergie noch gut mit einer Darmsanierung und mit Bioresonanz bei, das ist eine Schwingungstherapie. Das schaffen Sie heute nicht mehr. Die Krankheiten haben sich geändert. […] [A]lso, meine Arbeit hat sich total verändert. Die Gerätemedizin hat Einzug gehalten. Interview Cornelia, Z. 86-90
Während sie früher noch mit geringeren Mitteln und nur einem begrenzten Einsatz technischer Geräte Krankheiten wie Allergien „gut“ habe behandeln können, sei das „heute nicht mehr“ möglich. Vielmehr hätten sich „[d]ie Krankheiten […] geändert“, wodurch auch eine vermehrte Anwendung technischer Geräte notwendig geworden sei. Neben dieser Feststellung, an die Cornelia sich angepasst hat, weil sie die „Gerätemedizin“ für unumgänglich hält, ist ihre Darstellung auch geprägt von einem (wenn auch pragmatisch beschränkten) Bedauern dieser Veränderungen669 und einer gewissen Skepsis gegenüber dem zunehmenden Geräteeinsatz670. Einen ebenfalls positiven Zugang zu technischen Geräten äußert die Heilpraktikerin Marisa. Sie fokussiert dabei jedoch nicht auf die Alternative zwischen der Verwendung von Geräten und deren Ablehnung, sondern stellt Geräte der Schulmedizin solchen der alternativen Heilkunde gegenüber und kommt dabei zu dem Schluss, die letztgenannten könnten durch ihre „feine[n]“ (IMw, Z. 925) Messungen genauer, früher und nebenwirkungsärmer Diagnosen erstellen als schulmedizinische Geräte.671 669 „[S]o haben sich natürlich auch die Therapien gewandelt, weil die alte, gute Naturheilkunde auf die Dauer leider nicht mehr so geholfen hat […].“ (ICw, Z. 106f.) 670 „Also, meiner Meinung nach nimmt das eine recht gefährliche Richtung an. Es gibt jetzt auch so verschiedene Testverfahren, die sehr teuer sind, wo man praktisch einen Body-Scan macht. […] Die, die arbeiten so in Programmen. Ich selber, ich teste jede einzelne Ampulle. Aber auch nicht zu viel. Ich kann nicht alles testen. Das geht nicht, weil man schwingt das ja auch ein in den Körper. Und man sollte auch ein bisschen vorsichtiger sein. Und diese, wie soll ich sagen-. Dass so viele auf das Pferd aufspringen, dass alles mögliche jetzt von Maschinen übernommen wird oder von kleinen Computern – das finde ich gefährlich. Und da kriegen sie eine Einweisung und dann kann damit jeder arbeiten. Aber das Ganze nachher auszuwerten oder dies und das zu beachten, das geht so langsam verloren. Und auch einfach dieses Anfassen, dieses Angucken der Leute und- so diese fünf Sinne.“ (ICw, Z. 630-643) 671 „Und es gibt Alternativen! Diese Bioresonanz-, erweiterten Bioresonanzgeräte, die können auf den Punkt genau diagnostizieren, ob ein Krebs vorliegt oder nicht. […] Die Gynäkologen kommen mit ihrer Diagnostik gar nicht in Bereiche rein – und Gott sei es gedankt, wenn sie das könnten, würden sie das auch noch, bis es aus dem Mund wieder heraus kommt – und das kann aber dieses Gerät sehen und dann mache ich
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Die anderen GesprächspartnerInnen äußern sich über den Einsatz von Geräten eher skeptisch. Neben der Ablehnung wird aber v. a. die Ambivalenz deutlich, die bei Cornelia bereits angeklungen ist. Auf der einen Seite wird hervorgehoben, welchen Nutzen der Einsatz von Geräten habe und dass dies den veränderten Zeiten und Krankheiten, aber auch den Bedürfnissen und Wünschen der PatientInnen entspräche. An diesem Punkt kommt auch die Frage nach der Faktizität wieder explizit in den Blick, wie der Ausschnitt aus dem Gespräch mit Katja zeigt. K: Und ich bin immer ganz begeistert, was es für Möglichkeiten gibt. Aber wichtig ist ja auch, dass man a) das Richtige für sich selbst findet. Also, ich habe mich auch schon mal mit Bioresonanzgeräten beschäftigt, weil die gerade total in sind. Weil die auch viel toll-. Man kann da echt viel Tolles mit machen und, und testen. Eigentlich ist es ja auch ein Testen über Energiefelder sozusagen. Das, was ich mit meinen Händen vielleicht mache, macht dieses Gerät. Aber da kann man es sehen, und es ist einfach glaubwürdiger und das ist nicht so subjektiv wie ich vielleicht. Das begeistert mich auch jedes Mal, was man damit machen kann. Aber, es gibt so viele Dinge, die ich toll finde. I: Aber Bioresonanz war dann aber irgendwie auch was, wo du gesagt hast, es passt nicht so zu meiner Art zu arbeiten, oder? K: Ich weiß es nicht. Ich bin mir-. Für die Kunden ist es toll, weil die es glaubwürdiger finden, so ein Gerät, was ihnen das spiegelt. Auch wenn man da Globuli drauflegt und das Gerät was (auf- #00:43:04#), glauben die, ne. Es ist ein Gerät, und das ist glaubwürdiger. Interview Katja, Z. 539-551
Aus der Perspektive der PatientInnen ist für Katja der Einsatz von Geräten „toll“. Auch sie selbst sei immer wieder begeistert davon, was man mit Bioresonanzgeräten „da echt […] Tolles […] machen“ könne. Der größte Vorteil am Einsatz dieser Geräte sei aber, dass man die Ergebnisse „sehen [kann], und es […] einfach glaubwürdiger“ sei. Bemerkenswert ist hier die Differenzierung, die Katja bei der Einschätzung ihrer eigenen und der Perspektive der PatientInnen einzieht: Während sie selbst den Eindruck hat, die Geräte machten letztlich nichts anderes als „[d]as, was ich mit meinen Händen vielleicht mache“, sei es für diejenigen, die sie behandle, „glaubwürdiger“, wenn „ein Gerät […] ihnen das spiegelt“. Anerkennung für eine Deutung zu generieren hat in diesem Fall ganz explizit etwas damit zu tun, Ergebnisse nicht nur gesagt und durch die Heilpraktikerin letztlich nur „subjektiv“ angeboten zu bekommen, sondern in der Darstellung durch ein eine Therapie. Und ich weiß genau, ich habe das schon einmal abgeglichen dort, das kann die Schulmedizin eben nicht sehen oder mein eigenes Gefühl, das ist noch da, aber die Schulmedizin sagt, das ist nicht mehr da. Und diese Gerätetechnik ist so fein, dass sie das feststellen kann.“ (IMw, Z. 858-870, Ausschnitte)
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technisches Gerät, durch das Ablesen von Messwerten auf einem Display, überzeugt zu werden. Neben dieser einen Seite, die den Nutzen des Einsatzes von Geräten hervorhebt, betonen v. a. Heidrun und Katja auf der anderen Seite, dass sie selbst Methoden vorzögen, die keiner Geräte bedürften. Die Skepsis der Befragten hat dabei unterschiedliche Gründe, wie die folgenden Zitate deutlich machen. Auf die Frage, ob es auch Methoden gäbe, denen sie kritisch gegenüber stehe, sagt Heidrun: [W]enn Geräte im Spiel waren, wo ich so gemerkt habe, ne, Geräte sind nicht so meins. Ist so eine Abhängigkeit und hat auch einfach was mit Materialschlacht nochmal zu tun, wo ich so denke, ne, als Naturheilkundler verstehe ich mich jetzt auch anders. Interview Heidrun, Z. 472-475
Heidrun sieht in der Geräteanwendung als solches einen Gegensatz zu naturheilkundlichem Arbeiten. Ihrem Verständnis nach sollte sich Naturheilkunde nicht in die „Abhängigkeit“ von Technik begeben und sich nicht auf eine „Materialschlacht“ im Einsatz von Geräten einlassen. Katjas Kritikpunkt ist eher eine Skepsis gegenüber den AnwenderInnen und die Frage, ob die Anwendung von Methoden, die auf den Einsatz von Geräten setzten, nicht bloß „einfach verdientes Geld“ (Z. 587) sei. Oh, ich denk, es geht auch einfacher. Es gibt ja auch Methoden, wo ich denke, das ist aber einfach verdientes Geld. Ich mach ein Gerät an, oder ich stech die Nadel und dann liegen die eine halbe Stunde. Das ist ja nicht ganz anstrengend, wie das, was ich da manchmal selber machen muss. Interview Katja, Z. 586-589
Im Blick auf die Frage nach der Überzeugungskraft von Deutungen und wie diese gewonnen wird, ist noch ein weiteres Zitat aus dem Gespräch mit Katja anzuführen. Bei aller Glaubwürdigkeit, die sie dem Einsatz von Geräten für die PatientInnen zugesteht, bleibt für sie die bevorzugte Methode die ‚Handarbeit‘. Sie selbst verlasse sich am liebsten auf das „was ich fühle“ (Z. 553). Die eigene Erfahrung, das Fühlen, Berühren, der Körperkontakt – über diese Instanzen generiert Katja die Geltung ihrer Deutungen. Für die Kunden ist es toll, weil die es glaubwürdiger finden, so ein Gerät, was ihnen das spiegelt. Auch wenn man da Globuli drauflegt und das Gerät was (auf- #00:43:04#), glauben die, ne. Es ist ein Gerät, und das ist glaubwürdiger. Aber ich vertraue einfach, glaube ich, auch ganz gerne dem, was ich fühle. Oder was der Körper mir spiegelt. Und ich be-
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rühre halt auch gerne. Und fühle über den Körper und arbeite mit den Körperrhythmen. Und das ist einfach meins. Interview Katja, Z. 549-555
Alle Faktizität und Glaubwürdigkeit, die Katja in der Darstellung durch die verwendeten Geräte sieht, wird ihrer Auffassung nach übertroffen durch die Überzeugungskraft ihres eigenen Fühlens. 6.6.2 Namensnennung Ein gängiger Modus, nicht nur, aber auch im wissenschaftlichen Kontext, eine Überzeugung mit zusätzlicher Glaubwürdigkeit zu versehen, ist es, bekannte und anerkannte Gewährsleute für diese Überzeugung aufzurufen. Obwohl diese Herangehensweise auch in der Kategorie Subjekt/Person zur Sprache kommt und in diese (ebenfalls) genuin hinein gehört, kann sie in der Orientierungskategorie Wissenschaftlichkeit und Faktizität nicht fehlen. Vielmehr zeigt sich darin eine Überlagerung der beiden hier für analytische Zwecke getrennten Codegruppen. Bei der Codierung zum Themenbereich Namensnennung steht nicht allein das grundsätzliche Anführen von Namen im Blickfeld, sondern vielmehr das Aufrufen solcher Personen, die durch einen besonders hohen Bekanntheitsgrad oder aufgrund ihrer wissenschaftlichen Reputation als Autoritäten bekräftigend für die eigene Argumentation herangezogen werden können. Sechs von elf HeilpraktikerInnen untermauern ihre Argumente, Methoden oder Überzeugungen explizit mit dem Rückgriff auf einen oder mehrere (wissenschaftliche) ForscherInnen bzw. AutorInnen. Jessica verwendet diese Form der Argumentation mehrfach. Sie greift dabei auf „den Professor Enderlein“672 (IJw,
672 Günther Enderlein (1872-1968), Zoologe, Entomologe, Vertreter des Konzepts des Pleomorphismus von Mikroorganismen, welches besagt, dass Zellen, Viren und Bakterien mehrere Gestalten annehmen und sich ineinander umwandeln könnten. In der wissenschaftlich basierten Medizin gilt diese Hypothese seit den 1930er Jahren als widerlegt. Popularität erlangte die auf Enderlein zurückgehende Dunkelfeldmikroskopie, die z. T. von alternativmedizinischen AnbieterInnen angewandt und auch von mehreren InterviewpartnerInnen der Studie genutzt wird. Als Dunkelfeldmikroskopie wird im Gegensatz zur Hellfeldmikroskopie ein Verfahren bezeichnet, bei dem das beobachtete Objekt vor einem dunklen Hintergrund erscheint, so dass sich v. a. durchsichtige, kontrastarme Objekte gut darstellen lassen. Die in der Alternativmedizin postulierten Möglichkeiten der Dunkelfeldmikroskopie, v. a. eine auf Enderleins Thesen zurückgehende Krebsfrüherkennung, sind nicht evident nachgewiesen.
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Z. 26) zurück, auf „Professor Alfred (sic!) Popp“673 (IJw, Z. 81) sowie auf „HansHeinrich Reckeweg, also auch ein Doktor“674 (IJw, Z. 473) und stützt durch die Nennung der Namen sowie der Funktionen (und der damit verbundenen sozialen Rolle dieser Personen sowie ihrer Anbindung an das System der Schulmedizin, s.u.) ihre eigenen Ausführungen. Auch Cornelia führt mehrfach Personen an, auf die sie sich in ihrer Arbeit berufe und macht durch den Modus der Zitation auf deren Funktion besonders aufmerksam. Sie arbeite nach einer Methode „nach Doktor Kremer“675 (ICw, Z. 187f.) sowie „in Anlehnung“ (ICw, Z. 188) an eine Therapieform, die „Doktor Seeger“676 (ICw, Z. 188) entwickelt habe. Die Heil673 Gemeint ist sehr wahrscheinlich Fritz-Albert Popp (*1938), Biophysiker, zunächst an der Universität Marburg, später nach Auseinandersetzungen mit der Universität an privaten Instituten, verschiedenen ausländischen Universitäten und in einem selbst gegründeten Forschungslabor tätig. Forschungsschwerpunkt seit den 1970er Jahren „Biophotonen“. Als Biophotonen bezeichnet man eine ultraschwache Photonenstrahlung, die an lebenden Zellen nachgewiesen werden kann. Diese Messungen sind wissenschaftlich anerkannt. Dagegen sind die Schlussfolgerungen Popps, es gebe daher ein zelluläres, auf Licht basierendes, geordnetes Informationssystem im Körper, bei anderen Forschern umstritten und bisher nicht evident nachgewiesen. 674 Hans-Heinrich Reckeweg (1905-1985), Mediziner, Begründer der „Homotoxikologie“, eines medizinischen Systems, das sich als Weiterentwicklung der Homöopathie verstand und Homöopathie mit moderner Medizin in Einklang zu bringen suchte. 1936 Gründung der Arzneimittelfirma Heel, die naturheilkundliche und homöopathische Arzneimittel für Menschen und Tiere vertreibt. 675 Heinrich Kremer (*1937), Arzt, Alternativmediziner. Mit ihrem Verweis auf die Arbeit nach der Methode Kremers weist Cornelia auf eine durch Kremer entwickelte und angewandte Form der Krebstherapie hin. Die „Redifferenzierungstherapie“ oder „Cellsymbiosistherapie“ zur Anwendung gleichermaßen bei Krebs oder AIDS geht davon aus, v. a. über die Gabe von Nähr- und „Vitalstoffen“ (Vitaminen etc.) einen „Umkehrungsvorgang“ und damit eine Heilung dieser Krankheiten auslösen zu können. Einen wissenschaftlich basierten Nachweis gibt es für diese Therapieform nicht. Vgl. weitere Informationen sowie Zitate: https://www.psiram.com/de/index.php/ Heinrich_Kremer. Aufgerufen am 30. Januar 2019. Bekannt wurde Kremer v. a. auch aufgrund seines Buches „Die stille Revolution der Krebs- und AIDS-Medizin“. 676 Paul Gerhardt Seeger (1903-1999), Biologe und Mediziner mit Schwerpunkt Krebsforschung. Über Seeger sind in ihrer Bewertung sehr widersprüchliche Aussagen zu finden. Während auf der einen Seite auf seine experimentelle Forschung zur Krebsentstehung und -therapie, seine Leitung der Forschungsstelle für Krebsforschung an der Charité Berlin, seine zahlreichen Aufsätze und Bücher sowie seine Verdienste, die „unter Medizinern im In- und Ausland hoch geschätzt“ würden (http://www.uni-
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praktikerin Annita verweist ebenfalls auf einen berühmten Therapeuten, an dem sie sich orientiere: „Wilhelm Reich“ (IAw, Z. 497), qualifiziert sie ihren Gewährsmann, sei „ja so der Papst würde ich mal sagen“ (IAw, Z. 498) in der körpertherapeutischen Arbeit. Auch Marisa verweist mehrfach auf die Aussagen eines Autors und zitiert diesen (IMw, Z. 730 u. ö.). Zwar geht sie nicht explizit auf dessen Qualifikation ein, kann sich aber aus dem vorangegangenen Gesprächskontext sicher sein, dass die Forscherin um die sich ins Wissenschaftssystem einordnende Qualifikation des Autors weiß.677 Und auch im Gespräch mit Katja wird die Anbindung an das System Wissenschaft über die Bezugnahme auf Personen deutlich, die im Kontext der von ihr angewandten Methoden eine Rolle spielen. Dabei werden die EntwicklerInnen als „Neurologe“ (IKw, Z. 53) oder als „Ärztin“ (IKw, Z. 421) bezeichnet und deren Methoden in dieser Weise als (schulmedizinisch) qualifiziert eingeordnet. In ähnlicher Weise strebt Mario die Anbindung einer Institution an die Prinzipien eines wissenschaftlich geprägten Systems an, indem er diese als international anerkannt qualifiziert. Im Blick auf seine Ausbildung verweist er darauf, er habe diese an der „Europäischen Penzel-Akademie“678 (IMm, Z. 59) absolviert, einem „international tätig[en]“ (IMm, Z. 60) Ausbildungsinstitut.679 Auch im Rahmen der besuchten Veranstaltungen wurden immer wieder Autoren, ÄrztInnen, ProfessorInnen und andere WissenschaftlerInnen namentlich genannt, um eine Methode oder eine Aussage zu qualifizieren. „Fritz-Albert Popp“ (V3T, Z. 292) wird hier erneut aufgerufen, dazu „die Forschung von Prof. Tania
magdeburg.de/mbl/Biografien/0976.htm, aufgerufen am 30. Januar 2019), hingewiesen wird, stehen dem auf der anderen Seite Kritiker gegenüber, die die von Seeger entwickelte „10-Wege-Therapie“, eine alternative Krebstherapie, die v. a. auf Ernährungsempfehlungen basiert, für wissenschaftlich nicht nachgewiesen halten. Vgl. https://www.psiram.com/de/index.php/10-Wege-Therapie_nach_Seeger. Aufgerufen am 30. Januar 2019. 677 Der Autor weist in Vorträgen und auf seiner Internetseite darauf hin, dass er „Techniker“ und „Ingenieur“ sei, zudem kann er eine längere Liste von Vorträgen und Publikationen vorweisen. 678 Die Europäische Penzel-Akademie ist eine Einrichtung zur Aus- und Weiterbildung v. a. medizinischen Personals in der Methode der ‚Akupunkt-Massage nach Penzel‘. Willy Penzel (1918-1985), Masseur und medizinischer Bademeister, entwickelte in den 1950er und 1960er Jahren diese nicht-invasive Behandlungstechnik in dem Bestreben, eine Methode zu finden, die westlich systematisches Denken mit traditioneller chinesischer Medizin verbinden sollte. 679 Vgl. insgesamt zu diesem Abschnitt auch die Orientierungskategorie Person unter 6.8, zu der sich einige Überschneidungen ergeben.
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Singer“680 (V3T, Z. 142), auch auf „C.G. Jung“ (V3T, Z. 505; 512) wird in verschiedenen Beiträgen der Tagungsveranstaltung Bezug genommen. Noch deutlicher wird das Heranziehen von Persönlichkeiten, die (im Wissenschaftskontext) als anerkannt gelten, in den Ausführungen des Referenten im Gesundheitsseminar. Er verweist etwa auf eine Methode, die „schon der Nobelpreisträger Linus Pauling681 bewiesen“ (V2G, Z. 214) habe. Hier wird nicht nur der Name, sondern zugleich die hohe wissenschaftliche Reputation des Gewährsmannes angeführt, die ihn als Träger einer äußerst prestigeträchtigen Auszeichnung ausweist. Auch der Verweis „auf die Forschung des Japaners Emoto682“ (V2G, Z. 220f.) ist bemerkenswert. Wird hier auch keine weitere Qualifikation des Forschers explizit erwähnt, so ist dieser im Kontext alternativmedizinischer AnwenderInnen und PatientInnen so bekannt, dass seine Forschungsergebnisse für sich eine hohe Reputation genießen, sei es aufgrund seines Doktortitels, sei es aufgrund der als spektakulär dargestellten Ergebnisse. Summarisch ist zu ergänzen, dass in weiteren Passagen der Beobachtungen auf Personen und ihre Verortung im Wissenschaftskontext verwiesen wird (etwa durch die Nennung akademischer Titel o. ä.), auf die sich die Referierenden in ihrer Arbeit sowie ihren Deutungen beziehen (z. B. V2G, Z. 289; FN 3; V1R, Z. 326; im Blick auf die Qualifikation der Referierenden selbst vgl. V3T, Z. 286). 6.6.3 Anbindung an die Wissenschaft Ebenfalls sehr deutlich wird der Bezug zu Wissenschaftlichkeit und Faktizität bei den Codes, die über die Nennung von Autoritäten hinaus eine Anbindung an Wissenschaftlichkeit bzw. an das System Wissenschaft markieren. In Kontext dieser Codierungen geht es um die Thematisierung von Nachweisbarkeit und Verifizie680 Vgl. FN 573. 681 Linus Pauling (1901-1994), US-amerikanischer Chemiker. 1954 Nobelpreis für Chemie für seine Forschung über die Natur chemischer Bindungen; 1962 Friedensnobelpreis für den Einsatz gegen Atomwaffentests. 682 Masuru Emoto (1943-2014), japanischer Alternativmediziner mit Doktortitel der indischen ,International Open University‘. Seine These ist, dass Wasser ein Gedächtnis habe und Einflüsse von Gedanken und Gefühlen aufnehmen könne. Diese äußerten sich in der Kristallstruktur des gefrorenen Wassers. Für seine Experimente beschriftete Emoto Flaschen mit Wasser mit unterschiedlichen Worten („Krieg“, „Hass“, „Liebe“, „Danke“ u. a.), ließ das Wasser gefrieren und fotografierte die darin entstandenen Kristalle. Seiner Theorie zufolge bildete das Wasser in den Flaschen mit positiven Botschaften vollkommene, das in den Flaschen mit negativen Botschaften unvollkommene, ungleichmäßige Kristallstrukturen aus.
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rung, um Fragen von Professionalisierung und Zertifizierung, um verschiedene Modi der Anerkennung, die über den Bezug zum Wissenschaftssystem hergestellt werden soll. Der folgende Ausschnitt aus dem Gespräch mit Marlene gibt ein Beispiel für das Anliegen, eine Anbindung an Wissenschaftlichkeit herzustellen. Die Heilpraktikerin berichtet davon, dass sie kürzlich eine Homöopathieausbildung abgeschlossen und darüber ein Zertifikat erhalten habe. Dazu führt sie konkreter aus: Das ist dann zertifiziert. Also man versucht schon, in der Naturgeschichte irgendwo ein Qualitätssiegel draufzusetzen. Also sie haben das in gute Bereiche jetzt so eingeteilt, dass man es nachweisen kann, dass man irgendwo-, jetzt nicht die Homöopathie, ist ja nachgewiesen in Indien, aber hier jetzt noch nicht so ganz, aber ich meine jetzt, dass sie es nachweisen können, wie man nun qualitativ arbeitet, wie eine qualitative Arbeit-, wie ein Vorgehen aufgebaut ist, wie man sich sozusagen verhalten kann, ein bisschen professioneller zu arbeiten. Und dafür steht dann halt dieses Siegel. Interview Marlene, Z. 259-265
Um deutlich zu machen, dass die Ausbildung nachvollziehbaren Kriterien folge und diese auch überprüft werden könnten, weist die Heilpraktikerin auf eine Strukturierung der Ausbildung „in gute Bereiche“, die „man […] nachweisen kann“ hin. Diese Einteilung diene dem Ziel der Überprüfbarkeit, der Möglichkeit, nachzuweisen, dass hier „eine qualitative Arbeit“ geleistet werde und schließlich, um „irgendwo ein Qualitätssiegel draufzusetzen“. Deutlich wird durch das hier beschriebene Vorgehen ein Streben der Ausbildungsinstitution nach Professionalität und Anerkennung. Die Homöopathieschule, die die Heilpraktikerin besucht hat, scheint im Vergleich mit anderen Bildungsinstitutionen einen Mangel an Anerkennung darin wahrzunehmen, dass keine Zertifizierung durchgeführt werden kann. Um dieses Manko zu beheben, wurden überprüfbare Standards eingeführt, die zur Qualitätssicherung beitragen und dazu dienen sollen, die Ausbildung „ein bisschen professioneller“ zu gestalten. Hierin findet ein Prozess der Angleichung und Anbindung an ein bestehendes (Wissenschafts-)System statt, als die dort gegebenen Voraussetzungen (fachliche Differenzierung, verbindliche Standards, Prüfungskriterien, Vergabe von Zertifikaten) für das eigene System übernommen werden. Dass dabei nur in einer Randbemerkung auf den Inhalt der Ausbildung eingegangen wird, ist insofern plausibel, als es hier für die Heilpraktikerin keinen Diskussionsbedarf gibt. Nicht der Homöopathie selbst fehle die Anerkennung, sie sei „nachgewiesen in Indien“, sondern lediglich für das Ausbildungssystem bestehe die Notwendigkeit, es durch „dieses Siegel“ zu qualifizieren. Ein besonders zentraler Themenkomplex, mit dem sich alle interviewten HeilpraktikerInnen auseinandersetzen und in dem sich die Frage nach dem Verhältnis
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zur Wissenschaftlichkeit in unterschiedlicher Weise spiegelt, ist die Schulmedizin. Der Umgang mit diesem System ist sehr divers und bildet von strikter Ablehnung über das Zuweisen bestimmter, abgegrenzter Zuständigkeitsbereiche bis hin zu einer starken Anbindung inklusive personaler Überschneidungen ein ganzes Spektrum an Möglichkeiten ab. Eine starke Ablehnung der Schulmedizin wird im Gespräch mit Marisa deutlich. Schon ihre Beschreibung der Heilpraktikerprüfung, in der sie sich als angehende Heilpraktikerin mit Schulmedizin auseinandersetzen und ihr Wissen gegenüber einer Prüfungskommission des Gesundheitsamts unter Beweis stellen musste, zeigt klar ihre Skepsis. Bin ich in die Schule [eine Heilpraktikerschule; Anm. P. S.] gegangen, habe mich durchgequält, habe das Zeug gelernt. Also, es ist ja ein Medizinstudium, von den ersten vier Studienjahren, was die im Grundstudium auch haben. Habe meine Nerven zusammen gehalten und habe nachweisen können, dass ich das bringe. […] Und ich denke, es geht nicht in der Prüfung nicht um die Inhalte, ich denke nur darum, dass du schaffst, vor vier Schulmedizinern nicht unterzugehen. Interview Marisa, Z. 170-175
Marisa hat die Heilpraktikerprüfung bestanden, den Stoff eines Medizin-Grundstudiums gelernt, wie sie sagt, und schätzt diese Prüfung doch so ein, dass es „nicht um die Inhalte“ gegangen sei, sondern darum, „dass du schaffst, vor vier Schulmedizinern nicht unterzugehen“. Sich gegenüber einem System beweisen zu müssen, das soweit anerkannt und unhinterfragt ist, dass es die Bedingungen für die Zulassung von ‚Alternativen‘ bestimmen kann, ist für diese Heilpraktikerin das eigentliche Thema hinter der Zulassungsprüfung. Auch sprachlich kommt ihre Ablehnung des Systems (und seines Machtanspruchs) zum Ausdruck. Sie habe „das Zeug“ halt gelernt, das für die Prüfung notwendig gewesen sei. Noch deutlicher wird Marisas Sprache im weiteren Verlauf des Gesprächs. Die Tabletten, die ein Arzt einer ihrer KlientInnen verschreiben wolle, hält Marisa für „irgendein Hammerzeug wahrscheinlich“ (IMw, Z. 852). Als sie sich darüber empört, dass „alle […] Antibiotika“ (IMw, Z. 887) verabreicht bekämen, bezeichnet sie eine solche Medikation als „Bombe“ (IMw, Z. 890). Im Kontext von Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen wird die Punktionsnadel zur Fruchtwasseruntersuchung als „Monsternadel“ (IMw, Z. 965) bezeichnet und besonders ablehnend ist Marisas Haltung bei der Diagnostik von Krebs. Da es „nachweislich“ (IMw, Z. 724) möglich sei, dass Krebs sich zurückbilde, bezeichnet die Heilpraktikerin „Krebsdiagnosen“ (IMw, Z. 724) als „Todesurteile“ (IMw, Z. 725), die „die Leute […] programmieren mit solchen Sterbeurteilen“ (IMw, Z. 725f.), so dass diese schließlich „nicht an der Erkrankung, sondern an Diagnosen“ (IMw, Z. 732f.)
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sterben würden. Wie hier aus der Semantik und im folgenden Zitat deutlich wird, ist die Kritik von Marisa am schulmedizinischen System umfänglich. Das ist ein pervertiertes System, das mit wirtschaftlichen Interessen-. Das geht doch nicht, das geht doch einfach nicht. […] Die dann auch eine Gefahr werden für dich, weil eben Sachen gemacht werden, an denen man nur verdient, weil, ja, dich in die Röhre zu schicken, gutes Geld bringt, ob du da gerade verstrahlst oder nicht. Interview Marisa, Z. 945-950
Bei aller strikten Ablehnung der Schulmedizin ist die Anbindung an das Wissenschaftssystem für Marisa dennoch von Interesse. Dies ist insofern für die vorliegende Untersuchung bemerkenswert, als es Marsia nicht um eine inhaltliche Anbindung wie die Bekräftigung der eigenen Deutung durch Studienergebnisse geht, sondern um die Nutzung der Strukturen einer wissenschaftlichen Institution zur Generierung von Anerkennung. Zu einem Vortrag, den Marisa organisiert, lädt sie in Räume der Universität ein – „Marketing“ (IMw, Z. 621). Bei dem besprochenen Thema würden „die Leute“ (IMw, Z. 620) sonst denken, sie spinne. „Also brauchst du doch irgendwas, dass es seriös wirkt.“ (IMw, Z. 621) Diese „Seriosität“ (IMw, Z. 627) generiert sie über die Institution Universität und damit über die Anbindung ans Wissenschaftssystem. Eine weniger strikte Haltung findet sich in den Gesprächen mit Heidrun und Jessica. Hier ist zu beobachten, dass die evidenzbasierte Medizin nicht komplett abgelehnt, aber insofern deutlich in Frage gestellt wird, als ihr bestimmte, sehr begrenzte Bereiche zugewiesen werden, in denen sie ihre Berechtigung habe. Heidrun hebt hier besonders den medizinischen „Notfall“ (IHw, Z. 174) hervor, in dem es „total gut [ist], dass es dann eine medizinische Versorgung gibt“ (IHw, Z. 174f.).683 Für Jessica hat die Arbeit der Schulmedizin ebenfalls ihre Berechtigung, 683 Die weniger strikte Ablehnung und zugleich ausgesprochen ambivalente Haltung Heidruns zu verschiedenen medizinischen Systemen wird im folgenden Zitat deutlich. Für Heidrun ist die Verbindung östlicher und westlicher Medizin ein erstrebenswertes Ziel. Dabei lobt sie die „feine und tiefwirkende“ (Z. 260) Herangehensweise, die sich in der chinesischen Medizin entwickelt habe einerseits, hebt aber auch hervor, dass in Europa dagegen früher „schon organisch viel konkreter hingeguckt“ (Z. 262) wurde. „Und das faszinierte mich dann wieder, wie ich davon hörte, dass dort die Anatomie-, also (#00:21:16#) die Medizin sich anders entwickeln konnte, weil es gab die Art der Leichenöffnung, bei uns in Europa ja, dort nicht und dort gab es maximal einen Heiler, der die Pulsdiagnose-, äh, also, wo dann jemand in der Sänfte getragen wurde, dann gerade mal so der Anblick des Armes war gestattet, dann die Pulsdiagnose; und dass sich aufgrund dessen so eine feine und tiefwirkende Methode entwickeln
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zugleich sei sie aber überzeugt, „dass Schulmedi-, welche Medizin es auch-, es hat jede Medizin ihre Grenzen“ (IJw, Z. 17f.). Einige InterviewpartnerInnen haben einen engen Bezug zur Schulmedizin, da sie selbst über eine medizinische Ausbildung verfügen. Jessica, Edith und Cornelia sind gelernte Krankenschwestern, Marlene ist Physiotherapeutin. Besonders im Gespräch mit Edith zeigt sich eine starke Bindung zur Schulmedizin. Bei einer Anwendung weist sie etwa darauf hin, sie arbeite in diesem Fall so, wie es „auch in der Klinik zum Beispiel gemacht“ (IEw, Z. 142) würde. Auch gibt sie zu bedenken, dass in Sachen Naturheilkunde oder auch Homöopathie die Ausbildung von ÄrztInnen und HeilpraktikerInnen durchaus vergleichbar sei, so dass sie „auch immer nicht verstehe“ (IEw, Z. 576), wieso die Kosten bei einer Behandlung durch ÄrztInnen von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen werde, nicht aber, wenn die gleiche Behandlung durch eine Heilpraktikerin oder einen Heilpraktiker durchgeführt werde. Dass Personen sowohl in alternativer Heilkunde als auch schulmedizinische Ausbildungen absolviert hatten und es daher zu Überschneidungen kam, war auch bei zwei der besuchten Veranstaltungen zu beobachten. Besonders deutlich wurde dies bei der Tagung, die von zahlreichen ÄrztInnen begleitet, geleitet, moderiert und als TeilnehmerInnen besucht wurde.684 Auch in der Semantik waren hier deutliche Überlagerungen zu finden, etwa wenn es um das „Anamnese-Instrumentarium“ (V3T, Z. 202)685 ging, das im Kontext der Heilmethode der Lehrerin angewandt wird. Auch im Zusammenhang des besuchten Heilungstages wurde die konnte, das finde ich irgendwie so verrückt. Wie was entsteht dann auch, ne. Bei uns in Europa wurde schon organisch viel konkreter hingeguckt […]“. (IHw, Z. 255-262) 684 Vgl. V3T, Z. 55; 105; 204; 279 u. ö. Im Gespräch mit einer Therapeutin erwähnte diese auch, dass sie für diese Veranstaltung Fortbildungspunkte angerechnet bekäme, von denen sie jährlich eine bestimmte Anzahl bei der Krankenkasse nachweisen müsse. 685 Beschrieben wird die hier angewandte Anamnese-Methode als „Kombination aus medizinischer Anamnese und geistig-spirituellen Aspekten“. (V3T, Z. 207f.) Dabei werde „[z]uerst […] eine medizinische Anamnese auf der Körperebene durchgeführt und daran anschließend die ‚Verbindung von Körper, Seele und Geist‘ hergestellt, indem psychisch-seelische Belastungen abgefragt und aufgenommen würden. Dieser zweite Teil der Anamnese erfolge anhand der ‚Farbgebung der Chakren‘, da viele Symptome, wie etwa Ängste oder Depressionen etc. auftreten würden, ‚wenn die Chakren nicht gut fließen‘. Abgefragt würden in der Anamnese verschiedene Bereiche, etwa nach der Herkunftsfamilie, nach den ‚Schattenseiten‘ des Patienten und so entstünde ein Bild, das die ‚spirituellen Qualitäten‘ der Person im Farbschema der Chakren abbilde.“ (V3T, Z. 210-217)
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Anbindung an das wissenschaftliche System Schulmedizin durch die Person einer Ärztin verkörpert. Diese nahm an der Veranstaltung als Assistentin des Heilers teil und wurde von diesem als besonders aufgeschlossen gelobt, da sie verschiedene medizinische Systeme wie Schulmedizin und Homöopathie kombiniere.686 Bemerkenswert ist, dass der Heiler trotz der ihm durch den Kreis seiner MitarbeiterInnen sowie durch die Teilnehmenden entgegengebrachten Anerkennung eine Anbindung an das schulmedizinische System sucht, indem er eine Ärztin ins Team seiner AssistentInnen aufnimmt, um auch in diesem Bereich Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft zu generieren und die durch ihn ausgesprochenen Deutungen auf diese Weise zusätzlich abzusichern. Jenseits der Verbindung zur evidenzbasierten Medizin werden auch andere Wissenschaftsbereiche aufgerufen, um die eigenen Haltungen und Arbeitsweisen zu qualifizieren. Jessica etwa bindet ihre Überzeugung im Blick auf eine von ihr angewandte Methode an die Evolutionstheorie an, die von ihr als gültig vorausgesetzt und als Argument für die Übertragung dieser Methode auf ihre PatientInnen herangezogen wird, schließlich hätten Tiere „mithilfe dieses Überlebensprinzips die ganze Evolutionsgeschichte“ (IJw, Z. 434) überlebt. Die wissenschaftliche Kontextualisierung, die Josefine anstrebt, bindet sich dagegen nicht an die Biologie, sondern zieht eine Linie zur Physik. Sie macht dabei im Kontext der Aussagen zu ihrer Arbeit und besonders in Bezug auf ihren Energiebegriff immer wieder deutlich, dass sie gängigen Prinzipien der Physik folge. Ich glaube auch irgendwo an das Universum und dass wir irgendwo entstanden sind. Aber mehr in Richtung Physik. Mehr so-, alles noch, was man so ein bisschen erklären kann. Wo man sagt, Energie kann man nicht töten, die kann man nur umwandeln. Das ist ein ganz normales Energiegesetz. Man kann Energie nur umwandeln […]. Interview Josefine, Z. 243-247
Wie in diesem Ausschnitt verweist Josefine noch mehrmals darauf, dass ihre Überzeugungen „mehr in Richtung Physik“ gingen und sie „nicht von spirituellen Geschichten“ (IJow, Z. 185) spreche. Vielmehr spreche sie „von Physik, von Atomen und Molekülen […], von Molekülketten“ (IJow, Z. 185ff.). Auch im Blick auf die Wirksamkeit der von ihr angewandten Methoden, etwa in der Anwendung eines Mantras, argumentiert Josefine mit der Analogie zu Prinzipien, die sie für im Bereich der Physik nachgewiesen hält.
686 V4H, Z. 92ff.
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Und wenn man dem Mantra eine gewisse Kraft zusagt, und ganz viele Menschen dieses Mantra auch benutzen, dann hat es auch eine gewisse Wirkung. Das hat man auch in der, in der Physik gesehen. Dass, wenn man sich auf gewisse Dinge konzentriert, die stärker und stärker werden. Interview Josefine, Z. 229-232
6.6.4 Infragestellung von Wissenschaftlichkeit Bei allem Streben nach Anbindung an das Wissenschaftssystem, wie es in den Ausführungen zu den drei vorangegangenen Subkategorien deutlich wurde, und der Adaption von in der Wissenschaft gängiger Methodik, wird im erhobenen Material auch Kritik an Wissenschaft und ihrer Erkenntnisgewinnung sichtbar. Dieses Thema wird unter der Codierung Infragestellung von Wissenschaftlichkeit zusammengefasst und nimmt Textpassagen auf, in denen das System Wissenschaft allgemein bzw. speziell die Möglichkeiten der Wissenschaft als adäquate Instanz zur Generierung von Wissen, Überzeugung, Deutung, Wahrheit, Erkenntnis o. ä. in Frage gestellt wird. Im Gespräch mit Edith wird die Grenze, die der wissenschaftlichen Methode zugeschrieben wird, deutlich markiert. In der Interviewpassage, die sich mit dem Nachweis der Wirkungen von Homöopathie auseinandersetzt, weist Edith zwar auf Studien zu diesem Thema hin, zeigt aber zugleich auch deren Beschränkung auf. Oder Homöopathie. Ich meine, klar, sind die Studien, geben die Studien da nicht wirklich oder kommen die Studien da nicht so richtig voran und ob das wirklich jetzt Placeboeffekt ist oder nicht, das ist-, wird ja immer wieder so besprochen. Aber ich denke, die Erfahrung muss jeder selbst machen. Wenn ich mich-, wenn ich mit starken Schmerzen komme und danach aber die Schmerzen wie verschwunden sind, was nach einer homöopathischen Behandlung auch teilweise wirklich möglich ist, dann fragt man sich nicht, ob das jetzt-, wie die Studien gelaufen sind, sondern man merkt es. Einfach spüren und: Wer heilt, hat Recht, sozusagen. [Lachen] Das war mal so der Spruch, den alle sagen. Aber nicht alles kann man nachforschen, oder -, das geht einfach nicht. Ja. Interview Edith, Z. 636-644
Die Grenzen der Forschung liegen da, wo eine „Erfahrung“ selbst gemacht werden muss, die sich nicht über wissenschaftliche Studien abbilden lässt. Für Edith besteht kein qualitativer Unterschied zwischen der Erkenntnisgewinnung durch Forschung und der durch persönliche Erfahrung. Wenn die Wirksamkeit von Homöopathie via Studien nicht nachgewiesen werden könne – die Erfahrung gebe
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der Methode „Recht“.687 Denn, so ist die Heilpraktikerin überzeugt: „nicht alles kann man nachforschen […], das geht einfach nicht“.688 Auch für Marlene ist das Generieren von Erkenntnis über Wissenschaftlichkeit kein absolutes Gütekriterium. Nachdem sie ihre Arbeit vorgestellt und beschrieben hat, fasst sie dies auf folgende Weise zusammen: Also so ist immer mein Denken, vielleicht ist das total unwissenschaftlich, aber-. Also ich habe das jetzt nicht irgendwo-. Ich kann das jetzt nicht beweisen, ich kann das nur so-. Interview Marlene, Z. 452-453
Marlene betont, dass das, was sie im Gespräch dargestellt habe, kein formales, nachgewiesenes Verfahren, sondern „vielleicht […] total unwissenschaftlich“ sei. Dennoch speist sich daraus ihre Arbeitsweise, denn „so ist immer mein Denken“. 687 Das Rekurrieren auf diese Begründungsfigur ist insofern für die Heilpraktikerin naheliegend, als in der begrifflichen Vielfalt des Feldes auch die Bezeichnung „Erfahrungsmedizin“ für alternativmedizinische Verfahren gebraucht wird. Im englischsprachigen Raum wird dafür die Wendung traditional medicine genutzt, wobei es sich dabei um die „[t]raditionelle Medizin […] eines Landes oder einer Region, die – schriftlich oder mündlich überliefert – Erfahrungswissen und Heilpraktiken“ beinhaltet, handelt. Mitunter werden die v. a. auf Erfahrung beruhenden Methoden einer Überprüfung unterzogen, wobei die großen regionalen, kulturellen und religiösen Differenzen, die in der Ausformung dieser Medizinsysteme eine Rolle spielen, eine Systematisierung erschweren. Vgl. Hoefert, Hans-Wolfgang und Bernhard Uehleke: Komplementäre Heilverfahren im Gesundheitswesen. Analyse und Bewertung. Bern 2009. S. 17f. Zitat: S. 17. 688 Ediths Abwehr, man könne nicht alles erforschen, spiegelt auch die Vorstellung einer grundsätzlichen Unangemessenheit wissenschaftlicher Überprüfung im Blick auf (einige) alternative Heilmethoden wieder. Auch Katja und Cornelia stellen die wissenschaftlichen Prüfinstanzen indirekt in Frage, wenn sie darauf hinweisen, dass sie Erfolg oder Misserfolg ihrer Behandlungen nicht absehen oder methodisch kontrolliert vorhersagen könnten. Cornelia stellt dabei nüchtern fest: „[…] irgendwann geht es ihnen [den PatientInnen, Anm. P. S.] besser oder auch nicht. Ist so“ (ICw, Z. 171). Auf die Nachfrage, warum es ein Mal besser gehe und ein anderes Mal nicht, antwortet sie: „Tja, ich weiß es nicht“ (ICw, Z. 175). In einer entsprechenden Passage des Interviews mit Katja heißt es, es sei nicht vorhersagbar, ob die von ihr angewandte Methode wirklich dauerhaft wirksam sei: „Das hält manchmal ein Leben lang, manchmal hält es nur eine Weile, manchmal funktioniert es nicht.“ (IKw, Z. 441ff.) Und etwas später ergänzt sie: „Was bei dem einen funktioniert, funktioniert bei dem anderen nicht.“ (IKw, Z. 464)
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Auch wenn sie es nicht beweisen könne, sei ihre Arbeit durch diese Überzeugung geprägt. Dieses intuitive Wissen, welches Marlenes Handeln bestimmt, zeigt sich auch im Blick auf eine von ihr angewandte Methode, die ihrer Beschreibung nach nicht durch ein erlernbares Verfahren oder eine immer in gleicher Weise durchzuführende Methodik gekennzeichnet sei, sondern stark von ihr als Anbieterin geprägt sei, die jeweils die nächsten Schritte der Anwendung wisse. Wenig verwunderlich ist, dass auch im Gespräch mit Marisa Textpassagen codiert wurden, die eine Infragestellung von Wissenschaft als Erkenntnisprinzip und Wissenschaftlichkeit als Arbeitsmodus zum Ausdruck bringen, übt sie doch, wie gezeigt, rigorose Kritik an der wissenschaftlich basierten Medizin. Darüber hinaus weist sie auch Kategorisierungen (der Schulmedizin und) allgemein zurück. Sie arbeite nicht in einem Bereich, der Kategorisierungen erfordere, daher nehme sie eine solche Einteilung auch nicht vor, erklärt sie auf die Frage, was sie unter einer Krankheit verstehe. Also, dadurch, dass ich nicht aus der Schulmedizin komme und auch nicht so arbeite zum Beispiel wie die klassische Psychologie, muss ich das auch nicht kategorisieren. Da kommt jemand und der ist nicht im Gleichgewicht. Und was ich mache: Wir holen Stress aus seiner Situation raus, damit er wieder reguliert ist. […] Und mich fragt keiner, ich muss keine Diagnose stellen und ich muss es nicht kategorisieren und auch nicht nach schulmedizinischen Einheiten kategorisieren. […] […] zum Beispiel so eine Trauerphase, das ist schon auch ein starker, eine starke Erfahrung, eine starke traumatische Situation, die man erlebt hat. Oder die-, der Ursprung, warum diese Zahnarztangst da ist […]. Aber, das nun als Krankheit-? Also, wie gesagt, ich werde nicht aufgefordert, das einzuordnen und ich mache mir darüber auch keine Gedanken. Interview Marisa, Z. 418-436, Ausschnitte
Marisa lehnt die Einordnung ihrer Deutungen zu Gesundheit und Krankheit in vorgegebene Kategorien ab. Vielmehr hebt sie hervor, sie sehe ihre Arbeit in der Freiheit, „keine Diagnosen stellen“ und „nicht nach schulmedizinischen Einheiten kategorisieren“ zu müssen, „nicht aufgefordert [zu werden], das einzuordnen“ und sich daher über eine Systematisierung anhand von Kategorien „auch keine Gedanken“ machen zu müssen. Die Infragestellung der wissenschaftlichen Erkenntnismethodik erfolgt hier indirekt über das Heraustreten aus einem Kategorisierungssystem und postuliert zugleich eine Unabhängigkeit von wissenschaftlichen Kriterien und den durch die Wissenschaftscommunity vermittelten Prüfinstanzen. Neben der Abwehrhaltung gegenüber Kategorisierung ist auch die Ablehnung von Definitionen ein Indiz der Infragestellung wissenschaftlicher Arbeit und ihrer
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Methoden. Jessica und Josefine halten die Formulierung von Definitionen für Krankheit und Heilung für eine unangemessene Umgangsweise. Ne, so ist das im Prinzip mit Heilung auch, also: Was so richtig ist eigentlich Heilung? Wer kann das definieren? Also die WHO hat-. Es gibt ja inzwischen eine Definition, die also sagt, Gesundheit ist eben auch psychisch, also psychisches Wohlbefinden, ne. Aber wer genau kann das eigentlich schon sagen oder kann es definieren? Interview Jessica, Z. 167-171
Der Ausschnitt aus dem Interview mit Jessica zeigt, dass diese Heilpraktikerin auf die Frage nach ihrem Verständnis von Heilung689 mit einer grundsätzlichen Infragestellung von Definitionen reagiert. Wer könne das überhaupt „definieren“ oder es „eigentlich schon sagen“, was Heilung wirklich sei? Der von ihr angeführten Instanz, der WHO, kommt diese Kompetenz jedenfalls nicht (vollständig) zu. In ganz ähnlicher Weise schränkt auch Josefine die Möglichkeit der Begriffsbestimmung über Definition ein: „Und deswegen, gesund und krank ist so eine Definition, wo ich sagen würde: Ich glaube, das kann man nicht definieren.“ (IJow, Z. 110f.) Im Kontext der besuchten Veranstaltungen wurde z. T. in der Performanz eine Haltung zu Fragen wissenschaftlicher Nachweisbarkeit ersichtlich. Im Laufe des Reiki-Abends wurden verschiedentlich ‚Nachweise‘ über die Wirksamkeit von Reiki durchgeführt, die nicht über die Messung mithilfe technischer Geräte oder im Rahmen reproduzierbarer experimenteller Anordnungen stattfanden, sondern mithilfe von Übungen, die v. a. der Beobachterin zeigen sollten, dass Reiki existiere und funktioniere.690 Am Ende des Abends wurde die Wirkung eines durch die Meisterin aktivierten „Schutzgeist[es]“ (V1R, Z. 322) von den Teilnehmerinnen
689 „Was würden Sie Ihrer Erfahrung nach sagen, was Heilung ist, oder wie Heilung geschieht?“ (IJw, Z. 159f.) 690 „Nach dieser Einführung und der Ankündigung, nun bald zum praktischen Teil überzugehen, gibt es eine Praxisprobe. Um der Beobachterin zu ‚beweisen‘, dass es die universelle Energie in jedem Körper gibt und dass das Konzept von Energieübertragung funktioniert, werden alle aufgefordert, eine kleine Übung zu machen. Dazu werden die Hände vor die Brust gehalten, so dass sich die Handflächen parallel gegenüberstehen. Nun werden alle aufgefordert, der ‚Energie‘ zwischen den Händen nachzuspüren. Auf die Frage, ob alle die ‚Energie‘ spüren, gibt es große Zustimmung. Alle sollen auch noch ausprobieren, wie weit sie die Hände auseinander nehmen können, um immer noch die ‚Energie‘ zu spüren, die zwischen den Handflächen fließe.“ (V1R, Z. 162-170)
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aufgrund des eigenen Erlebens als bewiesen angenommen.691 Auch die Reaktion auf die Frage nach der Möglichkeit, Reiki zu erlernen, lässt sich als Anfrage an das Denken in Methodenstrukturen lesen. Reiki werde nicht methodisch gelehrt, so die Meisterin, sondern über „Einweihungen“ (V1R, Z. 157) weitergegeben. Beim Heilungstag stellt ebenfalls die angewandte Heilungsweise selbst wissenschaftliche Konzeptionen und Anforderungen in Frage. Obwohl der Leiter der Gruppe, der bei diesem Tag die Heilungshandlungen vornimmt, eine Heilpraktiker-Ausbildung hat, ist seine Arbeitsweise nicht an methodische Vorgaben geknüpft bzw. lassen sich keine entsprechenden Kriterien aufzeigen. Vielmehr wird betont, der Heiler arbeite „aus dem inneren Sehen“ (V4H, Z. 68) und auch eine von seiner Assistentin durchgeführte Behandlung wird als ‚Sehen‘ in der PatientIn und nicht als methodisch geleitete Anwendung beschrieben (vgl. V4H, Z. 143ff.). Das Gesundheitsseminar, in welchem weniger die Performanz als der Vortrag des Referenten im Zentrum stand, weist zahlreiche Auseinandersetzungen mit dem Thema Wissenschaft auf und macht dabei auch immer wieder strikte Kritik am Wissenschaftssystem deutlich. So wirft der Referent etwa ‚der Wissenschaft‘ vor, sie ginge mit einem grundlegend falschen Erkenntnisinteresse an ihre Beobachtungsgegenstände heran. Die Homöopathie etwa habe dagegen schon immer eine andere Betrachtungsweise angewandt. „Heute würden diese Erkenntnisse sich auch in der Wissenschaft z. T. durchsetzen.“ (V4G, Z. 189) Im Verlauf seiner Ausführungen stellt der Referent immer wieder „das wirkliche Wissen“ (V4G, Z. 290) dem gegenüber, was den PatientInnen durch Ärzte, Wissenschaftler und Medien als solches vermittelt werde. So erhält der Vortrag letztlich die Struktur einer Gegenüberstellung des ‚wirklichen Wissens‘ und anderer Erkenntnisweisen und stellt darin auch Wissenschaftlichkeit als Methode der Erkenntnisgewinnung in Frage. 6.6.5 Fazit: Wissenschaftlichkeit und Faktizität Die Orientierungskategorie Wissenschaftlichkeit und Faktizität wurde in allen Interviews codiert und spielt zudem in allen beobachteten Veranstaltungen eine Rolle. Es zeigt sich, dass in dieser Kategorie der Deutungsmachtanalyse ein wichtiges 691 „Die Teilnehmerin, die zuvor auf die ‚energetische Unruhe‘ hingewiesen hat, sagt nun, wie angenehm es jetzt im Raum wäre, die vielen ‚umherschwirrenden Energien‘ und die Bewegung im Raum habe sich gelegt. ‚Was so ein [Schutzsymbol] so alles bewirkt‘, meint die Kursleiterin. Auf Nachfrage erklärt sie: ‚Nachdem Du vorhin gesagt hast, hier wäre so viel unruhige Energie, die herumschwirrt, habe ich mal einen [Schutzgeist] aktiviert.‘ Alle Teilnehmerinnen sind begeistert von dem kausalen Zusammenhang, der sich hier zu zeigen scheint.“ (V1R, Z. 317-323)
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Auseinandersetzungsthema für die im Untersuchungsfeld befragten und beobachteten Personen liegt. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Verhältnisbestimmung zum System der evidenzbasierten, (natur-)wissenschaftlich orientieren Schulmedizin. Im Rekurrieren auf Studien zur Stabilisierung der eigenen Deutung wird eine im wissenschaftlichen Bereich essentielle Arbeitsweise aufgenommen. Allerdings zeigt das Material hier, dass zwar eine Anlehnung stattfindet, die Bedeutung der Zitation von Studien im Feld aber nicht an die in der Wissenschaft heranreicht. Neben Studien wird die (behauptete) Faktizität der eigenen Deutung zu einem wichtigen Begründungsmoment, wie die aufgeführten Beispiele zeigen. Häufig findet sich die Anlehnung an bekannte Personen sowie die Nennung der Namen von AutorInnen oder WissenschaftlerInnen. In der Analyse wurde dabei deutlich, dass nicht nur der Verweis auf die Person als solches, sondern auch und vor allem der Hinweis auf (akademische) Titel oder anderweitig erworbene Reputation ein wichtiges Instrument ist, um die eigene Deutung zu untermauern. Im Blick auf die Anbindung an die Wissenschaft und ihre Methoden ist aufgrund der vorgenommenen Analyse zu differenzieren. Während auf der einen Seite eine starke Anbindung an Wissenschaftsbereiche stattfindet und neben den akademischen Titeln einzelne Fachbereiche wie Physik oder Biologie als Referenzsysteme der eigenen Deutung herangezogen werden und auch im Blick auf die Zertifizierung von Methoden und Ausbildungen eine Annäherung an wissenschaftliche Institutionen stattfindet, wird in der Auseinandersetzung mit der Schulmedizin eine große Ambivalenz sichtbar, die zwischen vorsichtiger Anerkennung und strikter Ablehnung ein weites Spektrum von Haltungen abbildet. Dabei kann zugleich, wie das Beispiel von Marisa gezeigt hat, auf die Institutionen der Wissenschaft zurückgegriffen und ihre Glaubwürdigkeit in Anspruch genommen werden ohne dabei ihren Inhalten zuzustimmen. Auch die Frage der Anwendung von Geräten wird durch die Befragten ambivalent bewertet. So können Geräte als notwendig und in ihrer Wirkung für die PatientInnen als hilfreich gesehen werden und dennoch mehrheitlich von den AnbieterInnen mit Skepsis betrachtet werden. Die Kategorie der Infragestellung von Wissenschaftlichkeit wurde in verschiedenen Interviews zur Sprache gebracht. Als zentrales Anliegen dieses Themenbereiches lässt sich aus dem Material die Verhältnisbestimmung von Erfahrung und Überprüfbarkeit herausstellen. Stehen im Wissenschaftssystem Nachweise, Studien, Definitionen und Kategorien als Erkenntnis- und Strukturierungsweisen im Fokus, stellen sich in den Interviews und Beobachtungen des Untersuchungsfeldes v. a. persönliche Erfahrung und intuitives Wissen als wichtigste Fundamente der Erkenntnisgewinnung dar. Methoden und Kategorien können das durch die eigene Erfahrung generierte Wissen nicht ersetzen, sondern allenfalls ergänzen.
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6.7 GENESE Die Orientierungskategorie Genese wird in der vorliegenden Untersuchung ebenfalls als Suchraster der Deutungsmachtanalyse aufgenommen. Da Deutungsmacht im hier vorgeschlagenen Verständnis mit einer großen Nähe zu Evidenz und Selbstverständlichkeit versehen ist, wird sie in Prozessen des Werdens und Vergehens sichtbar (gemacht), wo die Evidenz schwindet oder eine alternative Deutung Selbstverständlichkeit gewinnt. Daher wird im empirischen Material nach der Genealogie von Deutungen gefragt. Die anhand der Codierungen gebildeten Subkategorien sind Veränderung und Entwicklung, Begründungsbedürftigkeit sowie Dauerhaftigkeit. 6.7.1 Veränderung und Entwicklung Textstellen, die über Veränderungs- und Entwicklungsprozesse Auskunft geben und entsprechend im Material codiert wurden, werden unter der Überschrift Veränderung und Entwicklung zusammengefasst. Untersucht wird dabei, ob auf veränderte oder sich im Wandel befindliche Deutungen, Vorstellungen oder Überzeugungen explizit oder implizit durch die InterviewpartnerInnen verwiesen wird, ob auf die Veränderungsprozesse selbst ggf. hingewiesen oder diese negiert werden. Dabei stehen sowohl Veränderungen im Blick auf die Entwicklungen der Medizin im Fokus als auch darüber hinaus Hinweise auf kulturelle Entwicklungsprozesse. Im Gespräch mit Annita wird verschiedentlich auf solche Prozesse Bezug genommen, so dass dieses Interview exemplarisch zur Füllung dieser Kategorie herangezogen wird. Annita ist 50 Jahre alt. Sie arbeitet erst seit Kurzem als Heilpraktikerin. Zum Zeitpunkt des Interviews hat sie ihre Praxis in einer norddeutschen Mittelstadt seit etwa einen Jahr. Sie ist dabei, ihr Angebot auszubauen, arbeitet aber noch als Angestellte in einem Verwaltungsberuf, wo sie ihre Stundenzahl kontinuierlich auf wenige Stunden reduziert hat. Auslöser für ihren Weg zur Heilpraktikerin war neben dem grundsätzlichen, schon in der Kindheit beginnenden Fragen nach Lebens- und Weltzusammenhängen („Ah, was ist das? Mit den Sternen. Und warum?“ [IAw, Z. 20]) eine persönliche Krise, die zur Anwendung alternativer therapeutischer Verfahren führte. Im Anschluss an die eigene Therapie begann Annita selbst eine und dann nach und nach weitere therapeutische Ausbildungen sowie parallel die Heilpraktiker-Ausbildung. Sie bietet v. a. Psychologische Beratung und Gesprächstherapie an, erweitert ihr Angebot aber zunehmend auch um körpertherapeutische Methoden.
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Im Interview mit Annita spielt der Aspekt der Entwicklung und Veränderung von Überzeugungen auf zwei Ebenen eine Rolle. Zum einen beschäftigt Annita diese Frage im Blick auf ihre eigene Arbeit als Heilpraktikerin. Sie hat bereits verschiedene Ausbildungen absolviert, befindet sich zugleich noch auf der Suche und in einem Prozess des Kennenlernens neuer Methoden und Haltungen im Kontext therapeutischer Verfahren. Insofern sind auch ihre eigenen Überzeugungen nicht vollkommen fest und unveränderlich, vielmehr weist sie immer wieder darauf hin, dass sie neue Sichtweisen kennenlerne und vor diesem Hintergrund auch bisherige revidiere. Zum anderen beschäftigt dieser Prozess der Veränderbarkeit von Überzeugungen die Heilpraktikerin auch im Kontext der Frage, wie Menschen mit den Sichtweisen anderer und neu gewonnenen Erkenntnissen umgehen. Die von ihr praktizierte und favorisierte Integrale Psychologie beschreibt Annita schließlich als Methode (und Grundhaltung der Welt gegenüber), die Veränderungen von Deutungen nicht ausblendet, sondern die eigene Haltung um neue Überzeugungen ggf. erweitert und diese aufnimmt. [D]ie Integrale Psychologie oder Psychotherapie […] ist auch total spannend […]. Die beschreiben nochmal-, also, auch gar nichts neues, also, das, was es alles schon gibt, nur die haben das in so einen schönen Kontext gebracht. Also, so erklärt, wie eben Entwicklung vonstatten geht, also evolutionär, also, so von dem Atom, dann zum Molekül, zur Zelle, zum Organismus, meinetwegen jetzt zum Organismus Mensch, und so eben auch der Geist. Also, es gibt eben die verschiedenen Kulturstufen oder die verschiedenen Zeitalter, eben dass eben das irgendwann mal angefangen hat, da war es eben alles sehr mystisch, weil keiner wusste, was ist das. Und die Forschung oder der Geist hat sich immer weiterentwickelt, das Gehirn ja auch. Und dass es da immer weitergeht bis in die Spiritualität eben hinein, und dass es immer diese Schicht, die sind einfach da, und jede neue Geschichte, oder, oder, wie sagt man, Zeitgeschichte oder Kulturgeschichte befindet sich immer auf einer Ebene, die dann sagt: ‚Und wir sind jetzt die Neue. Alles andere ist jetzt alt und kann weg. Wir sind jetzt neu.‘ Und das ist irgendwie falsch so, nach der integralen Meinung, weil es ist alles da gewesen, schon immer, und es muss einfach nur integriert werden. So, und und indem man das dann integriert, bekommt es einfach ein größeres Bewusstsein […]. Interview Annita, Z. 292-309
Wie in einer evolutionären Abfolge gebe es, so Annitas Auffassung, „die verschiedenen Kulturstufen oder die verschiedenen Zeitalter“, die sich, aufeinander aufbauend, entwickelten. Für die Heilpraktikerin ist evident, dass sich diese Entwicklungsgeschichte, dass sich „Zeitgeschichte oder Kulturgeschichte“ quasi in „Schicht[en]“ übereinander aufbaue, dass alles „irgendwann mal angefangen hat“ und „sich immer weiterentwickelt“, sei es der biologische „Organismus“, „der Geist“ oder die Kultur. Dabei entstehe nichts Neues, vielmehr sei „alles da ge-
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wesen, schon immer“692. Eine Diskrepanz nimmt Annita dabei im Umgang mit diesen verschiedenen Schichten der Kultur und den zu unterschiedlichen Zeiten aktuellen Erkenntnissen wahr. Während neue Erkenntnisse z. T. als alternativ oder konträr angesehen würden, so dass sie ältere verdrängen und ersetzen müssten, wäre das Ideal der Heilpraktikerin eine Verbindung und Integration, ein ‚Aufheben‘ vergangener Überzeugungen in den Erkenntnissen der Gegenwart. Sie selbst bewertet Veränderungen positiv, „diese ganzen Forschungssachen […] und diese Erneuerung“ (Z. 565f.). [E]s ist auch gut, dass es diese ganzen Forschungssachen gibt und das, und diese Erneuerung und, und, und. Es wäre gut, das zusammenzubringen und nicht zu spalten. Und es gehört einfach auch zur menschlichen Entwicklung dazu. Selbst, also, evolutionär. Wir waren eben alle auch mal mystisch veranlagt und wussten nicht, warum jetzt ein Gewitter passiert, bis es eben klarer wurde. Interview Annita, Z. 565-569
Für Annita besteht eine Parallele zwischen der Entwicklung der Menschheit (bzw. jedes einzelnen Menschen) und der Veränderlichkeit von Überzeugungen. Da wir „alle auch mal mystisch veranlagt“ waren, uns aber über diese Haltung hinaus verändert und entwickelt hätten, weil „es […] einfach auch zur menschlichen Entwicklung dazu[gehört]“, ist eine Veränderung von Deutungen für sie grundsätzlich selbstverständlich. Veränderungen finden statt und gehören zum Menschen dazu. Im Blick auf die Untersuchungskategorie Genese zeigen die beiden zitierten Textausschnitte: In der expliziten Feststellung der Veränderlichkeit von beliefs und belief systems und in der Aufnahme veränderter Überzeugungen in das eigene Deutungssystem liegt ein starkes Moment für die eigene Argumentation: Eine aktuell vertretene Haltung muss nicht aufgrund (später) neu erworbener Erkenntnisse komplett verworfen werden. Vielmehr kann sie ergänzt, revidiert und erweitert werden und wird durch diese Prozesse nicht der Ungültigkeit überführt. Die zuvor überzeugenden Deutungen behalten ihre Geltung. Auch im Gespräch mit der Heilpraktikerin Jessica wird explizit, dass Begriffe und ihre Deutungen veränderlich sind und sich dies mitunter im Nebeneinander von Bestimmungen zeigt. So ist Jessica der Meinung, dass der moderne Gesundheitsbegriff grundsätzlich überdacht werden sollte. Sie betont, „[d]ass der Begriff von Gesundheit eigentlich ein anderer sein müsste als das, was wir so gesund nennen“ (IJw, Z. 19f.). Vor dem Hintergrund dieser Überzeugung entstand nicht nur ihr Wunsch, Heilpraktikerin zu werden und sich mit alternativen Heilmethoden auseinanderzusetzen, vielmehr formt diese Infragestellung eines aktuell vertrete692 Vgl. zu diesem Argument auch die Subkategorie Dauerhaftigkeit, s. u.
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nen Gesundheitsbegriffs insgesamt ihr belief system von Gesundheit und Krankheit. Ein Gesundheitsbegriff, „was wir so gesund nennen“ (IJw, Z. 19f.), der, der Selbstverständlichkeit in der Anwendung enthoben, zum Thema von Auseinandersetzungen und zum Gegenstand von Anfragen wird, führt die Struktur eines möglichen Konflikts von Deutungen exemplarisch vor Augen. Neben den bisher angeführten inhaltlichen Aspekten zeigen sich in den aufgezeichneten Gesprächen auch Aussagen, die stärker eine zeitliche Genese fokussieren. Heidrun weist bspw. auf die Differenzen in der Entwicklung der Medizin an unterschiedlichen geographischen Orten hin und lässt dabei eine zeitlich-kausale Vorstellung im Hintergrund erkennen. Und das faszinierte mich dann wieder, wie ich davon hörte, dass dort [in Asien; Anm. P. S.] die Anatomie-, also (#00:21:16#) die Medizin sich anders entwickeln konnte, weil es gab die Art der Leichenöffnung, bei uns in Europa ja, dort nicht und dort gab es maximal einen Heiler, der die Pulsdiagnose-, […] und dass sich aufgrund dessen so eine feine und tiefwirkende Methode entwickeln konnte, das finde ich irgendwie so verrückt. Wie was entsteht dann auch, ne. Bei uns in Europa wurde schon organisch viel konkreter hingeguckt und ich finde, dass das miteinander-, ja, wäre irgendwie schön, wenn das noch mehr einfließen könnte, auch in den Ausbildungen. Interview Heidrun, Z. 255-264
Deutlich wird in Heidruns Aussage ihre Vorstellung von Medizingeschichte als Entwicklungsgeschichte. Dass dabei verschiedene Ausgangspunkte und Wege für die Entwicklung gewählt wurden, macht die Gegenüberstellung deutlich, die auf der einen Seite die „Anatomie“ als Grundlage heranzieht, während auf der anderen Seite die „Pulsdiagnose“ den Ausgangspunkt bilde. Was anfangs als neutrale Gegenüberstellung von hier und „dort“ angelegt ist und die andere Entwicklung als sehr positive beschreibt, die eine „feine und tiefwirkende“ Medizin habe entstehen lassen und die Heilpraktikerin daher „faszinierte“, wendet sich zugunsten einer hoch entwickelten europäischen Medizin und stellt diese letztlich als Maßstab dar. Während es in Asien „maximal“ Heiler und Pulsdiagnose gegeben habe, wurde „[b]ei uns in Europa […] schon organisch viel konkreter hingeguckt“. Die Formulierung macht deutlich, dass die Entwicklung im europäischen Kontext „schon“ weiter fortgeschritten gewesen sei und legt nahe, dass auch andere Entwicklungslinien schließlich diesem als Maßstab geltenden Weg folgen sollten. Dieser Haltung entspricht auch Heidruns Vorstellung, es wäre „irgendwie schön“ diese andere Sichtweise z. B. „auch in den Ausbildungen“ besser kennenzulernen – gravierende neue Erkenntnisse über die der europäischen Medizin hinaus scheint sie nicht zu erwarten.
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Ebenfalls auf der zeitlichen Achse kommt das Thema Differenzierung in den Blick; eine Entwicklung, auf die im Rahmen der Tagungsveranstaltung sowie im Gespräch mit Marisa explizit hingewiesen – und die mit einer eindeutigen Wertung versehen wird. Der zunehmende Grad an Differenzierung des medizinischen Systems und anderer Lebensbereiche wird dabei klar negativ bewertet. Bereits ausgeführt wurde die auf der Tagung vertretene Auffassung, die Entwicklungen der späten Moderne hätten im Blick auf Gesundheit und Heilung, aber auch im Allgemeinen auf das menschliche Leben, zu einer „Getrenntheit“ (V3T, Z. 422) geführt, zu einer Spezialisierung und Differenzierung, die verhindere, dass Menschen „Verbundenheit“ (V3T, Z. 133; Z. 478 u. ö.) und „Heilung“ (V3T, Z. 133; Z. 479) erführen und daher in jedem Fall nach einer Überwindung dieser negativen modernen Entwicklung zu streben sei. Im Gespräch mit Marisa wird dieser Aspekt noch deutlicher auf das Medizinsystem bezogen. Marisa kritisiert an der modernen „Schulmedizin“ (IMw, Z. 823), sie „separiert […] auch alles so“ (IMw, Z. 823). Im weiteren Verlauf des Gesprächs führt sie diese von ihr beobachtete und kritisierte Entwicklung noch detaillierter aus. [D]as ist das Gliedern der Schulmedizin in Einzelteile. Wir sind doch keine Maschinen wie ein Auto, das aus Rad, Getriebe, Motor und Zylinder besteht. Und wenn der Zylinder schwach macht, wechsele ich den aus. Nein, wir sind ein Mensch, das ist eine eine einemehr als die Summe der Teile, wir sind eine Einheit und du kannst das nicht so spezialisieren. Der Rückenarzt guckt sich nur den Rücken an, aber […] nicht dein Bett zu Hause und der weiß auch nicht, was du isst oder-. //hm// Diese ganzheitliche Betrachtung hat sich aufgrund der wissenschaftlichen Möglichkeiten immer mehr gesplittet, aber nicht zu unserm Besten. Interview Marisa, Z. 878-885
Bis in die bildliche Semantik hinein übernimmt Marisa hier eine Vorstellung, die sich v. a. in der Folge Descartes und in seiner Rezeption seit dem 18. Jh. verbreitete.693 Der Mensch wird dabei als wie eine Maschine aus Einzelteilen bestehend verstanden und – so der Nutzen, den die moderne Medizin aus dieser Denkweise entwickeln konnte – diese Teile können, sollte es notwendig sein, einzeln betrachtet, therapiert bzw. repariert und ggf. sogar ‚ersetzt‘ werden. Mit den großen Erfolgen dieser Vorstellung in der Medizin traten zugleich auch ihre Schattenseiten hervor und hier setzt Marisas Kritik am l‘homme machine-Modell an. Der Mensch sei eben „keine Maschine[…] wie ein Auto“, sondern eine „Einheit“, die „mehr [ist] als die Summe der Teile“. Laut Marisa kommt der Wissenschaft in diesem Pro693 Vgl. den Exkurs zum Verhältnis von Körper, Leib und Seele unter 3.2.2.1 und darin besonders die Verweise auf Descartes sowie La Mettrie.
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zess eine zentrale Rolle zu. „[A]ufgrund der wissenschaftlichen Möglichkeiten“ habe die Differenzierung immer weiter zugenommen, dabei sei aber zugleich eine Spaltung entstanden, die „nicht zu unserm Besten“ sei. Damit muss das Argument Marisas noch nicht als eine ‚früher war alles besser‘-Haltung verstanden werden, in der Entwicklung grundsätzlich degenerativ gedacht wird. Es findet sich aber eine Infragestellung, die deutlich macht, dass scheinbare Gegebenheiten wie eine bestimmte Perspektive auf den Menschen sich entwickelt haben und als gewordene kontingent sind. 6.7.2 Begründungsbedürftigkeit In dieselbe Richtung weisen die unter der Überschrift Begründungsbedürftigkeit subsumierten Textstellen, die ebenfalls Codierungen der Orientierungskategorie Genese zusammenfassen. Thematisch werden hier Passagen, die die Begründungsbedürftigkeit eines Argumentes hervorheben oder negieren. Dies geschieht bspw. über Formulierungen wie die, etwas sei für viele bekannt, etwas werde im Allgemeinen nicht angezweifelt o. ä. Die im Zusammenhang mit den kritisierten Entwicklungen des Medizinsystems im vorhergehenden Abschnitt herausgearbeiteten Infragestellungen von (geltenden) Konzepten, Kategorien oder Definitionen stehen hier erneut im Fokus, als durch die Infragestellung Kontingenz und Begründungsbedürftigkeit aufzeigt wird. Wenn eine als geltend anerkannte Konzeption selbst eine geschichtliche Entwicklung aufweist, anhand derer die Erlangung der Geltung sichtbar gemacht werden kann, wäre doch auch eine andere Entwicklung denkbar gewesen und es hätte sich unter diesen (anderen) Umständen auch eine andere Position als die gültige und anerkannte durchsetzen können. Einen solchen historischen Fall beschreibt Jessica im Interview im Blick auf eine grundlegende Erkenntnis der Medizingeschichte. Und das ist eine Geschichte, die bis in die 30er Jahre zurückgeht. Als ein-, also Robert Koch ja ganz groß im Kommen war oder schon ein anerkannter Arzt war, er aber einen Zeitgenossen hatte, den Professor Enderlein, der im Prinzip an gleichen Sachen, also an Bakterien, geforscht hat, aber andere Verfahren benutzt hat, und zwar die Dunkelfeldmikroskopie und gesehen hat, dass die Erreger, die sozusagen uns krank machen, sich doch anders entwickeln als angenommen wurde, ne, so. Und das eben so in unserem Körper auch passiert, und er auch gesehen hat, dass diese Erreger sozusagen ihre ganze Entwicklungs-, Evolutionsgeschichte, also so Mikroevolutionsgeschichte, dass man die auch wieder zurückschrauben kann. Und es gab immer ewig diesen Streit zwischen diesen beiden, ne. Denn Robert Koch sagt: ‚Die Erreger, die sind monomorph‘, das heißt, die sind so da, wie wir sie sehen. Und der Professor Enderlein hat aber etwas anderes gesehen in seinem
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Dunkelfeldmikroskop, dass sie sich erst entwickeln zu dem, was uns krank macht. Und das war so ein Streit zwischen denen. Interview Jessica, Z. 24-34
Dieser bemerkenswerte Abschnitt fokussiert einen Moment in der Geschichte der Medizin, in dem, laut Jessica, offen gewesen sei, welche der beiden vorgeschlagenen Deutungen sich als gültig erweisen und durchsetzen würde. Zwar sei Robert Koch schon „ein anerkannter Arzt“ gewesen, doch sein Kollege und Konkurrent in dieser Sache hat ebenfalls keine schlechte Position, ist er doch „Professor“ und forscht „im Prinzip an gleichen Sachen“. Lediglich die angewandten „Verfahren“ seien andere gewesen – und schließlich seien sie damit zu unterschiedlichen Erkenntnissen gelangt. Dass sich in der Folge jedoch jene und nicht diese Auffassung aus dem „Streit“ durchgesetzt habe, scheint für Jessica kontingent zu sein. Dies heißt aber auch, dass die Durchsetzung der einen Deutung gegenüber einer anderen als begründungsbedürftig eingestuft werden muss. Der hier nacherzählte Entwicklungsprozess einer gültigen Deutung kann als exemplarisch für den Prozess der Genese von Deutungsmacht gelesen werden. Auch die grundlegenden Begriffe des Untersuchungsfeldes selbst bzw. die Infragestellung der Möglichkeit, für die Phänomene treffende Definitionen zu finden, rücken das Thema Begründungsbedürftigkeit ins Zentrum. Mehrere InterviewpartnerInnen machen deutlich, dass sie gängige Auffassungen von Krankheit, Gesundheit oder Heilung in Frage stellen bzw. eine Festlegung von Begriffen in diesem Bereich für grundsätzlich ungenügend halten. Am Beispiel des Krankheitsbegriffs wird diese Haltung im Gespräch mit Doreen deutlich. Die Heilpraktikerin verweist darauf, dass sie sehr wohl Definitionen von Gesundheit und Krankheit kenne, es aber für notwendig halte, diese „nachzuforschen“ (Z. 230) und zu überdenken. Also, da gibt es natürlich Definitionen, ganz klar, wann ist eine Krankheit eine Krankheit, wann ist es chronisch und so weiter. Aber ich, dem möchte ich nicht unbedingt-, das heißt nicht, dass ich dem nicht folge, aber, weil Sie mich speziell jetzt gefragt haben, muss ich einfach so sagen, ist es alleine schon mal so ein bisschen es wert, nachzuforschen, genau an dem Punkt […]. Interview Doreen, Z. 227-230
Selbstverständlich ist dieser Heilpraktikerin die Kenntnis von Krankheits-„Definitionen“, zugleich verweist ihre Aussage auf einen ambivalenten Umgang mit diesen. Auf der einen Seite kennt sie die Definitionen und folgt ihnen, auf der anderen Seite hält sie es für sinnvoll, ihnen mit einem Vorbehalt zu begegnen. Deutlich wird hier, dass es sich um einen Reflexionsvorgang handelt. Während die
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Heilpraktikerin im Alltag sehr wohl mit bekannten Bezeichnungen operiert – und ganz pragmatisch nicht vor jeder Anwendung die grundlegenden Begriffe in Frage stellt – nimmt sie die Gelegenheit, „speziell jetzt gefragt“ worden zu sein, wahr, um auf die Begründungsbedürftigkeit einer Begriffsbestimmung von Krankheit hinzuweisen. Auch in den Gesprächen mit Jessica und Heidrun wird auf gängige Definitionen von Krankheit oder Gesundheit verwiesen,694 hier explizit auf die Gesundheitsdefinition der WHO.695 Diese bekannte und häufig zitierte Definition wirkt in den Gesprächen wie eine Hintergrundfolie der Gesundheitsbegriffe, ohne dabei jedoch als unangefochten geltend dargestellt zu werden. Vielmehr gilt, wie im Zitat aus dem Interview mit Doreen: Die Definition ist bekannt und wird unter bestimmten Gesichtspunkten als treffend angenommen, zugleich wird auf die Notwendigkeit verwiesen, sie zu hinterfragen. In diesem Nebeneinander stehen letztlich alle Deutungen zum Gesundheitsbegriff als gleichermaßen begründungsbedürftig da. Auch die Negation von Begründungsbedürftigkeit ist der hier ausgeführten Subkategorie zuzuordnen. Dabei wird in der Regel nicht explizit darauf verwiesen, dass eine Vorstellung nicht begründet werden müsse, vielmehr wird über die Formulierung einer (angenommenen oder behaupteten) allgemeinen Bekanntheit die Notwendigkeit einer Begründung indirekt negiert. Diese Form der Argumentation findet sich sowohl in den Interviews als auch im Kontext der beobachteten Veranstaltungen. Exemplarisch sei hier die Formulierung der Heilpraktikerin Marlene 694 „Ne, so ist das im Prinzip mit Heilung auch, also: Was so richtig ist eigentlich Heilung? Wer kann das definieren? Also die WHO hat-. Es gibt ja inzwischen eine Definition, die also sagt, Gesundheit ist eben auch psychisch, also psychisches Wohlbefinden, ne. Aber wer genau kann das eigentlich schon sagen oder kann es definieren? Gibt es überhaupt jemanden, der richtig heil ist?“ (IJw, Z. 167-171). „Also Gesundheit von der WHO ist ja auch definiert das fängt an äh bei Familie, also bin ich in einer Beziehung, mit anderen Menschen, beim Grundeinkommen, also stehe ich irgendwo da, hab eine Anerkennung, kann ich davon leben, was ich habe, wie bin ich im Vergleich mit anderen, das ist ja sehr sehr vielfältig, ne, also das durchzieht ja eigentlich alles.“ (IHw, Z. 111-115) „Das passiert schon und sehr wohl, […] aber das Gesamtpaket, so wie ich vorhin schon sagte von der WHO, dass jemand sowohl gesellschaftlich // mhm// mit seinem Beruf, mit seinem-, das ist, glaube ich, das ist so ein Bemühen, wo man täglich eigentlich mit beschäftigt ist, wenn man das möchte, ne, wo man wirklich auch guckt, was esse ich, wie pflege ich meine Freunde, meine Familie, wie pflege ich mich, mach ich Sport, mach ich kein Sport oder der nächste meditiert oder achtet auf seine Gedanken […].“ (IHw, Z. 417-423) 695 Vgl. FN 177.
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zitiert, die im Blick auf den Gewinn, den die durch sie angewandte Methode bringe, darauf hinweist, die behandelten Probleme der PatientInnen seien allgemein bekannt und ihre Behandlung daher notwendig. „Das kennt man ja […]“ (IMlw, Z. 442), sagt sie, in der beschriebenen Situation „überhaupt nicht in Verbindung mit sich“ (IMlw, Z. 443f.) zu sein und daher (z. B. durch eine entsprechende Behandlung) „nur den Zugang zu sich“ (IMlw, Z. 442) wieder herstellen zu müssen. Den Zusammenhang zwischen dem durch die Heilpraktikerin vorgestellten Problem und der von ihr angebotenen Behandlung näher zu begründen, wird unnötig, wenn ‚man‘ diese Phänomene selbst kennt. Auch Edith verwendet im Kontext der Beschreibung einer von ihr angewandten Methode eine ähnliche Formulierung. Sie behebe bei ihren PatientInnen häufig eine „Energieflussstörung“ (IEw, Z. 186; 188; 306 u. ö.). Auf die Nachfrage der Interviewerin im weiteren Gespräch, ob sie dazu die „Energien in dem […] Patienten [bewege]“ (IEw, Z. 333f.), antwortet die Heilpraktikerin: „Genau. Also, die Meridia-, nach den Meridianen. Was ja auch bekannt ist für viele.“ (IEw, Z. 335) Auch in diesem Fall macht die Heilpraktikerin deutlich, dass die Idee von Meridianen, die Frage nach einer Existenz dieser oder deren Eigenschaften für sie keiner näheren Erläuterung oder Begründung bedürften, da sie „ja auch bekannt [sind] für viele“. Auch auf den besuchten Veranstaltungen wurden Aussagen und Anwendungen mehrfach darüber plausibilisiert, dass ihre allgemein anerkannte Gültigkeit und ihre Bekanntheit herausgestellt wurden. Bei der Tagungsveranstaltung ging es etwa um die Perspektive zweier ReferentInnen auf die Grundsituation der Welt, die sie als „krank“ (V3T, Z. 112) bezeichneten. Auch wenn das Handeln der Menschen die Durchdringung mit dieser Erkenntnis nicht zeige – „[w]ir alle wissen das irgendwie“ (V3T, Z. 116), sind die Referierenden überzeugt. Während eines anderen Vortrags wird auf die Fähigkeit von Wasser hingewiesen, Informationen aufzunehmen und zu transportieren.696 Dabei stellt der Referent fest: „Konsens sei ja […] die ‚Wasser-Informations-Aufnahme‘ z. B. auch im ‚Besprechen‘. ‚Das weiß man ja seit Jahren.‘“ (V3T, Z. 337f.) Auch hier wird durch die Formulierung deutlich gemacht: Was „man“ „seit Jahren“ schon wisse, bedarf keiner weiteren Erläuterung oder ausführlichen Begründung.
696 Diese bei verschiedenen AnwenderInnen alternativmedizinischer Methoden weit verbreitete Annahme geht davon aus, dass Wasser die Fähigkeit besitze, ‚Informationen‘ verschiedener Art aufzunehmen und zu transportieren, etwa, indem das Wasser mit Wörtern positiver oder negativer Eigenschaften ‚besprochen‘ würde. Vgl. dazu auch FN 682 zu den Experimenten des Japaners Emoto, die in diesem Kontext häufig zitiert werden.
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Der Referent des Gesundheitsseminars verweist ebenfalls auf von ihm als allgemein bekannt postuliertes Wissen, um seine Aussagen zu untermauern. Wer aufrecht sitze, hätte die ‚Laopunkte‘ direkt übereinander positioniert und könne so sehr viel Energie aufnehmen und geradezu ‚bunkern‘. […] Auf die Bemerkung von F2, das erklä-
re auch, warum die Großmütter früher oft ermahnt hätten, man solle gerade sitzen, nämlich wegen der Energie, bemerkt M1, dies hätte doch aber vor allem etwas mit der Entlastung
der Wirbelsäule zu tun. Der Seminarleiter bekräftigt daraufhin die Aussage von F2, durch die Ergänzung, die ‚pure Energie‘, die durch das Geradesitzen in einen hineinfließe, sei wichtiger als alles, was man esse. Das hätte man eben früher schon gewusst.
Teilnehmende Beobachtung Gesundheitsseminar, Z. 342-352, Ausschnitte
In der hier beobachteten Szene nimmt die Formulierung des Referenten die Funktion ein, die Begründungsbedürftigkeit der eigenen Aussage zu negieren. Während eine Teilnehmerin die Erklärung des Referenten mit der ihr bekannten Erfahrung der Ermahnungen durch die Großmutter verknüpft und diese dadurch eine hohe Plausibilität erlangt, sieht ein anderer Teilnehmer die Aussage des Referenten kritisch und stellt ihr ein Gegenargument gegenüber. Der Referent hält hier mit weiterer Bekräftigung dagegen und schließt seine Ausführungen damit, die Aussagen seien richtig, denn „[d]as hätte man eben früher schon gewusst“. Eine unbestimmte Allgemeinheit („man“) stütze seine Erläuterungen durch ihr ‚Wissen‘ – weitere Begründungen seien hier nicht nötig. Dies scheinen auch die TeilnehmerInnen so zu empfinden, greift doch niemand weiter in diesen Gesprächsgang ein oder bekräftigt noch einmal das Argument von M1; vielmehr wird das kurze Gespräch mit diesem Satz definitiv beendet und ein thematischer Wechsel folgt.697 Die Formel des „früher schon“ weist zugleich auf die folgende Subkategorie hin, die auf die Dauerhaftigkeit bzw. das Alter oder die Tradition einer Deutung zielt und darüber Überzeugungskraft generiert. 6.7.3 Dauerhaftigkeit Eine wichtige Strategie, um die Geltung einer Deutung aufrecht zu erhalten (oder ggf. auch zu schaffen), ist die Argumentation über das Merkmal Dauerhaftigkeit. 697 Zusätzlich zu der zitierten Formulierung des Referenten, mit der eine weitere Diskussion bzw. ein Begründungsbedarf zurückgewiesen wird, ist auch auf die jeweilige soziale Position der GesprächspartnerInnen in dieser Situation hinzuweisen. Auch durch seine Macht als Leiter des Seminars ist es dem Referenten möglich, hier eine weitere Nachfrage nach Begründungszusammenhängen zu unterbinden, was im Gegensatz dazu dem fragenden Teilnehmer nicht ohne weiteres in seiner Rolle zustünde.
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Im Vorbringen dieses Argumentes wird darauf gezielt, etwas als ‚immer schon so‘ darzustellen und z. B. über Alter, Tradition, Verbreitung o. ä. die Wirksamkeit einer Anwendung oder Denkfigur zu belegen. Durch das Argument der Dauerhaftigkeit wird die Kontingenz einer Deutung und ihr Geworden-Sein verdeckt und Überzeugungskraft auf Grundlage von Evidenz generiert. Codierungen zu dieser Subkategorie wurden im erhobenen Material vielfach vergeben und finden sich in sieben von elf Interviewtexten. Bei Annita zeigt sich diese Argumentationsfigur in dem Gedanken, alle (wissenschaftlich) neu gewonnenen Erkenntnisse seien letztlich „schon da“ (Z. 243) gewesen und insofern vielmehr eine Wiederentdeckung denn wirklich eine Neuerung. Sie macht diese Vorstellung an ihrer „Erfahrung“ (Z. 242) ebenso fest wie an dem, was sie sich „noch so nebenbei auch anlese“ (Z. 242). Also, meine Erfahrung und das, was ich mir da noch so nebenbei auch anlese, ist, es ist alles schon da. Es war auch immer alles schon da zu jeder Zeit und es gab immer schon Menschen, die wussten genau schon das, was wir heute langsam immer mehr auch in der ganzen Forschung feststellen […]. Interview Annita, Z. 242-245
Deutlich zeigt sich in diesem Textausschnitt die Vorstellung eines dauerhaften Wissens, auf welches die Heilpraktikerin in ihren Methoden und Überzeugungen zurückgreift: „[A]lles [ist] schon da.“ Und sie geht noch einen Schritt weiter, indem sie nicht nur aufnimmt, was sie als allgemein verbreitet versteht und was nur hervorgehoben, entdeckt werden müsse – ihr belief system baut vielmehr auf Erkenntnissen auf, die „immer […] schon da“ gewesen seien, „zu jeder Zeit“. Zu verstehen ist dies als eine Art Welterkenntnis, ein altes, unveränderbares Wissen – ein solcher Fundus an Erkenntnissen steht der Heilpraktikerin zur Verfügung. Und nicht nur ihr, „immer schon [gab es] Menschen, die wussten genau schon das, was wir heute langsam immer mehr auch in der ganzen Forschung feststellen“. Ein solches dauerhaft vorhandenes Wissen, welches in der Moderne und durch Methoden der Moderne („Forschung“) wieder zugänglich gemacht werden muss und kann, stellt ein gewichtiges Argument dar, mit dem die Heilpraktikerin hier ihre Überzeugungen plausibel macht. Das Alter ist auch in anderen Gesprächen und Beobachtungen ein zentrales Argument für die Gewichtung einer Überzeugung oder einer Methode. Ähnlich der Argumentation über Natürlichkeit oder Normalität wird die Dauerhaftigkeit einer Deutung betont, um diese Deutung in ihrer Gültigkeit herauszuheben. Edith bringt dieses Motiv im Kontext von Akupunktur zur Sprache.
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Naja, Akupunktur, ich meine, das ist uralt, und das hat schon früher geholfen. Warum soll das jetzt nicht helfen? Und es hilft ja auch. Interview Edith, Z. 635-636
Edith führt in dem dem Zitat vorangehenden Abschnitt aus, dass sie eine Veränderung im medizinischen Sektor feststelle, etwa, wenn sie sehe, dass viele SchulmedizinerInnen ergänzend zu ihren bisherigen Angeboten auf alternative Heilkunde setzten. „Also scheint es nicht so schlecht zu sein“ (IEw, Z. 634), stellt sie fest, um dann zu ergänzen, dass sie dies auch nicht verwundere, sei doch bspw. Akupunktur „uralt“ und habe seit jeher gut geholfen. „Warum soll das jetzt nicht helfen?“ Das Alter einer Methode und ihre (der Heilpraktikerin evidente) Wirkung in der Vergangenheit wird hier zur Plausibilisierung für die Anwendung in der Gegenwart herangezogen. Auch für Cornelia ist das Alter einer Methode positiv konnotiert. So ist für sie „die alte, gute Naturheilkunde“ (ICw, Z. 106f.) den Herausforderungen der Gegenwart mitunter nicht gewachsen, so dass die Heilpraktikerin die Angebote in ihrer Praxis entsprechend ausbauen und anpassen musste.698 Der hohe und ausgesprochen positive Stellenwert, der dem Alter in der Argumentation für eine bestimmte Methode zukommt, wird auch im Kontext der Methode Reiki deutlich. So wird beim Reiki-Abend betont, dass Reiki „sehr altes Wissen“ (Z. 138) sei und auch die Gründungslegende um den Mönch Mikao Usui wird nicht als Erfindung von etwas Neuem, sondern als Wiederentdeckung einer alten, schon lange wirksamen Methode erzählt. Es folgt die Entstehungsgeschichte der Reikiverbreitung, die als Geschichte der Wiederentdeckung von Reiki erzählt wird (Reiki sei sehr altes Wissen, das Ende des 19. Jh. von einem Mönch namens Dr. Usui wiederentdeckt worden sei). Teilnehmende Beobachtung Reiki, Z. 136-139
Neben der bloßen positiven Darstellung von etwas als besonders alt und daher wirksam und gut, wird auch die Gegenüberstellung von ‚alt‘ und ‚neu‘ als Argumentationsfigur genutzt. Im Gegenüber von ‚Früher – Heute‘ sichert sich bspw. 698 Dabei wird im Gespräch mit Cornelia sehr deutlich, dass der ‚Fehler‘ nicht in der Naturheilkunde liege, die als „alt[…]“ (ICw, Z. 106) und „gut[…]“ (ICw, Z. 106), wenn auch „ein bisschen umständlich“ (ICw, Z. 97) beschrieben wird. Vielmehr seien verschiedene Umstände, etwa die starke Behandlung von Nahrungsmitteln (vgl. ICw, Z. 98ff.) ein Grund, dass die Naturheilkunde „auf die Dauer leider nicht mehr so geholfen“ (ICw, Z. 107) habe und ihre „Akzeptanz“ (ICw, Z. 107) daher abgenommen habe. Die Heilpraktikerin hat daraufhin ihr Angebot um andere Methoden erweitert.
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Heidrun ab und plausibilisiert darüber ihr eigenes Angebot. Sie verweist auf die Rolle, die „früher“ (Z. 190) den „Frauen untereinander“ (Z. 190) zukam und die sie „heute“ (Z. 191) in den spätmodernen Lebenszusammenhängen als verloren gegangen ansieht. Hier habe sie als Heilpraktikerin die Aufgabe, Wissen und Traditionen weiterzugeben, die schließlich jede Person brauche, etwa „wenn ein Baby geboren wird“ (Z. 192f.). Und das ist so, denke ich, früher waren das irgendwie die Frauen untereinander mit ihren Kräutern und Geschichten. So ist es eben heute, dieses Losgelöstsein, dass die Familien sich so auflösen, also durch das Auseinanderziehen, das Territorium wird größer und allein, wenn ein Baby geboren wird, zu wissen, wie, was. Interview Heidrun, Z. 190-193
In einer solchen Situation sehe sie ihre Aufgabe in „Aufklärung [und] Begleitung“ (IHw, Z. 194) und gebe Wissen weiter, welches sie, v. a. im Kontext von Gesundheit und Prävention, für besonders wichtig hält. Die Figur des ‚Früher – Heute‘ wird auch durch den Referenten des Gesundheitsseminars verwendet. Mit Bezug auf verschiedene Methoden und Überzeugungen greift er immer wieder das Thema Dauerhaftigkeit auf und verwendet das Alter als Plausibilisierungsargument. So werden etwa Traditionen der Hebammen von „früher“ (V2G, Z. 428) den veränderten Bedingungen bei Geburten „[h]eute“ (V2G, Z. 428) gegenübergestellt und letztere negativ bewertet. „Wo ‚alte Tipps und altes Wissen‘ nicht mehr beachtet würden, käme es zu schlechten Entwicklungen“ (V2G, Z. 431f.), ist der Referent überzeugt. Auch sehr allgemein kann das Alters hier geltend gemacht werden. Was „[d]ie Alten wussten“ (V2G, Z. 191), „die Hexen und andere“ (V2G, Z. 191), die „ja alle ausgerottet“ (V2G, Z. 191f.) worden seien, stelle für Menschen heute immer noch ein wichtiges Wissen dar und müsse wieder gelernt und verbreitet werden. 6.7.4 Fazit: Genese Die Orientierungskategorie Genese findet sich in verschiedenen Dokumenten der Materialsammlung. Dabei weisen die drei Subkategorien jeweils unterschiedliche Schwerpunkte darin auf, wie sie das Thema aufgreifen und behandeln. In der Subkategorie Veränderung und Entwicklung werden inhaltliche Veränderungen und zeitliche Entwicklungen explizit gemacht und so mit dem grundsätzlichen Verweis auf Veränderungen betont, dass scheinbare Gegebenheiten weniger klar, beständig und darin unbezweifelbar sind als es auf den ersten Blick scheinen mag. Deutungen sind veränderbar und entwickeln sich über unterschiedlich lange Zeiträume hinweg, so dass sie als kontingent und grundsätzlich auch anders vorstell-
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bar gelten müssen. Die gegenteilige Position wird in der Subkategorie Dauerhaftigkeit aufgenommen, die in einem ‚Immer schon so‘ die Genese und Veränderlichkeit von Überzeugungen negiert und bspw. über das Alter einer Methode oder Anschauung argumentiert. Beide Argumentationslinien werden mit den herausgearbeiteten Vorteilen, die sich für die Platzierung einer Deutung bieten, von den HeilpraktikerInnen genutzt, um ihre belief systems zu plausibilisieren. Im Austarieren von Gewordensein und Gegebenheit ist der Aspekt der Begründungsbedürftigkeit vorgestellt worden. Die unter dieser Bezeichnung aus dem Material zusammengetragenen Beispiele haben deutlich gemacht, dass Begründungsbedarf und analog dazu seine Ablehnung nicht zwangsläufig ausführliche Argumentationsketten braucht, sondern sich in alltagssprachlichen Wendungen wie ‚man‘, ‚es ist bekannt‘, ‚jeder weiß‘ o.ä. zeigt. Der Deutungsmachtanspruch, der über die Negation einer Begründungsbedürftigkeit erhoben wird, entfaltet sich darin so subtil wie wirksam.
6.8 PERSON Obwohl im Kontext der Deutungsmachtuntersuchung Aspekte personaler Macht nicht im Zentrum stehen, bilden sie einen wichtigen Faktor, um die Zusammenhänge der Entstehung von (Deutungs-)Macht zu untersuchen und zu verstehen. Unter verschiedenen Gesichtspunkten ist in der Orientierungskategorie Person daher der Frage nachzugehen, welche Einflüsse einzelne Personen, ihre Rollen, ihre Anerkennung oder auch die Auflösung einer zuvor bestehenden Anerkennung auf die Durchsetzung von Deutungen (oder Deutungsalternativen) haben. Die im empirischen Material vorgenommenen Codierungen wurden in dieser Orientierungskategorie zu fünf Subkategorien zusammengefasst und bilden die Themenbereiche Rolle, Amt bzw. Autorität, Charisma, Anerkennung durch RezipientInnen, Vorbilder / persönliche Beziehung und Infragestellung von Rollen und Autoritätszuschreibungen ab. 6.8.1 Rolle, Amt bzw. Autorität Die erste Subkategorie fasst Textpassagen zum Themenbereich Rolle, Amt bzw. Autorität zusammen. Codiert wurden hier Ausschnitte aus den Interviews sowie aus den Beobachtungsbeschreibungen, in denen Äußerungen oder Performanzen die Rolle oder das Amt einer Person besonders hervorhoben und sich darüber ggf. Mechanismen des Generierens von Autorität und (Deutungs-)Macht zeigen lassen. In besonderer Weise stehen dabei die HeilpraktikerInnen und Seminarlei-
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bar gelten müssen. Die gegenteilige Position wird in der Subkategorie Dauerhaftigkeit aufgenommen, die in einem ‚Immer schon so‘ die Genese und Veränderlichkeit von Überzeugungen negiert und bspw. über das Alter einer Methode oder Anschauung argumentiert. Beide Argumentationslinien werden mit den herausgearbeiteten Vorteilen, die sich für die Platzierung einer Deutung bieten, von den HeilpraktikerInnen genutzt, um ihre belief systems zu plausibilisieren. Im Austarieren von Gewordensein und Gegebenheit ist der Aspekt der Begründungsbedürftigkeit vorgestellt worden. Die unter dieser Bezeichnung aus dem Material zusammengetragenen Beispiele haben deutlich gemacht, dass Begründungsbedarf und analog dazu seine Ablehnung nicht zwangsläufig ausführliche Argumentationsketten braucht, sondern sich in alltagssprachlichen Wendungen wie ‚man‘, ‚es ist bekannt‘, ‚jeder weiß‘ o.ä. zeigt. Der Deutungsmachtanspruch, der über die Negation einer Begründungsbedürftigkeit erhoben wird, entfaltet sich darin so subtil wie wirksam.
6.8 PERSON Obwohl im Kontext der Deutungsmachtuntersuchung Aspekte personaler Macht nicht im Zentrum stehen, bilden sie einen wichtigen Faktor, um die Zusammenhänge der Entstehung von (Deutungs-)Macht zu untersuchen und zu verstehen. Unter verschiedenen Gesichtspunkten ist in der Orientierungskategorie Person daher der Frage nachzugehen, welche Einflüsse einzelne Personen, ihre Rollen, ihre Anerkennung oder auch die Auflösung einer zuvor bestehenden Anerkennung auf die Durchsetzung von Deutungen (oder Deutungsalternativen) haben. Die im empirischen Material vorgenommenen Codierungen wurden in dieser Orientierungskategorie zu fünf Subkategorien zusammengefasst und bilden die Themenbereiche Rolle, Amt bzw. Autorität, Charisma, Anerkennung durch RezipientInnen, Vorbilder / persönliche Beziehung und Infragestellung von Rollen und Autoritätszuschreibungen ab. 6.8.1 Rolle, Amt bzw. Autorität Die erste Subkategorie fasst Textpassagen zum Themenbereich Rolle, Amt bzw. Autorität zusammen. Codiert wurden hier Ausschnitte aus den Interviews sowie aus den Beobachtungsbeschreibungen, in denen Äußerungen oder Performanzen die Rolle oder das Amt einer Person besonders hervorhoben und sich darüber ggf. Mechanismen des Generierens von Autorität und (Deutungs-)Macht zeigen lassen. In besonderer Weise stehen dabei die HeilpraktikerInnen und Seminarlei-
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terInnen im Fokus, denen im Kontext der Veranstaltungen durch ihre Funktion als LeiterInnen eine herausgehobene Position zukommt. In den Interviews kommt das Thema besonders in der Auseinandersetzung mit der Rolle von ÄrztInnen und TherapeutInnen im schulmedizinischen Kontext zum Tragen. Dass sich im Rekurrieren auf dieselben Phänomene und im Ansprechen derselben Personengruppen durch alternativmedizinische AnbieterInnen und SchulmedizinerInnen Deutungskonflikte ergeben, lässt sich im erhobenen Material zeigen. Exemplarisch wird hier u. a. auf das Interview mit dem Heilpraktiker Mario zurückgegriffen. Mario ist etwa 35 Jahre alt. Er arbeitet in einer großen Heilpraktiker-Gemeinschaftspraxis in einer norddeutschen Mittelstadt. Die Praxis besteht seit mehr als zehn Jahren und hat ihren Schwerpunkt in Traditioneller Chinesischer Medizin und verschiedenen daraus abgeleiteten Therapieverfahren. Mario bietet neben Traditioneller Chinesischer Medizin u. a. auch Reiki an. Bevor Mario Heilpraktiker wurde, war er in der Ausbildung zu einem Beruf, der eine hohe Fitness und Sportlichkeit verlangt. Einer gesundheitlichen Einschränkung wegen, durch die er diesen Beruf nur noch eingeschränkt hätte ausüben können, entschied er sich, den Arbeitsbereich zu verlassen und sich neu zu orientieren. Über einen Freund, der sich gerade zum Heilpraktiker ausbilden ließ, wurde er angeregt, ebenfalls diese Ausbildung zu absolvieren, zumal er sich ohnehin für einen körperorientierten Beruf interessierte.
Der Heilpraktiker berichtet mehrfach von direkten oder indirekten Auseinandersetzungen mit ÄrztInnen, in denen deutlich wird, dass es hier auch um Fragen von Autorität und Rollenzuschreibungen geht. Als Heilpraktiker sieht sich Mario immer wieder den Zweifeln der MedizinerInnen ausgesetzt, erzählt von der Kritik durch HausärztInnen und andere TherapeutInnen, die er direkt oder über die Berichte seiner PatientInnen erfährt. Ein Beispiel: Irisdiagnose bei einem Patienten gemacht. Der Darm war auffällig. Habe ich den Patienten nicht verrückt gemacht, habe ihn aber trotzdem gebeten, zum Hausarzt zu gehen und sich eine Überweisung für die Koloskopie, für die Darmuntersuchung geben zu lassen und wenn der Hausarzt das nicht will, soll er Druck machen, dass das gemacht wird. Hausarzt wollte auch nicht, weil er keine klassischen Anzeichen hat. Er hat aber darauf bestanden. Der Schulmediziner hat dann nachgegeben. So. Und später, der Arzt, der diese Untersuchung durchgeführt hat, kam auf den Patienten zu und hat gesagt: ‚Sagen Sie mal, Herr so und so, Sie hatten doch keine Beschwerden, oder?‘ - ‚Nö.‘ - ‚Ja, wieso wollten Sie denn das?‘ Ne, ist ein ganz Ehrlicher, und er so: ‚Na, ich war beim Heilpraktiker, der hat mir in die Augen geschaut. Der hat gesagt, ich soll zur Darmuntersuchung gehen und das
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mal abklären lassen, ja, ob da was ist.‘ So, und der Patient hatte tatsächlich drei riesen Polypen, die fast den Darm verschlossen hätten und die kurz vor der Entartung standen. Interview Mario, Z. 514-525
In dem hier zitierten Abschnitt des Interviews schildert Mario eine Auseinandersetzung, die sich im Blick auf eine Diagnose zwischen ihm und einem Hausarzt abspielt und einen Rollen- bzw. Autoritätskonflikt zeigt. Eine vom Heilpraktiker durchgeführte „Irisdiagnose“ „war auffällig“, so dass er seinen Patienten an den Hausarzt für eine entsprechende weiterführende Untersuchung und Behandlung überwies. Dabei antizipiert der Heilpraktiker bereits den Zweifel, der durch den Hausarzt vorgebracht werden würde und rät dem Patienten, „wenn der […] das nicht will, soll er Druck machen“. Tatsächlich weigert sich der Arzt zunächst, lässt die Untersuchung dann schließlich doch durchführen und der Spezialist gibt dem Patienten (und indirekt damit dem Heilpraktiker) recht, auf eine Auffälligkeit gestoßen zu sein. Der Konflikt zeigt sich hier in der Rollenzuschreibung zwischen dem Heilpraktiker und dem Arzt. Wer darf gültige Diagnosen aufstellen, wer an den anderen zur ‚Mitbehandlung‘ überweisen, wessen Expertise übertrifft die des anderen im Falle eines Widerspruchs? Der Arzt ist hier qua Amt bzw. Profession zwar die eigentliche Autorität, das Beispiel zeigt aber zugleich den Anspruch des Heilpraktikers auf gleichwertige Anerkennung, auf die er aufgrund der Bewahrheitung seines Verdachts auf eine behandlungsbedürftige Auffälligkeit beim Patienten rekurriert. Mehrere strukturanaloge Fälle führt der Heilpraktiker im Interview an, die die Autorität von ÄrztInnen qua Amt jeweils durch die diagnostische bzw. therapeutische Überlegenheit des Heilpraktikers in einen Rollenkonflikt führen.699 699 „Ich hatte jetzt eine Patientin, die mit starken Fußbeschwerden herkam, dass sie dann. Die hat […] beim (#00:16:56#)-lauf damals im Oktober letzten Jahres, ich weiß nicht mehr genau, ob sie umgeknickt war, sie hatte sich verletzt. So und hatte starke Schmerzen. […] Und der Hausarzt hat gesagt: ‚Ja, wir müssen jetzt erstmal abwarten.‘ Der hat jetzt ein halbes Jahr lang nichts gemacht und nach vier Monaten oder fünf Monaten hatte sie jetzt die Schnauze voll und ist dann hergekommen, hat gefragt, ob ich was machen kann, weil ich ihr vorher schon mal geholfen habe und dann kam sie zu mir und mit vier Behandlungen habe ich sie fast schmerzfrei. […] Sie ist zum Hausarzt hin, hat ihm das erzählt und der hat dann wirklich richtig trocken gesagt: ‚Na, Osteopathie, Akupunktur, das hilft nicht. Das kann bei solchen Problemen nicht helfen. Und ich würde jetzt vorschlagen, wir machen das, was ich vorher gesagt habe: Wir operieren jetzt diesen Mittelfußknochen.‘ Ja, der wollte dann, nachdem wirklich alles in Ordnung war, wollte der operieren und den Mittelfußknochen entfernen. Ja, wenn man weiß, wie, wie sensibel dieser ganze Bereich ist, ja. Dann so einen Eingriff
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Ein bemerkenswertes Nebeneinander von Autoritäten führt die Heilpraktikerin Marlene an. Auch in diesem Interview spielt der Themenbereich Person vielfach eine wichtige Rolle. Marlene ist etwa 35 Jahre alt. Sie hat ihre Praxis in einer norddeutschen Großstadt zum Zeitpunkt des Interviews seit etwa fünf Jahren. Sie ist gelernte Physiotherapeutin und hat vor ihrer Ausbildung zur Heilpraktikerin in einer physiotherapeutischen Praxis gearbeitet. Auslöser für ihren Weg war die Unzufriedenheit über die mangelnde Zeit im Rahmen der schulmedizinisch verordneten Physiotherapie und die immer wiederkehrenden Beschwerden von PatientInnen. Daraufhin hat sie sich verschiedene alternativmedizinische Methoden angeeignet sowie parallel ihre Heilpraktikerausbildung gemacht. Ihre Schwerpunkte sind verschiedenen Gesprächs- und Körpertherapietechniken sowie Homöopathie.
Bei der Beschreibung der durch sie angebotenen Methoden weist Marlene darauf hin, dass sie ihre Aufgabe im Besonderen darin sehe, ihren PatientInnen das richtige Maß an eigenem „[S]püren“ (IMlw, Z. 461) zu vermitteln. Dabei gebe es sowohl PatientInnen, die sich zu wenig spürten als auch solche, die sich zu viel spürten, die „zu viel wissen und alles wird gedeutet“ (Z. 466) und die dabei die Orientierung verlören. Also es gibt ja auch, die zu viel wissen und alles wird gedeutet. Alles ist noch einmal-, aber-, weiß ich nicht. Wie gesagt: Erzengel Michael hat das und das zu mir gesagt oder die Karte oder der Arzt hat die und die Blutwerte und-. Moment […]. Interview Marlene, Z. 466-468
dort starten, obwohl ja keine Dringlichkeit mehr herrschte. Das hat sie ihm dann auch zu verstehen gegeben. Also der war sehr festgefahren, vom Denken her.“ (IMm, Z. 261-282). „Eine Patientin, die […] dann extra nach Großstadt gefahren ist von Nordoststadt in die Chinesische Klinik und dann später aber auf mich gestoßen ist und dann hergekommen ist-. Ja, und wir konnten ihr viel besser helfen als-. Oder sie ist so stabil, wie sie selber nicht mehr erwartet hätte. Ihr Psychologe hat gesagt, das wird nicht mehr. Der Ergotherapeut hat gesagt, das wird nicht mehr. Ja, also allein dann die Einstellung auch von den anderen Leuten her, dass das nicht mehr wird, das impft dem Patienten, der vor ihm sitzt, ja auch ein: Ja, ich kann ja machen, was ich will, das wird ja gar nicht. Also sicherlich, jeder von uns hat Selbstheilungskräfte und nicht wir vollbringen die Wunder, sondern wir aktivieren die Selbstheilungskräfte von den Patienten.“ (IMm, Z. 303-312)
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Das Nebeneinander von Autoritäten, hier in der bemerkenswerten Reihung „Erzengel Michael“, „die Karte“ und „der Arzt“, mache eine (Be-)Wertung für die PatientInnen (allein) quasi unmöglich. Die Heilpraktikerin sieht sich hier als Orientierungshilfe in einer Situation mangelnder Unterscheidbarkeit durch die unklare Rollenzuschreibung. Ist die Diagnose des Arztes über „Blutwerte“ plausibler als die Aussage einer transzendenten Figur oder die eines magischen Objektes? Hier bietet die Heilpraktikerin im pluralen Angebot spätmoderner Deutungsoptionen einen Stopp („Moment“) und eine Orientierung und hebt damit ihre eigene Position aus dem gleichrangigen Nebeneinander durch die Orientierungsfunktion heraus. Auch über den direkten Vergleich mit schulmedizinischen AnbieterInnen hinaus findet sich das Thema Autorität und Rollenzuschreibungen in den Interviews mit Mario und Marlene. Im Rahmen ihrer Anwendungen, erklärt die gelernte Physiotherapeutin, führe sie manuelle Therapien durch, die sich aus unterschiedlichen von ihr erlernten Methoden zusammensetzten und ergänzt würden durch „selbst ausgedachte Griffe, die über die Zeit entstanden sind“ (IMlw, Z. 307). Die Autorität der Absicherung dieser von ihr durchgeführten „Griffe“ ist weder eine zertifizierte Methode noch eine anerkannte Persönlichkeit, sondern die Heilpraktikerin selbst und ihre Erfahrung „über die Zeit“ bzw. wie sie ebenfalls betont, die „Ergebnisse“ (IMlw, Z. 134).700 Hier gilt, Autorität kommt aus den Ergebnissen, nicht aus einem Amt oder einer bestimmten zugeschriebenen Rolle.701 Weniger auf die Ergebnisse als auf die eigene Kompetenz bezogen weist der Heilpraktiker Mario mit seiner Argumentation dennoch in eine ähnliche Richtung. Er betont, wie auch Annita (IAw, Z. 242), Marisa (IMw, Z. 447) und Jessica, (IJw, Z. 61), wie wichtig Lektüre und Austausch mit KollegInnen für ihn seien, er sei, „ständig unterwegs“ (IMm, Z. 119), um sich „da noch fortzubilden“ (IMm, Z. 119), sei zudem „wirklich privat am Lesen“ (IMm, Z. 120) und „tausche[…] [sich] aus“ (IMm, Z. 120). Feste Zuschreibungen von Rollen oder Ämtern und 700 Mehrfach weist Marlene darauf hin, sie sei „recht bodenständig“ (IMlw, Z. 133) und mache „ernste Arbeit“ (IMlw, Z. 791), womit sie sich gegenüber dem Vorwurf abgrenzt, HeilpraktikerInnen seien nur „Leute-gut-Reder“ (IMlw, Z. 791). 701 Klassisch wird diese Haltung zum Ausdruck gebracht in dem sehr häufig im Kontext alternativmedizinischer Angebote zitierten Satz: „Wer heilt, hat recht.“ Der Ursprung dieses Satzes ist nicht auszumachen, mal wird er Paracelsus zugeschrieben, dann wieder Hippokrates, vereinzelt auch anderen Autoren. Seine Verbreitung zeigt sich jedoch auch in zahlreichen Streitschriften, Diskussionsforen etc. im Internet sowie als beliebter Titel für Publikationen. In den Interviews wird der Satz von Mario (IMm, Z. 298) und Edith (IEw, Z. 643) zitiert und dabei jeweils im Sinne einer Kritik am Ärztemonopol verwendet.
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ein damit verbundener Anspruch auf Autorität, den Mario bei ÄrztInnen feststellt, gelten angesichts dieser Expertise nicht zwangsläufig als Garantie für anerkennungswürdige Diagnosen, Behandlungen oder belief systems. Die große Mehrheit der InterviewpartnerInnen beruft sich auf Personen (und deren Deutungen), die aufgrund von Publikationen, Auszeichnungen oder aufgrund dessen, dass sie sich in anderer Weise ‚einen Namen gemacht‘ haben, eine Autorität darstellen und somit wegen ihres fachlichen oder sozialen Ansehens mit ihren Überzeugungen Gehör finden. In acht von elf Interviews und bei drei der vier Veranstaltungen wird auf Personen mit einer entsprechenden Reputation Bezug genommen. Teilweise findet die Anbindung dabei über die professionelle Funktion der zitierten Person statt, etwa wenn auf SchulmedizinerInnen und ForscherInnen wie Robert Koch (IJw, Z. 25) oder Carl Gustav Jung (IJow, Z. 293) rekurriert wird. Dabei kann die Bezeichnung auch allgemein bleiben und verstärkt auf die Position orientiert sein, wenn etwa Katja von „einer indischen Ärztin“ (IKw, Z. 90) spricht oder von einem „Amerikaner […], der war Chiropraktiker und Neurologe“ (IKw, Z. 52f.), die bestimmte Heilmethoden entwickelt hätten. Auch Autoritäten aus dem Bereich der alternativen Heilkunde werden zitiert wie Peter Mandel702 (IJw, Z. 76) oder Paul Gerhardt Seeger703 (ICw, Z. 188). Der Referent des Gesundheitsseminars bezieht sich auf Autoritäten wie Linus Pauling704 (V2G, Z. 214) oder Masuru Emoto705 (V2G, Z. 221), die ebenfalls v. a. im Kontext alternativmedizinischer Anwendungen aufgerufen werden und deren Deutungsangebote er aufgrund der Ergebnisse ihrer Arbeit, ihrer Publikationen bzw. ihrer Auszeichnungen für überzeugend hält.706 Auch in den Performanzen der beobachteten Veranstaltungen finden sich bemerkenswerte Aspekte, die den Fokus auf Fragen der Person und speziell auf die Zuschreibung bestimmter Rollen bzw. Autoritäten lenken. Zwei der beobachteten Veranstaltungen weisen bspw. der Leitungsperson einen besonders herausgehobe702 Peter Mandel (*1941), Heilpraktiker, entwickelte verschiedene Diagnose- und Therapieverfahren, die er unter dem Begriff „Esogetik“ zusammenfasst. Grundlage seiner Überlegungen ist die Annahme der Kommunikation von Zellen über Licht (vgl. die Photonentheorie von Popp) und die daraus folgende Möglichkeit, Menschen über farbiges Licht und farbige Kristalle zu therapieren. 703 Vgl. FN 676. 704 Vgl. FN 681. 705 Vgl. FN 682. 706 In dieser Kategorie ergeben sich Überlappungen v. a. zu der Subkategorie Namensnennung der Orientierungskategorie Wissenschaftlichkeit und Faktizität. Aufgrund der ausführlichen Darstellung in dieser Kategorie soll es hier bei den wenigen Beispielen und einem Verweis auf die Kategorie unter 6.6 bleiben.
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nen Platz im Raum zu. Der Sitzplatz eines Heilpraktikers ist im großen Kreis auf dem Fußboden deutlich von denen aller anderen anwesenden Personen abgesetzt und seine Rolle schon durch diese Hervorhebung als besondere erkennbar.707 Auch für die Leiterin der Tagungsveranstaltung wird ein eigener Platz vorbereitet, der im Zentrum des Raumes und der Anordnung der Sitzplätze aufgebaut und nur von der Leiterin genutzt wird. Nachdem sie ihren Part im Ablauf der Tagung übernommen hat, wird der Platz wieder abgebaut.708 Neben den Plätzen machen die Konstellationen, in denen diese beiden Leitungsfiguren mit ihren MitarbeiterInnen zu erleben sind, die Zuweisung von Amt und Autorität sichtbar. Beide Veranstaltungen wurden nicht durch die leitende Person selbst eröffnet. Während die Leiterin 707 „Ein Platz ist deutlich von den anderen herausgehoben. Er befindet sich zentral vor dem flachen Tisch vor der Fensterseite. Daneben sind weitere Plätze an beiden Seiten so angeordnet, dass sie gemeinsam einen Halbkreis bilden. […] Zusätzlich zu seiner Position in der zentralen Achse von Eingangstür, Tischmitte und Fenster ist der Platz auch durch das Sitzmöbel herausgehoben. Es ist ein sehr niedriger Stuhl, in der Sitzhöhe etwa 20 cm über dem Boden, so dass beim Sitzen die Beine auf dem Boden abgelegt werden. Der Stuhl selbst ist dagegen größer, er hat eine gepolsterte Sitzfläche, eine hohe gepolsterte Rückenlehne und Armlehnen. Diesem Platz gegenüber, ebenfalls in der zentralen Achse des Raumes, liegt ein rundes Boden-Sitzkissen, das einen einzigen Platz innerhalb des Kreises markiert. Neben dem zentralen Stuhl stehen einige Utensilien wie kleine Fläschchen, Tücher und eine Schüssel.“ (V4H, Z. 43-53). 708 „Nach der Ankündigung durch den Moderator steht eine ältere, große, kraftvoll wirkende Frau auf. […] Ihr wird von einem der Moderatoren ein Stuhl zentral in der Verlängerung des Mittelgangs mit Blickrichtung zu den TeilnehmerInnen bereit gestellt. Als ein kleines Mikrofon an ihrer Bluse befestigt werden soll, ist ihr das offensichtlich unangenehm, sie lässt es aber geschehen. Sie stellt sich vor den Stuhl, blickt in das große Publikum. Die TeilnehmerInnen reagieren sofort, indem sie ihre Schreibunterlagen beiseite legen und sich in eine aufrechte, gespannte Haltung setzen. Der Ablauf scheint bekannt zu sein, denn die TeilnehmerInnen reagieren ohne Aufforderung allein auf die Haltung der Lehrerin. Bevor die Lehrerin beginnt, sagt sie: ‚Moment, ich stehe noch nicht richtig.‘ Sie stellt noch einmal beide Füße etwas anders auf. Als sie gut zu stehen scheint, hält sie inne, legt die Hände vor der Brust zusammen, wartet einige Zeit und verbeugt sich. Dann sagt sie ‚Danke‘ und setzt sich hin.[…] Nach diesen einleitenden Worten beginnt die ‚Chakrenmeditation‘. […] Nach dem Abschluss der Meditation hebt die Lehrerin noch einmal hervor, wie gut und hilfreich die Chakren und die Meditation seien. […] Nachdem die Lehrerin diesen Teil der Veranstaltung beendet hat, setzt sie sich wieder in die erste Reihe und ihr Stuhl wird aus dem Zentrum geräumt.“ (V3T, Z. 69-102, Ausschnitte).
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recht unbemerkt in der ersten Reihe des Publikums sitzt und wartet, bis die Begrüßung und Vorrede durch andere Mitglieder der Gemeinschaft abgeschlossen ist und sie zur inhaltlichen Eröffnung der Tagung gebeten wird,709 ist der Leiter des Heilungsseminars während der Eröffnung durch seine Assistentin nicht im Raum anwesend und wird von ihr erst nach Begrüßung und einleitenden Bemerkungen in den Seminarraum geholt.710 Beide Leitungsfiguren heben ihre Position und Rolle durch die in dieser Weise inszenierten Eröffnungen heraus. Die Übernahme nachrangiger Aufgaben (formale Begrüßung, Hinweise zum Ablauf der Veranstaltung) durch Assistierende hebt umso deutlicher hervor, wie besondere Aufgaben (Meditation, Heilung, Behandlung) und zentrale Rollen (Leitungsperson) miteinander korreliert sind, so dass diese nur in der jeweils zentralen Autorität der Gemeinschaft zusammenfallen können. Eine im Blick auf die Zuschreibung von Rollen und Autorität interessante Szene konnte auch während des Reiki-Seminars beobachtet werden. Hier sollte vor der Reiki-Behandlung die Beobachterin als einzige neue Teilnehmerin auf ihren „Energiestatus“ (Z. 224) überprüft werden, wobei diese Überprüfung in die überraschende Situation einer „doppelten Testung“ (Z. 231) mündete, wie der nachfolgende Ausschnitt aus der Beobachtungsbeschreibung zeigt. Nach etwa einer Stunde soll nun der praktische Teil des Abends beginnen, bei dem alle Teilnehmerinnen einander Reiki ‚geben‘. Dazu muss allerdings erst festgestellt werden, ob die Beobachterin ebenfalls daran mitwirken kann, d. h. es muss getestet werden, ob sie genug 709 „Die Veranstaltung wird durch zwei Moderatoren eröffnet, die sich zu Beginn namentlich und mit ihren Berufsbezeichnungen vorstellen. Wie dem Programm zu entnehmen ist, sind beide, ein Arzt und ein Biochemiker, promoviert. Sie begrüßen zur Tagung und bedanken sich bei allen, die sich an der Planung und Vorbereitung beteiligt haben. […] Nach dieser Einleitung wird die Leiterin der Gemeinschaft angekündigt, ‚unsere spirituelle Lehrerin auf unserem Weg zu Liebe und Heilung‘. Sie werde nun die Tagung durch eine angeleitete gemeinsame Chakrenmeditation inhaltlich eröffnen. Beide Moderatoren sprechen von der Leiterin in ehrfürchtiger Weise, die TeilnehmerInnen blicken sie, offenbar in der ersten Reihe am Mittelgang sitzend, erwartungsvoll an.“ (V3T, Z. 52-69). 710 „Während sich die Plätze im Kreis nach und nach füllen […], bleibt der zentrale Platz vor dem Tisch leer. Auch als die Veranstaltung beginnt, ist der Platz noch nicht besetzt.“ (V4H, Z. 54-57). „Nach dieser kurzen Einführung steht die erste Assistentin auf und geht zur kleinen Tür an der rechten Seite des Raums. Dort geht sie hinaus und kommt kurz darauf zurück, um sich wieder in den Kreis zu setzen. Wenige Minuten später geht die Tür erneut auf und der Heiler selbst kommt durch diese Tür in den Raum.“ (V4H, Z. 69-72).
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‚eigene Energie‘ besitzt, um ohne weitere Einweihung durch die Meisterin an der Energieübertragung teilzunehmen. Die Kursleiterin zieht dafür ihren Ärmel hoch und lässt die Beobachterin die Hand über ihre Armbeuge halten. Sie nickt wissend und bittet um die andere Hand. Dann nickt sie erneut und will das Ergebnis ihrer Überprüfung in die Runde sagen, hält dann aber inne und bittet die Praxisinhaberin, den Energietest ebenfalls zu machen. Da die Praxisinhaberin in näherer Zukunft den Kurs übernehmen soll, scheint es der Leiterin eine gute Gelegenheit, zu sehen, ob sie ggf. in der Lage wäre, eine neue Kursteilnehmerin auf ihren ‚Energiestatus‘ hin zu überprüfen. Nun zieht also auch die Praxisinhaberin ihren Ärmel hoch und lässt sich eine Hand über die Armbeuge halten. Dann sieht sie die Kursleiterin an und sagt: ‚Ja, da ist aber deutlich die Energie zu spüren!‘ Die Kursleiterin erwidert ein fragendes ‚Ja?‘. Und: ‚Probier’ auch die andere Seite noch.‘ Die Praxisinhaberin ist sichtlich verunsichert. Darauf wird die andere Hand der Beobachterin getestet und die Praxisinhaberin sagt vorsichtiger: ‚Hm, hier ist auch was. Aber nicht so deutlich.‘ Sie blickt die Kursleiterin erwartungsvoll an. Es entsteht eine paradoxe Situation der doppelten Testung. Wobei der Test der potentiellen neuen Leiterin eine deutlich gespanntere Atmosphäre im Raum erzeugt hat als der Test der Beobachterin. Schließlich sagt die Kursleiterin: ‚Ja, richtig.‘ und alle Anwesenden sind erleichtert und lachen. Damit ist nun auch für die Beobachterin keine weitere Einweihung nötig. Teilnehmende Beobachtung Reiki, Z. 215-235
Die verschiedenen Rollen der an diesem Test beteiligten Personen zeigen sich darin, wie sie in der vorgefundenen Situation handeln (können). Dabei werden auch Rollenkonflikte deutlich, die bspw. zu der beschriebenen Verunsicherung der Praxisinhaberin führen. Während die Autorität der Kursleiterin, der „ReikiMeisterin“ (V1R, Z. 86), unangefochten bleibt, wechselt die Position der Praxisinhaberin in der beschriebenen Szene von der Prüferin zur Geprüften, die über ihre Leistung als Prüferin selbst in die Rolle derjenigen gerät, über die geurteilt wird. Ihre Reaktion darauf ist, „verunsichert“ und in der Folge deutlich „vorsichtiger“ zu agieren. Die dadurch entstandene Spannung ist für alle Teilnehmerinnen gleichermaßen spürbar und entlädt sich im erleichterten Lachen der Anwesenden, nachdem der Test vorüber und die getestete Heilpraktikerin dadurch in ihrer Rolle als Co-Leiterin bestätigt ist. 6.8.2 Charisma Die zweite Subkategorie, die sich in dieser Orientierungskategorie bilden lässt, wurde mit der Bezeichnung Charisma beschrieben. Sie bildet insofern das Pendant zur vorhergehenden Subkategorie mit der Orientierung auf das Amt bzw. eine durch äußere Funktionen oder Anerkennung versehene Autorität, als die nun codierten Passagen besonders die Rolle der oder des Heilenden jenseits eines über-
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tragenen Amtes bzw. einer methodischen Ausbildung in den Blick nehmen. Nicht die „Macht zur Deutung […] qua Amt“711 steht im Mittelpunkt, sondern die Deutungsmacht „sine officio“712 – nicht „‚[w]er das Sagen hat‘“713, sondern „‚[w]er wirklich etwas zu sagen hat‘“714 oder dies sich selbst zumindest zuschreibt, ist von Bedeutung. Themen wie Intuition und Begabung spielen hier ebenso eine Rolle wie die Vorstellung, die Wirkursache einer Anwendung liege in der Person der oder des Heilenden selbst unabhängig von seiner oder ihrer Funktion. Mehrere der befragten HeilpraktikerInnen beschreiben ihre Arbeit als durch Intuition und Begabung geprägt und stellen darin auch eine Differenz zu schulmedizinischen AnbieterInnen fest. Wichtig ist den GesprächspartnerInnen, dass sie ihre „Patienten wahr [nehmen]“ (IMlw, Z. 326) bzw. „so eine Wahrnehmung“ (IAw, Z. 233) für sie entwickelten, dass sie mitunter gar nicht erklären könnten, warum sie eine Behandlung in einer bestimmten Weise durchführten, sondern es „in dem Moment“ (IMlw, Z. 312) einfach wüssten. Dabei scheint eine besondere nonverbale Verbindung zwischen der HeilpraktikerIn und der PatientIn zu bestehen, über die der Austausch von Informationen stattfinde, wie Katja es beschreibt: Und das Gute ist, dass man bei diesen Methoden halt nicht unbedingt viel kommunizieren muss, wenn man nicht möchte. Gerade bei Männern, […] die wollen darüber definitiv nicht reden. Und man kann es trotzdem behandeln. Auch wenn man nicht darüber reden kann. Auch bei Kindern sind es zum Beispiel manchmal nur Stichworte, die mir der Körper über so Protokolle gibt, wo die Kinder aber nicht drüber reden können oder wollen. Interview Katja, Z. 144-150
Auch PatientInnen, die „definitiv nicht reden“ wollten, könne sie „trotzdem behandeln“, so die Heilpraktikerin, denn sie erfahre deren Anliegen über den „Körper“, sie erhalte Informationen über „kinesiologische[…] Test[s]“ (IKw, Z. 227), die sie durchführe und vertraue in ihrer Arbeit auf die „Intuition von uns […], die […] ja immer noch da“ (IKw, Z. 521) sei. Insgesamt geht es bei der Orientierung an der eigenen Wahrnehmung immer um Anwendungen, die über methodisch vermittelte und gelernte Vorgänge hinausgehen und stattdessen Intuition und Begabung zur notwendigen Voraussetzung machen. Katja macht diese Haltung etwa deutlich in der Gegenüberstellung ihrer eigenen Arbeit und der von KollegInnen, die für Diagnose oder Therapie auf die Verwendung von Geräten zurückgriffen. Geräte hätten den Vorteil, für PatientInnen nachvollziehbarer und anschaulicher 711 Stoellger: Deutungsmachtanalyse. S. 37. Hervorhebung im Original. 712 Ebd. S. 37. Hervorhebung im Original. 713 Ebd. S. 37. 714 Ebd. S. 37.
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zu sein – ihr selbst sei diese Autorität aber nicht wichtig, so die Heilpraktikerin. Sie vertraue lieber auf ihre innere Überzeugung und arbeite am liebsten nach Gefühl. Für die Kunden ist es toll, weil die es glaubwürdiger finden, so ein Gerät, was ihnen das spiegelt. […] Es ist ein Gerät, und das ist glaubwürdiger. Aber ich vertraue einfach, glaube ich, auch ganz gerne dem, was ich fühle. Interview Katja, Z. 549-553, Ausschnitte
Nicht die Nachweisbarkeit einer Methode oder die erfahrene Erfolgsquote und auch nicht die Genauigkeit eines verwendeten Gerätes stehen für die Heilpraktikerin Gewähr für ihre Heilbehandlungen, sondern ihre persönliche Autorität, die sich aus Intuition und Gefühl speist, auf deren Grundlage sie arbeitet und ihre PatientInnen überzeugt. Auch die Heilpraktikerin Marlene nimmt ihren Kontakt zum Körper und ihre Intuition für eine Anwendung als Maßstab. Sie orientiere sich daran, „was genau“ (Z. 310) eine bestimmte „Körperstelle“ (Z. 310) zur Heilung brauche. Auf die Nachfrage, woran sie dies merke, stellt die Heilpraktikerin fest, dass sie es nicht erklären könne, sondern es „weiß […] in dem Moment“ (Z. 312). Das Ergebnis ihrer Anwendung bezeichnet sie als ein Gefühl, „irgendwie mehr mittig“ (Z. 315) zu sein – eine Wirkung, die sie bei ihren PatientInnen erzielen könne. M: Und dann gucke ich halt da auch da, welche Körperstelle braucht was, welcher Griff wie tief, wie -. Was genau braucht der Muskel? I: Woran merkt man das? M: Das ist eine gute Frage. Das ist eine Sache, die weiß ich in dem Moment. Kann ich, also, weiß ich nicht. Ich nenne das […] [Methodenname], [w]eil man danach das Gefühl hat, man ist irgendwie mehr mittig. Interview Marlene, Z. 309-315
Deutlich wird in beiden vorangegangenen Zitaten: Die entscheidende Instanz, um die angewandten Methoden und Überzeugungen zu belegen, liegt in der Person der Heilpraktikerin selbst. Die beiden Frauen sehen jeweils in sich selbst den Ort, aus dem sich die Wirksamkeit ihrer Methode speist. Darin wird auch deutlich, dass die Fähigkeiten nicht (bis ins Letzte) gelernt werden oder Kompetenzen durch die Übertragung eines Amtes oder einer bestimmten Rolle vermittelt werden könnten, sondern in den Personen selbst begründet sind. Auch Cornelia betont, dass sie v. a. durch die Wahrnehmung ihrer PatientInnen zu deren Anliegen vordringe und beschreibt ihre Arbeit insgesamt als stark „intuitiv“ (ICw, Z. 167; 487) geprägt. Diese Vorstellung steht auch im Fokus der
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Beschreibung Marisas. Für sie sind Zertifikate und Anerkennung via Amtsübertragung mindestens zweitrangig hinter persönlicher Begabung (und vermutlich beides noch einmal hinter energetischen bzw. auratischen Wirkweisen, auf die Menschen keinen Einfluss haben).715 Im o. g. Sinne einer charismatisch begründeten Deutungsmacht lässt sich die folgende Aussage aus dem Gespräch mit Marisa verstehen. Jemand kommt zu dir und du musst gar nicht mit dem reden, der begibt sich in dein Feld und da passiert etwas auf einer Ebene, von der wir keine Ahnung haben. Dann geht der raus und es geht ihm gut. Interview Marisa, Z. 447-449
Nicht Ausbildung oder Amt sind entscheidend für die Fähigkeit einer Person, an anderen heilende Kräfte wirksam werden zu lassen, sondern eine Begabung. Diese lässt sich jedoch nicht durch die Person selbst im engeren Sinne steuern oder anwenden, vielmehr sei es das „Feld“, das diese umgebe und innerhalb dessen „passiert etwas“. Was hier ausgelöst, bewirkt werde, das, so betont Marisa mehrfach, liege jenseits von „Ausbildungen“ (IMw, Z. 442), Qualifikation oder amtlicher Autorität. Im Gespräch mit Josefine findet sich zu dieser Thematik eine bemerkenswerte Passage, die den Fokus auf ein innerhalb der Person liegendes Moment richtet, welches sich in Performanz und Wirkung zeigt. Josefine stellt fest, man könne über Gedanken, Vorstellungen, „ein Mantra“ (Z. 228) o. ä. „eine gewisse Wirkung“ (Z. 230) für etwas erzielen. Diese Überzeugung spricht keiner offiziellen Autorität, sondern der einzelnen, charismatisch wirksamen Person ein hohes Maß an (Selbst-)Wirksamkeit und Deutungskompetenz zu. Dabei hebt Josefine hervor, dass die Wirkung abhängig sei von der „Gedankenkraft“ (Z. 237), die sie einsetze 715 Dies wird mehrfach auch über das im Text aufgegriffene Zitat hinaus im Interview deutlich, etwa, wenn Marisa betont, die von ihr absolvierte Heilpraktikerprüfung zum Erhalt einer „Zertifizierung“ (IMw, Z. 167) sei eigentlich nicht nötig gewesen. „Und dann, naja, ich muss Heilpraktiker werden. Also, um eine Zertifizierung oder Qualifizierung zu haben, das zu machen. Heute sehe ich das nicht mehr als notwendig und für alles, was ich brauchte, braucht man wahrscheinlich keine Heilpraktikerausbildung, alles für das, was ich mache.“ (IMw, Z. 166-169) Auch ihre Beschreibung einer Form von ‚Geistiger Operation‘, die auf den Philippinen gelehrt werde und die sie in den Kontrast stellt zu westeuropäischen Methoden der Krebsbehandlung wie Chemotherapie, folgt dem Prinzip der Weitergabe einer Begabung, die Marisa höher schätzt als eine über evidenzbasierte Forschung erprobte Behandlungsmethode. (vgl. IMw, Z. 730-792)
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und somit von ihr persönlich „ganz alleine“ (Z. 237) in ihrer Stärke beeinflusst werden könne. Und ein Mantra ist immer so stark, wie man daran glaubt. […] Und wenn man dem Mantra eine gewisse Kraft zusagt, […] dann hat es auch eine gewisse Wirkung. […] Wenn man sich darauf fokussiert, wird es stärker. Wenn ich mir natürlich vorstelle, ich verstärke das Ganze mit irgendeinem Symbol, und ich auch da meine volle Kraft reinsetze, meine volle Gedankenkraft reinsetze, natürlich, dann wird es auch stärker. Das kann ich ganz alleine bestimmen. Interview Josefine, Z. 228-238, Ausschnitte
Macht zu Deutung und Handlung generieren die hier zitierten InterviewpartnerInnen aus sich selbst heraus, aus ihrer Intuition, aus Begabung. Dabei ist ihr eigener Anteil an dieser Macht unterschiedlich. Mal speist sich ihre Autorität aus einer besonderen Wahrnehmung und Intuition, die genutzt werde und die man „einfach nur immer zulassen und weiterentwickeln“ (ICw, Z. 460f.) müsse, die also geschult und gefördert werden könne; mal zeigt sie sich in einem „Feld“ (IMw, Z. 448), aufgrund dessen der Heilpraktikerin eine Wirkung zuteil wird, auf die sie selbst „keinen Einfluss“ (IMw, Z. 472) habe – geschweige denn, die durch eine Ausbildung, eine Qualifikation oder ein Amt übertragen werden könnte. 6.8.3 Anerkennung durch RezipientInnen Keine Deutung kann wirksam sein ohne Anerkennung. Ob eine Deutung überzeugt, ob sie stabil ist, sich verändert, ob sie eine große oder eine geringe Reichweite entwickelt – all diese Aspekte sind abhängig von der Anerkennung der Deutung durch RezipientInnen. Das der Deutung inhärente Streben nach Macht zeigt sich auch in ihrem Streben nach Verbreitung. In der Orientierungskategorie Person kommt über Codierungen zur Anerkennung durch die RezipientInnen die Perspektive der PatientInnen in den Blick. Im Setting der vorliegenden Untersuchung wird dieser Aspekt v. a. indirekt über die beschriebene Haltung der PatientInnen, aber auch über Beobachtungen und Gespräche bei den Veranstaltungen rekonstruiert. Welche Einstellungen von PatientInnen kommen zur Sprache, in denen sich zeigt, dass eine Anerkennung der HeilpraktikerInnen und ihrer Deutung stattfindet? Eine für diese Frage relevante Überlegung ist die nach der Gewinnung neuer PatientInnen bzw. KundInnen. Findet eine Methode bei den PatientInnen Anerkennung, trägt sich eine Empfehlung zu anderen (potentiellen) KundInnen weiter. Von dieser Erweiterung des PatientInnenkreises durch Mundpropaganda sprechen mehrere HeilpraktikerInnen, u. a. Mario.
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Also, das heißt, es funktioniert auf einer funktionellen Basis, ne und deswegen haben wir auch immer straight zu tun. Ne, das ist das Beste, was funktioniert. Und dann, wenn die Leute glücklich, zufrieden sind, dann erzählen sie das weiter. Und so bekommt man wieder auch neue Patienten. Interview Mario, Z. 146-150
Auch Edith hebt hervor, dass besonders „junge Leute […] eher meistens auf Empfehlung“ (IEw, Z. 430f.) kämen, während ältere PatientInnen von sich aus verschiedene Zugänge zur Behandlung ihrer Beschwerden suchten. Auch bei Marlene geht es um das Thema Anerkennung der Methoden durch die RezipientInnen, wenn sie darauf verweist, dass nur dadurch gewährleistet werden könnte, dass PatientInnen ihre Arbeit mehrfach in Anspruch nähmen. „Und das muss schon eine gute Qualität sein oder gut funktionieren, auch für den Patienten. Sonst würden die ja nicht wiederkommen.“ (IMlw, Z. 117ff.) Die Anerkennung durch die PatientInnen spielt auch in der Auseinandersetzung mit der Schulmedizin eine Rolle. Mehrere InterviewpartnerInnen heben hervor, wie deutlich sie die Anerkennung und das Fürwahr halten von ÄrztInnen und ihren Diagnosen bei den PatientInnen erlebten. Eine Heilpraktikerin erzählt, wie sie einem Patienten eine homöopathische Therapie zur Unterstützung seiner schulmedizinischen Behandlung vorgeschlagen habe, dieser sie aber aufgrund der Skepsis und Ablehnung durch seinen Hausarzt nicht angenommen habe, obwohl ihm die „gut gewählte[n] Sachen […] hätten helfen können“ (IDw, Z. 97f.), wie sie überzeugt ist. Auch Katja weist darauf hin, wie ernst und selbstverständlich die Empfehlungen von ÄrztInnen durch die PatientInnen anerkannt und umgesetzt würden. Beim Blick auf alternative medizinische Angebote seien PatientInnen häufig auf ÄrztInnen als Anbietende orientiert, wie sie am Beispiel Homöopathie zeigt. Oder [Ärzte,; Anm. P. S.] die sich mit Homöopathie beschäftigen, oder die dann wirklich auch nochmal was anderes als nur eine Tablette mit an die Hand geben. Und da sind die Patienten total dankbar für. Dass sie nicht immer nur eine Tablette kriegen, sondern auch mal irgendwas anderes. Und das machen die auch ganz brav. Gerade wenn das der Allgemeinarzt sagt. Aber wenn der was sagt, dann ist das definitiv auch so. Da kann man auch nichts dagegen reden, oder so was. Interview Katja, Z. 398-402
Die Wertschätzung, die die PatientInnen den MedizinerInnen entgegen bringen, sieht Katja ambivalent. Zum einen hebt sie das Engagement einiger ÄrztInnen hervor, die den PatientInnen „auch nochmal was anderes […] mit an die Hand geben“, sie sieht, wie „dankbar“ die PatientInnen dafür seien und wie „brav“ sie die
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Anweisungen der MedizinerInnen ausführten. Zugleich wird darin auch deutlich, dass die Heilpraktikerin selbst mit einer ggf. konträren Ansicht in diesem Setting wenig Chancen hätte, sich gegen einen „Allgemeinarzt“ durchzusetzen: „[W]enn der was sagt, dann ist das definitiv auch so.“ In der Anerkennung durch die RezipientInnen wird, so die Perspektive dieser Heilpraktikerin, die Deutung des Arztes wirksam und eine alternative ist kaum zu platzieren. In der persönlichen Auseinandersetzung um die Anerkennung wird aber auch deutlich, dass die Abgrenzung der HeilpraktikerInnen nicht nur gegenüber SchulmedizinerInnen erfolgt, sondern auch gegenüber Mitgliedern der eigenen ‚Zunft‘, denen mitunter attestiert wird, den PatientInnen etwas „vorzumachen“ (IMlw, Z. 825)716 oder sich ihr Geld „einfach [zu] verdien[en]“ (IKw, Z. 587)717. Auch bei den teilnehmenden Beobachtungen, die im Rahmen der Untersuchung durchgeführt wurden, lässt sich indirekt die Anerkennung der RezipientInnen ablesen. Beim Heilungsseminar, dem Reiki-Abend sowie bei der besuchten Tagung war die Mehrheit der Teilnehmenden bereits mehrfach bei Angeboten, Seminaren, Ausbildungen o. ä. der LeiterInnen. Die Tatsache, dass sie zum wiederholten Male an Veranstaltungen mit diesem Inhalt bzw. Angeboten dieser Leitungspersonen teilnahmen, lässt vermuten, dass sie die dort jeweils angebotenen Deutungen für sich als sinnvoll, zustimmungswürdig, ggf. (heilungs-)wirksam erlebt und als solche anerkannt haben. Konkret zeigt sich dies bspw. beim ReikiAbend, wie der folgende Ausschnitt zeigt. Die Teilnehmerin, die zuvor auf die ‚energetische Unruhe‘ hingewiesen hat, sagt nun, wie angenehm es jetzt im Raum wäre, die vielen ‚umherschwirrenden Energien‘ und die Bewegung im Raum habe sich gelegt. ‚Was so ein [Schutzsymbol] so alles bewirkt‘, meint die Kursleiterin. Auf Nachfrage erklärt sie: ‚Nachdem Du vorhin gesagt hast, hier wäre so viel unruhige Energie, die herumschwirrt, habe ich mal einen [Schutzgeist] aktiviert.‘ Alle Teilnehmerinnen sind begeistert von dem kausalen Zusammenhang, der sich hier zu zeigen scheint. Teilnehmende Beobachtung Reiki, Z. 317-323 716 „Weil ich habe tatsächlich immer Angst, so ein bisschen, hier so eine Liebhaberei zu machen oder dem Patienten auch was vorzumachen, das möchte ich nicht. Weil, auch da gibt es genug auf dem Markt im Heilpraktikerbereich. Ich sage das jetzt mal so zart. Oder die-. Aber jeder hat halt verschiedene Wege. Ich habe das gut eben nochmal geglättet das Thema.“ (IMlw, Z. 824-827) 717 „Oh, ich denk, es geht auch einfacher. Es gibt ja auch Methoden, wo ich denke, das ist aber einfach verdientes Geld. Ich mach ein Gerät an, oder ich stech die Nadel und dann liegen die eine halbe Stunde. Das ist ja nicht ganz anstrengend, wie das, was ich da manchmal selber machen muss.“ (IKw, Z. 586-589)
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Der konkrete Fall der Anwendung eines Reiki-Schutzsymbols lässt sich exemplarisch für die Anerkennung durch die RezipientInnen lesen. Die von einer Person bemerkte und artikulierte Veränderung der Atmosphäre im Raum wird durch die Kursleiterin aufgegriffen, mit einer Deutung (Notwendigkeit eines Schutzgeistes) und einer daraus folgenden Handlung (Aktivierung eines Schutzgeistes) versehen und in dieser Deutung durch die Teilnehmerinnen anerkannt, die sich „begeistert von dem kausalen Zusammenhang“ zeigen, hier Zeugen einer spürbar wirksamen Anwendung geworden zu sein. Was wäre mit der Deutung der Reiki-Meisterin geschehen, wenn die Anerkennung ausgeblieben wäre? Hätten Skepsis oder Ablehnung im Kreis der Teilnehmerinnen überwogen, wäre die Deutung ‚Schutzgeist‘ nicht wirksam geworden. 6.8.4 Vorbilder und persönliche Beziehung Wenn über die Rolle von Personen im Kontext der Durchsetzung von Deutungen und Deutungsmacht gesprochen wird, können persönliche Vorbilder und Orientierung gebende Persönlichkeiten nicht fehlen. Personen verhelfen Deutungen zur Durchsetzung, über ihre Funktionen, ihre Ämter, auch über ihre Autorität sowie durch Anerkennung aufgrund des persönlichen Kontakts. Dabei lassen sich die Codierungen zu diesem Aspekt in den Interviews und dichten Beschreibungen in zwei Kategorien einteilen: zum einen spielen Personen aus dem direkten Umfeld der InterviewpartnerInnen eine Rolle, die als Vorbilder, WegbegleiterInnen, LehrerInnen o. ä. die HeilpraktikerInnen begleitet und mit ihren Deutungen geprägt haben; zum anderen wird immer wieder auf Persönlichkeiten rekurriert, die ihre Anerkennung über die Arbeit als Forschende, Autoren oder bspw. den Erhalt von Auszeichnungen generieren. Beide Gruppen dienen der Orientierung; letztere wird jedoch aufgrund des fehlenden persönlichen Kontakts hier nicht als ‚Vorbild‘ im engeren Sinne verstanden und daher nicht eigens in dieser Subkategorie aufgeführt.718 Exemplarisch für einen Fall, in dem eine Vorbildfigur eine wichtige Rolle spielt, wird das Gespräch mit der Heilpraktikerin Katja aufgegriffen. Im Interview spricht sie über eine „Freundin“ (IKw, Z. 39), die für sie zugleich auch „Lehrerin“ (Z. 608; 614) sei und die sie auf ihrem Weg begleitet und sie geprägt habe. Und da habe ich ein ganz tolles Vorbild. Meine Lehrerin ist jetzt 96. 96 ist die jetzt, und die nimmt keine einzige Tablette. Und die macht halt viel-, diese Übungen und Akupressur und 718 Zu finden sind ausführliche Zitate und Interpretationen zu diesem Aspekt in der Subkategorie Rolle, Amt und Autorität der Orientierungskategorie Person (6.8.1) sowie im Kontext der Orientierungskategorie Wissenschaftlichkeit und Faktizität in der Subkategorie Namensnennung (6.6.2).
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immer wieder aus sich selbst heraus. Die sagt immer: ‚Du kannst so alt werden, und du kannst so alt werden. Du musst nur die Verantwortung dafür übernehmen.‘ Und die ist mein bestes-, also, die ist mein leuchtendes Beispiel. Und das ist auch die Frau, die mich immer einen Schritt weitergeleitet hat. Die war es, die mir das erste Buch in die Hand gegeben hat über Qigong, diese Lehrerin. Und das nächste Buch über Cranio-Sacral-Therapie und das nächste, wo sie mich dahingeschickt hat, die nächste Therapeutin. Das war eigentlich immer sie, und das war immer richtig. Interview Katja, Z. 608-616
Die Freundin und Lehrerin selbst ist für Katja wichtig, sie ist ihr „ein ganz tolles Vorbild“, zugleich wird im zitierten Abschnitt deutlich, dass es letztlich deren Haltung (zum Leben, zu alternativen Methoden, zum Alter) ist, die Katja prägt und für sie zur Orientierung wird. In Katja entfalten die Deutungen und Überzeugungen der Lehrerin ihre Wirkung – in der Adaption von Heilungsmethoden, die Katja über die Lehrerin kennenlernt und sich z. T. darin hat ausbilden lassen und indem sie den Weg geht, den die Lehrerin für sie vorgesehen hat „und das war immer richtig“. Auch andere HeilpraktikerInnen berichten über Vorbilder, die sie auf ihrem Weg zum und im Heilpraktikersein geprägt haben, Marisa orientiert sich am Beispiel ihrer „Lehrerin“ (IMw, Z. 773), Annita an ihren „Ausbilder[n]“ (IAw, Z. 444), Mario spricht von einem „Kollegen“ (IMm, Z. 31), dessen Vorbild er folgte, als er beschloss, sich zum Heilpraktiker ausbilden zu lassen. Bei der Beobachtung der Tagungsveranstaltung wird permanent die Rolle der spirituellen Lehrerin als Vorbild deutlich. Indirekt kommt diese Funktion der Leiterin darin zum Ausdruck, dass sich die ganze Gemeinschaft um sie herum gesammelt hat und die Struktur von Gemeinschaft und Ausbildungsangeboten ganz auf die Lehrerin zentriert ist. Die Vorbildrolle wird jedoch auch explizit benannt, wenn etwa eine Teilnehmerin davon spricht, sie sei „begeistert und fasziniert von der Lehrerin […], ihren Ideen und ihrer Weisheit“ (V3T, Z. 193f.) und sie plane, eine „der angebotenen Ausbildungen hier in der Gemeinschaft“ (V3T, Z. 194f.) zu absolvieren. Auch beim Tag der Heilung wird deutlich, dass der leitende Heilpraktiker, um den sich die Gemeinschaft gebildet hat und der hier seine Kompetenz in Form von Deutungen und Performanzen zur Verfügung stellt, für die Mitglieder der Gemeinschaft eine Vorbildfunktion erfüllt. Immer wieder rekurrieren sie in ihren Äußerungen auf die Aussagen des Heilers, zum Abschluss der Veranstaltung wird „zur weiteren Arbeit mit dem Meister“ (V4H, Z. 372) eingeladen, der „‚in euch sieht und mit euch arbeitet‘“ (V4H, Z. 373) und die TeilnehmerInnen „auf ihrem Weg weitergebracht“ (V4H, Z. 374) habe. Auch auf die weiteren Veranstaltungen des Heilers sowie seine zahlreichen Publikationen, die im Eingangsbereich auslägen, wird verwiesen, so dass alle TeilnehmerInnen die Möglichkeit hätten, sich durch sein Vorbild weiter leiten zu lassen.
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Eine persönliche Bindung ist bei allen beobachteten Veranstaltungen zwischen der Leitungsperson und den TeilnehmerInnen zu finden. Während sie beim Gesundheitsseminar nicht im Vordergrund steht und mehrere der ZuhörerInnen den Referenten bisher kaum kennen, ist beim Reiki-Abend eine feste Teilnehmergruppe und ein hoher Bindungsgrad zur Leiterin vorhanden. Besonders eng ist die persönliche Bindung bei der Tagungsveranstaltung sowie beim Heilungsseminar. Hier finden sich Gemeinschaften, deren Mitglieder in konzentrischen Kreisen um die Leitungsfigur eine verschieden nahe persönliche Bindung zur Heilerin bzw. zum Heiler aufweisen. Die Autorität dieser Personen speist sich u. a. aus ihrer engen persönlichen Beziehung zu den TeilnehmerInnen und verhilft ihren Deutungen auch darüber zu wirksamer Anerkennung. 6.8.5 Infragestellung von Rollen bzw. Autorität Auch in dieser Orientierungskategorie zeigt sich, dass neben den aufgezeigten Beispielen für die Kategorie Person in den Subkategorien Deutungsmachtgenerierung qua Amt oder Charisma, der Frage der Anerkennung durch die RezipientInnen und dem Aspekt der persönlichen Beziehung auch eine Abgrenzungskategorie festgelegt werden muss. Diese Subkategorie enthält Codierungen zu Textpassagen, in denen die Aussagen von Personen in Frage gestellt werden, bspw. über das Hinterfragen der Rolle bzw. Autorität der entsprechenden Person. Besonders berührt diese Subkategorie das Thema Definitionshoheit (Wer darf was benennen bzw. definieren?). Exemplarisch wird dazu die Auseinandersetzung um den Begriff ‚Patient‘ her angezogen. In mehreren Gesprächen wird die Bezeichnung diskutiert und ihre Verwendung in Frage gestellt. Wie das Zitat aus dem Interview mit Heidrun zeigt, wird der Begriff in seinen Implikationen kritisch gesehen. Ja, ich weiß gar nicht, ‚Patienten‘ ist immer so ein Wort, wo ich so ein bisschen das Gefühl hab, das ist stachlig, das fühlt sich nicht so gut an. Ich hab so das Gefühl, dass wir alle irgendwie auf einer Stufe stehen. Interview Heidrun, Z. 160-162
Heidrun verwendet das Wort ‚Patient‘ nicht gern, da es sich für sie „nicht so gut an[fühlt]“, wie sie es beschreibt. Gemeint sei damit, so präzisiert sie, das Gefühl einer Hierarchie, die in dieser Bezeichnung zum Ausdruck komme, obwohl sie doch eigentlich den Eindruck habe, dass „alle irgendwie auf einer Stufe“ stünden. Die Anfrage, die die Heilpraktikerin im Blick auf den verwendeten Begriff formuliert, gilt seinen Implikationen, die sie als hierarchisch wahrnimmt. Mit der Bezeichnung ‚Patient‘ übernähme die Heilpraktikerin auch die Denkweise des
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schulmedizinischen Umfeldes, dem diese entstammt. In der Infragestellung der Verwendung weitet die Heilpraktikerin den Blick auf verschiedene Personen des Feldes alternativer Heilkunde: Sie grenzt sich selbst ab gegenüber den Implikationen eines Begriffs, den sie nicht vorbehaltlos zu übernehmen bereit ist; sie stellt die Rolle der Personen infrage, die diesen Begriff unbedacht verwenden und sie fragt nach der Rolle derjenigen, denen mit dieser Benennung bestimmte Eigenschaften zugeschrieben oder auch vorenthalten werden. Auch in anderen Interviews wird diese Personenbezeichnung thematisiert.719 Noch deutlicher wird die Infragestellung einer möglichen Definitionshoheit und Setzung von Begriffen im Gespräch mit Jessica. Auf ihr Verständnis von Heilung angesprochen, antwortet sie mit einer Gegenfrage und der Überlegung, ob überhaupt jemand in der Lage sei, diese Antwort zu geben. Ne, so ist das im Prinzip mit Heilung auch, also: Was so richtig ist eigentlich Heilung? Wer kann das definieren? Also die WHO hat-. Es gibt ja inzwischen eine Definition, die also sagt, Gesundheit ist eben auch psychisch, also psychisches Wohlbefinden, ne. Aber wer genau kann das eigentlich schon sagen oder kann es definieren? Gibt es überhaupt jemanden, der richtig heil ist? Interview Jessica, Z. 167-171 719 Die Haltung ist bei den Befragten unterschiedlich. Während Annita ebenfalls kritisch auf den Begriff Bezug nimmt und ihre Infragestellung gegenüber der Haltung Heidruns noch ausweitet (s.u.), ist die Bezeichnung für Marlene unproblematisch, da sie diese nicht verwende, sondern ihre PatientInnen mit „Vornamen“ (IMlw, Z. 147) anspreche. Im Gespräch mit Josefine wird das Thema indirekt aufgegriffen, da sie aufgrund des fehlenden Heilpraktikerabschlusses keine Krankheiten im engeren Sinne behandeln und die zu ihr kommenden Personen nicht als ‚PatientInnen‘ bezeichnen darf. Vgl. den Auszug aus dem Gespräch mit Annita: „Ich glaube Patienten sind in dem Fall wirklich, haben dann eben, also, nach meinem Verständnis, kann ich mich natürlich auch irren, ist wirklich, wenn das als krankheitswertig ist. Also, jetzt wenn jemand zum Beispiel ein psychisches Problem hat, ist es erstmal […] nicht so als wirklich krankheitswertig betrachtet, sondern es ist einfach eine Störung, die jetzt nicht als Krankheit gilt. Also, es ist ein Klient. Und ein Patient wäre, wenn man jetzt wirklich medikamentös stark behandelt wird, […] wirklich im klinischen Bereich gearbeitet wird. […]
I: Aber das heißt, Sie würden auch sagen, die Menschen, die zu Ihnen kommen sind nicht krank in dem Sinne?
A: Nein, nein, würde ich nicht sagen. Ich würde sogar so weit gehen, ich weiß auch, dass das natürlich ein Streitthema ist, ich glaube, dass niemand krank ist.“ (IAw, Z. 507-522)
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„Wer kann das definieren?“, fragt Jessica. Ist es überhaupt möglich, die von der Interviewerin gestellte Frage zu beantworten? Die Instanz, die sie dafür aufruft, „die WHO“, hat zwar einen Vorschlag gemacht, allerdings erscheint er der Heilpraktikerin nicht angemessen bzw. ausreichend. Vielmehr stellt sich für sie die Frage, „wer […] das eigentlich schon sagen oder […] definieren“ könne. Eine große internationale Expertenkommission mit TheoretikerInnen und praktischen AnwenderInnen scheint es jedenfalls nicht zu sein. Auch für Josefine ist klar, dass man „gesund und krank“ (Z. 110) nicht definieren könne. Und deswegen, gesund und krank ist so eine Definition, wo ich sagen würde: Ich glaube, das kann man nicht definieren. Weil ich kann auch nicht sagen, ich bin gesund. Vielleicht sagt der Nächste: Die ist verrückt. Interview Josefine, Z. 110-112
Im Gegensatz zum Gespräch mit Jessica ist die Bezugsgröße bei Josefine kein Gremium, sondern ihre eigene Haltung. Sie könne noch nicht einmal von sich selbst sagen, ob sie gesund oder krank sei, denn eine derartige, subjektive Einschätzung könnte immer auch eine Gegenreaktion hervorrufen. Daraus schließt Josefine verallgemeinernd: „[D]as kann man nicht definieren.“ Auch einzelne AutorInnen werden im Kontext der Frage nach Begriffsbestimmungen angezweifelt. Heidrun weist etwa auf die durch den Autor Rüdiger Dahlke720 formulierten Beschreibungen von Krankheitsbildern hin und kritisiert deren ‚Definitionsversuch‘. Also die Krankheit ist für mich-, ich habe das-, vorher habe ich von Dahlke, der ja so recht bekannt ist, //mhm// der ja die Bücher schreibt, wo man dann Krankheitsbilder und was will mir die Krankheit sagen, das fand ich manchmal sehr plakativ, also zu einfach, […]. Interview Heidrun, Z. 81-83
Zwar fragt Heidrun nicht grundsätzlich, ob überhaupt jemand in der Lage sei, Krankheit zu definieren, weist aber auf einen konkreten Autor hin, dessen Beschreibungen sie kennt und dem sie die entsprechende Kompetenz offensichtlich nicht zugesteht. Wenn es so „einfach“ und „manchmal sehr plakativ“ wäre, wie 720 Rüdiger Dahlke (*1951), deutscher Mediziner, Psychotherapeut und Alternativmediziner. Dahlke ist v. a. als Autor zahlreicher Bücher bekannt geworden, die sich mit den (psychosomatischen) Hintergründen von Krankheiten beschäftigen. Vgl. zu Literaturangaben FN 173. Daneben gibt Dahlke Seminare, hält Vorträge, bietet Reinkarnationstherapie an einem von ihm gegründeten Heilzentrum an (https://www.dahlkeheilkundezentrum.de/, aufgerufen am 30. Januar 2019) und leitet Ausbildungen für Therapeuten in seinen Heilungsansätzen.
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von diesem Autor vorgeschlagen, dann könne dieses Verständnis von Krankheit nicht adäquat sein. Während in den bisher zitierten Beispielen stärker die Implikationen der Begriffe sowie die grundsätzliche Möglichkeit der angemessenen Begriffsbestimmung im Blick waren, entzieht Marisa den von ihr kritisierten Personen grundsätzlich die ihnen gesellschaftlich zugesprochenen Kompetenzen und nimmt damit auch ihren Deutungen die Glaubwürdigkeit. Ihre Kritik gilt dabei v. a. SchulmedizinerInnen. Krebsärzte kriegen selbst Krebs, ne. Also fehlt denen ja-, wo, wo kommt das her? Die wissen es auch nicht. Kein Mensch kann über den anderen sagen, du lebst noch drei Monate. Da gibt es Erfahrungsberichte. Aber es sterben Leute an Krebserkrankung, aber nicht an der Erkrankung, sondern an Diagnosen, an Krebs-, an dem man gar nicht sterben muss, sterben die und halten sich pünktlich auf den Tag genau an die Prognose von ihrem Arzt. Interview Marisa, Z. 730-735
Grundsätzliche Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit von SchulmedizinerInnen und ihren Deutungen begründet Marisa mit einem für sie offensichtlichen Zusammenhang. Wenn „Krebsärzte […] selbst Krebs“ bekämen, so könne man nicht davon ausgehen, dass ihre Diagnosen und Therapieangebote dazu sinnvoll wären oder sie die dahinterstehenden Zusammenhänge soweit durchdrungen hätten, dass sie entsprechend gültige Deutungen anbieten könnten. Vielmehr steht für die Heilpraktikerin fest, „[d]ie wissen es auch nicht“. Entsprechend massiv ist ihre Kritik an schulmedizinischen Diagnosen und einem über dieses System stabil gehaltenen Prinzip. Mit ihren Deutungen sprächen hier Menschen über andere wirksame „Todesurteile“ (IMw, Z. 725) aus, obwohl die Erkrankungen Marisa zufolge nicht zwangsläufig tödlich sein müssten. Unter diesen Voraussetzungen müsse die Macht zur Deutung, die hier auf Seiten der MedizinerInnen liege, grundsätzlich in Frage gestellt werden. Für Marisa bedingen sich die Zweifel an den Personen und die an den Deutungen. Ärzte, die selbst erkranken, Diagnosen, die sich nicht bewahrheiten, Sterbefälle, die nicht nötig wären – für Marisa ist fraglich, „warum soll ich dann den Ärzten trauen?“ (IMw, Z. 757). Die genannten Personen können somit für sie nicht als Gewährsleute ihrer eigenen Deutungen fungieren. Gelöst wird diese Herausforderung durch Selbstkompetenz – wenn den Deutungen anderer nicht zu trauen sei, dann müsse „jeder Mensch […] eine so eine Methode kennen“ (IMw, Z. 558f.) und „informiert sein“ (IMw, Z. 591), um selbst Entscheidungen treffen zu können. Hier sieht die Heilpraktikerin ihre Aufgabe – und ihre Kompetenz: Sie werde die Menschen informieren, „[i]ch bin da, ich werde das sagen.“ (IMw, Z. 594f.) Bemerkenswert ist dabei, das die personale Deutungsmacht, die Marisa bei anderen Personen in Frage stellt, nicht durch Wissenschaft,
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Publikationen oder strukturelle Aspekte der Deutungsmachtgenerierung aufgewogen werden soll, sondern durch ebenfalls personale Macht zur Deutung – die der Heilpraktikerin selbst. Die Frage danach, welchen Anteil die Personen an der Gültigkeit der von ihnen vermittelten Deutungen haben, zeigt sich im Besonderen im Moment der Vermittlung. Werden Überzeugungssysteme jenseits konkreter Anwendung weitergegeben, stellt sich spätestens nun die Frage nach ihrer Rückbindung: Wodurch überzeugen und wirken die Anwendungen – über methodische Struktur, durch wissenschaftliche Absicherung, aufgrund der charismatischen Überzeugungskraft der sie vermittelnden Persönlichkeit? Im Gespräch mit Cornelia kommt diese Thematik im Kontext der von ihr angebotenen Methode des Besprechens zu Wort. Auf die Frage, wie sie diese Methode gelernt habe, erklärt sie, sie habe sie von einer Person gelernt, die selbst diese Methode anwende: Ja, also wenn Sie jemanden haben-. Bei mir war es sogar eine Frau. Also, so wie das früher war, ne: nur von Mann zu Frau und umgekehrt, ist nicht mehr. Ich habe es von einer Frau. Ich habe das auch bezahlt. Interview Cornelia, Z. 441-443
Zur Sprache kommen hier Aspekte wie die persönliche Weitergabe, durch die diese Methode verbreitet wird, und darin auch das Fehlen einer institutionalisierten ‚Prüfungsinstanz‘. Offen bleibt, ob es eine Form der methodischen Absicherung gibt oder ob, so scheint es in der Aussage Cornelias, die Überzeugungskraft allein in der durchführenden Person liegt. Bemerkenswert ist auch der letzte Satz des Zitats, in dem Cornelia betont, sie habe „das auch bezahlt“. Anders als die Beschreibungen zur Methode es erst einmal nahe legen – jemand hat eine bestimmte Begabung, die er an eine andersgeschlechtliche Person mit ebenfalls angelegter Begabung weitergibt – scheint hier eine moderne Form der Ausbildung zu bestehen – eine Schülerin bezahlt eine Kursgebühr und lernt dafür von einer Lehrperson die Inhalte einer Methode in Theorie und Praxis. 6.8.6 Fazit: Person Die Orientierungskategorie Person bildet sich vielfältig im erhobenen Material ab. In der Analyse von Deutungsmachtmechanismen ist die personale Macht zur Deutung eine Form neben anderen, die eine Rolle spielt. Dabei lassen sich zwei Gründe unterscheiden, auf deren Basis diese Macht zur Deutung entsteht, nämlich in der Zuschreibung von Rollen, Ämtern bzw. Autoritäten sowie eine qua Charisma vermittelte. Beide Formen finden sich im untersuchten Material und sind
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auch häufig (in Abgrenzung) miteinander verbunden. Besonders markant ist das Thema der Auseinandersetzung um Rollenzuschreibungen. In diesen Aushandlungsprozessen ist sowohl eine Ableitung von personaler Deutungsmacht aus der Anerkennung bestimmter Rollen, aus persönlicher Reputation oder Bekanntheit des Namens dargestellt worden als auch die Ableitung von Autorität aus persönlicher Kompetenz, eigener (Weiter-)Bildung oder Überzeugung durch Ergebnisse. Gerade die Auseinandersetzung mit diesen beiden Begründungsmechanismen spielt für die Akteure des Feldes eine Rolle und wird immer wieder in den Interviews thematisiert: Generiert sich die Autorität einer Person, die es ihr ermöglicht, Deutungen zu transportieren oder zu hinterfragen, aus ihrer (sozialen) Rolle bzw. einem Amt oder aus Begabung und Intuition, die sich möglicherweise in Ergebnissen niederschlägt? Dabei wird in den Interviews das persönliche Charisma und das daraus abgeleitete Vermögen zur Deutung als Gegenbild zur amtlichen Autorität besonders im Sinne einer Begabung bzw. Intuition dargestellt. Auch in den Performanzen zeigen sich die Zuweisungen bestimmter Rollen und damit verbundene Vorstellungen von Autorität zur Beeinflussung von Deutungsprozessen. Zudem wurde in der Materialanalyse die Subkategorie Anerkennung durch RezipientInnen untermauert, die in doppelter Perspektive für das Untersuchungsfeld von Relevanz ist. Zum einen kam die zentrale Bedeutung zur Sprache, die die klassischen (Deutungs-)Anbieter im Medizinsystem haben, also ÄrztInnen und TherapeutInnen, deren Diagnosen in (mitunter) vorbehaltloser Anerkennung durch die PatientInnen gestützt würden. Dabei spielt besonders auch die Anerkennung professioneller Autorität und persönlicher bzw. gesellschaftlicher Reputation eine große Rolle. Zum anderen ist das Thema Anerkennung auf die InterviewpartnerInnen selbst und ihre Deutungen bezogen von großer Bedeutung. Die Anerkennung durch die RezipientInnen ist sowohl im Blick auf die Gewinnung neuer PatientInnen als auch für die Durchsetzung der alternativen Deutungen unerlässlich. Die herausgehobene Rolle, die die persönliche Beziehung zu Vorbildern bzw. auch im Kontext der Leitung der besuchten Veranstaltungen spielt, ist ebenfalls im Material deutlich geworden. Auch in dieser Orientierungskategorie erwies sich die Zusammenfassung von Codierungen als Differenzkategorie der Infragestellung als sinnvoll. Dabei wurde solches Material gebündelt, in welchem das Vermögen von Personen zur Beeinflussung von Deutungsprozessen in Frage gestellt wird. Deutlich wurde dies etwa an der Infragestellung der Verwendung bestimmter Begriffe bzw. Definitionen. Hier kam die Kritik der InterviewpartnerInnen v. a. indirekt zum Ausdruck, bspw. durch die Ablehnung der Implikationen dieser Begriffe und ihrer als unangemessen verstandenen Rollenzuschreibungen oder auch durch die grundsätzliche Infragestellung der Möglichkeit der passenden Abbildung eines Phänomens in einer Definition.
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6.9 VERGLEICHSMATERIAL Als Vergleichsmaterial werden der ausführlichen Analyse der elf Interviews sowie der vier Beobachtungen drei weitere Interviews gegenübergestellt. Zwei der GesprächspartnerInnen bieten alternative Heilmethoden an, verfügen jedoch weder über eine Ausbildung noch über einen Abschluss als HeilpraktikerInnen; die dritte Gesprächspartnerin ist eine Schulmedizinerin mit einem naturheilkundlich erweiterten Angebot. Bei der Analyse der drei Gespräche wurde der Fokus auf die Besonderheiten bzw. die Differenzen zu den HeilpraktikerInnen gelegt. Im Blick auf die vorgenommenen Codierungen in den Interviews liegt der thematische Schwerpunkt bei Jens und Simone eindeutig im Bereich der Transzendenzbezüge. Jens und Simone arbeiten zusammen in einer norddeutschen Großstadt. Sie haben keine eigenen Praxisräume, sondern bieten ihre Anwendungen vornehmlich in einem Raum der privaten Wohnung an. Sie haben keine Ausbildung zur Heilpraktikerin bzw. zum Heilpraktiker und bezeichnen sich selbst als ‚Heiler‘. Jens ist etwa 55 Jahre alt. Er hat einen technischen Beruf studiert und nach einiger Zeit in diesem Beruf in der IT-Branche selbständig gearbeitet. U. a. aus Anlass der persönlichen Erfahrung schwerster Krankheit in der Familie hat er sich intensiv mit alternativen Heilverfahren und verschiedenen Weltanschauungen beschäftigt. Nach dem Ausscheiden aus seinem ursprünglichen Arbeitsfeld hat er verschiedene alternativmedizinische Methoden gelernt und v. a. Ayurveda in Einrichtungen wie Kurkliniken angeboten. Ein Versuch, sich mit einer Praxis selbständig zu machen, scheiterte. Stattdessen hat Jens immer wieder Weiterbildungskurse angeboten und Vorträge gehalten. Zum Zeitpunkt des Interviews hält er weiterhin von Zeit zu Zeit Vorträge über sein Heilungsverständnis und behandelt KlientInnen in Einzelsitzungen v. a. mit Ayurveda und Prana. Simone ist etwa 50 Jahre alt. Sie hat einen medizinischen Ausbildungsberuf gelernt und in verschiedenen Arztpraxen gearbeitet. Zur Zeit arbeitet sie nicht mehr als Angestellte, sondern beschäftigt sich mit verschiedenen alternativmedizinischen Methoden, mit Kräuter- und Naturheilkunde etc., worüber sie etwas lernen möchte, wobei sie sich über Literatur sowie Internet informiert und weiterbildet. Sie bietet Einzelbehandlungen u. a. in Reiki, Akupressur und Shiatsu an.
Die Codierungen der Orientierungskategorie Transzendenzbezug nehmen im Gespräch mit Jens eine zentrale Stellung ein und bilden thematisch fast alle der her ausgearbeiteten Subkategorien ab. Dabei sind die Ausführungen weniger subtil, z. T. drastischer und stärker an konkrete religiöse und weltanschauliche Systeme angebunden als dies in den Gesprächen mit der Hauptuntersuchungsgruppe der
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Fall war. Die Vorstellung von höheren, transzendenten Wesen wird in vielfacher Ausgestaltung kommuniziert, wenn von „anderen Wesenheiten, die jetzt unsichtbar sind“ (IJm/ISw, Z. 272), von „Gott“ (IJm/ISw, Z. 276, 740 u. ö.), „dämonische[n] Wesen“ (IJm/ISw, Z. 283) und Ähnlichem gesprochen wird. Die Vorstellung einer anderen Ebene, die für Menschen nur bedingt zugänglich ist, wird im Interview ebenfalls aufgegriffen. So berichtet der Heiler von einer „außerkörperliche[n] Erfahrung“ (IJm/ISw, Z. 176), die er im Rahmen der Anwendung einer „Prana-Selbstheilung“ (IJm/ISw, Z. 174) gehabt habe. Prana, Reiki und verschiedene weitere Vorstellungen von „Energien“ (IJm/ISw, Z. 258) („feinstoffliche“ (IJm/ISw, Z. 665, 667 u. ö.), „teuflische“ (IJm/ISw, Z. 659), „geistige“ (IJm/ISw, Z. 1033) sind im belief system des Heilers sehr präsent. Im Datum eines schweren Schicksalsschlages liest der Heiler aufgrund von „Numerologie“ (IJm/ISw, Z. 298) die Fügung zu einer „Vollendung“ (IJm/ISw, Z. 298). Auch ein transzendentes Körperverständnis wird im Gespräch deutlich, besonders in den Ausführungen des Heilers zu seiner Idee einer vollkommenen Heilung. Diese nimmt körperliche Aspekte nur sekundär in den Blick, die eigentliche, richtige Heilung geschehe auf einer anderen Ebene und frage vielmehr nach einem wirklichen Verstehen von Gott und Welt.721 Über diese einzelnen Aspekte hinaus weist das Gespräch eine fast unüberschaubare Menge von Bezügen zu transzendenten Vorstellungen, Wesen, Systemen und Weltanschauungen auf. Neben der Bhagavad Gita und der Srimad Bhagavatam wird aus der Bibel zitiert und auf den Maya-Kalender verwiesen, neben die Konzepte einer dualen Materie und einer Reinkarnation treten Vorstellungen von Indigokindern und Verwünschungen, neben einem sehr persönlichen Verhältnis zu einem Schöpfergott werden Schamanen konsultiert und Wesenheiten sowie die Anwesenheit Verstorbener angenommen. Zu diesem
721 „Der Heilprozess auf der Gesamtheitsebene wäre, zu verstehen: Wer ist man selbst? Körper, Geist, Seele. Dass ich eine Seele bin, ich habe eine Verkörperung und ich habe eine Interaktion zwischen der Verkörperung und der Seele. Da fließt eine Energie hin und her, damit der Körper gesteuert wird. Also, der Geist. Das sollte man verstehen, diese Trinität, die gibt es, wie sie funktioniert. Und dass ich, als verkörpertes Lebewesen, aber ein Bestandteil des großen Universums oder des Schöpfers bin. Bloß, wie hat der Schöpfer mich geschaffen und welcher Bestandteil von ihm bin ich? Das zu verstehen, das wäre jetzt diese-, das wär die höchste Heilung. Also, wenn einer sagt, ich muss meinen Körper heilen […] und dann bin ich geheilt. Das ist nicht die Heilung! Wenn sie das Heilverständnis haben, dann von mir aus. Aber das ist nicht richtig.“ (IJm/ISw, Z. 846-857)
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Patchwork an östlich-religiösen, biblischen und esoterischen Überzeugungen treten verschiedentlich verschwörungstheoretisch anmutende Ideen des Heilers.722 Neben dieser sehr stark vertretenen ersten Orientierungskategorie ist auch die zweite Kategorie der Sinnstiftung im Interview deutlich zur Sprache gekommen. Ausführlich berichtet Jens von einer Krankheit in der Familie und greift sowohl im Kontext der Suche nach den Ursachen als auch im Blick auf seine eigene Unfähigkeit, mit Prana-Behandlungen die Krankheit aufzuhalten, immer wieder auch auf Fragen der eigenen Schuld und Vorstellungen eines Karmas zurück.723 Auch die Konstruktion von Sinnzusammenhängen wird angesprochen, wenn ein göttlicher Plan724 angenommen oder von einer Bestimmung für das eigene Leben ausgegangen wird. Handlungsanweisungen, die sich aus einer Sinnstiftung ableiten ließen, finden sich in diesem Gespräch dagegen nicht. Im Blick auf Riten bzw. Rituale bleiben die Beschreibungen Jens’ sehr knapp und vage, so dass lediglich aufgrund
722 So weist der Heiler etwa darauf hin, dass er seine eigene schlechte wirtschaftliche Lage und die von ihm als sehr mäßig eingeschätzte Situation der Region durchaus für nicht zufällig hält. „Also, wir wissen es nicht, warum es klemmt. Gibt auch so die, na ich will nicht sagen, Thesen, aber wir wissen, es gibt tatsächlich doch die Einflüsse, dass jetzt hier Nordstadt bestrahlt wird, mit hochfrequenter Strahlung, und so weiter. Eine riesen Sendeanlage steht in [Stadtteil], die gekoppelt ist mit Südskandinavien und so weiter, die hier auch so eine Glocke über Nordstadt schafft, deswegen, man kann in Nordstadt sehen, dass auch wirtschaftlich alles auf der Bremse steht.“ (IJm/ ISw, Z. 1490-1495) Und noch konkreter auf seine eigene Situation bezogen, nimmt der Heiler die Wirkung negativer Energien und „teuflische[r] Wesen“ (IJm/ISw, Z. 759) an: „Wenn gewisse Angriffe kommen oder gewisse Behinderungen. Entweder kommen Angriffe, die spüre ich direkt. Das ist unangenehm. […] Das heißt also, man hofft darauf, dass man jetzt von seiner Arbeit auch leben kann. Oder besser leben kann. Die kommen nicht. Als wenn Schutzschilder um die Heiler rum aufgebaut wären. Und es geht fast allen Heilern, zumindest die ich kenne, so. Das bricht-, also der Bedarf müsste eigentlich da sein. Es sind viele Leute sehr krank. Oder auch psychisch krank oder sind in Lebenskrisen. Aber tatsächlich ist es so, es kommen immer weniger.“ (IJm/ISw, Z. 760-770) 723 „[D]iese Verknüpfung mit Glück und Leid, habe ich die selbst verschuldet oder karmisch verursacht oder nicht? Welchen Einfluss habe ich, und welchen Einfluss habe ich nicht? Und das ist ja damals mit der Prana-Behandlung […] gewesen. Ich habe mich ja nun wirklich voll reingehängt und konnte sie nicht retten.“ (IJm/ISw, Z. 653757) 724 „[…] damit sie in Gottes Reich reinkommen […]. Das war der Sinn der Sache.“ (IJm/ ISw, Z. 1413f.)
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der Erwähnung durchgeführter Prana-Behandlungen und Meditationen von einer rituellen Praxis ausgegangen werden kann. Unter den Kategorien der Deutungsmachtanalyse wurden Codierungen der Orientierungskategorie Wissenschaftlichkeit/Faktizität am häufigsten vergeben. Nicht nur weist der Heiler auf seinen beruflichen Werdegang als Ingenieur hin, darüber hinaus macht er deutlich, dass er bei der Suche nach Krankheitsursachen sehr „systematisch […] arbeiten“ (IJm/ISw, Z. 64) würde und auch seine Infragestellung von ÄrztInnen und TherapeutInnen nimmt er mithilfe eines systematisch angelegten Vorgehens in Angriff.725 Zudem wird im Gespräch immer wieder deutlich, mit welcher Intensität der Heiler verschiedene Literatur rezipiert und zu einem für sich stimmigen Weltanschauungssystem zusammenzufügen versucht. Auch die Orientierungskategorie Naturalisierung/Normalisierung findet sich in der Codierung dieses Interviews. Besonders deutlich wird dies in einem Vergleich, den der Heiler ausführt und auf den er mehrfach im Rahmen des Gesprächs verweist. Er sehe eine Analogie von „der Natur und der Gesellschaft“ (IJm/ISw, Z. 566) mit „dem menschlichen Körper“ (IJm/ISw, Z. 567) im Kleinen und im Blick auf „den Kosmos“ (IJm/ISw, Z. 569) im Großen. Auf diese Art und Weise verstehe er, so der Heiler, gesellschaftliche Zusammenhänge, übergeordnete, kosmische Komplexe sowie individuelle Heilungsprozesse.726 Aus dieser Analogie zieht der Heiler den Schluss, dass alle Probleme gesellschaftlicher und globaler bzw. kosmischer Art daraus entstünden, dass die Abläufe in ihrer natürlichen Ordnung gestört würden, „weil wir ständig irgendwie versuchen, mit einem bestimmten Willen was zu machen“ (IJm/ISw, Z. 838f.). Ein natürliches, nicht durch den Verstand eigennütziger Menschen irritiertes System, so die Schlussfolgerung, liefe reibungslos. Die Orientierungskategorie Person ist trotz der geringen Codierung insofern für den Vergleich interessant, als hier wie bei einigen der GesprächspartnerInnen der Hauptuntersuchungsgruppe eine starke Abgrenzung und Ablehnung gegenüber der Schulmedizin stattfindet (Enttäuschung im Umgang mit der schweren Krankheit in der Familie, Unzufriedenheit mit ÄrztInnen im Allgemeinen), 725 „Hat es biologische Ursachen? Hat es was mit der Ernährung zu tun? Hat es also chemische Ursachen, vielleicht Vergiftungen? Hat es physikalische, vielleicht Verstrahlungen? Oder hat es psychische? Nach diesen vier Ansätzen haben wir gesucht. Da wurden wir aber auch schon belächelt, insbesondere von den Ärzten […].“ (IJm/ ISw, Z. 67-70) 726 „Das heißt also, ich kann von dem-, von der Beobachtung der Natur und der Gesellschaft auf den menschlichen Körper schließen oder ich kann aus dem menschlichen Körper heraus, den als kleines Muster nehmen für das, was im Großen passiert. Aber das ist nicht nur die menschliche Gesellschaft, betrifft auch den Kosmos. So.“ (IJm/ ISw, Z. 566-569)
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die auch durch das Gefühl einer Geringschätzung bzw. Ablehnung durch diese geprägt zu sein scheint. So hebt Jens hervor, dass er den Begriff „Patient[…]“ nicht verwenden dürfe, obwohl er die Arbeit mit seinen ‚PatientInnen‘ für sehr wirkungsvoll hält. Ich habe nur gemerkt bei Ayurveda-Massagen ist es so, die Patienten-, nein, Patienten darf ich ja nicht sagen: Klienten. //[S schnaubt spöttisch]// Ein Arzt darf Patient sagen. Die Klienten sind danach […]. Interview Jens und Simone, Z. 900ff.
Simone, die während des Gesprächs anwesend ist, kommentiert das Verbot, diese Bezeichnung zu nutzen, mit einem spöttischen Schnauben. Privilegien, wie die Erlaubnis zur Verwendung bestimmter Bezeichnungen und die damit verbundene Autorität, die sich aus einer professionellen Rolle speist, werden durch Jens und Simone in ihrer Berechtigung in Frage gestellt. Auch der zweite Teil des Gesprächs, in dem die Hauptgesprächspartnerin Simone ist, ist durch einen starken Transzendenzbezug geprägt. In dieser Orientierungskategorie wurden auch in den Aussagen Simones zahlreiche Codierungen vergeben, die u. a. ihre Herkunft aus und fortdauernde Anbindung an ein evangelisches Milieu sichtbar werden lassen. Neben ihrer Herkunft727 hebt Simone immer wieder auch eine persönliche Glaubensbeziehung hervor, denn „irgendwie war mir Gott immer nahe“ (IJm/ISw, Z. 1150) und auch „Jesus ist mir sehr nahe“ (IJm/ ISw, Z. 1156). Auch klassische christliche Stücke wie das Vaterunser728 oder die Anrede Gottes als „Vater“ (IJm/ISw, Z. 1217)729 sind für Simone selbstverständlicher Bestandteil ihres Weltbildes und fließen in ihre Behandlungen mit ein. Neben diesen protestantisch geprägten Vorstellungen ergänzen sich weitere transzendente Überzeugungen wie die Annahme einer abstrakten „Allmacht“ (IJm/ISw, Z. 1231), die selbstverständliche Rede von „Energien“ (IJm/ISw, Z. 1234), die fließen müssten, die Arbeit mit „Prana“ (IJm/ISw, Z. 1185) und „Reiki“ (IJm/ISw, Z. 1236), aber auch die Vorstellung, „man wird so gelenkt“ (IJm/ISw, Z. 1258) und die Freude darauf, am Ende der eigenen Lebenszeit „dann in Sein Reich eintreten [zu] dürfen“ (IJm/ISw, Z. 1219) zu dem persönlichen belief system dieser Heile727 „Ich meine, ich komme aus einer Familie, wir sind evangelisch […].“ (IJm/ISw, Z. 1149) 728 „Ich bete ja auch vorher, und sage immer noch: „Dein Wille gescheh-, nach-, Dein Wille soll geschehen.“ So formuliere ich das dann. Und das ist nicht mein Wille, sondern Sein Wille.“ (IJm/ISw, Z. 1232-1234) 729 „[I]ch habe das Gefühl, ich habe eine starke Verbindung zu unserem Vater da oben.“ (IJm/ISw, Z. 1217)
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rin. Im Blick auf ihre Heilungsvorstellung verweist Simone, ebenso wie Jens, darauf, dass die Heilung nicht allein auf körperlicher Ebene stattfinde. Man könne bei der Behandlung zwar „den Körper berühren“ (IJm/ISw, Z. 1184), „man muss es [aber] auch nicht“ (IJm/ISw, Z. 1184) und „kann auch Fernbehandlung machen“ (IJm/ISw, Z. 1185). Diese Behandlungsebene jenseits körperlicher Berührung ist für die beiden Heiler die entscheidende in ihrem Umgang mit KlientInnen. Im Blick auf die Frage nach der Sinnstiftungsebene ist aus dem Gespräch mit Simone besonders die Idee einer Berufung und Bestimmung und damit einer Sinnkonstruktion bezogen auf die eigene Person hervorzuheben. Bevor sie mit Jens einen partnerschaftlichen Kollegen für die Zusammenarbeit getroffen habe, habe sie „ein paar Kartenorakel“ (IJm/ISw, Z. 1164) befragt, die ihr deutlich zu verstehen gaben: „Folge Deiner Berufung […].“ (IJm/ISw, Z. 1164) In dieser Weise fühle sie sich in ihrer jetzigen Arbeit „berufen“ (IJm/ISw, Z. 1180; 1214) und sehe ihre Aufgabe im „Dienen“ (IJm/ISw, Z. 1201). Ihre Berufung empfindet sie dabei so stark, dass sie dafür eine weite räumliche Trennung und teilweise einen Kontaktabbruch von ihrer Familie in Kauf nimmt,730 ist sie doch überzeugt, „[e]r [Gott, Anm. P. S.] wird schon wissen warum“ (IJm/ISw, Z. 1440). Während auch Simone nur indirekt über die Erwähnung ihrer Behandlungsmethoden Prana und Reiki Hinweise auf rituelle Handlungen gibt, lassen sich die Orientierungskategorien der Deutungsmachtanalyse fast vollständig exemplarisch abbilden. Während Orientierungen an Normalitätsvorstellungen für die Heilerin keine Rolle spielen, ist Natur als Bezugsgröße ihrer Arbeit ein wichtiges Thema, beschäftigt sich Simone doch viel mit „Kräutern“ (IJm/ISw, Z. 1124, 1136), „Bachblüten“ (IJm/ISw, Z. 1125) und experimentiert in ihrem „kleinen Garten“ (IJm/ISw, Z. 1127). Dabei werde ihr auch immer wieder bewusst, dass die Erkenntnisse, die sie sich über Kräuter und Heilpflanzen aneigne, alt seien und dass „meine Omas“ (IJm/ISw, Z. 1205) das schon gewusst haben müssten, womit Simone einen Begründungszusammenhang aus der Kategorie Genese aufruft. Im Blick auf ihre persönliche Autorität, mit der sie ihre Überzeugungen untermauert, wird explizit darauf verwiesen, dass die Heilerin als gelernte Krankenschwester einen besonders guten und kompetenten Einblick in das schulmedizinische System habe, ihre Arbeit in verschiedenen Arztpraxen habe sie in dieser Beziehung geschult. Zugleich betont sie, durch ihre „Sensibilität“ (IJm/ISw, Z. 1118) sei sie „natürlich empfindlicher 730 „Ist einfach mein Traum. Ist einfach mein Traum und dafür danke ich wirklich jeden Tag. Wenn es mir auch wehtut, meine Kinder und Enkelkinder sehe ich ja kaum. Eine Tochter, die spricht dadurch nicht mehr mit mir, die hat den Kontakt abgebrochen. Kommt vielleicht wieder irgendwann, und die anderen-, na, wir sehen uns dann selten. […] Aber das andere ist mir wichtiger, also die Arbeit, das Dienen-. (IJm/ISw, Z. 1195-1201)
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als so Menschen, die da noch nicht so mit in Kontakt mit sind“ (IJm/ISw, Z. 1119) und es sei „für mich doch schwieriger dann klar zu kommen“ (IJm/ISw, Z. 1120) mit den Diskrepanzen und Unstimmigkeiten, die sie in diesem System erfahre. Dieser kurze, schlaglichtartige Einblick in das ausführliche Gespräch mit den beiden Heilern zeigt einige Besonderheiten im Vergleich zu den untersuchten HeilpraktikerInnen. Für die beiden HeilerInnen lässt sich als besonders markantes Merkmal herausheben, dass der Fokus ihrer Ausführungen in der Kategorie der Transzendenzbezüge liegt. Waren die Codierungen zu dieser Orientierungskategorie in den Heilpraktikerinterviews unterschiedlich stark und in der Mehrheit eher in zurückhaltenden Formulierungen zu finden, nehmen Jens und Simone auf transzendente Vorstellungen und Systeme durchgängig und explizit Bezug. Simone weist ausdrücklich auf ihre protestantische Herkunft hin und bindet ihre Überzeugungen mehrfach an die daraus übernommenen Vorstellungen zurück, was eine im untersuchten Material einzigartige Explikation darstellt. Die Addition verschiedener Vorstellungen höherer Wesen, transzendenter Energien, unverfügbarer Ebenen oder einer transzendenten Weitung des Körperverständnisses bildet dagegen eine Gemeinsamkeit mit dem untersuchten Material der HeilpraktikerInnen. Zentral sind neben transzendenten Anknüpfungen bei Jens und Simone auch Sinnfragen und -konstruktionen, die mit der Ebene der transzendenten Vorstellungen eng verknüpft werden. Medizinische und methodische Aspekte kommen dagegen in diesem Gespräch kaum zur Sprache, warum eine Methode wann oder wie ausgeführt wird, welche Indikationen es gibt, welche Diagnosen die beiden erstellen – darüber geben die Heiler keine Auskunft. Der Bezug zum schulmedizinischen System erfolgt in erster Linie über die Abgrenzung. Dieses Vorgehen war auch in einigen der Heilpraktikerinterviews zu sehen, wobei dort fast durchgängig ein Bemühen um eine Annäherung und Wertschätzung gegenüber diesem System zu beobachten war.731 Die Abgrenzung von Jens ist dagegen fundamental; mit einer als systematisch dargestellten Konstruktion seiner Weltanschauung, die durch eine Unmenge an Literatur gesichert wird, weist er Privilegien von ÄrztInnen und Berechtigungen medizinisch-therapeutischer Maßnahmen zurück. Besonders markante Argumentationsfiguren wie die der Naturalisierung, der Anbindung an Wissenschaftlichkeit oder die des Bezugs auf fachliche Autoritäten, die in den
731 Sogar Marisa, die mit ihrer Kritik am schulmedizinischen System und an den Autoritäten dieses Systems nicht spart, bemerkt positiv, auch sie profitiere von der Diagnostik und Behandlung der Schulmedizin und sie betont, dass sie sich im Behandlungsfall „freue […], wie weit die Schulmedizin ist“ (IMw, Z. 797f.). Zudem spricht sie sich für mehr Anerkennung aus, denn es wäre „schöner […], die würden zusammenarbeiten“ (IMw, Z. 800).
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Interviews mit den HeilpraktikerInnen eine wichtige Rolle spielten, fehlen bei diesen beiden GesprächspartnerInnen. Zusammenfassend lässt sich für diesen exemplarischen Blick auf HeilerInnen ohne Heilpraktikerprüfung sagen: In Schwerpunktsetzung und Argumentation zeigt sich eine große Diskrepanz zwischen den interviewten HeilpraktikerInnen und diesen HeilerInnen. Während sich die Argumentationsebenen ersterer breit fächern und transzendente sowie sinnstiftende Deutungen immer wieder mit wissenschaftlichen, medizinischen, auch naturalisierenden bzw. normalisierenden Aspekten in Einklang gebracht und so Überzeugungskraft generiert werden soll, bewegen sich die Deutungsmuster der HeilerInnen schwerpunktmäßig auf der Ebene der Transzendenzbezüge und weisen in nur geringem Maße auf Übereinstimmung ausgerichtete Argumentationen auf. Als weiteres Vergleichsmaterial dient das Interview mit einer Ärztin, die neben ihrer schulmedizinischen Ausbildung verschiedene alternativmedizinische Zusatzausbildungen absolviert hat und diese in ihrer Praxis begleitend anbietet. Carmen ist etwa 55 Jahre alt. Sie hat eine Praxis für Allgemeinmedizin in einer norddeutschen Großstadt. Die Praxis hat sie – inklusive Patientenstamm – vor Jahren übernommen. Da sie ihr Wunschstudium Psychologie zuerst nicht antreten konnte, absolvierte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester und studierte anschließend Medizin. Nach dem Studium hat sie lange aufgrund von Schwangerschaften und Kindererziehungszeiten pausiert und in dieser Zeit neben Vertretungsdiensten einige Zusatzausbildungen in alternativmedizinischen und naturheilkundlichen Verfahren absolviert. Sie sagt, „wenn ich […] von Anfang an eine Praxis gehabt hätte, glaube ich nicht, dass ich das alles nebenbei noch mitgemacht hätte. […] Aber so war ich zu Hause und konnte das immer dann so nebenbei machen.“ (IÄCw, Z. 44-47) Sie bietet zusätzlich zu schulmedizinischen Behandlungen naturheilkundliche und alternativmedizinische Behandlungen wie Homöopathie, Schröpfen, Akupunktur u. a. an.
Im Gespräch mit Carmen sind einige Aspekte bemerkenswert, die sich, wenn auch unter Vorbehalt, der Orientierungskategorie Transzendenzbezug zuordnen lassen. Auch Carmen verweist auf die Vorstellung einer ‚Energie‘, die für sie im Kontext von Krankheit und Gesundheit relevant sei. Sie sei, in Anlehnung an die chinesische Medizin davon überzeugt, „[d]ass wir letztendlich einen bestimmten Vorrat an Energie haben und mit dem müssen wir sparsam umgehen“ (IÄCw, Z. 69f.). Sie habe zudem den Eindruck, Krankheit entstehe, wo PatientInnen „zu viel Energie einfach rausgenommen haben“ (IÄCw, Z. 256f.) aus ihrem Körpers. Vor diesem Hintergrund sei das zentrale Prinzip zur Heilung „die Balance zwischen Rausnehmen aus dem Körper und Reingeben“ (IÄCw, Z. 64f., ähnlich Z. 258, Z. 288). Ebenfalls als Anleihen an eine transzendente Vorstellung lässt sich die
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Aussage der Ärztin verstehen, die Ursache von Krankheiten sei „häufig […] tatsächlich die Seele“ (IÄCw, Z. 139f.). Nicht Viren oder Bakterien, Ansteckung oder ein geschwächtes Immunsystem hebt Carmen hier als zentrale Krankheitsursache hervor, sondern Gründe, die sich in der Seele der PatientInnen finden. Bemerkenswert ist die folgende Passage, in der Carmen sich zu ihrer Auffassung von Gesundheit äußert: Aber die Gesundheit ist irgendwo ein Geschenk für uns. Und wir sind uns ja dessen gar nicht bewusst. Wir werden uns ja erst bewusst, wenn wir krank sind. Dass wir jeden Tag frisch-, wir müssen auch jeden Tag darüber nachdenken. Aber es ist ja so. Man ist-, kann sich jeden Tag freuen, wenn man noch arbeiten kann, wenn man dies kann und jenes kann. […] Also ich könnte persönlich nicht damit zurecht kommen, wenn ich schwer krank werden würde, was ich ja auch nicht weiß, und ich müsste mir selber sagen: Ja, du hast geraucht und du hast getrunken. Oder: Du warst zu dick und hast keinen Sport getrieben. Und ich sage immer, die Gesundheit ist ein Geschenk. Wir sollten uns bemühen, dieses Geschenk ein Stück weit zu erhalten. Und das Beste für tun. Interview Ärztin Carmen, Z. 316-325
Die Ärztin macht auf der einen Seite deutlich, dass „Gesundheit […] ein Geschenk“ sei in ihren Augen und wir uns dessen bewusst werden sollten. Im Bild des Geschenks wird die Vorstellung einer Unverfügbarkeit transportiert. Das Geschenk hat ein Mensch erhalten, er bekommt es ohne Gegenleistung und nimmt es häufig nicht einmal bewusst wahr, so Carmen. Mit der Unverfügbarkeit und Bedingungslosigkeit, die dem Bild des Geschenks innewohnt, wird Gesundheit als natürliches und zugleich transzendentes Gut verstanden. Auf der anderen Seite folgert Carmen aus dem Erhalt des Geschenks eine Aufgabe und Verantwortung, die bei Missachtung zum Aufladen eigener Schuld führen kann. Sie selbst etwa, so die Ärztin, „könnte persönlich nicht damit zurecht kommen“, wenn sie „schwer krank werden würde“ und darin die Folge ihres eigenen Fehlverhaltens erkennen müsste. Insgesamt zeigen sich die Beispiele, die sich aus dem Interview mit Carmen der Orientierungskategorie Transzendenzbezug zuordnen lassen, als ambivalent. Zwar verweist die Ärztin auf Energie, auf die Seele als Krankheitsursache oder auch auf das Geschenk der Gesundheit und schafft darüber eine Nähe zu den transzendenten Vorstellungen, die in den Interviews mit den HeilpraktikerInnen herausgearbeitet wurden, zugleich sind die Begriffe so wenig gefüllt und unbestimmt (wie etwa der Energie-Begriff), dass sich hier kaum von eindeutig transzendenten Vorstellungen sprechen lässt. Auch das Geschenk der Gesundheit wird durch die Überzeugung, mit dem eigenen Verhalten für dieses bzw. den Verlust desselben schuldhaft verantwortlich zu sein, immanent rückgebunden.
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Auch zu anderen Orientierungskategorien wurden in diesem Interviewtext Codierungen vorgenommen. Arbeit als sinnvolle und erfüllende Beschäftigung nimmt in Carmens Vorstellung einen so zentralen Stellenwert im Zusammenhang mit Krankheit ein, dass hier eine Verbindung von Sinnstiftung und Gesundheit gesehen werden kann. Viele PatientInnen wären in ihrer beruflichen Anfangszeit aufgrund des Verlustes ihres Arbeitsplatzes und damit einer Aufgabe krank geworden und zu ihr gekommen.732 Während Aspekte ritueller Handlungen und Vergemeinschaftungsformen im Rahmen des Gesprächs nicht thematisiert werden, lassen sich zur deutungsmachtanalytischen Kategorie Naturalisierung und Normalisierung Anknüpfungen finden. Klar korreliert sind nach der Überzeugung der Ärztin Gesundheit und ein normaler Tages- und Arbeitsablauf. Auf die Frage nach ihrem Verständnis von Krankheit verweist Carmen zunächst auf die Definition der WHO,733 um dann eine eigene Beschreibung anzuschließen, die darauf zielt, ein Patient sei für sie „dann krank, wenn er mir signalisiert, er fühlt sich, zum Beispiel, nicht arbeitsfähig. Er fühlt sich in seinem Allgemeinbefinden gestört[…]. […] Er fühlt sich einfach nicht gut, für sich, gefühlt.“ (IÄCw, Z. 131-135) Verbunden wird in dieser Aussage eine Normalitätsvorstellung – arbeiten können und sich im Allgemeinen gut fühlen – mit der ganz individuellen Bestimmung einer Krankheitswertigkeit über das eigene Gefühl. Als Naturheilkundlerin weist die Ärztin im Gespräch naheliegenderweise mehrfach auf natürliche Gegebenheiten als Maßstab hin. So sei es für sie selbstverständlich, dass der Körper von PatientInnen „irgendwo auch eine Zeit [braucht], um sich zu regenerieren. Das ist für mich naturgegeben.“ (IÄCw, Z. 56f.) Darüber hinaus betont sie, dass sie grundsätzlich zuerst schaue, „was kann ich naturheilkundlich machen. Also, mach, bei Infekt und so fast gar keine Schulmedizin. Sage sehr oft auch: gar keine Medizin. Auch keine Naturheilkunde. Weil: vieles reguliert der Körper ja auch alleine.“ (IÄCw, Z. 49-53) Carmen sieht sich als sehr zurückhaltend agierend in der Behandlung ihrer PatientInnen und sofern sie Medizin anwende, gebe sie der Naturheilkunde den Vorrang. Im Blick auf die Kategorie Wissenschaftlichkeit/Faktizität ist ein weiteres Zitat exemplarisch herauszustellen. Wie bereits ihrer Praxisbeschreibung zu entnehmen war, wendet die Allgemeinmedizinerin auch Homöopathie in ihrer Praxis an. Dabei weist sie 732 „Diese riesen dicke rote Liste mit Medikamenten, da war ich ja noch damals ganz jung, da habe ich gesagt, mögen da ganz viel Berufe drin stehen. Weil ganz viele Patienten kamen, die gesagt haben, sie waren nie krank. Sie sind jetzt krank, weil sie das erste Mal keine Arbeit haben. Und da habe ich mir oft gewünscht, zu sagen: ‚Mensch, Sie können morgen da anfangen oder hier anfangen.‘“ (IÄCw, Z. 147-151) 733 „Die Krankheit ist ja laut WHO definiert. Die Definition wollen Sie wahrscheinlich nicht von mir hören, ne?“ (IÄCw, Z. 130f.)
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selbst explizit darauf hin, dass „Homöopathie […] eigentlich immer das [war], was ich gesagt habe, das will ich gar nicht. Nur Kügelchen verteilen.“ (IÄCw, Z. 40f.) Sie hält, als wissenschaftlich ausgebildete Ärztin, die Homöopathie für ein Verteilen wirkstoffloser Kügelchen, was sie schon „immer“ abgelehnt habe. Dennoch wende sie diese Methode heute an, denn es sei ja „trotzdem […] doch schon interessant, was man damit einfach erreichen kann.“ (IÄCw, Z. 41f.) Ihre wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse stellt die Ärztin im Fall der Homöopathie bewusst hintan, um eine Methode anzuwenden, die sie von ihren Ergebnissen her positiv beurteile. Auch für das Interview mit der Allgemeinmedizinerin muss dieses kurze Schlaglicht ausreichen. Die Differenzen zur Hauptuntersuchungsgruppe sowie zu den anderen GesprächspartnerInnen des Vergleichs haben sich deutlich gezeigt. Die in diesem Interview vergebenen Codierungen bilden nur wenige der Orientierungskategorien ab bzw. zeigen sich als ambivalent, wie die Codierungen im Kontext der Transzendenzbezüge gezeigt haben. Die Bezüge lassen sich weniger eindeutig abbilden als dies im Vergleich mit den HeilerInnen und in der Hauptuntersuchungsgruppe der Fall war. Auch die anderen drei Orientierungskategorien der Religionshybride-Theorie sind kaum oder gar nicht zu finden und weisen hier eine Leerstelle auf. Im Blick auf die Kategorien der Deutungsmachtanalyse zeigen sich die Codierungen am markantesten in den Bereichen Naturalisierung/Normalisierung, in denen die naturheilkundlichen Vorstellungen der Ärztin ebenso zum Ausdruck kommen wie die Vergleichsgröße Normalität in der Bestimmung von Krankheit, sowie am ausgeführten Beispiel der Verhältnisbestimmung zum System Wissenschaft, in welchem die Ärztin die Grenzen wissenschaftlich generierten Wissens im Kontext von Homöopathie aufzeigt.
6.10 ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE Aus der detaillierten Einzelanalyse der elf Interviews mit HeilpraktikerInnen und der Analyse der vier dichten Beschreibungen zu beobachteten Veranstaltungen aus dem Bereich alternativmedizinischer Angebote wird im Folgenden zusammenfassend nach den wichtigsten Ergebnissen und den daraus folgenden Erkenntnissen im Blick auf die Einordnung der deutenden Semantiken und Performanzen als Religionshybride sowie im Blick auf die aus der Analyse gewonnenen deutungsmachttheoretischen Implikationen gefragt. Anhand der vier aus der Religionshybride-Theorie abgeleiteten Orientierungskategorien, die durch das empirische Material gefüllt wurden, muss sich zeigen lassen, ob eine Beschreibung der Deutungen und belief systems der befragten HeilpraktikerInnen als religionshybrid sinnvoll ist und was sie wiederum zur Deutung dieser Deutungen und belief systems
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selbst explizit darauf hin, dass „Homöopathie […] eigentlich immer das [war], was ich gesagt habe, das will ich gar nicht. Nur Kügelchen verteilen.“ (IÄCw, Z. 40f.) Sie hält, als wissenschaftlich ausgebildete Ärztin, die Homöopathie für ein Verteilen wirkstoffloser Kügelchen, was sie schon „immer“ abgelehnt habe. Dennoch wende sie diese Methode heute an, denn es sei ja „trotzdem […] doch schon interessant, was man damit einfach erreichen kann.“ (IÄCw, Z. 41f.) Ihre wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse stellt die Ärztin im Fall der Homöopathie bewusst hintan, um eine Methode anzuwenden, die sie von ihren Ergebnissen her positiv beurteile. Auch für das Interview mit der Allgemeinmedizinerin muss dieses kurze Schlaglicht ausreichen. Die Differenzen zur Hauptuntersuchungsgruppe sowie zu den anderen GesprächspartnerInnen des Vergleichs haben sich deutlich gezeigt. Die in diesem Interview vergebenen Codierungen bilden nur wenige der Orientierungskategorien ab bzw. zeigen sich als ambivalent, wie die Codierungen im Kontext der Transzendenzbezüge gezeigt haben. Die Bezüge lassen sich weniger eindeutig abbilden als dies im Vergleich mit den HeilerInnen und in der Hauptuntersuchungsgruppe der Fall war. Auch die anderen drei Orientierungskategorien der Religionshybride-Theorie sind kaum oder gar nicht zu finden und weisen hier eine Leerstelle auf. Im Blick auf die Kategorien der Deutungsmachtanalyse zeigen sich die Codierungen am markantesten in den Bereichen Naturalisierung/Normalisierung, in denen die naturheilkundlichen Vorstellungen der Ärztin ebenso zum Ausdruck kommen wie die Vergleichsgröße Normalität in der Bestimmung von Krankheit, sowie am ausgeführten Beispiel der Verhältnisbestimmung zum System Wissenschaft, in welchem die Ärztin die Grenzen wissenschaftlich generierten Wissens im Kontext von Homöopathie aufzeigt.
6.10 ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE Aus der detaillierten Einzelanalyse der elf Interviews mit HeilpraktikerInnen und der Analyse der vier dichten Beschreibungen zu beobachteten Veranstaltungen aus dem Bereich alternativmedizinischer Angebote wird im Folgenden zusammenfassend nach den wichtigsten Ergebnissen und den daraus folgenden Erkenntnissen im Blick auf die Einordnung der deutenden Semantiken und Performanzen als Religionshybride sowie im Blick auf die aus der Analyse gewonnenen deutungsmachttheoretischen Implikationen gefragt. Anhand der vier aus der Religionshybride-Theorie abgeleiteten Orientierungskategorien, die durch das empirische Material gefüllt wurden, muss sich zeigen lassen, ob eine Beschreibung der Deutungen und belief systems der befragten HeilpraktikerInnen als religionshybrid sinnvoll ist und was sie wiederum zur Deutung dieser Deutungen und belief systems
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beiträgt und letzten Endes, welche Erkenntnisse sich daraus für ein spätmodernes Religionssystem ergeben. Die vier Orientierungskategorien, die sich mit der exemplarischen Konkretisierung der Deutungsmachttheorie beschäftigt haben und die ebenfalls durch das empirische Material gefüllt und erprobt wurden, geben parallel dazu Auskunft über Mechanismen der Stabilisierung und Infragestellung von Deutungsmacht. Im Blick auf die Orientierungskategorie Transzendenzbezug lässt sich nach der Einzelanalyse zusammenfassen: Transzendenzbezüge und Transzendierungen sind im erhobenen Material reichlich und in markanter Weise zu finden, explizit und indirekt, in tradierten Semantiken und modernen Vorstellungen, in konkreten Bildern und indifferenten Beschreibungen. Der Bezug auf höhere Wesen, die Annahme einer transzendenten, dem Menschen nicht zugänglichen, wohl aber auf ihn wirkenden Ebene, die Rede von verschiedenen Formen transzendenter Energie u. a. m. – alle aufgeschlüsselten Subkategorien konnten mithilfe des empirischen Materials gefüllt werden. Darin zeigt sich, dass Deutungen im Kontext von Gesundheit und Krankheit in den belief systems der befragten HeilpraktikerInnen ganz mehrheitlich nicht ohne Transzendenzbezug funktionieren. Die thematischen Bezüge und Transzendierungen lebensweltlicher Erfahrungen sind dabei vielfältig und bilden eine große Pluralität an Deutungen ab. Dabei werden Phänomene wie methodisch nicht zu begründende Heilungszusammenhänge, die Voraussetzungen und Hintergründe erfolgreicher Behandlungen oder auch die Frage nach Ursachen und Entstehungsprozessen von Krankheiten gleichermaßen mit transzendierenden Vorstellungen verbunden. Über die Pluralität der konkreten Vorstellungen hinaus wird als gemeinsames Merkmal sichtbar, dass eine rein immanente Beschreibung dessen, was als Heilung verstanden wird, die Prozesse alternativmedizinischer Behandlungssettings sowie deren Hintergründe nicht angemessen abzubilden scheint. Auch im Blick auf die Kategorie Sinnstiftung hat die Analyse ein inhaltlich mit zahlreichem Material gefülltes Bild ergeben. Sowohl die Thematisierung von Sinnfragen als auch die Konstruktion von Sinnzusammenhängen sind in den Interviews deutlich geworden. Aus den Darstellungen der befragten alternativmedizinischen AnbieterInnen wird deutlich, dass Fragen nach Sinnzusammenhängen im Kontext von Krankheit und Heilung für die AnbieterInnen und ihre PatientInnen virulent werden. Im Fokus sind allerdings weniger Fragen nach Ursachen und Entstehungszusammenhängen bzw. -gründen als eine Orientierung auf Akzeptanz von Krankheit und Fragmentarität, aber auch Veränderung und Heilung. Dabei machte die Analyse auch sichtbar, dass die Sinnangebote zumeist durch Indifferenz geprägt sind. In der inhaltlichen Füllung bleiben die Konstruktionen, die die Prozesse und Ziele der Sinn- und Heilungssuche beschreiben, eher vage – Motive wie ‚Weg‘ oder ‚(innere) Mitte‘ sind dabei die konkreteren der anzutreffenden
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Vorstellungen. Die in dieser wie in der vorangegangenen Kategorie festzustellende Indifferenz gibt zu denken, auch vor dem Hintergrund, dass fast alle Interviewpartnerinnen angeben, Hilfe, Unterstützung und Orientierung bieten und sein zu wollen. Bedenkenswert ist dabei die Frage nach dem Maß an Konkretion, die eine Deutung bzw. ein belief system haben muss, um stabil und haltbar genug zu sein, als Orientierung und ordnende Sinnkonstruktion dienen zu können, ohne zugleich Flexibilität und ein solches Maß an Unbestimmtheit einzubüßen, die das Einschreiben persönlicher Erfahrungen in die ordnende Struktur ermöglichen. Riten bzw. ritualisierte Handlungen finden sich im untersuchten Material reichlich. Wie die Analyse der dichten Beschreibungen sowie der Interviews gezeigt hat, sind in fast allen Veranstaltungen sowie in einem Teil der Interviews Beschreibungen zu rituellen Handlungen oder Beobachtungen entsprechender Praktiken sichtbar geworden. Teilweise nahmen ritualisierte Handlungen im Ablauf der Veranstaltung einen zeitlich wie inhaltlich so zentralen Raum ein, dass die Veranstaltung als Ganzes im Sinne einer Liturgie als rituell gestaltet bezeichnet werden kann. Sichtbar wurden die zu dieser Kategorie gehörenden Codierungen sowohl in einzelnen Handlungen wie der Durchführung einer bestimmten Behandlungsmethode oder einer Meditation als eben auch im teilweise durchgängig rituell gestalteten Ablauf vom Eintreffen der TeilnehmerInnen bis zu ihrem Verlassen des Veranstaltungsortes inklusive Raumanordnung und funktionaler Rollenzuschreibungen. Besonders bemerkenswert sind die explizit ritualisierten Performanzen wie Handlungen mit Wasser, Reinigungsriten, Weihungen o. ä., die starke Assoziationen zu religiösen Traditionen aufrufen, im beobachteten Kontext aber keine religiöse Deutung erfahren, sondern in den Kontext heilender Behandlungen eingeordnet oder, noch häufiger, keiner expliziten Deutung unterzogen werden. Wie auch in den vorangegangenen Kategorien muss hier konstatiert werden, dass sich die Nichtexplikation der Deutungen als ein Charakteristikum des untersuchten Feldes zeigt. Im Blick auf eine Einordnung im Rahmen der Religionshybride-Theorie lässt sich aus der detaillierten Analyse zusammenfassend festhalten, dass die zahlreichen beschriebenen ritualisierten Handlungen es erlauben, die beobachteten alternativmedizinischen Angebote als religionshybrid zu bezeichnen. Die Entstehung von neuen, z. T. traditionelle Elemente aufgreifenden und diese transformierenden Riten lässt das Feld zudem als religionsproduktiv einordnen. Im Untersuchungsfeld entstehen neue religionshybride Performanzen, die sich in den bereits zu beobachtenden Riten zeigen (und ggf. als Rituale dauerhaft etablieren werden). Alternativmedizinische Angebote bieten in den ritualisierten Handlungen Darstellungsformen religionshybrider beliefs. Aufgrund der Fluidität des Feldes sowie der Indifferenz in (bzw. dem Ausbleiben) der Deutung der Performanzen bleibt
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zugleich die ordnende und dauerhaft orientierende Funktion dieser Riten vorerst fraglich. Neben Riten, Sinnstiftung und Transzendenzbezügen spielt das Thema Vergemeinschaftung als Merkmal der Einordnung der untersuchten Phänomene als Religionshybride eine Rolle. Anhand der vergebenen Codierungen ist deutlich geworden, dass Vergemeinschaftungsprozesse bei den beobachteten Anbietern stattfinden. Dieses Ergebnis war für einen Teil der untersuchten Angebote insofern zu erwarten, als Veranstaltungen bei HeilungsanbieterInnen besucht wurden, die selbst Gemeinschaften um sich herum aufgebaut haben. Explizit zu erwähnen ist hingegen, dass sich aus der Beobachtung dieser Gemeinschaften fast vollständig die Merkmale posttraditionaler Gemeinschaften abbilden lassen, so dass die für die Religionshybride-Theorie aufgenommene Charakterisierung posttraditionaler Gemeinschaften sich in den untersuchten Gruppen zeigt. Dabei scheint als verbindendes Interesse der Gemeinschaften eine Definition ex negativo wirksam zu sein, wenn die Abgrenzung vom und die Suche nach Alternativen zum medizinischen Mainstream bestimmender ist als die Verbindung über eine einzelne Methode oder eine inhaltliche Abgrenzung. Als stark verbindendes Element fungieren dagegen die Leitungsfiguren der Gemeinschaften. Einige der Aspekte posttraditionaler Gemeinschaften lassen sich zudem nur mit Einschränkungen finden bzw. lässt sich dabei eine Entwicklung der Gemeinschaften von diesen Merkmalen weg beobachten. Die Kurzzeitigkeit des Zusammenschlusses kann für mindestens zwei der beobachteten Gemeinschaften nicht bestätigt werden. Diese erhalten zudem die Trennung von Wir und Nicht-Wir auch über die konkrete Zusammenkunft hinaus aufrecht, so dass sie nur begrenzt durch eine Durchlässigkeit der Gemeinschaftsgrenzen gekennzeichnet sind. Die Religionsproduktivität, die sich in liturgischen Abläufen, Transzendierungen, Neuformungen ritueller Handlungen u. ä. zeigt, kann aus den vorhergehenden Kategorien bestätigt werden, so dass die Gemeinschaften als posttraditional und religionshybrid bezeichnet werden können. Für die Frage, ob sich auch die eins-zu-eins-Beziehungen zwischen HeilpraktikerInnen und PatientInnen als solche posttraditionalen Gemeinschaften bezeichnen lassen, gibt es einige Indizien wie die Abgrenzung von Wir und Nicht-Wir oder die Verbindung über gemeinsame Interessen, die als Elemente der Gemeinschaftsbildung gesehen werden können, doch lässt sich diese These nicht durch ausreichend Material in befriedigender Weise stützen. Vier Orientierungskategorien dienten als Leitlinien für die Untersuchung des Materials als exemplarisches Erprobungsfeld und Konkretisierung der Deutungsmachttheorie. Gefragt wurde dabei nach Mechanismen der Stabilisierung und Labilisierung von Deutungen, die sich in verschiedenen Formen zeigen und symptomatisch für Prozesse der Entstehung oder des Vergehens und ggf. der konfliktiven Aushandlung von Deutungsmacht stehen.
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In der ersten Kategorie wurden Aspekte von Naturalisierung und Normalisierung untersucht. Im empirischen Material fanden sich dazu reichhaltige Beispiele, die deutlich machen, dass sowohl über Natur und Naturalisierung als auch über Norm und Normalisierung Argumentationsketten im untersuchten Feld aufgebaut und Deutungen stabilisiert werden. Natur und Natürlichkeit spielen im untersuchten Kontext v. a. eine normative Rolle als ‚natürlich‘ in der Verwendung gleichgesetzt wird mit ‚gut‘ und ‚richtig‘. Dieser Modus der Verwendung ist fast durchgängig im untersuchten Material zu beobachten. Dabei werden auch Analogieschlüsse gezogen, um aus einer Beobachtung der Natur und der Bewertung dieses beobachteten Vorgangs oder Phänomens als gut und richtig eine Handlungs- bzw. Orientierungshilfe abzuleiten. Natur und Natürlichkeit dienen somit klar als Begründungsmaßstab in der Argumentation der GesprächspartnerInnen. Deutlich diverser ist der Umgang mit Aspekten von Norm und Normalität. Während auf der einen Seite Normalität als Richtlinie für die Bestimmung eines Phänomens oder Zustandes als krankheitswertig von Bedeutung ist und die Verbindung von Normalität und Schulmedizin eine gewichtige Argumentationslinie bildet, spielt die Infragestellung von Normalität und der Verwendung von Normen und Normwerten sowie die Abgrenzung der eigenen Deutungen und Handlungen vom Normalen auf der anderen Seite eine zentrale Rolle. Dass die eigenen Anwendungen und Deutungen als nicht-normal dargestellt werden, ist als Ergebnis der Einzelanalyse deutlich sichtbar geworden und bemerkenswert. In der Weiterführung dieses Gedankens lässt sich eine Überlagerung zweier Aspekte annehmen. Wenn die Schulmedizin und der Gang zum Arzt als ‚normaler‘ Weg bezeichnet und die eigene Position in Abgrenzung von diesem normalen Weg dargestellt werden, findet sich darin eine indirekte Kritik und Infragestellung. In der Perspektive der AnwenderInnen stellt dieses normale Vorgehen wenn nicht die schlechtere, so doch zumindest nicht die einzige Möglichkeit zum Umgang mit Gesundheit und Krankheit dar, wie die positive Gegenüberstellung der eigenen, ‚anormalen‘ Herangehensweise zeigt. Dies ist ein interessanter Befund im Blick auf die Frage von Deutungsmachtgenerierung. Wenn AnbieterInnen alternativer Heilungssysteme in Konkurrenz zur sogenannten ‚normalen‘ Schulmedizin treten, wenn es um Fragen der Anerkennung der angebotenen Diagnostik und Anwendungen geht, dann ist hier festzustellen, dass der Anspruch, selbst das ‚Normale‘ anzubieten, (zumindest sprachlich) nicht erhoben wird. Normal ist der Gang zur Schulmedizin – auch aus Sicht der AlternativmedizinerInnen. In einem in Abstufungen gedachten Prozess der Deutungsmachtgenese ließe sich dann folgendes Szenario denken: Die Aussagen der Schulmedizin sind nach wie vor die gängigen, primären und ‚normalen‘ und trotz der Möglichkeit des Heranziehens von Alternativen besteht (im Moment) keine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass diese Selbstverständlichkeit grundlegend ihre Geltung verliert. Zugleich ist die explizite Benennung dieser
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Deutung als normal bereits ein Hinweis darauf, dass es Konkurrenz gibt. Wo diese nicht auftritt, muss keine Einordnung einer Deutung als ‚normal‘ gegenüber einer anderen vollzogen werden. Ein erster Schritt der Infragestellung steht somit im Hintergrund. Die zweite Orientierungskategorie der Deutungsmachtanalyse, Wissenschaftlichkeit und Faktizität, hat sich in der Einzelanalyse der Interviews und der Beobachtungsbeschreibungen als zentral erwiesen und wurde vielfach und in markanten Zusammenhängen codiert. Dabei zeigte sich auch, dass die Auseinandersetzung mit dem Bezug zum Wissenschaftssystem und zu Faktizität als Modus der Argumentation durch die InterviewpartnerInnen ambivalent eingeschätzt wird. Auf der einen Seite findet eine starke Anbindung an Wissenschaftlichkeit und Wissenschaft als System statt, wie sich am Umgang mit Zertifizierungen, an der Anlehnung an naturwissenschaftliche Denkmodelle der Physik und Biologie ebenso zeigt wie an einer Bezugnahme auf die Aussagen wissenschaftlicher Studien oder akademisch titulierter AutorInnen, welche mitunter zur Stabilisierung einer Deutung herangezogen werden. Hier wird deutlich, dass sich die HeilpraktikerInnen dem System Medizin als einem evidenzbasierten, faktenorientierten und auf anerkannte Überprüfungskriterien aufbauenden System zuordnen und an dessen Strukturen partizipieren (wollen). Auf der anderen Seite steht eine explizite und grundlegende Kritik an Elementen, die mit Faktenorientierung verbunden sind: eine mitunter scharfe Kritik an der Schulmedizin, eine Kritik an medizinischen Geräten und deren Anwendung, eine klare Absage an die Idee, alle Annahmen und Deutungen nachweisen und überprüfen zu können. Als zentrale Begründungs- und Verifikationsinstanz wird stattdessen immer wieder auf die (persönliche) Erfahrung rekurriert. Im Blick auf die Frage, mithilfe welcher Mechanismen Deutungen und belief systems stabilisiert oder ihre Geltung in Frage gestellt wird, ist der geschilderte Umgang mit dem System Wissenschaft und mit dem Bezug auf Fakten sehr relevant. Im untersuchten Feld ist dabei sichtbar geworden, dass der Gegensatz von Wissen bzw. Wissenschaft auf der einen und Erfahrung als legitime Erkenntnisweise auf der anderen Seite aufgebaut und stark gemacht wird. Damit wenden sich die AkteurInnen des Feldes kritisch gegen eine zentrale Form der Generierung von anerkannten Überzeugungen, wenn nicht gegen „die wichtigste Instanz“734 der Hervorbringung neuer Erkenntnisse und Konsense, als die wissenschaftliche Arbeitsweise und ihre Ergebnisse „in modernen Gesellschaften als einzig legitime Objektivierungsmethode“735 gelten kann. Zugleich berufen sich die Befragten
734 Barlösius, Eva: Die Macht der Repräsentation. S. 179. 735 Ebd. S. 179.
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damit auf ein System der individualisierten Legitimation, wenn sie auf die unhintergehbare Autorität der persönlichen Leiberfahrung rekurrieren. Die Untersuchung von Veränderungsprozessen und der Frage von Begründungsbedürftigkeit wurde ebenfalls am Material vorgenommen und in der Orientierungskategorie Genese zusammengefasst. Die Codierungen dieser Kategorie nehmen dabei teilweise auf explizite Äußerungen der GesprächspartnerInnen zu Entwicklungen und Veränderungen Bezug, wurden aber auch an Textpassagen vergeben, in denen indirekt auf diesen Argumentationsmechanismus geschlossen werden kann. Die expliziten Verweise nehmen v. a. zwei Perspektiven in den Blick: zum einen geht es dabei um Bezüge zu inhaltlichen Veränderungen gängiger Deutungen und Überzeugungssysteme. Thematisiert wird dabei u. a. der Umgang mit neuen Erkenntnissen und die Frage, ob bisherige Überzeugungen aufgrund neuer Erkenntnisse ersetzt oder um diese ergänzt werden sollten. Zum anderen kommt hier die zeitliche Entwicklung in den Blick, so dass z. B. darauf verwiesen wird, dass sich auch medizinische Erkenntnisse im Laufe der Zeit verändert und sich die Richtigkeiten des Faches gewandelt hätten. Für die Frage nach der Überzeugungskraft der eigenen Deutungen bzw. in diesem Fall besonders im Blick auf die Labilisierung ‚traditioneller‘ schulmedizinischer Erkenntnisse ist diese Form der Argumentation von hoher Wirkmächtigkeit. Wenn sich immer wieder neue Erkenntnisse zeigten und diese in die bisherigen Denksysteme eingefügt bzw. diese Denksysteme aufgrund der neuen Erkenntnisse transformiert werden müssten, dann erweist es sich als starkes Argument, die eigenen Deutungen ebenfalls als in dieser Weise neue Anstöße zur Veränderung bestehender Systeme darzustellen bzw. aufgrund dieser Überzeugungen das (eben auch nur in einer bestimmten Zeit entstandene, gewordene) System in Frage zu stellen, in welchem diese Überzeugungen (noch) keinen Platz haben. Neben diesen expliziten Hinweisen auf die Wandelbarkeit von Deutungen und die Veränderung von Wissenssystemen stehen indirekte Verweise, die besonders die Negation von Begründungsbedürftigkeit über das Postulat der Dauerhaftigkeit stützen. Dabei ist sowohl an die entgegengesetzte Position zu der oben ausgeführten Sichtweise zu denken, in der die Argumentation über Traditionen und die ‚Würde des Alters‘ sich als wirkungsvoll erweist, als auch an alltagssprachliche Wendungen wie ‚man‘, ‚es ist bekannt‘ oder ‚jeder weiß, dass …‘, die in einer subtilen Form als Stabilisierung eigener Deutungen fungieren können. Obwohl – bzw. weil – dieser Mechanismus sich sprachlich wie inhaltlich schwer abgrenzen und bestimmen lässt (und daher hier als ‚subtile Form‘ bezeichnet wird), zeigt er sich in einer hohen Affinität zu Deutungsmacht als besonders wirkmächtig, zeich-
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net sich diese Machtform doch gerade durch ihre Nähe zur Evidenz und einer Kongruenz von Macht und Selbstverständlichkeit aus.736 Die letzte der in der Einzelanalyse ausführlich bearbeiteten Orientierungskategorien beschäftigt sich mit der Frage nach dem Einfluss der Person auf Deutungsmachtprozesse. Auch diese Kategorie hat sich sowohl in der Codierung der Interviews als auch in der Analyse der Beobachtungsbeschreibungen als gehaltvoll erwiesen und wurde durch entsprechende Beispiele aus dem empirischen Material gefüllt. Dabei ist deutlich geworden, dass es im untersuchten Feld eine nicht unbedeutende Rolle spielt, Methoden und Deutungen durch Personen, Autoritäten oder auch bestimmte Rollenfunktionen abzusichern. Auch gegensätzliche Stabilisierungsmechanismen sind hier deutlich geworden: Während auf der einen Seite über den Bezug auf eine professionelle Autorität, ein Amt oder akademische Titel Anerkennung generiert werden soll, werden auf der anderen Seite persönliche Autorität, Begabung oder Intuition einer Person (hier unter der Subkategorie Charisma gefasst) als zentraler Überzeugungsaspekt herangezogen. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die persönliche Beziehung zu derjenigen Person, die als Garant einer Deutung oder einer Methode auftritt. Sowohl im Kontakt einzelner HeilpraktikerInnen zu ihren PatientInnen, die sie zum Teil über Jahre oder Jahrzehnte begleiten, als auch im Blick auf die Veranstaltungen und die Leitungsfiguren der Gemeinschaften bildet die persönliche Beziehung zur Vertreterin bzw. zum Vertreter einer Deutung ein zentrales Moment in der Bewertung und für die angenommene Wirksamkeit. Daneben tritt als weiterer Aspekt die grundsätzliche Infragestellung der Möglichkeit, Deutungen mithilfe personaler Macht zu stabilisieren. Dies äußert sich in den Darstellungen der InterviewpartnerInnen sowohl in der Anfrage, wer aufgrund welcher Autorität befähigt sei, bestimmte Phänomene zu deuten oder zu definieren als auch in der konkreten Kritik an Personen des schulmedizinischen Systems, deren (postulierte) Deutungshoheit durch die InterviewpartnerInnen in Frage gestellt wird. Durch die Einzelanalyse des Materials ist jedoch auch deutlich geworden, dass in der Regel die Durchsetzung von Deutungen oder Methoden nicht allein über Aspekte personaler Anerkennung funktioniert, sondern in einer Kombination verschiedener Deutungsmachtmechanismen stattfindet – ein Aspekt, der insofern von Bedeutung ist, als andernfalls der Gültigkeit einer Deutungen jegliche Grundlage entzogen wäre, sollte die Autorität der sie vertretenden Person fraglich werden. Verbunden werden daher bspw. personale Argumente mit (behaupteter) Faktizität und einer Begründung über die Dauerhaftigkeit einer Deutung. 736 Vgl. zu dieser Idee der besonders großen Wirksamkeit von Macht als Evidenz die Ausführungen unter 4.3 u. a. zur Machttheorie Byung-Chul Hans sowie den Verweis in FN 447.
7 Schlussfolgerungen und Ausblick
7.1 HYBRIDE RELIGIOSITÄT IM FELD ALTERNATIVMEDIZINISCHER ANGEBOTE Angestoßen durch die Beobachtung eines regen Interesses an und Gebrauchs von alternativmedizinischen Heilverfahren geht die Untersuchung der Frage nach, was diese Angebote so attraktiv erscheinen lässt. Leitend für die Arbeit wurde die Vermutung, dass nicht ‚nur‘ Methoden, Verfahren und letztlich Alternativen zum Medizinsystem für das Interesse relevant sein könnten, sondern – darüber hinaus – die Deutungsangebote der alternativmedizinischen PraktikerInnen. Mit diesen bedienen, so die These, die alternativmedizinischen AnbieterInnen – hier: HeilpraktikerInnen – in ihrem Heilungsangebot auch ein Bedürfnis nach Orientierung, (Ein-)Ordnung und Deutung, welches sich über medizinische Kontexte hinaus als religionshybrid beschreiben lässt. Dies lässt das Untersuchungsfeld religionstheoretisch relevant werden. Im Angebot sind hier also nicht nur Gesten und Globuli, sondern Lebensorientierung, Sinnkonstruktionen und Deutungen, die es ermöglichen, den lebensweltlichen Herausforderungen im Zusammenhang mit Krankheit und Heilung zu begegnen und mit ihnen umzugehen. Als Orientierungs- und Deutungsangebote berühren alternativmedizinische Heilverfahren ein thematisches Feld, welches traditionell dem Religionssystem zugeordnet ist. Daraus speist sich das religionswissenschaftliche Interesse der Untersuchung. Darüber hinaus wurde das Feld hier in den Kontext spätmoderner christlicher Religionspraxis und damit in den Reflexionszusammenhang der Praktischen Theologie gestellt. Die leitende These wurde durch das erhobene empirische Material bestätigt. Die Analyse der Interviews und teilnehmenden Beobachtungen zeigt deutlich: Das Feld ist in hohem Maße geprägt durch religionsaffine sowie religionsäquivalente Phänomene und Deutungen. Die religionshybriden Formen zeigen sich in der Überlagerung medizinisch relevanter, immanent existentieller Themen wie Krankheit, Gesundheit, Heilung, Wunsch nach körperlicher Unversehrtheit mit
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religionshermeneutisch relevanten Themen wie Transzendierung, Unverfügbarkeit, Orientierung und Deutung von Lebens-, Welt- und Sinnzusammenhängen. Da die hier durchgeführte Untersuchung einem religionswissenschaftlichen und einem praktisch-theologischen Interesse geschuldet ist, muss deutlich werden, welche Relevanz sich aus den Ergebnissen für die Religionspraxis und ihre Theorie zeigt. Als wichtigste Erkenntnis der Arbeit lässt sich die Bestätigung der These der Hybridität des Religionssystems und der religionshybriden Deutungen im alternativmedizinischen Feld sehen. Dies muss weiter ausgeführt werden. Wie in der leitenden Hypothese der Arbeit formuliert und durch die Untersuchung bestätigt, zeigen sich im Feld alternativmedizinischer Heilungsangebote im nordostdeutschen Kontext Phänomene und Deutungen, die als religionshybrid charakterisiert werden können. Eindeutige Zuordnungen von Erfahrungen und Performanzen sowie deren Reflexion und Deutung in der Dichotomie Religion – Nicht-Religion sind hier nur schwer möglich.737 Ob die Gegenstände eines religionshybriden Feldes wie die Heilungsvorstellungen alternativmedizinischer AnbieterInnen ‚Religion‘ sind oder nicht – als Phänomene der Systemüberlagerung fordern sie die Religionspraxis und die praktisch-theologische Reflexion zu einer Auseinandersetzung heraus. Wo ‚Außerhalb‘ und ‚Innerhalb‘ des Religionssystems nicht ohne weiteres zu trennen sind und die Grenzziehungen in spätmodernen Gesellschaften fluide werden, findet sich in diesem hybriden und mitunter religionsproduktiven Feld ein Phänomenbereich und ein Deutungsangebot, das Kirche und Praktische Theologie nicht ignorieren können.738 Hier gilt es zunächst 737 Die Überwindung dieser klaren Dichotomie streben bereits verschiedene, in dieser Arbeit unter 4.4 teilweise vorgestellte Ansätze zum Verständnis von Religion an, etwa der Vorschlag der Transzendierung als Charakteristikum von Religion durch Knoblauch oder die Arbeitsdefinition, die das Religionshybride-Projekt als heuristische Grundlage heranzieht, vgl. FN 461. Es bleibt allerdings auch bei diesen Konzeptionen jeweils zu fragen, ob sie einer Bestimmung mithilfe einer Dichotomie ganz entkommen (und ob dies überhaupt möglich ist). Auch in der Idee, den Prozess des Transzendierens als Merkmal des Religiösen zu bestimmen und darin die scharfe Trennung von Immanentem und Transzendentem zu überwinden, muss doch letztlich von einer Unterscheidung (dessen, was in den Prozess des Transzendierens einbezogen ist und aus dem Alltäglichen heraus transzendiert wird und etwas ‚Anderem‘) ausgegangen werden, um Religion nicht in völliger Ununterscheidbarkeit (von Welt und Transzendenz) aufgehen zu lassen. 738 Dass es sich bei der Beschreibung zunehmender Fluidität zumindest teilweise um eine grundsätzliche Beobachtung spätmoderner gesellschaftlicher Entwicklungen handelt, wurde im exemplarischen Durchgang durch die Theorien zur Aus- und Entdifferenzierung gesellschaftlicher Systeme herausgearbeitet. Vgl. dazu 3.1 und 3.2.
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einmal, die Phänomene religionshermeneutisch wahrzunehmen. Dazu leistet die vorliegende Arbeit einen Beitrag. Darüber hinaus ist das Vorfindliche praktisch-theologisch ernstzunehmen und in seiner Vielfältigkeit anzuerkennen. Das heißt auch, keine vorschnellen normativen Zuordnungen, Analogien oder Ausschlüsse vorzunehmen, lässt doch der Befund davon ausgehen, dass sich ‚religiöse‘ Phänomene und Religionspraxis nicht allein über funktionale Kriterien oder in der Zuordnung zu Institutionen abbilden lassen. Mit Lauster lässt sich die Aufgabe einer so verstandenen Religionshermeneutik als ein mehrstufiges Vorgehen verstehen: Geht es auf einer ersten Stufe um „Fremdheitserfahrungen“739 und den Versuch, die „innere Kohärenz der fremden Deutungsoptionen“740 sowie ihre „lebensdeutende Leistungskraft“741 zu verstehen, strebt die zweite Stufe danach, „sich zu dem […] Anderen ins Verhältnis zu setzen“742. Voraussetzung dieses religionshermeneutischen Zugangs ist die Annahme, religiöse Deutung als einen Wirklichkeitszugang neben anderen zu verstehen. In der späten Moderne gibt es keine fest abgesteckten, ‚gesicherten‘ Räume der Religion (mehr).743 Stattdessen wird immer wieder und immer neu ausgehandelt, welche Phänomene als religiös gedeutet werden müssen bzw. können, wie Deutungskompetenzen und -ansprüche verteilt sind und wer „das Sagen in Sachen Religion“744 hat. In diesen Aushandlungsprozess um religiöse, nicht-religiöse und religionshybride Deutungsangebote sind AkteurInnen diverser sozialer Felder involviert.745 Den Konsequenzen, die sich aus dieser Beobachtung ableiten lassen, 739 Lauster: Religion als Lebensdeutung. S. 186. 740 Ebd. S. 187. 741 Ebd. S. 187. 742 Ebd. S. 187. 743 Dabei ist auch einzugestehen, dass diese ‚gesicherten Räume‘, die (christlich-institutionelle) Religion über Jahrhunderte beanspruchen konnte, eben nicht allein aufgrund ihres überzeugenden Deutungsangebotes und der sich daraus generierten Deutungsmacht, sondern viel zu häufig in einer Allianz mit politischer Macht (und Gewalt) entstanden sind und behauptet wurden. So lässt eine deutungsmachttheoretisch sensibilisierte Perspektive fragen, ob nicht gerade die Notwendigkeit der Stabilisierung über andere Macht- und Herrschaftsformen ein Hinweis darauf sein könnte, dass die ‚gesicherten Räume‘ immer schon in Frage gestellt wurden. 744 So der Titel einer Tagung des GRK Deutungsmacht im Juni 2014, vgl. auch die zugehörige Publikation: Wortmacht/Machtwort. Deutungsmachtkonflikte in und um Religion. Hrsg. v. Philipp Stoellger und Martina Kumlehn. Würzburg 2017. 745 Neben dem hier untersuchten Feld der alternativen Heilkunde, die mit ihren Deutungsangeboten ein religionshybrides Feld bespielt, lassen sich weitere Bereiche an-
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soll im Folgenden mit einem exemplarischen Blick auf praktisch-theologische und kirchliche Handlungsfelder nachgegangen werden. Religiöse Lebensdeutung zeigt sich neben institutionalisierter Religion auch im erweiterten Feld religiöser Hybridität. Alternativmedizin eröffnet dabei eines dieser fluiden Felder.
7.2 KONSEQUENZEN FÜR DIE RELIGIONSPRAXIS UND DIE PRAKTISCHE THEOLOGIE Für Praktische Theologie und Kirche ergeben sich aus diesen Beobachtungen und Reflexionen freilich Fragen sowohl für den Umgang mit den wahrgenommenen Phänomenen als auch mit den als ‚eigen‘ und traditionell religiös verstandenen Feldern. Dabei kann es nicht darum gehen, Ergebnisse der Untersuchung eins zu eins in die kirchliche Praxis zu übertragen – das Untersuchungsfeld ist dazu zu disparat. Die gewonnenen Erkenntnisse sind vielmehr als perspektivische Anfragen an eine angemessene spätmoderne Religionspraxis und -theorie zu verstehen.746 Über die Ergebnisse der empirisch-hermeneutischen Untersuchung und der damit verbundenen Deutungsmachtanalyse hinaus stellt das Themenfeld Krankheit und Heilung selbst seine Aufgaben an eine christliche Religionspraxis und ihre Reflexion, betrifft es doch existentiell das menschliche Leben und (darüber) zentrale theologische Themen wie Leib, Heilung und Heil. Bemerkenswert ist hier zunächst der hohe Stellenwert, den die Transzendenzbezüge in den alternativmedizinischen Heilungsangeboten einnehmen. Transzenführen, in denen religionshybride Formen wie Transzendierung, Sinnstiftung, Vergemeinschaftung etc. sichtbar werden, etwa Kunst und Ästhetik. Vgl. dazu die Forschungen des DFG-Projektes „Märkte des Besonderen“ an der Universität Rostock. https://www.wiwi.uni-rostock.de/maerkte-des-besonderen/. Aufgerufen am 2. April 2019. Zu denken wäre auch an weitere Deutungsofferten, wie sie sich in Lebenskonzepten, Ernährungsstilen o. ä. zeigen. 746 Der folgende Abschnitt lässt sich mitunter im Widerspruch zu den vorhergehenden Ausführungen lesen. Während bereits mehrfach hervorgehoben wurde, dass es für den Umgang mit hybrider Religionspraxis wichtig erscheint, diese aus kirchlicher und theologischer Perspektive zuerst einmal wahr- und ernstzunehmen ohne augenblicklich zu schlussfolgern, über die Phänomene, die AkteurInnen und ihre Handlungen Bescheid zu wissen, sie einordnen und (normativ) bewerten zu können, steht dem auf der anderen Seite nichtsdestotrotz das Anliegen gegenüber, sich selbst (als Praktische Theologie und Religionspraxis) und die eigenen Angebote zu diesen hybriden Phänomenen ins Verhältnis zu setzen und die eigene Praxis darin zu reflektieren, zu profilieren und eigene Deutungen anzubieten.
Konsequenzen für die Religionspraxis und die Praktische Theologie | 373
dierungen alltäglicher lebensweltlicher Erfahrungen spielen in den Deutungen der befragten HeilpraktikerInnen eine wichtige Rolle. Die belief systems der InterviewpartnerInnen, in denen die Deutungen zu Krankheit und Heilung sich zu (mehr oder weniger systematischen) Weltbildern verdichten, sind rein immanent kaum nachvollziehbar. Die Interviewanalysen lassen auf eine hohe Religionsaffinität des untersuchten Feldes bzw. eine Ansprechbarkeit der AkteurInnen auf trans zendente, sinngenerierende und orientierende Deutungsangebote schließen. Die Verbindung von medizinisch konnotierter Heilung und transzendenzgebundener Heil-Werdung rückt Heilung als ein Thema ins Zentrum, das religionspraktische Konsequenzen und theologische Reflexion gleichermaßen fordert. Im Gegensatz zu der im Feld vorfindlichen starken Überlagerung von Heilungs- und Heilsvorstellungen, die mitunter eine klare Trennung therapeutischer Anliegen von religionshybriden Vorstellungen erschweren, ist theologisch auf die Differenzierung von Heil und Heilung Wert zu legen, um „die Medizin von soteriologischen, so […] umgekehrt [den] Glaube[n] von medizinisch-therapeutischen Ansprüchen zu entlasten“747. Religionspraxis soll ebenso wenig für therapeutische Ziele verzwecklicht werden wie medizinische Therapien transzendentes Heil verfügbar machen können. Dennoch hat Religion nicht nur zur menschlichen Sehnsucht nach Heil, sondern auch zum Wunsch nach Heilung in einem leib-seelisch umfassenden Sinne zentral etwas beizutragen. Die protestantische Tendenz zu Intellektualität und Innerlichkeit ist vor diesem Hintergrund durchaus kritisch zu befragen. So versteht Christian Grethlein heilendes Handeln der Kirche als „eine alte Kommunikationsform, die konstitutiv zur Kommunikation des Evangeliums gehört“748 und sich auf vielfältige Weise vollzieht. In der religiösen Praxis geschieht die Wiederaufnahme dieser Kommunikationsform, wenn Salbungs- oder Heilungsgottesdienste stattfinden,749 mit Kranken und für sie gebetet wird, wie es (nicht nur) im Kontext von Krankenhausseelsorge, Besuchsdiensten u. ä. geschieht750 oder wenn bera747 Körtner, Ulrich: Dimensionen von Heil und Heilung. In: Ethik in der Medizin 8/1996. S. 39. 748 Grethlein, Christian: Praktische Theologie. 2. Aufl. Berlin, Boston 2016. S. 573. (künftig zitiert als: Grethlein: Praktische Theologie). 749 Vgl. dazu verschiedene Gottesdienstformen, die Krankheit, Gesundheit und Heilung als Thema und Anliegen ins Zentrum rücken wie Heilungs-, Salbungs- oder Patientengottesdienste, aber auch Thomasmessen u. ä. 750 Die Bedeutung entsprechender Angebote zeigt sich auch bei einem Blick in die V. EKD-Untersuchung zur Kirchenmitgliedschaft, die unter Punkt 45/K37 Fragen zum Themenbereich Krankheit und Heilung behandelt. Fast 60% der evangelischen Befragten gaben an, dass es ihnen eine Hilfe wäre, wenn bei gesundheitlichen Problemen für sie gebetet würde und über 40% beantworteten die Frage positiv, ob sie bei
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tende, begleitende und seelsorgerliche Angebote auch mit der Zielsetzung einer ‚Heilung‘751 im kirchlichen Kontext ihren Ort finden. Auch die theoretische Reflexion solcher Angebote und Gottesdienste erhält zunehmend Raum.752 So lässt die (praktisch-)theologische Bearbeitung in jüngster Zeit die Bedeutung des Themas erahnen753, auch wenn es nach wie vor im breiten landeskirchlichen Kontext eher randständig ist754. Dabei ist ein bewusster und reflektierter Umgang mit Krankheit gesundheitlichen Beschwerden einen Heilungsgottesdienst besuchen würden. Vgl. Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Hrsg. v. Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung. Gütersloh 2015. S. 508. (künftig zitiert als: KMU V). 751 Als ein solches Angebot stellt sich etwa das durch die Pfarrerin und Theologieprofessorin Sabine Bobert entwickelte Konzept ‚Mental Turning Point‘ dar, welches Erkenntnisse zum Zusammenhang von Krankheit, Heilung und Spiritualität aufgreift. Ausgangspunkt dieses dreistufigen Programms sind verschiedene, durchaus auch kritisch zu befragende, wissenschaftliche Untersuchungen, die den Zusammenhang von Heilungsprozessen und Spiritualität erforscht haben und angeben, hier einen engen präventiven sowie kurativen Effekt beobachtet zu haben. Bobert fordert auf dieser Grundlage, dass „[d]ie Theologie und die christlichen Kirchen […] die oben genannten Trends aufnehmen und entsprechende christlich profilierte Angebote verwirklichen [sollten]“. Als ein solches sieht sie ihr Mental Turning Point-Konzept, welches Coaching, Heilung und Mystik als zentrale Elemente herausstellt. Vgl. Bobert, Sabine: Coaching, Heilung, Mystik. Spiritualität in der Postmoderne. In: Spiritualität im Diskurs. Spiritualitätsforschung in theologischer Perspektive. Hrsg. v. Ralph Kunz und Claudia Kohli Reichenbach. Zürich 2012. Zitat S. 192. (künftig zitiert als: Bobert: Coaching, Heilung, Mystik). 752 Vgl. Bobert: Coaching, Heilung, Mystik.; Ernsting, Heike: Salbungsgottesdienste in der Volkskirche. Krankheit und Heilung als Thema der Liturgie. Leipzig 2012. (künftig zitiert als: Ernsting: Salbungsgottesdienste). Hier findet sich in der Einleitung auch eine ausführliche Sammlung weiterer Literaturhinweise. 753 Die Einschätzung Grundmanns, der die Marginalisierung des Themas in der theologischen Beschäftigung darlegt, lässt sich in dieser Grundsätzlichkeit heute nicht mehr bestätigen, da in den letzten Jahren einige Publikationen zum Thema erschienen sind – dass Krankheit und Heilung ein zentrales Thema theologischen Nachdenkens geworden sei, kann jedoch auch nicht behauptet werden. Vgl. für die Einschätzung einer Randstellung des Themas: Grundmann: Heilung als Thema der Theologie. Als neuere Publikationen seien genannt: Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft; Rieger: Gesundheit; weitere finden sich im Literaturverzeichnis. 754 Und darüber hinaus auch in der öffentlichen Wahrnehmung, wie sich etwa zeigt, wenn eine Verbindung der Stichworte ‚Kirche‘ (auch ‚evangelische Kirche‘) und ‚Heilung‘
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und Heilung theologisch geboten, um weder einer Engführung in der Parallelität von Gebetsstärke (-dauer, -überzeugungskraft) und Heilung das Wort zu reden noch einer positiven Überladung von Krankheit als ‚gottgegebener Herausforderung‘, um die Treue zu Gott im Glauben unter Beweis zu stellen.755 Stattdessen gilt es anzuerkennen, welche zentrale Bedeutung Krankheit und der Wunsch nach Heilung – auf leiblicher Ebene und darüber hinaus als umfassendes Heilsgeschehen – biographisch einnehmen können. Während die seelisch-geistigen Aspekte des Heilungsverständnisses in der Regel betont werden, fällt ein theologisch sensibler Umgang mit der Frage nach konkreter körperlicher Heilung schwerer. Ein Reflex der Abwehr körperlicher Heilung in Folge religiöser Praktiken (etwa Gebete, Rituale etc.) ist dabei ebenso wenig hilfreich wie die Annahme, Heilung sei aufgrund religiöser Praktiken mit klaren Anleitungen herstellbar. Heilung, auch körperliche, ist im religiösen Kontext nicht auszuschließen, sondern als Möglichkeit des Handelns Gottes zu deuten und anzunehmen. Zugleich ist jede Form von Heilung, die nicht allein auf einem Reparaturverständnis beruht, nicht zu ‚machen‘ – sie bleibt unverfügbar. Unverfügbarkeit ist dabei sowohl als Merkmal religiösen Heils als auch eines umfassenden Verständnisses von Heilung zu bedenken. Der Soziologe Hartmut Rosa stellt einen engen Zusammenhang zwischen Unverfügbarkeit und Lebenserfahrungen der späten Moderne her. Während der Mensch sich die Welt in immer größerer Reichweite und nahezu umfassend verfügbar macht bzw. zu machen bestrebt sei, seien lebendige Beziehungen und als erfüllend erlebte Welterfahrung (Resonanz) nur in der Akzeptanz von Unverfügbarkeit möglich, so Rosa.756 Das kulturelle Antriebsmoment jener Lebensform, die wir modern nennen, ist die Vorstellung, der Wunsch und das Begehren, Welt verfügbar zu machen. Lebendigkeit, Berührung und wirkliche Erfahrung aber entstehen aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren.757 in einem Bibliothekskatalog oder einer Internetsuchmaschine gesucht werden. Thematisiert werden hier v. a. (negative) ‚Extremfälle‘ wie Diskussionen um sogenannte Schwulenheilung, Dämonenaustreibungen u. a. Eine breite positive Besetzung des Themas gibt es hier nicht. 755 Vgl. Rieger: Gesundheit. Der Autor verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Gefahr einer „Glorifizierung des Leidens“ und der „Resignation als bevorzugte christliche Haltung“, die auf der Basis einer solchen Auffassung entstehen könne (Zitate S. 40). 756 Dass die Idee der Resonanz-Erfahrung bei Rosa nicht im eigentlichen Sinne religiös gedacht ist, macht sie nicht weniger theologisch anschlussfähig. Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016. 757 Rosa, Hartmut: Unverfügbarkeit. 3. Aufl. Wien, Salzburg 2019. S. 8. Hervorhebung im Original.
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Einen Teil seiner Faszination – und seiner Relevanz für den theologischen Umgang – erhält das Thema Heilung auch aus der Spannung des Wunsches nach Verfügbarkeit und der Akzeptanz des Unverfügbaren. Essentielle Lebensvorgänge, etwa eine Heilungserfahrung, als unverfügbar zu deuten, ist Teil eines religiösen belief systems. In der vorliegenden Untersuchung ist deutlich geworden, dass die erhobenen alternativmedizinischen Deutungen weniger dem Verfügbarkeitsgedanken der evidenzbasierten Medizin als einer religionshybriden Unverfügbarkeitsvorstellung nahestehen. Mehrheitlich zielen die Deutungen und (ein-)ordnenden Orientierungsangebote der HeilpraktikerInnen auf die Akzeptanz des Gegebenen, wobei sowohl die Akzeptanz von Krankheit als auch von Heilungsprozessen als (z. B. schicksalhafte, transzendente, unverfügbare, so-sein-sollende) Gegebenheiten wichtige Deutungsfiguren darstellen.758 In dieser Vorstellung spiegelt sich ein zentrales Thema christlichen Glaubens: Der Mensch ist Geschöpf, er ist und bleibt als ein solches Fragment.759 Er unterscheidet sich unter den Bedingungen irdischen Lebens von 758 Zumindest für die vorliegende Untersuchung lässt sich somit nicht die tendenziell pauschalisierende Feststellung unterschreiben, die so oder ähnlich in verschiedenen kirchlich-theologischen Publikationen zu finden ist und beispielhaft von Ernsting zitiert wird, die schreibt: „Angesichts von Tendenzen der alternativmedizinischen, esoterischen Heilungsszene sowie auch der modernen Gesundheitsgesellschaft, Kontingenz zu leugnen und eine Herstellbarkeit von Gesundheit und Glück zu unterstellen, […]“, sei es die spezifische Haltung christlicher Religion, die Spannung aus Heilungswunsch und Akzeptanz von Krankheit aufrecht zu halten. Zitat: Ernsting: Salbungsgottesdienste. S. 261. Im Gegensatz zu dieser Darstellung erwiesen sich die InterviewpartnerInnen der vorliegenden Untersuchung als durchaus reflektiert im Umgang mit eben dieser Spannung und vermieden, pauschal die Herstellbarkeit von Heilung und Glück zu behaupten. 759 Vgl. Luther, Henning: Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts. Stuttgart 1992. Henning Luther formuliert die Vorstellung des Fragments als (einzig) angemessene Beschreibung des Menschen: „Blickt man […] auf menschliches Lebens insgesamt, d.h. sowohl in seiner zeitlichen Erstreckung als auch in seiner inhaltlichen Breite, so scheint mir einzig der Begriff des Fragments als angemessene Beschreibung legitim.“ Zitat S. 168. In seiner Deutung des Menschen als Fragment greift Luther auf Bonhoeffers Theologie zurück. Wenn dieser schreibt: „Unsere geistige Existenz aber bleibt dabei ein Torso. Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment unseres Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht.“, dann lässt sich dieser Gedanke im Anblick körperlicher Verwundbarkeit des Menschen durchaus auch auf die
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der Vollkommenheit des Schöpfers und einem eschatologischen Ideal. In seinem Wunsch nach Heilung und allem verständlichen Bemühen um Gesundung ist er auch dadurch bestimmt, dass er seine Würde und seinen Wert nicht aus Gesundheit, Unversehrtheit und Jugend bezieht.760 Als ein Ergebnis der Untersuchung lässt sich als Aufgabe für Kirche und Theologie formulieren, Krankheit und Gesundheit in einem solchen Verständnis der Würde und der Begrenzung weiter ins Zentrum zu rücken. Ein in solcher Weise theologisch reflektiertes Sprechen von Krankheit und Heilung kann eine wichtige Entlastungsfunktion haben und Gelassenheit stärken, wie Rieger deutlich macht. Die Herausforderung besteht theologisch darin, Kreuz und Auferstehung, Fragmentarität und Ganzheitlichkeit, Selbsttranszendenz und Selbstintegration zusammenzuhalten: Insofern im Glauben der Mensch von sich selbst loskommt und seine Vollendung bzw. seine Ganzheit in Christus und seiner Geschichte findet, ist er befreit davon, seine Vollendung in sich selbst suchen bzw. seine Ganzheit innerweltlich selbst realisieren zu müssen. Das Heterogene, das Inkongruente, das Bruchstückhafte, auch das Scheitern im Leben werden dadurch nicht verklärt – sie bleiben das, woran Menschen leiden. Die Orientierung des Glaubens am gekreuzigten und auferstandenen Christus zeigt jedoch, dass es Gottes Gegenwart nicht im Weg steht und als zum Leben gehörend anerkannt werden kann.761
Diese Spannung immer wieder wach zu halten, die Fragmentarität des Lebens, der eigenen Biographie, des Leibes als existentiell zum Leben gehörend zu akzeptieren und zugleich einen gelassenen Umgang damit pflegen zu können, weil Menschen in dieser Fragmentarität gerechtfertigt sind – nicht weniger haben Kirche und Theologie zu vermitteln. Darin haben sie auch die Chance, das Spannungsfeld, in dem sich Leben ereignet, an eine konkrete Glaubensüberzeugung rückzubinden (religio) und der gezeigten Indifferenz der (transzendierenden) Deutungen alternativmedizinischer AnbieterInnen eine Geschichte gegenüberzustellen, die das Verhältnis von orientierender Konkretion und Offenheit resonanzfähiger Grunderfahrungen als persönliche Anknüpfungspunkte immer wieder neu auslotet. ganze leibseelische Existenz ausweiten. Zitiert nach: Luther, Henning: Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts. Stuttgart 1992. S. 166. 760 Vgl. dazu die theologische Perspektive auf Prozesse des Alter(n)s, die zunehmend reflektiert werden. Vgl. Praktische Theologie des Alterns. Hrsg. v. Thomas Klie, Martina Kumlehn und Ralph Kunz. Berlin, New York 2009.; Kumlehn, Martina: Lebenskunst im Alter. Herausforderungen für (religiöse) Bildungsprozesse. In: Lebenswissenschaft Praktische Theologie?! Hrsg. v. Thomas Klie u. a. Berlin, New York 2011. S. 271-289. 761 Rieger: Gesundheit. S. 40. Hervorhebung im Original.
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Neben diesen grundsätzlichen Überlegungen ist nach weiteren Impulsen der Untersuchung für praktisch-theologische Diskurse und Handlungsfelder zu fragen. Für die liturgische Praxis und die liturgiewissenschaftliche Reflexion ergeben sich etwa Anregungen aus den Beobachtungen der Untersuchungskategorie Riten und Rituale, die gezeigt hat, dass religionshybride rituelle Handlungen in alternativmedizinischen Heilungsangeboten einen wichtigen Ort haben. Aus theologischer Perspektive lassen sich aus diesem Befund zwei Fragerichtungen ableiten. Auf der einen Seite ist nach der Performanz von Ritualen zu fragen, nach ihren Darstellungsformen, ihrer Ausführung, dem Wie; nach ästhetischen, visuellen, olfaktorischen, sinnlich-wahrnehmbaren Formen der Durchführung ritueller Handlungen. Auf der anderen Seite steht die Frage danach, was zur Darstellung gebracht werden soll, welche rituell transportierten Inhalte z. B. über die Faszination einer geformten (ggf. neuen, fremden, exotisch-reizvollen) Abbildung im Ritus hinaus existentiell bedeutsam werden. Die ritualisierten Handlungen der HeilpraktikerInnen, die im Untersuchungsfeld beobachtet werden konnten, sprechen in ihrer Darstellungsform eine große Breite an Wahrnehmungen an; es riecht (z. B. nach Aromen, Räucherstäbchen); es sind räumlich markante Ordnungen wahrnehmbar (z. B. in der Anordnung der Plätze der Teilnehmenden und Leitenden); es zeigt sich eine klare Trennung von Ritus und ‚Nicht-Ritus‘ (z. B. wird in Sprache und Rollenverteilung deutlich zwischen Anleitungen, ‚Regieanweisungen‘ durch Assistierende und ritueller Sprache und Praxis durch den Heiler oder die Heilerin unterschieden); besonders bemerkenswert ist, dass alle beobachteten Riten leibliche Aspekte enthalten, neben olfaktorischen und akustischen spielen besonders haptische und taktile Komponenten eine wichtige Rolle. Rein darstellende bzw. abbildende Formen finden sich kaum, wogegen Handauflegungen, Wasserriten, ‚Energieübertragungen‘ o. ä. die Performanzen prägen. Der Stellenwert leiblicher Kommunikation, allen voran das Berühren und Berührtwerden, gibt zu denken, zumal er nicht nur in den teilnehmenden Beobachtungen eine Rolle spielte, sondern auch in einigen Interviews thematisiert wurde. Diese Berührungen stehen zudem in den Performanzen und Deutungen des Feldes in der Regel in einem engen Zusammenhang mit transzendenten Bezügen, wenn bspw. die Übertragung von ‚heilender Energie‘ Ziel einer Behandlung sein soll oder die AkteurInnen eine eigene Verbindung zu transzendenten Größen als Voraussetzung ihrer Handlungen herstellen. Im Gegensatz zu dieser zentralen Rolle, die rituelle Handlungen in ihrer leiblich-wahrnehmbaren Ausführung für die untersuchten Prozesse spielen, steht die unklare Bestimmung dessen, was hier zur Darstellung kommen soll. Bei der Frage nach dem dargestellten Inhalt, der die rituellen Handlungen füllt, zeigt sich im Material eine große Indifferenz. Explizite sprachliche Deutungen fehlen mehrheitlich, auch auf Nachfrage bleiben die Inhalte zumeist unterbestimmt.
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Nahezu gegenteilig lässt sich die liturgische Praxis evangelischer Religion beschreiben. Während gewichtige Glaubensinhalte intellektuell-sprachorientiert zur Darstellung kommen, stehen rituell-leibliche Praktiken in deutlich nachgeordneter Position.762 Leiblich erfahrene Praxis spielt etwa im gottesdienstlichen Geschehen eine untergeordnete Rolle, Berührung findet ihren Ort evangelisch höchstens in der Taufe, Segnungen mit Handauflegung sind in der Regel in ‚besondere‘ Gottesdienste ausgelagert. Hier muss sich kirchliche Religion fragen lassen, wo ihre Praxis zu wenig leiblich, persönlich und erfahrungsorientiert ist. „Das protestantische Verbalprinzip führt bis heute mehrheitlich dazu, das liturgische Formenspiel eher als eine kommunikative Fortsetzung der Predigt mit anderen Mitteln zu verstehen“763, stellt Klie mit Blick auf den Gottesdienst fest, um dann weiter auszuführen: Gottesdienstlichen Gebeten werden erklärende Präfamina vorangestellt, die Gemeinde sieht sich wortreich begrüßt, ganze einzelne liturgische Rubriken werden diskursiv verflüssigt oder gleich ganz getilgt. […] [B]ei der kritischen Betrachtung real existierender Gottesdienstverläufe kann durchaus der Eindruck entstehen, dass prinzipiell alle leib-räumlichen Performanzen ‚gut evangelisch‘ auch verbal substituiert werden können.764
Die Sprache, mit gutem Recht wichtiges Medium der evangelischen Verkündigung, scheint andere Formen der leiblichen Wahrnehmung neben der akustischen stark in den Hintergrund gedrängt zu haben. Dass sich diese Art der „Wortfixierung“765 einem Missverständnis der lutherischen Auffassung vom Wort ‚verdankt‘
762 Vgl. dazu Klie: „Die traditionelle Ausrichtung am Wortlaut der heiligen Schrift hat liturgisch in evangelischen Kirchentümern zu einer starken Zentrierung auf die akademisch gebildete Kanzelrede geführt. Als evangelisch wird ein Gottesdienst immer dann erfunden [sic!], wenn lang und gelehrt gepredigt wird – auch ohne dass im Anschluss an die Kanzelrede das Abendmahl gefeiert wird. Ein sog. ‚Predigt-Gottesdienst‘ ist nach evangelischer Lesart ein vollgültiger ‚Hauptgottesdienst‘. Von Beginn an ist die evangelische Gottesfeier eine ganz enge ästhetische Liaison mit der religiösen Rhetorik eingegangen. Und so vollzieht sich bis heute die allsonntägliche Kommunikation des Evangeliums weniger im Modus ritueller Darstellung als im Modus theologischer Argumentation.“ Klie: Fremde Heimat Liturgie. S. 13. 763 Ebd. S. 13. 764 Ebd. S. 13f. 765 Ebd. S. 14. Genauer heißt es bei Klie dazu: „Diese Wortfixierung beruht allerdings auf einem verkürzten Verständnis dessen, was Luther mit ‚Wort‘ bezeichnet. […] Lutherisch meint ‚Wort‘ immer leibliches, sakramentales Wort; es besetzt ein deutlich über
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und zudem der Kommunikation des Evangeliums nicht dienlich ist, wird darüber hinaus bei Klie deutlich: Das lutherische ‚Wort‘ ist nicht nur homiletisch hörbar, sondern auch liturgisch ansehnlich und eucharistisch geschmackvoll. In Liturgie und Sakrament kommt eben kein anderes Evangelium als in der Predigt zu Wort, wohl aber anders.766
Diese theologische Problemanzeige lässt sich zusammen mit den vorliegenden Untersuchungsergebnissen interpretieren. Religiöse Praxis braucht ihren Ort in Wort und Performanz. Die ritualisierten Performanzen als Angebote im Kontext alternativmedizinischer Heilbehandlungen sowie die weitgehend als sekundär gehandelten leiblichen Aspekte der Evangeliumsverkündigung können die liturgische Praxis in (mindestens) zwei Richtungen anregen. Zum einen könnte es angezeigt sein, dem offenbar vorhandenen Bedürfnis nach Ritualen mit vielfältigen Formen ritueller Handlungen zu begegnen, seien es traditionelle, neue oder hybride Formen, die sich auf der Grundlage und im Deutungshorizont traditioneller Rituale entwickeln (lassen). Verschiedentlich wird in praktisch-theologischen Entwürfen auf die vielfältigen Ansätze und Erprobungen in diesem Feld aufmerksam gemacht, so bspw. von Bieritz und Steck besonders mit Blick auf ‚Frauenliturgien‘, und für eine Offenheit gegenüber diversen rituellen Richtungen geworben.767 Eine Vielfalt der Zugänge soll dabei nicht der Beliebigkeit und Unkenntlichkeit der Inhalte das Wort reden. Vielmehr ist zu prüfen, welche theologischen Inhalte liturgisch Ausdruck finden sollen und in welcher Form dies angemessen geschehen kann. Zum anderen – und dieser Aspekt scheint noch entscheidender – ist die Praxis der bereits vorhandenen Rituale zu fördern, die gut praktiziert sein könnten. Persönlich erlebte und praktizierte Rituale lassen religiösen Glauben erfahrbar das Wortsprachliche hinausgehendes semantisches Feld. […] ‚Wort‘ ist für Luther ein eminent sinnliches Zeichen, es hat eine wahrnehmbare Außenseite.“ 766 Ebd. S. 14 (mit Bezug auf Michael Meyer-Blanck). Hervorhebung im Original. 767 Vgl. bei Bieritz den Verweis auf „Frauenliturgien“ und „Frauenrituale“ sowie auf in diesem Kontext stattfindende Salbungen, Handauflegungen, Haussegnungen u. a. sowie den Hinweis auf die Bereicherung und Veränderungswirkung neuer liturgischer Formen aus der Initiative einzelner Gruppen innerhalb von Gemeinden. Vgl. Bieritz: Liturgik. S. 681ff, besonders S. 684. Auch Wolfgang Steck hebt die Vielfalt frauenliturgischer Formen hervor, vgl. Steck, Wolfgang: Praktische Theologie. Horizonte der Religion – Konturen des neuzeitlichen Christentums – Strukturen der religiösen Lebenswelt. Bd. 1. Stuttgart, Berlin, Köln 2000. S. 321ff. (künftig zitiert als: Steck: Praktische Theologie. Bd. 1).
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werden. Die zentrale Bedeutung der Eigenleiberfahrung als Bezugsgröße und Verifizierungsinstanz ist für den Kontext der Untersuchung deutlich geworden. Die Bedingungen für die Möglichkeit einer solchen Erfahrung zu schaffen, kann durch eine Stärkung christlicher Rituale gelingen, wenn sie als ‚den ganzen Menschen‘ ansprechende Formen praktiziert werden und darin das Evangelium kommuniziert wird. Weil eine persönliche Glaubensbeziehung religiöser Erfahrung bedarf, ist es eine Aufgabe religiöser Institutionen, diese Erfahrungsräume (z. B. in liturgischer Praxis) zu eröffnen. Dass in dieser Richtung theologisch bereits einiges reflektiert wurde, ist positiv hervorzuheben und notwendig768; dass die Umsetzung noch ausbaufähig ist, ist ebenso festzustellen. Rituelle Handlungen brauchen Übung, die verbale Erläuterungen zu minimieren erlaubt, mehr Sinne als ausschließlich den des Hörens anspricht769 und zugleich Raum lässt, sich in verschiedenen Bereichen dieser religiösen Praxis zu beheimaten.770 Die Feier des Abendmahls sei hier 768 Vgl. die Plädoyers für eine gut inszenierte, gut geübte, regelmäßig praktizierte rituelle Praxis, die sich bspw. finden in Klie: Fremde Heimat Liturgie, für die gesamte Liturgie; Kunz, Ralph: Ist das Abendmahl ein Gerüst? Plädoyer für eine weite liturgische Theologie. In: Liturgie und Ökumene. Jean-Jacques von Allmen (1917-1994) und die liturgische Bewegung in der Westschweiz. Hrsg. v. Ralph Kunz und Félix Moser. Zürich 2019. S. 59-75. (künftig zitiert als: Kunz: Ist das Abendmahl ein Gerüst?), für Liturgie allgemein und besonders für das Abendmahl; Enzner-Probst, Brigitte: Frauenliturgien als Performance. Die Bedeutung von Corporealität in der liturgischen Praxis von Frauen. Neukirchen-Vluyn 2008, für Liturgien mit speziellem Fokus auf Frauen und leibliche Erfahrbarkeit; Ernsting: Salbungsgottesdienste, für liturgische Formen mit salbenden, segnenden und heilenden Handlungen. 769 Wobei hier v. a. das intellektuell-verstehende Hören verbaler Erläuterungen im Blick ist. Natürlich sprechen auch etwa musikalische Elemente den Hörsinn an, zugleich wird Musik bei RezipientInnen nicht nur oder vermutlich nicht einmal primär intellektuell aufgenommen, sondern über das Hören auf vielfältige Weise auch physisch und emotional verarbeitet. Vgl. zur Bedeutung der emotionalen Ansprache durch Musik im Gottesdienst Pohl-Patalong, Uta: Gottesdienst erleben. Empirische Einsichten zum evangelischen Gottesdienst. Stuttgart 2011. S. 116ff. (künftig zitiert als: PohlPatalong: Gottesdienst erleben). 770 Zur Bedeutung einzelner liturgischer Stücke im christlichen Gottesdienst und zu den daran anknüpfenden Möglichkeiten der persönlichen Verortung in diesem vgl. die Studie von Uta Pohl-Patalong. Besonders bemerkenswert scheint hier m. E. der Hinweis auf die Hochschätzung von bzw. den Wunsch nach bewusst gewährten Leerstellen im Gottesdienst (z. B. Stillezeiten o. ä.), in denen eine Verschränkung individueller Erfahrungen mit dem gottesdienstlichen Geschehen stattfinden kann. Pohl-Patalong: Gottesdienst erleben. S. 149ff.
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als ein Beispiel genannt. Hier werden nicht nur essentielle theologische Inhalte leiblich erfahrbar gefeiert, vielmehr wird an diesem Beispiel auch deutlich, dass die Entfaltung einer kraftvollen Erfahrung einer geübten Liturgie bzw. rituellen Praxis bedarf, die sie von permanenter sprachlicher Erläuterung der liturgischen Stücke entlastet.771 Eine regelmäßig praktizierte rituelle Handlung, ein Ritual, entfaltet seine Wirkung auch aus der Entlastung von kognitiven Funktionen, indem es durch wiederholende Darstellung eines Inhalts eine Ordnungsfunktion übernimmt. Dabei trägt die Formgebundenheit zur Eigenmächtigkeit der rituellen Handlung bei. Für das reformierte Abendmahl weist Kunz auf die Problematik der mangelnden Praxis hin – eine Feststellung, die sich, etwas abgeschwächt, auf die evangelische Abendmahlfeier im Allgemeinen übertragen lässt. Es ist richtig und wichtig, die Dialektik der gebundenen und freien Formen als Gestaltungsaufgabe aufzufassen. […] Bis auf das Unservater gibt es kein Stück, das die Gemeinde regelmässig rezitiert, im Wechsel gemeinsam betet oder spricht, weil sie es auswendig kennt. Beinahe alles, was im reformierten Gottesdienst von der Gemeinde gesprochen wird, wird ihr vom Pfarrer vorgeschrieben. Eine Liturgie aber, die trägt, lässt sprechen, beten oder singen. Das ist etwas, das die meisten Reformierten in der Deutschschweiz (immer noch) als ‚katholisch‘ und ‚unreformiert‘ empfinden.772
Im Material der Untersuchung ist deutlich geworden, dass im Zusammenhang von Krankheit und Heilung rituelle, liturgisch geformte Performanzen in alternativmedizinischen Heilungsangeboten ihren Ort haben und diese zur strukturierenden Einordnung beitragen. Während in der Untersuchung der Fokus auf den alternativmedizinischen AnbieterInnen lag, die hier einen Bedarf decken, zeigt sich beim Blick auf rituelle Handlungen christlicher Praxis deren großes Potential für den Kontext von Krankheit und Heilung. Christliche Segnung und Salbung stellt etwa einen Ritus dar, der als liturgische wie seelsorgerliche Form dem Wunsch nach strukturierender Einordnung und leiborientierter Rahmung begegnet und darin den christlichen Glauben performativ zum Ausdruck bringt. Diese im evangelischen Kontext bisher nur zurückhaltend angewandte Praxis nimmt einige der hier angesprochenen Anregungen auf, indem sie auf die konkrete Lebenssituation 771 Vgl. ähnlich auch für andere liturgische Stücke des Gottesdienstes Klie: Fremde Heimat Liturgie. S. 63ff. Wie Klie deutlich differenziert, heißt dieses Plädoyer für mehr unzerredete Praxis nicht, dass christliche Rituale mehr in „geheimnisvolle[n] Rituale[n] und hermetische[n] Formeln inszeniert werden“ sollten, sondern dass Wort und Handlung ihr je eigenes und eigenständiges Recht erhalten. Zitat: Klie: Fremde Heimat Liturgie. S. 13. 772 Kunz: Ist das Abendmahl ein Gerüst? S. 69. Hervorhebung im Original.
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bspw. der Krankheitserfahrung mit geistigen und leiblichen Bezügen reagiert und diese in Gebeten, Lesung und Segnung sowie der Salbung zum Ausdruck bringt.773 Theologisch durchdachte und sicher gestaltete Rituale lassen religiöse Deutungen erfahrbar werden und eröffnen darin wirkungs- und machtvolle Räume.774 Auch die religiöse Deutung in der sprachlichen Form der Predigt ist vor dem Hintergrund der Untersuchungsergebnisse in den Blick zu nehmen und nach Anstößen für die homiletische Praxis zu fragen. Besonders eine den Menschen auch in seiner Leiblichkeit fokussierende Predigt bietet hier Anknüpfungspunkte. Zu finden ist diese v. a. in zwei Richtungen: in einer Homiletik, die neben strukturellen Überlegungen zur Predigtlehre auch inhaltliche Impulse bietet, wie dies v. a. in älteren homiletischen Entwürfen der Fall ist sowie in einer leiborientierten Predigt, wie sie in Salbungs- und Segnungsgottesdiensten und deren Reflexion zu finden ist.775 Für die erste Variante steht exemplarisch Rudolf Bohren. In seiner Homiletik nimmt er auf das Thema Heilung unter der Rubrik „Predigt und Zeichen“ Bezug und verweist darauf, Wunder und Zeichen zu „er-klär[en]“776 sei Aufgabe der Predigt, denn „das Zeichen bedarf der Aufklärung, dann macht es seinerseits 773 Vgl. zu dieser liturgischen Handlung z. B. das Formular des Evangelischen Gesangbuchs für Bayern und Thüringen, welches im Abschnitt „Krankheit und Heilung“ verzeichnet ist, EG 873, S. 1483. Vgl. zu den Entwicklungen der Krankensalbung ausführlicher: Grethlein: Praktische Theologie. S. 575f. sowie Steck: Praktische Theologie. Bd. 1. S. 280f. Auch die lutherische Agende „Dienst am Kranken“ von 1994 bietet ein liturgisches Formular der Begleitung von Kranken, das verschiedene rituelle Formen (mit oder ohne Abendmahl; mit oder ohne Salbung) vorsieht. Vgl. dazu ausführlicher: Zimmerling, Peter: Zwischen Heil und Heilung. Evangelische Spiritualität und Liturgik unterwegs zur Wiederentdeckung des Körpers. In: Heilen und Heilung. Handauflegen, Segnen und Salben in Kirche und Seelsorge. Hrsg. v. Christian Metzenthin und Susanna Meyer. Zürich 2019. S. 29-42. 774 Selbstredend heißt dieses Votum für mehr handelnde und berührende Praxis keine Ablehnung intellektuell vermittelnder, denkender, abwägender religiöser Praxis und persönliche Zurückhaltung im Umgang mit leiblichen Praktiken ist anzuerkennen. Vielmehr gilt es, nach angemessenen Wegen und maßvollen Modi zu suchen, die (christliche) Religion vielfältig individuell anzueignen erlauben. 775 Aufgrund seiner nachhaltigen Wirkung und seiner ausführlicheren theologischen Einordnung wird hier für die Predigtpraxis im Salbungsgottesdienst mit Walter Hollenweger ebenfalls auf einen älteren Entwurf zugegriffen. Für aktuelle Predigtanregungen zu Salbungs- und Segnungsgottesdiensten siehe z. B. Segnung, Salbung, Heilung. Gottesdienstentwürfe, Predigten und liturgische Texte. Hrsg. v. Christian Schwarz. Gütersloh 2010. 776 Bohren, Rudolf: Predigtlehre. München 1971. S. 321.
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klar; dann zeigt das Zeichen“777. Wunder- und Heilungsgeschichten der Bibel nicht ausschließlich metaphorisch zu predigen, sondern sie konkret in die Lebenswelt der HörerInnen zu übersetzen, ist Bohren ein Anliegen. Das heißt für ihn, Christus solle in der Predigt als „der Gegenwärtige […] der Heiler und Arzt und damit […] ein sichtbar Wirkender“778 zum Ausdruck kommen. Für Bohren gilt: Das Herrsein Christi für den Leib hat reale Folgen. Geht nach seiner Auferstehung die Sache Jesu weiter, ist nicht einzusehen, warum nicht auch sein Heilen weitergehen soll.779
Weder als reine Idee einer Erlöserfigur, und damit dem leibgebundenen Menschen fern, noch als bloß vorbildlicher Mensch, und damit ohne transzendente Wirkungsweisen, entfalte Christus seine tatsächliche Bedeutung für heutige PredigthörerInnen. Daher gelte es nicht nur, an Gottes Möglichkeit zu glauben, Menschen zu heilen, sondern auch, eine homiletische Praxis zu fördern, die dieses Wirken ernst nehme. Dass eine solche Predigtpraxis immer unter einem eschatologischen Vorbehalt steht und in besonderer Weise der Unverfügbarkeit des Handelns Gottes verpflichtet ist, ist in der redlichen Auslegung von Heilungsgeschichten deutlich zu machen. Der reformierte Theologe Walter Hollenweger fragt vor dem Hintergrund des Entwurfes einer Interkulturellen Theologie auch „nach der heutigen Relevanz [von] Heilungsgeschichte[n]“780. Dabei konstatiert er, die Auslegung der kirchlichen Praxis vergeistliche diese Geschichten, indem Predigten über Wunderheilungen (nur) davon sprächen, dass „unsere politischen, wirtschaftlichen und persönlichen Beziehungen geheilt werden müssen“781. Für Hollenweger steht hier die Frage im Raum, warum […] die Texte nicht auch das sagen, was wirklich da steht, nämlich, daß die Verkündigung des Evangeliums, daß die Gemeinde Jesu Christi etwas mit dem Dienst an den Kranken zu tun hat, daß in der Gemeinde nicht nur über die Kranken geredet, sondern auch an ihnen gehandelt werden kann und soll.782
Hollenwegers Entwurf für einen Segnungsgottesdienst greift diese Thematik im Verkündigungsteil auf und verweist dabei zugleich auf zwei Aspekte, die den Vor777 Ebd. S. 321. 778 Ebd. S. 327. 779 Ebd. S. 327. 780 Hollenweger, Walter J.: Geist und Materie. München 1988. S. 24. 781 Ebd. S. 24. 782 Ebd. S. 24.
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behalt theologischer Rede und kirchlichen Handelns in diesem Kontext deutlich machen: die Notwendigkeit des Handelns von Menschen und die Unverfügbarkeit der Wirkungen. Wir sind nicht berufen, lediglich mit den Kranken und über die Kranken zu reden. In der Gemeinde Jesu Christi, im Gottesdienst wird gehandelt. Darum heisst das Abendmahl in der reformierten Theologie ‚eine heilige Handlung‘. Die Handauflegung ist eine Handlung. Menschen, die ihr Lebtag nie berührt werden – mit der Hand berührt werden – finden es schwer zu glauben, dass Gott sie berührt. Wer nie berührt wird, ist nicht berührt. Heute erkennen wir: Es ist lange genug geredet worden. Jetzt soll gehandelt werden. Was aus dieser Handlung kommt, ist nicht in unserer Hand: Heilung, Besserung, Trost oder – auch keine spürbaren Resultate. Warum gläubige Menschen nicht geheilt, und Menschen, die in den Tag hineinleben, geheilt werden, wissen wir nicht. Wir können nicht in Gottes Notizbuch schauen. Wir tun, was wir tun, weil es uns vom Wort Gottes aufgetragen ist.783
Heilung sei aus der biblischen Überlieferung heraus auch als Auftrag an die Kirche zu verstehen – im Handeln wie in der sprachlichen Auslegung. Der Blick in neuere homiletische Entwürfe lässt in dieser Hinsicht eine Leerstelle sichtbar werden. Der Fokus der Forschung lag in jüngerer Vergangenheit verstärkt auf strukturellen Fragen: „Es interessierte vor allem die Art und Weise des Predigens, die Form, die Person des Predigers bzw. der Predigerin, der Gemeindebezug. Es ging darum, persönlich und konkret zu predigen, frei, erzählend und rhetorisch […], seelsorgerlich und biblisch, diakonisch, literarisch und zeitgenössisch […].“784 Als ein Gegenbeispiel sei hier Reiner Knieling genannt, der in seiner Homiletik nicht nur den Inhalt der Predigt im Allgemeinen in den Vordergrund stellt, sondern Heilung und Heil exemplarisch als ein zentrales Verkündigungsthema durchdenkt. Dabei betont auch er als christliches Spezifikum im Umgang mit Heilungserfahrungen deren Unverfügbarkeit: „Was von Gott ausgeht und in uns eingeht, geht […] nicht in unsere Verfügbarkeit über, aber auch nicht an unserer Erfahrung vorbei.“785 Für eine entsprechend thematisch ausgerichtete Predigt als „heilsame Rede[…]“786 hält er folgende Überlegungen fest:
783 Hollenweger, Walter J.: Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Die zehn Aussätzigen. Zwei Segnungsgottesdienste. S. 4. Hervorhebung im Original. 784 Knieling, Reiner: Was predigen wir? Eine Homiletik. 2. erweit. und überarb. Aufl. Neukirchen-Vluyn 2011. S. 53. Im Original mit Hervorhebungen. 785 Ebd. S. 108. 786 Ebd. S. 112.
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Eine Predigt zum Thema Heil und Heilung muss m.E. wie der Gottesdienst insgesamt […] einen ‚Raum‘ eröffnen, in dem Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen Platz haben, in dem sie einfach da sein können und/oder sich auf verschiedenen Ebenen auseinandersetzen können, in dem sie mit ihrer Situation Gott begegnen können: in dem sie einfach still vor ihm sind, ihm leise danken, ihm von Herzen zujubeln, ihn um Hilfe bitten oder ihm ihr Leid klagen. Eine Predigt eröffnet einen solchen Raum, indem sie unterschiedliche Situationen von Menschen ernst- und aufnimmt. Und sie erfüllt dann ihren Auftrag, wenn sie in diesem Raum auf Gott verweist. Das kann – je nach Situation und Prediger/-in – einmal ganz vorsichtig und zurückhaltend geschehen. Das kann einmal auch kräftig und deutlich passieren. Entscheidend ist, dass auf Gott verwiesen wird, der größer ist als alle PredigerVernunft. Dass reale körperliche Heilungserfahrungen nicht selten ausbleiben, darf genauso wenig übergangen werden, wie dass es gelegentlich unerwartete Heilungen gibt, wodurch auch immer sie ausgelöst sind.787
Eine Beispielpredigt, die den Zusammenhang von Krankheit, Gebet und Salbung ins Zentrum stellt, bietet die Homiletik von Knieling zusätzlich zu diesen grundsätzlichen Überlegungen.788 Darüber hinaus werfen die Ergebnisse der Untersuchung Fragen in professionstheoretischer Perspektive auf. Im Blick auf die sichtbar gewordenen Überlagerungen muss die Frage nach dem professionellen Spezifikum gestellt werden. Anbieter verschiedener Systeme rekurrieren mitunter auf dieselben Phänomene und bieten in ihren Deutungen sich überlagernde Sinnhorizonte. Deutlich sichtbar geworden ist dies etwa im Kontext der Transzendenzbezüge. Das Rekurrieren auf transzendente Vorstellungen ist nicht religiösen ExpertInnen und nicht der Kommunikation in als religiös markierten Kontexten vorbehalten, sondern findet, wie im Material sehr deutlich geworden ist, von unterschiedlichen Personen in diversen Kontexten und Modi statt. Dass sich aus dieser Überlagerung der Deutungen und belief systems auch professionstheoretisch relevante konfliktive Spannungen ergeben können, lässt sich im Weiterdenken der Analyseergebnisse erwarten. Hier muss sich die differentia specifica theologischer Deutung im Kontext von Krankheit und Heilung zeigen. Wie verhalten sich theologische PraktikerInnen und TheoretikerInnen in der Begegnung mit dem Thema und im Blick auf die sich daraus ergebenden Anfragen nach Deutung und Performanz? Dabei scheint nicht in erster Linie entscheidend, dass sich die Zuwendungen und Handlungen der AkteurInnen als solche unterscheiden, sehr wohl aber, dass deutlich wird, vor welchem Deutungshorizont, mit welchem Kontext bzw. Framing eine Deutung als religiöse bzw. theologische Deutung gefasst ist. Religiöse ExpertInnen müssen in 787 Ebd. S. 112f. 788 Ebd. S. 113ff.
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ihrer Funktion als solche ausgehend von verschiedenen Erfahrungszusammenhängen ansprechbar sein. Dabei ist ihnen der theologische, hier konkret: der christlich-theologische Deutungshorizont als Bezugsrahmen gegeben. Welche Konsequenzen ein solcher Deutungsrahmen für den Umgang mit Fragen nach Krankheit und Heilung haben kann, wurde etwa im Blick auf das (theologisch begründbare) Aushalten der Spannung von Heilungswunsch und Unverfügbarkeit aufgezeigt. Das Potential der vorgelegten Untersuchung in professionstheoretischer Perspektive liegt in der Schärfung des Profils an den Grenzen. Vor dieser Annahme ist auf die Notwendigkeit der Abgrenzung hinzuweisen, die esoterische Weltbilder, exkludierende Dualismen oder Heilungsversprechen zurückweist. Insofern kann aus der Analyse auch gefolgert werden, mit klarem christlichem Profil nicht allen Deutungsangeboten zuzustimmen (und damit möglicherweise auch einer ‚Selbstsäkularisierung‘ entgegenzuwirken). Ein reflektierter Umgang mit dem Bild der eigenen Profession und dem anderer Heil(ung)sanbieter heißt aber auch, die real vorhandenen Bedürfnisse der RezipientInnen wahr- und aufzunehmen, um ihnen mit eigenen profilierten Angeboten – wie etwa Handauflegung – zu begegnen, statt entsprechende Praktiken vorschnell als ‚nicht-christlich‘ oder ‚esoterisch‘ zu beurteilen. Dass christliche Lebensdeutung dabei nicht fertig auf Rezept verordnet werden kann, ist für ReligionsexpertInnen wie RezipientInnen gleichermaßen Herausforderung und Chance. So gilt es, Menschen in Seelsorge und Beratung zu stärken und ihnen Kompetenzen zu vermitteln, die sie befähigen, ihr eigenes Leben kritisch-konstruktiv zu christlichen Deutungen ins Verhältnis zu setzen und mit diesen zu verschränken.789 Darüber hinaus lässt die Aufgabe, Krankheit und Heilung als ein zentrales Thema christlicher Religion ins Zentrum zu rücken und es in liturgischer sowie poimenischer Praxis in der angedeuteten Differenziertheit umzusetzen, in professionstheoretischer Perspektive auch die Frage nach einer dieser Anforderung gerecht werdenden Ausbildung virulent werden. In welcher Form die hier genannten Anregungen ihren Raum finden, bedarf weiterer Überlegungen. Eine weitere wichtige Erkenntnis, die in der Untersuchung deutlich wurde, ist die Relevanz der persönlichen Beziehung für den Umgang mit den Herausforderungen von Krankheit und Heilung. Im empirischen Material drückt sich dies vor allem in zwei Modi aus: Zum einen spielt die konkrete körperliche Erfahrung 789 Wenn es auch hier nicht weiter ausgeführt werden kann, so ist doch noch einmal auf einen finanziellen Aspekt hinzuweisen. Die (Deutungs-)Angebote nicht institutionell angebundener AnbieterInnen, wie sie hier in der Untersuchung fokussiert wurden, stehen insofern unter dem Druck, erfolgreich und ‚positiv‘ sein zu müssen, als sie mit ihrem Preis am Markt bestehen müssen. Von dieser Notwendigkeit sind etwa die christlichen Deutungsangebote frei.
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der Berührung eine wichtige Rolle, zum anderen die persönliche Beziehung zu Menschen, die eine Begleitungs-, Heilungs-, Leitungs- oder Hilfefunktion übernehmen. Für (kirchlich-)religiöse Kontexte ist die Erkenntnis der starken Prägung durch persönliche Beziehungen nicht neu. Dies zeigt sich bspw. im Zusammenhang religiöser Tradierung und Erfahrungsmöglichkeit und gilt sowohl in privaten als auch in professionellen Beziehungen.790 Dass sie darüber hinaus auch im Kontext von Krankheit und Heilung von großer Bedeutung ist, ist umso deutlicher hervorzuheben in Zeiten, in denen sich kirchliche Strukturplanung eher auf den Rückzug aus der Fläche orientiert.791 Besonders im Blick auf Begleitung und Seelsorge spielt diese Beziehung eine zentrale Rolle, berührt aber zugleich die meisten Handlungsfelder kirchlicher Praxis und ist entscheidend auch für das Professionsverständnis religiöser ExpertInnen. Die persönliche Beziehung und leibhaft-gebundene Kommunikation christlichen Glaubens zählt zu den charakteristischen Merkmalen der Profession, wie Isolde Karle betont: Weil sie Leibhaftigkeit voraussetzt, ist interaktive Kommunikation oft auch eindrücklicher, nachhaltiger und anschaulicher als massenmediale Kommunikation. Identitätsvorschläge, Haltungen und Einstellungen können bei der Kommunikation unter Anwesenden an leibhaften Personen überprüft und abgelesen werden und auf diese Weise die Glaubwürdigkeit der kommunizierten Inhalte massiv verstärken oder umgekehrt auch in Frage stellen. Das ist im Hinblick auf die Person des Pfarrers bzw. der Pfarrerin von hoher Bedeutung […]. Pfarrer und Pfarrerinnen symbolisieren das christliche Programm und Wirklichkeitsverständnis konkret an ihrem Leib. Sie stellen körperlich und wahrnehmbar Religion und Kirche dar und inszenieren das Evangelium. […] Die konkrete, sinnenfällige Kommunikation unter Anwesenden ist für die christliche Verkündigung, für den Glauben von Einzelnen und ihre Bindung an die Kirche und für die Kirche selbst von kaum zu überschätzender Bedeutung.792
Die gleichermaßen hohe Bedeutung, die der Beziehung im religionshybriden alternativmedizinischen Feld und für die religiöse Praxis zukommt, verweist darauf, auf diesen Aspekt auch in Begleitung und Seelsorge (von bzw. an Kranken) ein 790 Vgl. sowohl die Rolle, die die familiäre Sozialisation für die religiöse Prägung spielt als auch die Bedeutung der Interaktion mit kirchlichen MitarbeiterInnen. KMU V. S. 452f. sowie S. 83ff. 791 Vgl. bspw. die Leuchtfeuer-Idee des EKD-Impulspapiers: Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD. Hier ist eine Zentrierung kirchlicher Angebote für Regionen vorgesehen. Verfügbar unter: https://www.kirche-im-aufbruch.ekd.de/downloads/kirche-der-freiheit.pdf. Aufgerufen am 3. Juni 2019 S. 59ff. 792 Karle: Profession. S. 70.
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besonderes Augenmerk zu lenken. Dabei ist sowohl an die Bedeutung des persönlichen Face-to-Face-Kontaktes zu denken als auch für eine Aufwertung körperlicher Berührung zu plädieren. Seelsorge und Begleitung kann über die Arbeit mit Sprache hinaus auch haptisch-taktile Elemente einbeziehen, von einer Berührung der Hände bis hin zu segnenden und salbenden Handlungen und Handauflegungen kann hier eine große Bandbreite an Möglichkeiten in den Blick genommen werden. Für den Bereich der Krankenhausseelsorge hat Naurath diesen Gedanken ausgeführt; ihre Überlegungen lassen sich jedoch auch auf andere Bereiche der Seelsorge an Kranken (und darüber hinaus) übertragen: Die Möglichkeiten, die Relevanz der Leiblichkeit des Menschen im kirchlichen Handlungsfeld der Klinikseelsorge zu konkretisieren, sind nahezu unbegrenzt. Angefangen bei der körperlichen Disposition der SeelsorgerInnen, über die inhaltliche Thematisierung des Körperbewußtseins in der Auseinandersetzung mit der Krankheit bis hin zu Gestaltungsmöglichkeiten der Seelsorgebegegnung mittels körperorientierter Methodik. Ein weiteres Feld […] sind die liturgischen und sakramentalen Handlungsfelder […], die in ihrem rituellen und körperlich erfahrbaren Charakter dezidiert als ‚leibliche Heilsmittel‘ zu bezeichnen wären. Die Krankensegnung und das Krankenabendmahl haben ihren festen Sitz im Leben der Klinikseelsorge […]. In neuerer Zeit entdeckt die evangelische Klinikseelsorge zunehmend die […] Praxis der Krankensalbung als rituelles Zeichen der leiblich erfahrbaren Nähe und Zusage Gottes wieder.793
Vor einem umfassenden Verständnis des Menschen als Einheit von Seele und Leib ist in diesem Sinne Seelsorge als Beziehungsgeschehen auf geistig-seelischer wie auch leiblicher Ebene zu verstehen. Darüber hinaus zeigte sich die Erfahrungsorientierung als zentrales Merkmal des Untersuchungsfeldes. Hier kommen persönliche Erfahrungen zur Geltung, die im Kontext der untersuchten Behandlungen gedeutet und eingeordnet werden und zugleich als Verifizierungsinstanz der Deutungen fungieren. Die unbedingte Wertschätzung der Erfahrung, die Menschen als leiblich-seelische Einheit machen, findet im Untersuchungsfeld ihren Ort. Diese Haltung ist hoch individuell, denn sie setzt bei dem Erleben einer Person an, in welchem sie nicht vertreten werden kann und welches zugleich in der Anerkennung durch die behandelnde Person aufgewertet wird. Diese Perspektive ist für eine poimenische Praxis insofern von Interesse, als gerade im Kontext von Krankheit und dem Wunsch nach Heilung die Anerkennung und Wertschätzung der eigenen Erfahrung derjenigen, denen die Seelsorge zuteil wird, eine zentrale Rolle spielt. Ihren Ausdruck findet diese Wert-
793 Naurath: Seelsorge als Leibsorge. S. 170.
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schätzung in Stärkung, Stützung, Trost und Anerkennung, die durch die Seelsorge vermittelt werden und besonders in der Seelsorge an Kranken bedeutsam sind. Eine Herausforderung im Umgang mit Krankheit bildet für die christliche Seelsorge die Verhältnisbestimmung von seelsorgerlicher Begleitung und leiblicher Heilung, die sich gemeinhin über das Nebeneinander einer Aufteilung von Zuständigkeitsbereichen löst.794 Während die medizinischen ExpertInnen eine körperliche Heilung herbeizuführen versuchen, herrscht auf Seiten religiöser ExpertInnen eine vorsichtige Zurückhaltung gegenüber dem Wunsch und der Absicht, leibliche Heilungsgeschehen anzustoßen. Gegen eine solche Aufteilung plädiert Manfred Josuttis für „[e]ine Seelsorge, die mit der Macht des Heiligen rechnet“795. Josuttis hält ein heilendes Geschehen in der und durch die Seelsorge im Grunde ‚nur‘ für eine Fortsetzung des als macht- und wirkungsvoll angenommenen Segens und vor diesem Hintergrund, wenn nicht sogar für naheliegend, so doch zumindest für möglich.796 Dabei geht er auf der Grundlage einer phänomenologisch verstandenen Wirksamkeit räumlicher Mächte davon aus, dass vielfältige Einflüsse Seelsorge- und Heilungskontexte prägen und die Mächte der „Wirklichkeit des Heiligen“797 durch den „menschlichen Leib [wie durch einen; Ergänz. P. S.] Kanal“798 hindurchfließen und wirksam gemacht werden können. Dass so manches von dem, was Josuttis schreibt, nahezu identische Semantiken mit den Aussagen der GesprächspartnerInnen der Untersuchung aufweist, muss nicht heißen, dass es sich nicht als eine hilfreiche Beschreibung dessen verstehen lässt, was Seelsorge
794 Vgl. Josuttis, Manfred: Kraft durch Glauben. Biblische, therapeutische und esoterische Impulse für die Seelsorge. Gütersloh 2008. S.166. (künftig zitiert als: Josuttis: Kraft durch Glauben). 795 Josuttis, Manfred: Segenskräfte. Potentiale einer energetischen Seelsorge. Gütersloh 2000. S. 230. (künftig zitiert als: Josuttis: Segenskräfte). 796 „Die angerufene Heilsmacht und das angesprochene Leiden werden im medialen Akt der Salbung bzw. der Handauflegung zusammengebunden. Unterstellt ist dabei, daß durch diese Behandlung Vitalkräfte fließen, die nicht aus dem energetischen Reservoir der Handelnden stammen. Die Wirkung einer solchen Aktion wird sicher von zahlreichen Faktoren beeinflußt. Für die Praxis von Seelsorge dürfte aber deutlich geworden sein, daß eine Krankenheilung nur die extreme, weil besonders erfolgreiche Variante des Handelns darstellt, das in jedem Segensakt schon angelegt ist.“ Josuttis: Segenskräfte. S. 232. 797 Josuttis: Kraft durch Glauben. S. 176. 798 Ebd. S. 176.
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sein kann.799 Einen Raum für die Wirkung Gottes und sein heiligendes und heilendes Handeln offen zu halten, sollte zum Proprium einer christlichen Seelsorge in jedem Fall gehören.
7.3 PERSPEKTIVEN Über diese praktisch-theologisch und kirchlich relevanten Felder und die sich vor dem Hintergrund der Untersuchung darin stellenden Fragen hinaus, lassen sich weitere Perspektiven eröffnen, die vom Standpunkt der Ergebnisse ausgehend eine weitere Bearbeitung lohnen könnten. Nicht zu unterschätzen ist für die vorgelegte Untersuchung die Festlegung auf einen Religionsbegriff, der als Arbeitsbegriff methodisch belastbar bzw. empirisch operationalisierbar ist, um die eine religionswissenschaftlich-theologische Arbeit, will sie konkret werden, nicht umhin kommt. Dabei wurde in der Aufnahme des heuristischen Begriffs des Religionshybride-Projektes versucht, mit einer Bestimmung zu arbeiten, die sowohl einer spätmodernen Religionshermeneutik als auch dem Gegenstand der Untersuchung angemessen ist. Auf die Stärke dieser Bestimmung wurde verwiesen (vgl. 4.4), die sich in besonderem Maße darin zeigt, religiöse Phänomene auch außerhalb des kirchlichen Religionssystems sichtbar werden zu lassen und der Untersuchung zugänglich zu machen. Die Offenheit für religionskulturelle Übergangsphänomene eröffnet, wie hier geschehen, die Möglichkeit, außergewöhnliche lebensweltliche Phänomene religionstheoretisch zu befragen. Klar ist aber auch, dass die Entscheidung für einen solchen Arbeitsbegriff immer auch Aspekte abblendet, die mithilfe eines anderen Zugriffs möglicherweise deutlicher geworden wären. So ist an die hier herangezogene Bestimmung von Religion sicher die Frage zu stellen, ob sie, bei allem Bemühen um Ausgewogenheit und theoretische Klarheit, nicht doch eine funktionale Schlagseite hat. Der Grad scheint zumindest schmal, der zwischen rein strukturellen Analogien und religionsäquivalenten Phänomenen trennt. Aus deutungsmachttheoretischer Sicht scheint es plausibel, die (notwendige) Verengung der Perspektive durch die Anwendung einer Bestimmung von Religion als Deutungsmachtpraxis zu bezeichnen. Die durch die Beobachterin und ihre Prämissen vorgenommene Fokussierung, die einiges als religionstheoretisch relevant hervorhebt, anderes als weniger wichtig zurücksetzt, zeigt sich (auch und in besonderem Maße) in der
799 Hier heißt es eben, die Gedanken und Zitate zu prüfen, zu kontextualisieren und selbst zu beurteilen, um eine Verhältnisbestimmung „esoterische[r] Impulse“ (so der Untertitel bei Josuttis) und alternativ-esoterischer Abdriftungen vorzunehmen.
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Wahl des grundierenden Religionsverständnisses.800 Ein anderer Religionsbegriff als Arbeitsgrundlage machte Anderes sichtbar. Zu denken wäre hier bspw. an den Vorschlag eines diskursiven Religionsbegriffs, welcher nicht im Vorfeld festlegt, was Religion und daher als Religion zu untersuchen sei, sondern davon ausgeht, dass „religion or religious symbol systems […] are constantly being redefined and negotiated by different actors according to time and context“801. Eine solche Herangehensweise ginge ebenfalls von einem hochgradig fluiden religiösen Feld aus, nähme dabei aber stärker das Selbstverständnis der AkteurInnen in den Blick. Zugleich müsste auch hier nach Anwendbarkeit und Grenzziehungen gefragt und die Sichtbarmachungen im Gebrauch erprobt werden. Auch die konkrete geographische Lokalisierung des Samples findet ihren Niederschlag in den Ergebnissen. Die Wahl eines anderen regionalen Ausschnittes ließe hier interessante Differenzen in den Erkenntnissen erwarten.802 Ein weiterer Aspekt, den die Untersuchung in ihrer Anlage nur bedingt in den Blick nehmen konnte, ist die Genderthematik. Besonders in deutungsmachtsensibler Perspektive wäre hier eine Reihe von Fragen an die Beobachtungen im Untersuchungsfeld anzuschließen: Deutlich wurde etwa, dass sowohl das Feld der AnbieterInnen, noch stärker aber die Gruppe der PatientInnen/KundInnen des alternativmedizinischen Feldes durch einen im Verhältnis zum Bevölkerungsdurchschnitt deutlich erhöhten Frauenanteil repräsentiert wurde. Hier ließe sich fragen, welche Machtprozesse durch die Genderthematik zusätzlich überlagert werden, ob bzw. inwiefern sich Deutungsangebote männlicher und weiblicher Heilprak800 Was nicht bedeutet, dass nicht auch andere Aspekte und Vorentscheidungen die Untersuchung und die Interpretation der Ergebnisse prägen, wie bspw. das Sampling, die leitende Fragestellung, die Erstellung des Rasters der Kategorien etc. Da sich die Perspektivierung einer Untersuchung jedoch eben auch nicht umgehen lässt, kann nicht die Vermeidung perspektivischen Arbeitens die Lösung sein, sondern die Reflexion und Offenlegung möglichst vieler diese Perspektive bestimmender Faktoren. 801 Radde-Antweiler, Kerstin: Religion as Communicative Figurations – Analyzing Religion in Times of Deep Mediatization. In: Mediatized Religion in Asia. Studies on Digital Media and Religion. Ed. by Kerstin Radde-Antweiler and Xenia Zeiler. New York, London 2019. S. 212. 802 Vgl. die deutlich stärkere Verbreitung von Heil- und Energiearbeit und entsprechenden Deutungsangeboten z. B. im Allgäu, die auf vielfältig Gründe, u. a. die hier prägende Frömmigkeit zurückgeführt wird. Hier wäre bspw. mit anderen Wechselwirkungen religiöser und religionshybrider Deutungen zu rechnen. Vgl. dazu bspw. den Artikel Hampel, Lea: „Glücksmacherei“. In: Süddeutsche Zeitung. https://projekte. sueddeutsche.de/artikel/wirtschaft/im-allgaeu-boomt-das-geschaeft-mit-dem-gluecke504104/?reduced=true. Aufgerufen am 9. Juni 2019.
Perspektiven | 393
tikerInnen unterscheiden803 und wie die Infragestellung bzw. Durchsetzung bestimmter Deutungen in Untersuchungsgruppen funktioniert, die geschlechtsparitätisch zusammengesetzt sind bzw. in denen eine Bevölkerungsgruppe dominiert. Darüber hinaus könnte eine gendersensible Untersuchung religionspsychologisch interessant sein. Im Anschluss an die professionstheoretischen Fragen und die diskutierte Verhältnisbestimmung von (übertragenem) Amt und (empfangenem) Charisma könnte das Thema Berufung einen vielversprechenden Anknüpfungspunkt bieten. Interessante Überlegungen könnten dabei z. B. sein: Was heißt es für die AkteurInnen eines religionshybriden Feldes, sich als berufen zu verstehen? Haben die Vorstellungen von Berufung oder Bestimmung einen Einfluss auf die Deutungen der Personen und/oder auf die Präsentation dieser? Durch welche Instanz fühlen sich die AkteurInnen berufen (und in ihren Deutungen zurückgebunden)? Die Konkretionen und Schlussfolgerungen im Blick auf die praktisch-theologischen Reflexions- und Handlungsfelder konnten hier erste Schneisen schlagen und Anregungen geben, wie der Umgang mit religionshybriden Phänomenen und die Perspektive der Deutungsmachtanalyse in Theologie und Kirche zu weiterem Fragen und sensibilisiertem Handeln anregen könnten.
803 Ein Hinweis darauf ist in der Analyse angeklungen im Kontext des Anliegens der InterviewpartnerInnen, ihren PatientInnen helfen zu wollen. Die Differenz, die in der Verwendung dieses Motivs zwischen männlichem Gesprächspartner und weiblichen Interviewten deutlich geworden ist, könnte bspw. ein Indiz für einen genderspezifischen Gebrauch sein.
8 Literaturverzeichnis
Anmerkung Zu einigen alternativmedizinischen Methoden bzw. Personen, auf die im Feld Bezug genommen wird, stellt sich die Quellenlage als problematisch dar: Informationen lassen sich z. T. ausschließlich über die Selbstdarstellung der AnbieterInnen bzw. ErfinderInnen einer Methode gewinnen, so dass eine vollständig unkritisch positive Darstellung stattfindet. Um hier einen Gegenpol zu setzen, wurde vereinzelt auf die Ausführungen der Website http://www.psiram.de (bis 2012: esowatch. de) zurückgegriffen. Diese Seite versteht sich als aufklärerisch-antiideologisch, scheut aber ebenfalls keine Polemik in der Darstellung. Es sei somit in diesen Fällen in besonderem Maße auf die Quellenangabe geachtet und eine entsprechend kritische Lektüre empfohlen. Lexikonartikel Art. Auferstehung. I. Auferstehung der Toten. 4. Neues Testament. Sellin, Gerhard; 5. Dogmatisch. Schwöbel, Christoph. In: 4RGG. Hrsg. v. Hans Dieter Betz u. a. Tübingen 1998. Bd. 1. Sp. 917-921. Art. Demut. I. Religionswissenschaftlich. Jödicke, Ansgar sowie V. Kirchengeschichtlich. Köpf, Ulrich. In: 4RGG. Hrsg. v. Hans Dieter Betz u. a. Tübingen 1999. Bd. 2. Sp. 653 sowie Sp. 657ff. Art. Gesten/Gebärden, Liturgische. Schmidt-Lauber, Hans-Christoph. In: TRE. In Gemeinschaft mit Horst Balz u. a. hrsg. v. Gerhard Müller. Bd. 13. Berlin, New York 1984. S. 151-155. Art. Gnosis/Gnostizismus. II. Christentum. Markschies, Christoph. In: 4RGG. Hrsg. v. Hans Dieter Betz u. a. Tübingen 2000. Bd. 3. Sp. 1045-1053.
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9 Anhang
Transkriptionsregeln • Die Transkription erfolgt wörtlich, Versprecher oder Wortwiederholungen werden transkribiert. • Es erfolgt keine Transkription von Dialekt oder Besonderheiten der Artikulation. • Die Interviewten werden mit Pseudonym bzw. dem dazugehörigen Anfangsbuchstaben bezeichnet, die Interviewerin mit „I“.
Transkriptionsregel …
Erläuterung kürzere Pausen werden durch Pünktchen gekennzeichnet,
[5 sec.]
längere Pausen (> 5 sec.) werden in eckigen Klammern mit
unterstrichen [Lachen] (vermutet)
Zeitangabe angezeigt Betonung wichtige nonverbale Äußerungen in eckigen Klammern schwer verständliche Äußerungen werden im vermuteten
#00:00#
Wortlaut in runden Klammern wiedergegeben zeitliche Markierung einer unverständlichen oder schwer
abgebro-
verständlichen Äußerung Wörter oder Sätze, die nicht zu Ende gesprochen wurden,
für
abgebrochene werden durch direkt an das Wort anschließenden Bindestrich
Sätze, die//doppelt//
angezeigt kennzeichnet überlappende Gesprächsabschnitte oder kurze
auch
Einwürfe der anderen Person
Datum
Heilpraktikerin Arzt Patientin
nerIn
Interview-part-
30 min 49 sec 1 h 11 min 53 sec 37 min 04 sec
Dauer
w m w
schlecht
Ge-
~30 ~55 ~55
Alter
20.05.2015
16.03.2017
5
6
Heilpraktikerin
1 h 24 min
w
~40
~50
Marisa
Simone
Jens
Stressbewältigung
Shiatsu TCM
Akupressur IMw
ISw
IJm
Achtsamkeitstraining Ayurveda
Reiki
w
~55
Heilerin
m
IHw
w/m=Geschlecht
(Ä=Ärztin)
Pseudonym
A=Anfangsbuchstabe
I=Interview
Kürzel
Shiatsu
Prana
1 h 48 min 44 sec
Heidrun
(in Auswahl)
Pseudonym Methoden
+
Heiler
Zusätzlich zwei Pretest-Interviews (1 Heilpraktiker, 1 Heilerin) ohne Aufnahme Haupterhebung 4 08.04.2015 Heilpraktikerin 47 min 26 sec w ~50
Pretests 1 15.09.2014 2 07.10.2014 3 23.10.2014
Nr.
Übersicht InterviewpartnerInnen
422 | Anhang
22.03.2017
22.03.2017
24.03.2017
24.03.2017
17.07.2017
20.07.2017
7
8
9
10
11
12
Heilpraktikerin
Heilpraktikerin
Heilpraktikerin
Heilpraktikerin
Heilpraktikerin
Heilpraktikerin
46 min 20 sec
1 h 06 min 45 sec
1 h 06 min 05 sec
59 min 35 sec
47 min 03 sec
10 min 17 sec +
1 h 01 min 16 sec
w
w
w
w
w
w
~50
~35
~50
~45
~60
~35
Jessica
Marlene
Annita
Doreen
Cornelia
Edith
Verfahren
Verfahren Verschiedene seltenere
IJw
IMlw und andere seltenere
IAw
Körpertherapie Homöopathie
IDw
ICw
IEw
Blutegeltherapie Gesprächstherapie
Homöopathie
ratung
Hypnose Psychologische Be-
Baunscheidtverfahren
Bioresonanztherapie
Akupunktur
Wirbelsäulentherapie Ausleitverfahren
Ausleitverfahren
Infusionstherapie
Schmerztherapie
Übersicht InterviewpartnerInnen | 423
20.07.2017
20.07.2017
20.07.2017
01.08.2017
13
14
15
16
24 min 04 sec
w
w ~55
~45 Carmen
Katja
Schröpfen
Akupunktur
Phytotherapie
Homöopathie
Naturheilkunde:
IÄCw
Ärztin
48 min 24 sec Reiki Allgemeinmedizin
IJow
IKw
Homöopathie Reiki
IMm
Cranio-Sacral-Therapie
Josefine
Reiki
sche Medizin
Traditionelle Chinesi-
Akupunktmassage
HP in Ausbildung Heilpraktikerin
~40
Mario
Hypnose
w
Life-Coach; Hypno- 44 min 21 sec
~35
se-therapeutin
m
35 min 57 sec
Heilpraktiker
424 | Anhang
Übersicht über die beobachteten Veranstaltungen | 425
Übersicht über die beobachteten Veranstaltungen Veranstal-
Datum
tung
Anzahl der Leitungsper-
Kürzel
sonen und TeilnehmerIn-
V=Veranstaltung
nen (gesamt)
1=Nummerierung
Reiki-Abend
Herbst
LP: 2
A=Abkürzung Veranstaltung V1R
Gesundheits-
2014 Sommer
TN: 6 LP: 1
V2G
seminar Tagung Me-
2015 Sommer
TN: 7 LP: 1+10
V3T
dizin und
2016
TN: ~ 200
Spiritualität Tag der Hei-
Frühjahr
LP: 1+6
lung
2017
TN: 21
V4H
Interview-Leitfaden
I 1
Frage Einstieg Bitte erzählen Sie, wie Sie dazu gekommen sind, im
Begründung Einstieg, persönlicher
Bereich Krankheit und Heilung tätig zu werden. Gab Zugang, Begründung,
II 2
es einen besonderen Auslöser und wie hat sich dann
Themen zum Anknüpfen
Ihr weiterer Weg entwickelt? allgemein: Verständnis von Krankheit Was verstehen Sie unter Krankheit?
Welche Sachverhalte spielen eine Rolle? enger/ weiter Begriff, ggf.
3
Worin sehen Sie die Ursachen von Krankheiten?
Transzendenzbezüge Werden Ursachen/ Zusammenhänge
4 Welchen Sinn haben Krankheiten? III eigene Patienten 5 Mit welchen Anliegen und Erwartungen kommen
6
transzendiert? Wird Sinn generiert? Wird
Patientinnen und Patienten zu Ihnen?
Kontingenzbewältigung
Was sind für Sie die wichtigsten Aspekte im Um-
gesucht? Semantik religiös
gang mit Ihren Patienten?
konnotiert?
426 | Anhang
IV Heilung und ihre Ursachen 7 Wann ist ein Mensch geheilt?
Wie wird Heilung gedeutet?
8
Wodurch werden Menschen geheilt und warum?
Spielt Heil eine Rolle? Werden Heilungsursachen
V 9
Verantwortung Welche Rolle spielen Verantwortung und Kontrolle
Verantwortung innerhalb/
10
im Blick auf die Gesundheit? Wie ließe sich Ihrer Meinung nach das Verhältnis
außerhalb des Menschen? Spielt das Thema Strafe
von Krankheit und Verantwortung am besten be-
eine Rolle? Gibt es einen
schreiben?
„Urheber“?
transzendiert?
Glauben Sie, dass Krankheiten auch eine Strafe sind? 11
Sind Krankheiten eher Schicksal oder eher Strafe? Welche Rolle spielt Glaube in Ihrem Behandlungs-
Glaube; religiöser Glaube;
12
zusammenhang? Wie kann man sich Ihrer Meinung nach am besten
Überzeugungen religiös-magische
vor Krankheiten schützen?
Schutzvorstellungen?
VI Verhältnis zu anderen Disziplinen 13 Wie gehen Sie damit um, dass die wissenschaftliche
wissenschaftliche Evidenz
Medizin alternative Verfahren für wirkungslos hält?
vs. Erfahrungen, Intuition,
14
Glaube Was empfehlen Sie Patienten, denen Sie nicht helfen Durchlässigkeit können?
Schulmedizin/(kirchliche) Religion
bezug
bzw. auf Heilungsprozesse. Auch im Sinne eines „Feldes“, Raumes oder einer „Aura“, die da sind bzw. zur
ihn herum gibt, von denen einige nur bedingt zugänglich sind, aber großen Einfluss haben auf den Menschen
Ursachen benannt werden. Dieser Code wird vergeben, wenn davon gesprochen wird, dass es verschiedene Ebenen im Menschen und um
gemacht wird, dass etwas „stattfindet“,„von selbst passiert“ oder so „passieren musste“, ohne dass genauere
ausgesprochen wird. Hier werden Textstellen codiert, die von Schicksal, Führung oder Fügung sprechen. Auch wenn deutlich
gesprochen wird. Auch, wenn anstelle von oder zusätzlich zum Dank eine Bitte, etwa um Erfolg oder Kraft,
oben“ gesprochen wird oder von der Suche nach etwas, dass über das Immanente hinausgeht. Dieser Code wird vergeben, wo von Dankbarkeit bzw. Vertrauen gegenüber einer transzendenten Größe
Energie
Abgrenzung von physikalischen Größen (mitunter dabei gleichzeitig in der Vermischung der Ebenen).
werden mit diesem Code codiert. Beschreibungen der Eigenschaften und Wirkungen dieser Energie. Auch in
auch im Sinne von Entgrenzungen. Passagen, die von Energie im nicht-physikalischen Sinne einer Kraft, Macht, transzendenten Größe sprechen,
Verfügung gestellt werden, um immanente Prozesse zu beeinflussen. Ganzheitlichkeit Dieser Code wird vergeben für Textstellen, die holistische, ganzheitliche Konzepte oder Ideen ansprechen,
‚Andere‘ Ebene
Schicksal
Dankbarkeit
Geistern etc. sprechen. Dieser Code umfasst auch indirekte Aussagen, wenn von einer „Verbindung nach
Kodiert werden Textstellen, die von (einem) höheren Wesen, von Gott, Göttern, Engeln, (höheren) Mächten,
kategorie Transzendenz-
Höheres Wesen
Beschreibung
Orientierungs- Code
Codebuch
Codebuch | 427
Riten/Rituale
Sinnstiftung
aber keinem der anderen Codes dieser Orientierungskategorie zuordnen lassen.
wird. Mit diesem Code werden auch Textpassagen codiert, die im Kontext von Riten und Ritualen stehen, sich
ritualisierende Elemente (Abläufe, Merkmale ritueller Handlungen) vorliegen oder von solchen berichtet
Rituale
konkrete Ebene der Handlungsorientierung stattfindet. Methoden und Handlungen, die im Heilungsprozess
orientierung
helfen sollen; auch für die Rolle der HeilpraktikerInnen. Dieser Code wird vergeben, wenn Riten bzw. Rituale im hier ausgeführten Sinne durchgeführt werden,
finden, sich auf das Wesentliche konzentrieren. Dieser Code wird für Textstellen vergeben, in denen die Übertragung von einer abstrakten Sinnebene auf eine
Handlungs-
Riten und
in Form von Motiven wie „Krankheit als Geschenk“, „Heilung als Weg“, sich selbst oder seine innere Mitte
hingewiesen wird, etwa, dass eine Person besonders „bodenständig“, „ergebnisorientiert“ sei; auch in
kategorie
konstruktion
„Wunderheilungen“ oder auch Vorstellungen von Ruhe bzw. Stille als Kraft- und Heilungsursachen. Dieser Code wird vergeben, wenn explizit auf eine Abgrenzung zu transzendenten oder religiösen Bezügen
Differenz-
den eigenen Weg, Lebensfreude, Gewissheit, Gemeinschaft etc. zu suchen. Auch: Sehnsucht. Codiert werden solche Passagen, in denen ein Sinn- oder Verstehenszusammenhang konstruiert wird, z. B.
Code gebildet wurde. Hierzu zählen etwa Vorstellungen eines Lebens nach dem Tod, das Thema
bezüge
Sinn-
vorhergehenden Codes enthalten sind und jeweils so vereinzelt auftreten, dass aus ihnen kein selbständiger
Transzendenz-
Ganzen fragen; eine Krankheit verstehen zu wollen oder sich mit Gegebenheiten (nicht) zufrieden zu geben,
Balance“, „in der Mitte“ o. ä. sein. Körperverständnis im Sinne einer Transzendierung von Alltagswelt. Dieser Code steht für Transzendenzbezüge und Transzendierungen der Alltagswelt, die in keinem der
Weitere
Suchen
mit Gesundheit und Heilung eine bestimmte Qualität des Körpers verbinden, z. B. „im Gleichgewicht“, „in
verständnis
Abgrenzung zu religiösen Institutionen wie „Kirche“ oder „Sekte“. Codiert werden Textpassagen, die nach Sinn und Verstehen in Bezug auf Krankheit oder das Leben im
Verständnis (z. B. Körper, Geist und Seele) beinhalten, dem Körper besondere Eigenschaften zuschreiben,
Körper-
Fragen und
Codiert werden Aussagen zum Körper, die über ein organisches Körperverständnis hinaus ein umfassenderes
Transzendentes
428 | Anhang
enthalten, die im Kontext von Ritualen bzw. Riten den leiblichen Vollzug dieser thematisieren. Neben
Vollzüge
Fragen von Verbindlichkeit, Teilnahme und (Ablehnung von) „Zwang“.
(„Nicht-Wir“) ausdrücken. Auch für die Beschreibung der Eigenschaften einer Gemeinschaft. Wenn eine Vergemeinschaftung zu speziellen Events stattfindet, wird dieser Code vergeben. Ebenfalls codiert
Events
besonderes Moment. Hier werden Textstellen codiert, die über eine Leitungsfigur bzw. die besondere Rolle dieser Person Auskunft
geben. Besonders auch im Sinne einer zentralen Führungsperson bzw. einer leitenden spirituellen Person. Dieser Code wird für Textstellen verwendet, die im Rahmen von Vergemeinschaftungen religionshybride
Elemente zeigen, wie etwa Aufnahme bzw. Neugestaltung von Ritualen, Symbolen, Liturgien.
Leitungsperson
Religions-
hybride
wird hier die kurzzeitige Vergemeinschaftung der Patientin bzw. des Patienten mit der/dem HeilpraktikerIn als
Vergemeinschaftung Anlass geben, z. B. über die Interessen von PatientInnen. Mit diesem Code werden Textstellen versehen, die eine Abgrenzung von Gemeinschaft („Wir“) und Anderen
Interessen Wir/Nicht-Wir
Gruppenbildung Gemeinsame Dieser Code wird vergeben, wenn gemeinsame Interessen (oder die Vermutung dieser) zur
kurzzeitige
schaftung
Religionsproduktivität sehen lassen. Codiert werden hier Semantiken und Performanzen der Transzendierung,
produktivität
der Entgrenzung und Vergegenwärtigung von Transzendenz im rituellen Kontext. Codiert werden Textstellen, in denen es um die Bildung von Gruppen geht und in diesem Zusammenhang um
Vorbereitung wie in der Durchführung von Riten bzw. Ritualen. Mit diesem Code werden Textstellen codiert, die auf semantischer oder performativer Ebene eine
Religions-
Freiwillige,
werden Textstellen, in denen sich eine räumliche, zeitliche oder inhaltliche Ordnungsfunktion zeigt, in der
funktion
Vergemein-
Lieder als Ausdrucksmittel eines leiblichen Vollzuges codiert. Als eine zentrale Eigenschaft von Riten/Ritualen wird hier ihre (Ein-)Ordnungsfunktion verstanden. Codiert
Ordnungs-
Berührungen, Handauflegen, bestimmten Sitz- oder Liegepositionen im Raum o. ä. werden hier z. B. auch
Mit diesem Code werden Textpassagen versehen, die Aussagen oder Beschreibungen von Performanzen
Leibliche
Codebuch | 429
den Menschen gut, richtig, geboten bzw. verboten ist. Besonders auch im Blick auf Ernährung, Wasser etc. Codiert werden Passagen, die eine transzendente, entgrenzte Naturvorstellung transportieren bzw. auch der
Natur besondere Eigenschaften zuschreiben.
Aussagen, in denen etwas als normal, selbstverständlich und nicht begründungsbedürftig dargestellt wird,
werden mit diesem Code versehen. Auch Passagen, die die eigene Deutung bzw. die eigene Überzeugung als
normal herausheben, ggf. auch im Gegensatz zu anderen Deutungen. Mit diesem Code werden Textstellen versehen, die sich von einer Normalitätsvorstellung abheben, das
Vergleiche Transzendentes
Natur-
verständnis Normalitäts-
vorstellungen
Infragestellung
WissenschaftlerInnen Anerkennung generiert werden soll. Codiert werden Passagen zum Kontext Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit, Anerkennung, Nachweise,
Fähigkeiten sowie medizinische Ausbildung.
die Wissenschaft Verifizierung, Zertifizierung; auch Ausbildung zur/zum HP, das Thema „Erlernbarkeit“ von Methoden oder
Anbindung an
Namensnennung Dieser Code wird vergeben, wenn über die Nennung bestimmter Namen, z. B. Autoren, Forscher,
wurde festgestellt“ o. ä.; auch Zitation von Studien. Auch Thema Glaubwürdigkeit.
Studien
lichkeit/
Faktizität
Auch die Darstellung der eigenen Deutung als von der Norm abweichend. Dieser Code wird vergeben, wenn mit Faktizität argumentiert wird, z. B. im Sinne von „Fakt ist, dass…“, „es
konzepten Fakten und
Wissenschaft-
von Normalitäts- Normale bzw. auch Normalisierte oder Normalisierende infrage stellen oder ablehnen.
entspricht. Codiert werden Textstellen, die Analogien z. B. zu Tieren als Begründung dafür heranziehen, dass etwas für
Analogien und
normativen Sinne identifiziert wird. Auch, wenn etwas z. B. „eigentlich“ nicht der Natur des Menschen
werden soll. Die Überzeugungskraft des Arguments liegt darin, dass natürlich mit „gut“ oder „richtig“ im
Natürlichkeit
Normali-
sierung
gegebenheit bzw. dargestellt werden. Auch, wenn mithilfe von Natur bzw. Natürlichkeit Plausibilität bzw. Evidenz hergestellt
sierung/
Dieser Code wird vergeben, wenn Phänomene, Abläufe oder Zusammenhänge als natürlich oder naturgegeben
Natur-
Naturali-
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Person
Genese
Anerkennung durch RezipientInnen Vorbilder/ Beziehung Infragestellung von Rollen bzw. Autorität
Charisma
Amt, Rolle, Autorität
Dauerhaftigkeit
Infragestellung v. Wissenschaftlichkeit Veränderung und Entwicklung Begründungsbedürftigkeit
eigene Handeln und Denken beeinflussen. Auch im Sinne von Wegbegleitern, Ausbildern o. ä. Dieser Code wird vergeben, wenn Personen oder deren Aussagen infrage gestellt werden, indem bspw. ihre Rolle oder Autorität hinterfragt wird, etwa bei ÄrztInnen. Auch Infragestellung von Rollenzuschreibungen, z. B. über den Begriff „Patient“. Auch Thema Definitionshoheit über bestimmte Phänomene.
Hier werden Textstellen codiert, in denen von Vorbildern oder persönlichen Beziehungen die Rede ist, die das
Codiert werden Textstellen, die über Veränderungs- und Entwicklungsprozesse Auskunft geben, z. B. im Blick auf die Entwicklungen der Medizin, auch die Veränderung auf dem medizinischen Markt (Notwendigkeit stärkeren Austausches o. ä.) Mit diesem Code werden Passagen versehen, in denen die Begründungsbedürftigkeit eines Argumentes hervorgehoben oder negiert wird, z. B. über die Aussage, etwas sei „für viele / alle bekannt“. Auch die Infragestellung von Konzepten, Kategorien oder Definitionen. Dieser Code wird vergeben, wenn etwas als „immer schon so“ dargestellt wird, bzw. wenn mit dem Alter, der Tradition o. ä. die Wirksamkeit einer Anwendung oder Denkfigur belegt wird. Codiert werden Textstellen zu Äußerungen oder Performanzen, in denen sich eine bestimmte Rolle, Autorität oder ein Amt einer Person zeigt und darüber (Deutungs-)Macht generiert wird. Auch die Thematisierung der Rolle der oder des HP wird hier codiert. Codiert werden Passagen, die eine besondere Rolle der oder des Heilenden thematisieren, ohne dass diese durch äußere Funktionen bzw. ein Amt o. ä. Übertragen bzw. angeeignet würde. Thema Begabung, Intuition. Auch, wenn die Wirkursache einer Heilung in der/dem HP gesehen wird. Mit diesem Code werden Passagen versehen, die über die Anerkennung einer Deutung oder eines Phänomens durch die RezipientInnen Auskunft geben.
Dieser Code wird vergeben für Aussagen, die konkrete wissenschaftliche Erkenntnisse oder grundsätzlich die Möglichkeit der Erkenntnisgewinnung durch Wissenschaft infrage stellen.
Codebuch | 431
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Dichte Beschreibung der teilnehmenden Beobachtungen Reiki-Abend (V1R) Der offene Abend „Reiki – Heilkraft der Hände“ findet in der einer Wellness- und Heilpraktikerpraxis statt. Sie befindet sich in der Häuserzeile der Fußgängerzone einer norddeutschen Großstadt. Zwischen zwei Geschäften führt ein schmaler Hauseingang in das Gebäude. Die Praxis ist ausgewiesen durch einen Aufsteller in der Fußgängerzone, eine Box mit Flyern auf den Briefkästen und ein gekennzeichnetes Klingelschild. Die Veranstaltung wurde per Flyer angekündigt. Da der Abend um 19 Uhr an einem Herbsttag beginnt, ist es schon dunkel und die Fußgängerzone relativ leer. Auf das Klingeln wird die Tür geöffnet. Dahinter befindet sich ein schmaler Hausflur mit einer steilen Treppe. Die Praxis findet sich im zweiten Stock und ist durch ein Schild an der Tür gekennzeichnet. Die Tür lässt sich von außen mit einer Klinke öffnen. Der Raum dahinter ist relativ groß, aber sehr voll und durch verschiedene Einrichtungsgegenstände unterteilt. Auf der linken Seite befinden sich an der Wand und in den Raum hineinragend Regale mit Naturkosmetikprodukten. An das Regal schließt sich ein Empfangstresen an, auf dem ebenfalls Naturkosmetikprodukte stehen und verschiedene Flyer für Wellnesseinrichtungen, Naturkosmetik etc. liegen. Neben dem Tresen steht ein drehbarer Prospektständer, in dem Flyer, Postkarten, Rezepte, Werbung etc. (Hauswirtschaftshilfe, Geomantie, Naturkosmetikprodukte, Tagungseinrichtungen/Wellnesshotels, asiatische Suppen) zu finden sind. Hinter dem Tresen stehen weitere Regale und Schränke in dunklem Holz. Dahinter geht eine Tür ab. Geradezu in Blickrichtung vom Eingang befindet sich ebenfalls eine Tür mit der Aufschrift „Toilette“. Neben der Toilette steht eine kleine Kommode, dekoriert mit farbigen Stoffen, Steinen und Aromafläschchen. Daneben befindet sich ein Wasserspender. Von der Eingangstür aus gesehen auf der rechten Seite steht ebenfalls ein Regal, darin liegen weitere Flyer und Informationsbroschüren. Das Regal steht an der Wand, dahinter knickt der Raum rechtwinklig ab und öffnet sich nach rechts. Dieser Durchgang ist jedoch durch eine Vitrine, die sich an das Regal anschließt, auf der einen Seite und einen drehbaren Ständer mit Aroma- oder Ölfläschchen auf der anderen Seite verengt. Hinter der Vitrine findet sich eine kleine Garderobe mit Spiegel, daneben geht eine weitere Tür ab. Auf der gegenüberliegenden Seite, die am Ende durch einen Wandvorsprung begrenzt wird und so eine Nische bildet, steht in der Ecke ein großer Spiegel, davor zwei Papp-Umrisse von Menschen, die
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wie Schaufensterpuppen mit Kleidung und Tüchern arrangiert sind. An der Wand hängen Farbtafeln und Informationen zu Farb- und Typberatung. Hinter der Ecke für die Farbberatung geht links eine weitere, vierte Tür ab. Der Raum selbst öffnet sich wieder rechtwinklig nach rechts, so dass er, vom Eingang aus gesehen, zweimal nach rechts abknickend u-förmig um einen kleinen innenliegenden Raum herum gebaut ist. Geradeaus steht ein Schreibtisch mit Stuhl, der seitlich von einem Regal begrenzt wird. Auf dem Regal steht eine Vase mit getrockneten Blumen. Daneben ein runder Tisch mit Informationsheften und zwei dicken, brennenden Kerzen. Der Raum wird zudem durch eine Mittelsäule strukturiert. Hinter der Säule steht auf der linken Seite ein weiteres Regal, darin befinden sich Zeitschriftenstapel, getrocknete Blumen, farbige Kerzen, eine große beige Kerze in Herzform, eine weiße, schlichte Engelsfigur. Auf der rechten Seite ist eine Sitzecke eingerichtet: Ein großes Ecksofa und dazu, einen Halbkreis bildend, drei Stühle. Auf einem kleinen Tischchen in der Mitte steht eine Kerze (nicht angezündet), daneben eine Stehlampe. Im Raum verteilt stehen an verschiedenen Orten große Zimmerpflanzen. Die Wände sind blassgelb und die Räume eher niedrig, so dass sie gedrungen wirken. Die Decke besteht aus weißen Platten wie in einer Arztpraxis. Sie sind an einigen Stellen kaputt. Während der Eingangsbereich mithilfe des Deckenlichtes recht hell erleuchtet ist, ist der restliche Raum mit kleinen und indirekten Lichtquellen mäßig erleuchtet (Stehlampen, Kerzen). Es riecht nach Aroma und Wellness, aber sehr dezent. Nachdem die teilnehmende Beobachterin in den Eingangsbereich eingetreten ist, kommt eine Frau, um sie zu begrüßen. Sie geben einander zur Begrüßung die Hand und die Frau aus der Praxis stellt sich mit „Baumann“804 vor. Sie ist, wie dem Flyer zu entnehmen war, die Kursleiterin. Die Beobachterin stellt sich ebenfalls mit Namen vor. Außer der Beobachterin sind (noch) keine weiteren Teilnehmer anwesend. Es kommt eine zweite Frau (Frau1) in den Eingangsbereich, die ein benutztes Abendbrotbrettchen trägt und sich ebenfalls mit Handschütteln und Namen vorstellt. Sie weist auf die Garderobe hin und verschwindet dann durch die linke Tür in einen hinteren, dunklen Teil der Praxis. Auf die Frage der Kursleiterin, ob die Beobachterin zum Reiki-Abend komme, was diese bejaht, bietet sie ihr ein Glas Wasser an. Nachdem die Beobachterin ihre Jacke an die Garderobe gehängt hat, nimmt sie das Wasser entgegen, wird in die Sitzecke gebeten und aufgefordert, sich einen beliebigen Platz auszusuchen. Die Beobachterin setzt sich auf das Sofa und stellt ihr Glas auf das kleine Tischchen davor. Neben dem Sitzplatz liegen Papiere auf dem Sofa, die von der Beobachterin beiseite geschoben und daraufhin von Frau Baumann weggeräumt 804 Name geändert.
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werden. Neben einem Ordner enthält der Papierstapel einen „Anderen Advent“Kalender805. Die Kursleiterin zieht einen Vorhang zu und legt einige Ordner und Unterlagen zurecht. Dann geht sie wieder in Richtung Eingangsbereich. Von dort ist zu hören, wie die beiden Frauen besprechen, ob es schon 19 Uhr sei und ob sich jemand für den heutigen Termin abgemeldet habe. Es habe keine Abmeldungen gegeben. Die Frauen beschließen, noch etwas mit dem Beginn zu warten. Eine Kirchenglocke ist zu hören. Es ist 19 Uhr. Kurz darauf klingelt es. Die Eingangstür wird geöffnet und es sind Schritte im Treppenhaus zu hören; einige Zeit später Stimmen im Eingangsbereich. Es gibt ein großes Hallo und eine vertraute, freundschaftliche Begrüßung, jemand wird auf einen neuen Haarschnitt angesprochen, es wird besprochen, ob noch jemand fehlt. Man kennt sich offensichtlich. Nach und nach kommen die Teilnehmerinnen um die Ecke zum Sitzbereich, begrüßen die ihnen fremde Beobachterin mit Handschütteln und stellen sich mit Vornamen vor. Alle stehen noch eine Weile beieinander, reden über die getrockneten Blumen im Raum, über ein Buch, das auf dem runden Tisch lag und in das eine Teilnehmerin hinein gelesen hat.806 Schließlich bittet die Kursleiterin alle, sich zu setzen. In der Runde sitzen nun: Die Kursleiterin, Mitte/Ende 50, laut Flyer ReikiMeisterin/Lehrerin, Heilpraktikerin & Heilerin, kurzes graues Haar, Lesebrille, schlichte Kleidung und farbiges Tuch um den Hals, Hausschuhe. Neben ihr sitzt Frau1, Inhaberin der Praxis, Ende 40, kurze braune Haare, Jeans, Pullover, ebenfalls ein buntes Tuch, Hausschuhe. Daneben sitzt eine Teilnehmerin, Frau2, Mitte/ Ende 50, dunkle, kurze Haare, Jeans und weiße Sweatjacke, buntes Tuch. Sie hat sich statt Hausschuhen dicke Socken angezogen. Auf dem Sofa sitzen Frau3, Mitte/Ende 50, braun-graues, halblanges Haar, zu einem Dutt zusammengebunden sowie Frau4, ca. 30, groß, sehr sportlich-trainiert, kurze dunkle Haare und dunkle Kleidung. Auch die beiden haben ihre Straßenschuhe ausgezogen. Insgesamt sind sechs Frauen im Raum.
805 Der „Andere Advent“-Kalender erscheint erstmals 1995 und wird vom Verein „Andere Zeiten e.V.“ herausgegeben. Dieser gemeinnützige, ökumenische Verein hat es sich zum Ziel gesetzt, die Bedeutung des Kirchenjahres einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln. Unter den verschiedenen Aktionen und Publikationen ist der Adventskalender die bekannteste. Mit christlichen Gedankenanstößen soll ein inhaltlich ge-/ erfüllter Advent ermöglicht werden. Inzwischen erscheint der Kalender mit einer Auflage von 630.000/ 2017. 806 „Das Love Principle“ von Alex Loyd.
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Die Kursleiterin beginnt das Treffen mit einer kurzen Vorstellung des Ablaufes. Es wird schon in dieser Vorstellung deutlich, dass die Gruppe vom üblichen Ablauf aufgrund der Anwesenheit einer „Neuen“, der Beobachterin, abweicht. Dann beginnt der inhaltliche Teil mit einer Einstimmungsgeschichte, die die Kursleiterin vorliest. Diese ist kurz, etwa eine A4-Seite, und im Stil einer „Nachdenk“-Geschichte, wobei das Nachdenken mehrfach unterbrochen wird, da die Kursleiterin nach den ersten Zeilen feststellt, dass sie eine andere Brille braucht und diese holen geht, dann noch einmal von vorn beginnt, sich aber mehrfach verliest. Thema der Geschichte ist, seine Lebenszeit gut zu nutzen, sie nicht aus den Händen zu geben, sondern selbst zu gestalten, sich Mußezeiten zu gönnen und sich auf das Wichtige im Leben zu fokussieren.807 Als die Geschichte geendet hat, sagt Frau3, sie habe es nicht verstanden und bittet um Wiederholung, woraufhin die Kursleiterin den Kern der Geschichte noch einmal zusammenfasst. Es gibt einzelne Äußerungen der Teilnehmerinnen zur Geschichte, allgemeines Nicken und Zustimmung. Nun folgt, wie angekündigt, eine Befindlichkeitsrunde. Auch hier wird deutlich, dass der Ablauf aufgrund der Anwesenheit einer Fremden verändert ist. Während üblicherweise alle erzählen, wie es ihnen geht, stellt sich nun jede kurz vor, indem sie ihren Vornamen nennt und etwas über ihre Vorerfahrungen mit Reiki erzählt. Die Kursleiterin beginnt, indem sie erzählt, wie sie Reiki gelernt hat, wo sie welche Ausbildung gemacht hat, dass sie den vierten Reiki-Grad besitzt (und damit Meisterin/Lehrerin ist), dass sie eine Ausbildung zur Heilerin gemacht hat und dass sie über ihre Bekanntschaft mit der Praxisinhaberin dazu gekommen sei, regelmäßig in Nordstadt Kurse anzubieten. Die beiden erzählen einen Teil dieser Geschichte zusammen, ergänzen und widersprechen sich („wie ein altes Ehepaar“, kommentiert Frau3). Anschließend berichten alle Teilnehmerinnen davon, wie sie mit Reiki in Kontakt gekommen sind, welchen Grad sie haben (alle 1. oder 2.), wie oft sie „sich Reiki geben“, wie oft sie anderen Reiki geben oder „Reiki-Duschen“ in Räumen aufhängen. Es ist also eine methodisch erfahrene Gruppe beieinander. Eine Teilnehmerin weist darauf hin, dass sie es heute so empfinde, dass im Raum ganz viel „unruhige Energie“ oder (An)Spannung in der Luft liege. Grundtenor aller Erzählungen ist: ‚Ich weiß, dass Reiki mir gut tut; ich weiß, wie ich es anwende und dass ich es regelmäßig tun sollte, aber ich komme immer wieder nicht dazu oder vergesse es. Dann werde ich wieder daran erinnert, es geht eine Weile besser und dann schleift es sich wieder ab.‘ Eine Teilnehmerin berichtet von ihren grundsätzlichen Zweifeln daran, ob Reiki gut funktioniere, kommt allerdings selbst und mit der Unterstützung der Leiterin zu dem Schluss, dass das Problem nicht im Reiki oder seiner Wirkung liege, sondern darin, dass sie 807 Autor oder Autorin der Geschichte wird nicht genannt.
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zu wenig überzeugt sei, dass sich immer wieder „ihr Kopf davorschaltet“, sie also zu viel darüber nachdenke, statt ihr Wissen anzuwenden. Auch die Beobachterin wird gebeten, sich vorzustellen und von sich zu erzählen. Der Hinweis auf keinerlei Vorerfahrung im Bereich Reiki und das Bekunden schlichten Interesses wird von der Gruppe akzeptiert. Die Kursleiterin beginnt nun mit einer Einführung in Reiki. Reiki stehe für „universelle Lebensenergie“, die immer vorhanden sei, jedoch nicht immer gut genutzt werde. Überall sei Reiki und alle haben diese Energie, sonst könne niemand leben. Es folgt die Entstehungsgeschichte der Reikiverbreitung, die als Geschichte der Wiederentdeckung von Reiki erzählt wird (Reiki sei sehr altes Wissen, das Ende des 19.Jh. von einem Mönch namens Dr. Usui wiederentdeckt worden sei). Als besonders wichtig für die Anwendung von Reiki wird hervorgehoben, dass es für alle erlernbar sei und dass es sich um eine allgemein verfügbare Energie aus dem Universum handle, die nur kanalisiert werden müsse. Es werden kurz einige Positionen der Handauflegung erklärt und wie ein „Chakrenausgleich“ funktioniere. – Insgesamt erscheint die Darstellung spontan und nicht sehr strukturiert. Die Kursleiterin wird immer wieder von den Teilnehmerinnen ergänzt und auf Punkte hingewiesen, die sie noch ausführlicher darstellen solle. So wird sie z. B. gebeten, noch etwas zum Thema „Reiki-Duschen“ zu erzählen, die quasi als „Energie-Duschen“ imaginär in einen Raum gehängt werden können, um die Energie, die Atmosphäre im Raum bzw. zwischen den Anwesenden zu verbessern. Die einzelnen Punkte ergänzen die Teilnehmerinnen immer wieder durch eigene Geschichten und Beispiele. So erzählt z. B. eine Teilnehmerin, wie sie einmal, als es viel Ärger im Team auf der Arbeit gab, eine Energie-Dusche dort aufgehängt habe und wie sehr sich daraufhin die Arbeitsatmosphäre verändert habe. Die KollegInnen und selbst der Chef hätten sich gewundert, wie sich das Klima im Team gebessert habe. Als die Erzählung zu einem ersten Schlusspunkt kommt, wird die Beobachterin gefragt, ob sie noch Fragen habe. Darauf fragt die Beobachterin nach einer „Prüfungsinstanz“ o.ä., die über die Zuteilung der verschiedenen Reiki-Grade beurteile. Es wird daraufhin erläutert, dass es sich dabei nicht um Abschlüsse im Sinne von zu bestehenden Prüfungen handle, sondern dass es dabei um „Einweihungen“ gehe. Es gebe insgesamt etwa zehn Grade, in die man jeweils eingewiesen werden müsse. Die Leiterin, die bereits in den vierten Grad eingeweiht ist, kann auch selbst Einweihungen vornehmen. Immer wieder werden von allen Teilnehmerinnen Informationen zu Reiki ergänzt, etwa der Hinweis, dass Reiki nicht gegen den Willen einer Person angewandt werden dürfe. Nach dieser Einführung und der Ankündigung, nun bald zum praktischen Teil überzugehen, gibt es eine Praxisprobe. Um der Beobachterin zu „beweisen“,
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dass es die universelle Energie in jedem Körper gibt und dass das Konzept von Energieübertragung funktioniert, werden alle aufgefordert, eine kleine Übung zu machen. Dazu werden die Hände vor die Brust gehalten, so dass sich die Handflächen parallel gegenüberstehen. Nun werden alle aufgefordert, der „Energie“ zwischen den Händen nachzuspüren. Auf die Frage, ob alle die „Energie“ spüren, gibt es große Zustimmung. Alle sollen auch noch ausprobieren, wie weit sie die Hände auseinander nehmen können, um immer noch die „Energie“ zu spüren, die zwischen den Handflächen fließe. Nun wird die Runde noch einmal geöffnet für Fragen oder Ergänzungen aller Teilnehmerinnen. Dabei kommt noch einmal die Frau zu Wort, die größere Zweifel an der Methode und an ihren Fähigkeiten im Bezug darauf geäußert hatte. Sie führt dazu genauer aus, in welchen Situationen sie Schwierigkeiten mit der Reiki-Anwendung habe. Sie könne es kaum bei sich selbst anwenden, weil sie sich dann selbst anzweifle. Zugleich wende sie es aber gelegentlich bei Freunden an, die dann jeweils sehr beeindruckt wären von der starken Energie, die sie weitergebe. Sie selbst fühle sich danach jedoch sehr kraftlos und ausgelaugt. Zudem erzählt sie, dass sie im Urlaub häufiger versucht habe, auf Friedhöfe zu gehen oder Kirchen zu besichtigen, die von Friedhöfen umgeben waren, ihr dies aber nicht möglich war ohne dass sie sofort eine große Belastung gespürt habe, eine tiefe Traurigkeit und einen Druck in der Brust, der sie daran gehindert habe, die Friedhöfe zu betreten. Die Kursleiterin beantwortet ihre Fragen und erklärt, wie das Erzählte zustande komme: Wenn sie sich nach der Anwendung von Reiki geschwächt fühle, sei der Grund, dass man sich bei einer Reiki-Anwendung selbst gut schützen müsse. Der einzelne Mensch fungiere nur als Kanal für die „universelle Energie“. Wenn der eigene „Energie-Kanal“ nicht richtig frei, durchlässig und zugleich gestärkt sei, bestehe die Gefahr, dass die Person ihre eigene Energie weitergebe anstelle der kosmischen. Dadurch könne man dann selbst sehr geschwächt werden. Der „Energie-Kanal“ der Teilnehmerin müsse also wieder „gereinigt und gestärkt“ werden, er wäre vermutlich verstopft. Die Teilnehmerin bestätigt, dass sie schon seit längerem mit einer verstopften Hals-Nasen-Partie zu tun habe. Allen Teilnehmerinnen und der Kursleiterin scheint die Verbindung zwischen „verstopftem Energie-Kanal“ und verstopfter Nase plausibel und selbstevident. Auch das Phänomen des Friedhofsbesuchs wird von der Kursleiterin erklärt: Als eine in Reiki Eingeweihte sei die Teilnehmerin besonders nah an der „universellen Lebensenergie“ und am Licht. Auf einem Friedhof dagegen bewegten sich besonders viele „erdgebundene Seelen“, die sich in einer Art „Zwischenstadium“ befänden, aus dem sie noch nicht gehen könnten, solange sie z. B. noch etwas auf der Erde zu klären hätten. Da sie besonders wenig Energie hätten und eben
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an die Erde gebunden seien, würden sie versuchen, an ein „Lichtwesen“ heranzukommen und von ihm Energie zu erhalten. Damit wäre die Teilnehmerin als Lichtquelle und Mensch mit sehr hoher Energie für diese Wesen ein besonderer Anziehungspunkt. Auch dieses Problem sollte sich nach Ansicht der Leiterin jedoch bessern, wenn der „Energie-Kanal“ der Teilnehmerin wieder gereinigt und stabilisiert wäre. Die Teilnehmerin berichtet außerdem davon, wie sie einmal versucht habe, sich selbst Reiki zu geben, um damit Rückenschmerzen bei sich selbst zu behandeln. Sie habe im Bett gelegen und sich die Hände in die „Nierenposition“ gehalten, da sich hier der Rückenschmerz befunden habe. Das sei ihr aber nach kurzer Zeit zu unbequem gewesen, weswegen sie also die Hände nach vorne auf die Solarplexus-Position genommen habe. So habe sie sich die Energie an dieser Position gegeben. Der Effekt sei gewesen, dass die Rückenschmerzen abgeklungen seien, trotz der Energiegabe an der „falschen“ Position. – „Siehst du“, bestätigt die Kursleiterin, „Reiki wirkt; und zwar auch durch uns hindurch. Wir sind nur die Werkzeuge, die Anwender, aber was da wirkt, ist diese höhere, universelle Energie.“ Nach etwa einer Stunde soll nun der praktische Teil des Abends beginnen, bei dem alle Teilnehmerinnen einander Reiki „geben“. Dazu muss allerdings erst festgestellt werden, ob die Beobachterin ebenfalls daran mitwirken kann, d.h. es muss getestet werden, ob sie genug „eigene Energie“ besitzt, um ohne weitere Einweihung durch die Meisterin an der Energieübertragung teilzunehmen. Die Kursleiterin zieht dafür ihren Ärmel hoch und lässt die Beobachterin die Hand über ihre Armbeuge halten. Sie nickt wissend und bittet um die andere Hand. Dann nickt sie erneut und will das Ergebnis ihrer Überprüfung in die Runde sagen, hält dann aber inne und bittet die Praxisinhaberin, den Energietest ebenfalls zu machen. Da die Praxisinhaberin in näherer Zukunft den Kurs übernehmen soll, scheint es der Leiterin eine gute Gelegenheit, zu sehen, ob sie ggf. in der Lage wäre, eine neue Kursteilnehmerin auf ihren „Energiestatus“ hin zu überprüfen. Nun zieht also auch die Praxisinhaberin ihren Ärmel hoch und lässt sich eine Hand über die Armbeuge halten. Dann sieht sie die Kursleiterin an und sagt: „Ja, da ist aber deutlich die Energie zu spüren!“ Die Kursleiterin erwidert ein fragendes „Ja?“. Und: „Probier’ auch die andere Seite noch.“ Die Praxisinhaberin ist sichtlich verunsichert. Darauf wird die andere Hand der Beobachterin getestet und die Praxisinhaberin sagt vorsichtiger: „Hm, hier ist auch was. Aber nicht so deutlich.“ Sie blickt die Kursleiterin erwartungsvoll an. Es entsteht eine paradoxe Situation der doppelten Testung. Wobei der Test der potentiellen neuen Leiterin eine deutlich gespanntere Atmosphäre im Raum erzeugt hat als der Test der Beobachterin. Schließlich sagt die Kursleiterin: „Ja, richtig.“ und alle Anwesenden sind erleichtert und lachen.
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Damit ist nun auch für die Beobachterin keine weitere Einweihung nötig. Sie habe genug Energie, wenn auch nicht so rein und ausgebildet im Blick auf den EnergieKanal, aber das könne man auch ohne Einweihung nicht erwarten. So kann nun der praktische Teil beginnen. Die ganze Gruppe wechselt dazu den Raum und begibt sich in ein kleines Behandlungszimmer, in dessen Mitte eine Liege steht. Der Raum ist lila gestrichen, an der Seite neben der Tür hängt ein kleines Regal mit orange Fläschchen als Dekoration und ordentlich gefalteten Handtüchern. An der Längsseite steht ein Schränkchen, darauf stehen unterschiedliche Dekorationsartikel, Aromafläschchen und eine Klangschale. Am Kopfende des Raumes und der Liege steht ein Hocker mit Rollen, daneben eine Fußbodenvase mit hohen getrockneten Gräsern darin. Auf der Liege selbst liegen Decken sowie im Bereich von Kopf und Knien Kissen. Es findet sich schnell eine Teilnehmerin, die anfangen möchte und sich auf die Liege legt. In der Zwischenzeit erklärt die Kursleiterin, wie eine „Einheit“ jeweils ablaufen wird: Jede Teilnehmerin solle etwa fünf Minuten Reiki bekommen. Sie werde jeweils eine Einleitung oder Sammlung sprechen, in der sich alle auf ihre Energie konzentrieren und sammeln sollen. Es wird darauf hingewiesen, wie wichtig es dabei sei, seinen eigenen „Schutzmantel“ zu aktivieren, um keine eigene Energie zu verlieren. Diesen solle man sich in besonders „mächtigen“ und „energiereichen“ Farben vorstellen: blau, weiß und/oder goldfarben seien hilfreich. Dabei könne man die Hände vor der Brust zusammenlegen. Anschließend würden die Hände jeweils an unterschiedlichen Körperstellen bei der liegenden Person aufgelegt und die „Energie“ dabei „übertragen“. Eine Teilnehmerin liegt auf der Liege, alle anderen stehen um die Liege herum und haben die Hände vor der Brust zusammengelegt. Die Kursleiterin beginnt und formuliert frei ihre „Sammlung“, etwa so: „Wir kommen jetzt zur Ruhe. Wir konzentrieren uns auf die Energie, die wir empfangen und weitergeben wollen. Um uns herum bauen wir unseren Schutzmantel auf. Wir bitten um die Energie aus dem Universum, die wir uns jetzt gegenseitig weitergeben wollen.“ Daran anschließend schlägt sie die Klangschale an und nun beginnt die „Energieübertragung“, indem alle Teilnehmerinnen ihre Hände auf die Liegende legen. Dabei ist es unterschiedlich, ob die Liegende tatsächlich berührt wird oder ob die Hände etwas über der Person gehalten werden. Diese Übertragung dauert etwa fünf Minuten. Währenddessen wird nicht gesprochen, es ist kaum etwas zu hören außer tiefem Atmen oder leisen Bewegungen, wenn jemand die Position seiner Hände verändert. Die Leiterin selbst ist an der „Energieübertragung“ nicht beteiligt. Sie zeigt das Ende der Einheit an, indem sie erneut die Klangschale anschlägt. Nun nehmen alle nach und nach ihre Hände weg. Die Kursleiterin tritt an die Lie-
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ge, hält ihre Hände über den Kopf der liegenden Teilnehmerin und „streicht“ ihr in langen Bewegungen – ohne Berührung – dreimal vom Kopf bis zu den Füßen. Nun öffnet die Liegende wieder die Augen und wird aufgefordert, zu erzählen, was sie gespürt und wie sie die „Energieübertragung“ empfunden habe. Die Teilnehmerin ist begeistert und bedankt sich bei allen. Sie spricht davon, bei diesem Mal die Energie „besonders intensiv“ gespürt zu haben. Anschließend werden auch alle anderen befragt, wie sie die „Einheit“ empfunden haben. Die meisten Rückmeldungen sind positiv. Die „Neue“ in der Runde wird noch einmal gesondert befragt. Auf die Antwort, es sei etwas spürbar gewesen, habe aber auch angestrengt, wird noch einmal nachgefragt. Bereits im ersten Teil des Abends war darauf hingewiesen worden, dass man eine falsche Anwendung auch daran erkennen könne, dass man sich selbst überanstrengt und anschließend ausgelaugt fühle. Dann nehme man nämlich seine eigene Energie für die Übertragung anstatt als Kanal für die Universelle Energie zu fungieren. Die Ergänzung, es wäre zwar anstrengend, aber nicht auslaugend oder unangenehm gewesen, beruhigt die Kursleiterin. Was genau zu spüren war, etwa einfach die Berührung und dadurch Wärme oder was genau anstrengend war, etwa das lange Stillhalten der Hände über einer bestimmten Stelle, wird nicht nachgefragt. Alle, die Energie übertragend teilgenommen haben, werden aufgefordert, sich selbst wieder „frei“ zu machen für die nächste Einheit. Vor allem geht es dabei um die Hände, die nun entweder ausgeschüttelt, ausgestrichen oder gewaschen werden sollten, um sie für eine weitere Energieübertragung nutzen zu können. Nun folgen nach einander alle anderen Teilnehmerinnen in gleicher Weise. Eine liegt jeweils auf der Liege, die Kursleiterin spricht ihre Einstimmung, dann legen alle die Hände auf oder an die liegende Person und „übertragen“ die Energie. In den Zwischengesprächen wird immer wieder hervorgehoben, dass an diesem Tag die Energie besonders intensiv zu spüren sei. In diesem Zusammenhang wird von der Kursleiterin darauf hingewiesen, sie habe ja auch vor dem Treffen den Raum noch einmal intensiv „energetisch gereinigt“. Die Praxisinhaberin ergänzt, sie würde das sonst ebenfalls tun, könne es aber nicht so gut, so dass es für alle ein großer Vorteil sei, dass die „Meisterin“ selbst heute die „Raumreinigung“ vorgenommen habe. Nachdem alle anderen Teilnehmerinnen an der Reihe waren, wird die Beobachterin aufgefordert, sich auf die Liege zu legen und sich Reiki geben zu lassen. Die Beobachterin folgt der Aufforderung, indem sie sich die Schuhe auszieht und sich auf die Liege legt. Diese ist sehr weich und angenehm, es ist sehr entspanntes Liegen möglich. Es folgt wieder eine Einstimmung durch die Kursleiterin, während sich alle anderen um die Liege herum verteilen. Dann werden die Hände über den Körper gehalten, teilweise mit, teilweise ohne körperliche Berührung. Die
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Stellen ohne Berührung sind für die Beobachterin nicht spürbar. An den Stellen mit Berührung ist Wärme spürbar, die entspannend wirkt. Auch nach dieser Einheit werden wieder alle Teilnehmerinnen befragt und es ergibt sich das gleiche Bild wie vorher: allgemein positive Rückmeldungen und Bestätigung einer intensiven Energieübertragung. Damit ist die Übungseinheit beendet. Die Veranstaltung dauert bereits mehr als zwei Stunden. Es folgt eine kurze Zeit der Bewegung, in der alle sich die Hände waschen gehen, was von der Kursleiterin als besonders wichtig hervorgehoben wird, um die Hände von der „Energie“ wieder zu reinigen. Anschließend werden wieder die Plätze im ersten Sitzkreis eingenommen. Es folgt eine weitere Befindlichkeitsrunde. Es gibt eine insgesamt sehr positive Bilanz der Teilnehmerinnen mit dem Schwerpunkt darauf, wie gut und stärkend die Energieübertragung jeweils empfunden wurde. Die Teilnehmerin, die zuvor auf die „energetische Unruhe“ hingewiesen hat, sagt nun, wie angenehm es jetzt im Raum wäre, die vielen „umherschwirrenden Energien“ und die Bewegung im Raum habe sich gelegt. „Was so ein [Schutzsymbol] so alles bewirkt“, meint die Kursleiterin. Auf Nachfrage erklärt sie: „Nachdem Du vorhin gesagt hast, hier wäre so viel unruhige Energie, die herumschwirrt, habe ich mal einen [Schutzgeist] aktiviert.“ Alle Teilnehmerinnen sind begeistert von dem kausalen Zusammenhang, der sich hier zu zeigen scheint. Die Kursleiterin gibt nun der Beobachterin und denen, die es möchten, noch Informationsmaterial mit. Dabei handelt es sich um kopierte Blätter zu folgenden Themen: „Die Legende von Dr. Mikao Usui“, „Reiki-Lebensregeln“, „ReikiHandpositionen an sich selbst“ und „Der Charkenausgleich mit Reiki“. Nun werden noch länger organisatorische Fragen besprochen wie das nächste Treffen, Termine im kommenden Jahr etc. Dann beendet die Leiterin den Kurs, indem sie allen einen guten Abend und guten Nachhause-Weg wünscht. Die Teilnehmerinnen erheben sich und bilden eine Schlage, um sich von der Kursleiterin zu verabschieden. Dabei wird auch jeweils die Kursgebühr bezahlt. Eine Person spricht an, dass diese Situation immer etwas Eigenartiges hätte: nach der vertrauten und freundschaftlichen Atmosphäre und dem Wichtigen, was da in den letzten Stunden passiert sei, dann am Ende der Kursleiterin 10 € in die Hand zu drücken. Die Kursleiterin hält dagegen, das wäre überhaupt nicht komisch und auch nicht störend und bedankt sich für das überreichte Geld. Alle gehen zur Garderobe, ziehen sich an und wünschen sich alles Gute bis zum nächsten Mal. Die Kursleiterin und die Praxisinhaberin bleiben in der Praxis zurück, alle anderen gehen gemeinsam hinunter und verabschieden sich vor der Tür. Eine Teilnehmerin und die Beobachterin gehen einzeln, zwei andere Teilnehmerinnen gehen zusammen weg.
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Gesundheitsseminar (V2G) Das Seminar findet als ganztägige Veranstaltung an einem Samstag statt. Veranstaltungsort ist der letzte Hof am Ende eines kleinen, lang gestreckten Dorfes mit wenigen Häusern in der Nähe einer mecklenburgischen Kleinstadt. Der Hof selbst besteht aus mehreren Häusern. Das Haupthaus, ein altes, bewachsenes Fachwerkhaus, ist Wohnhaus der Familie des Seminarleiters, zudem befinden sich hier ein Raum für Veranstaltungen bzw. Seminare, in dem auch der Seminartag stattfindet. Da der Seminarleiter auch Künstler ist, befindet sich in dem Haus zudem ein Atelier sowie ein Ausstellungs- bzw. Verkaufsraum. Das alte Haus erscheint an vielen Stellen erweitert und umgebaut. In den Nebengebäuden befinden sich Ferienwohnungen, eine Garage sowie Abstellräume. Ein Rondell, umgeben von altem, unebenem Kopfsteinpflaster, prägt den Bereich zwischen den Häusern und ist mit Pflanzen gestaltet. Das weitere Grundstück erstreckt sich hinter den Häusern mit einem wilden Garten, Teich und Wiesen. Vom Haus aus ist ein Gewächshaus zu sehen. An verschiedenen Stellen des Gartens stehen Bänke und Stühle, Tische und Skulpturen. […] Der Zugang zum Veranstaltungsraum erfolgt über den Ausstellungsraum. Hier wird die teilnehmende Beobachterin durch den Seminarleiter begrüßt. Er ist Anfang 60, trägt eine dunkle Stoffhose und dunkles T-Shirt. Seine Erscheinung ist zurückhaltend und unauffällig. Die Beobachterin wird angewiesen, sich durch den Garten und über eine hölzerne Außentreppe in die obere Etage zu begeben, wo schon zwei weitere Teilnehmende säßen. Der Treppenansatz ist mit hohem Gras umwachsen. Über eine offene Veranda gelangt die Beobachterin in den Seminarraum. Der etwa 35 m² große, niedrige Raum wird durch viel Holz geprägt. Auf hellem Dielenboden stehen etwa sechs alte Schränke und Kommoden, darunter ein großer Apothekerschrank, sowie eine große Holztruhe. In der der Veranda gegenüberliegenden Ecke des Raumes ist ein Hochbett oder eine Hochebene eingebaut, unter der sich zwei der drei von dem Raum abgehenden Türen befinden. Die weiteren Wandflächen sind mit Regalen versehen, von denen eines Bücher, hauptsächlich Kunstbände, aber auch Kinder- und Märchenbücher, die anderen Tongefäße beherbergen. Die Fensterseite des Raumes ist durch zahlreiche freiliegende Fachwerkbalken und große Pflanzen auf den Fensterbrettern geprägt. Ein Balken des Fachwerks unterteilt zudem den Raum. Es läuft Musik, bekannte Popsongs verschiedener Interpreten.
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Zentral im Raum sind zwei niedrige, rechteckige Tische aneinander gestellt, um die herum vier Sessel und drei Stühle gruppiert wurden. Fünf weitere Stühle stehen im Raum verteilt. Auf den beiden Sesseln, die am nächsten an der Eingangstür stehen, sitzen ein Mann (M1) und eine Frau (F1), beide um die 50 Jahre alt. Der Mann trägt Jeans, kurzärmeliges, kariertes Hemd und eine dezente Brille. Die Frau trägt ebenfalls Jeans, dazu einen Pullover, ein buntes Tuch und eine dunkle Brille. Beide halten jeweils ein kleines Schälchen in der Hand und essen daraus etwas mit einem Teelöffel. Dabei überlegen sie gemeinsam, welche Zutaten in dem, was sie dort essen, enthalten sind. Ihr Gesprächston ist leise und wirkt vertraut. Als die Beobachterin eintritt, grüßen sie freundlich. Während die Beobachterin selbst Platz nimmt, kommt der Seminarleiter durch die gegenüberliegende Tür herein und stellt ebenfalls eine kleine Schüssel mit einem Teelöffel auf den Tisch mit den Worten: „Zum Probieren“. Die Beobachterin setzt sich und beginnt, aus dem Schälchen zu essen. Darin befindet sich ein Haferbrei, der neben Haferflocken und Wasser auch Mandeln, Nüsse, Kürbiskerne und verschiedenes Obst enthält. Zudem gibt es einige sehr bittere Kerne darin; Aprikosenkerne, wie der Seminarleiter später mitteilt. Außerdem erklärt er, das Müsli enthalte verschiedene Öle und die Haferflocken seien auf spezielle Art zubereitet. Während des Essens ergibt sich zwischen den drei TeilnehmerInnen ein kleines Gespräch, zunächst über das Müsli, dann über die Frage, wie der Kontakt zum Seminarleiter entstanden wäre. Im Gespräch wird deutlich, dass der Mann und die Frau zusammengehören und die Frau für beide spricht, wenn sie ‚wir‘ sagt. Das Paar hatte den Seminarleiter über seine Kunst kennengelernt und war mit ihm ins Gespräch gekommen. Vor einiger Zeit hatten sie das Atelier besucht und waren begeistert von der Atmosphäre. Als sie von dem Seminar erfuhren, hätten sie sich angemeldet, um die Sicht des Seminarleiters auf das Thema Gesundheit kennenzulernen. Sie hätten sich auch einige Fragen notiert, zu denen sie sich im Laufe des Tages Antworten erhofften. Durch die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes kommt eine Frau (F2), ebenfalls um die fünfzig, herein, stellt sich vor und gibt jedem die Hand. Sie trägt weite, hellgrüne Stoffkleidung und ein buntes Tuch. Sie sagt, sie solle fragen, ob jemand noch etwas von dem Essen möchte und was wir trinken wollten. Es wird Tee und Wasser angeboten. Als die Frau wieder hinausgegangen ist, entsteht ein neues Gespräch zwischen dem Paar und der Beobachterin darüber, ob es kaltes oder heißes Wasser zum Trinken geben wird und welche Temperatur bzw. sonstigen Eigenschaften von Wasser dieses zu gesundem Trinkwasser machten. Kurz darauf kommt durch die selbe Tür ein junger Mann (M2), Anfang zwanzig, in Kluft, der sich vorstellt und sich einen Platz am Tisch sucht. Er hat eine große Teetasse in der Hand, die er vor sich abstellt. Ein weiterer junger Mann (M3), Ende zwanzig, Anfang dreißig, gesellt sich in die Runde, stellt einige Tas-
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sen und Becher auf den Tisch und nimmt ebenfalls Platz. Kurz darauf erscheint wieder F2, ebenfalls mit Tassen und einem Wasserkrug. Sie stellt alles auf dem Tisch ab und setzt sich dann in den noch freien Sessel. Der Seminarleiter kommt mit einer großen Teekanne, verteilt Tee und fragt, ob noch jemand Papier und Stifte brauche, um sich während des Vortrags Notizen machen zu können. F2 ist irritiert und fragt in die Runde, ob noch jemand gedacht hätte, es gäbe ein Skript oder Ähnliches. Als niemand diese Frage konkret beantworten kann, geht sie dem Seminarleiter nach, der ihr mit Stiften und Papier entgegenkommt und fragt ihn nach einem Skript. Er habe zwar ein Skript in Arbeit, etwa 75 Seiten umfassend, dies sei aber noch nicht fertig und überhaupt habe es keinen Sinn, das einfach an alle herauszugeben. Wen bestimmte Dinge an seinem Vortrag interessierten, der solle sie sich eben notieren. Nachdem Papier und Stifte verteilt sind und der Seminarleiter am Kopf des Tisches Platz genommen hat, beginnt der Vortrag, wobei der Beginn zugleich nicht deutlich markiert wird, sondern organisatorische Ansagen und allgemeine Bemerkungen zur gesellschaftlichen Gesamtsituation fließend in den Vortrag übergehen. Auch die mehrfach angekündigte Vorstellung der Struktur des Vortrags wird erst nach etlichen Vorbemerkungen und dann unvollständig dargestellt. Zu Beginn führt der Seminarleiter seine Einschätzungen der Gesellschaft aus. Dabei stellt er als eines der zentralen Probleme der heutigen Zeit den „Zweifel“ dar. Es gebe keine sicheren Wege, kausale Zusammenhänge zu erkennen. Sei man aber durch Zweifel bestimmt, blockiere dieser die Handlungsinitiativen. Wenn aber in Wirklichkeit – wie er noch ausführen werde – alle Erkenntnisse im Blick auf Gesundheit eindeutig seien, müsse man fragen, warum diese dann nicht von allen angewandt würden, so dass niemand mehr krank wäre oder an Krankheiten sterben müsse. Dies wäre durch Erkenntnis, wie er sie habe, möglich. Diese zu erlangen werde jedoch durch eine „Mafia“ verhindert, so dass sie sich nicht durchsetzen könne. Selbst in seiner Familie gäbe es Zweifel. Bei dem Ziel, die Ausbreitung dieses Wissen zu verhindern, spiele Profit eine zentrale Rolle.808 Als Beispiel rechnet der Referent das „Geschäft mit Diabetes“ vor: Es gebe weltweit 200 Mio. Kranke, von denen jeder 365 Mal im Jahr eine Injektion im Wert von 10 € erhalte. Hier wäre also von Billionen-Umsätzen die Rede. Involviert seien etwa Bill Gates, Banker, die „die Keller voll Geld“ hätten und ganze Staaten lenkten, während die Politiker für Geld und Erhalt ihrer Posten alles täten. Dahinter sei aber nach der 808 In diesem Zusammenhang zitiert der Seminarleiter Marx, allerdings nur anspielend, auch Marx habe ja schon gesagt, bei einem Profit von 1000% sei der Mensch bereit, über Leichen zu gehen. Gemeint ist möglicherweise das Zitat: „Bei 50% Profit drückt der Kapitalist beide Augen zu, bei 75 wird er kriminell und bei 100, da geht er über Leichen.“
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„wirklichen Statistik“ zu fragen, die die Wahrheit über Krankenkassen, Pharmakonzerne etc. aufliste. Er selbst, so der Seminarleiter, „habe lange gebraucht, um das zu glauben. Nein, nicht zu glauben, sondern um es zu wissen.“ Nach dieser Einführung beginnt der Referent, seinen Ablauf für den Vortrag vorzustellen. Dabei soll in drei Schritten vorgegangen werden. Zuerst sollen einige alternative Heilmethoden vorgestellt werden. In einem zweiten Schritt folge eine „Wanderung durch den Körper“, anhand derer die Inhalte verdeutlicht werden sollten. Ein dritter Schritt wurde nicht genannt. Zu Beginn des ersten inhaltlichen Punktes betonte der Seminarleiter, alle alternativen Heiler täten das Gleiche, nur arbeiteten sie dabei mit unterschiedlichen Methoden. Zugleich liefere jeder immer nur ein Stück der Erkenntnis. Er sehe seinen eigenen Vortrag dagegen als „roten Faden“ oder als „Baumstamm“, an dem alle weiteren Erfahrungen und Antworten angebunden werden könnten. Ein Grundfehler, den Viele machten, sei die Annahme, mit einer Heilmethode alles korrigieren zu können. Viel besser sei es, gleich alles richtig zu machen, also Prävention zu betreiben, keine Fehler zu machen, dann brauche es auch keine Korrektur. Leider gerate dies im Alltag immer wieder in den Hintergrund. Dabei sei alles ganz „einfach und nachvollziehbar“, entsprechend der Gesetzmäßigkeit von Ursache und Wirkung. Wer dieses Gesetz jedoch nicht befolge, werde krank und dann könne eben nur noch repariert werden. Das Leben bzw. der Körper entspreche einem Mülleimer, in den man so lange etwas hineinwerfen, also kleine Fehler begehen könne ohne etwas zu merken, bis der Mülleimer schließlich irgendwann überquelle und der Mensch krank werde. Krankheit sei wie ein „böser Geist“ und es gelte, sich gegen diesen eine „Schutzhülle“ zuzulegen. Man brauche ein gutes „Fundament“ von „Wissen“ über die Welt, dann sei alles „einfach nachvollziehbar“. Immer wieder betont der Seminarleiter, dass es sich bei dem von ihm Vermittelten um „Wissen“ handle, welches von vielen Wissenschaftlern und Autoren auch belegt worden sei – keinesfalls sei dabei „Glauben“ im Spiel. In der Entdeckung der Gesetzmäßigkeiten der Gesundheit gebe es zwei Stufen: Die erste Stufe sei, sich zu überlegen, ob man diesen Weg wirklich gehen möchte; mit der zweiten Stufe gebe es dahinter kein Zurück mehr. Ein wichtiges Beispiel sei die Umstellung der Ernährung. Wenn man diese erst einmal vollzogen habe, könne man eben nicht mehr alles tun, was der „Mainstream“ tue. Die Bedeutung der Ernährungsumstellung erläutert der Seminarleiter anhand seiner eigenen Familie. Sie hätten aufgrund unterschiedlicher gesundheitlicher Probleme alles ausprobiert und seien nun zu einer veganen Ernährung gelangt. Nach einer Umgewöhnungsphase von sechs Wochen, in der die Geschmacksnerven wieder neu wachsen müssten, wäre die Umstellung geschafft. An dieser Punkt gibt es die erste Teilnehmerfrage. M3 bemerkt, wie schwierig es sei, nicht nur mit seiner Frau gewisse Fragen der Ernährung zu diskutieren, son-
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dern v.a. auch den Kindern die Ernährungsumstellung schmackhaft zu machen. Sie gingen dann zu den Großeltern und bekämen dort Süßigkeiten oder Weißbrot. Dieses Problem kenne er, so der Seminarleiter. Kinder könne man nur „mit Gewalt“ dazu bringen, dies mitzumachen. Wichtig sei, dass man sie vor Schuleintritt auf seiner Seite habe, in der Zeit, in der Kinder intuitiv lernten, sonst würden sie gegen die Zivilisation und ihre Auswirkungen nicht mehr ankommen. Seine eigenen Kinder wären beispielsweise nicht in den Kindergarten gegangen, denn „diese Zeit mussten wir nutzen“. Dass sechs Wochen der entscheidende Zeitraum für eine Veränderung sei, ließe sich etwa auch anhand der Bibel zeigen, die von Jesu sechswöchiger Wanderung in der Wüste berichte, was eben einer Fastenkur entspreche. Der Referent rechtfertigt sogleich seine Bezugnahme zur Bibel mit der Begründung, es gebe in jeder Religion tiefe Weisheiten und die Bibel sei nun einmal in unserem Kulturkreis besonders verbreitet. Wichtig sei aber die Überlieferung des Zeitraumes von sechs Wochen, dies sei ein „magischer Punkt“. Nach dieser Zeit schmecke alles intensiver und die Umstellung sei vollzogen. Auch M2 erklärt, dass es ihm schwer falle, die hier vorgestellten Essensrichtlinien durchzuhalten, zumal er auf Wanderschaft in den meisten Fällen bei anderen zu Gast sei. Der Referent rät: „Du musst da missionarisch herangehen.“ Nun kündigt der Referent an, im Folgenden die beiden Grundlagen vorzustellen, auf denen sein Wissen beruhe: Homöopathie und Astrologie. Beide hätten keinen besonders guten Stand. Die Homöopathie werde vor allem „in den Medien runtergemacht“, die Astrologie sei der „im alternativmedizinischen Sektor am stärksten verrufene“ Zweig. Zugleich müsste doch jedem auffallen, was da nicht stimmig sei. Die Homöopathie stellt der Referent nun als „Schlüssel zum Ganzen“ dar. Er und seine Familie wären aufgrund von Krankheiten der Kinder und Problemen seiner Frau während der Schwangerschaften damit in Kontakt gekommen. Grundlage der Homöopathie sei die „Verdünnung“ nach Dezimal- und Centesimalsystem, wobei eine höhere Verdünnung jeweils eine Potenzierung der Wirkung bedeute. Samuel Hahnemann selbst habe nie eine Anwendung einer Potenz unterhalb von 30 empfohlen. Während der Seminarleiter seine Ansichten zur Homöopathie ausführt, schiebt er immer wieder stark polemische Aussagen ein. Dabei beschreibt er, welche Ansichten über Heilpraktiker in der Gesellschaft herrschten und empört sich über das Heilpraktikergesetzes, nach dem es im Rahmen der Heilpraktikerprüfung darum gehe, zu überprüfen, „ob ein Heilpraktiker eine Gefahr für die Volksgesundheit“ darstelle. Es werde nur Schulmedizin geprüft, jedoch keine Heilmethoden selbst. Immerhin könne man mit dem hier erworbenen Wissen einen Arztbrief wirklich lesen und „darin die Widersprüche“ erkennen. Dass Homöopathie nicht allein auf den Placebo-Effekt zurückgeführt werden könne, zeige sich aber schon an der Heilung von Tieren mit diesen Mitteln. In einer län-
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geren Ausführung erläutert der Seminarleiter seine Ansicht darüber, warum einige Ärzte Homöopathie anwendeten. Dies habe vor allem mit der dann verbreiterten Akzeptanz in der Bevölkerung zu tun. Die Ärzte machten „drei Wochenendkurse“, womit sie die Berechtigung erhielten, die Bezeichnung ,Homöopathie‘ auf ihr Praxisschild zu schreiben. Zugleich hielten sie sich an die Vorgaben der Pharma-Homöopathie und verschrieben hauptsächlich Komplexmittel. Somit trete der Effekt ein, dass die Mittel manchmal helfen würden und in anderen Fällen nicht, so dass die Patienten im Ernstfall um sicher zu gehen doch zur Schulmedizin griffen. Nur darum erlaubten die Pharmakonzerne Ärzten den Einsatz homöopathischer Mittel. Mit den originalen Erkenntnissen und Mitteln von Hahnemann sei jedoch alles zu heilen. Nicht in Ordnung sei dagegen das Auspendeln des richtigen Mittels, denn dies beweise, dass der Homöopath keine Ahnung habe. Hahnemann selbst habe gesagt, ein Schulmediziner, der erkannt habe, dass Homöopathie funktioniere und trotzdem bei der Schulmedizin bleibe, nehme bei seinen Patienten die gravierenden Nebenwirkungen der Pharmazeutika in Kauf. Dagegen könne die Wirksamkeit der Homöopathie heute durch die „Messung von Frequenzen“ bewiesen werden. Die „Frequenzbilder“ von Flaschen, in denen sich Alkohol mit oder ohne hoch potenzierte homöopathische Wirkstoffe befinde, würden sich voneinander unterscheiden. Dies „ist nicht erklärbar, ist aber so“. Nun folgen die Ausführungen zur Astrologie. Zu Beginn macht der Referent deutlich, dass es sich dabei nicht um Zeitungshoroskope oder die Wirkung von Sternen handle, sondern darum gehe, in den Sternen lesen zu können. Schon Hermes Trismegistos809 habe die Weltformel entdeckt gehabt, die laute: „Wie oben, so unten – wie unten, so oben.“ und „Wie außen, so innen – wie innen, so außen.“ Mit Hilfe einer bestimmten Zeitbestimmung, bei der es um „Quantität und Qualität der Zeit“ gehe, könne man viele Schlüsse ziehen. Grundlegend für die Astrologie sei die Anwendung „vertikalen Wissens“. In der heutigen Zeit sei dagegen „horizontales Wissen“ dominant. Beim „horizontalen Wissen“ stehe die Bildung von Kategorien im Vordergrund. Bisher sei die Wissenschaft immer in dieser Weise des schlussfolgernden Denkens vorgegangen. Im Gegensatz dazu habe etwa die Homöopathie schon immer gesagt, die Wirkung entscheide sich auch danach, ob ein Wirkstoff vom gleichen Stamm komme. Heute würden diese Erkenntnisse sich auch in der Wissenschaft z. T. durchsetzen und alle Phytologiebücher würden neu geschrieben. Das „vertikale Denken“ müsse „erst wieder neu gelernt werden. Die Alten wussten das, die Hexen und andere, aber die wurden ja alle ausgerottet.“ 809 Hermes Trismegistos ist eine Göttergestalt, die als Vermischung des griechischen Gottes Hermes mit dem ägyptischen Gott Thot gilt. Bekannt sind verschiedene Abhandlungen, die Hermes Trismegistos zugeschrieben wurden und die sich mit philosophischen, astrologischen, magischen und alchemistischen Inhalten beschäftigen.
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Zu diesem Wissen gehöre auch das Lernen der „zwölf Archetypen-Reihen“, mit Hilfe derer die „Einordnung in die Archetypenlinien erfolgt“, die z. B. das Wissen um die Zuordnung von Heilkräutern ermögliche. Während Astrologen früher die besten Wissenschaftler waren, da sie viele und komplexe Berechnungen anstellen mussten, gebe es heute „so viele Scharlatane, weil jeder an seinem Computer ein Astrologie-Programm bedienen kann“. Der Seminarleiter betont, dass ein echter Astrologe jedoch dazu geboren sein müsse, über eine sichere Intuition verfügen und sich sehr viel Wissen aneignen müsse. Über die Berechnungsmöglichkeiten der Astrologie (etwa die genaue Bestimmung von Geburtszeiten) ließe sich letztendlich die Wissenschaftlichkeit der Astrologie beweisen. Nach einer kurzen Pause, die die TeilnehmerInnen nutzen, um frische Luft zu schnappen, zur Toilette zu gehen oder sich Tee nachzugießen, beginnt der Seminarleiter mit den Ausführungen über einen der „Hauptwirkungsmechanismen für Gesundheit“, das Thema der Übersäuerung des Körpers. Während Milch, Wasser, Obst und Gemüse basisch seien, wären alle anderen Produkte, die der Mensch zu sich nähme, sauer. Blicke man nun in die Einkaufskörbe im Supermarkt würde klar, dass 97% der eingekauften Lebensmittel in die Kategorie der sauren Produkte gehörten und „daraus resultiert jede Krankheit“. Werde also eine Änderung des Säure-Basen-Haushaltes erreicht, verschwinde die Ursache der Krankheiten und damit auch die Krankheiten selbst. Am Beispiel einiger Lebensmittel und Gerichte führt der Referent diesen Zusammenhang näher aus. Das menschliche Immunsystem wäre jedoch aus der „archaischen Periode“ nach wie vor auf Trennkost ausgelegt. Hilfreich für den Körper wäre bei der Verarbeitung der Nahrung Vitamin C, allerdings kein synthetisch erzeugtes wie es sich in konventionellen Säften oder anderen Nahrungsmitteln als Zusatzstoff finde. Die Wirksamkeit dessen sei „alles Lüge“. Wie wirksam natürliches Vitamin C gegen Krankheiten sei, habe aber schon der Nobelpreisträger Linus Pauling bewiesen.810 Auch Ginseng810 Linus Pauling (1901-1994), US-amerikanischer Chemiker. 1954 Nobelpreis für Chemie für Forschung über die Natur chemischer Bindungen; 1962 Friedensnobelpreis für Einsatz gegen Atomwaffentests. Nachdem er sich in den 1930er Jahren auch mit biologischen Molekülen beschäftigt hatte, stellte er in den 1960er Jahren Thesen zur Vorbeugung von Krankheiten durch Vitamin C auf. Er war der Meinung, dass nicht nur Erkältungen, sondern auch z. B. Krebs durch hochdosiertes Vitamin C vorgebeugt werden könne. Diese Annahmen waren unter Wissenschaftlern sehr umstritten; heute werden sie kaum noch vertreten. Aus seinen Thesen entwickelte Pauling die ,orthomolekulare Medizin‘. Er gründete 1974 in Kalifornien ein ,Institut für orthomolekulare Medizin‘. Einer seiner Schüler und Mitarbeiter an diesem Institut war Matthias Rath, der auch heute noch diese Form der ,Heilkunde‘ anwendet. Matthias Rath selbst ist als umstrittener ,Vitamin-Guru‘ bekannt, v. a. durch seinen
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wurzel wird als gesundheitsfördernd vorgestellt, die in China als „Staatsschatz“ behandelt werde. Die Pharmaindustrie versuche nun, sich diese Mechanismen abzuschauen, sie industriell herzustellen und auszunutzen. Jede Verarbeitung natürlicher Produkte habe aber Nachteile für die Nährstoffaufnahme im Körper, so dass als Grundsatz gelten müsse, Lebensmittel so wenig wie möglich zuzubereiten. Das nächste Thema, das der Seminarleiter anspricht, ist Wasser. Er weist dabei auf die Forschung des Japaners Emoto hin, der gezeigt habe, dass Wasserqualität über Kristallstrukturen mikroskopisch darstellbar sei.811 In verdrecktem oder unbelebtem Wasser gingen die Kristallstrukturen kaputt. Dies könne auch durch „falsche Schwingungen“ ausgelöst werden, was in jedem Fall geschehe, wenn das Wassers durch mehr als 80 m Leitung geflossen sei. Allerdings könne die Kristallstruktur auch wiederhergestellt werden, z. B. durch Wasserfilter. Nun folgen einige Ausführungen über verschiedene Wasserfilter. Die Angaben von Wasserwerken, wonach in Deutschland das Leitungswasser eine sehr hohe Qualität habe, weist der Referent mit dem Hinweis zurück, diese Prüfungen unterlägen jeweils nur den zugelassenen Grenzwerten und hätten daher keinerlei Aussagekraft. Auf ihre Frage, welches Wasser denn dann gut sei, erhält F1 die Antwort: „Bleib einfach. Schau in die Natur. Das dortige Wasser hat keine zusätzlichen Inhaltsstoffe zur Entschlackung.“ Ein derartiges Wasser sei so sauber, „da kannst du zusehen, wie du damit Heilung erzeugen kannst, schon allein mit gutem Wasser“. Diese Effekte seien nicht nur bei Beschriftung, sondern auch schon bei „Benennung“ des Wassers zu beobachten. Wichtig sei aber, dass man mit seinen Aussagen auch wirklich das Wasser „meine“. „Die Absicht ist entscheidend.“ Als grundsätzliche Bemerkung ergänzt der Referent: „Wenn etwas sinnvoll ist, dann ist es auch erkennbar und hat einen Ursache-Wirkung-Zusammenhang.“ regen Verkauf von Vitaminprodukten, allerdings auch aus Medienberichten über umstrittene Heilungsversprechen und Patientenberatung (,Fall Dominik‘, ,AIDS-Lüge‘). Im Laufe des Tages wies der Referent mehrfach darauf hin, dass er selbst und seine Familie (natürliches!) Vitamin C zur Prävention anwendeten. Ganz am Ende des Seminars nannte er auf mehrfache Bitte von Teilnehmenden den Namen Dr. Rath als Bezugsquelle. 811 Masuru Emoto (1943-2014), japanischer Alternativmediziner mit Doktortitel der indischen ,International Open University‘. Seine These ist, dass Wasser ein Gedächtnis habe und Einflüsse von Gedanken und Gefühlen aufnehmen könne. Diese äußerten sich dann in der Kristallstruktur des Wassers. Für seine Experimente beschriftete er Flaschen mit Wasser mit unterschiedlichen Worten („Krieg“, „Hass“, „Liebe“, „Danke“ u. a.), gefror das Wasser und fotografierte es. Seiner Theorie zufolge bildete das Wasser in den Flaschen mit positiven Botschaften vollkommene, das in den Flaschen mit negativen Botschaften unvollkommene Kristalle aus.
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[…] Anschließend erklärt der Seminarleiter etwas über den Steinkreis, der auf ihrem Grundstück zu finden ist und den er selbst gebaut habe. In diesem „steige die Energie, je länger die Steine liegen“, denn diese müssten sich an einem neuen Standort erst neu ausrichten. Sie wären nach geomantischen Gesichtspunkten in einem bestimmten Rhythmus aufgestellt. Solche besonderen Energieorte, wie hier einer sei, gebe es immer wieder. Auch in Kirchen gebe es manchmal sehr gute Energien – manchmal seien sie aber auch dort ganz schlimm, „denn die Kirchen haben sich ja Vieles zuschulden kommen lassen“. Ein besonderes Beispiel sei der Kölner Dom. Dort gebe es eine Stelle am Altar, die ein solcher „besonderer Energiepunkt“ sei. Dies könnte man messen, wäre der Bereich nicht abgesperrt, um eben genau zu verhindern, dass diese Messungen oder eine andere Nutzung des „Energieortes“ vorgenommen würden. Hier vor Ort hätte er den Steinkreis abgesperrt, um die Menschen vor einer „Gefahr von zu starken Energien“ zu schützen. Sollte sich jemand dort hineinsetzen und etwa dort einschlafen, könne dies spürbare Folgen haben. Jeder Ort habe seine eigene Energie und seine eigenen „Informationen“. Aus diesem Grund sei es auch nicht gut, importiertes (Mineral-) Wasser zu trinken. Denn dieses Wasser habe – wie andere Lebensmittel auch – die „Informationen aus dem Landstrich, wo es herkommt. Und diese Informationen passen nicht zu uns.“ Aus dem gleichen Grund rät der Referent von Südfrüchten – besonders im Winter – ab, da diese die Informationen der Gegend und Jahreszeit gespeichert hätten, die eben nicht zum Winter in unseren Breiten passten. Nachdem er diese Punkte länger erklärt hat, offenbar aber bei den TeilnehmerInnen noch fragende Gesichter sieht, ergänzt der Seminarleiter als allgemeine Bemerkung: „Man kann nicht alles erklären, man muss sich da auf ein energetisches System einlassen. Man kann dann immer nur die Auswirkungen dessen sehen.“ Als Grundfragen zur Orientierung könnten gelten: „Wie war es früher? Wie ist es in der Natur zu sehen?“ Als weiteres Beispiel wird der Komplex Süßungsmittel behandelt. Zucker sei „die größte Droge der Welt“. Er benutze weder normalen Zucker noch Honig im Tee, sondern einen speziellen Zucker aus Indien, Sharkara812. Auf die Frage von 812 Diese Zuckerart wird aus Indien importiert. Grundstoff ist Rohrzucker, der in einem speziellen Verfahren verarbeitet wird. Dabei wird „nach ayurvedischer Tradition“, „in kleinen Familienbetrieben“, „unter Aufsicht ayurvedischer Experten“ gearbeitet, um die „Andersartigkeit“ des Zuckers zu gewährleisten, wie v. a. Menschen mit Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder Übersäuerung immer wieder bestätigen würden – so die Angaben der vertreibenden Website http://sharkara.de/das-original/. Aufgerufen am 3. Juni 2015.
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F1, was er von Stevia813 halte, verweist der Referent auf die lange Zulassungsgeschichte des Stoffes. Das lange Verbot und die jetzige Zulassung ließen sich nur dadurch erklären, dass die Pharmaindustrie die Zulassung so lange verhindert habe, bis sie entdeckte, dass Stevia Bluthochdruck erzeuge. Darum sei der Stoff nun zugelassen worden, um weitere Gewinne mit blutdrucksenkenden Medikamenten zu erzielen. Die weiteren Ausführungen zu Nahrungsmitteln sind in klaren Dichotomien strukturiert. Gut sind wie beim Wasser „Kristalle“, alles, was mit „Natur“ zu tun hat bzw. mit ihr im Einklang ist, die Ernährungsgewohnheiten von Tieren, Lein-, Hanf- und Kürbiskernöl im Gegensatz zu Olivenöl; schlecht ist das, was „übersäuert“ und was „Mainstream“ ist. Im Zusammenhang mit der Nahrung weist der Referent auch auf ein Sprichwort hin. Es hieße ja nicht umsonst „Schönheit kommt von der Base“814. Aasfresser dagegen seien hässliche Tiere, da sie die Säuren zu sich nähmen, die die anderen übrig ließen – dies ließe sich auch auf menschliche Fleischesser übertragen. Im weiteren werden noch einige Anekdoten etwa aus der Medien- und Filmbranche über Essgewohnheiten von Filmstars erzählt, die in der Regel nach basischen Gesichtspunkten funktionierten. Im Grunde ließe es sich auch auf Übersäuerung zurückführen, dass wir nicht so aussähen wie Hollywoodstars. Nach diesen Abzweigungen kommt der Referent wieder auf die eigentlichen Gesundheitsfragen zurück, bleibt jedoch beim Thema Übersäuerung. Wenn etwa jemand ein offenes Bein habe, so sei dies für den Körper die „letzte Stufe“, um hier die „Säure loszuwerden“. Wird das Bein nun durch eine schulmedizinische Behandlung geschlossen, komme es oft zum Herzinfarkt, da der Körper die Übersäuerung nicht anders lösen könne. Der Heilpraktiker hingegen lasse das Bein offen und „entsäuere“ erst einmal. Häufig sei bei Ärzten „Bewegung“ das Patentrezept für alle erdenklichen Krankheiten. Das sei im Prinzip auch gut, denn „Bewegung ist Leben“. Was aber sei mit dieser Verordnung bei einem kaputten Hüftgelenk? Nur wenn man dies hinterfrage, komme man „zur Wahrheit“. Das Immunsystem stoppe eine Übersäuerung, bevor es zu spät sei. Aber was geschehe mit der Säure, wo wir uns doch fast nur von Säure ernährten? Auch Bluthochdruck komme aus Übersäuerung. Ärzte dagegen sagten oft, sie wüssten nicht, was die Ursache dafür sei. Dies lie813 Stevia ist ein aus der Pflanze Stevia rebaudiana gewonnener Süßstoff, der seit 2011 in der EU als Süßungsmittel zugelassen ist. In den 2000er Jahren gab es zahlreiche Forschungen und Diskussionen im Blick auf die Verträglichkeit des Mittels und mögliche mutagene Wirkungen, Auswirkungen auf die Fertilität etc. 814 Gibt es dieses Sprichwort tatsächlich? Und ist es richtig zitiert – einschließlich der Bedeutung?
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ße nur den Schluss zu, dass die Ärzte „dumm oder kriminell“ seien. So spreche etwa Dr. Schnitzer von einem „Massenmord“, einem „kalten Genozid“, der an den Menschen betrieben werde, wenn ihnen das wirkliche Wissen über die Gesundheit verheimlicht werde.815 Dagegen sei alles „ganz einfach“, „zurückdrehbar“ und hinge miteinander zusammen – man müsse es nur verstehen. Wenn nun jemand ein kaputtes Hüftgelenk habe, so gehe die Heilung „wie alle Heilungsvarianten“ über basische Stoffe. Wenn der Körper nicht genug Mineralien oder Basen zur Verfügung habe, so nehme er sie zur „Reparatur“ aus anderen Körperbereichen. Ein Schnitt in der Hand werde dann beispielsweise mit Basen aus der Hüfte geheilt – so lange, bis das Hüftgelenk kaputt sei. Das nächste Thema, welches der Seminarleiter aufgreift, ist Milch. Grundsätzlich gelte, dass Milch „immer krank“ mache. Alle Tiere bekämen Milch nur direkt nach der Geburt, einzig der Mensch fange nach der Muttermilch an, eine andere, nämlich Kuhmilch, zu trinken. Da Milch nur Längen-, etwa bei Knochen aber kein Querwachstum fördere, ließe sich auf den hohen Milchkonsum die hohe Zahl der verordneten Zahnspangen zurückführen. Die Kinder des Seminarleiters selbst hätten nie Zahnspangen tragen müssen. Falls man nicht ganz auf Milchkonsum verzichten wolle, gelte die Regel: „Je mehr Fett in einem Milchprodukt, desto weniger schädlich“. Das Immunsystem schaffe es durchaus, die Milch „auszusortieren“, es ließen sich aber etwa 50 chronische Krankheiten auf Milchkonsum zurückführen. An diesem Punkt klinkt sich erneut F1 ein mit dem Kommentar: „Es ist so furchtbar, dass uns immer gesagt wurde, das wäre so gut.“ Als Antwort bestätigt der Referent seine Aussage, wir sollten nur Regionales essen, als Europäer auch keinen Tofu, als Japaner dafür viel Fisch und es gäbe auch Menschen, die nicht von Milch krank würden, nämlich Beduinen, die durchaus Kamelmilch trinken könnten. Das gelte aber nicht für uns. Die wichtigste Frage im Kontext der Hintergründe von Krankheit und Gesundheit sei die nach der Fortpflanzung. Die Fortpflanzung würde aus evolutionären Gesichtspunkten immer als erstes gesichert. Hingegen sei etwa die Hirnplatte für die Fortpflanzung nicht von Bedeutung, daher werde diese im Zweifelsfall „zuerst geopfert“. Hier wären aber biologisch Empathie oder Entscheidungsfähigkeit verortet. Es sei nachweisbar, dass bspw. Mörder oder Gewalttäter schlecht ernährt 815 Dr. Johann Georg Schnitzer, 1930 in Freiburg geboren, Zahnarzt. Nach eigenen Angaben befasst er sich mit den „Grundlagen natürlicher Gesundheit und Ursachen chronischer Zivilisationskrankheiten“. Als seine wichtigste Entdeckung bezeichnet er die „zivilisierte Urnahrung“, die auf der Bedeutung von frisch gemahlenem Getreide aufbaut. Damit seien v.a. chronische Krankheiten, Diabetes, Bluthochdruck etc. heilen. Autor zahlreicher Bücher. http://www.doc-schnitzer.de/index.htm, Aufgerufen am 5. Juni 2015.
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seien. Dazu habe es ein Experiment in einem Gefängnis gegeben. Demnach sinke das Gewaltpotential in einem Gefängnis nach entsprechender Ernährungsumstellung um 60%. Der Staat könnte also dadurch einfach und schnell die Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft senken. Für die Übersäuerung im Körper seien verschiedene Faktoren verantwortlich. Wenn etwa die weißen Blutkörperchen, die für den Abtransport von Abfällen im Körper zuständig seien, aufgrund der Ernährung zu träge würden, funktioniere der Abtransport nicht mehr, es lagere sich noch mehr Abfall an und die Blutkörperchen würden noch träger. Auch ein (zu) hoher Cholesterinspiegel sei Zeichen für eine Übersäuerung im Körper: „Wer einen hohen Cholesterinspiegel hat, hat etwas zu reparieren.“ Bevor man sich umstelle, solle man aber immer überlegen, welche schönen Dinge man sich gönnen will, denn die Umstellung solle „kein Verzicht“ werden. Ein zentrales Problem bei SchulmedizinerInnen und Personen der Pharmaindustrie sei, dass sie bei ihrer Problemanalyse „die Aura der Dinge“ vergäßen. Nur Nahrungsmittel, die „noch leben“ seien zum Essen geeignet, etwa ein Getreidekorn, das noch „sprießfähig“ sei und erst „direkt vor der Verarbeitung gemahlen“ werde. Bereits gemahlenes Mehl zu kaufen hieße dagegen, dass dieses Nahrungsmittel bereits „tot“ sei und seine wichtigsten Stoffe verloren habe. Nachgewiesen werde dies über „Aurakameras“, die in der Lage seien, die „Bioenergie zu fotografieren“. Die „Aura“ übertrage sich zu 100%, während die Nährstoffe in einem Nahrungsmittel immer nur zu gewissen Teilen vom Menschen aufgenommen werden könnten. „Die Aura der Möhre geht beim Essen in deine Aura über.“ Diese Regel gelte allerdings nicht für fleischliche Kost. Wie wichtig die „Aura“ für die Ernährung sei, zeige sich etwa auch darin, dass es Menschen gäbe, die gar nicht essen müssten. Eindeutige Beweise dafür wären geliefert worden, indem Menschen sich hätten einsperren lassen und dann von einer Kamera beobachtet wurden, während sie sich ausschließlich von Sonnenlicht ernährten. Auch man selbst würde nicht nur Lebensmittel zu sich nehmen, wie die Schulmedizin behaupte, sondern sich auch durch „Sonnenlicht, Aura und Schuhmann-Wellen“ ernähren. Dies seien ubiquitäre „statische Graviationswellen“. Mit ihrer Hilfe könnten auch „Handywellen ganz ohne Strahlung“ übertragen werden, wenn dies nicht wiederum verhindert würde. Die Mechanismen dafür seien jedoch alle bekannt. Wer aufrecht sitze, hätte die „Laopunkte“ direkt übereinander positioniert und könne so sehr viel Energie aufnehmen und geradezu „bunkern“. Auch wichtig sei, im Schrank Gläser und Tassen mit der Öffnung nach oben zu stellen, da sonst ein „Glockeneffekt“ eintrete, der die Gavitationswellen im Umkreis von vier Metern zerstöre. Jeder Schamane würde um verkehrt herum aufgestellte Gläser oder Tassen einen weiten Bogen machen mit der Begründung, hier hielten sich „böse Geister“ auf. Auf die Bemerkung von F2, das erkläre auch, warum die Großmütter
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früher oft ermahnt hätten, man solle gerade sitzen, nämlich wegen der Energie, bemerkt M1, dies hätte doch aber vor allem etwas mit der Entlastung der Wirbelsäule zu tun. Der Seminarleiter bekräftigt daraufhin die Aussage von F2, durch die Ergänzung, die „pure Energie“, die durch das Geradesitzen in einen hineinfließe, sei wichtiger als alles, was man esse. Das hätte man eben früher schon gewusst. Mit diesem Thema endet der Vormittag des Seminars. Für alle Teilnehmenden wird nun ein Mittagessen angeboten. Der Tisch wird abgeräumt und M3 und der Seminarleiter bringen aus dem Nebenraum Geschirr und Besteck für alle. Dann wird eine große Schüssel mit Salat auf den Tisch gestellt mit der Aufforderung, jeder möge sich bedienen – und wichtig sei, diesen Salat vor dem gekochten Essen zu essen. Der Salat enthält neben Rucola und Kopfsalat einige der Beobachterin unbekannte Kräuter- und Salatpflanzen, Tomaten, verschiedene Kerne, stark zerkleinerten Schafkäse und ein Dressing auf Öl-Basis. Auf die zahlreichen Anmerkungen der TeilnehmerInnen, wie gut der Salat schmecke, kommentiert der Seminarleiter zum einen den Schafkäse, der nur ausnahmsweise in den Salat komme und vor allem wegen der Geschmacksgewohnheiten der Gäste hinzugefügt worden sei, zum anderen betont er, dass das Dressing keinen Essig enthalten solle, da dieser wieder die Übersäuerung fördere. Während alle TeilnehmerInnen den Salat essen, wird von der Frau des Seminarleiters ein großer Kochtopf in den Raum gebracht. Der Seminarleiter weist darauf hin, dass dieses Essen, ein Gemüseeintopf, innerhalb einer halben Stunde gegessen sein müsse und nicht noch einmal aufgewärmt werden dürfe, da es sonst seine „Energie und Lebendigkeit“ verliere. Zudem dürften die Lebensmittel nicht zu heiß gekocht werden. „Über 150° ist alles kaputt.“ Während des Essens kommt auch die etwa 13-, 14-jährige Tochter des Seminarleiters herein und nimmt sich Essen aus dem Topf. Sie kommt am Nachmittag während des Seminars noch einmal in den Raum, nimmt sich etwas zum Anziehen aus dem Apothekerschrank und zeigt ihrem Vater eine externe Festplatte mit der Frage, ob sie sich diese ausleihen dürfe. Nach dem Essen fragt der Seminarleiter, ob er noch einmal einen Tee machen soll. Die Teilnehmenden nicken und M1 fragt, ob es dieses Mal vielleicht eine andere Sorte sein könnte. Der Seminarleiter lehnt diese Bitte ab mit der Begründung, dies wäre eine sehr milde Zusammenstellung, die anderen Kräutertees, die er habe, hätten zu starke Wirkungen. Der Nachmittag beginnt mit der Frage des Referenten: „Wie können wir heilmethodisch vorgehen?“ Die schlechten Dinge kämen aus dem Körper durch Ausscheidungen wie Stuhlgang, Urin oder über die Haut, z. B. durch Schwitzen in der Sauna oder bei Fieber. Besser als Sauna wäre aber das Schwitzen bei der Arbeit, da hier tatsächlich Dreck den Körper verlasse und nicht die Mineralien. Statt-
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dessen könne man auch kalt duschen, dies ziehe die Säure an die Hautoberfläche. Auf die Frage eines Teilnehmers, ob es gesünder sei, eine Infrarot-Sauna816 zu besuchen, antwortet der Referent: „Damit kenne ich mich nicht gut genug aus. Aber mit Strahlung würde ich insgesamt ganz vorsichtig sein.“ Wichtig für eine Heilung sei der Vorgang des Säure-Abbaus über die Leber. Säure, die nicht über die Leber abgebaut werden könne, verbleibe im Blut. Daher sei es gut, viel zu trinken, um die „Säure im Blut zu verdünnen“ und die Aufnahme- und Ausleitfähigkeit des Körpers zu erhöhen. Ungeeignet seien Mineralwässer, besonders solche mit Kohlensäure, aber auch Kaffee, da dieser viel Säure erzeuge. Dazu kommentiert der Seminarleiter: „Im Internet gibt es jetzt schon wieder Seiten, die behaupten, dass das nicht stimmt.“ Diese legten aber „falsche Berechnungen“ zugrunde. Auch Tee sei sehr ungünstig, sofern es sich nicht um besonderen basischen Tee handle, da Tee die abgelagerten Mineralien löse und damit ebenfalls wieder Säuren produziere. Wirklich geeignet sei zum Trinken daher nur stilles Wasser. Wenn die Säuren auch über die Haut abgebaut werden könnten, wäre ja nachvollziehbar, dass diese sich vor allem direkt unter der Haut ablagerten, um dann über die Hautoberfläche ausgeleitet werden zu können. Daher sei auch verständlich, warum an der Hautoberfläche ein pH-Wert von 5,5 gemessen würde, während das Blut im Körper einen Wert von 7,35 habe. Im Gegensatz zur Behauptung der Schulmedizin habe dieser Wert nichts mit einem „Säureschutzmantel“ der Haut zu tun. Es sei daher schlecht, Cremes zu verwenden, da diese in der Regel sauer seien und, wenn sie in die Haut einzögen, die Säuren wieder zurück in den Körper transportierten. Das lindere zwar vorübergehend die Beschwerden auf der Haut, behalte aber letztlich „die Säure und den Abfall im Körper“. Verwende man dagegen eine basische Creme, verschlimmerten sich vorerst die Symptome, die Basen in der Creme zögen aber letztlich die Säuren und den Dreck aus dem Körper heraus. Daher, so der Seminarleiter, seien „Hautärzte die schlimmsten Verbrecher“. Er selbst habe zu Beginn seines „Ausleitungsprozesses“ sieben Monate lang in der Wanne geschlafen. „Da könnt ihr mal sehen, wie viel Dreck in eurem Körper ist, bevor etwas erreicht wird. Ist doch kein Wunder, dass man Krebs bekommt!“ Besonders hilfreich zur Entsäuerung wären, so wie er es angewandt habe, „basische Bäder“. Dies sei der Hauptpfeiler des Konzeptes, welches er hier vertrete. Beim basischen Bad gelte: „Je länger, desto besser.“ Der Körper neutralisiere Säure über die Haut, so dass zur Neutralisation Badewasser genutzt werden könne. 816 Infrarotwärmekabinen werden als Alternative zur klassischen finnischen Sauna angeboten. Sie werden über Infrarot-Strahlung beheizt, sind mit um die 50° C deutlich kühler als klassische Saunen, so dass sie für längere Anwendungen verwendet werden, und sollen bei der Entschlackung helfen.
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Eine weitere Möglichkeit, Basen für die Neutralisierung des Körpers zu gewinnen, sei über Meditation. Hierbei gelangten Basen aus dem Licht ins Blut. „Im Licht ist alles drin, was wir brauchen, Vitamine, Mineralien.“ Alles in der Welt sei „Energie“. Es gebe keine „Materie“. Die Dinge, die wir sehen könnten, wären „langsam schwingende Energie“. Experimente hätten bewiesen, dass man durch die Beschleunigung von Schwingungen Dinge zum Verschwinden bringen könne. Da die meisten Menschen nicht genug Basen von außen aufnähmen, würden die körpereigenen Basen zur Neutralisation genutzt, so dass ein Mangel entstünde und so letztlich Krankheiten. Für jede Person bestehe daher die Aufgabe, sich „ein Konzept zu bauen, dass dich glücklich macht“. Wenn man also einen Salat zubereitet hat, der einen „sehr glücklich macht und der sehr basisch ist“, dann dürfe man auch mal „etwas Käse“ dazu essen. Nächster Themenkomplex des Vortrags ist Geburt. Eine wichtige Grundvoraussetzung für das Verständnis sei das Wissen darum, dass sich der Stoffwechsel von Mann und Frau unterscheide – jedoch nur während der Jahre, in denen Frauen ihre Menstruation hätten. Über diese nämlich würden Säuren ausgeleitet, daher auch die Bezeichnung als „unreine Tage“. Es werde die Menstruation auch als „Gnade Gottes“ bezeichnet, da an diesen Tagen „nicht nur Blut, sondern Dreck“ aus dem Körper geleitet werde. Ein Kind bestehe bei seiner Geburt „aus Wasser und Basen“. Auch das Fruchtwasser sei stark basisch, was den Brauch erkläre, dass Hebammen sich mit diesem Wasser früher das Gesicht abgewaschen hätten. Heute dagegen sei das Fruchtwasser „grün und dreckig“, was auf die schlechte Ernährung der Frauen zurückzuführen sei. Auch alle weiteren Beschwerden, die in der Schwangerschaft aufträten, könne man auf Fehlernährung zurückführen. Wo „alte Tipps und altes Wissen“ nicht mehr beachtet würden, käme es zu schlechten Entwicklungen. Das Fruchtwasser und die Haut des Babys hätten einen pH-Wert von 8,5. Während der Wert bei „Völkern, die sich besser ernähren“, oft noch höher wäre, würde bei uns bereits zur Erreichung dieses Wertes „in den Mineralien der Frau geklaut“. An verschiedenen Stellen des Vortrags streut der Referent immer wieder Tipps ein, die die Umsetzung seines Konzepts unterstützen sollen. So weist er etwa darauf hin, dass es nicht gut wäre, Zahnpasta zu benutzen. Stattdessen nutzten er und seine Familie das basische Salz, das auch zum Baden verwendet werde und einen ayurvedischen Zungenkratzer. Besonders schlimm seien Zahnpasten mit Fluor. Fluoride seien „hochgradige Gifte“. Auch würde die Familie kein „normales Salz“ verwenden, welches häufig ebenfalls mit Fluor und Jod versetzt wäre. Stattdessen verwendeten sie nur ein bestimmtes Steinsalz. Auf die Frage von M1, wie es sich mit Meersalz verhalte, von welchem er gehört hätte, es solle gut sein, antwortet der Seminarleiter, dieses solle man nur verwenden, wenn man sicher sein könnte,
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dass es „aus alten Lagern“ stamme und nicht heute gewonnen würde – „so viel Dreck, wie heute im Meer ist“. Zurückkehrend zum Thema Geburt führt der Referent nun weitere Krankheiten und auch Fehlgeburten aus. Diese seien „kein Zufall“, sondern kämen dadurch zustande, dass „die Frau schon zu sauer“ wäre. Bei späteren Fehlgeburten, also solchen nach dem fünften Monat, hätte „sich das System verschätzt“. Auch Gestose817 oder Neurodermitis, die heute weit verbreitet wären, seien auf die schlechte Ernährung und die Säure zurückzuführen und ließen sich eben mit dem hier vorgestellten Ansatz einfach beheben. Krankheiten, die das Baby bekäme, seien von der Mutter übertragen, denn „woher sonst sollten sie kommen, da das Kind nur aus Wasser und Basen“ bestehe. Wenn man sich richtig ernähre, könne man auch auf die vielen pränatalen Untersuchungen wie Ultraschall etc. verzichten, die wiederum schädlich für das Kind seien. Darüber würden jedoch die Patientinnen nicht aufgeklärt. Ärzte seien dafür da, „Leben zu retten und zu operieren, nicht zum Heilen“. Die basischen Bäder seien eine „Geheimwaffe“, die jeder einsetzen könnte. Klar zu schlussfolgern sei auch, dass, wenn eine Frau ein krankes oder behindertes Kind bekommen habe, als nächstes ein gesundes Kind folge. Dies könne man mithilfe von Statistiken überprüfen. Dies sei logisch, „weil die Frau nun sauber ist“. „Alles ist im ersten Kind entsorgt worden.“ Kritisch sieht der Referent auch die Verwendung von Verhütungsmitteln, sowohl Spirale als auch Pille. Viel „natürlicher und sicherer“ sei die Verhütung über Astrologie und die damit zusammenhängenden Berechnungen. „Dies braucht alles keine Schlussfolgerungen, es ist so.“ Nachdem nun die als Seminarende angekündigte Zeit bereits weit überschritten ist, zeigen einige TeilnehmerInnen Ermüdungserscheinungen. M2 legt sich, wie schon im Laufe des Nachmittags einmal, auf den Fußboden hinter seinem Stuhl. Auch die anderen TeilnehmerInnen wechseln häufiger ihre Sitzpositionen und scheinen sich auf das Ende des Seminars einzustellen. Dies zeigt sich auch darin, dass sich vor allem F1, F2 und M3 zunehmend mit Fragen einklinken und zu konkreten Punkten konkrete Antworten erbitten, so etwa bei Fragen nach den Firmen und Namen, über die der Referent und seine Familie Salz, Badezusätze, Tees oder Vitamin C beziehen. Der Seminarleiter selbst nutzt jedoch auch nach den Fragen und zum Teil konkreten Antworten immer wieder jede Gelegenheit für weitere Ergänzungen und Assoziationen. So führt er etwa noch einmal mit ausführlicher Begründung aus, warum der Mensch „eigentlich Veganer“ sei. Neben der Begründung, dies ließe sich über die Länge des Darms herleiten, zieht der Kursleiter auch die Bibel heran. In der „Urbibel“, die „bis zum dritten Konzil“ 817 Sammelbegriff für schwangerschaftsbedingte Krankheiten mit weitgehend unbekannter Ursache.
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gegolten habe und verbreitet gewesen sei, habe es in den Geboten noch geheißen, man soll „weder Mensch noch Tier töten“. Im dritten Konzil wurde dann das Tier aus diesem Gebot herausgestrichen. Es habe aber zu allen Zeiten Menschen gegeben, die dies noch wussten. Interessant sei auch das Verhältnis von Menschen zum Alkohol. Während Priester bekanntermaßen den Zusammenhang von Blut Jesu und Abendmahl konstruiert hätten, um auch in der Messe noch Wein trinken zu können, wäre Jesus selbst Essener gewesen und daher strikter Antialkoholiker. Es folgen weitere Ausführungen, die sich auch auf die Fragen der TeilnehmerInnen beziehen, jedoch auch immer wieder die Grundsätze des Vortrags wiederholen wie die Aussage, alles, was uns vorgeführt werde, seien „Lügen und Verfälschungen“, zur „Wahrheit“ komme man „durch eigenes Nachdenken“. Auch zum Verhältnis von Schulmedizin zu Homöopathie wird noch einmal bekräftigt, dass Schulmediziner Homöopathie grundsätzlich in einer Weise anwendeten, die nur in einigen Fällen zum Erfolg führe. Aufgrund dieser Erfahrung gingen die Patienten dann bei „richtigen Krankheiten“ schließlich doch zum schulmedizinisch behandelnden Arzt. Ohne dass der Referent das Seminar erkenntlich beendet hat, ergibt sich ein Übergang in Einzelfragen und -gespräche mit dem Referenten. Einige TeilnehmerInnen wollen aufbrechen. Bevor die Ersten gehen, wird noch gebeten, die Seminargebühr in eine große goldene Schale, die auf einer Kommode steht, zu legen. Es folgen Verabschiedung und Dank einiger und weitere Gespräche anderer TeilnehmerInnen. Tagung Medizin und Spiritualität (V3T) Die Veranstaltung wurde durch Flyer, Newsletter und via Internet angekündigt. Thema soll das Verhältnis von Spiritualität und Medizin sein und die Frage, was unter Heilung zu verstehen sei. Im Ankündigungstext für die mehrtägige Veranstaltung heißt es, „gemeinsam“ gehe man „auf die Suche“ nach Verbindungen von „moderner Medizin“ und „geistig-spirituellem Wirkungsfeld“ und wie diese Verbindung „heilsam sein“ könne. Dazu werde es Vorträge und Workshops geben, „Erfahrungen und Denkansätze“ sollten vermittelt werden. Eingeladen seien Personen, die ihren „individuellen Weg zu Gesundung und Heilung“ suchten, „kranke und gesunde Menschen, Betroffene und Angehörige, Fachkräfte und Laien“. Durchgeführt wurde die Tagung von einer Gruppe, die sich als Gemeinschaft um eine spirituelle Lehrerin gesammelt hat. Die Räumlichkeiten, in denen die Veranstaltung stattfand, gehören der Gemeinschaft. Eine Gruppe von ca. zehn Gemeinschaftsmitgliedern hatte die Veranstaltung vorbereitet und war für die Leitung und Durchführung der einzelnen Teilbereiche und der Gesamtveranstaltung verantwortlich, weitere ca. zehn Personen waren an der Durchführung einzelner
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Workshops oder in ähnlicher Weise beteiligt. Einige der Gemeinschaftsmitglieder gehörten insofern zu einem engeren Kreis, als sie auch auf dem Gelände wohnten und z. T. auch arbeiteten, andere wohnten nur dort, arbeiteten aber bei auswärtigen Arbeitgebern, weitere Personen gehörten zur Gemeinschaft, wohnten und arbeiteten aber in anderen Städten und kamen nur jeweils zu bestimmten Veranstaltungen oder zu den von der Gemeinschaft und durch die Leiterin angebotenen Heilausbildungen an den Veranstaltungsort. Ort der Veranstaltung ist das große Gelände der Gemeinschaft am Rand einer Großstadt auf einem ehemaligen Fabrikareal. Neben drei alten, renovierten Backstein-Gebäuden gibt es einen großen, zweistöckigen Neubau und eine Wohnsiedlung mit ca. 100 Wohneinheiten. Zudem ist das Gelände durch Wiese, Gärten und einen z. T. alten Baumbestand geprägt und parkartig angelegt. Die Eröffnung der Veranstaltung findet im zentralen Neubau auf dem Gelände statt. Der moderne Eingangsbereich erinnert mit seinem Tresen auf der rechten Seite, dem großzügigen Foyer und großen Fenstern an ein Hotel oder Tagungsgebäude. Eine Garderobe befindet sich im Keller. Der zentrale Tagungsraum ist für etwa 200 Personen bestuhlt. Der Raum ist achteckig und sehr hell, da alle Seitenwände außer der Wand mit der Eingangstür, von jeweils einem bodentiefen Fenster durchbrochen sind. Vor dem Fenster, das dem Eingang gegenüber liegt und in dessen Richtung die Stühle ausgerichtet sind, steht ein hoher Kerzenleuchter mit einer dicken Kerze, die während der ganzen Veranstaltungen brennt. Daneben steht eine große Vase mit frischen Blumen. In diesem vorderen Bereich steht zudem ein Rednerpult und es ist Mikrofon-Technik aufgebaut. Der Raum ist sehr gut gefüllt, auch die an den Wänden stehenden Bänke sind zusätzlich zu den Stühlen besetzt. Die OrganisatorInnen sitzen erkenntlich in der ersten Reihe. Die soziodemografische Struktur der Teilnehmenden verteilt sich etwa wie folgt: ca. 90% der ZuhörerInnen sind weiblich, 10% männlich. Etwa 20% sind unter 50 Jahren alt, ca. 80% sind 50 Jahre und älter. Von den rund 200 TeilnehmerInnen hatte etwa ein Viertel bisher noch keinen Kontakt zu der Gemeinschaft oder dem Haus, in dem die Veranstaltung stattfindet, etwa Dreiviertel sind zumindest etwas bekannt – sie haben schon einmal oder meist öfter an Veranstaltungen der Gemeinschaft teilgenommen, haben hier eine Heilausbildung absolviert bzw. befinden sich in einer solchen Ausbildung oder sind Mitglieder der Gemeinschaft, wobei dabei eine im oben beschriebenen Sinne abgestufte Nähe zur Gemeinschaft besteht. Die meisten Teilnehmerinnen haben graues, nicht gefärbtes Haar, tragen weite Kleidung in bunten Farben. Viele gehen barfuß. […]
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Da der Raum beim Eintreffen der Beobachterin schon sehr gut gefüllt ist, nimmt die Beobachterin einen Platz an der Seite recht weit vorne auf einer der vor den Fenstern stehenden Bänken ein. Die Veranstaltung wird durch zwei Moderatoren eröffnet, die sich zu Beginn namentlich und mit ihren Berufsbezeichnungen vorstellen. Wie dem Programm zu entnehmen ist, sind beide, ein Arzt und ein Biochemiker, promoviert. Sie begrüßen zur Tagung und bedanken sich bei allen, die sich an der Planung und Vorbereitung beteiligt haben. Dabei bezeichnen sie das Vorbereitungs- und Planungsteam als „vielfarbigen Organismus“. Sie weisen auf die Besonderheit des Raumes hin, in dem die Tagung stattfindet. Der Neubau sei stark durch Symbolik geprägt. Die Grundstruktur des Hauses bildet ein Kreuz mit gleichlangen Seiten, das durch die Moderatoren als „Heilerkreuz“ bezeichnet wird. Die Wände sind in diesem Teil des Hauses grün gestrichen als „Symbol für Heilung und Liebe“. Der Tagungsraum schließt sich an den kreuzförmigem Grundriss an und hat einen achteckigen Grundriss, welcher als „Symbol für Weisheit“ gedeutet wird. Neben den Räumlichkeiten wird in der Eröffnung ein Überblick auf den Inhalt der Tagung gegeben. Nach dieser Einleitung wird die Leiterin der Gemeinschaft angekündigt, „unsere spirituelle Lehrerin auf unserem Weg zu Liebe und Heilung“. Sie werde nun die Tagung durch eine angeleitete gemeinsame Chakrenmeditation inhaltlich eröffnen. Beide Moderatoren sprechen von der Leiterin in ehrfürchtiger Weise, die TeilnehmerInnen blicken sie, offenbar in der ersten Reihe am Mittelgang sitzend, erwartungsvoll an. Nach der Ankündigung durch den Moderator steht eine ältere, große, kraftvoll wirkende Frau auf. Sie trägt eine weite, lange Tunika-Bluse in schwarz-weiß, graues Haar und eine schwarze, große Brille. Ihr wird von einem der Moderatoren ein Stuhl zentral in der Verlängerung des Mittelgangs mit Blickrichtung zu den TeilnehmerInnen bereit gestellt. Als ein kleines Mikrofon an ihrer Bluse befestigt werden soll, ist ihr das offensichtlich unangenehm, sie lässt es aber geschehen. Sie stellt sich vor den Stuhl, blickt in das große Publikum. Die TeilnehmerInnen reagieren sofort, indem sie ihre Schreibunterlagen beiseite legen und sich in eine aufrechte, gespannte Haltung setzen. Der Ablauf scheint bekannt zu sein, denn die TeilnehmerInnen reagieren ohne Aufforderung allein auf die Haltung der Lehrerin. Bevor die Lehrerin beginnt, sagt sie: „Moment, ich stehe noch nicht richtig.“ Sie stellt noch einmal beide Füße etwas anders auf. Als sie gut zu stehen scheint, hält sie inne, legt die Hände vor der Brust zusammen, wartet einige Zeit und verbeugt sich. Dann sagt sie „Danke“ und setzt sich hin. „Meine Seele ist fröhlich, sie springt vor Freude, mein Herz ist offen“, beginnt die Leiterin. Sie freue sich sehr über das Zustandekommen dieser Veranstaltung. Es sei wichtig, sich an das „anzubinden“, was „Leben, Körper, Schöpfung“ sei. Dabei werde deutlich, „dass wir alle das Gleiche suchen“. Medizin, Religion und Naturwissenschaften
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seinen in einer Veränderungsphase. Es gehe darum, die Welt friedlicher zu machen und einen „spirituellen Bewusstseinsweg“ zu finden. Gemeinsame Aufgabe sei es, mit allen, die auf der Suche seien, ein „kollektives Bewusstsein“ und eine „liebevolle, klare Haltung“ zu entwickeln. Nach diesen einleitenden Worten beginnt die „Chakrenmeditation“. Eingeleitet wird sie durch die Aufforderung, sich auf den eigenen Atem zu konzentrieren. Nachdem die TeilnehmerInnen sich einige Minuten auf das Ein- und Ausatmen konzentriert haben, beginnt eine inhaltlich angeleitete Meditation der sieben Chakren818. Die Struktur dieser Meditation ist für jedes meditierte Chakra zweigeteilt: Während die TeilnehmerInnen zuerst aufgefordert werden, sich auf ein Chakra zu konzentrieren und die Leiterin beschreibt, an welcher Stelle des Körpers dieses Chakra zu spüren sei, erfolgt dann eine Meditation dieses Chakras durch eine Beschreibung von Eigenschaften, die diesem Chakra zugeschrieben werden und mit anschließender Stille. Nach dem Abschluss der Meditation hebt die Lehrerin noch einmal hervor, wie gut und hilfreich die Chakren und die Meditation seien. „Chakren sind etwas sehr Wunderbares für uns.“ Diese Meditationen dienten dazu, das allgemeine Wohl und das Persönliche zu verbinden, zu üben und anzuregen. Zudem werde darin sehr einfach „das Lebenswürdige“ geübt. Denn es habe auch „Unaufmerksamkeit eine Wirkung auf unser Energiesystem“. Nachdem die Lehrerin diesen Teil der Veranstaltung beendet hat, setzt sie sich wieder in die erste Reihe und ihr Stuhl wird aus dem Zentrum geräumt. Nun schließt sich der erste Vortrag an, der von einem Ehepaar aus Süddeutschland gemeinsam gehalten wird. Der Mann stellt sich als Arzt und Homöopath vor, zudem sei er in verschiedenen Kontexten zu „Achtsamkeitstraining“ involviert. Seine Frau bezeichnet sich als Craniosakral-Lehrerin. Thema ihres Vortrags ist „Die globale Perspektive der Medizin“. Ausgangspunkt ihrer Darstellung ist die Geschichte einer schulmedizinischen Behandlung mit negativem Verlauf, bei der „jemand mit einem größeren Horizont“ gefehlt habe. Aus dieser Erfahrung heraus wurde der Referent selbst „ganzheitlicher Mediziner und homöopathischer Arzt“. Dabei leitend sei für ihn die Erkenntnis und die Erschütterung durch die immer wieder erlebte „Tatsache“ gewesen: „nicht nur einzelne Menschen sind krank, 818 Aus dem Hinduismus stammende Vorstellung von sog. Energiepunkten, die sich entlang des menschlichen Körpers befinden. Die Punkte – von denen jeder Mensch je nach Lehre sieben oder weniger besitzt – werden durch Energiebahnen im Körper verbunden. Ähnliche Lehren sind auch aus anderen Kulturen, zum Beispiel indianischen, bekannt. Durch Yoga, Qigong oder andere Praktiken soll es möglich sein, über diese Punkte sog. innere Blockaden aufzulösen, Menschen zu harmonisieren und zu heilen.
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sondern wir alle sind krank – auch die Welt“. Zu dieser Erkenntnis präsentieren die Vortragenden belegende „Fakten“: Bedrohung der Regenwälder, Wasser- und Luftverschmutzung, Massentierhaltung, Nutzung fossiler Energieträger etc. Es gäbe zwar einige Menschen wie „einen Schweizer Professor“, die versuchten, etwas zu verändern, auf deren Vorschläge werde aber nicht gehört. Dennoch: „Wir alle wissen das irgendwie.“ Die Diagnose sei somit bekannt. Die zentrale Frage sei aber: „Welche Diagnose hilft mir zu helfen?“ Als eine mögliche Antwort auf diese Fragen wird eine Schutz- und Kooperationsorganisation vorgestellt, durch Personen „aus dem Westen“ gegründet, die vom Leben eines Ureinwohner-Volkes im Regenwald von Ecuador und Peru „ganz inspiriert gewesen“ seien. Durch die Begegnung mit den Ureinwohnern hätten sie erkannt, dass das „Grundproblem“ der Welt die Differenz von Mensch und Natur sei sowie die mangelnde Bereitschaft, der Natur ihre Rechte zuzugestehen. Die westliche Weltsicht gleiche einer „Trance“, in der unbewusste, nicht hinterfragte Annahmen leitend seien. Eine dieser Annahmen sei die Vorstellung: „Wir sind getrennt“. Diese sei eine Folge der Wissenschaft als Trennung des Lebens in Einzelbereiche. Daraus entstünde eine Vielzahl an Folgeproblemen. Die Lösung hierfür wären ein holistischer Ansatz und ein „Antimaterialismus“. Dies zeige sich auch in verschiedenen Traditionen, etwa der buddhistischen Tradition, die annehme, dass „alles zusammengehört“ oder der indianischen, die in dem Bewusstsein lebe, „wir alle sind mit allem verwandt“. Zur Zeit gebe es eine Veränderung, es entstehe eine „neue Kulturgeschichte“, die, von der Wissenschaft gestützt, die Welt verändere. Wie die Personen dieser Initiative seien auch die Referenten davon überzeugt, dass es darum gehe, „auf persönlicher und kollektiver Ebene in Beziehung“ zu treten. Darüber entstehe auch Heilung, denn „alles, was der Verbundenheit dient, ist Heilung“. Die Referenten seien schon durch das „Hier-sein“ „ganz beschenkt“ und hätten große Hoffnung für eine Veränderung. Auch Dankbarkeit spiele im Heilungsprozess eine wichtige Rolle. Um dies zu untermauern, berichten die Referierenden über eine Patientin, die nach langem Krankenhausaufenthalt so dankbar war über ihr nach Hause kommen, das sie gesund wurde. So stellen die Referenten die Frage: „Kann Dankbarkeit heilen?“ Das Herangehen der westlichen Medizin wäre ein „zielgerichtetes Handeln“, ein „absichtliches Hervorrufen von Reaktionen“. Die indianische Medizin und religiöse Traditionen würden dagegen anstreben, einen „höheren Bewusstseinszustand“ zu erreichen und „dann wird Heilung oft geschenkt“. Bestätigt werde diese Herangehensweise auch durch die „neueste Hirnforschung“, die „Neurowissenschaf-
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ten“, wie etwa die Forschung von Prof. Tania Singer819 zum Nachweis darüber, wo Dankbarkeit, Mitgefühl und Liebe im menschlichen Körper zu verorten seien und wie sie trainiert werden könnten. Singer habe, „mit der ganzen Autorität des MaxPlanck-Instituts“ „beweisen“ können, dass durch Meditation, die Dankbarkeit und einen höheren Bewusstseinszustand fördere, Hirnregionen aktiviert würden, die auch für Krankheit und Gesundheit zuständig seien. Auch die Experimente mit dem Benediktinermönch David Steindl-Rast hätten gezeigt, dass Empfindungen wie Mitgefühl, Dankbarkeit oder Achtsamkeit erlernt werden könnten, indem eine bestimmte „Haltung für das Leben“ eingenommen, eine entsprechende „Brille“ aufgesetzt und diese Haltung etwa durch Meditation trainiert werde. Der untersuchte Mönch wird von den Referenten mit dem zentralen Satz zitiert: „Es ist nicht Glück, dass uns dankbar macht, sondern Dankbarkeit, die uns glücklich macht.“ Auch ein Bibelvers wird von den Referierenden dazu zitiert: „Glaubt, dass ihr empfangen habt und es wird euch gegeben.“820 Auch in der (Schul-)Medizin werde Dankbarkeit zunehmend sichtbar (gemacht) als wesentlicher Heilungsfaktor. Als Beispiel für den großen Einfluss von positiven Gefühlen und Gedanken erzählen die Referenten von einem westlichen Besucher im Regenwald: Der Reisende hatte große Angst davor, an Malaria zu erkranken. Zugleich wollte er unbedingt an einem Ritual von Ureinwohnern teilnehmen, das tief im Regenwald stattfand. Da er überzeugt war, sich in einer „bewusstseinschaffenden göttlichen Matrix“ zu befinden, war er sich auch sicher, dass, was gedacht wird, auch geschehe: „Wenn ich weiter an die Malaria denke, werde ich sie bekommen“, war er überzeugt. Da aber das Interesse an dem Ritual überwog, fasste er den Entschluss, den Gedanken an die Malaria keinen Raum zu geben und „ich wusste, ich bekomme keine Malaria“. Solche bewussten Gedanken, so die Referenten, könnten erstaunliche Wirkungen haben. Insgesamt sei Dankbarkeit „die einfachste spirituelle Bewegung“. Im Anschluss an diese Ausführungen fordern die ReferentInnen die ZuhörerInnen auf, eine Dankbarkeitsübung zu machen. Hierfür sollen die Anwesenden jeweils paarweise sich einige Minuten darüber austauschen, wofür sie dankbar sind.
819 Tania Singer, *1969, ist Neurowissenschaftlerin und Psychologin. Sie ist Direktorin am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Ihr Forschungsschwerpunkt sind Soziale Neurowissenschaften, darunter die Erforschung von Mitgefühl, Empathie, sozialem Verstehen und Verhalten. Vgl. http://www.cbs. mpg.de/abteilungen/soziale-neurowissenschaft/forschungsschwerpunkte. Aufgerufen am 27. August 2018. 820 Gemeint ist möglicherweise: Mt 21,22: „Und alles, was ihr bittet im Gebet: so ihr glaubt, werdet ihr‘s empfangen.“
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An die Übung schließt sich die Möglichkeit für Fragen oder Anmerkungen an. Es folgen zahlreiche positive Rückmeldungen und Danksagungen von Seiten der ZuhörerInnen. Abschließend weisen die ReferentInnen noch einmal darauf hin, dass es ihrer Einschätzung nach eine immer enger werdende Verbindung zwischen „Erde und Himmel, Materialismus und Spiritualität“ bzw. auch zwischen „Wissenschaft und Spiritualität“ gebe. Dies resultiere aus einer „neuen Haltung der Verbundenheit“. Nach Abschluss dieses Vortrags wird für alle TeilnehmerInnen sowie für die BewohnerInnen der Siedlung ein gemeinsames Mittagessen angeboten. Das Essen ist vegetarisch. Alle sitzen an langen Tafeln. Hier ergibt sich auch die Gelegenheit für die Beobachterin, mit anderen Teilnehmenden ins Gespräch zu kommen. Deutlich wird dabei, dass die große Mehrheit sich kennt bzw. schon an einer oder mehreren Veranstaltungen am Ort teilgenommen hat. M1 gehört bspw. zum engeren Kreis der Gemeinschaft. Er ist etwa 60 Jahre alt und lebt schon länger in der Gemeinschaft und auf dem Gelände der Siedlung. Er habe eine Ausbildung bei einer Bank absolviert, danach ein Studium an einer theologisch-pädagogischen Hochschule mit dem Ziel, Pfarrer oder Missionar zu werden. Danach habe er sich aber für den Bereich Beratung/Coaching entschieden. Er bezeichnet sich selbst als „spirituell offen“. Das sei es auch, was er an dieser Gemeinschaft, etwa gegenüber der Kirche, besonders schätze: Es gäbe hier kein „Korsett“, alles sei möglich, alles sei positiv und freiwillig, man könnte alles frei wählen und werde nicht festgelegt. Das habe ihn so überzeugt, dass er gemeinsam mit seiner Frau hier lebe. Auch F1 gehört mit ihrer Familie zum engeren Kreis der Gemeinschaft. Sie wohnt seit etwa zwei Jahren in der Siedlung. Sie ist ca. Ende 20, Anfang 30 und hat ihren Zugang zur Gemeinschaft über das Geburtshaus gefunden, das von der Gemeinschaft betrieben wird. In diesem hat sie eines ihrer Kinder zur Welt gebracht und sei dabei von der Begleitung und inhaltlichen Ausrichtung der Gemeinschaft so überzeugt worden, dass sie in die Siedlung gezogen sei. F2 wohnt nicht in der Siedlung, war aber schon häufiger bei Veranstaltungen des Hauses. Sie ist begeistert und fasziniert von der Lehrerin und Leiterin der Gemeinschaft, ihren Ideen und ihrer Weisheit. Sie komme immer wieder zu den Angeboten und denke auch darüber nach, an einer der angebotenen Ausbildungen hier in der Gemeinschaft teilzunehmen. F3 wohnt ebenfalls in einer anderen Stadt, ist aber schon häufiger bei Veranstaltungen der Gemeinschaft gewesen. Sie selbst ist Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Seit mehreren Jahren durchläuft sie das Ausbildungssystem unter der Leitung der Lehrerin und absolviert die mehrstufige Heil(ungs)-Ausbildung nach der Methode, die durch die spirituelle Lehrerin in der Kombination aus Elemen-
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ten verschiedener traditioneller Heilweisen und spiritueller Traditionen entwickelt worden ist. F3 kommt aus einer katholischen Tradition. Thema des Vortrags nach der Mittagspause ist ein Anamnese-Instrumentarium, welches von der Gemeinschaft entwickelt wurde und hier durch einen Psychotherapeuten und einen Arzt vorgestellt wird. Grundlage dieser Anamnese-Methode sei die „Lehre von Chakren und Auren“. Dadurch eröffne sie einen „Zugang zum ganzen Menschen“. Über diesen „ganzheitlichen“ Zugang werde schon ein „Anhaltspunkt zur Heilung“ gegeben. Mit dieser Methode finde eine Kombination aus medizinischer Anamnese und geistig-spirituellen Aspekten statt. Die beiden Ärzte bezeichnen dieses Vorgehen als Weg, auf den Menschen „mit offenen Augen und Herzen“ zu schauen und mit diesem „gemeinsam in einen Heilraum einzutreten“. Zuerst werde eine medizinische Anamnese auf der Körperebene durchgeführt und daran anschließend die „Verbindung von Körper, Seele und Geist“ hergestellt, indem psychisch-seelische Belastungen abgefragt und aufgenommen würden. Dieser zweite Teil der Anamnese erfolge anhand der „Farbgebung der Chakren“, da viele Symptome, wie etwa Ängste oder Depressionen etc. auftreten würden, „wenn die Chakren nicht gut fließen“. Abgefragt würden in der Anamnese verschiedene Bereiche, etwa nach der Herkunftsfamilie, nach den „Schattenseiten“ des Patienten und so entstünde ein Bild, das die „spirituellen Qualitäten“ der Person im Farbschema der Chakren abbilde. Um den Hintergrund der Chakren und Auren für die ZuhörerInnen zu vergegenwärtigen, gehen die Referenten anschließend die verschiedenen Chakren durch, benennen sie jeweils und beschreiben die damit verbundenen Eigenschaften einer Person. Die erste Ebene wird als „Wurzelchakra“ bezeichnet und stehe für die Aspekte „Erdung“, „Heimat“ und „Zugehörigkeit“, die zugehörige Farbe sei rot. Das zweite Chakra bezeichnen die Referenten als „Sakralchakra“, das mit der Farbe orange verbunden sei, dem Element „Wasser“ zugeordnet werde und für „Lebendigkeit“ und „Sexualität“ stehe. Bei diesem Chakra befinde man sich im „emotionalen Aurakörper“. Nun folgt das „Magenchakra“, welchem die Farbe gelb und das Element „Feuer“ zugeordnet werde. Es stehe für „Aggression“, „Abgrenzung“ und „Kompromiss“; dieses Chakra befinde sich auf der „mentalen Ebene“. Das folgende vierte Chakra wird als „Herzchakra“ bezeichnet, dem Element „Luft“ zugeordnet und mit der Farbe rosa assoziiert. Dieses stehe für das „spirituelle Energiezentrum“, für „Mitgefühl“, „Liebe“ und „Bindungsfähigkeit“. Das fünfte, blaue Chakra wird als „Kehlchakra“ bezeichnet und dem „feinstofflichen Element Äther“ zugeordnet. Es stehe für „Kommunikation“ und „Authentizität“. Die nun folgenden beiden letzten Chakren werden durch die Referenten insofern von den anderen abgehoben, als sie als der „feinstofflichen Ebene“ zugehörig eingestuft werden. Das sechste Chakra sei das „Dritte Auge“, welches für „visionäre
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Intuition“, „Bilder“ und „Hellsichtigkeit“ stehe und sich auf der „transpersonalen Ebene“ befinde. Die zugeordnete Farbe ist violett. Als siebtes und letztes Chakra gilt das „Kronenchakra“, dem die Farben weiß oder gold zugeordnet werden; es stehe für die „Seinsebene“, das „Eins-Sein“, den „Aurakörper“. Nach dieser zusammenfassenden Darstellung wird aus dem Auditorium die Frage gestellt, ob der für die Anamnese verwendete Fragebogen nicht auch ausgeteilt oder gezeigt werden könne, damit die ZuhörerInnen das Verfahren besser nachvollziehen könnten. Dieses Anliegen wird jedoch von den Referenten zurückgewiesen mit der Begründung, dieses Verfahren sei in seiner Entwicklung und in der Anwendung ein langer Prozess, er sei untrennbar mit der Gemeinschaft und dem hier praktizierten Heil(ungs)-System verbunden und könne daher nicht einfach ausgeteilt werden. Zum Abschluss dieses Vortrags gibt eine Frau, Anfang 50, einen Erfahrungsbericht. Sie habe an einer Hauterkrankung gelitten und sei zu dieser Anamnese und diesem Heilverfahren vor allem motiviert worden über den Wunsch, die „Krankheitsursache zu verstehen“. Sie habe in einer tiefen Beziehungskrise gesteckt und im Laufe der Arbeit mit dieser Heilmethode gelernt, sich „angenommen zu fühlen“. An das Referat zur Anamnese schließt sich erneut eine Fragerunde an, die von den ZuhörerInnen für Nachfragen und Kommentare genutzt wird. Auf die Frage, bei welchen Personen die beiden Ärzte diese Form der Anamnese anwenden würden, antwortet der Psychotherapeut, er würde immer zuerst sehen, „ob eine Person offen ist für Chakren, spirituelle Aspekte“ oder ähnliches, erst dann mache er ggf. ein Angebot in dieser Richtung. Die Anwendung erfolge zudem immer „komplementär“ zu seinen psychotherapeutischen Methoden. Da im Laufe des Vortrags im Kontext der Ausführungen zu Chakren auch das Thema Aura-Sehen angesprochen wurde, greift eine Teilnehmerin dies auf. „Die meisten Menschen, auch Therapeuten, können nicht Aura-Sehen – wie funktioniert es trotzdem? Warum stimmt die Intuition so sicher?“, fragt sie. Sie könne es nicht nachvollziehen, warum die Therapeuten immer richtig lägen mit ihrer Vermutung dazu, welcher Bereich der Aura bzw. welches Chakra betroffen sei. Die Antwort der beiden Referenten lautet: „Wir glauben an die schöpferische Kraft, den Geist“. Auf diesen beriefen sie sich. Zudem hätten sie viel Erfahrung, sie könnten sich also auch auf die Empirie berufen – die Beispiele aus ihren Praxen zeigten, „dass es passt“. Mitunter hätten sie auch selbst Fragen, was den Bereich der Chakren und der Aura betreffe. Diese könnten sie dann der Lehrerin stellen – sie habe die Antworten dafür. Die nächste Teilnehmerin meldet sich weniger mit einer Frage denn mit einem Statement: Es sei doch so, dass „wir auf der Erde geistig wachsen“ sollten. Dies wäre der Sinn der Existenz auf der Welt. Diese Aufgabe sei sowohl für unse-
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re Arbeit, die Medien, unsere Beziehungen usw. gültig, überall dort sollten wir wachsen. In jeder Krankheit liege daher „die Chance zum geistigen Wachstum“. Die Aufgabe des Arztes sei dabei, „das geistige Wachstum wieder in Gang zu bringen“. Die Antwort der Referenten ist zurückhaltend, widerspricht aber nicht der Wachstumsthematik. Im Vordergrund stehe das „Wachstum der Seele“. Dieses könne gestört sein. Daher sei für den Therapeuten immer zu fragen, was für eine „Wachstums-Blockade“ diese Krankheit gerade sei. Nun wird noch einmal die Perspektive der TherapeutInnen in den Mittelpunkt gerückt: Es sei wichtig, an die Chakren zu glauben, „auch wenn man sie nicht sieht“. Das sei „uns in der Ausbildung aberzogen worden“, so das Statement eines Mediziners. Im hiesigen Kontext sei aber besonders positiv, dass die „Schulmedizin nicht ausgegrenzt“ werde. Zum Abschluss wird noch einmal die Besonderheit der Gemeinschaft hervorgehoben und betont, wie wertvoll die städteübergreifende Bewegung dieser Gemeinschaft sei. Dabei sei auch besonders zu betonen, dass auch „Universitätsmediziner“ an dieser gemeinsamen Arbeit beteiligt seien, „was man eigentlich nicht so gern hat“. Darauf folgt das „Bekenntnis“ eine Arztes, er sei Universitätsmediziner und hier in diesem Kreis aktiv – dies wird von den TeilnehmerInnen mit Beifall quittiert. Abschließend wird das Heilungsverständnis der Gemeinschaft beschrieben und meditiert. Thema eines Vortrags am Nachmittag ist das Verhältnis von „Naturwissenschaft und Feinstofflichkeit“, bei dem es, um den „Mensch[en] und die Rolle des Lichts als Mittler zwischen Materie, Seele und Geist“ gehen soll. Laut Programm beschäftigen sich die drei ReferentInnen, zwei davon mit Doktortitel, ein „Dipl. Ing.“, verstärkt mit dem Verhältnis von Spiritualität und Naturwissenschaften. Der Vortrag findet in einem kleineren Raum statt, der auch als Werkstatt genutzt wird. Er ist mit den knapp 45 Personen gut gefüllt. Etwa 15 % der Zuhörenden sind männlich. Ausgangspunkt des Vortrags ist die Frage: „Was ist Feinstofflichkeit?“ Antwort der ReferentInnen: Das, was man „noch nicht“ oder „nicht mehr“ naturwissenschaftlich erklären könne. Gewährsmann für die folgenden Ausführungen ist, neben der spirituellen Lehrerin der Gemeinschaft, Fritz-Albert Popp821. Auf ihn wird die Idee eines Biophotonenfeldes zurückgeführt, das durch die „Licht821 Fritz-Albert Popp, *1938, Biophysiker, zunächst an der Universität Marburg, später nach Auseinandersetzungen mit der Universität an privaten Instituten, verschiedenen ausländischen Universitäten und in einem selbst gegründeten Forschungslabor tätig. Forschungsschwerpunkt seit den 1970er Jahren „Biophotonen“. Als Biophotonen bezeichnet man eine ultraschwache Photonenstrahlung, die an lebenden Zellen gemessen werden kann. Diese Messungen sind wissenschaftlich anerkannt. Dagegen sind die Schlussfolgerungen Popps, es gebe daher ein zelluläres, auf Licht basierendes,
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strahlung von Zellen“ entstehe. Diese Biophotonen erfüllten wichtige biologische Aufgaben. Auf der „Schnittstelle des Biophotonenfeldes“ könnten „Einflüsse auf geistiger Ebene“ geschehen. Das entspreche auch der Lehre der Lehrerin, nach der Messungen am Übergangsbereich von Körper und erster Aura-Schicht möglich seien; die fünfte bis siebte Aura-Schicht sei dagegen nicht mehr messbar. Nach dieser grundlegenden Hinführung durch die erste Referentin übernimmt einer der anderen Referenten und führt die Arbeiten von Popp weiter aus. Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass jeder lebende Körper eine Ordnung aufrecht erhalte. Popp habe nun eine „extrem schwache Strahlung“ im Körper gemessen, was zu der Schlussfolgerung führe, es müsse Licht in den Zellen vorkommen. Licht habe eine räumliche und eine zeitliche Dimension und sei kohärent, d.h., es könne einen geordneten Zustand erreichen. Biophotonen seien jene Photonen, die in biologischen Organismen wirkten, jeder Organismus besitze ein Biophotonenfeld. Popp habe auch herausgefunden, dass DNA-Moleküle, die Träger der Erbinformationen, auch Licht resorbieren und reflektieren könnten. Gesundheit sei, so Popp, das „Regulationsvermögen“ des Körpers, Stabilität herzustellen. Ein Indikator für diese körperliche Ordnung sei die „Strahlungsstabilität“. Erläutert wird dieses Verhältnis von angeregten Elektronen, Ordnung und chaotischen Zuständen im Körper durch ein Schaubild. Betont wird dabei immer wieder, die „Qualität des Biophotonenfeldes“ sei ein „Indikator“ für Krankheit bzw. Gesundheit. Der Referent weist auch auf die unterschiedliche Sichtbarkeit verschiedener Lichtfrequenzen hin. So gebe es auch „Menschen, die können Aura sehen und als Heiler behandeln“. Der Referent stellt nun als rhetorische Frage in den Raum: „Woraus besteht Aura?“ Und antwortet selbst: „Wir wissen es nicht.“ Man wisse aber, dass die Aura „durch Energie des Herzkreislaufsystems genährt“ werde. Es bleibe aber dabei, dass Feinstofflichkeit nicht genau zu erklären sei, wie auch die Quantenphysik nicht genau messbar und daher auch unklar bleibe. „Wir haben dazu keinen belastbaren naturwissenschaftlichen Beleg.“ Möglicherweise sei so etwas die das „Selbstbewusstsein“ damit gemeint, aber auch das sei nicht sicher. Nun folgt der Vortragsteil des dritten Referenten. Er stellt ein von ihm selbst entworfenes Modell zum Verhältnis von Licht, Wasser, Leben und Energie vor und bemerkt gleich zu Beginn: „Es ist ein bisschen kompliziert. Es ist sehr komplex.“ Ausgangspunkt seiner Überlegung ist die Annahme, dass „Licht durch Information Wasser strukturiert“. Dieser Vorgang finde auch in der Zelle statt. In Kohlenstoff sei festgestellt worden, dass sich Elektronen in Photonen umwandeln, dies „kann ich jetzt mal für Wasser auch behaupten“, so der Analogieschluss des Referenten. Wasser könne Licht speichern, Licht informiere das Wasser. Dies lasgeordnetes Informationssystem im Körper, bei anderen Forschern umstritten und bisher nicht evident nachgewiesen.
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se sich weiterdenken: „Den Prozess der großen Kräfte macht die Zelle auch mit bei ihrer Teilung.“ So sei etwa klar, dass „beim Zelltod die Energie nicht verlorengeht“. Stattdessen würden „ganz viele Photonen frei“. Als der Referent bis hierher erklärt hat, schiebt er einige Zwischenbemerkungen ein und wechselt im folgenden immer wieder zwischen Ausführungen zu seinen Vortragsthemen und persönlichen Gedanken und Kommentaren. Hier unterstreicht der Referent: „Es beruht hier viel auf meiner Intuition.“ Ihm selbst sei dieses Modell sehr wichtig, er werde auch weiterhin daran arbeiten, denn es sei grundlegend zur Erklärung vieler Zusammenhänge. „Ich bin froh, dass es diese Strahlen- oder Polungstheorie gibt, um den Zusammenhang von Geburt, Leben und Sterben zu veranschaulichen.“ Wichtig sei, die Zellen immer wieder mit genug Energie zu versorgen. Die Strahlen von „E-Smog, Beamer-Licht“ oder anderen Quellen „destruieren die Struktur der Zellen“. Es sei „so viel Strahlung“ von Handys o.ä. da, „dass man ganz viel Energie braucht, um das auszugleichen“. Fatal sei im Blick auf das Wasser auch der Druck, mit dem Wasser in Flaschen oder durch Leitungen gepumpt werde. Dabei gingen die Informationen des Wassers kaputt. Das wüssten viele nicht. Konsens sei ja dagegen die „Wasser-Informations-Aufnahme“ z. B. auch im „Besprechen“. „Das weiß man ja seit Jahren.“ Die „Informationen“ aus den Zellen würden beim Tod eines Menschen an andere Zellen weitergegeben. Daher sähen Menschen einen „Lichtblitz“, wenn eine Person sterbe. Aufgrund der vielen Störungen, die in der Umwelt vorhanden seien, müsse man „ganz viel meditieren, um sich immer wieder in die Struktur zu bringen“. Auch an diesen Vortrag schließt sich die Möglichkeit für Fragen an. Eine Teilnehmerin fragt, ob das Licht zurückgehe, wenn ein Mensch sterbe, denn es komme ja in der Geburt und dann erneut in der Wiedergeburt mit der Seele. Ja, antwortet der Referent, so könne man sich den Kreislauf des Lebens vorstellen. Nun fragt eine Zuhörerin nach der Wirkung von Lichttherapie bei Depressionen und ob diese auch durch das vorgestellte Modell zu erklären sei. Zu dieser Frage antwortet der Referent, die Wirkung von Lichttherapie sei eine Wirkung auf die Aura. Sicher sei, dass es „Aura gibt“. Für ihn stelle sich eher „die Frage, warum wir das noch nicht ausreichend erklären oder veranschaulichen können.“ Im Blick auf die Nachweisbarkeit stellt er auch den Zusammenhang von Frage und Untersuchungsergebnis heraus. „Was man sieht, hängt davon ab, welches Experiment man macht.“ Die Kirlianfotographie822 gäbe etwa sehr gut Auskunft zu diesem 822 Kirlianfotographie ist ein durch das russische Ehepaar Kirlian ab 1937 entwickeltes fotographisches Verfahren, das eine schwache Gasentladung von elektrisch leitfähigen Materialien sichtbar macht. Diese schwachen elektrischen Entladungen sind mit bloßem Auge nicht sichtbar, können aber mithilfe dieser fotographischen Technik sichtbar gemacht werden. Die Anwendung durch alternativmedizinische Anbie-
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Thema, sie sei eine „seriöse Annäherung an die Dokumentation der Aura“. Einige weitere Fragen werden durch die drei Referierenden beantwortet. In mehreren Antworten wird die Lehrerin zitiert, die dazu dieses oder jenes gesagt habe. Viele TeilnehmerInnen geben positive Rückmeldungen, sind begeistert und bedanken sich für die Ausführungen, die sie „toll“ und „sehr interessant“ fanden. Am Abend werden verschiedene kulturelle Programmpunkte angeboten. Teil dieses Programms ist ein musikalischer Abend von Mitgliedern der Gemeinschaft. Hier wird in einem Kreis von ca. 40 Personen eine Mischform aus Konzert und gemeinsamem Liederabend veranstaltet. Eine Gruppe von MusikerInnen gestaltet den Abend. Die Auswahl der Lieder erstreckt sich dabei über Volksweisen verschiedener Länder und Kulturkreise bis hin zu eigenen Kompositionen eines Gemeinschaftsmitglieds. Dabei werden Lieder aus Schweden, Island, Russland gesungen, deutsche Volkslieder, auch Lieder aus dem jiddischen und hebräischen Sprach- und Kulturkreis. Einige Lieder stammen aus explizit christlichem oder jüdischem religiösen Kontext mit textlichen Bezügen zum „Schöpfer“ oder zu „Eli“. Den Abschluss des Abends bildet ein Lied, dessen Melodie von einem Gemeinschaftsmitglied stammt; den Text dazu hat die Lehrerin geschrieben: „Ich verneige mich vor dem Ende des Tages, vor der Sonne; meine Seele steigt auf, um in rosa-violett einzutauchen. Welch großartiges Ereignis, in Licht und Sonne zu baden.“ Die ZuhörerInnen, die die Lieder offenbar zumeist kennen, singen oder summen zum großen Teil unaufgefordert mit. Viele wirken sehr entspannt, wiegen sich zur Musik, haben die Augen geschlossen und atmen laut seufzend aus. Musik und Texte sind sehr eingängig, meditativ und harmonisch. Die erste Veranstaltung des zweiten Tages ist ganz der durch die Lehrerin der Gemeinschaft entwickelten Heil(ungs)-Methode gewidmet. Ein Impulsreferat führt in die Methode ein, anschließend soll eine Podiumsdiskussion verschiedene Perspektiven auf die Methode ermöglichen. Die Referentin des Impulsvortrags ist Familientherapeutin, Behandlerin nach dieser Methode und Ernährungsberaterin. Als Ausgangspunkt für die Arbeit sieht sie die Überzeugung: „Wir sind alle energetische Wesen.“ Im Menschen befänden sich Energiebahnen, die von innerhalb und außerhalb des menschlichen Körpers beeinflusst würden. Die Behandlungsmethode unterstütze den physischen und den feinstofflichen Körper der PatientInter beruht auf der Idee, Meridiane und ggf. deren Blockierung im Körper auf diese Weise sichtbar machen zu können. Allerdings ist ein Zusammenhang von möglichen Meridianen und elektrischen Entladungen nicht nachgewiesen und das Verfahren als Diagnose-Instrument aufgrund mangelnder Reproduzierbarkeit nicht allgemein anerkannt.
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nen. Es fände ein „Austausch von Chakren zur Aura und zurück“ statt, so werde der Körper bzw. die Energiepunkte des Körpers „energetisch aufgeladen“. Dabei sei das „gesamte elektromagnetische Feld der Aura“ angesprochen. Nach dieser ersten Vorstellung der Methode selbst gibt die Referentin Auskunft über die Ausbildung zu dieser Methode, die immer durch die Lehrerin der Gemeinschaft vorgenommen würde. Bisher wären durch sie etwa 150 HeilerInnen in Deutschland und der Schweiz in dieser Methode gelehrt worden. Eine „lange Ausbildung von persönlichem Bewusstsein“ sowie die eigene Erfahrung mit der Heilmethode stünden dabei im Mittelpunkt. Anschließend stellt die Referentin dar, „was die Heilerin macht“: Sie nehme über „das Herz und das dritte Auge“ wahr, wie es um „den Menschen und sein Energiefeld“ stehe. Dann „verbinde“ sie sich „mit dem Kosmos und der Erde“. So „verbinde ich unsere beiden Herzen mit der göttlichen Kraft“, erklärt die Therapeutin. Das System funktioniere dabei „in bestimmten Rhythmen“. Über diese könne das menschliche Energiesystem von Grund auf neu aufgebaut werden. Zu dieser Heilungsarbeit brauche es Liebe, zum „Annehmen“, zur Entspannung und um Stress loszulassen. Wenn das alles in Liebe geschehe, sei es „sofort in der Aura sichtbar“. Die „eigenen Aurafarben leuchten viel klarer und heller“, „wir leuchten aus uns heraus“, wenn diese Heilmethode in Liebe angewandt werde. Die Definition von Heilung, die im Kontext dieser Ausbildung und Heilungsmethode leitend sei, heiße, den „Kontakt zu den verlorenen Anteilen meiner inneren Persönlichkeit“ wiederherzustellen. Der „innere Kern“ der Person „ist und bleibt immer heil“. Die Referentin schließt ihren Vortrag mit folgender Zusammenfassung: „Über allem steht der Satz unserer Lehrerin [Name], den wir alle sehr lieben und schätzen: Ohne Liebe gibt es keine Heilung.“ Nach diesem Lehrsatz folgt langer Applaus aus dem Auditorium. Nun schließt sich eine Podiumsdiskussion an, an der ein Psychotherapeut, eine Physiotherapeutin und Osteopathin, eine Therapeutin nach der Heilmethode der spirituellen Lehrerin, ein Facharzt für Innere Medizin sowie zwei PatientInnen (m/w) als Diskutierende auf dem Podium teilnehmen. Die Einstiegsfrage für alle PodiumsteilnehmerInnen lautet: „Was bedeutet die Heilmethode von [Name] in Eurem Leben?“ Eine Therapeutin beschreibt die Heilmethode als „so etwas Großes, Gewaltiges“, das sie erlebe. „Nichts in meinem Leben hat mich so sehr verändert.“ Sie habe gelernt, sich „dem Nicht-Wissen zu überlassen“, sich einer „höheren Macht anzuvertrauen“, „in den Dienst zu stellen“, sich eben ganz „zu überlassen“. Als nächstes antwortet der Schulmediziner: Ihm habe die Methode seine „Grenzen“ gezeigt und ihm bewusst gemacht, immer wieder zu fragen, „was mache ich an dieser Stelle?“. Er habe gelernt, „Menschen anders zu sehen“. Außerdem sei ihm wichtig geworden, „den Glauben zu haben, es wird Heilung geschehen“. Eine dritte Perspektive bietet die Antwort des Patienten. Er habe „heute erstmals“,
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nämlich in dem vorangehenden Vortrag, davon gehört, was bei dieser Methode eigentlich geschehen solle. Behandelt worden sei er, weil er eine große „Todesnähe ohne Angst“ gespürt habe. Er selbst habe durch die Methode „verstanden“, dass „das Leben und der Tod eng zusammen“ gehörten. Was genau da in seinem Körper geschehen sei, könne er aber nicht sagen. Für die Patientin sei die Methode die „Chance zur Selbstbejahung“ und eine „Stütze“. Nun tragen die PodiumsteilnehmerInnen gemeinsam weitere Eindrücke zur Methode zusammen. Sie heben die „Matrix des Universums“ hervor, die „da ist“, die „es gibt“ und es sei gut, sich mit dieser Methode bewusst zu machen, „dass ich in dieser Matrix bin“. Deutlich werde dadurch, dass „wir alle verbunden“ seien und es lediglich eine „Illusion der Getrenntheit“ gebe. Durch diese Verbundenheit würden auch Menschen über den Raum der eigentlichen Gemeinschaft hier vor Ort hinaus „Heilung erfahren“. Der Arzt hebt hervor, dass es ihm wichtig sei, das Bild vom wissenden Arzt, Experten und unwissendem Patienten in Frage zu stellen. Ihm helfe die Methode, sich „in diese Kraft einzuschwingen“, die gemeinsam Heilung bringe. Die nächste Frage der Moderation richtet sich erneut an alle Personen auf dem Podium. „Was wird durch die Methode gefördert?“, fragt sie. Spontan antwortet eine Person: „Das Nicht-Wissen!“ Gefördert werde auch Spiritualität, die „geistige Entwicklung“, die „tiefen Dinge in mir“. Eine PatientIn präzisiert: „Dinge, die mir über die Therapie bewusst waren, wurden mir durch diese Methode wirklich relevant“. Andere Beiträge zu dieser Frage betonen, dass damit das „ins Vertrauen gehen“ gefördert werde, dass diese Methode „nicht für den Kopf“ sei. Dem Schulmediziner zufolge sei das Wichtigste an der Methode, mit dem „großen Schöpferischen da oben“ in Verbindung zu gehen und dadurch die Energie fließen zu lassen. Indem er die Arbeit mit der Methode durchführe, werde er auch selber schon „genährt“. Nach der Arbeit oder Behandlung mit dieser Methode sei er „nicht müde, sondern erfüllt“. Es sei „wie ein großes Gebet“. Man stelle sich selbst „in diesen Raum“. Zudem gebe es eine Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos: In der kleinen energetischen Aufladung geschehe auch etwas für das Große. Dabei sei „die Schöpfungskraft, die mit ihrem Herzen alles nährt“, spürbar. Die Antwort einer Teilnehmerin lautet, was sie durch die Methode gewinne, sei, die „Schulmedizin, die ich zwischenzeitlich verdammt habe, wieder anzunehmen und zu verbinden mit dem, was ich hier lerne“. Gefördert werde zudem die „Intuition“ und die „Vertrauensbildung“. Nach dieser Runde zielt eine nächste Frage auf die Indikation für eine Behandlung mit dieser Heilmethode. „Wann ist eine solche Behandlung sinnvoll?“ Auch hier kommt die erste Antwort sehr spontan: „Immer“, sagt eine der TeilnehmerInnen auf dem Podium. „Wir können es alle wirklich gebrauchen.“ Besonders sinnvoll sei es für „Menschen, die besonders schwer krank seien“, für Kinder,
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die „schwer krank oder behindert“ seien, denn diese „kleinen Menschen sind ja in ganz anderer Schwingung“. Wichtig sei die Behandlung z. B. nach einem Geburtstrauma, wenn „wenig Bewegungen in der Aura“ wahrnehmbar seien. Insgesamt sei es aber „für jeden Menschen gut“. Der Arzt hebt zudem hervor, dass er die Behandlung anwende, wenn er an die „Grenzen von Medikamenten“ komme und wenn er merke, dass er „dieser Person gegenüber mein Herz öffnen kann“. Für den Patienten gibt es „viele Dinge, wegen derer ich in Behandlung war“, u.a. „eine große, schwere Krankheit“, die „ich heute als Geschenk sehe“. Ein Behandler schränkt ein Stück weit ein: Es gebe auch Momente, in denen er diese Methode nicht anwende: Wenn das Vertrauen zu der Patientin oder dem Patienten noch nicht gut genug aufgebaut sei. Eine Person, die mit der Heilmethode behandelt wurde, fügt hinzu, sie habe sich nach einem Kieferbruch in einer Situation befunden, in der „ich bereit war, alles auszuprobieren“. Im Krankenhaus habe sie dann eine Behandlung nach dieser Methode bekommen. Allerdings heiße dieses „bekommen“ auch, dass damit die Arbeit beginne. „Es beginnen Bewusstwerdungsprozesse, auf die man sich auch einlassen muss“, so diese TeilnehmerIn. Auf die Frage nach der „richtigen Dosierung“ bei dieser Methode antworten die Personen auf dem Podium, wichtig sei, diese „individuell“ zu bestimmen. Die Behandlung lebe aber von der „regelmäßigen“ Anwendung, von der „Wiederholung“. Grundvoraussetzung für die ganze Behandlung sei ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen Behandler und behandelter Person. Die Patientin sagt, sie „brauche das einfach“ immer wieder und suche dann ihre Behandlerin auf. Allerdings wird auch darauf hingewiesen, dass die Methode nicht erstattungsfähig durch die Krankenkasse sei, so dass sie jeweils von den behandelten Personen selbst bezahlt werden müsse. Der nächste Aspekt, den die Moderation anspricht, ist „Qualitätssicherung“. Wie werde die Qualität der Behandlung sichergestellt? Die Antwort des Podiums dazu lautet, alle BehandlerInnen seien „ein Leben lang in Ausbildung“. Es gebe Ausbildungsgruppen und Supervision. Zudem seien alle Personen, die diese Methode durchführten, bei der Lehrerin selbst ausgebildet worden – wenn aber ein Geselle sein Gesellenstück gefertigt habe, werde er freigesprochen; nach diesem Prinzip handle auch die Lehrerin. Eine Person beschreibt die „Behandlungen als Gebet“, zumal wenn sie als „Synchronbehandlungen“ stattfänden. Dabei würde sich „der große Kelch ausschütten“, der „Kanal“ auftun, so dass eine besonders große Wirkung stattfände. An dieser Stelle schaltet sich aus der ersten Reihe die Lehrerin selbst ein. Diese letzte Äußerung scheint sie noch einmal genauer erklären zu wollen. Bei „Synchronbehandlungen“ gehe es darum, so die Lehrerin, sich „dem Kollektiv anzuvertrauen“ und eine „Verbundenheit untereinander, mit der Natur, dem Leben, der Liebe und der Schöpfung“ zu spüren, denn „da geschieht
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Heilung“. Durch Synchronbehandlungen werde das „offene Feld ins Symbol gebracht“ und „geordnet“, so dass Heilung geschehe. An diesem Vormittag zum Heilungsprinzip der Lehrerin schließt sich ein weiterer Vortrag an, den eine Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin hält. Sie war bis vor einigen Jahren in der Lehre an einer Universität tätig, bezeichnet sich nun als „Schülerin“ der Leiterin der Gemeinschaft und als in der Tradition der Sufi auf dem Lernweg. Ihr Vortrag handelt von der Verbindung von Spiritualität und therapeutischer Beziehung. Ausgangspunkt ist die Feststellung, Spiritualität werde von vielen Menschen abgelehnt bis dahin, dass sich „manche Menschen ja auch mit diesem Begriff schwer tun“ würden. Dabei drängten spirituelle, religiöse Themen ins Bewusstsein, allen voran „die großen Menschheitsfragen“, die Fragen nach dem „Sinn“, nach „woher, warum und wohin“. Auch in der Psychologie sei in diesem Themenbereich eine Trendwende bzw. ein Paradigmenwechsel zu beobachten. So nehme z. B. „die transpersonale Psychologie aus den USA“823 einen Transzendenzbezug auf; es gebe Kritik an einer „seelenlosen Psychologie“ und neue integrative Konzepte entstünden. Sie selbst verstehe Spiritualität als „übergeordneten Begriff“, der „traditionsunabhängig“ sei, zugleich „in den etablierten Religionen oft nicht mehr spürbar“ wäre. Unter Bezug auf Willigis Jäger824 führt die Referentin aus, dass Religiosität ein „Grundzug der menschlichen Natur“ und auch aller anderen Lebewesen sei. Menschen seien „religiös ohne einer Religion anzugehören“, diese Tatsache sei Teil einer religiösen bzw. spirituellen Evolution. Auch Anton Bucher825 gilt ihr als Gewährsmann, seine Erkenntnisse seien besonders auch im 823 Unter transpersonaler Psychologie wird eine Reihe verschiedener psychologischer Ansätze und Therapiemodelle verstanden, die über den Aspekt der „Bewusstseinsveränderung“ miteinander verbunden sind. Seit Ende der 1960er Jahre entstand die transpersonale Psychologie in den USA und hatte das Ziel, klassische Ansätze der Psychologie und Psychotherapie um Aspekte wie Spiritualität, Trance, Bewusstseinserweiterung (u.a. durch den Einsatz von Substanzen), Übersinnliches, Mystik etc. zu erweitern. 824 Willigis Jäger OSB, *1925, Benediktinermönch, Zen-Meister und Mystiker, ist seit Mitte der 1940er Jahre Mönch des Benediktinerordens. Im Rahmen seiner Arbeit als Referent für Mission und Entwicklung reiste er mehrfach nach Japan und praktizierte dort seit Ende der 1960er Jahre Zen. Anfang der 2000er Jahre gründete er ein überkonfessionelles Bildungshaus in einer ehemaligen Benediktinerprobstei in Franken und lehrte als Zen-Meister. Aufgrund seiner öffentlich verbreiteten Standpunkte wurde er aus dem Kloster exklaustriert. 825 Anton A. Bucher, *1960, katholischer Theologe, Pädagoge und Autor. Prof. am Fachbereich Praktische Theologie der Universität Salzburg. Bucher beschäftigt sich mit
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Kontext von Gesundheit und Krankheit relevant. Er mache deutlich, dass „die vierte Dimension von Gesundheit Spiritualität“ sei. Dieser Aspekt ist auch für die Referentin äußerst relevant: „Wenn es in der Therapie um Heilung, um Heil-Werden, geht, muss sie offen sein für das Numinose, für Sinnsuche, für spirituelle oder religiöse Aspekte“, davon ist die Referentin überzeugt. Das heißt auch, es gehe darum, die „Schattenseiten, Brüche“ bzw. das „Fragmentarische“ zu integrieren. Dafür sei auch Meditation hilfreich, sie sei aber kein Ersatz für eine Psychotherapie. Schon C.G. Jung habe durch „das Vorlegen von Tatsachen“ bewiesen, dass die menschliche Seele „naturaliter religiosa“ sei. Dem Titel ihres Vortrags gemäß stellt die Referentin nun die Beziehung in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen. Das Verhältnis zum Therapeuten bzw. zur Therapeutin, die Beziehung zu ihr oder ihm, sei unabhängig von der Methode der wichtigste Faktor für den Heilerfolg einer Therapie. Während etwa 15% des Heilerfolgs auf die Methode zurückzuführen seien, wären etwa 85% durch die Beziehung zum Therapeuten/zur Therapeutin bestimmt. Das „Geheimnis“ einer solchen Beziehung sei „Eros“, das „Prinzip der Bezogenheit“, wie die „seelische Beziehung“ bei C.G. Jung genannt werde. In ähnlicher Weise gehe der Mediziner und Autor Bernhard Lown, Nobelpreisträger, in seinem Buch „Die verlorene Kunst des Heilens“826 auf die Beziehung als Heilungsfaktor ein. Diese heilende Beziehung habe ihren Ort in einem „Kraftfeld einer universalen Liebe“. Auch die Quantenphysik sage uns, dass nichts getrennt sei. Heilung könne daher nur „mit Liebe“ geschehen – eine Tatsache, die auch empirisch gestützt sei. In der dem Vortrag folgenden Diskussion wird zum einen das Verhältnis von Psychiatrie und Psychotherapie ausgeführt (und v.a. in der Differenz im Blick auf medikamentöse Behandlung dargestellt), zudem äußern sich verschiedene TeilnehmerInnen und die Referentin zu ihrer persönlichen Sozialisation, ihrem Interesse an Mystik, häufiger wird das Motiv der „Suche“ – nach dem richtigen Weg,
der Erforschung von Religion und Spiritualität unter psychologischer Perspektive. Vgl. u.a. Bucher, Anton: Psychologie der Spiritualität. Handbuch. Weinheim, Basel 2007. 826 Bernhard Lown, *1921, US-amerikanischer Kardiologe. Aktivist in der von ihm mitbegründeten Vereinigung International Physicians for the Prevention of Nuclear War, wofür er 1985 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Nach einer sehr erfolgreichen medizinischen Karriere veröffentliche Lown 1996 als bereits emeritierter Professor das Buch „The Lost Art of Healing“, in dem er Missstände im Gesundheitswesen kritisiert, etwa die Abrechnungspolitik des Gesundheitswesens, die Technologie und Profit stärker im Blick habe als die PatientInnen. Vgl. Lown, Bernhard: Die verlorene Kunst des Heilens. Anleitung zum Umdenken. Frankfurt am Main 2004.
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nach Sinn, nach Gemeinschaft – genannt, die Äußerungen sind durch eine große Offenheit gegenüber verschiedenen spirituellen Wegen geprägt. Die restliche Zeit des Vormittags ist kreativen Angeboten, sinnlichen Erfahrungen und Bewegung gewidmet. In unterschiedlichen kleineren Gruppen können die TeilnehmerInnen u.a. in einen „Farb- und Klangraum“ „eintauchen“, um zu „entschleunigen“, sich an einer „Meditation für Sterbende und Verstorbene“ beteiligen, Yoga machen oder durch die „heilsamen Schwingungen“ der Gesänge der Gemeinschaft die „Herzen und Seelen berühren“ lassen. Die Beobachterin entscheidet sich für die Teilnahme an einer Gruppe „Qigong in der Natur“. Hier werden im großen, parkähnlichen Garten der Gemeinschaft Qigong-Übungen angeleitet und gemeinsam durchgeführt. Den meisten TeilnehmerInnen sind die Übungen bekannt, so dass sie gleich mitmachen, während die Kursleiterin noch vorführt und erläutert. Zu den Übungen gehören v.a. auch Übungen der Konzentration auf den Atem, langsame Bewegungen der Arme und des gesamten Körpers zur Bewegung des Rückens und immer wieder die Aufforderung zur Wahrnehmung der Natur, der Blätter des Baumes über den TeilnehmerInnen, der Wurzeln, der Wiese usw. Die letzte Übung findet in Partnerarbeit statt. Aufgabe ist dabei, die jeweils andere Person energetisch zu unterstützen und ihr durch das in die Nähe halten oder Auflegen der Hände über einer bestimmten Körperstelle Energie zu geben und die Person anschließend ganz „auszustreichen“, also vom Körperzentrum aus alle Körperteile nach außen zu streichen. Alle Personen machen diese Übung großer körperlicher Nähe mit. Nach dem gemeinsamen Mittagessen und der Mittagspause ist der Nachmittag erneut in Gruppenveranstaltungen unterteilt, bei denen sich die TeilnehmerInnen in verschiedene Workshops einteilen. Der Beobachterin gelingt es, einen der wenigen, sehr begehrten Plätze im Workshop bzw. der Erfahrungsgruppe zur Heilungsmethode der Lehrerin zu bekommen. Diese Gruppe trifft sich im ausgebauten Dachgeschoss. Der Raum ist niedrig und über eine schmale Treppe zu erreichen. Am unteren Ende der Treppe werden die TeilnehmerInnen gebeten, die Schuhe auszuziehen. Der Raum ist als Meditationsraum ausgebaut, der Boden mit Teppich ausgelegt, die Dachbalken sind freigelegt und strukturieren den Raum. Der Raum ist bereits vorbereitet durch diejenigen, die die Heilmethode durchführen werden. Vorbereitet sind Plätze für acht Behandlungen. Jeder Platz ist durch eine Liege gekennzeichnet, neben der jeweils ein Behandler bzw. eine Behandlerin steht. Alle TeilnehmerInnen ordnen sich jeweils einer der Heilpersonen zu und stellen sich schweigend neben die Liege und die Person. Es wird während der ganzen Behandlung bzw. während des ganzen Aufenthalts in diesem Raum kaum gesprochen. Die wenigen Worte, die gesagt werden, sind im Flüsterton. Als
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alle TeilnehmerInnen einem Platz zugeordnet sind, bekommen sie von den BehandlerInnen ein Zeichen und nehmen daraufhin auf der Liege Platz. Gelegen wird in Rückenlage, ein Kissen wird unter den Kopf, bei Bedarf ein weiteres unter die Knie gelegt; eine leichte Decke wird zum Zudecken verwendet. Nun beginnt synchron die Behandlung für alle TeilnehmerInnen. Diese Synchronizität wird die ganze Zeit über beibehalten. Die Behandlung beginnt mit einer leichten Berührung der Füße. Diese wird ohne große Bewegung über einen längeren Zeitraum gehalten. Danach wird der ganze Körper in streichenden Bewegungen berührt. Dieselben Bewegungen werden nach der Berührung auch ohne Berührung noch einmal ausgeführt. Dabei wird der Abstand zum Körper jeweils variiert – dadurch sollen verschiedene Aura-Ebenen, die sich unterschiedlich weit vom Körper entfernt befinden, behandelt werden. Anschließend werden mit leichter Berührung verschiedene Punkte am Hinterkopf, an den Schläfen und an der Stirn berührt. Die Berührungen sollen jeweils der Übertragung von Energie dienen. Die ganze Behandlung dauert etwa eine Stunde. Die Abschlussveranstaltung der Tagung findet wieder im zentralen Raum des Neubaus statt. Dieser ist fast ebenso gut gefüllt wie bei der Eröffnungsveranstaltung. Die beiden Moderatoren der Eröffnung leiten auch diesen abschließenden Teil. Dabei gehen sie noch einmal den Ablauf der Tagung durch und rekapitulieren kurz die einzelnen Teile der beiden Veranstaltungstage. Zudem erfragen sie Rückmeldungen aus den einzelnen Angeboten, da aufgrund von parallelen Veranstaltungen nicht alle TeilnehmerInnen alle Workshops oder Vorträge erleben konnten. Außerdem werden Rückmeldungen zu den eigenen „Erfahrungen und Erlebnissen“ erbeten, zu den Räumen, in denen die Veranstaltungsteile stattfanden sowie zu den einzelnen Angeboten selbst. Zu den meisten Punkten finden sich TeilnehmerInnen, die in der großen Runde dazu Auskunft geben, i.d.R. sind dies diejenigen Personen, die schon häufiger bei Veranstaltungen der Gemeinschaft waren bzw. Mitglieder der Gemeinschaft sind. Ein großer Teil der Rückmeldungen enthält Danksagungen der TeilnehmerInnen für die Angebote und die neuen Erkenntnisse durch die Veranstaltung. Aus der Veranstaltung, in der das vorgestellte Anamnese-Instrument getestet wurde, erfolgt die Rückmeldung, die Teilnehmenden seien sehr „schnell in den Chakren“, „im Bewusstsein“ und „im Spüren“ gewesen. Eine Teilnehmerin erzählt, sie sei „tief berührt davon, was das Feld macht“. Im Rahmen dieser Anamnese gehe es wirklich ums Heilen und die Gemeinschaft. Die TeilnehmerInnen aus einem Dankbarkeitsworkshop, der sich an den Eröffnungsvortrag anschloss, berichten von Tänzen und Übungen, die sie durchgeführt hätten sowie einer Dankbarkeitsmethode, mithilfe derer man sich selbst immer
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wieder der Dankbarkeit bewusst werden solle. Sie hätten einen Tanz „aus Mexiko zu Ehren der Schwarzen Madonna“ gelernt und gemeinsam getanzt, dazu „Friedenstänze“, die „zu mir selbst führen“ und als „gemeinschaftsstiftend“ dargestellt werden. Eine Teilnehmerin erzählt, sie habe „Schmerzen“ gehabt, „die sich aufgelöst haben“. Es sei gewesen, als „tanzte ein Engel mit“. Eine Teilveranstaltung wurde zum Themenbereich Placebo durchgeführt. Die TeilnehmerInnen dieser Veranstaltung berichten von der Erkenntnis, dass Placebo in der „herkömmlichen Wissenschaft“ als „negatives Wort“ verwendet werde und wie sie darüber gesprochen hätten, was diese Erkenntnis „für eine spirituelle Medizin“ hieße. Hier werde Placebo positiv verstanden, denn „es ist doch ganz wunderbar, dass die Menschen eigene Heilungskräfte generieren“. Die TeilnehmerInnen dieses Workshops wünschen sich eine „größere Akzeptanz in der Schulmedizin“ und einen stärkeren Blick auf „die Bedeutung der Beziehung“. Auch über andere Veranstaltungen – zu „beseelter Frauenheilkunde“, zu den Gesängen der Gemeinschaft, zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Heilkunde und das Thema Biophotonen, zum Workshop Sterbebegleitung – gibt es kurze Rückmeldungen. Die Synchronizität von Behandlungen, gemeinsames „Behandeln und Behandelt werden“, Meditationen und „zu sich kommen können“, wird von den Teilnehmenden als einprägsam und positiv hervorgehoben. Die Moderatoren beenden die Runde der Rückmeldungen ebenfalls mit zahlreichen Danksagungen: an diejenigen, die die Veranstaltung vorbereitet hätten, diejenigen, die Workshops angeboten hätten, die ehrenamtlichen HelferInnen, die MitarbeiterInnen der Küche, der Technik usw. und schließen diese Reihe der Danksagungen mit dem Satz: „Wir bedanken uns bei der Schöpferkraft.“ Die Leiterin der Gemeinschaft, die bei der Eröffnungsveranstaltung und dem ersten Vortrag sowie am zweiten Tag vormittags zu dem Vortrag über das von ihr entwickelte Heil(ungs)-Prinzip anwesend war, nimmt auch an der Abschlussveranstaltung teil. Analog zur Eröffnungsveranstaltung wird auch der Abschluss mit einer Meditation durch die Lehrerin gestaltet. In der Abschlussveranstaltung führt die Lehrerin durch eine „Herzmeditation“, die zum Ziel habe, „unser Herz zu öffnen und uns mit der Erde und dem Himmel zu verbinden“. Wieder erfolgt der Einstieg über die Aufforderung, sich auf den eigenen Atem zu konzentrieren. Dabei werden die TeilnehmerInnen aufgefordert, „dem Leben zu danken“. Nach einer Phase der Konzentration soll dann gemeinsam ein Mantra gesprochen werden: „Wie oben, wie unten, wie rechts, wie links, in der Mitte verbunden in Ewigkeit“. Anschließend wird durch einen Musiker der Gemeinschaft ein Gesang angestimmt, der durch die Organisatoren und TeilnehmerInnen nun gemeinsam mehrmals wiederholt wird. Der Text lautet in etwa: „Die Herzen aller Menschen gehen in Liebe“. Zum Abschluss dieser Meditation werden wiederum die Hände
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vor der Brust zusammengelegt und wie die Leiterin verbeugen sich auch die TeilnehmerInnen, nachdem die Leiterin auffordert: „Wir bedanken uns“. Nach dieser abschließenden Meditation ist die Veranstaltung beendet. Trotzdem gehen die TeilnehmerInnen nicht sofort auseinander, da sich viele bereits kennen oder Mitglieder der Gemeinschaft sind. Auch die Beobachterin verabschiedet sich erst noch persönlich von einigen anderen Personen. Somit entsteht ein fließendes Ende, das vom offiziellen Veranstaltungsteil in Einzelgespräche und persönliche Verabschiedungen übergeht. Tag der Heilung (V4H) Die eintägige Veranstaltung wurde durch Flyer sowie via Internet beworben. Angekündigt war, der „Heiler“ werde im Kreis mehrerer TeilnehmerInnen arbeiten, dabei jeweils die TeilnehmerInnen einzeln behandeln und ggf. andere mit einbeziehen. Als Grund für eine Teilnahme an dem Tag der Heilung sei „jedes Anliegen“ möglich, durch die Behandlung könne von jedem Thema ausgehend ein „Heilungs- und Erkenntnisprozess“ entstehen. An der Veranstaltung nehmen 14 Personen teil, davon 11 Frauen und drei Männer. Geleitet wird sie von einem Team von MitarbeiterInnen bzw. einem engen Kreis um den Heiler. Zusätzlich zum Heiler selbst sind sechs Personen in diesem Leitungsteam, davon sind fünf Frauen und ein Mann. Der Leiter der Veranstaltung bezeichnet sich als „Heiler“ und „Lehrer“, zudem ist er, wie dem CV auf seiner Internetseite zu entnehmen ist, Heilpraktiker. Er hat eine Gemeinschaft von Menschen um sich gesammelt, die sich in konzentrischen Kreisen um den Lehrer und eine Kerngruppe seiner „SchülerInnen“ ordnen. Einige der Gemeinschaftsmitglieder leben zusammen auf einem Gelände; dort findet auch die Veranstaltung statt. Der Ort ist abgelegen im Grünen, ein kleines Dorf befindet sich in der Nähe. Das Haus mit einem großzügigen Garten bzw. Park ist saniert und wird vollständig von der Gemeinschaft betrieben und genutzt. Der großzügige Eingangsbereich wird durch eine Garderobe zur rechten und einen Empfangstisch zur linken Seite strukturiert. Die Anmeldung erfolgt am Empfang, dort werden auch Hinweise zum Ablauf gegeben, die Teilnahmegebühr bezahlt etc. Im Eingangsbereich befinden sich zudem ein langer Tisch mit Informationsmaterial, neben der Garderobe ein hohes Regal für Schuhe, sowie ein Sitzbereich mit zwei Sofas, Sesseln und einem Tisch mit Informationsmaterial und Flyern der Gemeinschaft sowie Zeitschriften. Von dem Eingangsbereich gehen sechs Türen bzw. Durchgänge ab. In einem Durchgang brennt Licht und es ist durch Schilder gekennzeichnet, dass sich hier ein Treppenhaus und Toiletten befinden. Eine große Flügeltür ist geöffnet, eine weitere ist geschlossen, die anderen Türen und Durchgänge sind kleiner und unauffälliger.
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Der eigentliche Raum der Veranstaltung wird durch eine große Flügeltür zu betreten. Der Raum hat einen rechteckigen Grundriss und öffnet sich an einer der kurzen Seiten zu einem halbkreisförmigen Erker. Die der Eingangstür gegenüberliegende, halbrunde Wand ist durch mehrere Flügelfenster durchbrochen. An der rechten Seitenwand befindet sich im vorderen Drittel eine kleine, einfache Tür; an der linken Seitenwand befindet sich in der Mitte der Wand eine weitere große Flügeltür. Die Wand mit der Eingangstür ist mit Wandschränken verkleidet, so dass die eigentliche Wand hinter Türen des Wandschranks verborgen ist. Im vorderen Bereich des Raumes, vor der Fensterseite, steht ein langer, niedriger Tisch. Auf diesem steht zentral ein Kruzifix, auf der rechten Seite eine Buddha-Figur sowie die Figur eines Löwen, auf der linken Seite befindet sich eine schwarze Figur, ein großer Kristallstein sowie ein Portrait eines asiatischen Mannes, möglicherweise eines buddhistischen Mönches. Im Raum wurden Räucherstäbchen angezündet, die einen dezenten Duft verbreiten. Es läuft leise meditative Musik im Hintergrund. Auf dem Fußboden des Raumes sind Sitzplätze vorbereitet. Alle Plätze befinden sich auf dem Boden und sind durch Kissen oder einen ebenerdigen Stuhl o.ä. gekennzeichnet. Im ganzen Raum verteilt stehen auf dem Fußboden Boxen mit Taschentüchern, so dass von fast jedem Sitzplatz aus eine Taschentuch-Box gut zu erreichen ist. Ein Platz ist deutlich von den anderen herausgehoben. Er befindet sich zentral vor dem flachen Tisch vor der Fensterseite. Daneben sind weitere Plätze an beiden Seiten so angeordnet, dass sie gemeinsam einen Halbkreis bilden. An diesen schließen sich die übrigen Sitzplätze so in der Reihe an, dass sie einem Kreis formen. Zusätzlich zu seiner Position in der zentralen Achse von Eingangstür, Tischmitte und Fenster ist der Platz auch durch das Sitzmöbel herausgehoben. Es ist ein sehr niedriger Stuhl, in der Sitzhöhe etwa 20 cm über dem Boden, so dass beim Sitzen die Beine auf dem Boden abgelegt werden. Der Stuhl selbst ist dagegen größer, er hat eine gepolsterte Sitzfläche, eine hohe gepolsterte Rückenlehne und Armlehnen. Diesem Platz gegenüber, ebenfalls in der zentralen Achse des Raumes, liegt ein rundes Boden-Sitzkissen, das einen einzigen Platz innerhalb des Kreises markiert. Neben dem zentralen Stuhl stehen einige Utensilien wie kleine Fläschchen, Tücher und eine Schüssel. Während sich die Plätze im Kreis nach und nach füllen – einige der TeilnehmerInnen reisen am Morgen an, die meisten haben zuvor im Haus der Gemeinschaft übernachtet und kommen bereits in Hausschuhen oder auf Socken in den Veranstaltungsraum – bleibt der zentrale Platz vor dem Tisch leer. Auch als die Veranstaltung beginnt, ist der Platz noch nicht besetzt. Die Mehrheit der TeilnehmerInnen scheint sich zu kennen und macht einen vertrauten Eindruck; die Beobachterin und zwei oder drei weitere TeilnehmerInnen scheinen die einzigen
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Personen zu sein, die zum ersten Mal eine Veranstaltung dieser Gemeinschaft bzw. dieses Lehrers besuchen. Nachdem alles vorbereitet ist, alle TeilnehmerInnen und das Team der AssistentInnen ihre Plätze eingenommen haben – zur linken und zur rechten Seite des leeren Mittelplatzes sitzen jeweils drei AssistentInnen – und es erwartungsvoll ruhig im Raum wird, wird die Veranstaltung durch eine der Assistentinnen, die auf dem Platz direkt neben dem leeren Stuhl sitzt, eröffnet. Sie begrüßt die TeilnehmerInnen, erklärt, wie der Tag ablaufen werde, bittet darum, während der Heiler selbst anwesend ist und mit Personen aus dem Kreis spricht, nicht hinauszugehen. Sie fordert die TeilnehmerInnen auf, zuzuhören, zu schweigen und auch über den Seminarkontext hinaus die besprochenen persönlichen Anliegen nicht weiter zu verbreiten. Nach dieser kurzen Einführung steht die erste Assistentin auf und geht zur kleinen Tür an der rechten Seite des Raums. Dort geht sie hinaus und kommt kurz darauf zurück, um sich wieder in den Kreis zu setzen. Wenige Minuten später geht die Tür erneut auf und der Heiler selbst kommt durch diese Tür in den Raum. Der Heiler ist etwa 50 bis 60 Jahre alt. Er trägt einen Bart und etwas längeres, dünnes Haar. Gekleidet ist er sehr unauffällig mit einer braunen Stoffhose sowie einem kurzärmeligen Hemd mit Muster. Um die Hüften hat er eine schwarze Fleece-Decke gewickelt, die er während der ganzen Veranstaltung um die Hüften und Beine gelegt behält. In langsamem, leicht gebrechlich wirkendem Gang geht er an der rechten Seite des Raumes entlang und setzt sich auf den freien, zentral herausgehobenen Stuhl. Nachdem er schweigend auf dem Stuhl Platz genommen hat, hält er die Hände vor dem Gesicht gerade aneinandergelegt, wie zu einem Gruß oder einem Gebet und hält einen Moment inne. Dann verbeugt er sich und nimmt Blickkontakt in den Kreis der TeilnehmerInnen auf. Er spricht langsam, leise und ruhig, die Stimme erinnert unabhängig vom Inhalt der Aussagen während der ganzen Veranstaltung an eine Meditation. Nun gibt er selbst ebenfalls einige Hinweise zum Seminar und dessen Ablauf. Die Struktur der Veranstaltung werde durch das Gespräch jeder einzelnen Person mit dem Lehrer bestimmt. Jeweils eine Person solle sich vor ihn setzen, ihm ihr Anliegen schildern und dann werde er etwas dazu sagen, ggf. noch einmal nachfragen und der Person etwas „aus dem inneren Sehen“ zu ihrem Anliegen mitteilen. Nachdem er seine Erkenntnisse vorgebracht habe, werde er möglicherweise eine oder mehrere der AssistentInnen dieser Person zuteilen, die dann mit ihr im Nebenraum ggf. noch „weiterarbeiten“ würden. Der Heiler stellt seine AssistentInnen kurz vor, indem er die Namen nennt und besonders auf eine Assistentin hinweist, die offenbar nicht zum engeren Kreis der MitarbeiterInnen der Gemeinschaft gehört und vermutlich auch denjenigen TeilnehmerInnen, die bereits öfter in der Gemeinschaft waren, noch nicht bekannt ist. Sie sei eine wirklich gute Ärztin, eine Schulmedizinerin und Homöopathin, die
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wirklich offen sei und mit der er schon viel zusammengearbeitet habe. Er vertraue ihr und habe sie daher eingeladen, aus Süddeutschland anzureisen und bei diesem Seminar mit ihm zu arbeiten. Sie „denkt weiter“ als Ärzte das sonst täten. Nun wendet sich der Heiler an seine erste Assistentin und bittet sie, ihm jeweils die Person auszusuchen, die als nächstes an der Reihe sein soll. Die Assistentin blickt dafür kurz in die Runde, steht dann auf und geht zu einer ersten Person, die im Kreis sitzt. Sie streckt die Hand nach ihr aus und beugt sich etwas zu ihr hinunter und sagt: „Möchtest Du anfangen?“ Die Person erhebt sich vom Fußboden und geht in die Mitte des Raumes, wo das Sitzkissen direkt vor dem Heiler liegt; hier nimmt sie wieder Platz. Der Heiler stellt ihr – und im Laufe des Tages jeder der teilnehmenden Personen – zwei Fragen: „Sagst Du mir bitte Deinen Namen?“ und dann: „Worüber möchtest Du sprechen?“ Die erste Teilnehmerin (F1) spricht davon, sie habe das Gefühl, ihr breche „alles weg“, sie habe „Angst“ vor dem Leben. Zudem plagten sie verschiedene körperliche Krankheiten wie Borreliose oder Probleme mit den Zähnen. Sie habe Sorge darum, dass ihre Ehe zerbrechen könnte und fühle insgesamt eher einen Hang zum Sterben denn zum Leben. Der Heiler reagiert auf ihre Ausführungen, so wie bei allen TeilnehmerInnen, erst einmal mit bestätigendem „Hm“ oder „Ja“. Auch schlimmste Erfahrungen und Erzählungen, Krankheiten oder Verzweiflungen, die manche TeilnehmerInnen vorbringen, werden auf diese Weise beantwortet. Nach dem ersten Bestätigen antwortet der Heiler nach einer Pause mit der gleichen langsamen und leisen, meditativen Sprechweise wie zuvor. Er sehe bei dieser Teilnehmerin eine „erkaltete Todesangst“, diese müsse wieder lebendig werden. Ihre Aufgabe sei es, diese Angst „fließen zu lassen“. Nach dieser kurzen Antwort zu F1 fragt der Heiler: „Möchtest Du Dich einmal zu mir legen?“, woraufhin sich die Teilnehmerin in Rückenlage auf den Boden legt, so dass ihr Kopf in seinem Schoß und die Füße in den Raum hinein liegen. Nun beginnt er, ihr die Hände aufzulegen, zuerst auf den Brustkorb, dann auf die Augen. Schließlich streicht er ihre Augen mit den Händen nach beiden Seiten aus, wodurch der Tränenfluss angeregt wird und die Frau zu weinen beginnt. Die erste Assistentin, der der Heiler zwischendurch zugenickt hat, kniet nun neben der Frau und hält ihr die Hand auf den Brustkorb. Nachdem ihr beide einige Minuten lang die Hände aufgelegt haben, wird sie aufgefordert, aufzustehen und zur Weiterarbeit mit zwei AssistentInnen in den Nebenraum zu gehen. Durch eine leise geflüsterte Besprechung weist der Heiler an, welche der AssistentInnen mit dieser Person in den Nebenraum gehen sollen und er gibt den AssistentInnen flüsternd Anweisung dazu, was sie mit der Person tun sollen. Dieser Ablauf wird sich auch bei einigen der anderen TeilnehmerInnen wiederholen. Die geflüsterten Anweisungen, soweit sie für die anderen TeilnehmerInnen zu hören sind, beinhalten häu-
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fig Reinigungshandlungen, die mit Wasser durchgeführt werden sollen oder eine Aufforderung zu einer Energetisierung bzw. energetischen Aufladung. Als F1 und zwei Assistentinnen den Raum verlassen haben, nennt der Heiler noch einige allgemeine Einsichten, die für diese Frau wie für alle anderen auch gelten würden. So merkten viele Menschen, gerade auch Therapeuten, dass sie immer wieder zu den selben Themen kämen, wenn sie sich mit sich selbst und ihrem Leben beschäftigten. Das weise darauf hin, dass dies ihre Aufgaben zur Bearbeitung seien. Mit diesen Themen seien die Personen dann eben „noch nicht fertig“ in der Bearbeitung, sie müssten mit ihnen „wirklich in die Tiefe gehen“. Dann gibt der Lehrer seiner ersten Assistentin ein Zeichen durch ein kurzes Nicken und sie sucht die nächste Person aus, die nun mit ihrem Anliegen auf den Platz in die Mitte des Kreises kommt. Die junge Frau (F2) ist offenbar schon öfter in der Gemeinschaft gewesen, sie wirkt den meisten anderen, v.a. auch den AssistentInnen und dem Heiler selbst, sehr vertraut, scheint aber nicht zum engsten Kreis zu gehören. Ihr Anliegen sei, „mein Kampf mit Dir“, wie sie dem Heiler gegenüber sagt, ihre Wankelmütigkeit. Sie könne sich immer wieder nicht ganz auf das einlassen, was ihr der Lehrer sage und was er an Lernaufgaben in ihr sehe. Als der Lehrer ansetzt, um eine Antwort auf dieses Anliegen zu geben, hält er kurz inne und fragt dann seine erste Assistentin: „Magst Du sagen, was Du in ihr siehst?“ Daraufhin fordert er F2 auf, sich vor die Assistentin zu setzen, während diese die Augen schließt, um zu sehen und mitzuteilen, was sie „in“ der Teilnehmerin sieht. Sie sehe „Eigenwillen“, der gegen die innere Person von F2 arbeite. Sie brauche eine „Entschmelzung“ von dem „trotzigen Kind“, das sie in sich habe, um erwachsen zu werden und ihren Weg weiter gehen zu können. Auch diese Teilnehmerin wird aufgefordert, ihren Kopf in den Schoß des Heilers zu legen und er legt ihr die Hände an verschiedenen Stellen von Kopf und Körper auf. Danach soll sie sich wieder auf ihren Platz im Kreis setzen. Die nächste Teilnehmerin (F3) wird wieder von der Assistentin ausgesucht und in die Mitte des Kreises gebracht. Sie wirkte schon seit Beginn des Seminars auffallend bedrückt und niedergeschlagen. Neben F3 sitzt im Kreis ein Mann (M1), mit dem sie sehr vertraut wirkt. Sie scheinen sich gut zu kennen, möglicherweise sind sie ein Paar. Sie sprechen vor Beginn des Seminars flüsternd miteinander, tauschen im Laufe des Seminars auch immer wieder Blicke aus. Auch F3 wird, als sie vor dem Lehrer Platz genommen hat, zuerst nach ihrem Namen und dann nach ihrem Anliegen gefragt. Mit leiser Stimme und unter Tränen sagt sie, sie habe „wenig Lebensmut“ und wisse nicht, wohin sie wolle. Die erste Antwort des Heilers ist eine Gegenfrage: „Hast Du schon einmal an Selbstmord gedacht?“ Die Reaktion der Teilnehmerin darauf ist lautes Schluchzen und das vorher zurückgehaltene Weinen bricht aus ihr heraus, dabei nickt sie leicht. Zugleich fängt auch
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der Mann, der im Kreis neben ihr saß, deutlich hörbar an zu weinen. Einige andere in der Runde schluchzen leise oder wischen sich Tränen aus den Augen. Der Lehrer spricht nun wieder mit der Teilnehmerin: „Du hast noch nicht verstanden, dass es Deine eigene Entscheidung ist, ob Du hier sein möchtest“, sagt er. Sie sei hier „noch nicht ganz angekommen“. Er sehe in ihr eine Ohnmacht, eine hilflose Übermacht, überhaupt viele Mächte seien in ihr zu sehen und in ihr uneins. Dann wird diese Teilnehmerin mit zwei AssistentInnen in einen Nebenraum geschickt, damit sie dort die Energie der jungen Frau stärken sollen. Als nächstes wird die Beobachterin durch die Assistentin in den Kreis geholt. Die Situation, im Kreis zu sitzen, ist sehr persönlich und stellt die Person sehr offen in den Mittelpunkt. Zudem ist der Kontakt zum Heiler sehr direkt und fast intim, da die behandelte Person direkt vor ihm sitzt und durch den Blickkontakt und den geringen Abstand der Körper voneinander eine große Nähe und Intimität erzeugt wird. In der Position im Innenkreis gibt es kaum die Möglichkeit, dem Blick des Heilers auszuweichen. Nachdem die Beobachterin ein Anliegen in nur einem kurzen Satz vorgetragen hat und dazu zu weiteren Ausführungen ansetzen will, beginnt schon der Lehrer mit seiner Antwort. Er sagt, das Thema, welches er in der Teilnehmerin sehe, sei „nicht zugelassene Angst“. Deutlich sehe er in ihr eine „energetische Blockade im Herzzentrum“. Die Aufgabe dieser Teilnehmerin sei somit das „Fließen lassen“, das „Zulassen von Angst“. Diese Angst und die Energie müssten im „Herzzentrum“ gespürt werden, nur so könnten sie zugelassen werden, die Energie könne wieder fließen und so würde auch Geduld entstehen. Auch ein Innehalten im Alltag in verschiedenen Situationen wird der Beobachterin empfohlen, um dadurch zugleich Angst und Geduld zu fördern. Nach diesen Ausführungen wird auch die Beobachterin aufgefordert, sich in den Schoß des Heilers zu legen. Hier wird die vorher bereits große Nähe, die durch den Augenkontakt und den geringen Abstand der Sitzpositionen gegeben war, durch die direkte Berührung noch einmal erhöht. Nachdem die Beobachterin sich in Rückenlage mit dem Kopf auf den Schoß und die Beine in den Kreis der TeilnehmerInnen hinein hingelegt hat, werden ihr die Hände ebenfalls auf den Brustkorb und auf den Kopf gelegt. So werden sie etwa eine halbe Minute gehalten, bevor der Heiler erneut seine erste Assistentin auffordert, dazu zu kommen. Sie kniet sich neben die Beobachterin und legt eine Hand auf den Bauch und die andere Hand auf den Arm. Bei diesen Handauflegungen wird nicht gesprochen, so dass es bis auf langsame, deutliche Atemgeräusche ganz still ist. Dadurch werden aber auch die Orte oder mögliche (intendierte) Wirkungen, die durch das Handauflegen erzeugt werden sollten, nicht erklärt; es gibt also in diesem Sinne, bis auf die vorherigen Ausführungen zur „energetischen Blockade im Herzzentrum“ keine Beschreibung für die behandelte Person oder durch Worte gelenkte Erwartungen der Beobachterin. Nachdem der Heiler und seine erste Assistentin die Hände einige Minuten
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dort gehalten haben, wird die Beobachterin ganz auf dem Boden abgelegt. Der Heiler steht nun auf, bleibt aber vorerst an ihrem Kopf. Sie wird aufgefordert, tief zu atmen. Dann geht er neben sie auf die Seite und beginnt, ihr kräftig auf den Brustkorb zu klopfen. Diese Schläge sind sehr kräftig bis schmerzhaft. Anschließend wird der Oberkörper der Beobachterin unter den Achseln kurz angehoben und dann wieder auf den Boden fallen gelassen. Dies geschieht mehrfach und ist recht schmerzhaft im Rücken. Anschließend wird, auch das unangenehm bis schmerzhaft, auf den Kehlkopf gedrückt und dieser hin und her geschoben, um, wie nun kurz erklärt wird, in der Patientin die „Energieknoten zu lösen“. Nachdem diese verschiedenen Handgriffe an der Beobachterin durchgeführt wurden, liegt sie nun noch auf dem Fußboden in der Mitte des Kreises. Nun wird ihr etwas Wasser über die Stirn geträufelt, das an den Schläfen herunterläuft. Nachdem auch dieser Vorgang vorüber ist, wird die Beobachterin aufgefordert, sich wieder aufzurichten und sich noch einmal auf den Platz vor dem Heiler zu setzen. Als die Beobachterin aufsteht, rinnt noch Wasser von ihrer Stirn, daraufhin reicht eine der AssistentInnen ihr ein Tuch, um das Wasser abzutrocknen. Der Heiler fragt nun die Teilnehmerin noch einmal, wie sie sich jetzt fühle. Auf die sehr unbestimmte kurze Antwort, die die Beobachterin aufgrund der ungewohnten Situation gibt, fordert der Heiler die Beobachterin auf, sich noch eine Weile zu einer anderen Assistentin im Kreis in den Schoß zu legen und von ihr „halten“ zu lassen. Die Beobachterin legt sich also erneut in Rückenlage auf den Fußboden, den Kopf auf den Schoß einer sehr jungen Frau gelegt und diese legt auf den Kopf, den Brustkorb und das Gesicht abwechselnd die Hände auf. Während dieses „Haltens“ und dieser Berührung wird die nächste Teilnehmerin vor den Lehrer geholt und als diese Teilnehmerin mit ihrer Behandlung fertig ist, gibt die Assistentin der Beobachterin ein Zeichen, sich wieder auf ihren Platz in den Kreis zu setzen. Die nächste Teilnehmerin (F4), die nun im Kreis sitzt, hat eine ganze Reihe von Anliegen, die sie dem Heiler aufzählt. Insgesamt wirkt sie sehr krank, kraftlos, multimorbid. Sie habe viele verschiedene Krankheiten, besonders beschäftige sie eine degenerative erbliche Augenkrankheit, die ihr in immer stärkerem Maße zu schaffen mache. Nun wendet sich der Heiler zum ersten Mal der Ärztin zu und fragt sie flüsternd nach ihrer Meinung. Die Ärztin diagnostiziert daraufhin: „Dein Immunsystem arbeitet nur mit 30 oder 40%. Du musst Dein Immunsystem aufbauen.“ Daraufhin ergreift noch einmal F4 das Wort, um weitere Krankheiten aufzuzählen. Sie habe auch große Probleme mit der Haut. Das komme sicher von mangelnder Berührung, die sie auch durch ihre Mutter immer vermisst habe. Auch habe sie häufig Kopfschmerzen, alles sei ihr zu viel. Darauf fordert der Heiler sie auf, sich auf den Fußboden zu legen, was sie auch tut. Nun steht er erneut auf und nimmt eine Behandlung an ihr vor, indem er auf ihren Brustkorb klopft, auch bei ihr wird der Kehlkopf mit der Hand gedrückt und geschoben. Als diese
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Behandlungen abgeschlossen sind, setzt sich F4 noch einmal vor den Heiler. Auch sie wird nach ihrem jetzigen Befinden gefragt, woraufhin sie noch einmal ihre Leiden aufzählt, v.a. ihr Problem mit den Augen. Darauf wiederholt die Ärztin ihre Diagnose, die Person habe ein nur mit 30-40% seiner Leistung arbeitendes Immunsystem, woraufhin der Heiler eine direkte Anweisung formuliert: Sie solle sich erst einmal nur um den Körper kümmern, erst danach könne man sehen, ob sie die Kraft für andere Aufgaben habe. F4 lässt jedoch nicht locker, sie fragt noch einmal: „Was kann ich sonst noch tun? Auf der geistigen Ebene, was sind da meine Aufgaben?“ Der Heiler antwortet nun sehr bestimmt: „Im Moment gar keine. Jetzt ist nur dein Körper die Aufgabe.“ Daraufhin schickt er die Ärztin mit F4 in den Nebenraum, um das weitere Vorgehen miteinander zu besprechen, wie F4 zur Stärkung ihres Immunsystems gelangen könne. Nachdem die beiden den Raum verlassen haben, die Beobachterin wieder im Kreis der anderen TeilnehmerInnen Platz genommen hat und auch die anderen Personen, die mit AssistentInnen hinausgegangen waren, sich wieder in den Kreis gesetzt haben, schiebt der Lehrer einen kurzen Vortrag zum Thema Heilung ein, der allgemeingültige Hinweise an alle gerichtet formuliert. Heilung sei „ein Prozess“, der „immer in Bewegung“ bleiben müsse. Die Orientierung müsse immer nach vorn gehen, es sei „egal, was in der Vergangenheit war“ – dies sei für das Jetzt nicht relevant. Gleichzeitig sei auch wichtig, sich klar zu machen, dass hier die Prozesse zwar angestoßen würden, was dann daraus geschehe, sei aber nicht planbar. Grundsätzlich sähe er, der Heiler, sich als Spezialisten für den Geist und den feinstofflichen Körper. Darüber hinaus arbeite er dann mit Ärzten zusammen, die Spezialisten für den materiellen Körper seien. Allerdings sei nicht jeder Arzt zu dieser Zusammenarbeit bereit, er stehe nur mit denjenigen im Kontakt, die, wie er, „auch auf anderen Ebenen arbeiten“ würden. Nach der Behandlung einer weiteren Teilnehmerin folgt dann die Behandlung des ersten der drei anwesenden Männer. Auch er (M2) setzt sich vor den Lehrer und wird nach seinem Namen und seinem Anliegen gefragt. Der etwa 40jährige benennt als dringendes Anliegen seine Hautprobleme. Diese träten immer wieder auf, seien mal mehr, dann wieder weniger akut, aber dauerhaft ein Problem. Der Heiler gibt als Antwort, er sehe hier „fehlende Berührung“, v.a. von der Mutter. Dann stellt er eine Rückfrage: „Hast du engen Körperkontakt zu deiner Mutter gehabt?“ M2 verneint. Seine Mutter habe ihm sogar einmal erzählt, dass sie ihn nicht gestillt habe. Auf diese Äußerung hin nicken viele der anderen TeilnehmerInnen im Kreis wissend oder bestätigend. Er habe, so M2 weiter, darum auch eine große Wut auf seine Mutter. Auch hierauf nicken viele der TeilnehmerInnen verständnisvoll. Sein Hauptgefühl der Mutter gegenüber sei Wut, fährt der Mann fort und beginnt dann zu weinen, zu krampfen und laut und wütend gegen seine Mutter zu schreien, sie in größter Wut anzuschreien und ihr Vorwürfe dafür zu machen,
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dass sie ihm dies „vorenthalten“ habe. Diese Phase des Wutausbruchs dauert etwa 15 min. Nachdem er seine Wut deutlich zum Ausdruck gebracht und viel geweint hat, spricht der Heiler leise und ruhig zu ihm: „Du musst dich nach vorn wenden. Lass die Mutterfigur jetzt stehen und schau nach vorne.“ Er gibt ihm die Aufgabe, sowohl äußerlich an der Haut als auch seelisch zu arbeiten. Dazu brauche er eine gute Ärztin, entweder in seinem Wohnort, wenn er dort eine fände, oder er solle zu der hier anwesenden Ärztin kommen. Diese schaltet sich nun ein und sagt, sie würde den Mann selbstverständlich zwei Wochen krankschreiben, damit er zu ihr nach Süddeutschland kommen und dort mit ihr arbeiten könne. Auch seine Freundin sollte bei dieser Arbeit mit einbezogen werden. Nach dieser langen Behandlung im Kreis nimmt M2 wieder Platz in der Runde. Die nächste Person, die vor den Heiler kommt, ist seine Nachbarin (F5), die wieder durch die erste Assistentin ausgesucht und in die Mitte geholt wird. F5 ist aus der Schweiz. Auch sie hat eine ganze Reihe von Anliegen, die sie vorbringt, Schmerzen an verschiedenen Stellen im Körper, die sie beschäftigen. V.a. sei sie aber beeinträchtigt durch starke Kopfschmerzen, die sie schon lange habe und die sie auch mit ärztlicher Hilfe nicht habe in den Griff bekommen können. Zu ihr gibt der Heiler keine größeren Ausführungen, sondern fordert sie gleich auf, sich auf den Fußboden zu legen. Auch sie legt sich auf den Rücken, auf eine Decke, die dort hingelegt wurde. Sie ist die erste Person, die sich mit den Füßen zum Heiler und mit dem Kopf zum Kreis der TeilnehmerInnen legt, so dass die folgende Behandlung sehr nah an den anderen TeilnehmerInnen stattfindet. Wieder beginnt der Heiler damit, der Frau die Hand aufzulegen, dazu legt er sie erst auf den Brustkorb, auf den Bauch, dann auf den Kopf und den Hals. Er führt wieder eine Behandlung an der Stirn durch, bei der Wasser auf die Stirn geträufelt wird. Dieser Vorgang wird mehrfach wiederholt, so dass F5 das Wasser an den Schläfen herunterläuft. Der Lehrer gibt mehreren AssistentInnen Zeichen, dass sie dazukommen und ihn bei der Behandlung unterstützen sollen. Die erste Assistentin ist wieder dabei, dazu kommen im folgenden noch zwei weitere AssistentInnen sowie die Ärztin, so dass nun insgesamt fünf Personen um die Patientin herum auf dem Boden knien und verschiedene Stellen an ihrem Körper berühren oder dem Heiler assistieren, z. B. das Wasser reichen o.ä. Die nun folgenden Handlungen werden vom Heiler mit den Worten eingeleitet, hier müsse „die Energie wieder ins Fließen“ gebracht werden und er müsse „einen Knoten in der Kehle lösen“. Nun wird die weitere Behandlung deutlich dramatischer, fast hektisch. Während zwei AssistentInnen neben der Frau sitzen und ihre Arme und Beine berühren, kniet eine weitere Person hinter ihrem Kopf und hält diesen in beiden Händen. Dann beginnt der Heiler mit der Bearbeitung ihrer Kehle bzw. ihres Kehlkopfes. Wie mit einem imaginären Messer in der Hand macht er am Kehlkopf der Frau einen „Schnitt“. Dann beugt er sich zu ihr hinunter und hält seinen Mund an die Stelle,
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an der er „geschnitten“ hat. Nun saugt oder haucht er an dieser Stelle mehrfach an den Hals der Frau. Die Frau atmet dabei schwer und wirkt sehr angestrengt. Alle AssistentInnen wirken sehr konzentriert, die anderen TeilnehmerInnen interessiert und z. T. etwas irritiert. Nachdem der Heiler mit dieser Behandlung fertig ist, setzt er sich wieder auf seinen Stuhl, auch die AssistentInnen und F5 nehmen wieder im Kreis Platz. F5 scheint durch die Behandlung sehr angestrengt zu sein und wirkt sehr müde. Die erste Assistentin kündigt an, dass es jetzt eine Pause geben wird. Sie bedankt sich bei dem Lehrer für die bisher geleistete Arbeit. Daraufhin steht dieser auf und verlässt als erstes den Raum, während alle anderen TeilnehmerInnen und AssistentInnen noch im Kreis sitzen bleiben. Die erste Assistentin sagt, dass alle zum gemeinsamen Mittagessen im Haus gehen können. Sie weist darauf hin, dass während der Mittagszeit für eine Stunde im Haus geschwiegen werden soll. Im späteren Teil der Mittagspause könne man sich dann noch austauschen, sofern man dazu Bedarf hätte. Das Essen findet im Kellergeschoss des Hauses statt, es ist z. T. vegetarisch, z. T. vegan. Außer den SeminarteilnehmerInnen essen noch andere Personen mit, die in der Gemeinschaft dauerhaft oder als Gäste wohnen. Während des Essens wird nicht gesprochen. Wo doch verbale Kommunikation nötig ist, wird dies sehr kurz und flüsternd getan. Das Essen ist auf einem Buffet in der Mitte des Raumes aufgebaut, acht Tische mit je vier Plätzen stehen an den Wänden angeordnet. Einige Personen nehmen das Essen mit durch einen Hinterausgang in den Gartenbereich. Von dem länglichen Essensraum geht im hinteren Bereich ein bogenförmiger Durchgang in einen weiteren Raum. Hinter dem Torbogen ist ein schwerer dunkler Vorhang angebracht und an der Seite zusammengebunden. Im hinteren Raum, der zu Beginn der Essenszeit einsehbar ist, steht eine Tafel mit etwa 12-15 Plätzen. Als sich der Essensraum füllt, wird der Vorhang vor dem Durchgang zugezogen. In den folgenden Minuten kommen einzelne der AssistentInnen hinter dem Vorhang heraus, nehmen sich etwas zu essen und gehen damit wieder in den Raum hinter dem Vorhang. Eine der Assistentinnen wird von F4 beim Essenholen angesprochen, ob sie noch einmal mit der ersten Assistentin sprechen könne. Diese kommt und wird von F4 gefragt, ob sie ein zweites Mal vor dem Heiler sitzen und eine Behandlung bekommen könne, ob sie noch einmal Fragen stellen könne, was sie denn nun genau tun solle und was er für Aufgaben in ihr sehe. Im Verlauf dieses Seminars wird sie jedoch nicht noch einmal an die Reihe kommen. Nach dem Mittagessen befinden sich die meisten TeilnehmerInnen allein oder in Zweiergrüppchen auf dem Gelände der Gemeinschaft, sitzen im Garten oder gehen etwas umher. Einige haben sich im Haus zurückgezogen. Nach der Mittagspause wird das Seminar in gleicher Weise fortgesetzt wie am Vormittag. Wieder sitzen alle im Kreis und warten, bevor der Heiler den Raum
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betritt. Wieder wählt die erste Assistentin die Reihenfolge, in der die Personen vor dem Heiler sitzen und ihr Anliegen vorbringen können. Nachdem acht Personen am Vormittag an der Reihe waren, werden nun nach der Pause die anderen sechs nacheinander aufgefordert, sich vor den Lehrer zu setzen. Die erste Person nach der Pause ist wiederum ein Mann (M1). Er war zuvor schon sehr involviert gewesen, als die Frau neben ihm vor dem Heiler gesprochen hatte; nun ist er selbst an der Reihe und bringt sein Anliegen vor. Dabei weint er. Auch ihm sagt der Heiler, es müsse bei ihm alles wieder „ins Fließen kommen“. Auch bei ihm führt er eine Behandlung mit Wasser auf der Stirn durch und schickt ihn dann mit zwei AssistentInnen in den Nebenraum, damit er dort eine energetische Unterstützung erhalte. Zwei weitere Frauen sind nun nacheinander an der Reihe. Eine Frau fühlt sich „steif“, sie könne sich nur sehr schlecht bewegen und alles in ihrem Leben sei in einer Starre. Die zweite Frau ist selbst Therapeutin und klagt über Probleme mit ihrer Leber sowie eine konfliktive Familiensituation. Danach folgt der dritte Mann aus dem Kreis der TeilnehmerInnen. Er fühle sich verkrampft und starr, sagt dieser Mann, außerdem sei seine Partnerschaft in der Krise. Auch für ihn sieht der Heiler die Aufgabe, „loszulassen“ und „ins Fließen zu kommen“. Zudem sehe er viel „Macht von Frauen“ in ihm und „Herrschsucht in der Mutter-Linie“. Darauf fragt er den Teilnehmer: „Mutter oder Oma?“ Worauf dieser wie selbstverständlich „Oma“ antwortet und wiederum viele andere TeilnehmerInnen nicken. Daraufhin erzählt der Mann von seiner Oma, die mit der Familie im Haus gewohnt habe und zu ihm sehr streng und unterdrückend gewesen sei. Er müsse also lernen, so der Lehrer, diese herrschsüchtige Frau loszulassen und sich nach vorn zu wenden. Die nächste Teilnehmerin ist eine ältere Frau, zwischen 60 und 70 Jahre alt, die nun als vorletzte auf dem Kissen vor dem Lehrer Platz nimmt. Sie sei mit Entscheidungen in ihrem Leben unzufrieden. Sie habe nicht immer den richtigen Weg gefunden, sondern auch „aus Feigheit hinterhältige Wege“ gewählt. Sie möchte aus diesem Verhalten herauskommen. Es sei gut, so der Lehrer, dass sie diese Entscheidung getroffen habe: „Das Versteckspiel hat ein Ende.“ Sie sei auf einem guten Weg. Immer wieder lässt der Heiler zwischendurch Sätze einfließen, die sich nicht explizit an eine der TeilnehmerInnen, sondern an alle Personen im Kreis richten. So äußert er sich z. B. zu der Frage, für welche Aufgaben er der Richtige sei und wie ein guter Lehrer oder Heiler zu erkennen sei. Mit dem Verstand könne das nicht gelingen. „Der Verstand kann einen echten Lehrer niemals wirklich erkennen. Der Verstand kann nur zwischen ‚gut‘ und ‚schlecht‘ unterscheiden, aber nicht zwischen ‚echt‘ und ‚falsch‘, weil er nämlich selbst ‚falsch‘ ist.“ Nur über die Innenschau, die Meditation und das Loslassen des Verstandes sei es möglich, einen wahren Lehrer und Heiler zu erkennen.
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Die letzte Teilnehmerin, die vor dem Heiler Platz nimmt, klagt über starke Rückenschmerzen. Sie arbeite in einer Küche, da fühle sie sich oft überlastet. Die Arbeit sei sehr schwer und gerade für den Rücken sehr anstrengend. Sie fühle sich da nicht gut unterstützt. Mit seiner Antwort bekräftigt der Heiler, dass ihr die Unterstützung fehle. Sie habe viel Stärke, müsse aber darauf achten, dass ihr die Kräfte nicht ausgingen. Es wäre daher nötig, dass sie sich immer wieder mit Energie versorge. Auch sie wird aufgefordert, sich in Rückenlage auf den Fußboden zu legen, was ihr sichtlich schwer fällt. Die AssistentInnen holen für sie zusätzliche Kissen und legen sie unter die Beine und den Nacken, damit sie gut auf dem Boden liegen kann. Nun erfolgt wiederum eine Behandlung durch Handgriffe bzw. Handauflegung durch den Heiler sowie die erste Assistentin. Vor allem der Bauch, der Brustkorb und die Seiten der Patientin werden so behandelt. Nachdem die letzte Teilnehmerin durch den Heiler behandelt wurde und sich wieder auf ihren Platz im Kreis gesetzt hat, beendet der Heiler das Seminar. Dann steht er auf und verlässt wiederum als erster den Raum, während alle anderen noch sitzenbleiben. Danach schließt die erste Assistentin noch einmal das Seminar, indem sie alle verabschiedet, einen guten Heimweg wünscht, auf weitere Veranstaltungen hinweist und zur weiteren Arbeit mit dem Meister einlädt, wenn die TeilnehmerInnen durch die Weise, wie der Lehrer „in euch sieht und mit euch arbeitet“ angesprochen und auf ihrem Weg weitergebracht worden seien. Dann stehen die AssistentInnen auf, beginnen mit leisen Gesprächen untereinander. Auch einige der TeilnehmerInnen beginnen, sich flüsternd zu unterhalten, einige gehen aus dem Raum. Die erste Assistentin spricht noch einmal mit einigen der TeilnehmerInnen, die scheinbar in der Gemeinschaft wohnen oder schon öfter hier teilgenommen haben, über ihre weiteren Pläne, wann sie wieder zu einer Veranstaltung kommen oder wie sie weiterarbeiten wollen. Dabei spricht sie auch häufiger im Namen des Heilers, den sie in diesen direkten Gesprächen zu vertreten scheint. Die Beobachterin verlässt nun ebenfalls den Seminarraum, nimmt noch einmal im Sitzbereich Platz, um die Veranstaltungsflyer und Bücher des Heilers in den Blick zu nehmen. Einige der TeilnehmerInnen gehen wiederum auf Socken und ohne weiteres Gepäck zum Treppenhaus, um wieder ihre Zimmer aufzusuchen, vier oder fünf der TeilnehmerInnen, auch die Beobachterin, verlassen das Haus und gehen zum Parkplatz, um abzureisen.
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