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German Pages [146] Year 2014
Helmut Umbach
Heilig – in Christus Studien zu Raumaspekten der Christologie im Neuen Testament, zur Kirchenraum-Pädagogik und zum protestantischen Kirchenbau heute
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0303-5 ISBN 978-3-8470-0303-8 (E-Book) Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Christus Pantokrator, Foto: Helmut Umbach Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Laßt uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus. Eph 4,15
Für Irene
Vorwort des Autors
Die in dieser Studie gesammelten Aufsätze sind z. T. schon unmittelbar im Zusammenhang mit meiner Dissertation »In Christus getauft – von der Sünde befreit. Die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus« entstanden, und, z. T. aktualisiert, im Deutschen Pfarrerblatt veröffentlicht. Wegen der Nähe der Thematik zu Raumvorstellungen und damit zur Kirchenraum-Pädagogik werden sie gemeinsam mit neueren Forschungen zu diesem Thema hier abgedruckt. Aus unterschiedlichen Perspektiven wird damit das gemeinsame Thema »Heilig – in Christus« beleuchtet, so ist es – gleichsam als geheimer Perspektivpunkt – zu meinem theologischen Lebensthema – parallel zu meiner kirchlich-beruflichen Tätigkeit als Pfarrer, Studienleiter und Dekan geworden. Dieses »Gegenstandsinteresse« hat mir immer wieder Kraft und Inspiration gegeben, mich den Herausforderungen in Kirche und Amt – theologisch verantwortet – zu stellen. Deshalb danke ich zu allererst meinen wichtigsten theologischen Lehrern, Prof. Dr. Dr. Hartmut Stegemann (†), Prof. Dr. Manfred Josuttis, der dankenswerterweise das Vorwort zu diesem Buch geschrieben hat, ebenso meinen kirchlichen »Entdeckern« und Förderern, Propst Prof. Dr. Rudolf Gebhardt (†) und OLKR Dr. Dr. Werner Hassiepen (†), sowie »meinen« Theologiestudierenden aus meiner Landeskirche »damals« in Göttingen, die jetzt im Pfarrberuf sind, sowie den Studierenden der Universität Kassel heute, die mich in den religionspädagogischen Seminaren zum Neuen Testament auf ökumenischer Ebene seit 2001 »beflügeln«, mich immer intensiver mit den neutestamentlichen Texten selbst zu beschäftigen. Ganz herzlich danken möchte ich an dieser Stelle aber auch Frau Beate Nennstiel, die die unterschiedlichen Manuskripte z. T. abgetippt und die verschiedenen Vorlagen computermäßig in eine angemessene »Ordnung« brachte, Herrn Pfarrer Dr. Dr. Parvis Falaturi und Herrn Thomas Hilwig M.A. für das Korrekturlesen, sowie Frau Susanne Franzkeit und Frau Charlotte Lamping von V& R unipress für die gewohnte wohlwollende und professionelle Begleitung, ebenso meiner Landeskirche und dem Pfarrverein Kurhessen-Waldeck für Druckkostenzuschüsse.
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Vorwort des Autors
Gewidmet soll jedoch diese Veröffentlichung sein – verbunden mit unaussprechlichem Dank für so viel Verständnis über 30 Jahre – meiner Liebsten: Irene. Göttingen, Kassel, Fritzlar, Ostern 2014
Helmut Umbach
Inhalt
Vorwort des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Vorwort von Manfred Josuttis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Einführung: Heilig – in Christus. Phänomenologische Spannungsbögen zwischen Exegese, Religionspädagogik und Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Der neue Mensch in Christus. Raum- und Gewandmotive in Kol und Eph . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Das Bekenntnis zu Jesus Christus im Wandel der Geschichte. Anmerkungen zu Christologie und Paränese des Hebräerbriefs und ihre Relevanz heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Gemeinschaft der Heiligen – Gemeinschaft der Sünder? oder : Bezeugung und Bewahrung des Anfangs. Zum Sündenbegriff und »Bleiben in der Liebe« in 1 Joh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
6. »Durch die geöffneten Pforten des Paradieses«. Phänomenologische Anmerkungen zu Martin Luthers »Befreiung« als religiöses Geschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
7. »VIVA VOX EVANGELII«. Zentrale Aussagen Martin Luthers zu Gottesdienst und Kirchengebäuden als Folge der reformatorischen Rückbesinnung auf das rechtfertigende Wort Gottes als ›articulus stantis et cadentis ecclesiæ‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
8. Erfahrungen des Göttlichen bewegen. Die Entdeckung der Kirchenraum-Pädagogik und ihre Relevanz für die religiöse Erziehung heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9. »Andere Räume« – »Umfriedete Bezirke« – »Grenzüberschreitungen«. Protestantischer Kirchenbau zwischen Säkularisierung und Sakralisierung und die Relevanz der Kirchenraumpädagogik für die gegenwärtige religiöse Erziehung . .
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10. Räume und Rituale als Rekonstruktion des Religiösen. Transformationen in »Andere Räume« und »Umfriedete Bezirke« . .
127
11. Bleibende Geliebte. Predigt zu 1 Joh 4, 7 – 12 am Sonntag, d. 25. April 2010, Universitätsgottesdienst Kassel Karlskirche . . . .
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12. Veröffentlichungen Helmut Umbach . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.
Vorwort von Manfred Josuttis
Helmut Umbach, Dekan in der Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck und Professor im Fachbereich Geistes- und Kulturwissenschaften an der Universität Kassel, hat nach seinem Studium die verschiedensten wissenschaftlichen, pädagogischen und pastoralen Aufgaben wahrgenommen. In diesem Band sind ältere und neue Texte zusammengestellt, die für die gegenwärtige Situation in Kirche und Gesellschaft gerade durch ihre Kombination fruchtbare Perspektiven eröffnen. Seine neutestamentliche Dissertation, in einer hochangesehenen Reihe veröffentlicht, behandelte im Untertitel »die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus« (1999). Ein Thema also, das scheinbar (!) in volkskirchlichen Verhältnissen überholt ist. Und die Habilitation von Fragestellungen der Praktischen Theologie bestimmt, öffnete und schärfte den Blick für die Wahrnehmung des evangelischen Kirchbaus: »Heilige Räume – Pforten des Himmels« (2005). Damit sind auch die beiden Begriffe und Felder benannt, die im Zentrum der hier vorgelegten Studien stehen: Was ist ein Raum? Was schafft einen heiligen Raum? In den Ausführungen wird deutlich, dass ein spezifisch phänomenologischer Ansatz die Basis für den Wahrnehmungszusammenhang der verschiedenen Bereiche bildet. In den neutestamentlichen Studien, die das Buch präsentiert, verfolgt Umbach das paulinische Raumverständnis von Kirche und Christsein in der nachapostolischen Zeit. Die Besonderheit seines Vorgehens liegt darin, dass er die alten Texte immer mit gegenwärtigen Problemen ins Gespräch bringt. Ich nenne kurz einige Stichworte. Die Sprengkraft der Texte, die sich damals im Konflikt mit den Juden und dem römischen Weltreich zeigten, entdecken heute zahlreiche Philosophen in der Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus. Und sobald Sünde nicht mehr als »Macht«, sondern moralisch als »Tat« verstanden wird, kommt es im kirchlichen Raum, etwa in den Missbrauchsverfahren der römischen Kirche, zu erheblichen Schwierigkeiten. Für das aktuelle Verständnis von »Kirche«, das derzeit von sozialpsychologischen und kommunikationstheoretischen Konzepten beherrscht wird, kann man hier lernen: Kirche ist mehr als der Geltungsbereich von amtlichen Stempeln, von Amtsträgern und
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Vorwort von Manfred Josuttis
Steuerzahlern, Kirche ist »Gemeinde der Heiligen«. Im NT gibt es ja auch keine Kirchengemeinden, die zu einer Landeskirche gehören, sondern Kirche existiert als Gemeinde. Die phänomenologische Perspektive prägt im letzten Teil auch die Überlegungen zur Kirchenraum-Pädagogik. Das fängt an mit frühen Eindrücken des kindlichen Staunens, erschließt dann aber auch die Bedeutung von Ortsräumen und Zeiträumen, die man Rituale nennt, für die gottesdienstliche Anrufung des heiligen Gottes. Die Macht aller Mächte begleitet und bestimmt das Leben von der Geburt bis zum Sterben. Gerade in der Kombination von Phänomenologie und Religionspädagogik öffnet sich der Zugang zu einer Wirklichkeit, die sich dem Diktat von »Zahlen und Figuren« entzieht. Das theologische Bindeglied zwischen neutestamentlicher Vergangenheit und religionspädagogischer Gegenwart bilden zwei im Charakter höchst unterschiedliche Studien zu M. Luther. Zunächst geht es um sein Verständnis von Freiheit in wichtigen Etappen seiner Lebensgeschichte, die Umbach im Gespräch mit der neueren Luther-Forschung rekonstruiert und in der Macht des zugesprochenen Evangeliums realisiert sieht. Welche Folgen dieser Ansatz für die Gestaltung von Gottesdienst und Kirchengebäuden freisetzt, zeigt die Zitatensammlung von Texten des Reformators, die er zunächst für die Tagung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien zusammengestellt hat und die inzwischen zu einer Art Bestseller in der nicht theologischen Forschung geworden ist. Gerade in diesen Aussagen kann man entdecken, wie eine Evangelische Kirche, die sich nach meinem Verständnis nicht unbedingt lutherisch nennen sollte, im Horizont der biblischen Tradition Freiheit und Gebundenheit erfährt. Helmut Umbach kann man für sein inhaltsreiches wie weitreichendes Buch schlicht und einfach nur danken.
2.
Einführung: Heilig – in Christus. Phänomenologische Spannungsbögen zwischen Exegese, Religionspädagogik und Architektur
Diese Veröffentlichung schlägt mit ihren Beiträgen nicht nur die Brücke zwischen meiner Dissertation zur paulinischen Tauftheologie »In Christus getauft – von der Sünde befreit« und meiner Habilitationsschrift »Heilige Räume – Pforten des Himmels«, es soll auch – abschließend – ein Beispiel der Predigt von 1 Joh 4 zeigen, wie theologische Erkenntnisse in der »Königsdiziplin« der Predigt sprachlich »für viele Zeitgenossen« umgesetzt werden können: Wenn Theologie wesentlich »Schriftauslegung« ist, wie mein erster theologischer Lehrer, Hans Conzelmann, sagt, dann muss sie ihrerseits münden in die Predigt des Evangeliums, wie schon Paulus bezeugt: Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht, alle, die daran glauben (Röm 1,16). Damit zieht sich, so wird dem Leser deutlich, die Grundlage paulinischer Theologie des »Seins in Christus« (2 Kor 5,17) in allen Beiträgen durch. So wird in der Entstehungszeit des Kolosser- und Epheserbriefs, und das will ich hier in meinem Beitrag zu den Raum- und Gewandmotiven in Kol und Eph aufzeigen, – im Gegensatz bzw. in Fortführung und Transformation der paulinischen Briefe – nicht einfach die zeitliche Dimension der in apokalyptische Motive gegossenen Botschaft vom »Ende der alten Welt« und dem »Beginn der neuen« zugunsten einer räumlichen Sprache aufgegebenen – die Sache ist viel komplizierter – wohl aber werden Schwerpunkte anders gesetzt und damit – das ist meine These – wird eine wichtige Dimension der paulinischen Theologie, nämlich die räumliche Begrifflichkeit, die bei Paulus mit der Rede vom »Sein in Christus« angelegt ist, als ein für die Zukunft der Kirche wesentlich tragfähiges Modell weiterentwickelt. Die Anmerkungen zur Christologie und Paränese des Hebräerbriefs arbeiten – vor dem Hintergrund paulinischer Theologie – das Thema »Sünde und Buße« als eigenständiges exegetisch auf, stellen aber die Situation der Entstehung des Hebräerbriefs als »antiker, globaler Lesepredigt« mehr in den Mittelpunkt und bilden auf diese Weise einen Transfer zur gegenwärtigen Situation der Globalisierung und ihren neuen Abhängigkeiten. »Das Bekenntnis zu Jesus Christus« ist
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Einführung
nicht nur exegetischer Ertrag aus dem antiken Christentum, sondern will – als gegenwärtige Schriftauslegung – auch heute Relevanz beanspruchen. In den Studien zum Sündenbegriff und »Bleiben in der Liebe« im 1. Johannesbrief geht es, und das wird hoffentlich deutlich, nicht nur um einen – gegenüber der paulinischen Theologie – differenzierteren Sündenbegriff (Sündhaftigkeit, Sündlosigkeit, Sünde zum Tode), sondern um eine weitergehende Reflexion angesichts von »Verfehlungen von Christen«, die das »Bleiben in der Liebe« der Gesamtkirche festhalten will als ihre Zukunft! Zukunft hat die Kirche nach 1 Joh nur, indem sie ihren Anfang »in Christus« bewahrt. Damit ist die Rückbindung an die Jesustradition, wie sie dann auch die Evangelien »erzählen«, vorbereitet, gleichzeitig aber die theologische Weiterentwicklung des »globalen« Bekenntnisses zur Jesus Christus forciert. Dass dies heute auch im ökumenischen Horizont Folgen haben kann und die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen gleichzeitig Gemeinschaft der begnadigten Sünder – in Weiterentwicklung des lutherischen Satzes vom Christen als »simul iustus et peccator« – ist, könnte die ekklesiologische Konsequenz heute sein. Die Brücke zwischen meiner neutestamentlichen Forschung (in Göttingen) und der religionspädagogischen Lehre (in Kassel) bilden Martin Luthers Aussagen über die Entdeckung des Evangeliums. Weshalb Martin Luther auch heute exemplarisch für die Interdependenzen zwischen Heiliger Schrift, Biographie und religiöser Erziehung steht, kann man festmachen an Luthers protestantischem Raumverständnis des »Seins in Christus«: Was »Leben in christlicher Freiheit« bedeutet, wird erkennbar im Namenswechsel von »Luder« zu »Luther« (eleutherios) und dem »Ort des Rückzugs« auf der Wartburg, wo der Übersetzer des Neuen Testaments in Deutsche »vollkommen müßig und voll beschäftigt« zugleich ist und »unablässig« schreibt. Aus der »Heiligen Schrift« selbst ist ihm die Erkenntnis von »Gottes Gerechtigkeit« als »gerechtmachender« Gerechtigkeit offenbar geworden. Der Gerechte lebt durch Gottes Geschenk, dies ist eine »iustitia passiva«, durch die uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben. Dies entspricht exakt der paulinischen Beschreibung der »Neuschöpfung in Christus« (2 Kor 5,17 – 21) und bestimmt den Titel dieser vorliegenden gesamten Aufsatzsammlung: »Heilig – in Christus«. Luther sagt zu diesem Geschehen: »da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore ins Paradies selbst eingetreten.« Dieser Transformation als Befreiungsgeschenk zum Leben sollte jeder reformatorische Bildungsprozess entsprechen. Wie zentrale Aussagen Martin Luthers zu Gottesdienst und Kirchengebäuden nichts anderes wollen, als die »VIVA VOX EVANGELII« freizulegen als Gottes rechtfertigendes Wort, das den »articulus stantis at cadentis ecclesiae« bildet, versuche ich in dem Vortrag 2013 in Wien (Protestant Church Architecture of the 16th – 18th Centuries in Europe) dazustellen.
Einführung
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Wenn Luther in Auseinandersetzung mit den Bilderstürmern betont, dass das Herz des Menschen als »Wohnung Gottes« nicht ohne die gepredigten und dargestellten Bilder des Erlösers auskommt, so wird deutlich, wie hier die theologische und anthropologische Grundlage dafür gelegt wird, was ein späterer phänomenologisch – methodischer Ansatz herausarbeiten kann: »Wenn ich Christum höre, so entwirft sich in meinem Herzen eines Mannes Bild, der am Kreuze hängt, gleich als sich mein Antlitz natürlich entwirft im Wasser, wenn ich hineinsehe.« Deshalb, meint Luther, ist es gut und folgerichtig, Christi Bild in den Augen und im Herzen zu haben. Wort und Bild wollen beide – phänomenologisch gesprochen – Christus abbilden. So kann man diese Texte, wie auch Luthers Aussagen zu Taufe und Abendmahl als erste reformatorischen Zeugen für einen religionspädagogischen Ansatz des »Einprägens« des Evangeliums lesen, der erst viel später phänomenologisch, räumlich – körperlich weiter durchdacht wurde. Hier liegen Luthers Voraussetzungen für eine Argumentation, die im theologischen Zentrum des Gottesdienstes christologisch und anthropologisch zugleich argumentiert und – liturgisch – räumlich das paulinisch gefundendene »Heilig in Christus« freilegt und darstellt und damit schliesslich den »sakramentalen, effektiven Charakter« der Predigt – phänomenologisch – betont. Die »fides ex auditu« bezeichnet genau das, was Phänomenlogie will: Die Beschreibung der Begegnung des Menschen mit der Macht des Heiligen – in Christus! Die Relevanz der Kirchenraum-Pädagogik für die religiöse Erziehung heute wird deutlich gemacht an den »Erfahrungen des Göttlichen«, die »bewegen«. Durch »Erinnerungen« (wörtlich genommen) der kindlichen Erfahrungen des Göttlichen wird der Zugang zur gegenwärtigen Kirchenraum-Pädagogik freigelegt, wobei Räume als auch Rituale Gestaltungsformen der gegenwärtigen Religion als Lebensform bilden. Die Bedeutung der Religionsphänomenologie für die gegenwärtige Religionspädagogik ist dabei nicht nur ertragreich, sondern bildet m. E. in ihrem Ansatz eine Hilfe für ein entscheidendes Zukunftsmodell von Kirche und Gemeinde! Dass »Heterotopien« (Foucault) »Anderräume« sind und »umfriedete Bezirke« (Bollnow) bilden, wird deutlich in dem phänomenologischen Ansatz der Religionspädagogik, der jenseits von Säkularisierungs- und Sakralisierungsdebatten die erfahrungsbezogene Konstante bildet, die im Neuen Testament von Paulus als »Sein in Christus« behauptet ist, von Kol, Eph, Hebr und 1 Joh kritisch ausdifferenziert und von Martin Luther »wiederendeckt« wird. Gegenwärtige »Grenzüberschreitungen« in Fest und Feier, Begehungen und »Spurensuche« machen dies nur zu deutlich, sie lassen sich interpretieren als »Exkursionen in Heterotopien« – sogar religionsübergreifend. Dass »Räume und Rituale« »Rekonstruktion des Religiösen« ermöglichen,
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Einführung
wird deutlich auch im gesamtgesellschaftlichen Diskurs der Postmoderne. Behaupten und beschreiben die »Bauhaus-lectures« 2011 in Dessau gleichzeitig »die Welt und ihr Double« in Kultur, Architektur, Natur, Psychologie und Religion, wird speziell hier deutlich, dass angesichts der »virtuellen Revolution« der Gegenwart die »Leiblichkeit« des Menschen neu entdeckt und geschützt werden muss – oder : der medialen Explosion muss eine körperlich-sinnliche Konzentration entgegengesetzt werden; dies ist eine wesentliche tranformatorische Aufgabe der Kirche: Ein »umfriedeter Bezirk« kann so den sozialen Beziehungen und körperlichen Interaktionen leiblicher Kommunikation neu zu ihrem Recht verhelfen. Als »Transformatoren« können »Heilige Räume« zu »Pforten des Himmels« auf der Erde werden. Die in der Kasseler Karlskirche gehaltene Predigt zu 1 Joh 4 bildet den Abschluss der Aufsatzsammlung, mit der die theologische »Schriftauslegung« exemplarisch zu ihrem Ziel kommen soll, Glauben zu wecken (fides ex auditu) im reformatorischen, neutestamentlichen Sinn (Röm 10,17), nachdem die Kirche selbst »creatura verbi« ist und das Evangelium als »Kraft Gottes« eschatologisch, d. h. auch je gegenwärtig neu bezeugt. Nicht zufällig kommt dabei ein Wort aus 1 Joh 4 zur Sprache, schließt sich doch für mich auf diese Weise der Kreis von der Lektüre der Heiligen Schrift über die »Schriftauslegung« zur Entdeckung der Kirche als »heiligem Raum« »in Christus« und die »Religionspädagogik« zur gegenwärtigen Predigt des Evangeliums. Die Veröffentlichungsliste nennt abschließend die über die in diesem Aufsatzband zusammengefassten herausgegebenen Arbeiten, die für mich neutestamentlich und praktisch-theologisch grundlegend sind und in den Predigtstudien als Beiträge zur »Kommunikation des Evangeliums« jeweils ihre zeitgenössische ekklesiologische Anwendung finden sollen: »In Christus« – und nur »in ihm« sind wir »heilig«.
3.
Der neue Mensch in Christus. Raum- und Gewandmotive in Kol und Eph
1.
Raum und Zeit
Der berühmte Theologe Paul Tillich schreibt: »Raum und Zeit sollte man als gegeneinander streitende Kräfte, als eine Art lebendige Wesen, als Gebilde mit eigener Seinsmächtigkeit behandeln. Die gebrauchten Ausdrücke sind selbstverständlich nur eine Form der Rede, die aber nach meiner Auffassung dadurch berechtigt ist, daß Zeit und Raum die Hauptstrukturen der Existenz sind, denen alle existierenden Dinge, der Gesamtbereich des Endlichen, unterworfen sind. Existieren heißt endlich sein oder in Raum und Zeit sein. Das gilt für alles in unserer Welt. Raum und Zeit sind die Mächte der Existenz allgemein, einschließlich der menschlichen Existenz mit Leib und Geist. Raum und Zeit gehören zusammen: nur durch den Raum können wir die Zeit und nur innerhalb der Zeit den Raum messen. Auch die Bewegung, das allgemeinste Charakteristikum des Lebens, setzt Zeit und Raum voraus. Und der anscheinend der Zeit verhaftete Geist braucht ebenfalls Raum, da er nur durch Verkörperung zur Existenz gelangen kann. Während nun aber Zeit und Raum derart unausweichlich aneinander gebunden sind, stehen sie gleichzeitig in einem Spannungsverhältnis zueinander, das man als die fundamentale Spannung der Existenz ansehen kann. Diese im menschlichen Geist bewußt werdende Spannung erlangt auch geschichtliche Mächtigkeit. Im weiteren Umfang wird die Seele des Menschen wie die Geschichte der Menschheit durch den Widerstreit von Zeit und Raum bestimmt.«1 Tillich zieht als Resümee: »Deshalb besteht der erste Sieg der Zeit darin, daß die Lebensprozesse einen bestimmten Anfang und ein bestimmtes Ende und daß Werden und Vergehen eine unumkehrbare Richtung haben. Denn unter der Dimension des Lebens kann das Alte nicht wieder jung werden. Dennoch bleibt die Übermacht des Raumes bestehen. Denn wenn auch der Lebensprozess nicht 1 P. Tillich, Auf der Grenze. Eine Auswahl aus dem Lebenswerk, München 1987, dort: Der Widerstreit von Zeit und Raum, S. 187 – 197, hier : S. 187.
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Der neue Mensch in Christus
umgekehrt werden kann, so kann er doch wiederholt werden. In jedem einzelnen Leben wiederholt sich dieses ewige Gesetz von Geburt und Tod, von Werden und Vergehen. Und durch diese Kreisbewegung der ständigen Wiederholung wird die Richtung der Zeit ihrer Macht beraubt. Der Kreis, dieses ausdrucksvollste Symbol für die Übermacht des Raumes, wird also innerhalb des Lebens nicht überwunden. Im Menschen aber ist der Sieg der Zeit innerhalb des endlichen möglich, denn er besitzt die Fähigkeit, auf etwas über seinen Tod Hinausgehendes hin zu wirken.«2 Indem er Geschichte hat, kann er sogar den Tod »transzendieren, wodurch er den Kreis der Wiederholung auf etwas Neues hin durchbricht.«3 Wie lässt sich vor diesem Hintergrund der zentrale christologische und anthropologische Schlüsselsatz des Paulus von 2 Kor 5,17, in dem ja beides ineinander verwoben zu sein scheint, verstehen? »Ist jemand in Christus (Raummotiv), so ist er eine Neu-Schöpfung, das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden (Zeitmotiv)!« Tillich meint: »Man kann das Heidentum definieren als die Erhebung eines bestimmten Raumes zu letztgültigem Wert und zu letztgültiger Würde. Der Gott des Heidentums ist an einen Ort gebunden, an dem er gegen andere Götter und ihre Räume steht. Deshalb muß das Heidentum polytheistisch sein. Polytheismus bedeutet nicht, daß eine menschliche Gruppe an verschiedene Götter glaubt, wie Monotheismus nicht bedeutet, daß man an einen Gott glaubt. Hier geht es nicht um einen Quantitäts-, sondern um einen Qualitäts-Unterschied. Nur wenn dieser Gott ausschließlich Gott ist, unbedingt und von nichts anderem als von sich begrenzt, ist echter Monotheismus vorhanden, und nur dann ist die Macht des Raumes über die Zeit gebrochen«.4 Für Paulus jedoch gilt: »Den Anteil am Christusleib gewinnt der Mensch sakramental durch die Taufe (Gal 3,16 – 28; 1 Kor 1,30; 6,11; 12,13; 2 Kor 5,21; Röm 6), durch das Eingegliedertwerden »in Christus« als einen einmaligen Akt, der sowohl den Bruch mit der Vergangenheit dokumentiert (Röm 6,3 f) als auch das neue Sein gegenwärtig bestimmt; dabei wird der sogenannte »eschatologische Vorbehalt« von Röm 6 in Röm 8 »pneumatologisch« als »Sein in der Hoffnung« positiv bestimmt.«5 Wie aber ist dieser Gedanke nun in der »Paulusschule« des Kolosser- und Epheserbriefs weitergedacht? Zum »Problem der Paulusschule« fasst P. Müller zusammen: »Die Schwierigkeiten in der Näherbestimmung des Begriffs ›Paulusschule‹ sind in der Sache 2 3 4 5
P. Tillich, a.a.O, S. 188. P. Tillich, a.a.O, S. 188. P. Tillich, a.a.O, S. 188 f. H. Umbach, In Christus getauft – von der Sünde befreit. Die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus, FRLANT 181, Göttingen 1999, S. 316.
»Transformation« als theologisches Weiter-denken
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selbst begründet. Paulus versteht sich nicht als Schulgründer.«6 »Gleichwohl hat Paulus faktisch als Lehrer gewirkt.«7 Daraus ergibt sich: »Soll man angesichts dieser Schwierigkeiten ganz auf den Begriff verzichten? … Von Paulusschülern lässt sich m. E. sprechen, wenn der dialogische, personal und zugleich gemeinschaftlich verantwortete Charakter der ›Paulusschule‹ hervorgehoben werden soll.«8 In diesem Sinne »in heuristischer Funktion«9 gebrauchen wir Kol und Eph als Terminus für »Paulusschule.«
2.
»Transformation« als theologisches Weiter-denken
In seiner Theologie des Neuen Testaments10 definiert U. Schnelle »Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung:«11 »Ein Erschließungsereignis wie die Auferstehung des Jesus von Nazareth von den Toten fordert Erschließungsleistungen!«12 So beginnt er mit der Botschaft Jesu vom nahen Gott, und bezeichnet die »Entstehung der Christologie« als die »erste Transformation«,13 bei der Jesu vorösterlicher Anspruch, die Erscheinungen des Auferstandenen mit den Erfahrungen als Geistes und der christologischen Lektüre der Schrift in eine neue Sinnbildung gebracht werden, die schriftlich zu greifen ist in Mythen, Titeln, Formeln und Traditionen:14 »Weil Jesus das von ihm verkündigte Gottesbild in einzigartiger Weise verkörperte, wurde er selbst in dieses Gottesbild aufgenommen«.15 Dabei wurde er aber »nicht als ›zweiter‹ Gott verehrt, sondern in die Verehrung des ›einen Gottes‹ (Röm 3,30 …) mit einbezogen.«16 Die frühe beschneidungsfreie Mission (Antiochia) bezeichnet er als die »zweite Transfor6 P. Müller, Zum Problem der Paulusschule. Methodische und sachliche Überlegungen, in: P. Müller. (Hg.), Kolosser-Studien. Mit Beiträgen von L. Bormann et al., Neukirchen-Vluyn 2009, S. 171 – 197, hier : S. 193. 7 P. Müller, a. a. O., S. 194. 8 P. Müller, a. a. O., S. 197. 9 P. Müller, a. a. O., S. 197. 10 U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007. 11 U. Schnelle, a. a. O., S. 42. 12 U. Schnelle, a. a. O., S. 42: »Alle frühchristlichen Autoren standen vor der Aufgabe, das Einmalige und Außerordentliche von Kreuz und Auferstehung durch Erzählen in ein theologisches Sinngebäude zu überführen, womit sie auch eine bedeutsame Denkleistung vollbrachten.« 13 U. Schnelle, a. a. O., S. 145 ff. 14 U. Schnelle, a. a. O., S. 145 – 172. 15 U. Schnelle, a. a. O. S. 171 f: »Schon sehr früh finden sich innerhalb einer erstaunlichen Vielfalt Aussagen über die Präexistenz, Schöpfungsmittlerschaft und die umfassende Herrschaft Jesus Christi. … Die Übernahme christologischer Hoheitstitel bedeutete aber immer auch ihre Neucodierung!« 16 U. Schnelle, a. a. O., S. 172.
20
Der neue Mensch in Christus
mation«:17 »Die paulinische Theologie ist in diesen konfliktreichen Prozess der Selbstdefinition des frühen Christentums eingebunden und wesentlich aus ihm heraus zu erklären, zugleich stellt sie aber die maßgebliche Lösung der Probleme dar.«18 Als »dritte Transformation« bezeichnet Schnelle die »Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung«,19 hervorgehoben durch den Tod von Gründergestalten, die »Verzögerung der Parusie, den Untergang des Tempels und der Urgemeinde.«20 Die Wandercharismatiker verloren an Einfluss, und die »Ortsgemeinden wurden mit dem Evangelium zu Trägern und Interpreten der Jesusüberlieferung«,21 begünstigt durch den Bedeutungsgewinn des Kodex: »denn gegenüber der Rolle hatte er besonders bei langen Texten große Vorteile.«22 Hier ordnet Schnelle die Logienquelle, die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte ein: »Sinn durch Erzählen«.23 Besonders Lukas tritt mit seinem Doppelwerk in die Tradition der antiken Geschichtsschreibung ein, »verleiht damit einer neuen Wahrnehmung der eigenen Geschichte eine literarische Gestalt und meldet einen welthistorischen Deutungsanspruch an.«24 Die »vierte Transformation« findet nach Schnelle statt gespiegelt in den Deuteropaulinen, dem Kirchenbriefen und der johanneischen Theologie. Dabei geht die Kirche ihren »Weg zwischen Weltdistanz und Weltanpassung.«25 Die Hauptfrage war dabei das Verhältnis zum Staat, denn: »Das römische Reich der Kaiserzeit war in seinem Kern religiös konstituiert.«26 Durch den römischen Kaiserkult wurde der Kaiser als Gottheit verehrt, Augustus erscheint als ›Gott‹ 17 U. Schnelle, a. a. O., S. 173 ff: »Antiochia war ein Zentrum frühchristlicher Mission und eine bedeutsame Station für Paulus. Hier erfolgte der Übergang zu einer programmatischen beschneidungsfreien Mission unter den Menschen griechisch-römischer Religiosität.« a. a. O., S. 177. 18 U. Schnelle, a. a. O., S. 180. 19 U. Schnelle, a. a. O., S. 355 ff. 20 U. Schnelle, a. a. O., S. 344: »Das frühe Christentum stand vor der Aufgabe, gleichermaßen die Kontinuität zu den Anfängen und eine Bearbeitung dieser aktuellen Probleme zu leisten. Die neue Literaturgattung Evangelium präsentierte erstmals eine biographisch ausgerichtete Jesus-Christus-Geschichte und bewahrte so als Gedächtnis des frühen Christentums die Jesusüberlieferungen vor dem Verschwinden im Dunkel der Geschichte.« 21 U. Schnelle, a. a. O., S. 345. 22 U. Schnelle, a. a. O., S. 345, D. Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments, NTOA 31, Fribourg/Göttingen 1996, S. 106 – 124. 23 U. Schnelle, a. a. O., S. 347 – 489. 24 U. Schnelle, a. a. O., S. 489 vgl. dazu H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit, Studien zur Theologie des Lukas, BHTh 17, Tübingen 1964 (5), Zum Problem der »Ent-Eschatologisierung« vgl. U. Schnelle, a. a. O., S. 487, Anm. 405. »Eine wirkliche Vermittlung zwischen der individuellen und allgemeinen Eschatologie findet bei Lukas allerdings nicht statt; der Evangelist hält an der Parusie als Beginn des universalen Endgeschehens fest, zugleich betont er aber die individuelle Eschatologie …« a. a. O., S. 488. 25 U. Schnelle, a. a. O., S. 493. 26 U. Schnelle, a. a. O., S. 493.
Raummotive in Kol
21
bzw. ›Sohn Gottes‹, »Friedenstifter, Wohltäter, Retter des Erdkreises.«27 Durch »seine denkerische Leistung, sein beeindruckendes Lebenswerk und schließlich durch seinen Märtyrertod wurde Paulus zu einer zentralen Identifikationsfigur des frühen Christentums. … Schüler des Apostels … verfassten unter dem Namen des Paulus Briefe, die in veränderter Zeit die paulinische Theologie weiter-dachten und ihr so weiterhin Gehör verschaffen wollten.«28 Von besonderem Interesse dürfte nun in diesem Zusammenhang sein, wie bes. in Kol die Weiterentwicklung frühchristlicher Hymnen der Christologie von der »ersten Transformation« dann nach dem Tod des Paulus in eine »vierte Transformation« gelang hinsichtlich einer weiter-gedachten Ekklesiologie und Anthropologie, die in Eph ebenfalls räumlich entfaltet ist.
3.
Raummotive in Kol
Zwei Passagen in Kol sind im Zusammenhang dieser Untersuchung besonders erhellend.
3.1
Der Hymnus und seine Rahmung: Kol 1, 12 – 23
Kol 1, 15 – 20 bezeichnet unbestreitbar einen vom Verfasser übernommenen urchristlichen Hymnus,29 der mit einer Aufforderung zum Dank an Gott, den Vater, eingeleitet wird (V 12), mit der Entgegensetzung von der »Macht der Finsternis« (V 13) und dem »Los/Erbteil der Heiligen im Licht« (V12) »Bekehrungsterminologie«30 aufweist und damit eine »Transformation« in ein neues Leben beschreibt: »Sachlich denkt der Verfasser vermutlich an die Ersterfahrung des Glaubens, bzw. die Taufe als den im Aorist beschriebenen befreienden Akt Gottes.«31 Gegen Schweizer, der behauptet, »räumliche Vorstellungen sind 27 Belege bei U. Schnelle, a. a. O., S. 494. 28 U. Schnelle, a. a. O., S. 503. 29 Vgl. E. Schweizer, Der Brief an die Kolosser, EKK, Zürich 1976, S. 50; vgl. auch I. Maisch, Der Brief an die Gemeinde in Kolossä, ThKNT 12, Stuttgart 2003, S. 21: Die Abfassungszeit sei »ein Zeitpunkt nach dem Tod des Paulus«, sowie A. Standhartinger, The Origin and Intention off the Household Code in the Letter to the Colossians, in JSNT 79 (2000), S. 117 – 130; A. Standhartinger, Studien zur Entstehungsgeschichte und Intention des Kolosserbriefs (NTS 94) Leiden, Boston, Köln 1999, versteht den Brief als fiktives »Testament«, »Abschiedsbrief« oder »Himmelsbrief« nach dem Martyrium des Apostels, a. a. O., S. 238. 30 Zu den Parallelen zum Qumran und JosAs 8,9;15,12 vgl. E. Schweizer, a. a. O., S.47. 31 E. Schweizer, a. a. O., S. 49. »Der Text besagt also nicht, daß so etwas wie eine Verwandlung der menschlichen Natur geschieht; es ist ein Wechsel des Herrn«, a. a. O., S. 50. Präzisierend ist aber gegenüber E. Schweizer zu sagen: Der neu Herr bestimmt das neue Sein!
22
Der neue Mensch in Christus
also nicht inhaltlich zentral, prägen aber die ganze Sprache schon«,32 ist festzuhalten: Die Sprache der räumlichen Vorstellung prägt genau die Sache selbst: den Machtbereich, den Raum »in Christus« (V 13b: Herrschaft seines Sohnes). Leitet also die Rahmung den Hymnus schon mit Raummotiven ein, ist viel mehr der Hymnus selbst durch räumliche Sprache geprägt. »Seit Plato findet sich die Vorstellung vom Universum als einen göttlichen Leib häufig.«33 Kol 1,15 – 18 ordnet E. Schweizer einer ersten Strophe des ursprünglichen Hymnus zu: »In einer ersten Strophe ist also Christus gepriesen als der, in dem, durch den und auf den hin die ganze Schöpfung erfolgt ist.«34 Christus hat am Schöpfungsakt teil, »gerade darin ist er als ›Bild des unsichtbaren Gottes‹ dessen Offenbarung.«35 Schweizer interpretiert die »All«-Formel zu Recht räumlich (V 16): »Man wird trotzdem »in ihm« übersetzen, nicht, was an sich vom biblischen Sprachgebrauch her möglich wäre »durch ihn«, denn V16 Ende wird ja »durch ihn« und »auf ihn hin« davon unterschieden, und V19 nimmt das »in ihm« eindeutig im eigentlichen, lokalen Sinn auf.«36 »Auf ihn hin« ist eschatologisch gemeint.37 »Auch der Himmel ist nur Himmel durch das Handeln Gottes.«38 Man kann Gott also nur in seinem »Bild-werden«, das »der Welt absolut vorgeordnet«39 ist, erkennen. Der »Leib« bezeichnet wohl im ursprünglichen Hymnus den »Welt-Leib«, das Haupt bezeichnet die »Überordnung«: Christus ist also der Welt (!) »zeitlich vor- und räumlich (als »Haupt«) übergeordnet.«40 Diese Zuwendung Gottes trägt also hier den Namen Christus. Die »Kirche« ist eindeutig als Zusatz des Briefschreibers zu interpretieren.41 Das ist gerade – in Weiterentwicklung des paulinischen Gedankens vom »Leib«-Christi – die Pointe! Hier liegt die gedankliche »transformatorische« Leistung des Kol im Sinne U. Schnelles: Mit Hilfe dieses Hymnus wird eine Gedanke des Paulus (Kirche als »Leib Christi«) nochmals »transformiert«! Der Einschub »die Kirche« bringt die 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
E. Schweizer, a. a. O., S. 49. E. Schweizer, a. a. O., S. 53, dort auch alle Belege zur Stelle. E. Schweizer, a. a. O., S. 56. E. Schweizer, a. a. O., S. 58, »Das Schema von Christus als zweitem Adam spielt kaum eine Rolle«. E. Schweizer, a. a. O., S. 60; zu den unterschiedlichen Rekonstruktionsversuchen des Hymnus, a. a. O., S. 55. Hier wird deutlich, dass selbst Schweizer das räumliche Denken der Textvorlage nicht leugnen kann, wie später an der Interpretation von I. Maisch gezeigt wird. »Es gibt also nicht jenen höchsten Ort, den »Aether«, als Teil der Welt, in dem göttliche Vollkommenheit und restloses Glück einfach vorhanden wären.« E. Schweizer, a. a. O., S. 61. E. Schweizer, a. a. O., S. 61. E. Schweizer, a. a. O., S. 63, vgl. E. Jüngel, Gottes Sein ist im Werden, Tübingen 1965, S. 49 – 52. E. Schweizer, a. a. O., S. 62. H. Hübner, An Philemon, An die Kolosser, An die Epheser, HNT12, Tübingen, 1997, S. 60. Ob Christus hier das Haupt der zukünftigen Kirche meint, ist schwierig; vgl. E. Schweizer, a. a. O., S. 53.
Raummotive in Kol
23
Aussage in eine neue Optik, »so ist die theologische Prämisse die, daß Kreuz und Auferstehung Christi bereits geschehen sind und die Kirche als das In – ChristusSein der Erlösten die geschichtliche Verwirklichung des in Christus erwirkten Heils ist. Der AuctCol denkt ja nicht wie der Dichter des Hymnus von der christlichen Kosmologie, sondern vom Heilsgeschehen des Karfreitags und des Ostersonntags her. Damit ist aber die Inkarnation mitgedacht.«42 »Die ekklesia des Kol ist Universal-, nicht Ortskirche«.43 »Neben dieser horizontalen Ausrichtung gibt es die vertikale: als Leib des Christus ist sie eine kosmische Größe, die durch die Verbindung mit Christus, ihrem Haupt (1,18), bis in den Himmel reicht, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt (3,1).«44 »Die Kirche ist ein universaler (Heils-)Raum und daher nicht an Räume gebunden; sie hat keine geographischen Grenzen.«45 »Die Kirche des Kol gewinnt Gestalt durch einzelne Menschen.«46 Individuum und Kosmologie ergänzen einander : »in Christus«! Die zweite Strophe, 1,18b – 20 setzt wiederum mit Christusprädikaten ein. Während der vorpaulinische Hymnus Phil 2,5 – 11 ebenfalls von Himmlischen, Irdischen und Unterirdischen spricht und dabei die Betonung auf ihre Unterworfenheit unter Christus, den Herrn legt, spricht jedoch Kol 1,20 von der »Versöhnung des Alls« als Folge dieser »Einwohnung der Fülle Gottes«47 I. Maisch arbeitet sorgfältig zunächst die Aussagen der Vorlage und dann die Endredaktion des Kol heraus: »Die ursprünglich kosmisch verstandene Versöhnungsaussage von V. 20 bekommt so einen neuen Ort und eine neue Bedeutung: Sie geschieht durch Christus in der Kirche.«48 Kirche ist allerdings nicht der »›Binnenraum der christlichen Gemeinde‹ (i. S. von Ortsgemeinde), sondern tatsächlich die weltweite Kirche.«49 Die Verschiebung geschieht also »vom Kosmos zur Kirche«.50 Damit erfährt der Kirchenbegriff in Kol selbst eine »universalisierte« Transformation! Die Rahmung Kol 1, 21 – 23 arbeitet mit dem Schema »einst – jetzt«: »Dieser sündigen Vergangenheit wird mit ›jetzt aber …‹ die Gegenwart gegenübergestellt, die nicht mit Bußwerken, sondern im Versöhnungswerk Gottes begründet 42 43 44 45 46 47
48 49 50
H. Hübner, a. a. O., S. 60. I. Maisch, a. a. O., S. 40. I. Maisch, a. a. O., S. 41. I. Maisch, a. a. O., S. 41. Die Kirche ist ein Raum, der »den Getauften einen Lebensraum zugesteht, der ihnen von außerhalb bestritten wird.« A.a.O., S. 41. I. Maisch, a. a. O., S. 42. E. Schweizer, a. a. O., S. 67, vgl. auch 2 Kor 5,19, wo ebenfalls der Terminus »Welt (Kosmos)« gebraucht wird. Ob damit die »Menschenwelt« gemeint ist, wie Schweizer meint (a. a. O., S. 67), ist fraglich, ist doch in V 17 von »Neuschöpfung« die Rede, dieser Ausdruck ist also kosmisch gemeint! I. Maisch, a. a. O., S. 125. I. Maisch, a. a. O., S. 125. I. Maisch, a. a. O., S. 125.
24
Der neue Mensch in Christus
ist.«51 Festgegründet und standhaft können die Christen diesen Status bewahren, wie Paulus es selbst auch tut, der hier als Vorbild erscheint. Fazit: »Das wichtigste Kennzeichen der Kirche im Kol ist ihre untrennbare Verbindung mit Christus, die bildhaft im Zusammenspiel von Haupt und Leib dargestellt ist.«52 Aber gleichzeitig gilt: »Im Unterschied zu Paulus verbindet nicht der Geist den ganzen Leib (= Haupt, Rumpf, Glieder) zur Einheit (1 Kor 12,13 f), sondern Christus als Haupt ist Ursprung der Einheit,«53 Damit ist dieses Modell »anschlussfähig« in einer Zeit der beginnenden universalen Christenverfolgung durch Rom! Diese Aussage hat heute bleibende ökumenische Konsequenzen!
3.2
Alles und in allen: Christus: Kol 3,11
»Die alte Wirklichkeit mit ihrer Aufspaltung in nationale, ethnische, religiöse, kulturelle und soziale Gruppen gilt für die Getauften nicht mehr ; sie ist ›in Christus‹ aufgehoben.«54 Ob es sich hier um eine direkte Abhängigkeit von Gal 3,28 handelt, ist umstritten, das Fehlen des Gegensatzes »männlich/weiblich« in Kol 3,11 ist zu offensichtlich. »Die Aufhebung dieses Gegensatzes ist am ehesten einer vorpaulinisch-egalitären Tauftradition zuzuschreiben«,55 die Paulus übernommen hat in Gal 3,28 und die Kol 3,11 dann nachträglich »bürgerlich« gestrichen hat. Der »vorpaulinische(n) Tauftopos, … der am vollständigsten in Gal 3,28 erhalten« ist, bringt jedenfalls am radikalsten das »Sein in Christus« zum Ausdruck, das Kol so aber nicht mehr übernommen hat, ebenso, wie »der alte Gegensatz von Juden und Griechen … hier ins Nationale und Religiöse verdoppelt und die Reihenfolge verändert« wurde.56 So gilt für Kol: »Nicht die unterschiedliche Herkunft oder Religion oder der soziale Status, sondern Christus ist die einheitsstiftende Mitte der neuen Gemeinschaft.«57 »In Christus« liegt das »Angebot einer neuen Identität und die Integration unterschiedlicher Menschengruppen.«58 Das Ausziehen des »alten Menschen« und das Anziehen 51 I. Maisch, a. a. O., S. 177. 52 I. Maisch, a. a. O., S. 44. 53 I. Maisch, a. a. O., S. 44, Anm. 79. Das bedeutet aber auch: »Der Leib Christi, die Kirche, ist größer als und weiter als die institutionellen Grenzen der Kirche.« W. Kasper, Jesus der Christus, Mainz 19752, S. 322. 54 I. Maisch, a. a. O., S. 227, jedoch zeigt die sog. Haustafel, dass dies nur bedingt gilt: soziale Ordnungen bleiben vorausgesetzt. 55 I. Maisch, a. a. O., S. 227. 56 I. Maisch, a. a. O., S. 228. »Die Vermeidung von Statusunterschieden im Raum der Kirche hat nicht automatisch eine Statusveränderung im Raum der Welt zur Folge.« A.a.O., S. 231. 57 I. Maisch, a. a. O., S. 231. 58 I. Maisch, a. a. O., S. 231, vgl. auch E. Plümacher, Identitätsverlust und Identitätsgewinn. Studien zum Verhältnis von kaiserzeitlicher Stadt und frühem Christentum, Bibl.–theol.Studien 11, Neukirchen-Vluyn 1987.
Raummotive in Kol
25
des »neuen« Kol 3,9 f nimmt Bezug auf Röm 6,6 bzw. Röm 6,4, so dass auch hier das Raummotiv, durch das Gewandmotiv ergänzt, sich – unter veränderten Bedingungen – durchzieht.59 Die »Taufe in Christus« begründet – auch global verstanden – ein neues Sein! J. Roloff sagt dazu richtig: »Deshalb fügt der Verfasser als korrigierenden Zusatz, der die Dinge in seinem Sinn zurechtrücken soll, an die Wendung ›das Haupt des Leibes‹ die Worte ›der Kirche‹ an. Auch für ihn ist Christus das ›Haupt‹ der Welt. Aber er ist es nicht in einem naturhaftkosmischen Sinn, der es erlaubte, alles Seiende als von seiner Kraft durchwaltet und geordnet zu begreifen. Er ist ›Haupt‹ lediglich darin, daß er als Schöpfungsmittler und Erlöser das Woher und Wohin der Welt bestimmt. Aber weil seine Herrschaft in ihr noch nicht sichtbar durchgesetzt ist, darum kann sie nicht sein ›Leib‹ sein. Leib Christi ist in der gegenwärtigen Weltsituation allein die Kirche. Sie nämlich ist der Bereich, in dem Christi Stellung als Herr über alle Mächte anerkannt und durchgesetzt ist.«60 Damit bezieht sich Kol auf den paulinischen »Leib Christi« – Gedanken (1 Kor 12,13), dem aber dort die kosmische Ausrichtung fehlte, weil er primär den Gedanken der Einheit aus den Vielen betonte. Kol deutet ihn aber jetzt kosmisch: »Christus, der zum Himmel erhöhte Herr, ist das Haupt, die auf Erden befindliche Kirche hingegen ist der Leib. Irdisches ist mit Himmlischem verbunden.«61 Dies ist aber kein naturhaft gegebenes Faktum, vielmehr gilt: »Durch Glauben und Taufe wird der Leib Christi auf Erden konstituiert.«62 Der Imperativ Kol 1,23 betont deshalb das Bleiben im Glauben (gegründet und fest) und das nicht Weichen »von der Hoffnung des Evangeliums, das ihr gehört habt und das gepredigt ist allen Geschöpfen unter dem Himmel« (V 23). In Eph 4,15 f wird dieser Gedanke weiterentwickelt: so »soll das der Kirche übergebene Wort der Wahrheit sich in der Liebe auswirken und so im Leben der Kirche erkennbar werden«.63 »›Wachsen‹ ist ein Ausdruck für das Heranreifen der Christen« (2 Kor 10,15; Kol 1,10; 1 Petr 2,2; Kol 2,19).64 Als Gewährsmann verweist Kol auf den Apostel, in dessen Namen er schreibt. Kontinuität aber zur paulinischen Theologie bildet die Taufe als »Sein in Christus«! Insofern kann man auch hier wirklich von »Paulusschule« sprechen (s. o.).
59 I. Maisch, a. a. O., S. 42. Konstitutiv ist die »Taufe in Christus,« vgl. H. Umbach, a. a. O. 60 J. Roloff, Die Kirche im Neuen Testament, Grundrisse zum Neuen Testament, NTD Ergänzungsreihe 10, Göttingen 1993, S. 227. 61 J. Roloff, a. a. O., S. 228. 62 J. Roloff, a. a. O., S. 228. 63 R. Schnackenburg, Der Brief an die Epheser, EKK X, Zürich, Einsiedeln, Köln, NeukirchenVluyn 1982, S. 191. 64 R. Schnackenburg, a. a. O., S. 191.
26
Der neue Mensch in Christus
4.
Raum- und Gewandmotive in Eph
4.1
Die Wohnung Gottes im Geist: Eph 2,22
Im Textzusammenhang Eph 2, 11 – 22 ist die neu geschaffene Einheit der Kirche »in Christus Jesus« (2,13) »eine eschatologische Neuschöpfung«:65 »In sich selber« hat Christus »aus den zweien einen neuen Menschen« (2,15) gemacht; er hat die bisher Getrennten der Juden und Heiden nicht nur in seiner Person zu einer neuen Einheit gemacht, sondern sie mit Gott (V 16) versöhnt. Aspekte der Kreuzestheologie (V 16) und der Ekkesiologie (V 18) werden verbunden: »Indem Christus am Kreuz stirbt, wird die Kirche geboren … So eng ist die Bindung der Kirche an Christus, daß sie schon am Kreuz als neue Schöpfung, als die eine erlöste Menschheit in Erscheinung tritt.«66 »Der heilige Tempel in dem Herrn« (V 20b) kann sich wie stets in Eph nur auf Christus beziehen«,67 dem entspricht die »Wohnung Gottes im Geist« (V 22, vgl. V 18). »Der ›Bilderkreis‹ von Stadt, Haus, Familie, Tempel veranschaulicht insgesamt die Gemeinschaft mit Gott, die alle Christen ohne Unterschied durch die Versöhnungstat Christi erlangt haben und in der Kirche Christi noch weiter erlangen sollen.«68 V 20b meint Christus als »Eckstein«: »Der entscheidende Eckstein wurde als erster für das Fundament, den untersten festen Gebäudeteil gelegt (vgl. Kor 3,10).«69 Von daher bekommt der Terminus »Mitbürger der Heiligen« (V 19) seinen Sinn: »in Christus« werden die angesprochenen Christen »mitaufgebaut« (V 20 f). »Berührungen gibt es auch mit dem Kol-Brief: Die Christen sind ›verwurzelt und aufgebaut in Christus‹ (2,7)«70 »Die Kirche ist sozusagen der in Christus existierende Makrokosmos bzw. Makroanthropos.«71
4.2
Der »alte« und der »neue« Mensch: Eph 4, 20 – 24
Eph 4, 24 schließt mit dem Imperativ : »Zieht den neuen Menschen an!« Wie wird hier Anthropologie mit Raum- bzw. Gewandmotiven verknüpft? »Ihr habt von ihm gehört« (V 21) bezieht sich auf die Taufkatechese: »Hier ist die Person Jesu 65 66 67 68
R. Schnackenburg, a. a. O., S. 116. R. Schnackenburg, a. a. O., S. 117. R. Schnackenburg, a. a. O., S. 121. R. Schnackenburg, a. a. O., S. 122: »Der Gedanke einer ›Gemeinschaft der Heiligen‹ hebt sich empor, der später in der Vätertheologie unterschiedlich entwickelt und in das Apostolische Glaubensbekenntnis übernommen wurde.« A.a.O., S. 122. 69 R. Schnackenburg, a. a. O., S. 124. 70 R. Schnackenburg, a. a. O., S. 125. 71 H. Hübner, a. a. O., S. 172, zur Auseinandersetzung mit der Gnosis, a. a. O., S. 172 – 177.
Raum- und Gewandmotive in Eph
27
Christi als Gegenstand der Taufkatechese gemeint, darüber hinaus die Christuserfahrung in der Taufe selbst.«72 Die »wahre Gerechtigkeit und Heiligkeit« ist in der Taufe »in Christus« realisiert;73 bzw. bezeichnet »die geschichtliche Realisierung der in der vorgeschichtlichen Prädestination grundgelegten Heiligkeit (1,3 ff).«74 Was in 2,20ff von der Kirche gilt, gilt hier für den »in Christus« getauften »neuen Menschen«: »Sicherlich ist dieses Nach-vorn-Gehen nicht mehr wie bei Paulus von einer heißen Naherwartung der Parusie getragen.«75 Aber die Kirche wie der Getaufte hat »in den Himmeln … festen Halt, um auf Erden geschichtlich zu bestehen und in »Verantwortung von Gott her und vor Gott auf die Zukunft zuzugehen.«76 Deshalb Taufparänese! Der Imperativ bewahrt und bewährt den Indikativ.
4.3
»Seid stark in dem Herrn und in der Macht seiner Stärke«: Eph 6,10 – 20
Vor dem Hintergrund von Eph 5,14 als Leitmotiv der Tauferinnerung wird in 6,10 – 20 paränetisch der neue Mensch im göttlichen Kampfanzug beschrieben.77 »Anziehen« sollen die Christen die Waffenrüstung Gottes; das sind Gewandmotive eindeutiger Art. V 10 bezeichnet die Grundlage: erstarkt im Herrn und in der Kraft seiner Stärke. Die »Wahrheit« als »Gürtel« ist die neue Identität, geschützt mit dem »Panzer der Gerechtigkeit« (V 14), die »Stiefel« dienen der Verteidigung (Evangelium des Friedens), »lediglich das ›Schwert des Geistes‹, d. h. das Wort Gottes, kann auch zum Angriff gebraucht werden, aber eben auch zur Verteidigung.«78 Mit »Freimut« soll das Evangelium verkündigt werden, so die weiteren Interpretationslinien mit V 18 – 20, wie es der Apostel tut, bzw. tat. Diese Beschreibung der Waffenrüstung hat auch »im Kolosserbrief keine Parallele.«79 Dabei setzt der Verf. »es als selbstverständlich voraus, daß der, der Gottes Waffenrüstung trägt, im Grunde schon gesiegt hat.«80 Das bedeutet paränetisch Tauferinnerung: nach dem »Gerechtwerden« Eph 5,14 sollen die 72 H. Hübner, a. a. O., S. 218, zitiert R. Schnackenburg, a. a. O., S. 203, vgl. Paulus Röm 5,12ff Adam und Christus. 73 H. Hübner zeigt differenziert die Berührungen zu Kol 3,10. Aber : »Der AuctEph hat Kol 3,11 nicht übernommen.« A. a.O., S. 218. 74 H. Hübner, a. a. O., S. 218. 75 H. Hübner, a. a. O., S. 168. 76 H. Hübner, a. a. O., S. 168. 77 Vgl. dazu im Folgenden H. Umbach, Heilige Räume – Pforten des Himmels, Vom Umgang der Protestanten mit ihren Kirchen, Göttingen 2005, S. 115 – 117. 78 H. Umbach, Heilige Räume, a. a. O., S. 116. 79 A. Lindemann, Die Aufhebung der Zeit, Geschichtsverständnis und Eschatologie im Epheserbrief, StNT 12, Gütersloh 1975, S. 112. 80 A. Lindemann, a. a. O., S. 218.
28
Der neue Mensch in Christus
Christen »aufstehen« und sich entsprechend »ankleiden« – »in Christus«! »Seid stark in dem Herrn« V 10 ist also räumlich wörtlich zu nehmen! Angesichts einer ausbleibenden Parusie ist der Christ in den Stand gesetzt, sich gegen die widergöttlichen Mächte zu schützen und zu siegen. »Auf diese Weise wird körperlich-räumlich das neue Sein in der ›aufgehobenen Zeit‹ bewährt.«81 Das Gewandmotiv bezeichnet also ein Raummotiv des »Seins in Christus«!
5.
Fazit: Raum- und Gewandmotive in Kol und Eph als Taufaussagen »in Christus«
H. Hübner meint zwar bzgl. des Kolosserbriefs: »Die Ausrichtung auf das zeitliche, nämlich futurisch verstandene Eschaton konnte aber immer noch als in diesem Briefe ausgesprochen erwiesen werden (Kol 3,4); doch zeigte sich gegenüber Paulus ein entschieden anderer Akzent im Blick auf das in ihm zum Ausdruck kommende Selbstverständnis des Glaubenden. Diese Akzentverschiebung entspricht einer neuen Bedeutsamkeit des Existentials der Räumlichkeit. Wer bereits mit Christus auferweckt ist (Kol 3,1), der sucht im Grunde nur noch, was er bereits ist. Befindet er sich doch bereits mit Christus und – selbstverständlich! – in Christus im himmlischen Bereich.«82 Demgegenüber ist festzuhalten: bis auf den sog. »eschatologischen Vorbehalt« Röm 6,5 (Wir werden ihm auch in der Auferstehung gleich sein) ist alles bei Paulus angelegt. Das »Sein in Christus« bezeichnet die »eschatologische Existenz« bereits im irdischen Leben »in Christus«, das auch nicht einmal mehr durch den Tod bedroht werden kann (Röm 8), so dass der Kolosserbrief keinen radikal anderen, wesentlich neuen Akzent setzt, sondern lediglich diesen Akzent verstärkt. »Diese Linie von den authentischen Paulinen zum Kol wird nun im Epheserbrief noch stärker ausgezogen. Der Akzent wird noch kräftiger auf den Raum bzw. das Existential der Räumlichkeit gesetzt.«83 Dennoch ist der Epheserbrief kein gnostischer Text: »Doch der AuctEph weiß sich in zwei Welten zugleich, Philon und die Gnosis wollen jedoch diese irdische Welt verlassen. Das ist der entscheidende Unterschied.«84 Demgegenüber ist festzuhalten: Der Christ hat nach Paulus den Machtbereich der Hamartia hinter sich gelassen und lebt »in Christus«, in ihm ist auch der Tod »verschlungen vom Sieg«, so daß »wir zwar gerettet sind, doch auf Hoffnung« (Röm 8,24). Das gilt grundsätzlich auch in Kol 81 H. Umbach, Heilige Räume, a. a. O., S. 132. H. Hübner, a. a. O., S. 166 stimmt A. Lindemann insofern zu: »Der AuctEph deutet in seinen theologisch-christologischen Aussagen noch stärker vom Raum und von der Räumlichkeit her als der AuctCol.« S. 161. 82 H. Hübner, a. a. O., S. 166. 83 H. Hübner, a. a. O., S. 166 f. 84 H. Hübner, a. a. O., S. 177, alle Belege dort!
Fazit
29
und Eph. Dieses »Sein in Christus« als eschatologische Existenz ist auch hier jeweils – wie bei Paulus – geschichtlich zu bewähren, wie alle oben genannten paränetischen Texte belegen. Deshalb ist P. Tillich zu präzisieren, dass durch den Tod Jesu Christi und seine Auferstehung, »wodurch er den Kreis der Wiederholung auf etwas Neues hin durchbricht«,85 sowie die Taufe des Gläubigen »in Christus« seine eschatologische Existenz verwirklicht wird. So ist nun die »Taufe in Christus« das entscheidende »transformatorische« Symbol der neuen Existenz »in Christus« bzw. »in der Kirche«. Bei allem »transformatorischen« Weiterdenken von Paulus zu Kol und Eph im Sinne U. Schnelles bildet die Taufe eine größere Konstante, als bisher angenommen: »Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur, das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden« (2 Kor 5, 17). Sowohl bei Paulus, wie in Kol und Eph ist das »in Christus« – Sein räumlich verstanden!
85 P. Tillich, a. a. O., S. 188.
4.
Das Bekenntnis zu Jesus Christus im Wandel der Geschichte. Anmerkungen zu Christologie und Paränese des Hebräerbriefs und ihre Relevanz heute86
Zum Andenken an Werner Hassiepen
Zum Paulusjahr 2008, ausgerufen durch den Vatikan, begründet Rolf Spinnler im Dezember 2008, warum der Apostel Paulus aktueller ist denn je – und sich selbst die wichtigsten Gegenwartsphilosophen für ihn interessieren und begeistern87: »Gleicht unsere heutige Situation mit der alleinigen Supermacht USA und dem konkurrenzlosen Modell des globalen Kapitalismus nicht derjenigen vor 2000 Jahren, als das römische Imperium die damals bekannte europäischmediterrane Welt alternativlos beherrschte? Und war nicht Paulus der Einzige, der diesem imperialen Modell eine überzeugende Alternative entgegenhielt: indem er den gekreuzigten Christus zum Gegenkaiser ausrief, das römische Rechtssystem mit der Parole vom ›Ende des Gesetzes‹ attackierte und die christliche Gemeinschaft, in der ›alle eins in Christus sind‹ (Gal. 3, 28), als Gegenentwurf zur spätantiken Klassengesellschaft propagierte?«. Und weiter : »Zum Unbehagen am politischen Neoliberalismus gesellt sich heute ein Unbehagen an der kulturellen Postmoderne. Sie ermuntert uns zu immer neuen Grenzüberschreitungen, verbietet uns jedoch gleichzeitig jedes bedingungslose Engagement. Wenn heute jemand einer politischen oder religiösen Überzeugung auch unter widrigen Umständen die Treue hält, wird er sofort mit dem Vorwurf konfrontiert, das sei fundamentalistisch und totalitär. Was vielmehr gefordert wird, ist ein permanenter Skeptizismus, Relativismus und Pragmatismus, der jede absolute Wahrheitsbehauptung vermeidet.«88 Paulus verkörpert anhand der Analyse der drei Paulus-Philosophen Alain Badiou, Giorgio Agamben und Slavoj Zˇizˇek sozusagen ein Gegenmodell, das heute wieder relevant 86 In: Deutsches Pfarrblatt 10/2009, Hg.: P. Haigis 87 R. Spinnler, Ein Sieg über das Siegen, Die Zeit Nr. 52, 17. Dezember 2008, S. 54 f. 88 R. Spinnler a. a. O., S. 54.
32
Das Bekenntnis zu Jesus Christus im Wandel der Geschichte
und radikal modern ist. »Die drei gewichtigen Philosophen, von denen hier die Rede ist, artikulieren, jeder auf seine Weise, das Unbehagen an dieser Sackgasse, in die die Postmoderne geraten ist. Und sie entdecken überraschenderweise im Apostel Paulus einen Verbündeten. Überraschenderweise, weil Paulus in jeder Hinsicht das Gegenmodell darstellt zu dem, was der heutige Zeitgeist von uns verlangt. Er ist ein Glaubender und kein Skeptiker, ein engagierter Kämpfer und kein neutraler Beobachter, gerade das macht ihn für Badiou, Agamben und Zˇizˇek interessant. Badiou entdeckt in Paulus ein Modell für das, was er eine »Politik der Wahrheit« nennt, einen auf die Singularität des Subjekts gegründeten Universalismus. Agamben sieht in ihm den Zeugen einer messianischen Zeiterfahrung, die den endlosen Aufschub des Sinns, wie ihn Jacques Derridas Dekonstruktion propagiert, aufhebt in einer »Fülle der Zeit«, einem emphatischen »Jetzt«. Zˇizˇek schließlich liest ihn als einen Theoretiker der Säkularisierung, der das religiöse Paradigma bis zu dem Punkt vorantreibt, an dem es sich selbst aufhebt: im Tod Gottes am Kreuz«.89 Spinnler analysiert Zˇizˇeks Interpretation des Philipper-Hymnus (Phil 2, 6 – 8): »Anders als der platonische Eros, der ein Aufstieg vom Niedrigen zum Höheren ist, vollzieht die christliche Liebe genau die umgekehrte Bewegung einer Selbsterniedrigung vom Heiligen zum Profanen, vom utopischen Jenseits zum gelebten Hier und Jetzt. Von daher kann Zˇizˇek zeigen, was falsch ist am Programm des unendlichen Aufschubs, wie ihn die diff¦rance Derridas praktiziert. Sie verhält sich wie ein Liebhaber, der das Ideal einer fernen Geliebten anschmachtet, aber die Vereinigung mit ihr vermeidet, weil er fürchtet, das käme einer Profanierung gleich. Auch in der politischen Sphäre schwärmt Derrida von der »kommenden Demokratie«, scheut aber die harte Arbeit an ihrer Verwirklichung. Er bleibt gefangen in einer Logik des Erhabenen, die über die Unergründlichkeit des Ganz-Anderen meditiert, aber fürchtet, ihm zu nahe zu kommen. Das Christentum dagegen vollzieht den Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen, vom furchterregenden jenseitigen Gott zur jämmerlichen Gestalt Christi, die mit uns solidarisch ist, weil sie unser profanes Leben und Sterben mit uns teilt.«90 Diese Christologie des Apostels Paulus, die den »Sieg über das Siegen« radikal denkt und bekennt und auf diese Weise eine völlige Umwertung aller Werte in der »Neuschöpfung in Christus« (2 Kor 5, 17) vornimmt, wird nun, und das ist meine These, in der zweiten und dritten Generation der christlichen Kirche angesichts des Auseinanderklaffens der Erfahrung des Leids und der Verfolgung in der irdischen Wirklichkeit einerseits und der eschatologischen Hoffnung 89 R. Spinnler, a. a. O., S. 54. 90 R. Spinnler, a. a. O., S. 55, vgl. auch M. Josuttis, Über alle Engel. Politische Predigten zum Hebräerbrief, München 1990.
Der Hebräerbrief
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andererseits auf neue, selbständige Weise fruchtbar gemacht, indem das Leiden des Sohnes als »ein-für-allemal gültiges Opfer« des Hohenpriesters interpretiert wird, das den Zugang zum himmlischen Heiligtum in Ewigkeit eröffnet und gleichzeitig im Alltag der verfolgten Christen zu bewähren ist. Die »eschatologische Existenz« der Christen wird so im Rückblick, in der Gegenwart und im Ausblick geschichtlich radikal durchgehalten, indem das Hohepriestertum Christi »seit Urzeiten« erkennbar gemacht, im geschichtlichen »heute« eschatologisch paränetisch zugesprochen und so in Ewigkeit proklamiert wird: »Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit« (Hebr 13,8). Dass dies, im Sinne der drei Paulus-Interpreten, ebenfalls eine antirömische Herrschaftskritik implizit beinhaltet, versteht sich dabei von selbst: »Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir« (Hebr 13, 14). Und auch der ethische Rigorismus des Hebr ist vor diesem Hintergrund – wie auch bei Paulus – verständlich. Im Folgenden soll nun in drei Schritten dieser Weg, den der Hebräerbrief weist, sozusagen in Fortsetzung und weiterer Aktualisierung der paulinischen Theologie für die zweite und dritte Generation, nachgezeichnet werden. Am Ende zeigt dies seine gegenwärtige Aktualität neu, die hinter der des Apostels Paulus, keinesfalls zurückfällt, im Gegenteil, in einer Zeit des religiösen »Booms« aktueller denn je ist.
1.
Der Hebräerbrief – eine antike globale »Lesepredigt«
»Literarisch beurteilt ist Hebr die am sorgfältigsten gearbeitete Schrift des NT. Stilistisch zeigt er das beste Griechisch unter den ntl Schriften.«91 Wenn man bedenkt, »daß die frühen Christen weithin in der sozialen Hierarchie nicht sonderlich hoch rangierten (s. nur 1 Kor 1, 26 – 29), insofern also zu einem großen Teil des Lesens nicht mächtig gewesen sein werden«92, so ist der Umstand desto bemerkenswerter, dass Menschen der Antike, im Unterschied zu uns heutigen Menschen des technischen Zeitalters »in erheblichem Maße die Fähigkeit vorausgehabt haben, Gehörtes recht leicht zu behalten«.93 Gemeindebildung vollzog sich also nicht nur»im Rahmen einer Lesegemeinschaft«94, sondern besonders auch in einer Hörgemeinschaft, zu der für die einen, die des Lesens mächtig waren, das Schriftstudium gehörte, für die anderen, die ersten 91 H. Conzelmann, A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, 10. Aufl. Tübingen 1991, S. 344. 92 M. Bachmann, Vom Lesen des Neuen Testaments, in: K.-W. Niebuhr (Hg.), Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung, Göttingen 2000. S 32 – 45, hier S. 32. 93 M. Bachmann, a. a. O., S. 32, Anm.1. 94 M. Bachmann, a. a. O., S. 35.
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Das Bekenntnis zu Jesus Christus im Wandel der Geschichte
aber eingeschlossen, das Schriftstudium auch in der »gottesdienstlichen Lesung«95 seinen Platz hatte. Neben der Lektüre des Alten Testaments werden sehr bald die paulinischen Briefe, Jesusworte u. a. gesammelt, abgeschrieben, weiterverbreitet und in der Gemeindeversammlung laut vorgelesen und so zu Gehör gebracht. Damit ist strukturell deutlich, wie bereits Paulus inhaltlich sagt: »So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi« (Röm 10, 17), also nicht nur aus der »stillen« Lektüre, sondern aus dem Hören der vorgetragenen, vorgelesenen Predigt, in der sich Christus als der Lebendige gegenwärtig erweist. Der Hebräerbrief ist nun formal gesehen, im strengen Sinne, wie insgesamt anerkannt, kein Brief, vielmehr ein theologischer Traktat, »eine geschriebene Predigt«,96 wobei er auf die ganze Kirche blickt, in der diese Predigt also mit universalem Anspruch global weit verbreitet werden sollte. Insofern gilt E. Gräßers Bemerkung: »Und vielleicht ist sein ›Buch‹ tatsächlich eine ›Flugschrift‹«97, die der gesamten Kirche gilt. Der Inhalt und die Absicht dieser »Flugschrift«, die weit verbreitet werden sollte, ist jedenfalls im Text selbst festgelegt: »Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn« (Hebr 1, 1 f.). Und diese »dogmatische« Grundlegung ist gleich dreifach ethisch – paränetisch betont: »Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht« (Hebr 3, 7 + 8; 3,15; 4,7). Und auch das Vortragen und Hören dieser Predigt selbst wird zusammengefasst: »Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens« (Hebr 4, 12). Die Funktion des Hebräerbriefs als vorgetragene Predigt ist also die, im Vollzug lebendiges »Wort Gottes«98 zu sein, das gehört werden will, also wie ein modernes »Hörbuch« laut erklingt und als »Lesepredigt« in der Versammlung der Gemeinde zur Sprache kommt und auf diese Weise direkt ins Herz der Menschen dringt!
95 M. Bachmann, a. a. O., S. 35. 96 H. Conzelmann, A. Lindemann, a. a. O., S. 342: »Hebr hat etwas von der Stringenz einer gut disponierten mündlichen Rede. Aber ihr liegt doch offenbar auch eine geschlossene theologische Gesamtposition von durchsichtiger Klarheit zugrunde« H. Hegermann, Der Brief an die Hebräer, ThHKzNT XVI, Berlin 1988. 97 E. Gräßer, An die Hebräer (Hebr 1 – 6), EKK XVII/1, Zürich 1990, S. 25, O. Michel, Der Brief an die Hebräer, KEK XIII, Göttingen 101960, S. 4: »Hier in Hb haben wir aber die erste Predigt vor uns, die alle Mittel der antiken Rhetorik und Sprachformen kennt und ins Christentum überträgt […] Die Predigt soll vorgelesen werden und die Anwesenheit des Verfassers ersetzen«, a. a. O., S. 8. 98 E. Gräßer, a. a. O., S. 25.
Zur theologischen Zielsetzung des Hebr
2.
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Christologie und Paränese
Nimmt man vor diesem Hintergrund Hebr 1, 1 f. auf, wird einmal deutlich, dass hier von Anfang an Gott selbst als das redende Subjekt bezeichnet wird: »Nachdem Gott vorzeiten … geredet hat« (Hebr 1, 1), dass zum Anderen aber die Art und Weise seines Redens geschichtlich typologisch entgegengesetzt und jetzt überboten ist: »vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise … durch die Propheten – in diesen letzten Tagen … durch den Sohn« (1, 1 f.), dass drittens aber auch die Empfänger des Redens wechseln: »vorzeiten - zu den Vätern« – »in diesen letzten Tagen – zu uns«. Damit, mit diesem inklusiven »zu uns« sind als Empfänger alle diejenigen gemeint, die diesen vorgelesenen Traktat als Predigt hören, also die eschatologische Gemeinde insgesamt.99 Nach einem ersten ausführlichen Christologieteil100 mündet das erste Kapitel in 2,1 in den ersten paränetischen Satz des Hebr, der gleichsam Programm ist: »Darum sollen wir desto mehr achten auf das Wort, das wir hören, damit wir nicht am Ziel vorbeitreiben« (Hebr 2, 1). Damit ist schon zu Beginn des Hebr von »Ziel« – räumlich und zeitlich zugleich – die Rede. Was ist nun mit diesem »Ziel« gemeint?
3.
Zur theologischen Zielsetzung des Hebr: parakletische Christologie als Soteriologie!
M. Dibelius fasst bereits 1956 zusammen:101 »Christus, der wahre Hohepriester, bahnt sich durch seinen Tod den Weg in das ewige Heiligtum im Himmel. Er empfängt selbst die Initiation für diesen Kult und macht die Christen fähig, ihm, dem Vorläufer (6, 20), zu folgen und selbst zu Geweihten dieses Kults zu werden. Die Segenskraft des Ganges Jesu vom Kreuz bis in das himmlische Heiligtum ist ein für allemal ausreichend; er hat sich ja nicht im Mythus der Vorzeit vollzogen, sondern im Rahmen der Geschichte, und alle Gläubigen können Christi Weg betreten und dadurch ihrerseits die Initiation für das Heiligtum empfangen, d. h. sie können ›herzutreten‹ (im kultischen Sinn), können sich Gott nahen«. Schreibt Paulus vorwiegend an von ihm gegründete Gemeinden102, also an 99 Zu 1,3: Die eschatologische Gemeinde beinhaltet also eine mögliche konkrete sichtbare Ortsgemeinde, greift aber über sie hinaus und stellt sie in den Horizont der »unsichtbaren Kirche« insgesamt. 100 Zum Ineinander von Christologie u. Paränese vgl. die folgenden Punkte! 101 M. Dibelius, Der himmlische Kultus nach dem Hebräerbrief, in: Ders., Botschaft und Geschichte II, Tübingen 1956, S. 160 – 176, hier S. 163 f. 102 Alle Pls-Briefe außer Röm, sowie Phm, der nicht an eine Gemeinde gerichtet ist, sondern an einen einzelnen.
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Das Bekenntnis zu Jesus Christus im Wandel der Geschichte
Christen der »ersten Generation«103, so zeigt sowohl die Thematik, als auch die Art und Weise der »Problemlösung« des Hebr ein fortgeschrittenes Stadium der Kirche »der zweiten und dritten Christengeneration«104 auf der Schwelle »vom Urchristentum zur nachapostolischen Zeit«105. Die Gemeinde wird bedrängt durch »das Auseinanderklaffen zwischen erfahrener irdischer Wirklichkeit und geglaubter eschatologischer Existenz«106, zwischen Leiden und Teilhabe am eschatologischen Heil. Dem gegenüber bietet der Verfasser des Hebr, »ein alexandrinisch gebildeter Christ«107 einen »selbständigen theologischen Neuentwurf des überlieferten Kerygmas«108, der als »Logos der Paraklese«/»Wort der Ermahnung« (13, 22) das Selbstopfer Christi interpretiert als alle Opferkulte des alten Bundes überbietend, da es unwiederholbar und von endgültiger Wirkung ist (10, 17 f.). Das eine für allemal erworbene Heil durch Christus stärkt die Gemeinde und hilft ihr »glaubensstark zu bleiben und die Hoffnung bis zum Ende durchzuhalten«.109
3.1
Das Selbstopfer Christi: unwiederholbar und einmalig
Die »Hauptsache« (Hebr 8,1) wird nun auch rhetorisch besonders hervorgehoben: als »summa summarum«110 nennt Hebr jetzt das Wesentliche seiner gesamten Abhandlung: Hauptsache des ›Wortes der Paraklese‹ (13, 22) ist also »der zur Rechten Gottes inthronisierte Hohepriester Jesus, der dadurch Mitre103 Auch wenn Pls nicht alle, denen er das Evangelium gepredigt hatte, selbst getauft hatte, vgl. 1 Kor 1, 14 – 17 war er doch der Gründer z. B. der Gemeinde von Korinth. 104 J. Goldhahn-Müller, Die Grenze der Gemeinde. Studien zum Problem der zweiten Buße im Neuen Testament unter Berücksichtigung der Entwicklung im 2. Jh. bis Tertullian, GTA 39, Göttingen 1989, S. 77: »Deutlich lassen sich bei den Lesern die typischen Erscheinungen der ›zweiten Generation‹ feststellen: eine angesichts der Länge des Weges, äußerer Leiden (zu Verfolgung, Gefangenschaft, Eigentumsbeschlagnahme und öffentlicher Verspottung s. 11, 35 – 38; 12, 2 – 4.5 – 11; 13, 3,.5 f.23) und daraus resultierender innerer Zweifel, eingetretene Glaubensschwäche (5, 11 – 14; 12, 2.12), Lässigkeit im Gottesdienstbesuch, Erkenntnisschwund, Geläufigkeit und gleichzeitige Unanschaulichkeit der Botschaft und Zweifel an der Gültigkeit der Verheißung (2, 2 – 4).« 105 Vgl. dazu E. Gräßer, Der Glaube im Hebräerbrief, MThSt 2, Marburg 1965, sowie L. Goppelt, Die Apostolische und die Nachapostolische Zeit, in: Die Kirche in ihrer Geschichte, hrsg, von H.D. Schmidt und E. Wolf, Göttingen 1962. 106 E. Fiorenza, Anführer und Vollender unseres Glaubens. Zum theologischen Verständnis des Hebräerbriefes, in: Gestalt und Anspruch des Neuen Testaments, hrsg. v. J. Schreiner und G. Dautzenberg, Würzburg 1969, S. 262 ff. 107 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 78. 108 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 79. 109 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S.79 f, vgl. auch G. Schille, Erwägungen zur Hohenpriesterlehre des Hebräerbriefes, ZNW 46, 1955, S. 81 ff. 110 Hier zeigt Hebr auch sein rhetorisches Format, E. Gräßer, An die Hebräer, EKK XVII, Zürich/Neukirchen -Vluyn 1993, S. 79.
Zur theologischen Zielsetzung des Hebr
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gent und ›Fürbitter in Gottes nächster Nähe‹ ist, also Hoherpriester von allerhöchster Qualität«.111 Nach der Exposition 8, 1 – 6, in der alter und neuer Priesterdienst einander gegenübergestellt werden, werden 8, 7 – 13 in Auslegung von Jer 31, 31 als Erläuterungen zum Alten und Neuen Bund erklärt: »Nirgendwo sonst finden sich ähnlich harte Worte über den ersten Bund, der danach auf gleichsam natürliche Weise zu seinem Ende kommt«.112 Die zweite Diatheke ersetzt die erste. »Das at.liche Gottesvolk gelangt nach Paulus wie nach Hebr. nicht zum Ziel, weil es vom Gesetz wie vom Kult her auf Erden sucht, was es nur vom Himmel her finden kann«.113 Die Debatte um die »hochspekulative Sühnetodtheologie«114 ist von E. Gräßer breit entfaltet und angesichts ontologischer, metaphysischer oder auch biblischer Traditionen von E. Käsemann auf folgenden Punkt gebracht: Das einzelne historische Ereignis des Kreuzes Christi besitzt eine eschatologische, ›zeitlose‹ Gültigkeit: »Der Hinweis auf den Sühnetod Jesu besagt in unserem Zusammenhang nur, daß wir nicht Gottes Tat ersetzen und unterstützen können. Allein er handelt lebendig machend und einigend. Die Legitimation eines neuen kultischen Brauchtums liegt darin nun wirklich nicht«.115 Vor diesem Hintergrund der »Einmaligkeit« und »End-Gültigkeit« des Opfers Christi – »Nun ist er einmal beim Abschluß der Weltzeiten zur Aufhebung der Sünde durch sein Opfer offenbar geworden« (9. 26) – bekommen die Ermahnungen des Hebr ihr eschatologisch begründetes Gesicht und ihr rigoristisch ernstes Gewicht!
3.2
Die Verweigerung der zweiten Buße – Paränese, christologisch begründet
Vor diesem christologischen Hintergrund nun sind die in 6, 4 – 8; 10, 26 – 31; 12, 16 – 17 gemachten Aussagen einer Verweigerung einer zweiten Buße bzw. Vergebung nach der Taufe als Drohung und Mahnung zu analysieren und auch zeitgeschichtlich entsprechend richtig einzuordnen. Ob dabei »Sünde« besonders verstanden wird als »Abfall vom lebendigen Gott«116, also »Zurückbleiben, Ermüden, also … Unglaube und Abfall«117, für die es grundsätzlich keine »Buße« gibt, bleibt jetzt zu prüfen. E. Gräßer, a. a. O., S. 80. E. Gräßer, a. a. O., S. 100. E. Käsemann, Das wandernde Gottesvolk, FRLANT 37, Göttingen 1938 (=41961), S. 37. E. Gräßer, a. a. O., S. 165. E. Käsemann, Erwägungen zum Stichwort »Versöhnunglehre im Neuen Testament« in FS R. Bultmann, Tübingen 1964, S. 47 – 59, hier S. 54; vgl E. Gräßer, a.a.O, S. 165. 116 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 78, Anm. 172. 117 H. Conzelmann, A. Lindemann, a. a. O., S. 345. 111 112 113 114 115
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Das Bekenntnis zu Jesus Christus im Wandel der Geschichte
3.2.1 Hebr 6, 4 – 8: Die Unmöglichkeit einer zweiten Buße B. Poschmann unterscheidet bei der Analyse von Hebr 6, 4 – 8 und des dort auftretenden »unmöglich« (V 4) eine moralische, psychologische und theologische Unmöglichkeit der »Bekehrung der Abgefallenen«118, fährt aber fort: »Die Unmöglichkeit ist aber nicht absolut«119, indem er die Formulierung »dem Fluch nahe«(V 8) so deutet, dass »noch eine entfernte Möglichkeit der Umkehr offen«120 sei und unterscheidet zwischen grundsätzlicher »Möglichkeit der Bekehrung« und nicht erfolgreicher »Buße des Gefallenen«.121 Indem er aber zwischen »Unmöglichkeit« und »Erfolglosigkeit«122 unterscheidet, interpretiert er de facto das im Text stehende »unmöglich« (V 4) als »möglich«! H. Windisch dagegen interpretiert das »unmöglich« von 6, 4 grundsätzlich und rigoristisch:123 »Wiederholung der Buße nach wirklichem Abfall ist unmöglich, weil der Gefallene die heiligen Gaben Gottes, die er besaß, weggeworfen hat und den Sohn Gottes wissentlich schändet«124. I. Goldhahn-Müller zeigt in sauberer Abgrenzung von B. Poschmann und C. Spicq125 die Begründung des »kategorischen Lehrsatzes«126 in den vier Partizipien des Aorist, die in V4 f positiv die Herrlichkeit der Heilserfahrung beschreiben und formal dem Adverb »einmal« untergeordnet sind, dem das fünfte Partizip negativ gegenübersteht. Das »wiederum« in V 6 korrespondiert mit dem »einmal« in V 4 antithetisch und bezeichnet die Unmöglichkeit der zweiten Buße nach der Anfangsbekehrung.127 118 B. Poschmann, Paenitentia secunda. Die kirchliche Buße im ältesten Christentum bis Cyprian und Origenes. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung, Theoph. I, Bonn 1940, Nachdruck 1964, S. 42. 119 »Die Unmöglichkeit ist aber nicht absolut, insofern Gott es in der Hand hat, das, was nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge ausgeschlossen erscheint, durch ein außerordentliches Wunder seiner Gnade herbeizuführen«. B. Poschmann, a. a. O., S. 42. 120 B. Poschmann, a. a. O., S. 42. 121 B. Poschmann, a. a. O., S. 42. 122 B. Poschmann, a. a. O., S. 42. 123 »Ein strenges Gesetz will der Verfasser festlegen, das keine Ausnahme und keine Milderung kennt. Für all die rigoristischen Sätze, um deren Darlegung wir uns bemühen, ist dies »unmöglich« charakteristisch, wie der Gerechte und Bekehrte »unmöglich« Schlechtes, wie der Schlechte und Unbekehrte »unmöglich« Gutes hervorbringen »kann«, so »kann unmöglich« ein Gefallener eine neue Buße leisten.« H. Windisch, Taufe und Sünde im ältesten Christentum bis auf Origenes, Tübingen 1908, S. 295. 124 H. Windisch, Der Hebräerbrief, HNT 14, Tübingen 21931, S. 50. 125 C. Spicq, L’Eptre aux H¦breux, Bd. 2, Paris 1952 – 53,(21961). 126 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 86 f.: »Die Aussage ist apodiktisch und erinnert an einen Satz heiligen Rechts.« 127 E. Gräßer, An die Hebräer, EKK XVII/1, S. 348 schränkt zwar ein: »Nicht auf den Taufakt, sondern auf die Anfangsbekehrung allgemein, und die in ihr statthabende Existenzwende ist mit dem vytisl|r geblickt«, zieht aber nicht die von ihm selbst vorbereitete Konsequenz: »Dem ersten Schöpfungswerk entsprechend … wird mit vyt_feim der Beginn der christlichen Existenz als ein schöpferischer Akt Gottes interpretiert (bes. deutlich 2 Kor 4,
Zur theologischen Zielsetzung des Hebr
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3.2.2 Hebr 10, 26 – 31: Warnung vor ›mutwilligem‹ Sündigen Wie wenig Hebr 6, 4 – 8 auf psychologische, moralische oder auch nur paränetische Aspekte eingegrenzt und so das rigoristische »unmöglich« aufgelöst werden darf, zeigt die Analyse von Hebr 10, 26 – 31. Hier wird die Entsprechung einer zweiten Buße, nämlich die abermalige Vergebung der Sünden ausgeschlossen, und zwar »in der Terminologie des atl Opferkultes«.128 Auch mit der hier gebrauchten Charakterisierung des Sündigens »]jous_yr« (V 26) wird in Aufnahme von Traditionen des AT und des Judentums »Sünde« als Tatsünde mit verschiedener »Wertigkeit« (Vorsätzlichkeit bzw. Unwissenheit)129 vorausgesetzt. Wie Hebr 10, 26 – 31 deutlich belegt, gilt hier die wissentliche, bewusste »Sünde« als »die ganzheitliche Abkehr von der Erkenntnis der Wahrheit«130 (V 26), ist gleichzeitig »ein ›mit den Füßen Treten‹ des Gottessohnes, die Profanisierung des Bundesblutes und die Schmähung des in der Taufe geschenkten Geistes der Gnade«131, also »Glaubensabfall«.132 Damit ist also nicht nur eine (innere) Haltung, sondern auch das (äußere) konkrete Verhalten, wie es in 13,4 verurteilt wird, bezeichnet. Die Abwendung von Christus und seiner Taufgnade dürfte dabei »das gleichgültige Verlassen der Gemeinde«133 inplizieren. Gegen dies wendet sich 10, 25, indem mit dem Strafgericht gedroht wird (ebenso 10, 27 – 31). Ebenso wie in Hebr 6 folgt hier der Warnung und Drohung die Paränese und Ermutigung, sowie das Lob der früheren ›Parresia‹ (10, 32 ff.). Wie bewusste Sünde »Glaubensabfall« bezeichnet, so bezeichnet »Glaube« die Folge der (einmaligen) Taufbuße, also eine Haltung, die im Lebensvollzug entweder »durchgehalten oder aufgegeben« wird134.
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6)«. Gerade aber bei Paulus, auf den Gräßer hier verweist, sind Anfangsbekehrung, Existenzwende ohne die Taufe »in Christus« nicht zu verstehen! Vgl. auch H. Umbach, In Christus getauft – von der Sünde befreit. Die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus, FRLANT 181, Göttingen 1999. I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 96. Dies bezeichnet hier die Kehrseite des einmaligen »Opfers« Christi 10, 14: Die Unmöglichkeit einer zweiten Buße ist also nicht subjektiv begründet (B. Poschmann), sondern soteriologisch: »einmal«: 7, 27; 9, 12.28; 10, 10, 12.14: die Metanoia ist also eschatologisch einmalig! Belege ausführlich bei I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 96 f. I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 97. I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 97. I. Goldhahn-Müller, a. a. O. S. 97, möchte differenzieren zwischen »Glaubensabfall als eine (r)Gesamthaltung« und einzelnen schweren Vergehen wie »Unzucht« und »Ehebruch« (13,4), Wie 12, 16 f. zeigt, umfasst aber der Glaubensabfall als »Austausch der Gnade gegen welthaftes Leben« verstanden (L. Goppelt, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 1976, Neudruck 1985, S. 592), beides. Deshalb wendet sich auch I. Goldhahn-Müller, a. a. O. S. 97, gegen eine »Reduktion« auf den Glaubensabfall »als eine Gesamthaltung«. I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S 97. L. Goppelt, a. a. O., S. 594; vgl. E. Gräßer, Der Glaube im Hebräerbrief, a. a. O., S. 192 ff.
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Das Bekenntnis zu Jesus Christus im Wandel der Geschichte
3.2.3 Hebr 12, 16 – 17: Das abschreckende Beispiel Esaus Hebr 6, 4 – 8 und 10, 26 – 31 haben deutlich gezeigt, dass H. Windisch mit seiner Interpretation nicht Recht hat, wenn er behauptet, »daß der Verfasser Leser vor Augen hat, die noch immer nicht von der ›Sünde‹ ganz losgekommen sind«.135 Gerade die paränetischen Teile (bes. 6, 9 – 12; 10, 32 – 37) zeigen aber, dass der Verfasser bzgl. der konkreten Adressaten überzeugt ist »dass es besser mit euch steht und ihr gerettet werdet« (6, 9). Dies könnte aber genauso als ein allgemeiner Ansporn verstanden werden. So dient dem Hebr in 12, 16 – 17 das Beispiel Esaus dazu, »die objektive Unmöglichkeit postbaptismaler Umkehr«136 den Lesern insgesamt abschreckend und warnend vor Augen zu halten.137 Esau war in den Schilderungen der hell.-jüd. Haggadah immer negativer bewertet worden.138 Dennoch liegt der Grund für die Verweigerung der Buße nicht in der Verstockung Esaus oder in dem Ungenügen seiner Reue, sondern im Bußbegriff des Hebr : 1. Esau steht als warnendes Beispiel für die Christen, die das durch Christus vermittelte eschatologische Heil preisgeben. 2. »P|qmor« und »b]bgkor« bezeichnen Esau als Beispiel für ein Leben der Christen nach dem Abfall. 3. »Er fand keinen Raum zur Buße« ist keine Parenthese, sondern gehört zu »obwohl er sie mit Tränen suchte« und meint die objektive Unabwendbarkeit des Verwerfungsurteils. 4. »Let\moia« ist nicht (ausnahmsweise) profan als »Sinnesänderung« zu deuten, sondern ist selbstverständlich in Einheit mit 6, 4 – 8 und 10, 26 – 31 zu interpretieren, so dass die Warnung vor dem Abfall mit der endgültigen Verwerfung begründet wird. 5. »Raum der Buße« bezieht sich auf hebr. 859MN@ A9KB und bezeichnet die »von Gott gegebene Möglichkeit zur Umkehr«.139 Diese ist nach Hebr 12, 16 – 17 bei Glaubensabfall objektiv verwirkt. Die anschließende Paränese gipfelt in V.
135 H. Windisch, Taufe und Sünde, a. a. O., S. 308. H. Windisch geht mit seiner »Tauftheorie« an der wesentlichen Problematik des Hebr vorbei, wenn er formuliert: »Es erhebt sich nun die doppelte Frage, wie der Getaufte sich sündlos hält, und wie es um den Fall steht, dass er sündig bleibt oder dass er von neuem in Sünde fällt«, H. Windisch, a. a. O., S. 311. Hebr geht es ja um die Warnung vor Abfall! 136 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 102. 137 B. Poschmann, Paenitentia secunda, a. a. O., S. 50 psychologisiert »subjektivierend«: »Was Esau in Wirklichkeit vergeblich gesucht hat, das ist denn auch nach der Erzählung in der Genesis … nicht Bekehrung oder Buße, sondern die Rückgängigmachung des Geschehenen«. Damit sei also keine wirkliche Metanoia mit vorausgehender Reue gemeint! 138 Belege bei I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 104 f. 139 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 108; vgl. auch dort die Parallelen im Griechentum und Judentum.
Zur theologischen Zielsetzung des Hebr
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28 f. mit der Betonung des »unerschütterlichen Reiches« und der Beschreibung Gottes als ein »verzehrendes Feuer«. 3.2.4 Ergebnis: Taufe, Sünde und Buße in Hebr und bei Pls So ist abschießend zusammenfassend zur »Bußtheologie« des Hebr folgendes zu sagen: »Die eben interpretierten Aussagen dürfen nicht als Teile einer lehrhaften Theorie verstanden werden. Sie bilden vielmehr die negative Spitze einer Paränese, der jeweils ein positiver Zuspruch folgt.«140 So gilt »Das ›Unmöglich‹ der zweiten Buße« hat in dem ›]v\pan‹ des Erlösungswerkes Christi seinen eigentlichen Grund, weniger in der ›Naherwartung‹141. So ist Gräßer grundsätzlich zuzustimmen, wenn er das »Furchtmotiv« (Verweigern der zweiten Buße) als »Kontrapunkt zu der Heilsbotschaft« (Christus – das ›einmalige‹ Opfer) setzt und so in paränetischer Absicht den »potentiellen Apostat«142 ernsthaft warnt. So ist einerseits das »Wissen um das ›schon‹ der unüberbietbaren Herrlichkeit des eschatologischen Seins, das Bewusstsein der Erfüllung«143 die Voraussetzung für die Absolutsetzung der Verpflichtung der ethischen Bewährung des Glaubens und der Warnung vor Abfall. So ist andererseits hier »Sünde explizit als erschlaffte Glaubenshaltung und resignierte Infragestellung der Heilsgnade verstanden«.144 Vor Abfall wird in Hebr absolut gewarnt. Interpretiert man rückwirkend Paulus nun nicht dialektisch im Sinne einer »täglich neu zu vollziehenden Glaubensentscheidung«,145 d. h. einer »täglichen Buße« (Luther), sondern grundsätzlich vom »Sein in Christus« als »Neuschöpfung« her, das dem Menschen in der Taufe geschenkt (Indikativ) und im Tun bewährt wird (Imperativ), so erscheint Hebr mit seinem Rigorismus der Unmöglichkeit einer Zweiten Buße nach der Taufe viel stringenter als eine Fort- bzw. Weiter140 L. Goppelt, a. a. O., S. 502. 141 E. Gräßer, Der Glaube im Hebräerbrief, MThSt 2, Marburg 1965, S. 195. 142 E.Gräßer, a. a. O., S. 196, Gräßer interpretiert jedoch Paulus wieder dialektisch, wenn er fortfährt: »Der Autor des Hb hat wohl noch ein Wissen darum, daß der Christ eine ›neue Kreatur‹ ist, die gleichsam jetzt schon ›himmlisch‹ existiert (6, 4 – 6). Aber dieses Wissen kommt theologisch nicht zum Tragen, wenn er das ûpan der Neuschöpfung eschatologischer Existenz (6, 4) nun eben doch nicht die den Widerstand der Sündenmacht überwindende und stets neu zu vollziehende Glaubensentscheidung sein lässt, sondern darin den einmaligen Erwerb eines habitus sieht, den es unversehrt und auf direktem Wege in die himmlische Ruhe einzubringen gilt. Geht er unterwegs doch wieder verloren, ist er ein zweites Mal auf gar keine Weise wieder erschwinglich.« Von einem »habitus« ist weder im Hebr noch bei Pls die Rede. Pls redet von einem neuen »Sein in Christus«, vgl. H. Umbach, In Christus getauft, a. a. O., S. 314: »Die Taufe ›in Christus‹ bewirkt im Leben des einzelnen Menschen den entscheidenden ›Machtwechsel‹.« 143 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 111. 144 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 112. 145 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 113.
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Das Bekenntnis zu Jesus Christus im Wandel der Geschichte
entwicklung pln Theologie angesichts einer neuen Situation der zweiten und dritten Generation von Christen!146 So wäre in Hebr mit der Verweigerung der zweiten Buße der pln Rigorismus z. B. von 1 Kor 5 und 6 als die negative Kehrseite des Heils bewahrt, das nach Pls den Getauften »in Christus« als »neue Schöpfung« schon jetzt eschatologisch behauptet und das nach Hebr im »einmaligen« Opfer Christi (9, 28) »ein für allemal« begründet ist.147 Darin entspricht die Paränese des Hebr ganz der Taufparänese des Pls in Röm 6 – in eine neue Generation neu hineingesagt!
3.3
Das hohepriesterliche Opfer Jesu Christi und das Bekenntnis der Gemeinde
Ist vor diesem Hintergrund – sowohl der Einmaligkeit des Opfers Christi, als auch der Einmaligkeit des »eschatologischen« Herrschaftswechsel der Christen – der ethische Rigorismus des Hebr verständlich, wird deutlich, dass er doch nur im Dienste der Ermahnung steht, das eschatologische Heil zu bewahren und den entsprechenden Lebenswandel, auch angesichts der Anfeindungen, denen die ersten Christengenerationen ausgesetzt waren, zu vollziehen. Weit vor der abschließenden Gerichtsparänese 12, 25 – 29 (auf der hier jetzt nicht eingegangen werden kann, (das »noch einmal« in V 27 weist hin auf das Endgericht), entnehmen wir aus der Ermunterung 10, 32 – 39 noch einen Rückblick auf die »früheren Tage« (10, 32), die »Erleuchtung« des Glaubens und der Taufe und den damit verbundenen Leidenskampf: Schimpf, Drangsal, Freiheitsentzug, Raub der Besitztümer etc. Wird ein möglicher konkreter politischer Hintergrund in 10, 33 angesprochen, gar »das Martyrium der Neronischen Pechfackeln? Ein spectaculum ähnlich dem von Paulus erlittenen«148 (1 Kor 4, 9) wird es schon gewesen sein. »Die Mitbürger auf der kommunalen Ebene, voran die Behörden oder der Staat, schmähten und verleumdeten christliche Minderheiten.«149 Dazu gehörte auch 146 Auch I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 114 findet es »erwägenswert … , den Hebr in den weiten Rahmen pln Theologie zu stellen« und hält es für möglich, dass »sowohl die joh Schriften als auch der Hebr an Paulus als eigenständige Weiterverarbeitungen anknüpfen konnten.« Vgl. dazu besonders: H. Umbach, In Christus getauft, a. a. O. Gerade hier wird deutlich, dass diese Hebräerbriefinterpretation der Verweigerung einer zweiten Buße sich nahtlos an diese grundsätzliche Pls-Interpretation des »Seins in Christus« anfügt! 147 Freilich ist der Rigorismus des Hebr »nur eine vorläufige und eine Lösungsmöglichkeit unter anderen«. Diese hat sachlich und »theologiegeschichtlich auf der Schwelle von der zweiten zur dritten Christengeneration ihren legitimen Ort.« I. Goldhahn-Müller, a. a. O. S. 112. 148 E. Gräßer, An die Hebräer (Hebr 10,19 – 13,25), EKK XVII/3, Zürich 1997, S. 64. 149 E. Gräßer, a. a. O., S. 65.
Zur theologischen Zielsetzung des Hebr
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der Raub der Güter. E. Gräßer sieht weniger staatliche Verfolgung, als vielmehr »Übergriffe mehr willkürlicher Art.«150 M. Karrer folgert zu Recht: »Wir befinden uns deutlich vor den organisierten Christenverfolgungen.«151 »Jedoch ermutigt der Autor auch nicht zum rechtlichen Widerstand, wie er noch bei den Juden in Alexandria zu einer ganzen Rehabilitation geführt hatte.«152 Demnach hätte sich die Situation der Christen »schon erheblich verschlechtert«153 und passte zum Ende des 1. Jhdts »kurz vor die Legitimierung von Christenverfolgungen durch Trajan«.154 Der Hebräerbrief beklagt diese Situation mit keinem Wort. Vielmehr verleiht er ihm einen »theologischen Skopos«:155 »Sie haben auf Erden nichts zu verlieren und bei Gott schon alles gewonnen«.156 Sie haben nämlich nach 10, 19 ff. den Zugang des freien Wortes zum Thron Gottes: »die Freiheit des Wortes zum Eingang ins himmlische Heiligtum« (10,19), weil sie einen »großen Priester« haben über das Haus Gottes (10, 21). Das ist die Grundlage der Ermahnung, das »Bekenntniss der Hoffnung« unbeugsam festzuhalten (10, 23)! Eine radikalere Kampfansage – auch im politischen Sinn gegen den römischen Pontifex Maximus – gibt es nicht! Der Hebräerbrief bewahrt und verstärkt auf seine Weise, grundsätzlich wie Paulus, aber in einer neuen Situation neuer Christengenerationen über Paulus hinaus – die Radikalität der in Jesus Christus begründeten eschatologischen Existenz! Deshalb sollte man nach dem Paulusjahr neben den Paulusbriefen unbedingt auch die gegenwärtige Relevanz des Hebräerbriefs als einer nachpaulinischen Schrift neu entdecken und theologisch fruchtbar machen: als Hilfe zur Eindeutigkeit des christlichen Profils in einer multireligiösen Welt jenseits von dumpfem Fundamentalismus einerseits, aber auch jenseits von postmoderner Indifferenz und falschem Skeptizismus andererseits. Auf diese Weise kann das Bekenntnis zu Jesus Christus im Wandel der Geschichte im Hören auf das »Wort« neu gewonnen werden!
150 E. Gräßer, a. a. O., S. 67. 151 M. Karrer, Der Brief an die Hebräer, Kap 5, 11 – 13, 25; Öekum. Taschenbuchkommentar zum NT 20/2, Gütersloh 2008, S. 245. 152 M. Karrer, a. a. O., S. 245. 153 M. Karrer ; a. a. O., S. 245 154 M. Karrer, a. a. O., S. 246. 155 M. Karrer, a. a. O., S. 246. 156 M. Karrer, a. a. O., S. 246.
5.
Gemeinschaft der Heiligen – Gemeinschaft der Sünder? oder: Bezeugung und Bewahrung des Anfangs. Zum Sündenbegriff und »Bleiben in der Liebe« in 1 Joh157
In Erinnerung an Hartmut Stegemann
Die Enthüllung vieler Fälle sexuellen Fehlverhaltens von Pfarrern bzw. Priestern gegenüber Kindern und Jugendlichen hat (besonders) die (katholische) Kirche in eine tiefe Krise gestürzt, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa und Amerika, also weltweit. Damit wird die Kirche nicht nur als Institution ins Mark getroffen, sondern auch ihre Lehre von der »una sancta catholica et apostolica ecclesia« wird radikal hinterfragt. Und das nicht nur im katholischen, sondern auch im protestantischen Bereich. Gilt für die Protestanten seit Martin Luther, der Christ sei »simul iustus et peccator«, also Gerechter und Sünder zugleich, ist nun die aktuelle Frage, ob dies nicht nur für die einzelnen Gläubigen, sondern auch für die Kirche insgesamt zu gelten hat, ja, wie das o.g. Credo sachgemäß zu interpretieren und zu verstehen ist, und welche Belege es – darauf muss nicht nur die protestantische Lehrbildung Wert legen – dafür im Neuen Testament selbst geben kann. Am Gründonnerstag 2010, in der Zeit des Höhepunkts der Enthüllungen sexuellen Fehlverhaltens von Priestern und Pädagogen, schrieb nun Karl Kardinal Lehmann von römisch-katholischer Seite einen Aufsatz mit dem revolutionär klingenden Titel »Kirche der Sünder, Kirche der Heiligen«,158 dessen These zumindest auf katholischer Seite mit einem »Dammbruch« in der Lehre verglichen werden könnte, die aber auch für die protestantische Lehre von der Kirche im ökumenischen Horizont relevant sein dürfte. Nach einer sachlichen phänomenologischen Analyse der Erkenntnisse hinsichtlich der Pädophilie, des Ausdrucks der Scham und des Erschreckens über schnelles Verdecken bzw. 157 In: Deutsches Pfarrerblatt 3/2012, Hg. P. Haigis. 158 K. Kardinal Lehmann, Kirche der Sünder, Kirche der Heiligen, in FAZ, 1. April 2010, Nr. 77, S. 6.
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Gemeinschaft der Heiligen – Gemeinschaft der Sünder?
Abwehren von Verdachtsfällen in der Vergangenheit durch Leitungsorgane, um so »die Institution Kirche und gerade auch Amtspersonen unter allen Umständen vor einem Makel zu bewahren«,159 geht Lehmann tiefer, soz. an die dogmatischen Lehraussagen bzgl. der gesamten Institution Kirche: »Aber es gibt auch einen Zusammenhang, der über die jeweils besondere Lage hinausreicht und die gesamte Institution in die Verantwortung bringt. Dazu gehört auch die Situation der Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Meine Kritik bezieht sich nicht auf das Vatikanum II, sondern auf misslungene Bemühungen der nachfolgenden Rezeption. Eine erneuerte Zuwendung zur modernen Welt war notwendig. Aber man hatte die Sogwirkung dieser Welt wohl vielfach unterschätzt. Hemmungen entfielen, eine falsche Toleranz konnte sich ausbreiten. Die ›Welt‹ erwies sich als mächtiger.«160 »So hat man manche Herausforderung, die das Zweite Vatikanische Konzil stellte, nicht genügend aufgenommen. Dazu gehört für mich die Aussage über Heiligkeit und Sündigkeit der Kirche. Gerade im Blick auf das heute sehr stark empfundene Gewicht sündhafter Erscheinungen in der Kirche darf der Aspekt der Heiligkeit nicht ausgeblendet werden. Es muss gewährleistet bleiben, dass das befreiende göttliche Leben durch die Heiligkeit der Kirche, die sie nur von Jesus Christus hat, auch wirklich zur Menschheit durchdringt, und zwar gerade bis an den Rand der Verlorenheit. Ohne die Heiligkeit der Kirche gäbe es am Ende auch keine Rettung der Welt.«161
Er fährt fort: »Es ist allerdings ein Problem der ganzen Kirchen- und Theologiegeschichte, was man über die Spannung der Heiligkeit und der Sündigkeit der Kirche aussagt und wie man diese Spannung aushält. Das Konzil konnte sich (noch) nicht zu einer eindeutigen Aussage durchringen, dass die Kirche selbst nicht nur heilig, sondern auch sündig ist. Es formuliert in dieser Hinsicht vorsichtiger, dass die Kirche ›in ihrem eigenen Schoß Sünder umfasst. Sie ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und Erneuerung‹ (Kirchenkonstitution Artikel 8). Dieses Eingeständnis war ein großer Schritt – und ist trotz mancher guter Ansätze noch längst nicht ausreichend in die Theologie und die Spiritualität des Alltags aufgenommen worden. Mich haben schon vor Jahrzehnten die großen Entwürfe der Theologen Karl Rahner und Hans Urs von Balthasar sowie des Franzosen Henri de Lubac beeindruckt. Mit den umwerfenden Zitaten über die ›keusche Hure‹ Kirche, die sie in den Schriften der Kirchenväter fanden, haben
159 K. Kardinal Lehmann, a. a. O., S. 6. 160 K. Kardinal Lehmann, a. a. O., S. 6. 161 K. Kardinal Lehmann, a. a. O., S. 6.
Gemeinschaft der Heiligen – Gemeinschaft der Sünder?
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sie mich ermutigt, bei aller Verteidigung der Heiligkeit auch von einer sündigen Kirche zu sprechen.«162 Für die gegenwärtige Debatte bedeutet das: »Diese dialektische Rede hat erhebliche Konsequenzen auch für unser Thema. Die Kirche ist nicht einfach vom Leben und Handeln ihrer Mitglieder abgetrennt, sowenig sie sich darauf beschränkt. Sie wird auch als Institution ins Mark getroffen, wenn wir das gelebte Zeugnis des Evangeliums Jesu Christi verweigern. Sonst kommt man leicht in die Versuchung, die Verfehlungen in der Kirche ausschließlich dem einzelnen Sünder anzurechnen, sie selbst aber vor jedem Makel zu bewahren. Eine solche Mentalität hat die schlimmen Praktiken bloßen Vertuschens oder des Versetzens eines Täters von Ort zu Ort gewiss mit begünstigt. … Deshalb vertraue ich bei allen Fehlern, die gemacht worden sind, auf die spirituellen und sittlichen Energien der Kirche. Sie hat ja keineswegs nur Versager oder gar Verbrecher in ihren Reihen, wie es manche Kritiker nahelegen wollen.«163 Welche Konsequenz zieht Lehmann? »Es gibt für alles einen Neuanfang, aber keine billige Gnade. In der Begegnung mit der Ehebrecherin, die von den Kirchenvätern oft als Symbolgestalt der sündigen Kirche gedeutet worden ist, sagt Jesus: ›Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!‹ (Joh 8,11). Dies aber geht nur durch das Kreuz hindurch. Umkehr tut not.«164 Es ist hier nicht der Ort, eine Debatte über Pädophilie zu führen, wie Lehmann selbst sagt:165 Aber von den Enthüllungen des Fehlverhaltens, ausgeübt gerade durch kirchliche Amtsträger, ergibt sich für die Frage nach einem differenzierten Sündenbegriff gleichzeitig die Frage nach der Fähigkeit zur Umkehr. Und das schärft das Vorverständnis zur Exegese von 1 Joh. Die Rede von der »Sünde zum Tode« in 1 Joh bezeichnet damit eine theologische Sachfrage, die gleichzeitig gegenwärtig aktuell, unsere Aufmerksamkeit auf die Auseinandersetzungen zum Thema »Sünde«, »Buße« und »Heiligkeit« im 1. Jhdt. der Kirche und der kirchlichen Kanonbildung lenkt! Auf diese Weise hilft das Problembewusstsein der Gegenwart nicht nur einem geschärften Vorverständnis für die Fragehinsicht der Exegese von 1 Joh, die ihrerseits uns Heutigen – systematisch geklärt – helfen kann, die Thematik von »Heiligkeit«, »Sünde« und »Buße« besser zu verstehen, 162 163 164 165
K. Kardinal Lehmann, a. a. O., S. 6. K. Kardinal Lehmann, a. a. O., S. 6. K. Kardinal Lehmann, a. a. O., S. 6. K. Kardinal Lehmann, a. a. O., S. 6: »Seitdem aber das Phänomen der Pädophilie, die ja auf die Neigung zu Kindern in der vorpubertären Entwicklungsphase beschränkt wird, besser bestimmt oder abgegrenzt werden kann, tut sich eine andere, zuerst erschreckende Feststellung auf: Pädophilie in diesem strengen Sinn hat nichts mit einem gelegentlichen moralischen Ausrutschen zu tun, sondern entspringt einer tiefsitzenden Neigung, die sehr viele Fachleute für unheilbar halten. Diese Erkenntnis hat sich in den letzten Jahrzehnten allgemein durchgesetzt. Nicht zuletzt darum hat man gerade von kirchlicher Seite die Fähigkeit von Tätern zur Umkehr und zur Heilung überschätzt.«
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Gemeinschaft der Heiligen – Gemeinschaft der Sünder?
sondern auch zu einem besseren Verstehen dieser neutestamentlichen Schrift selbst und ihrer Stimme im heutigen gemeinsamen ökumenischem Suchen nach Lösungen für die gesamte christliche Kirche. Bis 110 n. Chr. sind – angefangen mit den frühen Paulusbriefen – fast alle neutestamentlichen Briefe verfasst, darunter auch die drei Johannesbriefe.166 Die geistige Verfassung des Christentums bzw. der Kirche ist dabei überhaupt noch nicht einheitlich. Dennoch bilden sich Tendenzen heraus: 1. Der Gegensatz von Juden- und Heidenchristen, der sich noch in der pln. Theologie widerspiegelt, spielt jetzt durch die Dominanz der Heidenchristentums faktisch keine Rolle mehr. 2. Die Einhaltung der Kultgesetze bildet daher – außer bei den zahlenmäßig wenigen Judenchristen – ebenfalls keine Thematik mehr. 3. Andererseits ist das Alte Testament als heilige Schrift eindeutig anerkannt.167 4. »Das Kultgesetz ist von der christlichen Gemeinde vollständig abgestreift.«168 5. Eigene feste Traditionen bilden sich heraus: Die Taufe »in Christus« ist von Anfang an konstitutiv,169 die »Schrift« d. h. zunächst das Alte Testament, dann auch die Texte der Apostel, werden im Gottesdienst verlesen; Paränese, Lehre und Gebet bilden sich aus, die Liturgie der frühchristlichen Abendmahlsfeier entwickelt sich,170 auch die Ämter. Die Feier des ersten Tages der Woche wird für das Leben der Christen charakteristisch (1 Kor 16,2; Apg 20,7; Apc 1,10; Did 14,1).171 Die Eschatologie entwickelt sich weiter. Das Ausbleiben der Parusie löst nun keine Krise mehr aus, denn theologische Neukonzeptionen bilden sich: Kol und Eph deuten den »Zeit«-Faktor neu: »Raumvorstellungen« werden entwickelt.172 Der
166 H. Conzelmann, A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 199110, S. 483. 167 H. Conzelmann, A. Lindemann, a. a. O., S. 483. 168 H. Conzelmann, A. Lindemann, a. a. O., S. 483. 169 H. Umbach, In Christus getauft – von der Sünde befreit. Die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus, FRLANT 181, Göttingen 1999, S. 264: »Bei Paulus ist, wie 2 Kor 5,17 – 21; Röm 6,1; Gal 3,26 – 28; 1 Kor 6,11 besonders zeigen, mit dem einmaligen Akt der Taufe eQr Wqist|m der Wechsel des Menschen in einen neuen Machtbereich (…) bezeichnet, der von der dämonischen Macht der Hamartia ein für allemal befreit und die eschatologische Gabe des Pneumas verleiht.« 170 J. Roloff, Die Kirche in Neuen Testament, NTD Ergänzungsreihe 10, Göttingen 1993, S. 110: »Die Taufe weist ein in die Gemeinschaft am Tisch des Herrn. Die Eucharistie aber ist das Mahl der Getauften, durch das die in der Taufe empfangene Heilsgabe immer neu aktualisiert wird.« 171 H. Conzelmann, A. Lindemann, a. a. O., S. 485: »Im Pliniusbrief an Trajan heißt es, die Christen versammelten sich an einem bestimmten Tag noch vor Tagesanbruch, um ihrem Gott Christus Lobgesang darzubringen; am selben Tag kämen sie noch einmal zusammen, um eine gemeinsame Mahlzeit einzunehmen.« 172 A. Lindemann, Die Aufhebung der Zeit. Geschichtsverständnis und Eschatologie im Epheserbrief, Göttingen 1972; H. Conzelmann, A. Lindemann, a. a. O., S. 483.
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Hebräerbrief entwirft das Bild vom »wandernden Gottesvolk«.173 In der johanneischen Theologie werden kosmologisch-apokalyptische Elemente vollständig ausgeschieden. Die »Schrift« des Alten Testaments bezeugt Gott als den »Vater«, der sich im »Sohn« Jesus Christus als der »Herr« offenbart hat (Phil 2,5 ff.). Durch die »Aufhebung«174 bzw. die »Dehnung«175 der Zeit entsteht aber ein neues praktisch-ethisches Problem: Wie kann die »neue Kreatur in Christus« (2 Kor 5, 17) als eschatologische Existenz im sichtbaren Leben der sichtbaren Gemeinde durchgehalten werden? D.h. wie verhält es sich mit den von den Christen nach ihrer Taufe »in Christus« begangenen Verfehlungen? Paulus hatte noch rigoristisch die grundsätzliche Befreiung »in Christus« von der widergöttlichen Macht der »Hamartia« postituliert, für ihn war die Gemeinde deshalb grundsätzlich ein »sündenfreier Raum«176, wobei »Sündlosigkeit« kein ethischidealistischer Begriff, sondern grundsätzlich »eschatologisch« verstanden ist. Verfehlungen der Christen werden deshalb bei Pls nicht mit dem Begriff »Hamartia« bezeichnet.177 Im Laufe der Zeit entwickelten sich aber nun auch hier neue Konzeptionen: Die Frage nach den Verfehlungen nach der Taufe – I. Goldhahn-Müller spricht von »postbaptismalen Sünden«178 – stellt sich nun neu als Frage nach einer »zweiten Buße« bzw. einer »zweiten Sündenvergebung«. Sie wird unterschiedlich beantwortet: Hebr schließt eine zweite Buße aus, Herm hält eine zweite Buße und Sündenvergebung für möglich (jedoch keine dritte).179 1 Joh und 1 Clem unterscheiden nun differenzierter zwischen »vergebbaren« und »unvergebbaren« Sünden.180 Es bilden sich Kirchenordnungen heraus, die in Abwehr von Fehlverhalten auch »Häresien« ausscheiden und so einerseits die paulinisch-apostolische Tradition angesichts einer neuen Zeit wahren wollen, andererseits die Grundlagen des christlichen Glaubens präzise weiter formulieren müssen. Dabei darf der Begriff »Frühkatholizismus« nicht (wie manchmal im protestantischen Forschungsbereich) abwertend, aber auch nicht »naiv«
173 E. Käsemann, Das wandernde Gottesvolk, Eine Untersuchung zum Hebräerbrief, Göttingen 1939. 174 A. Lindemann, a. a. O., S. 251: »Nicht ›an sich‹ aufgehoben, sondern ›für uns‹, für die Christen, für die eben die ›Aufhebung der Zeit‹ das Heil bedeutet.« 175 H. Conzelmann, A. Lindemann, a. a. O., S. 484. 176 H. Umbach, a. a. O., S. 313. 177 H. Umbach, a. a. O., S. 313. 178 I. Goldhahn-Müller, Die Grenze der Gemeinde. Studien zum Problem der zweiten Buße im Neuen Testament unter der Berücksichtigung der Entwicklung im 2. Jh. bis Tertullian, GTA 39, Göttingen 1989. 179 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 110 ff. 180 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 27 ff.
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verwendet werden.181 Dennoch kann man (auch im prot. Bereich) 1 Joh den »katholischen Briefen zuordnen«.182 »Ausgehend von der im Neuen Testament einzigartigen Formulierung »Gott ist Liebe« (4,8.16) wird eine Bewegung nachgezeichnet, welche die Erkennbarkeit dieser Liebe in der Dahingabe des Sohnes (4,9 f) – sie ist die Erscheinung der Liebe Gottes unter uns (4,9) – und in der Bruderliebe bzw. Geschwisterliebe beschreibt. Neben diesen drei thematischen Hauptteilen ist ein gesonderter Blick auf den Prolog und auf den Epilog zu richten. Im Prolog 1,1 – 4 stellt der Verfasser sich als umfassenden und verlässlichen Augenzeugen des Lebens Jesu vor. Er hat gehört, gesehen, betrachtet und betastet (1,1). Er schreibt als Zeuge der Tradition, zu der er Zugang hatte, »und sein Zeugnis eröffnet die Möglichkeit ewigen Lebens«.183
1.
Was von Anfang an war – das Wort des Lebens
Als Zeuge der »Tradition« ist der Zeuge der weiterentwickelten »Botschaft« nun legitimiert: Der Prolog »vom Wort des Lebens« (1 Joh 1, 1 – 4) bildet den Schlüssel zum Verständnis des 1 Joh insgesamt. Dabei ist die »Wir«-Form bezeichnend: »Es handelt sich um ein kommunitatives Wir. Der Redende oder Schreibende schließt sich mit dem Adressaten zu einer Gruppe zusammen, die sich gegebenenfalls in einem weiteren Schritt gegenüber Außenstehenden oder gegenüber der Umwelt abgrenzt«.184 Dabei ist das Briefproömium eine »durchdachte Komposition von hohem theologischen Rang«.185 »Ihr Thema ist die Wahrnehmung der kontingenten Gestalt des irdischen Jesus in ihrer bleibenden Bedeutsamkeit für die Grundlegung christlichen Glaubens, der als solcher erst nach Ostern möglich ist, weil das Osterereignis der vorgegebenen Geschichte Jesu ihre Zukünftigkeit verleiht.«186 Mit diesen Worten ordnet sich der Autor »in die Reihe der Traditionszeugen« ein.187 Die Verben der sinnlichen Wahrnehmung: Hören, Sehen, Schauen, Betasten legen Nachdruck auf die leibhaftige Begegnung mit ihm: »Dieser leibhaftige Jesus, der auch nach seiner Auferstehung geschaut und betastet werden kann, ist zugleich der Präexistente, der zur Welt kommt … Menschwerdung 181 E. Käsemann, Paulus und der Frühkatholizismus, Exeget. Vers. u. Bes. II, Göttingen 19703, S. 239 – 252. 182 F. W. Horn, Die Johannesbriefe, in: K.-W. Niebuhr (Hg.), Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung, Göttingen 2008, S. 315 – 326. 183 F. W. Horn, a. a. O., S. 316. 184 H.-J. Klauck, Der erste Johannesbrief, EKK XXIII/1, Zürich , Braunschweig, NeukirchenVluyn 1991, S.73. 185 H.-J. Klauck, a. a. O., S. 78. 186 H.-J. Klauck, a. a. O., S. 78. 187 H.-J. Klauck, a. a. O., S. 78.
»Sündhaftigkeit«, »Sündlosigkeit« und »Sünde zum Tode« in 1 Joh
51
Gottes in Jesus von Nazareth verlangt, daß diese Pole nicht als unvereinbar auseinandergerissen, sondern in einer dynamischen Einheit zusammen gedacht werden«.188 Wie geschieht nun diese Begegnung mit diesem Jesus über den zeitlichen Abstand hinweg? Die Antwort von 1 Joh 1, 1 – 4 lautet: »im Wort, das vom Leben handelt und Leben schafft.«189 Dieses Wort ist eingegangen »in das Zeugnis und in die kirchengründende Verkündigung der Jünger, in deren Tradition die johanneische Schule steht«.190 »Gemeinschaft mit Jesus und durch ihn mit Gott bleibt gebunden an dieses Zeugnis und diese Verkündigung, die in der johanneischen Gemeinde ihren theologischen Ort hat«.191 Gottesgemeinschaft und Gotteserkenntnis bewährt sich im Bleiben »in ihm«: »Wer sagt, dass er in ihm bleibt, der soll auch leben, wie er gelebt hat« (1 Joh 2, 6; vgl. 2, 17; 3, 6; 3, 14; 3, 24; 4, 12.13. 15; 4, 16): »Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm«(4,16 b). Im Kontrast zu diesem »Bleiben« wird in 1 Joh nun ein differenzierter Sündenbegriff entwickelt. D.h. gleichzeitig, in der Ausbildung eines spezifischen Traditionsbegriffs wird Gegenwart gestaltet und Zukunft eröffnet!
2.
»Sündhaftigkeit«, »Sündlosigkeit« und »Sünde zum Tode« in 1 Joh
In 1 Joh finden sich drei hamartiologisch relevante Aussagen, die in einem Wider-spruch zueinander zu stehen scheinen: 1. 1 Joh 1, 5 – 2,2 , wo eine »Sündhaftigkeit«192 auch der Christen konstatiert wird.193 2. 1 Joh 3, 4 – 10, wo dagegen eine »Sündlosigkeit« der »aus Gott Geborenen« behauptet wird.194
188 189 190 191 192
H.-J. Klauck, a. a. O., S. 78. H.-J. Klauck, a. a. O., S. 78. H.-J. Klauck, a. a. O., S. 78. H.-J. Klauck, a. a. O., S. 78. Zum Begriff »Sündhaftigkeit«: vgl. I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 72, die beide Begriffe (Sündhaftigkeit und Sündlosigkeit) dialektisch aufeinander bezieht. 193 Siehe besonders 1,8: »Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns.« 194 Für H. Windisch, Taufe und Sünde im ältesten Christentum bis auf Origenes, Tübingen 1908, S. 258 gibt es »völlige reale Sündlosigkeit« einmal aufgrund der »Wirkungen des Blutes Jesu«, sie muss aber als »eine völlige Entsündigung« (a. a. O., S. 259), andererseits als Forderung immer wieder an den Christen gestellt werden. Entsündigungsglaube und Entsündigungsforderung verhalten sich nach Windisch zueinander wie Ideal und Wirklichkeit (a. a. O., S. 259).
52
Gemeinschaft der Heiligen – Gemeinschaft der Sünder?
3. In 1 Joh 5, 16 – 17 (21) wird darüber hinaus noch einmal differenziert zwischen »Sünde zum Tode« und »Sünde nicht zum Tode« (5, 16 f.). 2.1
Zum Sündenbegriff in 1 Joh
Im Unterschied zu Pls, der mit »Hamartia« hauptsächlich einen Machtbegriff bezeichnet, der grundsätzlich nicht mehr auf das Sein des Christen »in Christus« zutrifft, sondern seine Vergangenheit vor der Taufe negativ qualifiziert, ist in 1 Joh »Hamartia« in allen drei Abschnitten ein Tatbegriff.195 Für die Lösung der »Widersprüche«, die die drei Abschnitte in ihrem Verhältnis zueinander zu bilden scheinen, gibt es in der Forschungstradition mehrere Ansätze: a) literarkritisch: der Brief ist nicht einheitlich, es bestehen Unterschiede zwischen einer Vorlage (1, 5 – 2, 27), dem »Verfasser« und einer »späteren Redaktion«196 (5, 14 – 21); b) dogmatisch-psychologisch: der Brief ist einheitlich, aber der Sündenbegriff ist nicht einheitlich gebraucht.197 Er bewegt sich zwischen »bewusster Lossage« und »Schwäche, Leichtsinn«;198 c) dialektisch: Die Gläubigen sind zwar durch Christi hilasmos (2, 2) sündlos, geboren aus Gott (3, 6 ff.) jedoch können sie nicht vor Gott und den Brüdern darauf als einen Habitus hinweisen (1, 10),199 sondern bewähren dies im Halten des Gebots der Bruderliebe (3, 14 ff.). Gegen R. Bultmanns Interpretation der literarkritischen Aufteilung sieht G. Strecker 1 Joh »als einheitliches Ganzes«,200 indem er 2/3 Joh »als Ausgangpunkt der johanneischen 195 Das zeigt in 1, 8 ff. der gleichzeitige Pluralgebrauch, sowie die Verbform in 3, 4 die Wendung: jeder, der Sünde tut … , (ebenso 3, 9), sowie in 5, 16 der Ausdruck »hamartanonta hamartian«. Wieweit dieses Tun von einem »Machtbereich« abhängt, bezeugen die wiederholten Hinweise auf den Satan, bes. in 3, 8: »Wer Sünde tut, der ist vom Teufel«. 196 So R. Bultmann, Die drei Johannesbriefe, Meyer-Kommentar 14, Göttingen 19692, S. 11. 197 So B. Poschmann, Paenitentia secunda. Die Kirchliche Buße im ältesten Christentum bis Cyprian und Origenes Theoph.1, Bonn 1940, Nachdruck 1964, S. 74: »Der aus Gott Gezeugte ›sündigt nicht‹ und ›kann nicht sündigen‹ heißt: er begeht keine ›Sünde zum Tode‹ und kann keine solche begehen, weil der Samen Gottes in ihm bleibt« (3, 9). Mit dieser ›Sünde zum Tode‹ ist nach Poschmann die ›Sünde wider den Heiligen Geist‹ (Mt 12, 31 f) gemeint, also ›Lossagung von Christus‹ (a. a. O., S. 76). 198 B. Poschmann, a. a. O., S. 75. 199 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 72. »Sündlosigkeit als ›eschatologische Wirklichkeit‹ gilt, »paradoxerweise gerade dort, wo der Christ […]seine Verfehlungen reumütig bekennt.« 200 G. Strecker, Die Johannesbriefe, KEK 14, Göttingen 1989, S. 31. Weitere Literatur dazu bei H.-J. Klauck, Der erste Johannesbrief, a. a. O., S. 42: »Innerhalb des gemeinsamen Komplexes der johanneischen Schule können komplexere Prozesse abgelaufen sein, die wir nicht mehr exakt genug zu rekonstruieren vermögen. So viel wird man feststellen, daß die schwierige Gemeindesituation, die 1 Joh bearbeitet, sich auch in der redaktionellen Schicht im Evangelium spiegelt.« Vgl. G. Strecker, Die Anfänge der johanneischen Schule, NTS 32, 1986, S. 31 – 47.
»Sündhaftigkeit«, »Sündlosigkeit« und »Sünde zum Tode« in 1 Joh
53
Schule nimmt (»der Presbyter« um 100). 1 Joh und Joh Ev führen danach die Tradition des »Presbyters« modifiziert weiter. Unabhängig von Streckers These soll deshalb vor jeder vorschnellen literarkritischen »Zerteilung« hier versucht werden, die drei Abschnitte im Zusammenhang des 1 Joh jeweils im Zusammenhang untereinander zu interpretieren. 2.2
Einzelaspekte zu Sünde und Buße in 1 Joh
2.2.1 1 Joh 1, 5 – 2, 2: Christus als hilasmos für unsere Sünden G. Strecker interpretiert zunächst 1, 5 – 10 als Einheit, »durch johanneischen Stil von Anfang bis Ende geprägt«.201 Der Dualismus »Licht – Finsternis«202 wird durch fünf »wenn«-Konstruktionen entfaltet. Wenn man den Gedankenfortschritt, wie Strecker es vorschlägt, »nicht rationallogisch« aufrechnet, sondern in einem »meditierenden«203 Sinn versteht, muss man nicht aus dem Zusammenhang einzelne Verse herauslösen und auf ein »Vorlage« zurückführen.204 So ist die Aussage zusammenzufassen, dass »der Wandel im Licht Gemeinschaft miteinander bedeutet und Reinigung von der Sünde. Diese wird christologisch begründet (das Blut Jesu, V 7).205 Der Begriff ›hamartia‹ in V 7 leitet zu 8 – 10 über. Der Verfasser wendet sich gegen Gemeindeglieder (V 7 – 10: 1. pers. plur), die ihre Verfehlungen »nicht als ›Sünde‹« erkennen, die die Gemeinschaft mit Gott und den Brüdern stört.«206 »Hamartian echein« ist typisch für das joh Schrifttum207 und bezeichnet hier den Tatcharakter der persönlichen Verfehlung des einzelnen Gemeindegliedes. Eine gegen diese Definition behauptete »Sündlosigkeit« wird als Selbsttäuschung (8) und Lüge (10) bezeichnet. I. Goldhahn-Müller hat deshalb recht, wenn sie den »Wandel im Licht« (V 7) und das »Bekennen der Verfehlungen« (›tas hamartias
201 G. Strecker, Die Johannesbriefe, a. a. O., S. 75. 202 Zur Auseinandersetzung mit R. Bultmanns Gnosisverständniss sei hier nur auf G. Strecker, a. a. O., S. 76 – 78 verwiesen. Eine Erörterung hier würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Strecker verwendet zu Recht den Ausdruck »Proto-Gnosis« bzw. »hellenistischjüdischer Synkretismus« (a. a. O., S. 77). 203 G. Strecker, a. a. O., S. 75. 204 So R. Bultmann, Die drei Johannesbriefe, a.a.O. , S. 23 f. 205 Gegen die These R. Bultmanns einer »kirchlichen Redaktion« der Sühnetodaussagen, vgl. G. Strecker, a. a. O., S. 83. Zur »Reinigung« durch das Sühneblut Christi vgl. noch Hbr 9,14. Lit. bei I. Goldhahn-Müller, a. a. O. S. 53. 206 I. Goldhahn-Müller, a. a. O. S. 53; zu vermuten ist auch, dass man die durch Christus geschenkte Freiheit von der Sünde naturhaft missverstand, so dass man die Taufe als ›Geburt aus Gott‹ und als unverlierbaren Habitus deutete, dazu I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 53, Anm. 93. 207 Vgl. 1 Joh 1, 8; Joh 9, 41;15, 22.24; 19, 11.
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Gemeinschaft der Heiligen – Gemeinschaft der Sünder?
hemoon‹ V 8) »paradoxerweise« zusammen sieht als »im Licht wandelnd und ›ohne Sünde‹« seiend.208 Nach dem paränetisch-meditativen Teil 1, 5 – 10 folgt ein christologischer Teil, der die Überwindung der hamartia begründet: Christus ist der hilasmos, der universal gilt (2)209 und »weiterhin sühnende Kraft hat, wie das präsentische estin ausdrückt.«210 Damit ist derselbe Sühnegedanke, der in 1, 7c mit dem Terminus haima Jesou bezeichnet war, aufgegriffen.211 So ist der erhöhte Christus in der Gegenwart gleichzeitig der parakletos der Gemeinde beim Vater! Insgesamt gilt für 1 Joh 1, 6 – 10 (2, 1+2): »Die Antithesen sind als reditus ad baptismum zu verstehen«.212 »Der Verf. greift Material aus der Taufunterweisung auf, das für seine Adressaten, die als Erwachsene die Bekehrung vollzogen und die Taufe empfangen haben, emotional sehr stark besetzt war.«213 »Von Anfang an« (1,1) gilt also für die Adressaten, »vom Moment ihrer Hinwendung zum Christentum […]. Der ursprüngliche Glaube soll sich angesichts einer neuen Herausforderung bewähren.«214 2.2.2 1 Joh 3, 4 – 10: Die ›Unmöglichkeit‹ zu sündigen Legt man für 1, 5 – 22 ein paradoxes Sündenverständnis zugrunde (die Sünden eingestehen – nicht sündigen), ergibt 3, 4 – 10 keinen Widerspruch dazu, wenn nun vor dualistischem Hintergrund behauptet wird, wer aus Gott gezeugt sei, könne nicht sündigen (9). In zwei Menschengruppen wird unterschieden: Die einen sind gekennzeichnet durch das »Sünde tun« (das hier mit ›anomia‹ gleichgesetzt wird)215, das sind die »Teufelskinder«, die in eschatologischer Gegnerschaft zu Gott stehen. An Jesu Sendung, die im »Auflösen«216 der ha208 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 54; vgl. auch E. Käsemann, Exeget Vers. I, S. 182 der hier das ›simul iustus et peccator‹ entfaltet sieht; sowie H. Braun, Literaturanalyse und theol. Schichtung im ersten Johannesbrief, in ders.: Ges. Studien zum NT und seiner Umwelt, Tübingen 1962, S. 205 – 209, S. 267, der in 1, 5 – 10 einen »paradoxe(n), radikalen(n) Begriff von Sünde und Nichtsünde« sieht. Vgl. auch E. Käsemann, Ketzer und Zeuge. Zum johanneischen Verfasserproblem, in: Exeget. Vers. u. Bes. I, Göttingen 1964, S. 168 – 187, hier S. 182. 209 Vgl. 1 Joh 4, 10, vgl. jedoch Röm 3, 25, Hbr 9,5. 210 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 59. 211 G. Strecker, a. a. O., S. 94 sieht zu Recht darin das Hauptargument gegen eine spätere »kirchliche Redaktion«. Die Einheit des Abschnitts 2, 1 – 6 sieht er in der gegenseitigen Bezugnahme von ›Indikativ und Imperativ‹ (a. a. O., S. 88 u. S. 95). 212 W. Nauck, Die Tradition und der Charakter des 1 Johannesbriefs. Zugleich ein Beitrag zur Taufe im Urchristentum und in der alten Kirche. WUNT 3, Tübingen 1957, S. 37. 213 H.-J. Klauck, a. a. O., S. 87. 214 H.-J. Klauck, a. a. O., S. 88. 215 LXX benutzt häufig »anomia«, so Ps 31,1; 50,4; 58,4; Jer 38,34. 216 Nur hier, doch Sühnung und Reinigung: 1,7; 2,2; 4,10. Vgl. I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 62.
»Sündhaftigkeit«, »Sündlosigkeit« und »Sünde zum Tode« in 1 Joh
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martia besteht, entscheidet sich der eschatologische Gegensatz217 zu den anderen: diese werden ermahnt, zum »Bleiben in ihm« (6). V. 7 warnt vor falschem Sündenverständnis und betont: »das Tun zeigt das Sein«: Wer Sünde tut, ist ek tou diabolou (8). Dieser ist der Urheber der hamartia. An dieser Stelle wird diabolos als Bezeichnung für einen »Machtbereich«218 gebraucht, aus dem die Tat der hamartia kommt.219 Wer dagegen ek tou theou gezeugt ist, tut kein Sünde, ja wenn Gottes sperma in ihm bleibt, kann er gar nicht sündigen.220 Die Betonung der Unvereinbarkeit von Heilsstand und Sünde ist paränetisch zu verstehen. Sie gilt eschatologisch. Deshalb ist sie begleitet von der Mahnung, »in Christus« zu bleiben (6). »Aus der Sündlosigkeit Christi folgt V.6, daß alle, die in ihm bleiben, ebenfalls nicht sündigen.«221 Wird die Vorstellung des »Bleibens des Samens Gottes« von der Taufe her gedeutet, bildet sie keinen Gegensatz zur Eschatologie! Rigoristisch betont 3, 4 – 10 eine eschatologisch klare Scheidung zwischen »Teufels«- und »Gotteskindern« und bereitet so 5, 16 f (Umgang mit Todsündern) vor.
2.2.3 1 Joh 5, 16 f: Die Sünde zum Tode Hatte Kap 3 eschatologisch-dualistisch mit dem Gegensatzpaar »hamartia« – »dikaiosyne« argumentiert und dabei seine Tiefenschicht im Gegensatz von ho diabolos – ho theos aufgezeigt, so war doch Kap 1 bestimmt vom Aspekt des Bekennens der Verfehlungen (»Sünden«) von Christen (1, 9), indem es vor einer falsch verstandenen »Sündlosigkeit« im Sinne eines Habitus warnte. So ergibt sich nun – und darauf geht Kap 5 ein – notwendigerweise eine vertiefende und differenzierte Klärung des Sündenbegriffs innerhalb des 1 Joh: a) es muss grundsätzlich die eschatologische Scheidung hamartia – dikaiosyne (bzw. ho 217 Hier zeigt sich die auch in Vers 9 ff geübte eschatologische Sichtweise. 218 Wenn I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 64 »Gott, Christus und die glaubende Gemeinde« dem »Machtbereich Satans, der in heilsgeschichtlichem Gegensatz zu Christus steht«, gegenüberstellt, wird eine Ähnlichkeit zu Pls deutlich, nur dass dort der widergöttliche Machtbereich mit he Hamartia als ›Personifikation‹ beschrieben ist. 219 Wir sehen hier einen anderen Sündenbegriff als bei Pls. Gleichwohl verzichtet 1 Joh nicht auf die Beschreibung der ›Tiefendimension‹: diabolos! 220 I. Goldhahn-Müller zeigt schlüssig auf, dass es sich bei V 9 weder um ein Gegnerzitat, noch um eine »andere Hand« (Windisch) handelt, dass auch nicht gegen zwei Fronten gekämpft wird (1, 8 ff. gegen gnostischen Perfektionismus, 3, 9 gegen Indifferentismus), dass ebenfalls nicht die »bewusste Absage« gemeint sei (Poschmann). Ebenfalls ist auszuschließen eine Annahme zweier Ebenen (ideal-real) oder zweier Kontexte (kerygmatisch-eschatologisch). Auch ist mehr als ein Verbot gemeint (Bultmann: neue Existenzmöglichkeit). Es geht vielmehr hier um die eschatologische Wirklichkeit, die persönlich vor dualistischem Hintergrund entfaltet wird: die Leser sollen sich für die Gerechtigkeit »als das Halten des Gebots der Bruderliebe entscheiden«; I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 68. 221 H.-J. Klauck, a. a. O., S. 187; vgl. zum ›Samen Gottes‹: G. Strecker, a. a. O., S. 171.
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Gemeinschaft der Heiligen – Gemeinschaft der Sünder?
diabolos – ho theos) durchgehalten werden; b) es muss eine Lösung gegeben werden für das Problem des Umgangs mit Verfehlungen von Christen. Auf diese Herausforderung antwortet 1 Joh 5, 16 f mit einer Differenzierung zweier Sündenarten durch die Einführung der Wendung »es gibt Sünde zum Tode.«222 Die Wendung ist im NTsingulär und steht in Kontext der Fürbitte für einen sündigen Glaubensbruder. Ist der Gegensatz »Leben« – »Tod« eschatologisch gesehen (vgl. 1 Joh 3, 14 f), so meint »Tod« in diesem Zusammenhang den »ewigen, eschatologischen Tod.«223 Ist aber damit die Wirksamkeit des Gebots eingeschränkt, bedeutet das einen Hinweis auf Gemeindedisziplin:224 eine Distanzierung von »Kindern des Teufels« um der Reinheit der Gemeinde willen ist geboten.225 Damit ist ein gewisser »Rigorismus« festgehalten: Die »Möglichkeit einer Zweiten Buße, Rettung und Vergebung stehen nicht mehr in Aussicht.«226 Steht zwar die Differenzierung des Sündenbegriffs in 1 Joh 5, 16 f in atl. Tradition,227 so ist hier mit dem Tode der ewige Tod gemeint. Tradition ist hier also aufgenommen und vergeistigt. I. Goldhahn-Müller macht deutlich, dass mit »Sünde zum Tode« auch nicht die »Sünde wider den heiligen Geist« im Sinne der Synoptiker gemeint sein kann,228 auch Eingrenzungen bzw. Konkretisierungen auf Häresie, Mord und Götzendienst sind schwierig.229 Ob die in 2, 18 – 25; 4, 1 – 6 und 5, 6 bekämpfte »Irrlehre« gemeint ist und die »Sünde zum Tode« auf sie begrenzt ist, lässt sich ebenfalls nicht textlich belegen.230 So zeigt 1 Joh 5, 16 f in seiner Differenzierung des Sündenbegriffs einerseits den eschatologischen Dualismus und eine Scheidung in »Leben« und »Tod«. Gleichzeitig bedeuten aber die ontologischen Termini »Kinder Gottes« und »sein« (3, 6) nicht einen Habitus. Das »Bleiben in ihm« (3, 6) will vielmehr in der Bruderliebe bewährt werden, wie die paränetischen Teile zeigen. In dieser Differenzierung des Sündenbegriffs, die noch eine rigorose Bußpraxis zum Hin222 Ihr wird gegenübergestellt die »Sünde nicht zum Tode«. Für die »Sünde zum Tode« wird eine »zweite Buße« nicht in Aussicht gestellt. Damit ist sowohl die Reinheit der Gemeinde bzw. Kirche, als auch das Problem der »Christensünde« reflektiert, ebenso die Grenze der Vergebbarkeit! 223 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 36. 224 G. Strecker, a. a. O., S. 304. 225 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 36. 226 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 36 gegen B. Poschmanns psychologisierende Auslegung. 227 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 38 f: beschreibt Num 15,30 f (Die schwere, vorsätzliche Sünde »mit erhobener Hand«, die die Ausstoßung nach sich zog, also den Tod bedeutete. Lev 4,27; Num 15,22 – 29 bezeichnen die versehentlichen, unwissentlichen Gebotsverletzungen die nicht den Tod nach sich zogen. 228 Der Vergleich mit Did 11,7 zeigt, dass die Ablehnung des im Geiste Gottes redenden Propheten unvergebbar ist. Vgl. I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 41 – 45. 229 So z. B. H. Windisch, Die katholischen Briefe, HNT 15, Tübingen 19513(mit einem Anhang von H. Preisker), S. 135. 230 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 46.
»Sündhaftigkeit«, »Sündlosigkeit« und »Sünde zum Tode« in 1 Joh
57
tergrund hat, ist jedoch noch keine kasuistische Festlegung wie in der späteren Kirche vollzogen.231
2.3
Rigorismus in 1 Joh und bei Paulus
In der pln. Theologie zeigt sich das Bemühen, die Gemeinde als Raum »in Christus« »sündenfrei« zu halten, indem besonders schwere Fälle von »Fehlverhalten« durch Ausschluss gehandhabt werden. So bleibt die »Reinheit« der Gemeinde gewahrt. Aber »Hamartia« nennt Pls dieses Verhalten nicht, denn mit »Hamartia« wird, wie Röm 3, 9; 5, 12 – 21, 6 – 8 zeigen, noch eine Dimension bezeichnet, die nicht in menschlichem Fehlverhalten aufgeht, sondern noch, gleichsam hinter ihr liegend, von ihr unterschieden ist. Durch die Taufe »in Christus« (Röm 6) und die Verleihung des Geistes (Röm 8) ist vielmehr eine eschatologische Wende im Leben des Christen eingetreten: »in Christus« ist er frei von der Macht der Hamartia (Indikativ) und kann und soll das auch im Leben bewahren und bewähren (Imperativ). Fälle von falschem Verhalten werden angesichts der nahen Parusie Christi durch geistgewirkte Rechtsprechung geregelt,232 die als »rigoristisch« bezeichnet werden kann. Haben wir in 1 Joh dagegen einen anderen Sündenbegriff als bei Pls (»Hamartia« bezeichnet hier auch die »Tatsünde« menschlicher Verfehlung) und eine weitergehende Ausdifferenzierung in »Sünde zum Tode« und »Sünde nicht zum Tode«, so wird zwar einerseits in zunehmendem Maße der Wirklichkeit der Christenverfehlungen Rechnung getragen, indem dies Verhalten (im Unterschied zu Pls) »Sünde« genannt wird, andererseits jedoch der eschatologische Unterschied zwischen »Sünde/Hamartia« – »Gerechtigkeit« (Pls), bzw. »Teufel« – »Gott« (1 Joh) festgehalten ist. Dieser eschatologische Unterschied bildet den Hintergrund dafür, was nach Paulus »Wandeln nach dem Geist«, nach 1 Joh »Bleiben in ihm« (bzw. »in Christus«) für die Christen genannt wird. Der Rigorismus bei beiden ist nur die Kehrseite des »in Christus« gegebenen eschatologischen Heils, das die endgültige Befreiung von der Macht der »Hamartia« und das »Leben« bedeutet!
231 I. Goldhahn-Müller, a. a. O., S. 49: »Entscheidend ist, daß eine Kasuistik nicht nachweisbar ist. Noch ist einer Gesetzlichkeit gewährt und der Gemeinde ein Freiraum zur Entscheidung gelassen.« 232 G. Strecker, a. a. O., S. 299.
58
3.
Gemeinschaft der Heiligen – Gemeinschaft der Sünder?
»Bewahren des Anfangs« als »Bleiben in der Liebe«
Hans-Josef Klauck fasst am Ende seines Kommentars zusammen: »Auch im Rückblick ist noch einmal herauszustellen, daß der 1 Joh im Unterschied zu anderen frühchristlichen Entwicklungslinien trotz dieser Widrigkeiten das Heil nicht im Rückzug auf eine festzementierte Amtsstruktur sucht. Nicht amtliche Autorität garantiert den richtigen Christusglauben, sondern das Wirken des Geistes als innerer Lehrer in den Herzen aller Glaubenden. Darin besteht die Einheit und die Gemeinschaft der Gotteskinder.«233 Nach 1 Joh 4, 13 – 16 wirkt der Geist in dem Bekenntnis, »daß Jesus der Sohn Gottes ist« (4, 15) und der Erkenntnis »der Liebe, die Gott zu uns hat« (4, 16), sowie im Schauen und Bezeugen, »daß der Vater den Sohn gesandt hat als Retter der Welt« (4, 14). Die Antwort auf das Zeugnis der ersten Zeugen ist das Taufbekenntnis »Jesus ist der Sohn Gottes« (4, 15) »in der johanneischen Gemeinde wohl geläufigeren, in 5, 5 wiederkehrenden Fassung.«234 Mit »wir haben geschaut und bezeugen« klingt der Briefprolog noch im Ohr.«235 Hier sprechen die Traditionsträger ; ist »im Prolog […] die historische Rückbindung der Jesustradition in ihrem Kernbestand abgesichert und festgeschrieben«,236 so wird jetzt betont, dass »der Zugang zu Jesus im Glauben aber […] auch den Nachgeborenen möglich« ist.237 Die perfektische Aussage »wir haben erkannt und haben geglaubt« (4, 16 ab) begründet das Bekenntnis und bestimmt aber als Nachwirkung »die Gegenwart und Zukunft derer, die so reden, bleibend.«238 Die Rückbindung an das Zeugnis der Traditionsträger mündet also in V 16: »Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott in ihm.« Dabei zieht sich das »menein« von V 13 bis V 16 durch und wird in V 16 als Steigerung dreimal hintereinander gebraucht. Mit diesem »Bleiben« ist einerseits die historische Rückbindung an die Jesustradition und die Zeugen gemeint, damit wird der Gefahr der »Geschichtslosigkeit« der Gegner239 gewehrt. Gleichzeitig wird aber den Nachgeborenen der Zugang zu Jesus im Glauben möglich gemacht: Das historische Prä wird nicht überführt in ein strukturelles Prä. Was die Traditionsträger im Briefprolog den anderen Glaubenden voraus haben, legitimiert nicht ihren Führungsanspruch in der Gemeinde. »Es soll nur einen Dienst leisten bei der Absicherung des Be-
233 234 235 236 237 238 239
H-.J. Klauck, a. a. O., S. 354, vgl. dazu auch bes. 1 Joh 4,13 – 16. H.-J. Klauck, a. a. O., S. 260. H.-J. Klauck, a. a. O., S. 257. H.-J. Klauck, a. a. O., S. 258. H.-J. Klauck, a. a. O., S. 258. H.-J. Klauck, a. a. O., S. 260. H.-J. Klauck, a. a. O., S. 258.
»Bewahren des Anfangs« als »Bleiben in der Liebe«
59
kenntnisses, das die ganze Gemeinde spricht.«240 Hält also das »Bewahren des Anfangs« die Geschichtlichkeit der Offenbarung fest, so betont das »Bleiben in der Liebe« als das »Bleiben in Gott« (V 16) die eschatologische Dimension dieser Offenbarung. Geschichte und Eschatologie werden gerade aufeinander bezogen!
3.1
Raummotive bei 1 Joh und Paulus
3.1.1 Raumaussagen bei 1 Joh Die unscheinbare Präposition »en« wird hier zu einer »strukturierenden und einheitsstiftenden Denkfigur«,241 ja, man kann sie mit P. R. Jones242 als »presiding metaphor« (Leitmetapher) und »master image« (Bildmatrix) bezeichnen. Aufgegliedert ist sie in drei Denkfiguren: 1. »einai en« (sein in), 2. »menein en« (bleiben in), 3. einfaches »en« (in). Das »Bleiben in« bringt mit seiner zeitlichen Erstreckung, dem Beharrungsvermögen und dem Aspekt des Andauernden am stärksten zum Ausdruck, was das Gefährdetsein und die Ermahnung bedeuten sollen. Wie in Joh 14, 2.23 ist diese Raumsymbolik hilfreich »für das Sprachfeld der Liebe«, denn sie drückt aus: »endloses Verweilen und zum Stillstand Kommen nach der Unrast des Unterwegsseins. Man lässt sich nieder, kehrt ein, findet Ruhe in der Geborgenheit heimatlich-häuslichen Wohnens«.243 »Wir werden kommen und Wohnung bei ihm nehmen« aus Joh 14, 23 drückt mit »mone« die »Bleibe« aus. Es stammt aus der Wurzel »menein«. »Bleiben« und »wohnen« sind also identisch!244 Zur motiv- und traditionsgeschichtlichen Einordnung dieser »johanneischen Immanenzaussagen in Evangelium wie Brief« kann auf Philo, die Stoa, die atl. Bundesformel (Jer 7, 23) verwiesen werden, wo vom »Wohnen Gottes inmitten seines Volkes« gesprochen wird.245 Vergleichbare Stellen verweisen auf das Verweilen des Menschen »im Licht« (2, 10), »in der Finsternis« (2, 11), »im Bereich des Todes« (3, 14) und im »Raum der Liebe« (4, 16). Ihre Steigerung erfährt diese Aussagereihe im »Sein« bzw. »Bleiben« »in Gott« ( 1 Joh 4, 16). Reziprok gebaucht (»Gott bleibt in ihm«) ist aber in 1 Joh immer davon auszugehen: »Die christologische Vermittlung bleibt selbstverständliche Voraussetzung, auch für die Immanez der Glaubenden mit 240 H.-J. Klauck, a. a. O., S. 258, vgl. auch J. Heise, Bleiben. Menein in den johanneischen Schriften, HUTh 8, Tübingen 1967. 241 H.-J. Klauck, a. a. O., S. 264. 242 P. R. Jones, A. Struktrual Analysis of 1 John, R. Exp 67, 1970, S. 433 – 444, hier S. 441. 243 H. Timm, Geist der Liebe. Die Ursprungsgeschichte der religiösen Anthropologie (Johannismus), Gütersloh 1978, S. 137 – 144, hier S. 139 f. 244 H.-J. Klauck, a. a. O., S. 266, vgl. auch J. Heise, a. a. O. 245 H.-J. Klauck, a. a. O., S. 266.
60
Gemeinschaft der Heiligen – Gemeinschaft der Sünder?
Gott.«246 Diese johanneischen Immanenzformeln »ermöglichen es, engste personale Gemeinschaft auszusagen und dabei doch gleichzeitig einem mystischen Verschwimmen der Persongrenzen zu wehren.«247 3.1.2 »In Christus sein« bei Paulus Paulus gebraucht sehr häufig die Formel »en Christoo« als Standortbestimmung christlicher Existenz (1 Kor, 1, 30; Röm 8, 1), besonders 2 Kor 5, 17: »Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur«,248 wo die Denkvoraussetzung die ist, zwischen »altem Menschen« (»in Adam«, Röm 5, 12 ff) und »neuem Menschen« (Röm 6, 1 ff »in Christus« getauft) zu unterscheiden. Beide Machtbereiche stehen wie Licht und Finsternis in 1 Joh bei Pls gegenüber : Gott – Hamartia. Auch hier handelt es sich um räumlich verstandene Machtbereiche, die das Sein des Menschen bestimmen. »Den Anteil am Christusleib gewinnt der Mensch sakramental durch die Taufe (Gal 3, 26 – 28;1 Kor 1, 30; 6, 11; 12, 13; 2 Kor 5, 21; Röm 6) durch das Eingegliedertwerden ›in Christus‹ als einmaligen Akt.«249 Hier gibt es also durchaus Parallelen. Sehr viel seltener spricht Pls aber »vom Christus in uns« bzw. »in euch« (Röm 8, 10). Das steht bei ihm in unmittelbarer Nähe zu Aussagen über die Einwohnung des Geistes in uns (Röm 8, 11; 1 Kor 3, 16), »eine Vorstellung, die 1 Joh so nicht kennt«,250 die bei Pls aber ganz wörtlich zu verstehen ist: denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist (Röm 5, 5). Die Geistbegabung entspricht also hier dem »Sein in Christus«.
3.2
Paulus und 1 Joh – Entwicklungen
Damit liegen, so wurde deutlich, diese beiden Elemente der johanneischen »Immanenzsprache »wir in ihm« und »er in uns«251 zwar strukturell auch bei Pls vor, aber »Paulus baut diese Ansätze nicht zu reziproken Formeln aus und hat nichts, was mit der theologischen Konzentration im strikten Sinne in 1 Joh vergleichbar wäre.«252 Die christologische Vermittlung bleibt aber auch bei 1 Joh »selbstverständliche Voraussetzung, auch für die Immanenz der Glaubenden mit 246 247 248 249 250 251 252
H.-J. Klauck, a. a. O., S. 267. H.-J. Klauck, a. a. O., S. 268. Vgl. dazu H.-J. Klauck, a. a. O., S. 268, H. Umbach, a. a. O. H. Umbach, a. a. O., S. 316. H.-J. Klauck, a. a. O., S. 266. H.-J. Klauck, a. a. O., S. 266. H.-J. Klauck, a. a. O., S. 266.
»Bewahren des Anfangs« als »Bleiben in der Liebe«
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Gott.«253 1 Joh 2, 24: »Wenn in euch bleibt, was ihr von Anfang gehört habt, dann werdet auch ihr im Sohn und im Vater bleiben.« Für das »Hineinkommen in die Immanenz«254 gilt der Glaube. »Für das Verharren in der Immanenz erweist sich die Liebe als unverzichtbar.«255 Das »Bleiben in der Liebe« bewahrt also den Anfang in Ewigkeit und bezeichnet nach 1 Joh die eschatologische Existenz insgesamt als »Bleiben«. Was dies für eine gegenwärtige Debatte um die »Heiligkeit« bzw. »Sündigkeit« der Kirche Jesu Christi austrägt, dürfte deutlich geworden sein – jenseits eines dialektischen Verständnisses von »simul iustus et peccator«. Lehmann hat Recht, wenn er sagt: die Kirche »wird auch als Institution ins Mark getroffen, wenn wir das gelebte Zeugnis des Evangeliums Jesu Christi verweigern«.256 Diese Umkehr geht nur durch das Kreuz hindurch! Und nur so gewinnen wir eine Erneuerung der Kirche jenseits einer »billigen Gnade« (D. Bonhoeffer): »Gerade im Blick auf das heute sehr stark empfundene Gewicht sündhafter Erscheinungen in der Kirche darf der Aspekt der Heiligkeit nicht ausgeblendet werden. Es muss gewährleistet bleiben, dass das befreiende göttliche Leben durch die Heiligkeit der Kirche, die sie nur von Jesus Christus hat, auch wirklich zur Menschheit durchdringt, und zwar gerade bis an den Rand der Verlorenheit. Ohne die Heiligkeit der Kirche gäbe es am Ende auch keine Rettung der Welt«.257 Diesen Satz gilt es neutestamentlich-christologisch als »Bleiben in der Liebe« zu verstehen und ökumenisch-ekklesiologisch zu weiten. Nur so gewinnen wir die Zukunft der Kirche Jesu Christi neu!
253 254 255 256 257
H.-J. Klauck, a. a. O., S. 266. H.-J. Klauck, a. a. O., S. 267. H.-J. Klauck, a. a. O., S. 267. K. Kardinal Lehmann, a. a. O., S. 6. K. Kardinal Lehmann, a. a. O., S. 6.
6.
»Durch die geöffneten Pforten des Paradieses«. Phänomenologische Anmerkungen zu Martin Luthers »Befreiung« als religiöses Geschehen
Bischof Martin Hein zum 60. Geburtstag
Das Reformationsjubiläum 2017 rückt näher, wie rätselhaft und fremd aber wirkt der Reformator heute? »Der ganze Luther«258 titelt die Kulturhistorikerin an der Universität Cambridge, Ulinka Rublack in einem Aufsatz im Feuilleton / Literatur der ZEIT vom 27. Dezember 2012,259 in dem sie Heinz Schillings neue Lutherbiographie rezensiert:260 »Das große Verdienst dieser lebendig und quellennah geschriebenen Biografie ist jedoch zweifellos, dass sie uns den Reformator in einem Band, aber doch sehr umfassend und ausgewogen einordnend in seiner Fremdheit nahe bringt. Es kann uns heute, so bekräftigt auch der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann, nur noch um den ›ganzen Luther‹ gehen. Nicht als ›abgerundete Persönlichkeit‹, sondern als gebrochene, verhärtete, ›notorisch überforderte Gestalt‹, trotz allem, was es an dem Reformator zweifelsohne zu schätzen oder verehren gibt.«261 Das Bemühen Schillings, Luthers Verhalten historisch einzuordnen, schließt für ihn »eine kurze Absage an solche psychoanalytischen Interpretationen ein, die von Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts ausgingen.262 Erst im März 1545, kurz vor dem Ende seines Lebens, gibt Martin Luther in seinem biographischen Selbstzeugnis, fast 30 Jahre nach dem berühmten Thesenanschlag 1517, eine Zusammenfassung seiner reformatorischen Grunderkenntnis der neu verstandenen »Gerechtigkeit Gottes« mit folgenden Worten:
258 U. Rublack, Der ganze Luther, Die ZEIT, 27. Dezember 2012, S. 49. 259 U. Rublack, a.a.O., S. 49. 260 H. Schilling, Martin Luther, Rebell in einer Zeit des Umbruchs, Eine Biographie, München 2012. 261 U. Rublack, a.a.O., S. 49. 262 U. Rublack, a.a.O., S. 49.
64
»Durch die geöffneten Pforten des Paradieses«
»Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sofort die ganze Schrift ein anderes Gesicht […] Wie sehr ich die Vokabel ›Gerechtigkeit Gottes‹ vorher haßte, so pries ich sie nun mit entsprechend großer Liebe als das mir süßeste Wort.«263
»Verstreute Bemerkungen finden sich in Briefen und Tischreden, meist ebenfalls aus späterer Zeit. Vielbeachtet und bis heute interpretationsleitend sind die von seinen Tischgenossen überlieferten Berichte des Reformators über eine schlaglichtartige Erkenntnis, die ihm kam, als er intensiv über das Pauluswort Römer 1,17 zur Gerechtigkeit Gottes nachdachte. Als Ort des Geschehens nannte er in den Tischgesprächen den Turm oder die Kloake, gelegentlich auch beide: ›Diese kunst hat mir der Heilige Geist auff dieser cloaca auff dem thorm eingeben‹.264 Gegner wie Anhänger griffen das begierig auf – die einen, um die Reformation als Kloakentheologie zu verspotten; die anderen in andächtiger Verehrung als ›einfaches Turmerlebnis‹.«265 Von »Neugeburt« wird hier gesprochen – im Gefolge von Paulus (›Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur, das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.‹ 2 Kor 5,17) und vom Eintritt ins offene Paradies »durch geöffnete Tore«. Was sind die »geöffneten Tore«, die die »Pforten des Himmels«,266 also den Eingang ins Paradies bezeichnen? Diesen Ort des Erkennens und damit zusammenhängend vielmehr den ›Leibraum‹, d. h. die Körperlichkeit Luthers aufnehmend, führt nun Lyndal Roper, die Oxforder Religions-Professorin, in ihrem Buch »Der feiste Doktor. Luther, sein Körper und seine Biographen«267 über traditionelle, überholte psychoanalytische Deutungen hinaus: »Im Zentrum steht bei ihr die Frage, wie Luthers Körperlichkeit mit seinem Charakter zusammenhing. Ihre provokante These: ›Luther denkt durch seinen Körper‹.«268 Diese These bildet für mich den Ausgangspunkt einer phänomenologischen Betrachtung der Person und der Theologie Luthers. Roper geht »auf Luthers Überzeugung ein, er kämpfe auf dem Klo mit dem Teufel, indem sie aufzeigt, wie der Bauernenkel die anale Sprache umgekehrt als Waffe gegen den listigen Widersacher und Gegner empfand.«269 »Unser Carthesianisches Erbe mit seiner Trennung von Geist und Körper macht es uns schwer zu verstehen, mit welcher Leichtigkeit Luther das Geistige im 263 M. Luther, WA 54, 185,14 – 186,16. 264 Vgl. WT 4, Nr. 4192, Zitat aus WT 2, Nr. 1681, WT 3, Nr. 3232 a-c …, weitere Belege bei H. Schilling, a. a. O., S. 649. 265 H. Schilling, a. a. O., S. 148. 266 H. Umbach, Heilige Räume — Pforten des Himmels. Vom Umgang der Protestanten mit ihren Kirchen, Göttingen 2005. 267 L. Roper, Der feiste Doktor. Luther, sein Körper und seine Biographen, Göttingen 2012. 268 U. Rublack, a. a. O., S. 49. 269 U. Rublack, a. a. O., S. 49.
Der Ort der Freiheit, phänomenologische Annäherungen
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Somatischen sehen konnte … Luther benutzte verdauungsbezogene Metaphern, um einige seiner tiefsten Einsichten zu vermitteln.«270 Sind das, wie Roper meint, nur Metaphern, oder bezeichnen sie eine nur phänomenologisch zu begreifende, körperbezogene Erfahrung des Göttlichen, so dass Theologie eben nicht nur »am Schreibtisch« als Gedankenprodukt entstand, sondern als eine »Entdeckung« phänomenologischer Art zu verstehen ist?271 »Das Verständnis seiner Körperlichkeit, im Text wie im Bild, kann uns auch helfen, die wesentlichen Themen seiner Theologie anders einzuschätzen.«272 »Seine Körperlichkeit stand mit den Kernpunkten seiner Theologie im Einklang.«273 In einem ersten Schritt soll nun der phänomenologische Rahmen und Ort dieser Entdeckung thematisiert werden, in einem zweiten Schritt Luthers »Beschreibung« dieser »Pforte des Paradieses« in anthropologischer Hinsicht untersucht werden, in einem dritten Schritt sollen dann Konsequenzen von Luthers Weichenstellung für den gegenwärtigen Protestantismus und ekklesiologische Konsequenzen für eine »Kirche der Zukunft« grundrisshaft angedeutet werden.
1.
Der Ort der Freiheit, phänomenologische Annäherungen
1.1
Die Pforten des Paradieses: Die phänomenologische Suche nach einer protestantischen Ekklesiologie
In seiner Schrift ›Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart‹274 definiert Friedrich Wilhelm Graf ›Protestantismus‹ folgendermaßen: »Alle Protestantismen beziehen sich auf den Protest eines Wittenberger Universitätstheologen gegen eine tendenziell allmächtige kirchliche Institution. Luther formulierte diesen Protest unter Berufung auf das zur exklusiven Autorität erklärte Wort Gottes, so wie es sich ihm im Studium der Heiligen Schrift erschlossen hatte. Die individuelle Glaubenseinsicht, die an der Schrift sich bildet, wurde zur entscheidenden Instanz. Das schärfte protestantischer Frömmigkeit einen insti270 L. Roper, a. a. O., S. 9. 271 L. Roper wendet sich in ihrem Werk zurecht gegen Eriksons Deutung und Interpretationsrahmen der Theologie Luthers aus einer »jugendlichen ›Identitätskrise‹, den er aus seiner Arbeit mit gestörten Teenagern gewann.« Dies entstelle »die großen Krisen Luthers, die nicht in seiner Jugend stattfanden. Bemerkenswert ist doch, wie alt Luther war, als seine Laufbahn als Reformator begann: Er war 33 Jahre alt, als er die 95 Thesen aushing, 37, als er vom Papst exkommuniziert wurde, und 41, als er heiratete.« L. Roper, a. a. O., S. 61. 272 L. Roper, a. a. O., S. 10. 273 L. Roper, a. a. O., S. 77: »Zu dem, was Luther von vielen anderen christlichen Denkern unterscheidet, gehört seine ausnehmend positive Haltung gegenüber dem Körper in allen seinen Aspekten«, a. a. O., S.77. 274 F.W. Graf, Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart, München, 20102.
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»Durch die geöffneten Pforten des Paradieses«
tutionenkritischen Grundzug ein.«275 Er spitzt zu: »Die Bezogenheit auf Gottes Wort, auf Christus wird zur religiös entscheidenden Definitionsebene.«276 Das bedeutet: »Der protestantische Fromme ist aus der Vormundschaft der kirchlichen Institution entlassen. Er ist, in einem prinzipiellen Sinne, in die Situation einer allein durch Christus bzw. Gottes Wort vermittelten Unmittelbarkeit zu Gott gestellt.«277 Der Christ existiert durch die »exklusive Bindung an das unverfügbare, auch kirchlich nicht domestizierbare Wort Gottes.«278 Allerdings kann man eine gewisse Ratlosigkeit hinsichtlich der Beziehung zwischen Christologie und Ekklesiologie beobachten, wenn Graf behauptet: »Glauben betrifft nicht mehr den Nachvollzug einer objektiv vorgegebenen lehrhaften Substanz oder den sinnlichen Kontakt mit etwas ›Heiligem‹. Glaube spiegelt vielmehr höchste Subjektivität […] Glaube beinhaltet immer eine prinzipielle Vereinzelung des Frommen.«279 Und so zeigt Graf geschichtlich am Ende auf: »Protestanten standen deshalb fortwährend in der Gefahr, einer weltlichen Autorität jenen religiösen Kredit zu geben, den sie dem Papst einst verweigert hatten.«280 Barmen 1 ist deshalb nach Graf eine nötige Korrektur gegen falsch ›Nationalprotestantismus‹, der den Staat religiös fatal überhöht.«281 Wie aber kann man eine protestantisch verantwortete Ekklesiologie formulieren, die nicht einerseits auf fatale Weise Kirche und Staat verwechselt oder vertauscht oder andererseits das menschliche Individuum zum Maßstab einer Ekklesiologie überhöht? Wenn »›Persönlichkeit‹, ›Subjektivität‹, und schließlich ›Autonomie‹ […] im protestantischen Deutschland zu Leitbegriffen eines Anthropologiediskurses [wurden], in dessen Zentrum eine religiös fundierte innerweltliche Transzendenz des Individuums stand,«282 ist hier phänomenologisch die entscheidende Frage zu stellen, ob ›Glaube‹ als Antwort auf die Begegnung mit dem ›Heiligen‹ notwendigerweise eine ›Vereinzelung‹ des Subjektes zur Folge hat oder nicht.«283 Sind die ›Pforten des Paradieses‹ nur für Einzelne geöffnet oder schaffen sie neu eine ›Gemeinschaft der Heiligen‹ als einer neuen Gemeinschaft ›in Christus‹? 275 276 277 278
279 280 281 282 283
F.W. Graf, a. a. O., S.72. F.W. Graf, a. a. O., S.72. F.W. Graf, a. a. O., S.72 f. F.W. Graf, a. a. O., S.73. »›Persönlichkeit‹, ›Subjektivität‹, schließlich ›Autonomie‹ wurden im protestantischen Deutschland zu Leitbegriffen eines Anthropologiediskurses, in dessen Zentrum eine religiös fundierte innerweltliche Transzendenz des Individuums stand,« a. a. O. S. 74. Psychologisch gesprochen ist der Begriff »Identität« der Leitbegriff, der religiös phänomenologisch zu hinterfragen ist. Hier ist Graf zuzustimmen. F.W. Graf, a. a. O., S.73. F.W. Graf, a. a. O., S.98. F.W. Graf, a. a. O., S.73. F.W. Graf, a. a. O., S.74. R. Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1987 (1917).
Der Ort der Freiheit, phänomenologische Annäherungen
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Hilfreich ist hier eine kurze Besinnung zur Geschichte und Methode der Phänomenologie: Die Religionspädagogen P. Biehl und M. J. Langeveld untersuchten im 20. Jahrhundert die Bedeutung der Phänomenologie für die Religionspädagogik und entwickelten die sog. phänomenologische Methode als »Entselbstverständlichung«. Das »Gründungsmoment« zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Parole E. Husserls: »Zurück zu den Sachen selbst«.284 Die klassische Religionswissenschaft (R. Otto, G. v. d. Leeuw) wird als Religionsphänomenologie entdeckt, und zuvor als anthropologisches Phänomen, das von der »Macht« des »Heiligen« angestoßen und bewirkt ist. »Der sinnlichleibliche Aspekt eines so gefundenen phänomenologischen Ansatzes bedeutet und bezeichnet ein wichtiges Kriterium der lebendigen Erfahrung«285 des Göttlichen. In Gottesdienst, in Pastoraltheologie und Seelsorge kann eine Religionsphänomenologie »die klassischen Positionen Ottos und v. d. Leeuws übernehmen und weiterentwickeln«.286 Dabei entspricht dem sinnlich-körperlichen Aspekt der Wahrnehmung der räumliche Aspekt, der durchaus überindividuell, gemeinschaftlich erfahren wird, wie H. Schmitz deutlich herausarbeitet.287 Aber auch für religiöse Texte gilt: Sie können mit Hilfe der Phänomenologie gelesen werden »auch als Dokumente menschlicher Wahrnehmung und Erfahrung des Göttlichen, Heiligen (Otto). Die Geheimnisstruktur der Wirklichkeit scheint in ihnen bleibend auf.«288 Wie wurden für Luther Texte der Heiligen Schrift zu »Machtworten«, die sein Leben neu gestalteten? Das ist die phänomenologische Frage!
1.2
Kirche als Christusgegenwart und Ort der Begegnung mit dem Heiligen
»Luther rühmt die in der Taufe geschenkte libertas christiana […] Die Taufe unterstellt das christliche Leben dem Willen Gottes schlechthin. Christianus enim nulli legi addictus est, nisi divinae (WA 6, 540, 3 f).«289 Dieser Freiheit gegenüber »sind die besonderen kirchlichen Gebote und geistlichen Standesverpflichtungen ein regnum Babylonis et veri Antichristi (WA 6, 537, 12 ff).«290 Also: Ekklesiologisch bedeutet dies keine zusätzliche 284 285 286 287
Belege bei H. Umbach, a. a. O., S. 29 – 59. H. Umbach, a. a. O., S. 58. H. Umbach, a. a. O., S. 58 f. H. Schmitz, Das Göttliche und der Raum, System der Phlosophie III/4, Bonn 1977; Ders., Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik. Paderborn 1992. 288 H. Umbach, a. a. O., S. 59. 289 R. Schwarz, Luther, Göttingen, 20043, S. 105. 290 R. Schwarz, a. a. O., S. 105.
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»Durch die geöffneten Pforten des Paradieses«
Institution zwischen Christus bzw. Gott, sondern eine Rückbesinnung auf das Wesen der Kirche als Raum »in Christus« (2 Kor 5,17). Tauftheologisch bedeutet dies: »[D]iese Freiheit verdankt sich nicht menschlicher Leistung, sondern sie hat in der Zuwendung Gottes in Christus ihren Grund. Freiheit wird also zunächst zugesagt.«291 Wie geschieht dies aber? Ist die Vormundschaft einer kirchlichen Institution weggefallen, so ist der Glaubende allein durch Christus, d. h. durch Gottes Wort in eine »Unmittelbarkeit zu Gott«292 gestellt. Bedeutet dies aber höchste Form von »Subjektivität«, gar »Autonomie«, die einen Anthropologiediskurs begründen muss, »in dessen Zentrum eine religiös fundierte innerweltliche Transzendenz des Individuums« steht?293 Mit einem grundlegenden »Princip der Innerlichkeit«, wie G.F.W. Hegel es nennt, »eine Dimension elementarer Unverfügbarkeit des frommen Subjekts […] ein höchst subjektiver Eigenraum des Individuums«?294 Graf zeigt wirkungsgeschichtliche Linien auf. Aber genau hier ist zu fragen, ob dies von dem Ursprung der Reformation her Bestand hat, bzw. wie Huber formuliert: »Das Verständnis von Freiheit als kommunikativer Freiheit hat seinen Grund im Begriff des Gottes, der sich selbst in Christus definiert. In dem Sohn kommt Gott als der in Freiheit Liebende zum Menschen«295. Was ist unter »Begriff« zu begreifen? Das wäre aber über Huber hinaus ein phänomenologisch zu begreifendes Geschehen. Am Beispiel Martin Luthers kann dies nun schön gezeigt werden.
1.3
Kirche als Ort der Gemeinschaft um Wort und Sakrament
Wenn, wie Huber Luthers Entdeckung des Evangeliums interpretiert, »alle Menschen gleich unmittelbar zu Gott sind und einander aus der Freiheit eines Christenmenschen zu Dienern werden, dann steht zwischen ihnen selbst genauso wie zwischen den einzelnen Menschen und Gott keine Institution, keine Hierarchie, keine Zwischeninstanz.«296 Hier tut sich nicht nur das Thema ›sichtbare bzw. unsichtbare Kirche‹ auf, sondern die grundsätzliche Frage nach dem Sinn und der Form der Ekklesiologie überhaupt. »Mit seiner Schrift De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium rüttelte Luther an den Fundamenten des traditionellen kirchlichen Heilsverständnis291 292 293 294 295 296
W. Huber, a. a. O., S. 62. F.W. Graf, a. a. O., S. 73. F.W. Graf, a. a. O., S. 74. F.W. Graf, a. a. O., S. 74. W. Huber, a. a. O., S. 63. W. Huber, a. a. O., S. 34.
Der Ort der Freiheit, phänomenologische Annäherungen
69
ses«297, interpretiert Reinhard Schwarz. »Die neue Begründung der Sakramente läßt nur noch Taufe und Abendmahl als Sakramente gelten. Nur bei diesen beiden Sakramenten gibt es ein in der ursprünglichen Christus-Überlieferung verankertes göttliches Zusagewort, das den Glauben hervorruft, und dazu eine Zeichenhandlung. In seinem Zusagewort wendet sich Gott selber durch Christus mit uneingeschränkter Gnade dem Menschen zu, um ihm im Glauben bei sich, dem Vater Jesu Christi, das volle Heil zu gewähren.«298 »Auf dem unmittelbaren Lebensbezug der Taufbedeutung und des Taufglaubens beruht die Freiheit des Christen.«299 Ekklesiologisch bedeutet dies aber positiv »Ecclesia enim est filia nata ex verbo, non est mater verbi.«300 Wenn aber die Kirche selbst »geboren ist aus dem Wort« – welches Wort ist gemeint? »Die Freiheit von der existierenden Kirche ist von Luther als Freiheit zum Evangelium, zum Glauben und damit auch als Freiheit zur Kirche ausgelegt und gestaltet worden.«301 Lyndal Roper hat auch dies am Beispiel des Abendmahlsverständnisses Luthers herausgearbeitet, wo Wort Gottes und Körperlichkeit gerade keinen Gegensatz für ihn bilden, wenn er sagt: »Das Wort sagt, dass Christus einen Körper hat. Das glaube ich. Das Wort sagt, dass der Körper Christi in den Himmel aufgestiegen ist und zur Rechten des Vaters sitzt. Auch das glaube ich. Das Wort sagt, dass der selbe Körper im Abendmahl ist, und ich glaube das. Warum sollte ich diskutieren, ob er außerhalb eines Ortes oder an einem Ort ist? Das ist eine mathematische Diskussion, über der das Wort Gottes ist, der die Mathematik und alles geschaffen hat und uns gebietet, in dieser Sache zu glauben.«302
Sie kommt zu dem Schluss: »Es ist gewiss nicht zu weit hergeholt, dieses Festhalten an der Materialität der Eucharistie und an der Realpräsenz Christi mit Luthers generell positiver Einstellung zum Körperlichen zu verbinden.«303 So bedeutet umgekehrt die Entdeckung des Wortes Gottes als des Evangeliums durch Martin Luther auch eine körperlich erfahrbare Befreiung für ihn. 297 R. Schwarz, a. a. O., S. 107. 298 R. Schwarz, a. a. O., S. 107. Schwarz zeigt in seiner Interpretation der Luther-Schrift De captivitate, wie Luther im Einzelnen von einer im Wort Christi begründeten Ekklesiologie ausgeht, indem er die Gefangenschaft der mittelalterlichen Kirche anprangert. Lediglich Taufe und Abendmahl sind Sakramente. »Für Luther beruht die Wirksamkeit der Sakramente, so auch der Taufe, auf dem Zusammenhang von Verheißungswort und Glaube, nicht auf einem Zusammenhang von sinnhaftem Zeichen und übernatürlicher Gnade«, R. Schwarz, a. a. O., S. 105. 299 R. Schwarz, a. a. O., S. 105. 300 M. Luther, WA 42; 334, 12 bei Th. Kaufmann, Martin Luther, München 20102, S. 118. 301 Th. Kaufmann, a. a. O., S. 118. 302 Zitat von L. Roper, a. a. O., S. 68 und WA, Bd 30 III, S. 157, vgl. Das Marburger Religionsgespräch 1529, hg v. G. May, Gütersloh 1970. 303 L. Roper, a. a. O., S. 68.
70
»Durch die geöffneten Pforten des Paradieses«
2.
Martin Luther – der »Befreite«
2.1
Eine graphologische Beobachtung – phänomenologisch gedeutet
Im Zusammenhang der Ausarbeitung und Veröffentlichung seiner 95 Thesen i.J. 1517 erscheint bei Martin Luther, wie die Briefunterschriften belegen, ein Namenswechsel: Hatte er am 11. September 1517 noch mit seinem Vaternamen ›Luder‹ unterschrieben, so zeichnet er am 31. Oktober bereits mit ›Luther‹. Dieser Wechsel von ’d’ zu ’th’ ist weder Zufall noch eine orthographische Marotte, sondern äußeres Zeichen eines tiefgreifenden Wandels im Selbstbewusstsein des Wittenberger Mönchs, denn er spielt an auf die selbstgewählte graeco-lateinische Form seines Namens, mit der er in den folgenden Jahren einen Großteil seiner Korrespondenz unterzeichnen sollte: ›Eleutherios‹, das heißt ›der Freie‹.304 Anders als bei Philipp Melanchthon z. B., dessen griechischer Name eine bildungs-biographische Stufe in seinem Selbstverständnis als Humanist bezeichnet, geht es hier um einen tiefer greifenden Wandel, in dem der Vatername »Luder« zwar noch nachklingt, der aber durch diese kleine Akzentverschiebung (»Luther«) einen völlig neuen Klang bekommt und ein neues Sein ausdrückt: der Befreite! Und dies formuliert ja eben auch die erste der 95 Thesen, sozusagen als Programm der Reformation: »Dominus et magister noster Jesus christus dicendo: Penitentiam agite … omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit (Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: tut Buße …, so will er, dass das ganze Leben der Gläubigen eine Buße sei).«305
Redet die volkstümliche Übersetzung von »täglicher Buße«, so ist doch nach dem Originaltext das ganze Leben, das gesamte Sein, als Buße d. h. als Umkehrbewegung bzw. als Neuausrichtung zu verstehen. Der Doktor der Heiligen Schrift ist hier durch diese Thesen zu seinem neuen Sein gekommen und vollzieht in seinem Namenswechsel die Dokumentation dieser Transformation, wie Paulus, sein Hauptgewährsmann, sagt: »Zur Freiheit hat uns Christus befreit. So steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen« (Gal 5,1). Luther gibt damit seinem eigenen Namen eine ganz neue zukunftseröffnende Bedeutung: als der »Freie«, vielmehr als der von 304 Vgl. auch den Hinweis bei D. Korsch, Martin Luther. Eine Einführung, Tübingen 20072, S.37 f., Anm. 5: Wenn der »Befreite« in seinem Brief vom 31. Oktober 1517 an den Mainzer Erzbischof, Kardinal Albrecht von Brandenburg seine 95 Thesen sendet, ist mit dieser Namensverwendung mit Recht das Datum »als Markstein der Reformationsgeschichte« zu sehen, vgl. WA. B1, 119 f; II 6, 16 – 19. 305 M. Luther, WA I, 233.
Martin Luther – der »Befreite«
71
Christus Befreite, als der durch Christus Freigewordene, lebt er von nun an in dem Bewußtsein und einer Gewißheit, die ihn zum Reformator der Kirche werden ließ. Christus schreibt von nun an seine Lebensgeschichte, »die entstehenden Fragen werden durch ›Christi Autorität allein‹ entschieden.«306 Diese Freiheit wird ihm von Christus geschenkt, also von außen, es geht dabei nicht um eine neue ›Identität‹, nicht um ein neues Seinsverständnis, sondern um ein neues ›Sein‹: omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit, wobei dieses neue Sein in einer neuen Beziehung zu Christus besteht und in dieser Beziehung seinen Grund hat!
2.2
Eine ikonographische Beobachtung – phänomenologisch gedeutet
Dieser graphologischen Beobachtung und textlich gut dokumentierten Sicht lässt sich nun noch eine weitere, ikonographische anschließen, die den inneren Wandel auch äußerlich anzeigt. Von Lukas Cranach d. Ä. besitzen wir zwei Kupferstiche und einen Holzschnitt – von 1520 als Mönch, von 1521 mit Doktorhut und von 1522 als Junker Jörg – die nicht nur die äußeren Zeichen im Halbbzw. Vollprofil beeindruckend dokumentieren, sondern auch die neuen »Orte« bezeichnen. An Spalatin schreibt Luther über seinen Aufenthalt zehn Tage nach seiner Ankunft auf der Wartburg, in der er das Neue Testament vom Griechischen ins Deutsche übersetzt: »Ich mußte hier meine Kutte ausziehen und ein ritterliches Gewand anlegen und Haare und Bart wachsen lassen. Du würdest mich kaum erkennen, wie auch ich selbst mich schon längst nicht mehr kenne. Ich lebe nun in christlicher Freiheit, gelöst von allen Gesetzen jenes Tyrannen.«307
Der Kleider- und der Ortswechsel bezeichnen einen Herrschaftswechsel! Und wenig später : »Ich bin hier vollkommen müßig und voll beschäftigt. Ich lerne hebräisch und griechisch und schreibe unablässig.«308
Diese Worte sind – phänomenologisch gesehen – nicht nur ein Ausdruck einer vollzogenen Transformation, sondern eines theologisch-phänomenologisch verstandenen Orts- und Herrschaftswechsels: die mönchische »tristitia« im Kloster ist Vergangenheit. Luthers Gegenwart ist an dem neuen Ort seines un306 Chr. Gremmels, Religiöse Sozialisation und theologische Identität, in: Forum Religion, 1978,3, S. 28 – 36, hier S. 35. 307 M. Luther, WA Br. 2 Nr. 410, 8 f. 32 – 36 (14. 5. 1521) Belege aus: M. Luther, Sein Leben in Bildern und Texten, Hg., G. Bott, G. Ebeling u. B. Moeller, Frankfurt/M 1983, S. 167. 308 M. Luther, WA Br. 2 Nr. 417, 22 – 28 (10. 6. 1521) (lat.).
72
»Durch die geöffneten Pforten des Paradieses«
freiwilligen Rückzugs, der Wartburg, von einer neuen Freiheit bestimmt: »Ich lebe nun in christlicher Freiheit, gelöst von allen Gesetzen jenes Tyrannen.«309 Diese Freiheit ist nicht nur subjektiv verstanden, sie wird vielmehr phänomenologisch beschrieben als »Kontrastharmonie«310 : »vollkommen müßig und voll beschäftigt«311, zugleich lebte Martin Luther »in christlicher Freiheit«. Die Übersetzung des Neuen Testamentes im Herbst 1521, »die er in elf Wochen im wesentlichen vollendete« verhalf damit auch dazu, »die Christusbotschaft selbstständig hören und verstehen zu lassen.«312 Sie erschien im September 1522 im Druck als sog. »Septembertestament« und wurde entsprechend verbreitet.
2.3
Die Heilige Schrift als Ort der befreienden Gottesbegegnung
Vergleicht man mit den eben genannten frühen Aussagen des Reformators nun Luthers spätes biographisches Selbstzeugnis kurz vor seinem Tode aus dem Jahre 1545, also aus einem Abstand von 28 Jahren, so schildert er dort seine entscheidende Wende zur reformatorischen Grunderkenntnis rückblickend folgendermaßen: »Ein ganz ungewöhnlich brennendes Verlangen hatte mich gepackt, Paulus im Römerbrief zu verstehen […] ich haßte diese Vokabel ›Gerechtigkeit Gottes‹, die ich […] gelehrt war philosophisch zu verstehen von der sogenannten formalen oder aktiven Gerechtigkeit, mittels derer Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft. Ich aber, der ich mich, […] vor Gott als Sünder von unruhigstem Gewissen fühlte, und mich nicht darauf verlassen konnte, daß ich durch meine Genugtuung versöhnt sei, liebte nicht, nein, haßte den gerechten und die Sünder strafenden Gott und war […] mit ungeheurem Murren empört über Gott […] So raste ich wilden und wirren Gewissens; dennoch klopfte ich beharrlich an eben dieser Stelle bei Paulus an, mit glühend heißem Durst, zu erfahren, was St. Paulus wolle. Bis ich, dank Gottes Erbarmen […] auf den Zusammenhang der Worte achtete, nämlich: ›Gottes Gerechtigkeit‹ wird in ihm offenbart, wie geschrieben ist: der Gerechte lebt aus Glauben. Da begann ich die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen als die, durch die als durch Gottes Geschenk der Gerechte lebt, nämlich aus Glauben […] nämlich die passive Gerechtigkeit (iustitiam passivam), durch die uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben […]. Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sofort die ganze Schrift ein 309 M. Luther, WA Br. 2 Nr. 410, 8 f. 32 – 36 (14. 5. 1521) Belege aus: M. Luther, Sein Leben in Bildern und Texten, Hg., G. Bott, G. Ebeling u. B. Moeller, Frankfurt/M 1983, S. 167. 310 R. Otto, a. a. O., S.56 f. 311 M. Luther, WA Br. 2 Nr. 417, 22 – 28 (10. 6. 1521) (lat.). 312 H. Zschoch, Art. »II Aneignungen« in A. Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 20102, S. 82 – 91, insbes. S. 87.
Martin Luther – der »Befreite«
73
anderes Gesicht […] Wie sehr ich die Vokabel ›Gerechtigkeit Gottes‹ vorher haßte, so pries ich sie nun mit entsprechend großer Liebe als das mir süßeste Wort.«313
Luther war »durch geöffnete Tore ins Paradies selbst eingetreten.« Wo fand nun diese Befreiung statt? Der Lutherforscher Gerhard Ebeling meint zwar, dass erst diese späte Quelle – sozusagen aus der Erinnerung – das reformatorische »Durchbruchserlebnis« beschreibt und kaum ein biographisches Zeugnis aus der Frühzeit vorliegt, so dass man diesen Durchbruch, diese Erleuchtung, ja diese Bekehrung fixieren könnte. Danach dürfte für diese »Konversion«, die »Erleuchtung« in Luthers Theologie, in welcher Schriftverständnis und Biographie verschmelzen, Ebelings Einschätzung gelten: »Sie beruht nicht auf einem plötzlichen isolierten Einfall, sondern hat sich, wie wir an den frühesten vorhandenen theologischen Zeugnissen Luthers bei sorgsamem Vergleich mit der Tradition feststellen können, auf breiter Front angebahnt«.314 Wenn Ebeling Recht hat und das Durchbruchserlebnis »nicht auf einem plötzlichen isolierten Einfall« beruht, sondern sich »auf breiter Front angebahnt« hat, dann könnte man hier von einem Transformationsprozess sprechen. Der große Rechenschaftsbericht von 1545, aus einem Abstand von 28 Jahren rückblickend geschrieben, interpretiert diesen Transformationsprozess freilich anders, nämlich in Gestalt eines klassischen Konversionsberichts (als Vorlagen kommen Phil 3,7ff und die Confessiones des Augustinus in Frage). Das bedeutet: Wir haben es nun mit einer Neuaneignung vergangener Lebensgeschichte zu tun, vollzogen 1545, ein Jahr vor seinem Tod! Was als lebendiger Transformationsprozess stattgefunden haben mag, wird jetzt theologisch auf den Punkt gebracht. Anders als Korsch, der sagt: »Nicht das Leben ist der Schlüssel zu Lehre; sondern die Lehre ist der Schlüssel zum Leben,«315 darf man hier keinen Gegensatz zwischen Leben und Lehre konstruieren, vielmehr müsste man phänomenologisch zugespitzt sagen: Die lebendige Erfahrung des »Heiligen« als »Befreiung« in der Heiligen Schrift des lebendigen Wortes Gottes ist der Schlüssel zum rechten Verständnis des Lebens als Begegnung mit der Macht des Heiligen.316 Deshalb ist R. Schwarz zuzustimmen, wenn er zusammenfasst: »Der Ort, an dem sich Luther der Knoten im Verständnis von iustitia dei gelöst hat, war seine Studierstube, ein wärmbarer Raum in einem Turm, der zum Klostergebäude gehörte und Luther für seine Kollegvorbereitungen zur Verfügung stand. In späteren Jahren wurde der Turm beim Ausbau der Wittenberger Befestigungs-
313 314 315 316
M. Luther, WA 54, 185,14 – 186,16. G. Ebeling, Luther, Einführung in sein Denken, Tübingen 19844, S. 35 f. D. Korsch, a. a. O., S. 37. R. Otto, a. a. O.
74
»Durch die geöffneten Pforten des Paradieses«
anlagen abgerissen.«317 Die Tragweite dieser gewonnenen Erkenntnis hatte körperlich-leibliche Folgen: Befreiung! Ein Knoten wird gelöst: Eine Last fällt ab! Wenn Luther sich 1517 erstmals als »eleuterios« bezeichnet, zieht er daraus auch öffentlich die Konsequenzen mit der Änderung seines Namens. Der neue Name bezeichnet eine neue Kreatur (2 Kor 5,17) »in Christus«318
3.
Heilige Schrift und Kirche
3.1
Theologie als Schriftauslegung: Wort Gottes als Ort der Neugeburt
»Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sofort die ganze Schrift ein anderes Gesicht […] Wie sehr ich die Vokabel ›Gerechtigkeit Gottes‹ vorher haßte, so pries ich sie nun mit entsprechend großer Liebe als das mir süßeste Wort.«319
Die Neugeburt als »Passivität« bedeutet nun seinerseits »Hingabe an Gott den Vater, als auch Wiedergeburt aus dem Muttergrund (matrix) der Heiligen Schrift«. Für Luther als Predigenden, Betenden, die Schrift Auslegenden wird nun die Bibel die neue positive Autorität, »in der er schließlich eine Mutter fand, die er anzuerkennen vermochte und die ihn darüber hinaus in Stand setzte, gegen den Vater aufzukommen. Er konnte ihr eine Freigiebigkeit zusprechen, der er sich ganz auftun und die er – endlich einer Mutter Sohn – an andere weitergeben konnte.«320 Wenn Luther davon spricht, dass die Schrift ihm ein anderes »Gesicht« zeigt, spricht er von einer personhaften Qualität, von einer neuen Begegnung. Dies zeigt, dass die ›Bekehrung‹ in phänomenologischen Kategorien als eine Neubegegnung zu beschreiben ist: ein neuer Machtbereich »in Christus« umgibt ihn. Im Rückblick schreibt er 1521, fast 16 Jahre nach Eintritt ins Kloster in »De votis monasticis« von diesem Schrecken, von diesen Kämpfen und dieser Befreiung an seinen Vater : »Es geht jetzt fast in das sechzehnte Jahr meiner Möncherei, in die ich mich gegen deinen Willen und ohne dein Wissen begab […] Denn ich erinnere mich – es ist mir 317 H.G. Voigt, Luthers Wittenberger Turm, Ztschr. d. Ver. f. Kirchengesch. d. Prov. Sachsen u. d. Freistaates Anhalt 26, 1930, 1 – 12. Germania Sacra Abt. 1 Bd. 3, S. 458 in R. Schwarz, Luther, Göttingen 20043, S.42, Anm. 3. 318 Zum »Turmerlebnis« vgl. die von H. Schilling, a. a. O. oben angeführten Zitate aus den Mitschriften der Tischreden Luthers, die man doch ernst nehmen muss. 319 M. Luther, WA 54, 185,14 – 186,16. 320 Chr. Gremmels hat mir diese Interpretation freundlicherweise zur Verfügung gestellt, vergl. auch Chr. Gremmels, Identität durch Veränderung. Ist »Bekehrung« noch aktuell?, in: Forum Religion 1976, 4, S. 19 – 24.
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allzu deutlich gegenwärtig – folgenden Vorfalls: Als […] ich versicherte, durch Schrecken vom Himmel gerufen zu sein – denn nicht mit Lust und Willen wurde ich Mönch […] da sagtest du: Möchte es kein Wahn und Blendwerk gewesen sein. […] Du fügtest noch ein anderes (Wort) hinzu […] und trafst mich wieder so geschickt und passend, daß ich in meinem ganzen Leben von einem Menschen kaum ein Wort gehört habe, das kräftiger in mir geklungen und fester gehaftet hat. Du sagtest nämlich: ›Hast du denn nicht auch gehört, dass man den Eltern soll gehorsam sein?‹ Aber ich, sicher in meiner Gerechtigkeit, hörte dich an wie einen Menschen und dachte gar gering von dir […]. Doch ich kehre zu dir zurück, lieber Vater, und sage wiederum: Wirst du mich noch aus der Möncherei herausnehmen? Aber auf daß du dich nicht rühmst, ist der Herr dir zuvorgekommen, und hat selbst mich herausgenommen […] Aber ich beraube dich doch nicht wiederum deines Rechts und deiner Autorität? Nein fürwahr, deine Gewalt über mich bleibt ganz unangetastet, soweit es die Möncherei betrifft; aber die hat, wie gesagt, nun nichts mehr für mich zu bedeuten. Im übrigen hat der, der mich herausgezogen hat, über mich ein größeres Recht denn du; denn er hat mich […] in den wahren Gottesdienst gesetzt. Denn wer kann zweifeln, daß ich im Dienste des Wortes stehe? Und hier ist fürwahr der Gottesdienst, dem die Gewalt der Eltern weichen muß, nach dem Wort Christi: ›Wer Vater oder Mutter mehr liebt denn mich, der ist meiner nicht wert‹ (Mt 10,37) […] wenn der Eltern und Christi Ruf oder Autorität wider einander streiten, so muß Christi Autorität allein herrschen (Christi autoritas regnare sola debet).«321
Gott selbst hat ihn in seinem Wort aus der Möncherei herausgezogen, er ist nun »in Christus« ein neuer Sohn: »Ihesus Christus solus est dominus deus noster« (Jesus Christus ist allein Herr, unser Gott). Für Luther heißt dies: Solus Christus: sola scriptura. Diese Mächte schreiben von nun an seine Biographie, die er lebt, indem er diese scriptura ins Deutsche – seine Muttersprache – übersetzt322 und 321 M. Luther, WA 8, 573 – 576. 322 Wenn D. Korsch, a. a. O. S. 40, schreibt: »›Wort Gottes‹ ist die in einem menschlichen Kommunikationsvorgang sich ereignende Aufforderung zu einer letztverbindlichen Umstellung der eigenen Selbstdeutung.« Und: »Festhalten kann man allerdings ganz genau das Medium, durch das dieser Erkenntnisgewinn erzielt wurde: durch die Auslegung der Bibel, also in Luthers Wittenberger Profession.« D. Korsch, a. a. O., S.48, sieht er das zu kurz. Es geht nicht nur um eine neue ›Selbstdeutung‹ bzw. eine ›Seinsdeutung‹, sondern angesichts der Begegnung mit der Macht des Heiligen in der Heiligen Schrift um ein neues ›Sein‹, wie seine späte Notiz von ›Neugebut‹ und ›Pforten des Paradieses‹ bezeugt. Auch wenn Korsch der psychologisch-biographischen Deutung Eriksons etwas vorsichtiger gegenübersteht, räumt er doch ein: »Darin freilich hat Erikson Recht: Es war eine biographische Knotensituation, in der Luther den Entschluß faßte, Mönch zu werden. […] Es handelte sich um den Versuch, durch einen Bruch in der bisherigen Kontinuität des Lebens – und um den Preis eines längeren Zerwürfnisses mit dem Vater – eine höhere Konstanz, nämlich die Beständigkeit des Lebens vor Gott, zu gewinnen.« D. Korsch, a. a. O. S. 28. Die Konstanz ist bei Korsch überbetont: Die Neubegegnung mit Gott in seinem Wort ist das Entscheidende. Die Pforten des Paradieses stehen nun offen! Die Schrift zeigt ihm ein neues ›Gesicht‹. – Phänomenologie: Vgl. L. Roper, a. a. O., S. 61 f. Vgl. auch M. Brecht, Martin Luther, Sein
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»Durch die geöffneten Pforten des Paradieses«
auf diese Weise Christus als seinen Befreier ehrt. Phänomenologisch gesehen vollzieht sich hier der entscheidende Machtwechsel. Allein die Heilige Schrift ist für Luther nun die Begründung der »Freiheit eines Christenmenschen« (1520), sie bildet Luthers »Kontinuität«; phänomenologisch gesehen bedeutet sie eine neue »Begegnung« mit Gott! »So müssen wir nun gewiß sein, dass die Seele alle Dinge entbehren kann, ausgenommen das Wort Gottes, und ohne das Wort Gottes ist ihr mit keinem Ding geholfen. […] Fragst du aber: Was ist denn das Wort, das so große Gnade gibt, und wie soll ich es gebrauchen?, dann lautet die Antwort: Es ist nichts anderes als die von Christus geschehene Predigt, wie sie das Evangelium enthält.[…] Du sollst dich in ihn mit festem Glauben ergeben und frisch auf ihn vertrauen.«323
Um diese Beziehung geht es. Und so formuliert zwar Korsch: »Ein Theologieprofessor, der die Bibel auslegt – das ist Luther dann sein Leben lang geblieben.«324 Allerdings ist zu präzisieren: »Die Frage, wie Luther die Bibel eingeschätzt und gebraucht hat, betrifft nicht ein einzelnes Lehrstück seiner Theologie, sondern deren Struktur : Sein ganzes theologisches Denken vollzog sich als vielgestaltige Auslegung der heiligen Schrift.«325 Man kann sogar sagen: »Die Bibel war sein Zuhause.«326 »Dadurch erwies er sich insgesamt – ob als Prediger oder Professor, als Lehrer oder Seelsorger, als Übersetzer, Brief- oder Gesprächspartner – und in einem ganz grundsätzlichen (also diesseits der heute gängigen Klassifikationen liegenden) Sinn als biblischer Theologe.«327 Und so bedeutet sie »Leben«: Man soll, sagt Luther, die Bibel nicht nur »oben hyn« lesen, nicht so »alß rede klauß schmid mit hans Michell«328, denn die Bibel enthält »doch ja nicht Lesewort, wie sie meinen, Sondern eitel Lebewort […], die nicht zum speculieren und hoch zu tichten sondern zum leben und thun dargesetzt sind.«329 Sogar räumlich-körperlich kann Luther von dieser Beziehung sprechen: »Ein prediger soll mitten in den schrifft siczen.«330 So können wir Christen Christus »nachreden wie er uns vorredet«331 und werden dadurch »zu Theologen
323 324 325 326 327 328 329 330 331
Weg zur Reformation 1483 – 1521, Stuttgart 1981, sowie U. Rublack, Reformation Europe, Cambridge 2005, dt: die Reformation in Europa, Frankfurt a.M. 2006. M. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520), WA 7, 22 – 3, 23; II, 1, 240 f, vgl. D. Korsch, a. a. O., S.44. D. Korsch, a. a. O. S. 30. A. Beutel, Theologie als Schriftauslegung, in A. Beutel (Hg), Luther Handbuch, Tübingen 20102, S. 444. A. Beutel, a. a. O., S.445. A. Beutel, a. a. O., S.444 f. M. Luther, WA 14; 245, 30 f. M. Luther, WA 31,1; 67,24 – 27 bei A. Beutel, a. a. O., S.446 f. M. Luther, WA 9; 664,17 bei A. Beutel, a. a. O., S.447: »So daß Luther nicht der Bibel einen Sitz im Leben zuweisen wollte, sondern ihrem Ausleger einen Sitz in der Bibel.« Damit erweitert Beutel Korschs Professionsbegriff phänomenologisch. M. Luther, WA 45; 205,31 f bei A. Beutel, a. a. O., S.447.
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in des Wortes eminenter Bedeutung – nämlich zu Menschen, die nicht nur von Gott, sondern auch wie Gott zu reden wissen.«332 Albrecht Beutel ist dieser neue Sinn zu verdanken, er stellt die in diesem Zusammenhang von Luther gebrauchten »Schutzraum«- Motive anschaulich zusammen: Im Anschluss an Jes 46,3 spricht Luther von der Bibel als »Mutterleib Gottes«: »Uterus dei est Verbum divinum« (WA 31,2; 370,21).333 Das Evangelium ist »gottis uter […] darynnen [er] unß empfehet, tregt und gepiertt, wie eyn weyb eyn kind ynn yhrem uter empfehet, tregt und gepiertt« (WA 10,1,1; 232,13 – 15).334 »In die Bibel soll man darum hineinkriechen wie ein Hase in seine Steinritze (WA 10,1,1; 193,11 – 16) und wie Mose, als Gott an ihm vorüberging, in seine Felsenkluft (WA 16; 644,14 – 23).«335 »Neugeburt« ist hier also nicht metaphorisch gemeint, sondern wörtlichräumlich! Die »offenstehende« Pforte des Paradieses ist demnach das Wort Gottes selbst, »Christus war für ihn die Sache der Schrift in Person«336, für Luther war es »ungetzweyfflet, das die gantze schrifft auff Christum allein ist gericht« (WA 10,2; 73,16).337 »Heilig in Christus«: das gilt nach diesen Belegen räumlich – persönlich – wörtlich! Indem Christus als sensus principalis scripturae erkannt wurde, war er für Luther die Einheit der Schrift als »die Spitze, in der alles zusammentrifft, das Ziel, auf das alles hinausläuft.«338 Das bedeutet aber für die Kirche: sie ist nicht Mutter, sondern Tochter : »Ecclesia enim est filia, nata ex verbo, non est mater verbi,«339 geboren aus dem Wort Gottes. In diesem Zusammenhang tritt in der gegenwärtigen Forschung die Rolle des Humanisten und Hebraisten Johannes Reuchlin und seine Bedeutung für Luthers Wort-Gottes-Theologie wieder stärker in den Vordergrund. Nicht erst Luthers Brief an Reuchlin 1518 belegt und rechtfertigt dies.340 Mit diesem Brief bekundet Luther Reuchlin gegenüber seine loyale Gesinnung angesichts der Anklagen der römischen Kurie.341 Bereits im Februar 1514 hatte Martin Luther in 332 333 334 335 336
337 338 339 340 341
M. Luther, WA 41; 11,9 – 11 bei A. Beutel, a. a. O., S.447. A. Beutel, a. a. O., S.447: »Euaneglium est mamma, alvus dei (WA 40,3; 386,11 f).« A. Beutel, a. a. O., S.447. A. Beutel, a. a. O., S.447. A. Beutel, a. a. O., S.446. Nähere Angaben in A. Beutel, Erfahrbare Bibel. Verständnis und Gebrauch des verbum dei scriptum bei Luther (1992) und A. Beutel, Protestantische Konkretionen. Studien zur Kirchengeschichte, 1998, S. 66 – 103, sowie Th. Kaufmann, Vorreformatorische Laienbibel und reformatorisches Evangelium (ZThK 101, 2004, S. 138 – 174). A. Beutel, a. a. O., S.446. G. Ebeling, Luther und die Bibel, in: G. Ebeling, Lutherstudien, Bd 1, 1971, S. 286 – 301, hier S.293. M. Luther, WA 42; 334, 12 bei Th. Kaufmann, Martin Luther, München 20102, S. 118. Martinus Luther Augustinensis Johannis Reuchlin Phorcensi, 14. Dezember 1518, WA Briefe, Bd 1, Nr. 120, S. 268 f. Belege bei B. Mahlmann-Bauer, Johannes Reuchlin und die Reformation, in: W. Kühlmann
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»Durch die geöffneten Pforten des Paradieses«
einem Schreiben die Gemeinsamkeit freien humanistischen Forschens zur Verteidigung Reuchlins betont, sonst müsste man nämlich fürchten, »diese Inquisitoren möchten nach Belieben verfahren … und die Rechtgläubigen für Ketzer erklären.«342 Auch über die Arbeitsbedingungen und -grundlagen sowie Textausgaben, die Luther, frei von allen Glossen der Scholastik benutzte, wissen wir, dass er sich der neusten Hilfsmittel der humanistischen Philologie bediente, »eines Psalterkompendiums des französischen Humanisten LefÀvre d’Êtaples, Reuchlins Einführung ins Hebräische ›De rudimentis hebraicis‹ von 1506, und natürlich … 1516 auch der von Erasmus edierten … Ausgaben des Neuen Testaments in griechischer Originalfassung mit neuer lateinischer Übersetzung.«343 Ein Schlüsseltext für Luther dürfte aber Reuchlins Schrift De verbo mirifico von 1494 sein. Hier geht es in kabbalistischer Tradition mit den jüdischen Mystikern um die Verbindung zwischen Gott und dem Menschen »durch ein wunderbares Wort.«344 Das Kreuz Christi ist zu guter Letzt das Symbol dieses wunderbaren Namens und bleibt doch das größte Geheimnis: »Deus amor est, homo spes est, vinculum utriusque fides est. Poterunt autem inenarrabili unione conjungi, ut unus idemque et humanus deus et divinus homo censendus sit.«345 Die Verbindung zwischen Luther und Reuchlin hat erstmals E. Bizer wieder angesprochen: »Reuchlin kommt es (De verbo mirifico) darauf an, die Wunderkraft des Namens Jesus zu erweisen, in dem das Tetragramm aussprechbar und bekanntgeworden ist … ja er ist Gott selber und unser Heil.«346 Und er fasst zusammen: »Nicht seine ›Entdeckung‹ verdankt er Reuchlin, wohl aber die theologische Ausgestaltung, die er ihr gegeben hat.«347 Von daher verständlich wird Luthers Rede von der »iustitia audita, die als aliena iustitia … durch den Glauben die unsere wird; sie sieht vom Himmel herab und kommt zu uns und muß nicht von uns hinaufgetragen werden.«348
342 343 344 345
346 347 348
(Hg.), Reuchlins Freunde und Gegner, Kommunikative Konstellationen eines frühneuzeitlichen Medienereignisses, Pforzheimer Reuchlinschriften Bd. 12, Ostfildern 2012, S. 155 – 191, hier S. 174. Zitat bei H. Schilling, a. a. O., S. 132 bzw 648: WB I, Nr. 6. H. Schilling, a. a. O., S. 145. Eine schöne Nacherzählung gibt bereits L. Geiger, Johannes Reuchlin, Sein Leben und sein Werk, Leipzig 1871, Nachdruck Nieuwkoop 1964, S. 179 – 184. L. Geiger, a. a. O., S. 180 fasst dies genial einfach zusammen: »Das Band zwischen Gott und dem Menschen sei der Glaube, Gott, die Liebe, der Mensch, die Hoffnung. Gott sei unendlich, der Mensch endlich, doch können beide Naturen verbunden werden. Diese Verbindung geschieht durch ein wunderbares Wort.« E. Bizer, Fides ex auditu, Eine Untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther, Neukirchen-Vulyn 1966 3, S. 157. E. Bizer, a. a. O., S. 157 zu Luthers Galaterkommentar. E. Bizer, a. a. O., S. 158, dort auch der Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium, a. a. O., S. 164. Vgl. auch M. Josuttis, Kraft durch Glauben, Biblische, therapeutische und esoterische Impulse für die Seelsorge, Gütersloh 2008, S. 145 f. betont die »Kraft Gottes« im leiblichen Dasein des Menschen.
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»Hat Luther ›zuerst das Sakrament von der Predigt aus angesehen, so sieht er jetzt die Predigt vom Sakrament aus an und begründet ihren besonderen Charakter wieder mit Röm 1,17.‹«349 Mit der Predigt des Evangeliums (viva vox evangelii) ist dieses »wunderbare Wort« im Sinne Reuchlins gemeint, das Neuschöpfung bewirkt. »Indem Bizer diese Doppelheit betont, ›das Sakrament wird von Wort aus verstanden, das Wort bekommt sakramentalen Charakter‹,350 hat er nicht nur Luther Verständnis von Röm 1,17 herausgearbeitet ›im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart, das heißt, sie wird durch das Wort geschenkt,‹351 sondern kann auch helfen, aus reformatorischer Sicht den Blick neu für paulinische Theologie zu schärfen, in der räumlich verstandene Taufaussagen (en Christoo) und Grundlagensätze seiner Rechtfertigungslehre (dikaiosyne theou) in der Weise aufeinander zu beziehen sind, dass die spätere Rechtfertigungsverkündigung die Entfaltung der vor- und frühpaulinischen Tauftheologie darstellt. Das Evangelium als dynamis theou (Röm 1,16 f) ist schon bei Paulus sakramental begründet in der Taufe eis Christon (Röm 6) und immer räumlich verstanden als Macht Gottes, die menschliches Leben neu schafft als ›Sein in Christus‹«.352
3.2
Die Freiheit eines Christenmenschen im Wort Gottes
Bereits 1520 kann Luther hinsichtlich des Wortes Gottes formulieren: »So müssen wir nun gewiß sein, dass die Seele alle Dinge entbehren kann, ausgenommen das Wort Gottes, und ohne das Wort Gottes ist ihr mit keinem Ding geholfen. […] Fragst du aber: Was ist denn das Wort, das so große Gnade gibt, und wie soll ich es gebrauchen?, dann lautet die Antwort: Es ist nichts anderes als die von Christus geschehene Predigt, wie sie das Evangelium enthält.[…] Du sollst dich in ihn mit festem Glauben ergeben und frisch auf ihn vertrauen.«353
Aber bis zur Erfahrung dieser Freiheit war es ein langer Weg. Luthers Konversion zum Mönchtum geschah, auch wenn die Motive »naturgemäß schwer rekon349 H. Umbach, a. a. O., S. 337. 350 E. Bizer, a. a. O., S.160. 351 E. Bizer, a. a. O., S. 160. Vgl. M. Luther WA 9, 313 (1520), These 8: »Imo quot sunt verba Dei, tot fere sunt sacramenta, quae fidem excitant, etiam signum desit.« Vgl. dazu auch J. Ringleben, Gott im Wort, Luthers Theologie von der Sprache her, Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, Band 57, hg. von P. Landbühler, I. U. Dalferth, Chr. Landmesser, M. M. Mitchell, Tübingen 2010, zur Allgemeinheit und Öffentlichkeit des mündlichen Wortes des Evangeliums, S. 406 f. 352 H. Umbach, a. a. O., S. 337. 353 M. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520), WA 7, 22 – 3, 23; II, 1, 240 f, vgl. D. Korsch, a. a. O., S.44.
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»Durch die geöffneten Pforten des Paradieses«
struierbar sind«354 aus Todesangst.355 »Die Begegnung mit dem Allzerschmetterer, der nach seinem Leben gegriffen hatte, ließ ihm die Hingabe seines eigenen Lebens als angemessenen Tribut erscheinen. Selbstopfer des eigenen Lebens aber bedeutete unter den religionskulturellen Bedingungen der Zeit, Mönch zu werden.«356 Vor diesem Hintergrund ist es müßig, lediglich psychologische Gründe in Luthers innerer Disposition für diese Entscheidung »des krisenerschütterten Adoleszenten«357 zu suchen (eine vom Vater geplante reiche Heirat, etc.). Allein »der Zusammenklang von Äußerem und Innerem, der lebensbedrohlichen Ohnmachtserfahrung und ihrer religiösen Deutung, machte das Erlebnis zu einer biographischen Wende.«358 Hinter den Klostermauern wollte Luther seine bisherige Existenz aufgeben und so »dem Vernichtungsurteil des in Blitz und Donner hereinbrechenden Allmächtigen«359 entsprechen. Der Raum der klösterlichen Existenz bedeutete für ihn: »Luther trug seine Verzweiflung über sein bisheriges und seine Hoffnung auf ein neues Leben an die Kirche heran und in die Kirche hinein.«360 Priesterweihe, Studium der Theologie in Erfurt, Romreise sind Stationen; Doktorgrad, theologischer Lehrstuhl, freiwillige Übernahme einer regelmäßigen Predigtverpflichtung sind die neuen Institutionen: »Katheder und Kanzel bildeten fortan die institutionelle Basis für Luthers Tätigkeit und für das öffentliche Wirksamwerden seiner theologischen Einsichten.«361 Aber inhaltlich muss präzisiert werden: Seine Vorlesungen und Schriftauslegungen gelten als »Schlüssel für die Frage nach Inhalt und Zeitpunkt einer sogenannten reformatorischen ›Wende‹.«362 Auch wenn die Forschungsdiskussion, die von dem Bemühen geprägt war, Hinweise aus Luthers späteren biographischen Rückblicken, anhand seiner Vorlesungen nachzuvollziehen, bisher zu keinen völlig eindeutigen Ergebnissen geführt haben mag, lässt sich doch positiv aus Luthers Selbstdeutung von 1545 festhalten, dass der entscheidende Durchbruch »ein persönliches Erkenntniserlebnis im Zusammenhang mit der Auslegung des Begriffs der Gerechtigkeit Gottes (iustitia dei) in Röm 1,17«363 war.364 Es war eine 354 Th. Kaufmann, a. a. O., S.32. 355 »Die Erfahrung der in einem überwältigenden Naturereignis begegnenden transzendenten göttlichen Macht führte Luther die Schutzlosigkeit seines eigenen Lebens vor Augen und bekehrte ihn, ähnlich wie Paulus vor Damaskus widerfahrenden Begebenheit (Apg 9,3; 22,6; 26,13), durch Furcht und Schrecken.« Th. Kaufmann, a. a. O., S.33. 356 Th. Kaufmann, a. a. O., S.33. 357 Th. Kaufmann, a. a. O., S.33. 358 Th. Kaufmann, a. a. O., S.33. 359 Th. Kaufmann, a. a. O., S.33. 360 Th. Kaufmann, a. a. O., S.33. 361 Th. Kaufmann, a. a. O., S.37 f. Hier ist Kaufmann präziser als Korsch, s. o., auch was die Orte der Wirksamkeit betrifft. 362 Th. Kaufmann, a. a. O., S.38. 363 Th. Kaufmann, a. a. O., S.39.
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religiöse Erfahrung! In der Römerbriefvorlesung »deutet dann Luther Röm 1,17 im Sinn der neuen Erkenntnis. Nun hat er auch schon in Augustins Schrift De spiritu et littera seine Erkenntnis bestätigt gefunden.«365 Die Namensänderung von ›Luder‹ zu ›Luther‹ (s. o.) dürfte eine erste öffentliche Stellungnahme dazu sein.366 Aber auch seine Entdeckung, dass Jan Hus kein Häretiker war, sondern auf seiner Seite stand, fällt in diesen Zusammenhang.367 »Für das theologische Programm ›mit Paulus und Augustin gegen die Scholastik‹ konnte Luther in Wittenberg Anhänger gewinnen.«368
3.3
»Heilig in Christus« – Kirche als Raum und Kommunikation der »Freiheit in Christus«
Vor diesem Hintergrund ist W. Huber zuzustimmen: »Das Ergebnis der reformatorischen Betrachtung der Freiheit aus der Perspektive der Rechtfertigungslehre besteht also nicht darin, die Freiheit des Menschen zu leugnen, sondern ihren Charakter als bedingte Freiheit radikal zu deuten, also an der Wurzel zu fassen.«369 Wenn nach Luthers Entdeckung Gott in Christus, in seinem Wort des Evangeliums als der in Freiheit Liebende und Befreiende dem Menschen gnädig entgegenkommt und dem Menschen nichts bleibt, als diesem Evangelium als einer Gotteskraft (Röm 1,16 f) zu vertrauen, dann begründet dies ein Verständnis von »Freiheit als kommunikative[r] Freiheit.«370 Nur so ergibt sich eine Voraussetzung evangelischer Ekklesiologie. »Der christliche Glaube dagegen versteht Freiheit in Kategorien der Gemeinschaft.«371 Diese Gemeinschaft »in Christus« ist aber die Gemeinschaft der Kirche! »Luther bringt dies in seinem Freiheitstraktat darin zum Ausdruck, dass er die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft neu fasst. Freiheit gehört nicht mehr auf die Seite der Herrschaft, sondern umfasst beide Pole: Der Christ ist zugleich ein freier Herr und dienstbarer Knecht, zugleich niemandem und jedermann untertan.«372 364 »Weder an der Eindrücklichkeit des Erlebnisses noch an der zentralen Bedeutung dieser Einsicht noch daran, daß sie Luther zu einem bestimmten, nicht exakt datierbaren Zeitpunkt aufgegangen ist, muß grundsätzlich gezweifelt werden.« Th. Kaufmann, a. a. O., S.39. 365 R. Schwarz, Luther, Göttingen 20043, S.43. 366 B. Möller, K. Strackmann, Luder, Luther, Eleuterius. Erwägungen zu Luthers Namen. NAWG I.7, 1981. 367 Ebenso die Entdeckung und Wertschätzung Taulers, vgl. R. Schwarz, a. a. O., S.53. 368 R. Schwarz, a. a. O., S.48. 369 W. Huber, a. a. O., S.105. 370 W. Huber, a. a. O., S.64. 371 W. Huber, a. a. O., S. 64. 372 W. Huber, a. a. O., S. 64.
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»Durch die geöffneten Pforten des Paradieses«
Wenn aber die christliche Freiheit den »geschenkte [n] Nachvollzug der Existenz Jesu, der als Herr Knecht und zugleich als Knecht Herr ist«373 bedeutet, ist das nicht auf eine reine Innerlichkeit begrenzt zu verstehen, sondern hat, wie am Beispiel Martin Luthers phänomenologisch gezeigt wurde, kommunikative und soziale Konsequenzen. Das heißt: Wenn seit der Reformation Ekklesiologie christologisch begründet und im Wort des Evangeliums zugesprochen wird, bedeutet dies, dass Freiheit immer als »kommunikative Freiheit«374 zu beschreiben ist. Das hat nicht nur ekklesiologische, sondern auch anthropologische Folgen. Wenn Paulus sagt (Gal 2,20): »Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben«, ist dies – phänomenologisch gesehen – die religiös, d. h. christologisch begründete, phänomenologisch zu begreifende Freiheit des neuen »Seins in Christus« (2 Kor 5,17). Das Evangelium als befreiendes Wort Gottes wirkt so als ›dynamis theou‹, die gnadenhaft aus der Macht des Heiligen erscheint, ergreift und verwandelt.
373 W. Huber, a. a. O., S. 64. 374 W. Huber, a. a. O., S. 64.
7.
»VIVA VOX EVANGELII«. Zentrale Aussagen Martin Luthers zu Gottesdienst und Kirchengebäuden als Folge der reformatorischen Rückbesinnung auf das rechtfertigende Wort Gottes als ›articulus stantis et cadentis ecclesiæ‹.375
1.
Die Verkündigung des Evangeliums als lebendiges Wort Gottes »Evangelium aber heißt nichts anderes, denn eine Predigt und Geschrei von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes … und ist eigentlich nicht das, das in Büchern steht und in Buchstaben verfaßt wird, sondern mehr eine mündliche Predigt und lebendiges Wort und eine Stimme, die da in die ganze Welt erschallt und öffentlich wird ausgeschrien, daß man’s überall hört«.376
Mit diesen Worten von 1523 beschreibt Martin Luther in Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen, durch die Scholasitik geprägten Theologie und in Abwehr des Ablasswesens seiner Zeit zentrale Aussagen des Neuen Testaments und der Christologie neu: Gottes Gerechtigkeit ist nicht allein und in erster Linie die Eigenschaft Gottes, mit der er gerecht richtet, indem er die Guten belohnt und die Bösen bestraft, sondern Gerechtigkeit Gottes bezeichnet im Neuen Testament, besonders bei Paulus die Gerechtigkeit, mit der Gott den Gottlosen gerecht spricht, d. h. macht. Deshalb ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden. »Solus Christus« wird so zum Ausgangswort einer nötig gewordenen Zentrierung in einer Zeit, in der die religiöse Sehnsucht nach dem ewigen Heil durch gute Werke nicht beantwortet wurde, sondern allein »sola fide«, im Vertrauen aus Christus geschenkt wird. »Sola gratia« geschieht diese Rechtfertigung, allein als Geschenk des liebenden Gottes. Und »sola scriptura« lautet nun 375 Vortrag zum First International Workshop »PROTESTANT CHURCH ARCHITECTURE OF THE 16TH – 18TH CENTURIES IN EUROPE« im Forschungszentrum der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Wien, 28.11. – 2. 12. 2013. 376 M. Luther, Epistel Sanct Petri gepredigt und ausgelegt. Erste Bearbeitung 1523, WA 12, Weimar 1891, S. 259, vgl. auch dazu auch J. Ringleben, Gott im Wort, Luthers Theologie von der Sprache her, Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, Band 57, Hg. von P. Landbühler, I. U. Dalferth, Chr. Landmesser, M. M. Mitchell, Tübingen 2010: Das Wort »Geschrei« bringt »zum Ausdruck, dass es sich bei der Evangeliumsverkündigung um ein prinzipiell öffentliches Ereignis handelt, das sich – auffällig – seine Adressaten und Hörer sucht«, a. a. O., S. 406 f.
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»VIVA VOX EVANGELII«
das Prinzip, an dem die Reformatoren die Traditionen der Kirchengeschichte messen. Auf diese Weise ist die Rechtfertigungslehre nun der Artikel, auf dem die Kirche steht und fällt. Dies Evangelium als »Predigt und Geschrei von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes« ist »eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben«, so hat es Luther bei Paulus neu gelernt. Diese »viva vox evangelii« beansprucht universale Geltung (Röm 1,16 f). Vor diesem kurz skizierten reformatorischen Hintergrund sollen nun zunächst Luthers Aussagen zu Kirchenbau, Kirchennutzung, Bewertung der sog. »Prinzipalstücke« etc. zusammengestellt und untersucht werden. Damit wird deutlich, wie Luther sich den konkreten Gottesdienst konkreter Menschen an konkreten Orten dachte und wünschte. In einem zweiten Schritt soll anhand von Luthers Taufbüchlein die Verbindung von Raum und Ritual vertiefend untersucht werden. Darauf baut in einem dritten Schritt Luthers Sicht des »Sakraments des Altars« auf. Auch hier wird deutlich, dass er den traditionellen Terminus »Altar« beibehält. Die Gründe dafür sollen in diesem Zusammenhang erörtert werden. Das dürfte zu einem abschließenden Ergebnis führen, welches Luthers Verständnis der Sakramentalität des »Wortes Gottes« noch einmal verdeutlicht und zusammenfasst.
2.
Luthers Aussagen zu Kirchengebäuden, ihrer Nutzung und Ausgestaltung
Hat Luther in Kirchen Gottesdienst gehalten oder nicht? Wo hat er das Abendmahl gefeiert? Welche Bedeutung hat für ihn der Altar, haben für ihn die Bilder? Was steht auf dem Altar bzw. liegt darauf ? Gibt es Altarbilder? Wo steht der Liturg? In einzelnen Schritten werden hier diese praktischen Fragen vor seinem neu gewonnenen theologischen Hintergrund dargestellt.
2.1
Altar, Orgel und Gesang sind zum rechten Gottesdienst nicht notwendig (1522)
Wie predigt Martin Luther das Evangelium? In der Kirchenpostille von 1522 ist eine Predigt Luthers »in der Christnacht« zu Tit 2,11 – 15 überliefert, die sich erstmals ausführlicher kritisch mit dem zeitgenössischen »Kircheninventar« auseinandersetzt. Die wesentliche Passage sei hier wörtlich wiedergegeben:
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»Sihe, alßo foddert gott nit von dyr kirchen pawen, wallen, stifften, meßhören, diß oder das, Szondernn eyn solchs hertz und leben, das ynn seynen gnaden geht und sich furcht fur andernn wegen und leben, die außer der gnaden gahn. […] Sihe, das ist der rechte gottis dienst, datzu man keyner glocken, keyner kirchen, keyneß gefeß noch zyerd, keyner lichte noch kertzen, keyner orgelln noch gesang, keyniß gemelds noch bildiß, keyner taffellnn noch altar, keyner blatten noch kappen, keynis reuchernn noch bsprengen, keyner proceß noch creutzgangs, keiniß ablaß noch brieffs bedarff. Denn das sind alliß menschen fundle und auffsetz, die gott nit acht, und den rechten gottisdienst mit yhrem gleyssen vordunckeln. Es darff nur eynerley, des Evangeli, das man das wol treybe, und darauß solchen gottis dienst dem volck bekand mache, das ist die rechte glock und orgelln tzu dießem gottis dienst.«377
Was schenkt Gott? – Das Evangelium! Was fordert Gott? »Ein Herz und Leben, das in seinen Gnaden geht«. Was damit gemeint ist, wird – vor dem Hintergrund Tit 2,11 – 15 – seelsorgerlich erläutert: »Drumb wollen wyr, ßo gott gnade gibt, die Evangelia auch der massen handellnn, das wyr nit alleyn unßer seelen drynnen weyden, sondern auch die selben alß eynen harnisch leren anthun und damit fechten wider alle feynde, auff das wyr mit weyde un wapen gerust seyn. Zum ersten leret S. Paulus ynn dißer Epiteln, in was Titus und eyn iglicher prediger dem volck predigen sol: Nemlich Christum und nichts anders, das das volck erkenne, was Christus sey, warumb er kummen sey, und was er uns fur frucht geschafft hatt, und spricht: Es ist erschienen die gnad gottis, […], das ist, sie ist offenbart und vorklere.«378
Wie aber treibt man das Evangelium? Wie wird dieser Gottesdienst gestaltet? Die Antwort wird hier deutlich gegeben: »Was ist das Evangelium anders, denn die predigt, das Christus hab sich selb geben fur unß, das er uns erlößet von sunden, das alle, die das glewben, sollen gewißlich auch ßo erlöset seyn. Und alßo an yhn selbs vortzweiffelln, sich nur alleyn an Christo hallten und auff yhn vorlassen; wilchs ist gar eyn liepliche, trostliche rede, geht auch wohl eyn ynn solch an yhn selb vortzagte hertzen. Drumb heyst Evangelium auff deutsch eyn susse, gutte, gnedige bottschaft, die eyn betrubt, erschrocken hertz erfrewet und erhebt.«379
1522 betont Luther noch – ganz zentral – das Evangelium als die »süße, gute, gnädige Botschaft, die als liebliche, tröstliche Rede wohl eingeht in solche an sich selbst verzagte Herzen«380, es ist eine Botschaft, die ein betrübtes, erschrockenes Herz erfreut und erhebt. Dem soll der Mensch nur Glauben schenken: In Christus, der sich selbst für ihn gegeben hat, dass er ihn erlöst von aller Unge377 M. Luther, Kirchenpostille (1522), Epistel Messe in der Christnacht. Tit 2,11 – 15, WA 10 I/1, Weimar 1910, S. 18 – 58, hier S. 38 f. 378 M. Luther, Kirchenpostille, S. 19. 379 M. Luther, Kirchenpostille, S. 47. 380 M. Luther, Kirchenpostille, S. 47.
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rechtigkeit und macht ihn rein zu einem eigen Erbe. Du »mußt Natur, Vernunft, Kunst und freien Willen lassen nichts sein, sonst würdest du das Evangelium Lügen strafen.«381 Gott wirkt durch die Predigt des Evangeliums, der Mensch hat dies rein passiv im Hören zu empfangen und ihm Glauben zu schenken! Der »viva vox evangelii« enspricht die »fides ex auditu«.
2.2
Bilder, Kerzen, Kruzifix, Altarraum
Wo predigt Martin Luther das Evangelium? Zunächst in den traditionellen Kirchenräumen seiner Zeit! Und obwohl er Altar, Orgel und Gesang neben der Predigt als zum rechten Gottesdienst nicht notwendig erachtet, benutzt er den Altar zum Abendmahl (und auch zur Trauung). Nach 1522 findet allerdings ein Wechsel statt von der reinen Ablehnung des Altars bzw. der Altarbilder hin zur Betonung ihres pädagogischen Nutzens: »die bildniß haben ettlich schendlich gehandelt on wissen unnd willen bey yhrer ubirkeytten unnd lerer, die wol eyner guten straff werd weren. Aber laß Satanam Satanas seyn und uns tzur sache reden. Bildniß haben ist nicht unrecht, hatt doch gott selbs ym alten testament die ehern schlange heyssen auffrichten unnd die Cherubin an der gulden archen. Aber bildniß anbeten hatt gott vorpotten, war ists, das sie ferlich sind, und ich wollt, es weren keyne auff den altaren. […] Darumb mussen wyr weyßlich kegen den hübschen teuffell fechten und tzulassen die bildniß, aber starcklich predigen nicht alleyne widden dißen mißbrauch oder diße fare, das man sie anbetet, wilchs die geringst ist (unnd sie woll sagen sollten, du werist unsynnig, das du yhn schuld gibst, sie beten steynn und holtz an), ßondernn widder den hewbt mißbrauch, des die Papisten voll sticken. Nemlich das sie darumb bild ynn kirchen setzen, das sie meynen eyn gutt werck unnd gott eynen dienst da mit zu thun, wie wol yhr keyner auch solchen unglawben bekennen wirtt, ob er wol ym hertzenn seyn musß, wo der recht Christenn glawbe nicht ist.«382
Hier wird bereits der theologische Maßstab gesetzt: »sie meinen ein gutes Werk und Gott einen Dienst damit zu tun.«383 Luthers Ziel ist hier nicht die Vernichtung der Bilder, sondern dass »der gemeine Mann weiß, daß es nicht ein Gottesdienst ist, Bildnisse zu setzen.«384 Wenn er dies weiß, darf er sie »von Lust wegen oder um Schmucks willen an die Wände malen.«385 Aber »Bildnisse an381 M. Luther, Kirchenpostille, S. 47. 382 M. Luther, Von beider Gestalt des Sakraments zu nehmen (1522), WA 10/2, Weimar 1907, S. 1 – 41, hier S. 33 f. 383 M. Luther, Gestalt, S. 34. 384 M. Luther, Gestalt, S. 34. 385 M. Luther, Gestalt, S. 34.
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beten hat Gott verboten«, deshalb spricht sich Luther gegen ihren Platz auf dem Altar aus: »ich wollt, es wären keine auf den Altären.«386 Aus den Predigten des Jahres 1533 sind dann weiter modifizierte Einstellungen Luthers zu den Bildern zu entnehmen: »Darumb ist dies das aller sicherste, wer da will recht faren und nicht anlauffen, das er nur bleibe bey den worten und die selben jm einfeltiglich einbilde, auffs beste er kan. Dem nach pflegt mans auch also an die wende zu malen, wie er hinunter feret mit einer Chorkappen und mit einer fahnen jnn der hand, für die Helle kompt und da mit den Teuffel schlegt und verjagt, die Helle stürmet und die seinen eraus holet, Wie man auch jnn der Oster nacht ein spiel für die kinder getrieben hat, Und gefellet mir wol, das mans also den einfeltigen für malet, spielet, singet oder sagt, Und sols auch da bey bleiben lassen, das man nicht viel mit hohen, spitzigen gedancken sich bekomere, wie es möge zu gangen sein, weil es ja nicht leiblich geschehen ist, sintemal er die drey tage ja im grabe ist blieben. […] Also ist viel weniger mit worten odder gedancken zu fassen, wie er zur Helle gefaren ist, Sondern weil wir ja müssen gedancken und bilde fassen des, das uns jnn worten fürgetragenn wird, und nichts on bilde dencken noch verstehen können, So ist fein und recht, das mans dem wort nach ansehe, wie mans malet, das er mit der fahn hinunter feret, die Helle pforten zu bricht und zu storet, und sollen die hohen unverstendlichen gedancken anstehen lassen.«387
Luther wehrt sich hier gegen ein rein »gedanklich« aufgenommenes Osterzeugnis, vielmehr gehört zum Christuszeugnis das »Malen, Spielen, Singen, Sagen«, »nicht viel mit hohen spitzigen Gedanken«, weil wir »nichts ohne Bilder denken oder verstehen können.«388 Das Bild wird vom Wort abgeleitet und durch diese »Bilder« wird das Wort »gemalt« und der Glaube im Herzen bestärkt: Der Glaube des Menschen besteht darin, dass er sich dies »mit großen Buchstaben ins Herz schreibe, nichts anderes sehe, höre, denke noch wisse, denn diesen Artikel« und »so einbilde, daß er sich ganz drein stecke« und immer »Herz und Mund voll hat.«389 Hier gelangt Luther zu einen übergeordneten Begriff von »Bildung«, der den ganzen Menschen betrifft: Wenn früher, wie Luther sagt, die Osternacht als »ein Spiel für die Kinder« aufgeführt wurde – der Brauch gehört hier wohl schon der Vergangenheit an – so gilt dies auch für die Predigt und die Kunst insgesamt: die Worte sollen den Menschen »einfältiglich eingebildet«390 werden. 386 M. Luther, Gestalt, S. 33. 387 M. Luther, Die dritte Predigt auf den Ostertag (1533), WA 37, Weimar 1916, S. 1 – 67, hier S. 63. 388 M. Luther, dritte Predigt, S. 63 389 M. Luther, dritte Predigt, S. 67. 390 M. Luther, dritte Predigt, S. 63.
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Aus diesen »sinnlichen« Gründen lässt Luther auch das Kruzifix zu und wendet sich gegen die Bilderstürmer : Bilder aus pädagogischen Gründen werden sogar von den Bilderstürmern in Luthers verdeutschter Bibel gelesen und gesehen, Luther weitet dieses Argument auf die Bilder in den Räumen aus: »Auch hab ich die bildstürmer selbst sehen und hören lesen aus meyner verdeutschten Bibel, So weys ist auch, das sie die selbigen haben, lesen draus, wie man wol spurt an den wortten, die sie furen, Nu sind gar viel bilder ynn den selbigen büchern, beyde Gottes, der engel, menschen und thiere, sonderlich ynn der offinbarunge Joannis und ym Mose und Josua. So bitten wyr sie nu gar freuntlich, wollten uns doch auch gonnen zu thun, das sie selber thun, das wyr auch solche bilder mügen an die wende malen umb gedechtnis und besser verstands willen, […] So weys ich auch gewiss, das Gott will haben, man solle seyne werck hören und lesen, sonderlich das leyden Christi. Soll ichs aber hören odder gedencken, so ist myrs unmüglich, das ich nicht ynn meym hertzen sollt bilde davon machen, denn ich wolle, odder wolle nicht, wenn ich Christum hore, so entwirfft sich ynn meym herzten eyn mans bilde, das am creutze henget gleich als sich meyn antlitz naturlich entwirfft yns wasser, wenn ich dreyn sehe, Ists nu nicht sunde sondern gut, das ich Christus bilde ym hertzen habe, Warumb sollts sunde seyn, wenn ichs ynn augen habe? syntemal das herzte mehr gillt den die augen und weniger soll mit sunden befleckt seyn denn die augen, als das da ist der rechte sitz und wonung Gottes.«391
Bilder aus der Heiligen Schrift in Büchern oder an Wänden geben, recht verstanden, Zeugnis von den Werken Gottes: »Gott will haben, man solle seine Werke hören und lesen, sonderlich die Leiden Christi.«392 Entscheidend ist für Luther, dass die Herzen davon angerührt werden: »wenn ich Christum höre, so entwirft sich in meinem Herzen eines Mannes Bild, der am Kreuze hängt, gleich als sich mein Antlitz natürlich entwirft im Wasser, wenn ich hineinsehe.«393 Deshalb gilt: »es ist nicht Sünde, sondern gut, daß ich Christi Bild im Herzen habe. Warum sollte es Sünde sein, wenn ich ihn in den Augen habe, zumal das Herz mehr gilt als die Augen […] Das Herz aber ist der rechte Sitz und die Wohnung Gottes.«394 Man kann hier erkennen, dass Luther das gehörte Wort nicht gegen das gesehene Bild ausspielt, im Gegenteil: Beides will die Herzen, das Innerste des Menschen erreichen. Hier soll »Gott wohnen«. Zwischen »außen« und »innen« findet aber, das zeigt die Schrift insgesamt, eine Wechselwirkung statt. Es wird deutlich, dass »Wort« und »Bild« für Luther keine Gegensätze sind: beide wollen im Herzen »Christus abbilden«, dem Evangelium dienen und so das 391 M. Luther, Wider den himmlischen Propheten, von den bildern und Sakrament (1525), WA 18, Weimar 1908, S. 37 – 214, hier S. 82 f. 392 M. Luther, Propheten, S. 83. 393 M. Luther, Propheten, S. 83. 394 M. Luther, Propheten, S. 83.
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menschliche Herz zu Gottes Wohnung machen. Ja, man kann diese Texte als erste reformatorische Zeugen für einen religionspädagogischen Ansatz des »Einprägens« des Evangeliums lesen, der erst viel später phänomenologisch voll durchdacht wurde. Im theologischen Zentrum des Gottesdienstes wird christologisch und anthropologisch argumentiert.
2.3
Kirchenraum und Chorraum
Für den Kirchenraum bedeutet dies: Der traditionelle, erhöhte Chorraum wird von Luther nicht beseitigt, sondern genutzt. Aus praktischen und pädagogischen Gründen eignet er sich für die Kommunikanten: Ein vorhandener Brauch wird (neu) gedeutet: »Deinde ubi Missa celebratur, convenit, ut communicaturi seorsum uno loco et una turba constent. Ad hoc enim repertum est altare, repertus est et Chorus. Non quod apud deum aliquid sit, hic vel hie stetisse, aut quiquam fidei hinc accedat, sed quod oporteat eos palam videri et nosci tam ab iis, qui communicant, quam iis, qui non communicant, quo deinde eorum vita quoque melius videri et probari et prodi possit. Nam huius communio caenae est pars confessionis, qua coram deo, angelis et hominibus sese confitentur esse Christianos.«395
Diese »communio cenae« ist eine »pars confessionis« die »coram deo, angelos et hominibus«396 geschieht. Hier wird deutlich, dass Luther vorhandene Kirchengebäude, bestehende Räumlichkeiten in den Gebäuden nicht beseitigt, sondern für Wort, Sakrament, Bekenntnis und Versammlung der Gläubigen nutzt. Der Raum des »Herzens« in den Gläubigen und der Raum der Kirche um die Gläubigen respondieren im Bekenntnis des Evangeliums!
2.4
Die Stellung des Liturgen beim Abendmahl
Im Jahr 1522 war schon in Basel und Pforzheim mit deutschen Messen begonnen worden. Ostern 1523 hatte sie Thomas Müntzer in Allstedt eingeführt. 1524 war Nürnberg gefolgt, dann Reutlingen, Wertheim, Königsberg und Straßburg. Luther zögerte noch. 1526 folgt seine »Deutsche Messe«. Unter der Überschrift: »Des Sontags fur die leyen« beginnt seine Anweisung: »Da lassen wyr die Messegewand, altar, liechter noch bleyben, bis sie alle werden odder uns gefellet zu endern; wer aber hie anders wil faren, lassen wyr geschehen. Aber ynn 395 M. Luther, Formula Missae et communionis (1523), WA 12, Weimar 1891, S. 197 – 220, hier S. 216. 396 M. Luther, Formula Missae, S. 216.
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der rechten Messe unter eyttel christen muste der altar nicht so bleyben und der priester sich ymer zum volck kehren, wie on zweyffel Christus ym abendmahl gethan hat. Nu, das erharre seyner zeyt.«397
Dieser Beleg und der Zeitpunkt (1526) zeigen mehreres auf: 1. Luther kommt es nicht auf eine schnelle äußerliche Änderung an. Wenn jetzt in deutscher Sprache Messe gefeiert wird, wird am äußeren Bild »für die leyen« nichts geändert. 2. Die neue Abendmahlslehre (s. u.) macht den Altar nicht mehr zur »Opferstätte«, sondern – neutestamentlich – zum Tisch des Herrenmahls. Nach den hier zitierten Worten wäre nun der Altar ohne Retabel und Aufbau gewesen, so dass der Pfarrer hinter ihm, der Gemeinde zugewandt, stehen konnte. De facto gibt es aber weiterhin Altarbilder. Lucas Cranach d. Ä. z. B. schafft Altarbilder mit Themen aus der Reformation. »Die Predella, der mit der Entstehung des Retabels aufgekommene Unterbau desselben, wird in Schneeberg wie bei fast allen lutherischen Altären von einem Abendmahlsbild eingenommen, das Hauptfeld zeigt die Kreuzigung, seitlich Gethsemane und Ostern, die Rückseite das Jüngste Gericht, der erste Öffnungzustand das von Cranach ins Bild umgesetzte Thema Gesetz und Evangelium.«398 Die Zelebration »versus populum« war hier unmöglich. 3. Dieses »typische« Bildprogramm wirkt traditionsbildend.399 Auch in Torgau wird die Zelebration »zum Volk« später unmöglich durch nachträgliches Anbringen des Retabels des Altars der Dresdner Schlosskapelle. 4. Faktisch benutzten die Lutheraner die überkommenen Altäre, ließen in der Regel die zahlreichen Nebenaltäre ungenutzt, aber bestehen. Die Tischform mit Stellung des Liturgen hinter dem Altar wurde nur in Württemberg eingeführt und üblich.400 2.5
Grundsätzliche Aussagen Luthers zum Kirchengebäude
In der Kirchenpostille von 1522 äußert sich Luther noch grundsätzlich kritisch über den Kirchbau im Zusammenhang der Rechtfertigungslehre:
397 M. Luther, Deutsche Messe und Ordnung Gottesdienst (1526), WA 19, Weimar 1897, S. 44 – 113, hier S. 90, 398 P. Poscharsky, Altar IV, in: TRE 2, Berlin/New York 1978, S. 321 – 324, hier S. 322. 399 »In Wittenberg tritt anstelle dieses fast typisch zu nennenden Programms ein der Sonderheit des Ortes angepaßtes: Predella Predigt (durch Luther), Mitte Abendmahl (mit den Reformatoren), seitlich Taufe (durch Melanchthon) und Beichte (durch Bugenhagen), Rückseite: Christus als Sieger, seitlich Isaaks Opferung und Eherne Schlange«, P. Poscharsky, Altar IV, S. 322. 400 P. Poscharsky, Altar IV, S. 322.
Luthers Aussagen zu Kirchengebäuden
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»Doch soll man diß alßo vorstehen, nitt das es boß sey. Kirchen pawen und stifften, ßondern boß ists, das man drauff fellet unnd vorgist des glawbens unnd der liebe druber, und thutts der meynung, als sey es eyn gutt werck, damit man fur gott vordienen wolle. […] Denn keyn ander ursach ist kirchenn zu bawenn, ßo yhe eyn ursach ist, denn nur, die Christen mugen tzusammenkomen, betten, predigt horen und sacrament emphahen. Und wo dieselb ursach auffhoret, sollt man dieselben kirchen abbrechen, wie man allen andernn hewßeern thutt, wenn sie nymmer nütz sind. Aber itzt will ynn aller wellt eyn yglicher mensch eynn eygenn Capell odder alltar odder yhe eyn meß stifften, keyner ander meynunge, denn das er acht, dadurch selig tzu werden und den hymell tzu keuffen. […] Denn gott hatt nichts von kirchen, ßondern alleyn von den seelen gepotten, wilche seyn rechte eygentliche kirchen sind, davon S. Paulus sagt. 1. Cor. 3: Ihr seyd gottis tempell odder kirchen. Wer aber diße kirchen vorletzt, den wirt gott vortilgen.«401
Über die Frage nach dem rechten bzw. falschen Gebrauch des »Kirchenbauens« kommt Luther zu der zweiten grundsätzlichen Frage: »Wo wohnt Gott«? »Ich acht aber, das man wol wisse, Das des HERRN haus heisse, wo er wonet, Und das er wonet, wo sein wort ist. Es sey auff dem felde, jnn der kirchen, odder auff dem meer, Widderumb, wo sein wort nicht ist, da wonet er nicht, ist auch sein haus nicht da.«402
Gott wohnt da, wo sein Wort ist und wo er sein Wort in Menschen hinein sendet »mit eitel Segen«. 1544 predigt Luther schließlich bei der Einweihung der Schlosskapelle in Torgau: »Kan es nicht geschehen unterm dach oder in der Kirchen, so geschehe es auff eim platz unter dem Himel, und wo raum dazu ist, Wie S. Paulus am Wasser predigte zu Philipis Act. xvj. Und zu Troade (Act. xx.) auff einem Saal, doch das ein ordenliche, gemeinde, ehrliche versamlunge sey, Weil man nicht kan noch sol einem jglichen ein eigen ort und stet bestellen, und sollen nicht heimliche winckel suchen, da man sich verstecke, wie die Widderteuffer pflegen […]. Also sol dies Haus solcher freiheit nach gebawet und geordnet sein für die, so alhie im Schlos und zu Hofe sind, oder die sonst herein gehen wollen, Nicht das man daraus ein sondere Kirchen mache, als were sie besser denn andere heuser, do man Gottes wort predigt, Fiele aber die not fur, das man nicht wolte oder kündte hierin zusamen komen, so möcht man wohl draussen beim Brunnen oder anders wo predigen.«403
Die Predigt und das Gebet, zu dem man zusammenkommt, zeichnen die Kirche als Gebäude aus.
401 M. Luther, Kirchenpostille, S. 252 f. 402 M. Luther, Scholien zum 118. Psalm. Das schöne Confitemini (1529/1530), WA 31/1, Weimar 1913, S. 34 – 182, hier S. 179. 403 M. Luther, Predigten des Jahres 1544 ff., WA 49, Weimar 1913, S. 395 – 587, hier S. 592.
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»Nu mus ja der selbige hauffen etwo einen raum und sein tag oder stunde haben, so den zuhörern bequem sey, Darumb hat es Gott wol geordnet und angericht, das er die heiligen Sacrament eingesetzt, zuhandlen in der Gemeine und an einem ort, da wir zusamen komen, beten und Gotte dancken, Wie denn auch im weltlichen Regiment geschihet, wo etwas, das die Gemeine betrifft, zuhandlen ist. Viel mehr sol es hie geschehen, wo man Gottes wort hören sol.«404
Dazu kommt der Aspekt des »gemeinsamen Raumes« und der »gemeinsamen Zeit«: an einem Ort, an einem Raum, zu einer Stunde trifft sich die Gemeinde zu Wort, Gebet und Sakrament »eintrechtiglich«: »Und ist hie der vorteil dabey, wenn die Christen also zusamen komen, das das Gebet noch einst so starck gehet als sonst, Man kann und sol wol uberal, an allen orten und alle stund beten, Aber das Gebet ist nirgend so krefftig und starck, als wenn der gantze hauffe eintrechtiglich mit einander betet.«405
In der gemeinsamen Versammlung an einem Ort zur gemeinsamen Zeit sind die Gedanken »weniger zerstreuet als sonst«: »das wir miteinander Gottes Wort hören, miteinander Beten und dancken, welches am besten inn der Samlung geschihet, da man allein umb des willen zusamen kompt, und hertz und gedancken weniger zurstrewet sind weder sonst, da ein jeder fur sich selb odder mit andern zuthuen hat, Also und darzu sol auch jtzt dieses Haus geweihet sein, nicht umb sein, sondern umb unsern willen, das wir selb durch Gottes wort geheiligt werden und bleiben, Also das wir dasselbe, so uns Gott gnediglich gegeben, auch helffen erhalten und ausbreiten.«406
Warum wird eine Kirche geweiht? Um der Menschen willen, damit sie »durch Gottes Wort geheiligt werden und bleiben«.407 Gott braucht kein Gebäude um seinetwillen. Die Heiligung der Menschen durch Gottes Wort ist vielmehr das Ziel der Kirchengebäude: Hören, Beten und Danken geschieht am besten »in der Sammlung«, wo »hertz und gedancken« weniger zerstreut sind als sonst. Ja, Luther kann sogar formulieren (zu Gen 28): »Wu Gott redt, do wohnt ehr. Wo das wortt klingt, do ist Gott, do ist sein hauß, und wen ehr auffhoert tzcu reden, ßo ist auch nymmer sein hauß do.«408 Was geschieht also im Kirchengebäude? Wenn dort Gottes Wort verkündet und die Sakramente gespendet werden,409 werden dort Menschen »geheiligt« 404 405 406 407 408 409
M. Luther, Predigten, S. 593. M. Luther, Predigten, S. 593. M. Luther, Predigten, S. 604. M. Luther, Predigten, S. 604. M. Luther, Predigten, S. 604. Zum sakramentalen Charakter des Wortes Gottes vgl. E. Bizer, Fides ex auditu. Eine Untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther, Neukirchen 19663.
Luthers Vorschläge zur Gestaltung der Taufe
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und »bleiben geheiligt«. Hier kann und will der Himmel zur Erde kommen, um Menschen zu ergreifen, zu verwandeln, zu rechtfertigen und zu heiligen.
3.
Luthers Vorschläge zur Gestaltung der Taufe von 1523 und 1526
In der neueren Paulusforschung ist erkannt, dass eine Wort-Theologie der »Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben« keinen Widerspruch zu räumlich-sakramentalem Denken bilden muss. Dieses bildet vielmehr seine Entfaltung. Ist das »In Christus-Sein« bei Paulus räumlich verstanden, so ist die Neuschöpfung verwirklicht: Der Gläubige und Getaufte ist nicht mehr »unter der Macht der Sünde«, sondern »in Christus« (2 Kor 5,17 – 21). Rechtfertigungstheologie ist damit entfaltete Tauftheologie, E. Bizer hat den »sakramentalen« Charakter des Wortes Gottes bei Luther in seiner entscheidenden These herausgearbeitet.410 Damit käme Luther dem paulinischen Verständnis des sakramental begründeten »Neuen Seins in Christus« näher, als lange angenommen wurde (s. u.). Im diesem Zusammenhang höchst hilfreich sind Luthers Aussagen zur liturgischen Gestaltung der Taufe nicht nur hinsichtlich des Ritus, sondern auch hinsichtlich des Raumes, bzw. der Räume, in dem bzw. denen die Taufhandlung stattfindet. In seiner Schrift »Das Taufbüchlein aufs neue zugerichtet«411 finden sich nämlich in zwei Ausgaben – 1523 und 1526 – jeweils zwei unterschiedliche Texte, Gebete, Riten und Räume! Und diese Entwicklung von 1523 bis 1526 und das dahinter liegende Verständnis ist im Protestantismus von entscheidender Bedeutung geworden! Bei Luther findet sich in beiden Ausgaben der für jede Taufe obligate Exorzismus, der die Voraussetzung für den Übergang von dem »alten« in den »neuen« Machtbereich markiert. 1523 wird er vor der Kirchentür praktiziert, 1526 wird er in das Kirchengebäude hinein verlegt.412 Hier erfährt man – sozusagen nebenbei – etwas von der anderen – neuen – Einschätzung der Kirchengebäude: Entscheidend für Luther ist nun nicht das »gebaute« Haus aus Stein, entscheidend ist das menschliche »Herz«: Bevor Christus bzw. der Geist Gottes in den Menschen kommen kann, um in ihm Wohnung zu nehmen bzw. 410 E. Bizer, Fides, S. 178: »Das Sakrament wird vom Wort aus verstanden, und das Wort selbst bekommt sakramentalen Charakter.« 411 M. Luther, Das Taufbüchlein aufs neue zugerichtet (1526), WA 19, Weimar 1897, S. 531 – 541. 412 M. Luther, Taufbüchlein, S. 540: »Danach leite man das Kindlein in die Kirche« (1523). »Danach leite man das Kindlein zur Taufe« (1526). Vgl. dazu auch: H. Umbach, Wie im Himmel so auf Erden. Über Raumträume und Traumräume im Gottesdiesnt, in: Chr. Bizer/ J. Cornelius-Bundschuh/H.-M. Gutmann [Hrsgg.]: Theologisches geschenkt, FS M. Josuttis, Bovenden 1996, S. 63.
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ihn zum Tempel zu machen, muss die Macht der Sünde aus dem Herzen des Menschen weichen. Wie kommt Gott in das menschliche Herz? Durch sein Wort! Die äußerlichen Stücke, »als da ist unter augen blasen, creutze an streichen, saltz ynn den mund geben,«413 sind für Luther sekundär geworden, vielmehr sollen »mit yhm zu Gott ym hertzen sprechen alle paten und die umb her stehen.«414 Der Priester muss langsam und deutlich sprechen, damit die Paten »einmütiglich ym hertzen mit dem priester beten.«415 Durch das Sprechen des Wortes Gottes in deutscher, d. h. verständlicher Sprache, durch das Hören und Mitsprechen der Gebete in verständlichen Worten werden die Herzen aller Beteiligten mit einbezogen. Eltern, Paten, Verwandte werden auf ihren Glauben hin mit beteiligt: »wenn nur die tauff an yhr selbst / mit Gottis wort / richtigem Glawben und ernstem gepett gehandelt wirtt.«416 Wo ist nun der »heilige Raum«? Er wird durch die Versammlung der Gläubigen gebildet. Sie sind der Machtbereich des heiligen Geistes. Der Ausdruck des Geistes, der in ihnen wohnt als seinem Tempel (1 Kor 6,19) findet Gestalt in ihren Gebeten, ihrem Bekenntnis und im Bekenntnis des Paten, der für den Täufling antwortet: »Wiltu getaufft sein? Antwort: Ja.«417 Auf diese Weise wird der Täufling in den »Machtbereich der Heiligen« eingeführt: Dieser Machtbereich wird gebildet durch das Wort Gottes, die Herzen der Menschen, sowie durch das Taufsakrament. Damit findet der Täufling »Eingang zu allen göttlichen Gütern und aller Heiligen Gemeinschaft.«418 Dieser Eingang ist nun nicht mehr allein baulich-stofflich, sondern geistlich-gemeinschaftlich verstanden. Der Unterschied fanum – profanum ist aber damit nicht eingeebnet, »vielmehr ist er aufs Höchste gesteigert, ja dualistisch zugespitzt: Hier Gott, Christus und Geist, dort Sünde und Teufel.«419 Deshalb gilt für die Taufe: »Durch den Tod in das Leben«, d. h. aber der (einmalige) Ritus der Taufe in den Tod Christi stellt den Raum des Seins in Christus her, d. h. er eröffnet den Raum der Auferstehung für den Täufling. Das Ritual gestaltet das Hineingenommenwerden in den Raum der praesentia Dei »in Christus«.
413 414 415 416 417 418 419
M. Luther, Taufbüchlein, S. 538. M. Luther, Taufbüchlein, S. 538. M. Luther, Taufbüchlein, S. 538. M. Luther, Taufbüchlein, S. 539. M. Luther, Taufbüchlein, S. 541. M. Luther, Taufbüchlein, S. 538. H. Umbach, Himmel, S. 63.
Das Abendmahl bei Luther
4.
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Das Abendmahl als »Sakrament des Altars« bei Luther
Das Herz des Menschen ist nach Luthers Taufliturgie »der rechte Sitz und die Wohnung Gottes«.420 Bei der Feier des Abendmahls kommt dies nach Luther ebenso deutlich und selbstverständlich zum Ausdruck. Im Folgenden soll als Grundlagentext der Abendmahlstext des Großen Katechismus von 1529 analysiert werden, sind doch hier alle wesentlichen Aussagen Luthers elementar zusammengefasst. Der räumliche Aspekt, der mit dem Titel »Von dem Sacrament des Altars«421 angegeben wird, ist nicht nur zufällig beibehalten oder ein Rest vorreformatorischer Tradition. Er kommt in der Schrift selbst deutlich zum Ausdruck: »Was ist nun das Sacrament des Altars? Antwort: Es ist der ware leib und blut des HERRN Christi ynn und unter dem brod und wein durch Christus wort, uns Christen befohlen zu essen und zu trinken.«422
Der Aspekt des Tisches folgt unmittelbar, verknüpft mit dem des Wortes.423 »Und wie von der Tauffe gesagt, das nicht schlecht wasser ist, so sagen wir hie auch, das Sakrament ist brod und wein, aber nicht schlecht brod noch wein, So man sonst zu tisch tregt, sondern brod und wein ynn Gottes wort gefasset, und daran gebunden.«424
Zunächst verblüfft aber die Überschrift »Von dem Sakrament des Altars«.425 Sie findet sich selbstverständlich, ohne Erläuterung dessen, was der Altar ist. Das Abendmahl wird hier schlicht als das »andere Sakrament«426 bezeichnet, »solches alles aus den Worten gegründet, dadurch es von Christo eingesetzt ist, welche auch ein yglicher wissen sol der ein Christ wil sein und zum Sakrament gehen.«427 Zu diesem Sakrament »geht man«. Es ist »von keinem Menschen erdacht noch aufbracht, sondern on yemands rath und bedacht von Christo eingesetzt.428 Weil es aber von Christus eingesetzt ist, »bleibt auch dis hochwirdige Sacrament unverrückt, das yhm nichts abgebrochen noch genommen wird, ob wirs gleich unwirdig brauchen und handeln.«429 Nach einer ausführlichen Begründung des Sakraments durch das Wort Christi folgt ein erster anthropologischer Aspekt: 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429
M. Luther, Propheten, S. 83. M. Luther, Der große Katechismus (1529), WA 30/1, Weimar 1910, S. 123 – 238. M. Luther, Katechismus, S. 223. Hier ist ebenso ein Beleg für E. Bizers These der »Sakramentalität« des Wortes Gottes zu finden. M. Luther, Katechismus, S. 223. M. Luther, Katechismus, S. 222. M. Luther, Katechismus, S. 222. M. Luther, Katechismus, S. 222. M. Luther, Katechismus, S. 223. M. Luther, Katechismus, S. 223.
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»VIVA VOX EVANGELII«
»Darumb heisset es wol ein speisse der seelen, die den newen menschen neeret und sterckt. Denn durch die Tauffe werden wir erstlich new geboren, aber darneben, wie gesagt ist, bleibt gleich wol die alte haut ynn fleisch und blut am menschen, da ist souiel hyndernis un anfechtung, vom Teuffel und der welt, das wir oft müde und matt werden, und zuweilen auch straucheln, Darümb ist es gegeben zur teglichen weide und futerung, das sich der glaube erhole und stercke, das er ynn solchem kampff nicht zurück falle, sondern ymmer yhe stercker und stercker werde, Denn das newe leben sol also gethan sein, das es stets zuneme und fort fare.«430
Wie wird das neue Leben gestärkt? »Dazu ist nu der trost gegeben, wenn das hertz solchs fület, das yhm wil zu schwer werde, das er hie newe krafft und labsal hole.«431 Weil es durch Gottes Wort eingesetzt ist, kann es trösten: »Ob gleich ein bube das rechte Sacrament nimpt odder gibt, so nimpt er das rechte Sacrament, das ist Christus leib und blut, eben so wohl als der es auffs aller wirdigst handelt. Denn es ist nicht gegründet auff menschen heiligkeit, sondern auff Gottes wort […] Solches merke und behalte nur wol, Denn auff den Worten stehet alle unser grund, schutz und wehre wider alle yrrtumb und verführung, so yhe komen sind, odder noch komen mögen.«432
Nicht die menschliche Heiligkeit, nicht menschliche Würdigkeit begründen das Sakrament, sondern Gottes Wort, das ausgesprochen wird, die »viva vox evangelii«. Der Glaube ist nicht menschliche Subjektivität, sondern Relationsgeschehen: »Wer aber nicht gleubt, der hat nichts als ders yhm lesset umbsonst furtragen, und nicht wil solchs heilsamen guts genießen.«433 Phänomenologisch formuliert: Religion ist menschliches Verhalten angesichts der göttlichen Begegnung! Über die Beziehung der göttlichen Worte »für euch gegeben« zu den Elementen in ihrer Sichtbarkeit und zu dem Empfang des Sakraments im Glauben, d. h. im Herzen der Menschen schreibt Luther : »Der Schatz ist wol aufgetan und yederman fur die thur, ja auf den tisch gelegt, es gehört aber dazu, das du dich auch sein annehmest und gewislich dafur haltest, wie dir die wort geben. Das ist nu die gantze Christliche bereitung, dis Sacrament wirdig zu empfahen, Denn weil solcher schatz gar ynn den worten furgelegt wird, kan mans nicht anders ergreiffen, und zu sich nehmen, denn mit dem hertzen, Denn mit der faust wird man solch geschencke, und ewigen schatz nicht fassen.«434
Beide Aspekte setzt Luther in Beziehung zueinander : Einerseits ist der Schatz »auf den Tisch gelegt«, d. h. sichtbar, »jedermann vor die Tür« gesetzt, ande430 431 432 433 434
M. Luther, Katechismus, S. 225. M. Luther, Katechismus, S. 225. M. Luther, Katechismus, S. 224. M. Luther, Katechismus, S. 226. M. Luther, Katechismus, S. 226.
Das Abendmahl bei Luther
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rerseits muss sich der Gläubige »seiner annehmen« und »gewisslich dafür halten, wie dir die Worte geben«.435 Hier ist die Pointe: »Der glaube aber thuts, des hertzens so da solchen schatz erkennet un sein begehret.«436 Hier wird deutlich, weshalb Luther das Wort »Altar« gebraucht, und wie er es deutet: »Der Schatz ist auf den Tisch gelegt«. Der Glaubt glaubt dem Wort und nimmt den Schatz mit »Augen, Herzen, Mund und Händen«: Diese Aufzählung meint keine Reihenfolge, sondern – phänomenologisch gesprochen – das Verhalten des glaubenden Menschen insgesamt! So kommt Christus leibhaftig zu ihm, ja geht in ihn hinein. So kommt der Himmel zur Erde. In diesem Sinne ist der Altar ein »Grenzstein« zwischen Erde und Himmel, berühren sich Christologie und Anthropologie! Der Ort des Sakraments ist im Raum der Kirche, der Gemeinde, der Tisch. Auf ihm ist für jedermann sichtbar der göttliche Schatz »vor die Tür gelegt«. Korrespondierend dazu ist der Raum, in dem das Sakrament wirken will, das Herz des Menschen, das Innerste, das mit dieser »Himmelsspeise« gefüllt werden soll: »Denn da beut er uns an, alle den schatz, so er uns von hymel bracht hat.«437 Im Zusammenhang der Erörterung der Frage nach der Würdigkeit der Empfänger erläutert Luther : »Man mus yhe das Sacrament nicht ansehen, als ein schedlich ding, das man dafür lauffen solle, sondern als eitel heilsame, tröstliche ertzney, die dir helfe und das leben gebe, beide an seele und leib. Denn wo die seele genesen ist, da ist dem leib auch geholffen.«438
Das Leben soll durch das Sakrament des Altars gegeben werden »beide an seele und leib«. Das ist aber nur möglich, weil im Abendmahl »Vergebung der Sünde« geschieht: »Denn wie soltu ym Sacrament empfahen aus Christus mund, Vergebung der sunde, welche bey sich hat und mit sich bringet, Gottes gnade und geist, mit allen seinen gaben, schutz, schirm und gewalt, wider tod und Teuffel, und alles unglück.«439
Wird das Sakrament im Herzen empfangen, kann es Leib und Seele erfüllen. Leib und Seele des Menschen sollen im Altarsakrament durch Gottes Gnade gerettet werden. Dazu muss das Herz des Menschen durch Wort und Sakrament geöffnet werden. Dann verhält sich der ganze Mensch der göttlichen Gnade angemessen.
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M. Luther, Katechismus, S. 226. M. Luther, Katechismus, S. 227. M. Luther, Katechismus, S. 230. M. Luther, Katechismus, S. 230 f. M. Luther, Katechismus, S. 231.
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»VIVA VOX EVANGELII«
Die Sakramentalität des Wortes Gottes: die »viva vox evangelii« bewirkt die »fides ex auditu«
Ernst Bizer hat in seiner »Untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther«440 den gegenseitigen Bezug von Predigt des Evangeliums, Taufe und Abendmahl herausgearbeitet: »Ita verba Christi sunt sacramenta, per que operatur salutem nostram.«441
Damit wird deutlich: Für Luther hat die Predigt »ebenso sakramentalen, effektiven Charakter wie das Wort im Sakrament«.442 Beachtenswert ist seit der Reformationszeit Luthers Betonung des »Herzens« als Ort der erneuernden Gegenwart Gottes: »Omnia verba, omnes historiae evangelicae sunt sacramenta quaedam, hoc est sacra signa, per quae in credentibus Deus efficit, quicquid illae historiae designant.«443
Ebenso gilt: »Itaque saramentaliter notandum est euangelium, idest verba Christi sunt meditanda tamquam symbola, per que detur illa ipsa iustitia, virtus, salus, quam ipsa verba prae se ferunt. … Euangelium vero exhibet virtutum spectra, ut simul sit instrumentum, quo deus immutet nos, innovet nos etc.«444
Hat Luther »zuerst das Sakrament von der Predigt aus angesehen, so sieht er jetzt die Predigt vom Sakrament aus an und begründet ihren besonderen Charakter wieder mit Röm 1,17.«445 So hat Bizer diese Doppelheit betont, »das Sakrament wird vom Wort aus verstanden, und das Wort selbst bekommt sakramentalen Charakter«.446 Der Ausgangspunkt für beides ist das neue Verständnis von Röm 440 E. Bizer, Fides, s. o. 441 M. Luther, Predigten gesammelt von J. Poliander 1519 – 1521, In Diem Natalem Domini, 25. Dez. 1519, S. 439 – 442, hier S. 440: »Atque hoc est quod dico sacramentaliter, hoc est, omnia verba, omnes historie Euangelice sunt sacramenta quedam, hoc est sacra signa per que in credentibus deus efficit, quicquid ille historie designant.« 442 E. Bizer, Fides, S. 177. 443 E. Bizer, Fides, S. 177 f, zitiert M. Luther, Predigten, S. 440. 444 M. Luther, Predigten, S. 439 f. Vgl. auch auch M. Josuttis, Kraft durch Glauben, Biblische, therapeutische und esoterische Impulse für die Seelsorge, Gütersloh 2008, S. 145 f., der auf J. Reuchlin, De verbo mirifico. Das wundertätige Wort (1494), Sämtliche Werke I, StuttgartBad Cannstatt 1996, S. 403 u. 405, als Hebräischlehrer Luthers und dessen kabbalistische Gedanken hinweist. 445 E. Bizer, Fides, S. 178. 446 E. Bizer, Fides, S. 178, vgl. auch M. Luther, Predigten, S. 442: »Euangelium sane meditamur sacramentaliter, hoc est verba per fidem hoc ipsum in nobis operantur, quod prae se ferunt. Christus natus est: crede tibi natum esse, et tu renasceris. Christus vicit mortem, peccatum: crede tibi vicisse, et tu viceris. Et hoc proprium habet Euangelium, quod humanis historiis non datur. In Euangelio revelatur iustitia, etc.« Vgl. auch forschungsgeschichtliche Aspekte
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1,17 f « , Im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart‹, d. h. sie wird durch das Wort geschenkt«.447 So wirkt das Evanglium als dynamis theou (Röm 1,16 f), es ist schon bei Paulus sakramental begründet in der Taufe eis Christon (Röm 6) und immer räumlich verstanden als Macht Gottes, die menschliches Leben neu schafft als »Sein in Christus« (kaine ktisis 2 Kor 5,17ff). Hier liegt die biblische Grundlage für jede evangelische Theologie, in der die Rechtfertigungslehre den Artikel bildet, auf dem die Kirche steht und fällt, ebenso für Luthers Theologie des Gottesdienstes und seine Anweisungen der Nutzung der Kirchengebäude durch das Wort Gottes als »heiligem Raum« »in Christus«. Wo Gottes Wort gepredigt, gehört und geglaubt wird, ist »Gottes Haus«, heiliger Raum. Deshalb betont Luther korrespondierend dazu das »Herz« des Menschen als Ort der Gegenwart Gottes. Das bedeutet für ihn aber – im Gegensatz zur Auffassung der Bilderstürmer und der späteren reformierten Tradition – nicht, dass der Glaube auf sinnlich fassbare Symbole verzichten muss oder kann, im Gegenteil: sie dienen der Bezeugung des Evangeliums, mit dem Gott den ganzen Menschen beansprucht, rechtfertigt, heiligt und damit verwandelt. Durch die gewichtige Stellung des Altars und durch seine Beibehaltung im Zentrum des Kirchengebäudes bei Luther wird eine Entwicklung im protestantischen (bes. im lutherisch geprägten) Kirchenbau angeregt, die die Zuordnung und Spannung von »Wort« und »Sakrament« in ihren zentralen Symbolen jeweils neu in den Kirchenbauten der verschiedenen Epochen zur Darstellung bringt und auch die »Sakramentalität« des »Wortes Gottes« räumlich-architektonisch zum Ausdruck bringt.
Summary. VIVA VOX EVANGELII et FIDES EX AUDITU 1. Martin Luther rediscovers the word of the gospel as the»viva vox evangelii« according to Romans 1,16 f: the living voice who as God’s dynamis grasps and transforms man. 2. Altar, organ, and hymn singing, are considered unnecessary by the early Luther ; according to him God asks for nothing else than »a heart and life that bei: J. Ringleben, Gott im Wort, Luthers Theologie von der Sprache her, Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, Band 57, hg. von P. Landbühler, I. U. Dalferth, Chr. Landmesser, M. M. Mitchell, Tübingen 2010, S. 148 f. Er betont den Zusammenhang von Offenbahrungswort als »promissio« und dem Geschenk der Gerechtigkeit aus Glauben: »Diese Promissio vernimmt der Glaube aus dem in sich völlig klaren Wort des H. Geistes in der h. Schrift (cf. 18,653, 13 – 35)«, a. a. O., S. 445. 447 E. Bizer, Fides, S. 178; vgl. M. Luther, Disputatio in Distinctionem 2. Libri 4. Sententiarum Martini Lutheri, 1520, WA 9, Weimar 1893, S. 313. These 8: »Imo quot sunt verba dei, tot fere sunt sacramenta, quae fidem excitant, etiam signum desit.«
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»VIVA VOX EVANGELII«
walketh in his grace.« The message of the gospel goes to those people whose hearts fail within them, and to those who put their faith into the word of the forgiving love of God in Christ. Man »on his own« cannot contribute anything to his salvation. In an attempt to come to terms with the iconoclasts Luther, though, makes distinctions on behalf of paintings, candles, and crucifixes, in churches or on the altar : »God has forbidden worshipping to portraits«; so any wrongful application has to be revealed through the preaching of the gospel whereas rightful application manifests itself as the answer of faith to God’s love, expressed by painting, playing, singing and speaking. As man »cannot think or comprehend anything without portraits« these expressions, if realized correctly, serve the purpose of testifying to the gospel. A reduction of symbolism can be detected in Luther’s booklet of baptism between 1523 and 1526. He concentrates on the central texts for baptism, and on the central questions and symbols for baptism, and at the same time foregoes a strict separation of places (»in front of« and »in«) concerning the church building. It is »the hearts« of men that form the »expanse« of the gospel. In his main catechism, Luther’s exemplary script with wide reaching effectiveness, he keeps up the term »altar sacrament«. He displays a diversified interpretation of the complexitiy of the altar sacrament. On one side, he sees »body and blood of Christ« as lying »on the table«, on the the other side they cannot be seized »with the fists« but only grasped with a »faithful heart«. »Physical nature« and »faith« correlate with each other in a positive manner. In general, the altar room is kept up within Lutheran areas. Luther suggests to gradually introducing the liturgy »versus populum«. But de facto this suggestion will not be put into action. Portrait-programs for big, prominent, and widely visible, altar top parts feature characters from the history of salvation (in protestant interpretation). Luther sticks to the term »sacrament of altar«: It is the place where faith realizes body and blood of Christ »on the table«. It is by faith that God reaches out to man’s »heart« by »word« and »sacrament« in order to fulfill his body and soul.
The preaching of the gospel is of the same sacramental nature as the word used in/during the sacrament (sacramental word). Faith of men, seen as »fides ex auditu«, is based on the living word of the gospel in a sacramental understanding.
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Erfahrungen des Göttlichen bewegen. Die Entdeckung der Kirchenraum-Pädagogik und ihre Relevanz für die religiöse Erziehung heute448
Zum Andenken an Maria Binder
Im Sommer feierte in meinem Kirchenkreis eine evangelische Kindertagesstätte ihr 95. Jubiläum. Ich saß als Ehrengast in der Runde und wurde mit diesem Kinderlied449 begrüßt. Es läuten alle Glocken, sie läuten nah und fern. Sie rufen uns zur Kirche. Wir Kinder kommen gern. Gott liebt die Kinder. Er lädt uns alle ein. Gott liebt die Kinder. Wir wollen bei ihm sein.
Ein fröhliches Lied, von Kindern gesungen. Es lud mich ein mitzusingen. Gott liebt die Kinder, wir wollen bei ihm sein.
Dies Lied hob eigene Erinnerungen nach oben, einmal durch die Stimmen der Kinder, dann durch das Setting der Feier : ein großer Kreis von Kindern und Erwachsenen in diesem herrlichen Garten der Kindertagesstätte – wirklich »Kindergarten« im ursprünglichen Sinn – und schließlich durch seinen Inhalt: Die Glocken rufen zur Kirche und zu Gott: »Wir wollen bei ihm sein«.450 Diese glückliche Rückerinnerung, die in mir ein schönes Bild freilegte, möchte ich versuchen, für mein Thema zu nutzen: einmal, indem ich ein Beispiel berichte über das, was dieses Lied in mir »wach rief«, 448 In: Deutsches Pfarrerblatt 10/2007, Hg. P. Haigis. 449 Liedblatt der KiTa »Am Eulenturm«, Züschen, o. A. 450 P. Brünger, Abreißende Tradition. Daten zum Singen im Kindergarten, in: Musik und Kirche, 75. Jg, hrsg. von K. Röhring u. a., Kassel 2005, S. 170 – 179, hier S. 178: »In einer Zeit, in der die Familie als kulturelle Keimzelle des Singens ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht wird, erhält die Kindergartenzeit für die Entwicklung von Stimme und Singen herausragende Bedeutung.«
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Erfahrungen des Göttlichen bewegen
zum zweiten, welche Bedeutung dieses Beispiel für die Debatte über die Kirchen-Raum-Pädagogik heute haben könnte, drittens, welche weiteren Dimensionen für den Zusammenhang von Raum und Religion immer noch zu entdecken sind und viertens, welche »(Frei) Räume« eine so verstandene und entdeckte Religion für das Leben und die Gestaltung des Lebens für uns Erwachsene eröffnen kann. Damit hoffe ich, fünftens, einige wichtige Aspekte der Religionsphänomenologie für die gegenwärtige evangelische Religionspädagogik neu fruchtbar zu machen.
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Erinnerung an Erfahrungen des »Göttlichen«
Es ist Sommer. Meine dreijährige Schwester und ich, ein sechsjähriger Junge, spielen in dem großen Obstgarten hinter der Scheune unserer Eltern. Der Garten ist nicht sehr gepflegt, landwirtschaftliche Maschinen sind z. T. dort abgestellt, eine Flüchtlingsfrau hat dort ebenfalls ihr Revier : einen winzigen Schuppen für ihr Feuerholz. Mitten durch den Garten fließt ein kleiner Bach. Er trennt die abgeschiedenste Ecke des Gartens vom übrigen Hof und ist nur durch einen schmalen Holzsteg und einen noch schmaleren Wassertrittstein zu überqueren. Um 11 Uhr läutet die Glocke der alten, mächtigen Dorfkirche. Die Frau unterbricht ihre Arbeit und steht auf. »Was machst du da?« – »Ich bete.« – »Warum?« – »Weil es läutet. Es läutet immer zum Gebet. Dann sprechen wir zu Gott und beten das Vater unser!« – »Das Vater unser?« Die Frau, obwohl keine Familienangehörige, sondern eine katholische Flüchtlingsfrau aus dem Sudetenland, die ein Zimmer in unserem großen Bauernhaus bewohnte und dafür bei der Arbeit half, stand im Rang einer »Tante«. Und so hörten wir ihr zu, lernten das Vaterunser, bekamen die Zahl »neun« als mit diesem Gebet und den neun einzelnen Glockenschlägen am Ende des Gebetsläutens eingeprägt. In dieser religiösen Struktur hatte uns diese einfache Frau einen »Klangraum« eröffnet, gedeutet und gefüllt. Dies muss ihr wohl selbst Freude gemacht haben, denn die Frau, die sonst nur noch für die Tiere auf dem Hof zuständig war, verbrachte auch die nächsten Tage bei uns: Hinter dem Bach, also im geschützten Teil des Gartens, da, wo wir spielten, band sie uns mit zwei großen Stricken und zwei zurechtgesägten Bretterstücken zwei Schaukeln an die Äste des großen Baumes: eine für meine Schwester rechts, eine für mich links. Es war lustvoll und aufregend zugleich, an diesen starken Ästen zu hängen, in den Himmel zu schaukeln und gleichzeitig weit über der Bachböschung den Abgrund zu überwinden. Nach nunmehr einigen Jahrzehnten kann ich heute zurückblickend sagen: In diesem Sommer schaukelten wir, in den nächsten Tagen auch noch mit den
Erinnerung an Erfahrungen des »Göttlichen«
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Nachbarskindern, regelrecht in den Himmel hinein, in die Freiheit, in die Schwerelosigkeit, in das Glück, ja, in das »Göttliche«. Es war das Geschenk dieser Frau: dies Gebet und Geschaukel eröffnete uns neue Räume der glücklichen Gegenwart Gottes; wir selber waren wie die Glocken im Kirchturm geworden, unsere Körper waren wie sie. Wie sie klangen, schwangen, jauchzten wir : Es läuten alle Glocken, sie läuten nah und fern. Sie rufen uns zur Kirche. Wir Kinder kommen gern. Gott liebt die Kinder. Er lädt uns alle ein. Gott liebt die Kinder. Wir wollen bei ihm sein.
Bei Gott sein, im »Wunderbaren« sein – das konnten wir als Kinder jetzt körperlich spüren – das hieß, schwerelos und glücklich zu sein. Der Sommer ging zu Ende, mit dem Regen und dem Herbst kamen andere Zeiten. Die Pflichten für die Schule traten an die Stelle dieser »Endlos-Spiele« im himmlischen Kinder-Garten. Die Erde hatte uns wieder. Aber die Erinnerung an das vergangene Schöne blieb als Traurigkeit. Und wieder half die »Tante«: Sie erschloss uns einen neuen Raum, den riesigen Dachboden unseres alten Bauernhauses. Nun waren die Dachböden der Höfe keine einfachen Flächen, sondern nach der Ernte, ab September, waren ihre Grundflächen vollgeschüttet mit frischem Getreide, Weizen, Hafer oder Roggen, das die Männer in Zentnersäcken mühevoll die zwei Stockwerke hoch geschleppt hatten, damit es hier trocken und luftig gelagert werden konnte. Sie dienten als »Speicher«. An zwei der vielen alten Dachbalken befestigte sie alte Ketten. Die Bretter aus dem Garten fanden hier neue Verwendung für neue Schaukeln. Und wieder schwangen wir, unter dem großen Hausdach beschirmt, in die Luft. Und wenn es draußen regnete, war die Freude desto größer : Wir sprangen dann ab im Schwung und landeten in dem duftenden, getrockneten Getreide. Auf dem »Hausboden« waren wir oft das ganze Jahr über, hoch über den Zimmern und Kellern und dem Alltag entronnen. Hier war sozusagen die Lust des Sommers regelrecht »gespeichert«. Dem lichtdurchfluteten Sommergarten hinter dem Haus entsprach nun – als Kontrast – der dunkle, dämmrige, etwas unheimlich Ort über dem Haus (Spinnen und Mäuse gab es da genug). Der Raum war ein »Zeitspeicher«, ein Raum der Freiheit, den die »Tante« uns geschenkt und den wir uns erobert hatten. Und wann immer wir die schwere Eichenklappe zum »Hausboden« unter dem Dach öffneten, erlebten wir so etwas wie die »Aufhebung der Zeit«. Auch hier fühlten wir uns dem Göttlichen besonders nah, waren wir doch jetzt etwas höher, fast auf Augenhöhe mit dem auf dem Berg erbauten Kirchturm. Und durch das Ziegeldach klangen die Glocken lauter als durch die Fenster in den Zimmern unten und machten uns mit ihrem Schwingen lustvoll fromm und andächtig beglückt. Dass wir uns in das Getreide beim Absprung hineinwarfen, störte zunächst
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Erfahrungen des Göttlichen bewegen
keinen von uns, erst später sagte mir ein etwas älterer Schüler, mit Nahrung zu spielen sei »Sünde«, sie sei doch nur zum Essen da – so habe er es im Religionsunterricht gelernt. Numinoses Gefühl, das Erfahren des »Wunderbaren«, des tremendum und des fascinosum, wie es Rudolf Otto in seinem Buch »Das Heilige«,451 phänomenologisch beschrieben, entfaltet und gedeutet hatte, hatte, so erfuhren wir (und so erkenne ich es heute) zunächst mit ethischen Kategorien, also »richtigem« und »falschem« Verhalten nichts zu tun. Von »Verhalten«, so würde ich heute behaupten, lässt sich vor dem Hintergrund dieser Beispiele nur noch elementarer sprechen, nämlich phänomenologisch: In Räumen, an Orten verhalte ich mich in einer ihnen entsprechenden Weise; an geschützten Orten bin ich frei, in »umfriedeten Bezirken«452 komme ich zu mir selbst und gehe gleichzeitig aus mir heraus, ja, ich schwinge über Abgründe in den Himmel hinein. Diese »Transzendenz-Erfahrungen« sind aber, wie meine Beispiele zeigen, Beispiele »ergreifende[r] Atmosphären«,453 die sich an besonderen Orten besonders gut ereignen und nicht nur einzelne Individuen, sondern ganze Gruppen mit Glück und Seligkeit »betreffen« können.454 Die phänomenologischen Kategorien, wie wir sie heute kennen und mit denen auch diese eben geschilderten Kindheitserfahrungen gedeutet werden können, haben Rudolf Otto,455 Gerd van der Leeuw,456 Otto Friedrich Bollnow457 sowie Hermann Schmitz458 gründlich erarbeitet. Der Religionspädagoge Peter Biehl hat dies bereis in seinen Arbeiten459 umgesetzt, bevor es den Begriff »Kirchenpädagogik« bzw. »Kirchenraumpädagogik« gab.460 Er beschreibt aus entwicklungspsychologischer Sicht »besondere« Räume des Kindes wie den »Keller« oder den »Dachboden« u. a. und macht sie für das religiöse Erleben 451 R. Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1964 (11917). 452 O. F. Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart 1963. 453 H. Schmitz, Das Göttliche und der Raum. System der Philosophie III/4, Bonn 1977. 454 R. Otto, a. a. O. 455 R. Otto, a. a. O. 456 G. v. d. Leeuw, Phänomenologie der Religion. Tübingen 21956. 457 O. F. Bollnow, a. a. O. 458 H. Schmitz, a. a. O.; ders., Der Gefühlsraum, System der Philosophie II/2, Bonn 1969. 459 P. Biehl, Wohnen – Raumerfahrungen von Kindern. Eine phänomenologische Beschreibung, in: H.-G. Heimbrock [Hrsg]: Religionspädagogik und Phänomenologie. Von der empirischen Wendung zur Lebenswelt, Forum zur Pädagogik und Didaktik der Religion Bd. 15, Weinheim 1988, S. 203 – 216; ders., Der phänomenologische Ansatz in der deutschen Religionspädagogik, in: H.-G. Heimbrock [Hrsg.]: Religionspädagogik und Phänomenologie. Von der empirischen Wendung zur Lebenswelt, Forum zur Pädagogik und Didaktik der Religion Bd. 15, Weinheim 1988, S. 381 – 411 460 S. Glockzin-Bever, H. Schwebel [Hrsg.]: Kirchen – Raum – Pädagogik; Ästhetik – Theologie – Liturgik, Münster 2002.
Gottes-Erfahrung und Kirchen-Raum-Pädagogik
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fruchtbar. Die Kirchenraumpädagogik nun, insofern sie diesem religionsphänomenologischen Ansatz gefolgt ist,461 kann uns helfen, solche oben geschilderten kindheitlichen Raumerfahrungen aus dem Bereich des rein Zufälligen zu befreien und sie religionspädagogisch und theologisch fruchtbar zu machen.462 »Religiöse Aussagen enthalten Dynamiken und Energien, die im Nachvollzug freigesetzt werden und zum Teil auch unmittelbar erlebt werden können. Der Glaube beinhaltet also immer eigenes Erleben jenseits vorgegebener Lehraussagen. Nicht jeder Mensch kann, wird und muss alles erleben, was tradiert ist. Wer den Glauben allerdings skeptisch gegenübersteht, sollte die Grenzen des Erfahrbaren nicht zu eng setzten und vor allem nicht die eigenen Maßstäbe verabsolutieren.«463
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Gottes-Erfahrung und Kirchen-Raum-Pädagogik Es läuten alle Glocken, sie läuten nah und fern. Sie rufen uns zur Kirche. Wir Kinder kommen gern. Gott liebt die Kinder. Er lädt uns alle ein. Gott liebt die Kinder. Wir wollen bei ihm sein.
Wenn wir bei »Gott« sein wollen, so sagt das Lied, werden wir zur »Kirche« gehen. Dieser Liedtext hat nicht nur eine eigene Kindheitserfahrung von Geborgenheit und Freiheit zugleich wachgerufen, er füllt sie auch theologisch (Gott liebt die Kinder), ekklesiologisch (Sie rufen uns zur Kirche) und pädagogisch (Wir Kinder kommen gern). Gott, Kirche und Kind werden also in einem Zusammenhang gedacht. Und das Lied stellt damit nicht nur eine Behauptung oder These auf, sondern gibt eine Erfahrung weiter, die bestimmten Räumen und Orten eigen ist! Wie ist das mit unseren »Kirchen«? Noch 1998, so zeigt ein grober Blick in die Forschungsgeschichte, kann Christian Grethlein sagen: »›Kirchen‹ sind kein prominentes Thema der praktischen Theologie«.464 Aber dies hat sich – so wird mir heute jeder zustimmen – in den letzten Jahren radikal geändert. Seit Ende der achtziger Jahre stießen bereits Lehrerinnen und Lehrer auf das Thema: »Interessanterweise waren wohl meist nicht Schulgottesdienste 461 M. Josuttis, Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage, München 1991. 462 H. Umbach, Heilige Räume – Pforten des Himmels. Vom Umgang der Protestanten mit ihren Kirchen, Göttingen 2005 463 S. Tschöpe-Scheffler und H. Tschöpe, Grosse Kraft in kleinen Dingen. Spiritualität im Zusammenleben mit Kindern, Ostfildern 2012, S. 33. 464 Chr. Grethlein, »Kirchenpädagogik« im Blickfeld der Praktischen Theologie, in: Th. Klie [Hrsg.]: Der Religion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses Lernen, Veröffentlichungen des Religionspädagogischen Instituts Loccum Bd. 3, Münster 1998, S. 17 – 93, hier S. 17.
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Erfahrungen des Göttlichen bewegen
der Anlaß dafür«.465 Die Entdeckungen des Kirchenraums geschah durch Kirchenerkundungen und Beiträge von Lehrern auch anderer Fächer (z. B. von Kunst- oder Geschichtslehrern) hinsichtlich einer »Kirchenpädagogik«, die sich mit »Wurzelfragen der europäischen Bildung«466 beschäftigte und z. B. Bauwerke mittelalterlicher Menschen mit den gegenwärtigen Fragen über den Tod konfrontierte und auf diese Weise zu dieser »Bildungs-, Gesprächs- und Sprachgemeinschaft« beitrug.467 »Inzwischen«, so meint Grethlein, »ist Kirchenpädagogik zu einem Stichwort eines handlungsorientieren Religionsunterrichts geworden«,468 wie die Zeitschrift RELIPRAX 1996 bereits eindrucksvoll belegt.469 Dort könne man »über die Vermittlung der sakralen Kunst und der Kulturgeschichte […] durchaus dem ›Heiligen‹ begegnen«.470 Jedoch sieht er »in der bisherigen Diskussion zur Kirchenpädagogik […] diesen schleichenden Prozeß der Infragestellung von Kir-
465 Chr. Grethlein, a. a. O., S. 21. 466 Chr. Grethlein, a. a. O., S. 22, aber auch insgesamt gilt: »Alle großen Religionen haben sogenannte heilige Räume, ob es Kirchen, Tempel, Synagogen, Moscheen oder andere Kulträume sind. In diesen Räumen entspricht alles einer bestimmten Struktur, die auf die Erfordernisse der jeweiligen Religion ausgelegt sind. Diese Ordnung findet sich sowohl innerhalb der Gebäude als auch in den zeremoniellen Gegenständen oder im Kult. Der wahrnehmende Besucher bemerkt schon an der Türschwelle, dass in diesem Raum andere Gesetze gelten. Wenn Menschen dafür offen sind, können sie eine Verwandlung spüren: Das Geschäftige und Laute bleibt draußen; der Raum bewirkt etwas, falls ihm Beachtung und Achtung geschenkt wird. Auch Menschen, die sich nicht für religiös halten, haben häufig ein Gespür für diese Wirkung und besuchen daher gerne die sakralen Stätten der großen Religionen. Doch oftmals fehlt diese Wertschätzung für den heiligen Raum und dafür, dass er für Gläubige ein besonderer Ort ist. Kinder sollten mit der verwandelnden Kraft von sakralen Räumen vertraut gemacht werden, weil es in vielfacher Hinsicht ein außeralltägliches Erlebnis sein kann, sich dort aufzuhalten.« S. Tschöpe-Scheffler und H. Tschöpe, a. a. O., S. 54 f. 467 W. Dörffler, Das Gotteshaus – ein Haus Gottes? Gedanken über Unterricht mit der Nürnberger Lorenzkirche an einer evangelischen Schule, in: J. Bohne u. a. [Hrsgg.], Die religiöse Dimension wahrnehmen. Unterrichtsbeispiele und Reflexionen aus der Projektarbeit des Evangelischen Schulbundes in Bayern, Münster 1992. Ebenso vorbildlich: K. H. Weber, Heilige Räume – Gotteshäuser geben zu lernen, Angeregungen zu einem Medienpaket für das 7.–10. Schuljahr, in: Forum Religion. Zur Praxis des Religionsunterrichts, 1/92, hrsg. v. PTI Kassel, B. Böttge u. a., Stuttgart 1992. Hier wird unter dem Vorzeichen »Gotteshäuser als Erfahrungs-Räume« neben dem katholischen Dom St. Peter in Fritzlar die jüdische Synagoge in Darmstadt, die islamische Nuur-Moschee in Frankfurt-Sachsenhausen, sowie das Ökumenische Zentrum in der Evangelischen Christuskirche im Frankfurter Westend vorgestellt. Besonders schön auch: M. L. Goecke-Seischab/J. Ohlemacher : Kirchen erkunden – Kirchen erschließen. Ein Handbuch mit über 300 Sachzeichnungen und Übersichtskarten, sowie einer Einführung in die Kirchenpädagogik, Lahr 1998. 468 Chr. Grethlein, a. a. O., S. 23. 469 A. Hindriksen [Hrsg.], RELIPRAX Nr. 19, September 1996. 470 A. Hindriksen, a. a. O., S. 3.
Gottes-Erfahrung und Kirchen-Raum-Pädagogik
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chen noch nicht berücksichtigt«,471 wie er z. B. in Ostdeutschland, aber auch in manchen Städten der »alten« Bundesländer zu beobachten ist. Sind Kirchengebäude nicht nur im herkömmlichen Lehrbetrieb »kein traditionelles Thema der praktischen Theologie«,472 sondern auf für viele Protestanten selbst heute noch ein untergeordnetes »sekundäres Thema«,473 das nicht eigentlich zum Glauben gehört? Welches Bedeutung haben Kirchen für moderne Menschen?, so fragt Grethlein und sieht in den unterschiedlichen kirchenpädagogischen Ansätzen des letzten Jahrhunderts bis in die letzten Jahre eines gemeinsam: »Es dürfte in der liminaren Gegenwart und der niedrigste Frühschein von Kirche sein, Raum zur Stille und zu gemeinsamen Schweigen bereitzuhalten«,474 denn »Stille ist vielleicht die wichtigste Voraussetzung für religiöse Vollzüge und damit auch für christliche Glaubenspraxis«.475 Also: Der Kirchenraum ist wieder zu entdecken in seinem kunst- und kulturgeschichten Aspekten der Raumgestaltung der vergangenen Jahrhunderte, ebenso wie auch in seiner religiösen Dimension für die gegenwärtige Gesellschaft: in einer »gegenwartsfixierten Zeit«476 bietet eine Kirche die Möglichkeit, unserer »Vergangenheit und damit der Grundlage von Gegenwart und Zukunft zu begegnen«,477 ebenso aber auch die religiöse Dimension durch »Kooperation mit anderen Interessenfächern, etwa Geschichte, Kunst, Ethik und Deutsch«478 in ihnen zu entfalten. Die religiöse Dimension dieser Fächer kann durch »Exkursionen« in diese »anderen« Räume durchaus geöffnet werden und »kirchenpädagogisch« gleichzeitig gesamtgesellschaftliche Relevanz bekommen. Dies aber, so meint Grethlein, kann die Gesellschaft selber positiv verändern: »Kirchen bieten ein kultisches Potential, auf das m. E. keine an Humanität interessierte Gesellschaft verzichten kann«.479 Oder anders formuliert: »Im Schutz des Kirchenraumes aber können Menschen auf ihre ganz persönliche Weise eine Verbindung zum Göttlichen herstellen, die heilsam ist.«480 Das »kirchliche Potential«, das für eine an Humanität interessierte Gesellschaft nötig ist, ist aber – und das kann die Verknüpfung der oben geschilderten kindlichen Erfahrungssituation mit der Thematik der Kirchenraumpädagogik 471 472 473 474 475 476 477 478 479 480
Chr. Grethlein, a. a. O., S. 24. Chr. Grethlein, a. a. O., S. 24. Chr. Grethlein, a. a. O., S. 28. Chr. Grethlein, a. a. O., S. 28. Ebd.; vgl. auch R. Guardini, »Das mystische Schweigen«, in: ders., Die Liturgie als Mysterienfeier, Freiburg 1923, S. 135 – 157. Vgl. dazu: H. Grönemeyer, Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit, Darmstadt 1993. Chr. Grethlein, a. a. O., S. 30. Chr. Grethlein, a. a. O., S. 32. Chr. Grethlein, a. a. O., S. 33. S. Tschöpe-Scheffler und H. Tschöpe, a. a. O., S. 55.
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Erfahrungen des Göttlichen bewegen
belegen – die Ermöglichung dieser die alltägliche Welt transzendierenden Erfahrung durch die Bereitstellung eines »umfriedeten Bezirks«. In ihm kann der Mensch, wie das Kind im abgeschirmt erlebten Garten oder unter dem schützend erfahrenen Dachboden frei werden, indem er dem »Heiligen« begegnet, christlich ausgedrückt: indem der Mensch Gottes wunderbarer Nähe begegnet, ohne auf eine Funktion, einen Zweck, einen direkten Nutzen oder einen »Markt«-Wert reduziert zu sein und so leben darf: Gott liebt die Kinder, wir wollen bei ihm sein. Wie das bisher Gesagte deutlich macht, können Texte und Lieder diese eröffneten Räume und Erfahrungen »speichern«. Als »Rituale«, wie das gesprochene Vaterunser, können sie solche Räume aber auch jederzeit bereitzustellen versuchen, so wie das zunächst allein gesprochene und dann mitgeteilte Gebet jener Flüchtlingsfrau481 in früher Kindheit. Anderseits eröffnen »umfriedete Bezirke« – und das kann sogar auch ein gebauter und rituell genutzter Vorlesungsraum zeigen – die Weitergabe religiöser Erfahrungen und ihre Reflexion im gesellschaftlichen Kontext der Moderne.
3.
Raum und Religion Es läuten alle Glocken, sie läuten nah und fern. Sie rufen uns zur Kirche. Wir Kinder kommen gern.
Die Glocken, der Klang, die Kirche, die Kinder, die Freude, der Klang dringt in unser Ohr : Was kann im Raum der Welt geschehen, daß Religion möglich wird, wie verändert ihrerseits Religion Räume der Welt? In jüngerer Zeit wird »Religion leiblich und räumlich in Szene« gesetzt:482 performativ. Auch dass »Körperräume« und »Raumkörper«483 miteinander in Beziehung gesetzt werden müssen, wird schon in der Tradition von Hubertus Halbfas und Peter Biehl weitergedacht. Performative Religionspädagogik will »zeigen« und »anschauen«, also tentative Aspekte des Für-Wahr-Nehmens immer auch mit dem Den481 W. Jetter, Symbol und Ritual. Anthropologische Elemente im Gottesdienst, Göttingen 1978, S. 93: »Rituale gelten zu Recht als interessante kulturanthropologische ›Texte‹: sie sind die Ursprache der Religion.« Über den katholischen Messgottesdienst sagt er richtig (S. 276): »Das Ritual stellt den Boden dar, der hier zu ›begehen‹ ist, und seine Symbolik das durchlässige Dach, das sich über ihm wölbt«. Das heißt aber : Das Ritual stellt einen Raum her! 482 S. Leonhard/Th. Klie: Performative Religionspädagogik. Religion leiblich und räumlich in Szene setzten, in: dies. [Hrsgg.], Schauplatz Religion. Grundzüge einer performativen Religionspädagogik, Leipzig 2003, S. 7 – 16. 483 S. Leonhard/Th. Klie, a. a. O., S. 17 ff.
Raum und Religion
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ken und Deuten in Beziehung bringen. So zeigt Christoph Bizer: »Die reformatorische Reorganisation von Christentum als wahrnehmbare Räume«,484 besonders am »Raum des Betens bei Martin Luther«485, indem er Zeitlichkeit, Räumlichkeit und Körperlichkeit miteinander »handwerklich«486 in Beziehung bringt. Indem der Betende bei Luther mit »allen Sinnen und Gliedern« bei der Arbeit ist, gilt: So »will das Gebet das Herz einig, ganz und allen halten, soll’s anders ein gutes Gebet sein«.487 Wir Kinder kommen gern – singt das doch die Kita heute kindgemäß. Dietrich Zilleßen zeigt, »wie Didaktik der Religion bei Sinnen ist«, indem er »Raumbeschreitungen«488 durchgeht. »Herausfordernd ist, es gibt kein Leben ohne Überschreitungen. Und wenn sie ein Leben lang vermieden wird, steht sie am Ende an. Anders gesagt in der Weise der Inszenierung: Es gibt keine Raumbeschreitung ohne Überschreitung […] Der Raum, der schon besetzt ist, der schon Besitz, Heimat, Eigenes ist, ist nicht da, beschritten zu werden. Raumbeschreitungen überschreiten eine Grenze, die Grenze des Eigenen und Fremden. Eigenes ist Gewohnheit, Regel, Norm. Im Eigenen wohnen wir. Raumüberschreitungen verlassen die Norm, die Heimat«.489 »Vater unser im Himmel«: Allein diese Anrede vollzieht räumlich das, was sie sprachlich behauptet, indem sie anfangs im Gebet den Raum des Himmels betritt, um am Ende die Erde mit in den Himmel einzubeziehen: »Dein Wille geschehe – wie im Himmel, so auf Erden.« Damit werden irdische Dinge vor dem Himmel ausgebreitet.490 So gehört der Vollzug des Gebets als ur-religiöse Handlung zu den Beschreitungen als »Übergangsräume491, die Victor Turner in seinem Werk »Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels«492 »liminale Räume« nennt. Grenzen werden überschritten, im Garten, beim Schaukeln, auf dem Dachboden, in Kirchen, im Gottesdienst, beim Beten. Religionspädagogik tut gut daran, diese Räumen zu kennen und – wie jene Flüchtlingsfrau in meiner Kindheit – sie anderen zu erschließen: Das »Wir […]
484 Chr. Bizer, Kirchliches wahrnehmen sprachlich gestaltet zum Wahrnehmen, in: S. Leonhard/Th. Klie [Hrsgg.], a. a. O., S. 23 – 46, hier S. 26. 485 Chr. Bizer, a. a. O., S. 27. 486 M. Josuttis, Religion als Handwerk. Zur Handlungslogik spiritueller Methoden, Gütersloh 2002. 487 M. Luther, WA 38, Zitat bei Chr. Bizer, a. a. O., S. 29. 488 D. Zilleßen, Raumbeschreitungen. Wie Didaktik der Religion …, in: Schulpraxis, S. 67 – 91. 489 D. Zilleßen, a. a. O., S. 78 f. 490 H. Umbach, Wie im Himmel – so auf Erden. Über Raumträume und Traumräume im Gottesdienst, in: Chr. Bizer/J. Cornelius-Bundschuh/H.-M. Gutmann [Hrsgg], Theologisches geschenkt, FS M. Josuttis, Bovenden 1996, S. 59 – 75. 491 D. Zilleßen, a. a. O., S. 85. 492 V. Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt/M, New York 1989.
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kommen gern« des Liedes beschreibt genau diesen Übergang in »andere Räume« – in Gottes Gegenwart. So ist jetzt endlich auch der »Raum als religionsdidaktische Kategorie«493 zu der systematischen und religionspädagogischen Theorie »angekommen«;494 obwohl noch gilt: »Die enge Beziehung zwischen protestantischem Wortverständnis und ästhetischer Erfahrung ist jedoch religionspädagogisch ein noch weitgehend unbestelltes Feld – sieht man einmal von Christoph Bizers didaktischen Etüden ab«.495 »Kirchen im Unterricht und anderswo« sind »[z]ur Gestaltung von Religion«496 als »Exkursionen« in »ganz andere Räume« räumlich gestaltete Rituale und Inszenierungen, deren produktives Potential in Schule und Unterricht auch heute noch weitgehend unterentwickelt sind. Luthers feste Überzeugung war, »daß das Bibelwort solange nicht Evangelium ist, bis es verlautet, gehört und als solches realistisch ist […]. Das verbum externum, das äußerliche Wort, ist für Luther das sinnliche Zeichen göttlicher Selbstmitteilung. In ihm nimmt der redende Gott für den hörenden Menschen verheißungsvoll Gestalt an. Der Zuspruch der Gnade ergeht in Form der Darstellung«,497 ist perfomativ sprechend. Im Wort der Flüchtlingsfrau, in ihrer Geste, in ihrem Garten, im Schaukeln, im Gotteshaus kam »Unser Vater im Himmel« uns Kindern nahe: Der Garten, der Dachboden, die Kirche wurden religiöse Lebensräume! Ästhetische Bildung, spirituelle Bildung, liturgische Bildung, Gebet und Meditation, aber auch Symboldidaktik, sind in einem handlungsorientierten Lernen in Exkursionen, Projektarbeit nicht nur fächerübergreifend fruchtbar zu machen, der Kirchenraum ist nicht nur als Text der Architekturgeschichte zu »lesen«, sondern der Kirchenbau ist mit Roland Dejn als »Erschließung christlicher Lehre«498 zu entdecken, »als motivierendes ›Spielfeld‹ für neue Formensprache, durch Begehung, Sprache, Klang, Bild, Installation, Performance und experimenteller Liturgie«.499 Durch »Kirchenerkundungen« »mit allen Sinnen« kann neu der »Religion
493 Th. Klie, Frömmigkeit und Lehrkunst. Raum als religionsdidaktische Kategorie, in: S. Leonhard/ders [Hrsgg], a. a. O., S. 192 – 208. 494 Vgl. Th. Klie, a. a. O., bes. S. 197ff: Zur jüngsten Geschichte des Raumgedenkens innerhalb der Religionspädagogik. 495 Th. Klie, a. a. O., S. 202. 496 Chr. Bizer, Kirchgänge im Unterricht und anderswo. Zur Gestaltwerdung von Religion, Göttingen 1995. 497 Th. Klie, a. a. O., S. 202. 498 R. Dejn, I. Hansen, Architektur und Kirchenbau, in: G. Bitter u. a. [Hrsgg], Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, München 2002, S. 71 – 74, hier S. 73. 499 R. Dejn, I. Hansen, a. a. O., S. 73.
Räume und Rituale
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Raum gegeben werden«500. Das begegnet bereits schon im Kindergarten / in der Kindertagesstätte als Ort religiöser Erziehung und Bildung geschehen.501 Wir Kinder kommen gern.
4.
Räume und Rituale gestalten die Religion und formen das Leben
Spätestens seit Volker Drehsens Buch »Wie religionsfähig ist die Volkskirche«,502 aber auch mit den religionssoziologischen Forschungen von Klaus Peter Jörns (»Die neuen Gesichter Gottes«)503 und anderer ist deutlich, wie wichtig die Kirchenräume und ihre Inanspruchnahme im Verlauf der Lebensgeschichte sind, gerade auch bei den »Schwellenüberschreitungen« in der eigenen Lebensgeschichte; das haben im übrigen alle EKD-Umfragen der letzten dreißig Jahre regelmäßig belegt. Es geht bei Amtshandlungen und der damit verbundenen Kasualpraxis nicht nur um die religiöse Gestaltung und Form kultischer Anlässe wie Taufe, Einschulung, Konfirmation, Trauung, Jubiläum und Beerdigung, sondern um ihre kognitiv-interpretierende, expressiv-emotionale und normativ-orientierende Kraft für die Zukunft. Christlich gesprochen: Es geht um »Heiligung von Lebensgeschichten«, was nach Drehsen immer in diesem Machtbezug zum Göttlichen und seiner Inanspruchnahme begründet liegt.504 In diesem Macht-Raum der Nähe Gottes, im Ritual und im Kirchenraum, hat das Wort Gottes durch eine integrale Amtshandlungspraxis (schützendes Ritual und der geschützte, umfriedete Bezirk des heiligen Raums) gestaltende, heilende, grenzüberschreitende, evangelisch gesprochen: rechtfertigende und heiligende Kraft. Dann ist das, was im KinderGarten als Initiation »grenzüberschreitend« zugesprochen und als Geschehen angeeignet wurde bei allen späteren Sozialisationsprozessen und Schwellenüberschreitungen weiter zu tragen und fruchtbar zu machen. 500 Th. Klie, Der Religion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses Lernen, a. a. O. 501 Obwohl gegenwärtig noch gilt: »Ein Überblick zur religionspädagosichen Praxis in Kindergarten und Kindertagesstätten […], der sich auf empirische Befunde stützen könnte, ist nicht verfügbar. Dies verweist erneut auf die Vernachlässigung religiöser, aber auch moralischer Erziehung in der entsprechenden sozialwissenschaftlichen und erziehungswissenschaftlichen Forschung.« (F. Schweitzer u. a. [Hrsgg], Religionspädagogik. Lehrbuch Praktische Theologie Band 1, Gütersloh 2006, S. 205. 502 V. Drehsen, Wie religionsfähig ist die Volkskirche? Sozialtheoretische Erkundungen neuzeitlicher Christentumspraxis, Gütersloh 1994. 503 K. P. Jörns, Die neuen Gesichter Gottes. Die Umfrage »Was die Menschen wirklich glauben« im Überblick, Neukirchen-Vluyn 1997. 504 V. Drehsen, a. a. O., S. 95 f.
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Erfahrungen des Göttlichen bewegen
Mit Victor Turner kann man sagen:505 Der Besuch dieser »liminalen« Räume kann Menschen helfen, neue Grenzen zu überschreiten und ihr Leben gelingen zu lassen. Das Angebot, solche Räume in dieser ihrer Kraft kennenzulernen, muß nicht nur die Kirche selbst, sondern auch die Schule im Fach Religion und in diesem Zusammenhang die Religionspädagogik bereits im theoretischen Bedenken des frühesten Kindesalters machen.
5.
Religionsphänomenologie und Religionspädagogik Es läuten alle Glocken, sie läuten nah und fern. Sie rufen uns zur Kirche. Wir Kinder kommen gern. Gott liebt die Kinder. Er lädt uns alle ein. Gott liebt die Kinder. Wir wollen bei ihm sein.
Die phänomenologischen Ansätze in der Religionspädagogik sind nach den frühen Arbeiten durch Eduard Husserl, in der weiteren Entwicklung mit den Namen Emmanuel L¦vinas, Bernhard Waldenfels und Peter Biehl verbunden.506 Besonders in der französichen Phänomenologie (Merlau-Ponty, Ricœur, L¦vinas) kommt es zu einem nachhusserlschen Verständnis der Lebenswelt. Diese Umgestaltung ist nach Peter Biehl besonders gut geeignet für die Religionspädagogik: Ist nach Biehl »Subjektwerdeung« ein lebenslanger Bildungsprozess, der »im Durchgang durch das Fremde, in der Wahrnehmung des anderen, die ihn als anderen anerkennt, sowie in der Wahrnehmung kultureller Differenz«507 geschieht, so hilft die Phänomenologie im Sinne Biehls, »weil sie offen ist für die Transzendenz als Frage nach Gott«.508 »Vom Göttlichen gibt es nur ›Spuren‹; es wird nicht Phänomen. Spuren stören die Ordnung der Welt, zerstört sie aber nicht. In Spuren offenbart sich das Heilige auf zweideutige Weise«.509
In jener frommen Flüchtlingsfrau in unserem kindlich eroberten Garten zeigte sich das Heilige auf zweideutige Weise, indem die »Fremde« sich zur Verfügung stellte, von uns ihr Geschenk angeeignet wurde, sie den »Vater im Himmel« aus 505 V. Turner, a. a. O., vgl. den Unterschied zwischen »liminal« und »limioid«! 506 Kurzer Forschungsbericht: H. Umbach, Heilige Räume – Pforten des Himmels. Vom Umgang der Protestanten mit ihren Kirchen, Göttingen 2005, S. 44 f. 507 P. Biehl, Der phänomenologische Ansatz in der deutschen Religionspädagogik, in: H.G. Heimbrock [Hrsg.], Religionspädagogik und Phänomenologie. Von der empirischen Wendung zur Lebenswelt, Forum zur Pädagogik und Didaktik der Religion Bd. 15, Weinheim 1988, S. 380 – 411. S. 27. 508 H. Umbach, a. a. O., S. 45. 509 P. Biehl, a. a. O., S. 28.
Religionsphänomenologie und Religionspädagogik
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ihrer geistigen Heimat mitten in unseren »Kindergarten« brachte und mit uns teilte. Hier schließt sich der Kreis! Das Kind macht bereits solche Erfahrungen von »ganz Anderem« (P. Tillich) an seiner »geheimen« geschützten Stelle: In dieser »geheimen« Stelle verbinden und verschmelzen zwei Erlebnisse: »das der Erfahrung der Außenstehenden und das der verstandenen Wirklichkeit […] Als das eigentliche Erlebnis der geheimen Stelle bleibt nun wieder, daß friedliche Gefühle und solche der Geborgenheit sich einstellen«.510 So kann die Phänomenologie helfen, die Wahrnehmung zu schärfen für »andere Räume«. M. Foucault nennt sie und ihre »Aufladung« mit bestimmten Qualitäten »Heterotopien«.511 »Heterotopien können Zeit speichern oder sie aufheben, setzen damit immer ein System von Öffnungen und Schließungen voraus und haben so eine Funktion für den übrigen Raum. Bordelle, Kolonien, Friedhöfe und Kirchen sind solche Heterotopien«.512 Deshalb müsste es, um mit A. Mertin zu sprechen, zur Ausbildung einer »Heterotopologie«513 kommen, um diese Orte, die in einem elementaren Sinne etwas mit Religion zu tun haben, qualifiziert beschreiben zu können.514 »Um in unserer ›Risikogesellschaft‹ auch emotional überleben zu können, braucht es, gerade auch für Kinder, Orte und Räume der Verlässlichkeit und Geborgenheit, des Rückzugs, der Klarheit und Reizreduzierung.«515 Eine solche Art zu entwerfende Heterotopologie kann der gegenseitigen Ghettobildung zwischen Schule und Kirche, Religion und Lebenswelt entgegenwirken, indem sie die gegenseitige Bezogenheit aller Räume gerade in ihrer jeweiligen Eigenart darstellt und Menschen befähigt, in der ganzen Wirklichkeit zu bestehen. Es läuten alle Glocken, sie läuten nah und fern. Sie rufen uns zur Kirche. Wir Kinder kommen gern. Gott liebt die Kinder. Er lädt uns alle ein. Gott liebt die Kinder. Wir wollen bei ihm sein.
510 M. J. Langeveld, Die Schule als Weg des Kindes, Braunschweig 1963, S. 74 – 86. 511 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge. Mit einem Essay von E. Muske, R. Konnersmann, Frankfurt/M 1993. 512 H. Umbach, Heilige Räume, a. a. O., S. 317. 513 A. Mertin, » … und räumlich glaubet der Mensch«. Der Glaube und seine Räume, in: Th. Klie [Hrsg], Der Religion Raum geben, a. a. O., S. 51 – 76, hier S. 59. 514 U. Pohl-Patalong, Von der Ortskirche zu kirchlichen Orten. Ein Zukunftsmodell, Göttingen 2004, sieht diesen Gedanken »kirchlicher Orte« an als einen dritten Weg zwischen parochialen und nichtparochialen Strukturen. Vgl. S. 136 – 155. 515 S. Tschöpe-Scheffler und H. Tschöpe, a. a. O., S. 47.
9.
»Andere Räume« – »Umfriedete Bezirke« – »Grenzüberschreitungen«. Protestantischer Kirchenbau zwischen Säkularisierung und Sakralisierung und die Relevanz der Kirchenraumpädagogik für die gegenwärtige religiöse Erziehung516
1.
Die Hagia-Sophia: Kirche, Moschee, Museum: ein mehrfach codierter Raum als europäisches Kulturerbe
Die restaurierte Kuppel der Hagia Sophia in Istanbul, der Europäischen Kulturhauptstadt 2010, ist seit Februar 2010 wieder in ihrer alten Schönheit zu sehen. Dieser gewaltige Raum, für dessen Errichtung die byzantinischen Baumeister nur sechs Jahre brauchten (Weihe am 27.12. 537), stand seit 1992, als ich sie das erste mal besuchte, also achtzehn Jahre, z. T. eingerüstet; so lange brauchten die türkischen Restauratoren, um einen Teil der alten wunderbaren Kuppel wieder so weit herzustellen, wie sie jetzt zu sehen ist. Was kam zum Vorschein? Der Engel, der nun auf die Besucher mit ernstem, wachsamem Gesicht herabblickt, war zweihundert Jahre lang unter sechs Schichten Putz verborgen: Die Seraphim – sechs Flügel rahmen ihr Gesicht – gewaltige Bilder unter einer gewaltigen Kuppel. In der Apsis grüßt die Gottesmutter mit dem Jesuskind, beschützt von den Erzengeln Gabriel und Michael. Majestätische Bilder in einem majestätischen Bau einer ehemaligen Kirche, die seit der Eroberung Konstantinopels 1453 als Moschee umfunktioniert und nach Atatürks Revolution in der Türkei seit 1935 nun als Museum genutzt wird. Seit 1992 ist nun dieser mächtige Bau in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen und Istanbul 2010 Europäische Kulturhauptstadt geworden. Die Schichten der europäisch-römisch-antiken Vergangenheit wurden so z. T. freigelegt und sollen für mein Thema des protestantischen Kirchenbaus fruchtbar gemacht werden. Die archäologischen Anstrengungen sind Ausdruck des Anschlusses der Türkei an die Moderne. Aber was kommt zum Vorschein? In der Hagia Sophia gerät ein Museumsbesuch zugleich zum Eintritt in eine (ehemalige) Moschee, zur (historischen) Kirchenerkundung und zum (theologischen) Blick in eine Tempel516 Vortrag am 4. November 2010 in der Universität Kassel anlässlich der Verleihung der Urkunde eines Honorarprofessors, erweitert aus der Vorlage in: Deutsches Pfarrerblatt 12/ 2010, Hg. P. Haigis.
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»Andere Räume« – »Umfriedete Bezirke«
vision aus dem Alten Testament (Jes 6). So ist dieser Bau ein mehrfach codierter Raum. Am Beispiel dieses herausragenden Gebäudes lässt sich auch der Säkularisierungs-prozess hervorragend grenzüberschreitend deutlich machen. In westlicher Tradition hat Atatürk diesen Bau als Kulturdenkmal erhalten, so dass nach jahrhunderterlanger Nutzung als Moschee auch andere Ursprungsdaten und -codes dieses Raumes wieder freigelegt werden konnten: Die Bilder von Jesus und Maria aus der christlichen Tradition und eben auch die Seraphim aus Jesaja 6: »In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf seinem hohen und erhabenen Thron, und sein Saum füllte den Tempel. Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße, und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum anderen und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!« (Jes 6,1 – 3) In der christlichen Tradition waren hier zunächst ihre Gesichter zu sehen, nach islamischer Tradition dürfen Gesichter nicht abgebildet werden. Die Restauratoren legten nun zum Teil die Ursprungsform wieder frei: Restaurierung als Beispiel einer Säkularisierung, die das geschichtliche Gewordensein selbst reflektiert und heraus-ragend dokumentiert.
2.
Das »Ende der Sakralität« und die Suche nach »Anderen Räumen«
Dies nimmt nun mein Vortrag auf, indem ich als protestantischer Theologe meine eigene Tradition vor dem Hintergrund einer gesamteuropäischen und zugleich interdisziplinären Sicht beleuchte und versuche, im gegenwärtigen Diskurs neu vom »Heiligen« zu sprechen. Sind nach evangelischem Verständnis heute Kirchen als »heilige Räume« oder gar »Gotteshäuser« zu bezeichnen oder sind sie schlicht mehr oder weniger gut funktionierende Versammlungsorte der christlichen Gemeinde? Mit meinen drei schlagwortartigen Begriffen »Andere Räume« – »Umfriedete Bezirke« – »Grenzüberschreitungen« versuche ich methodisch, auf phänomenologischer Grundlage die geistesgeschichtlich wirkmächtig gewordenen Entgegensetzungen von Sakralisierung und Säkularisierung zu hinterfragen und neu fruchtbar zu machen. So fokussiere ich die Fragestellung phänomenologisch auf die Frage nach dem »Heiligen« im Sinne Rudolf Ottos517 und Gerd van der Leeuws518 und 517 R. Otto, Das Heilige – Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1964 (19171). 518 G. van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, Tübingen, 19562.
Das »Ende der Sakralität« und die Suche nach »Anderen Räumen«
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entfalte sie dann vor dem Hintergrund der protestantischen Debatte der letzten 40 Jahre. Danach vertiefe ich sie mit neueren Forschungsergebnissen aus der neutestamentlichen Wissenschaft exemplarisch und bringe sie dann ein in die Debatte des gegenwärtigen Umgangs mit Kirchengebäuden und der neueren Frage nach dem »Sakralen« im 21. Jahrhundert. Dies ist besonders im Zusammenhang der Kirchenraumpädagogik ein wichtiges und aktuelles Thema der gegenwärtigen Religionspädagogik. Im Jahr 2006 gab das »Zentrum Verkündigung« der EKHN, Fachbereich Gottesdienst, Kunst und Kultur519 eine Sammlung von Aufsätzen, Anmerkungen und Verlautbarungen zum Kirchenraum heraus, die die ganze Vielfalt, Bandbreite, aber auch Ratlosigkeit, gegenwärtig im protestantischen Bereich von »heiligen Räumen« zu sprechen, dokumentiert. Horst Schwebel, der ehemalige Direktor des Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart der EKD, beantwortet die Frage »Was ist ein heiliger Raum?« mit Mircea Eliade als den Bereich, an dem die drei Weltebenen Himmel, Erde, Hölle zusammentreffen, »den Punkt, wo diese drei Regionen einander überschneiden. An diesem Punkt ist die Möglichkeit gegeben, dass eine der ›Weltebenen‹ aufbricht und dass eben mit diesem Aufbrechen eine wechselseitige Verbindung der drei Regionen untereinander zustande kommt.«520 Religionsgeschichtlich findet das seinen stärksten Ausdruck im Tempelmotiv. Dieses Tempelmotiv sieht Schwebel im Neuen Testament vergeistigt: Die Gemeinde selbst sei der Tempel des Heiligen Geistes (1 Kor 3, 16 f.), folgerichtig sei die Ablehnung eines heiligen, ausgrenzbaren Raumes neutestamentlich, die Welt sei keine Hierarchie von Orten »in Christus vermag der Gläubige die Welt als Gottes Schöpfung neu in Empfang zu nehmen«.521 So zählt für ihn am Ende: »statt ›heiliger Raum‹ die authentische Raumgestalt«.522 Gegenüber der Grundthese der Kirchbautagung 1965 in Bad Boll, die erstmals radikal den Sakralraum ablehnte und durch den mehrfach nutzbaren Funktionsraum ersetzen wollte, wird hier immer noch die Behauptung vom »Ende der Sakralität«523 durchzuhalten versucht. Der Neutestamentler Eduard Schweizer versuchte es damals auf den Punkt zu bringen: »Nichts ist im Neuen Testament heilig im Gegensatz zu einem profanen Bezirk bzw. besser gesagt, alles ist heilig, nichts mehr ist profan, weil Gott die Welt gehört und weil die Welt der Ort ist, an dem man Gott preisen und Gott Dank erweisen soll«.524 519 M. Benn (Hg), Heilige Räume, Frankfurt/Main 2006. 520 M Eliade, Ewige Bilder und Sinnbilder, Olten und Freiburg, 1958, S. 47. 521 H. Schwebel, Kirchenbau, heiliger Raum und architektonische Gestalt, in: M. Benn, a. a. O., S. 38 – 53, S. 40. 522 H. Schwebel, a. a. O., S. 53. 523 H.-E. Bahr (Hg), Kirchen in nachsakraler Zeit, Hamburg 1968. 524 E. Schweizer, »Gottesdienst im Neuen Testament«, Tagungsprotokoll Bad Boll, 1965. o.S., hier abgedruckt bei H. Schwebel, a. a. O., S. 45.
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»Andere Räume« – »Umfriedete Bezirke«
Der »vernünftige Gottesdienst« im Sinne von Römer 12, 1+2 sollte in den Weltbezügen stattfinden. Ausgeblendet wurde, dass der Apostel eben in diesen Kontexten vom lebendigen, heiligen, Gott wohlgefälligen Opfer spricht, zu dem die Gläubigen ihre Leiber hingeben (12, 1), indem sie sich gerade nicht dieser Welt gleichstellen sollen (12, 2). Auch architektonisch hatte die »Diesseitigkeit« der Welt in reiner Funktionalität der Bauten ihren Höhepunkt der massenhaft produzierten Langeweile erreicht: Schulen, Bankgebäude, Bundeskanzleramt, Wohnhäuser, Universitäten wurden landes- und bundesweit fast nur noch nach dreieckigen oder quadratischen Modulen gebaut, angesichts niedriger Heizkosten spielte riesiger umbauter, verschwendeter Raum keine wichtige Rolle, auch nicht in der Kirche. Der Weg für das multifunktionale Gemeindezentrum, in dem nacheinander oder nebeneinander alle möglichen Aktivitäten stattfinden konnten, war geöffnet. Das ständige »Umräumen« und Verschieben von Wänden wurde von voll dotierten Hausmeistern finanzkräftiger Gemeinden übernommen und »Kirche für andere« im Bonhoefferschen Sinn wurde meist als »Offenheit« und »Variabilität« missverstanden. Und oft waren es in dieser Zeit einzig die Denkmalpflegebehörden, die einen Abriss oder eine Umwidmung z. B. einer alten Dorfkirche verhinderten. Jedoch musste Schwebel schon damals feststellen: »Die qualitative Gleichstellung des für den Gottesdienst vorgesehenen Raumes mit den übrigen Gemeinderäumen wurde seitens der Gemeinden nicht akzeptiert«525. Hatten sie einen Sensus für »das Heilige«? Fast vierzig Jahre nach Bad Boll gibt nun der Arbeitsausschuss des Evang. Kirchbautages in Leipzig dem Thema »Sehnsucht nach heiligen Räumen« Raum526 und proklamiert i. J. 2003: »Wir nehmen wahr, dass sich immer mehr Menschen nach ›heiligen Räumen‹ sehnen, nach Rastplätzen für ihre Seele, nach Freiräumen für ihr Denken, nach Oasen für ihr Gebet sowie nach Feierorten für ihr Leben!« und: »Wir wissen, dass unsere Kirchengebäude hilfreiche Zeichen des Anderen in einer diesseitigen Welt und Wegweiser für Sinn in einer fragenden Welt sind. Wir erfahren, dass in der sich verhärtenden Konkurrenz um Wirtschaftsräume […] die Verdichtung der Stadträume auf Kosten der ›Anderorte‹ und damit auch zu Lasten der Kirchen geht«.527 Was ist ein »Anderort«? Ein Sehnsuchtsort? Eine Utopie? Oder mit Michel Foucault zu sprechen: Eine »Heterotopie«? Nimmt man das Wort »Wahrnehmung« methodologisch ernst, begeben wir uns nun auf den Weg phänomenologischer Beschreibungen. Der Religionspädagoge Peter Biehl hat schon früh die Raumerfahrungen von Kindern un525 H. Schwebel, a. a. O., S. 46. 526 Arbeitsausschuss des Evang. Kirchbautages, Leipziger Erklärung 2003: Nehmt eure Kirchen wahr, a. a. O., S. 244 – 246, hier S. 244. 527 M. Benn, a. a. O., S. 244.
Das »Sein in Christus« und der »umfriedete Bezirk«
119
tersucht und das Phänomen der »geheimen Stelle« freigelegt,528 er bezieht sich dabei auf den Raumphilosophen Otto Friedrich Bollnow529 und arbeitet die religiöse Dimension der »geheimen Stelle« als einen »besonderen Ort« heraus. Nach Foucault leben wir nämlich nie in einem absolut leeren Raum, sondern immer in einem Raum, der mit Qualitäten aufgeladen ist. »Wir leben, wir sterben und wir lieben nicht auf einem rechteckigen Blatt Papier. Wir leben, wir sterben und wir lieben in einem gegliederten, vielfach unterteilten Raum mit hellen und dunklen Bereichen, mit unterschiedlichen Ebenen, Stufen, Vertiefungen und Vorsprüngen, mit harten und mit weichen, leicht zu durchdringenden, porösen Gebieten«.530 Die Räume, die vollkommen anders sind als die übrigen, nennt er »Gegenräume«, sie lokalisieren Utopien, es sind »reale (n) Orte jenseits aller Orte«.531 Das können sein: »Gärten, Friedhöfe, Irrenanstalten, Bordelle, Gefängnisse, …«.532 Das »eigentliche Wesen der Heterotopien« liegt darin: »Sie stellen alle anderen Räume in Frage«,533 durch Illusion oder vollkommene Ordnung. »Das Schiff ist die Heterotopie par exellence«.534 Heterotopien sind Freiräume, Spielräume, Festräume und Traumräume. Dieser Begriff scheint mir mindestens offen und neuzeitlich anschlussfähig und durchaus geeignet dafür zu sein, das auszudrücken, was in biblischer Tradition »heilig« genannt wird.
3.
Das »Sein in Christus« und der »umfriedete Bezirk«
Liest man nun auf phänomenologischer Grundlage die biblischen und besonders die neutestamentlichen Textzeugen neu, kommt man angesichts der neueren Forschungen auf ein viel differenzierteres Bild von Raummotiven, als E. Schweizer das in Bad Boll 1965 zusammengefasst hat. Schon in der Interpretation des zentralen Textes aus Jesaja 6 (Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll) werden beide Aspekte religiös fruchtbar gemacht: Die Entzogenheit der Macht des Heiligen einerseits und die Weltzugewandheit/Offenbarung des Heiligen andererseits. »Die klassische Religionswissenschaft als Religionsphänomenologie (Otto, v. d. Leeuw) wird wieder entdeckt: die primär »objektbezogene Gefühlsbestimmtheit des Menschen« (sen528 Angaben siehe: H. Umbach, Heilige Räume – Pforten des Himmels, Vom Umgang der Protestanten mit ihren Kirchen, Göttingen 2005, S. 30 f. 529 O. F. Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart 1963. 530 M. Foucault, Die Heterotopien, Der utopische Körper, Frankfurt 2005, S. 9 f. 531 M. Foucault, a. a. O., S. 11. 532 M. Foucault, a. a. O., S. 11. 533 M. Foucault, a. a. O., S. 19. 534 M. Foucault, a. a. O., S. 21 f.
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»Andere Räume« – »Umfriedete Bezirke«
sus numinis) wird nicht als historisch abgängig von einem bestimmten Lehr- oder Traditionsgebäude gedacht (Baetke), sondern als anthropologisches Phänomen wieder entdeckt, das von der »Macht« des »Heiligen« angestoßen und bewirkt ist.«535 Daraus folgt: »Religiöse Texte (wie in christlicher Tradition die Grundlagentexte des AT und des NT) können mit Hilfe der Phänomenologie nicht nur als historische Texte gelesen werden – das müssen sie selbstverständlich auch – sondern auch als Dokumente menschlicher Wahrnehmung und Erfahrung des Göttlichen, Heiligen (Otto). Die Geheimnisstruktur der Wirklichkeit scheint ihnen bleibend auf«.536 Das ließe sich nun nicht nur in zahlreichen alttestamentlichen, sondern im Gegensatz zu E. Schweizers Auffassung ebenfalls in vielen neutestamentlichen Belegen demonstrieren. Aus Raumgründen kann ich hier nur Zusammenfassungen geben: Das Gegensatzpaar : Gott – Trennung von Gott (Hamartia/Sündenmacht) ist in alttestamentlicher Tradition Voraussetzung paulinischer Theologie. Sieht man die von mir untersuchten neutestamentlichen Texte, wird die in Jes 6 beobachtete Entdeckung fortgeführt und – christologisch – konkretisiert: »So wie in Jes 6 der Prophet »entsühnt«, d. h. gereinigt und »verwandelt« wird, um anschließend gesandt zu werden, werden »die Heiligen in Christus« eben dadurch zu »Heiligen«, dass sie und indem sie in den Machtbereich Christi geraten und damit in der Gegenwart Gottes leben. 1. Lebensgeschichten werden dadurch nach Paulus geheiligt, dass Menschen in der »Taufe in Christus« der todbringenden Macht der »Hamartia« gestorben sind und von nun an »für Gott« leben (Röm 6). 2. Der Wechsel vom »alten Menschen« (Adam) in den »neuen Menschen« (Christus) ist räumlich im Sinne eines Machtbereichs gedacht und bedeutet ein neues Sein. Das neue Sein ist durch den neuen Raum/Machtbereich bestimmt. 3. Das neue Sein »in Christus« wird als »Neuschöpfung« bezeichnet (Gal 6; 2 Kor 5). Taufe, Rechtfertigung, Neuschöpfung und Geistbegabung sind für Paulus miteinander verbundene Aspekte des eschatologischen Handelns Gottes an seiner Schöpfung (1 Kor 6,11). 4. Seit ihrer Taufe und der damit verbundenen Geistbegabung (Röm 8) können die Christen von Paulus mit dem Ausdruck »Tempel des heiligen Geistes« bezeichnet werden (1 Kor 3, 1 Kor 6). Einwohnungs- und Tempelmotiv drücken dabei auch räumlich-körperlich ein neues Sein aus: nicht mehr die Hamartia hat den Menschen besetzt, sondern Gott, d. h. sein Geist wohnt in ihm.
535 H. Umbach, a. a. O., S. 58. 536 H. Umbach, a. a. O., S. 59.
Das »Sein in Christus« und der »umfriedete Bezirk«
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5. Deshalb kann Paulus den sterblichen Leib der Christen als »verschlungen vom Leben« (2 Kor 5) bezeichnen. Mit Hilfe von Haus-, Zelt- und Gewandmotiven wird stoffliches und räumliches Denken zur Sprache gebracht und Anthropologie in eschatologischen Dimensionen beschrieben. 6. In der Paulusschule (hier am Beispiel Eph) gewinnen die von Paulus benutzten Raum- und Gewandmotive angesichts einer ausbleibenden Parusie neue systematische Kraft: »im göttlichen Kampfanzug« (Eph 6) kann und soll sich der Christ wappnen und ist in den Stand gesetzt, gegen die widergöttlichen Mächte zu siegen »in der Macht seiner Stärke«. Auf diese Weise wird körperlich-räumlich das neue Sein in der »aufgehobenen Zeit« bewährt. 7. Im Johannesevangelium, besonders in den Abschiedsreden – konkret in Joh 14 – wird theologisch-christologisch und christologisch-pneumatologisch in einer neuen Christengeneration und -situation räumliches Denken relevant: Die Gemeinde ist die eschatologische Gotteswohnung in der Welt. Zeitliches und räumliches Denken werden so in den Dienst der Eschatologie gestellt. Die Gegenwart der Gemeinde ist die Zeit des Parakleten, die den erhöhten Herrn in seinem Wort gegenwärtig weiß. Im Sprechen und Hören des Evangeliums/seines Wortes erschließt der Paraklet Christus selbst den Seinen. Auf diese Weise bleibt Gott bzw, der Sohn den Seinen bleibend zugewandt, im Gegensatz zum »Kosmos«, der Gott bzw. seinen Logos nicht erkennt und sein Wort nicht bewahrt und hält. 8. Im Hebräerbrief dient das Tempelmotiv und die damit verbundene kultische Sprache angesichts einer weiter gedehnten Zeit dazu, die Gemeinde angesichts von Zweifeln und Anfechtungen zu ermutigen und sie bei ihrer »Wanderschaft« in der Zeit zu versichern: Der Himmel selbst als Raum von Gottes Anwesenheit ist das Ziel, das Christus als Hoherpriester erreicht hat und in den er die Seinen schließlich führen will. 9. Heilsein und Heiligung werden in allen genannten Texten mit Raummotiven und körperlich-räumlicher Sprache bezeugt: »In Christus« bzw. im »Leib Christi« ist die Gemeinde Teilhaberin an Gottes Heiligkeit, die es im Leben auch angesichts von Anfechtungen zu bewähren gilt«.537 Im Gegensatz zur damaligen Position E. Schweizers ist nun gerade zu beobachten, dass im NT (und damit in atl. Tradition) nicht der Gegensatz »heilig – profan«, bzw. »zu Gott gehörig – zur gegengöttlichen Hamartia gehörig« eingeebnet oder aufgehoben wird, ganz im Gegenteil: indem die »in Christus« Getauften als »Neuschöpfung« leben, leben sie, radikal getrennt von ihrer Vergangenheit, ganz für Gott (Röm 6), dessen Allmacht allerdings auch die »gefallene« Welt untertan ist (Röm 9 – 11) und die gesamte Geschichte (Jes 6). 537 H. Umbach, a. a. O., S. 131 f.
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»Andere Räume« – »Umfriedete Bezirke«
»Das neue Leben der ›neuen Schöpfung‹ (2 Kor 5) äußert sich in der Gemeinde der ›Heiligen‹. In ihren konkreten Versammlungen und Mahlgemeinschaften ›in den Häusern‹ (Röm 16) bilden die ›in Christus Getauften‹ Keimzellen einer neuen Gemeinschaft, in der ›Jesus Christus der Herr‹ ist (Phil 2). Hier bilden sich Orte der Hilfe und der Heilung. […] In der Entwicklung hin zur ›Reichskirche‹ erfahren diese ›Hausgemeinden‹ eine enorme Umwandlung. Frühe Ansätze von rein kultisch genutzten Räumen werden seit Konstantin machtvoll in das römische repräsentative Staatsinteresse gestellt. Innerhalb der großen Bauten wird der Altar/Altarraum jetzt ausgegrenzt, hier dürfen nur Kleriker machtvoll handeln«.538 So bildet also von Anfang an die Gemeinde »in Christus« als »Leib Christi« einen »umfriedeten Bezirk«. Den frühchristlichen Rigorismus des Pls versuchen auch die nächsten Generationen, auch der Hebr, durchzuhalten, auch für die zweite und dritte Generation der Getauften. Die christlichen Gemeinden selbst und ihre (zunächst privat zur Verfügung gestellten Räume) bilden diese »umfriedeten Bezirke« als »Orte der Hilfe und der Heilung«539 und sind damit die Wohnung Gottes in einer multireligiösen, kaiserlich-militärischen Welt .540 Hermann Schmitz drückt das aus, was ein »umfriedeter Bezirk« meint: »Ein Wohnen läßt den Frieden und die entspannte Ruhe gedeihen«.541 So kann Kirche Gastgeberin sein! »Die Wohnlichkeit der Wohnung schafft nicht nur den bergenden Lebensraum für die zusammen darin wohnenden Menschen. Sie schafft zugleich einen Anziehungspunkt und wird fruchtbar auch für die anderen Menschen. […] Die vorhandene Wohnung eines anderen Menschen nimmt uns nicht nur in ihrem Zauber gefangen, sondern sie verwandelt uns, indem wir in der Atmosphäre ihrer Intimität zu uns selbst zurückgeführt werden«.542 Phänomenologisch gesehen bekommen wir hier die Möglichkeit, nicht nur die Attraktivität der Urkirche für die Anderen nachzuvollziehen, sondern auch historische und gegenwärtige Kirchengebäude in ihrer »Sakralität« neu zu entdecken. Der Gegensatz ist nicht »Gotteshaus« – »Gemeindehaus«, sondern vielmehr : »Ein heiliger Raum gehört der heiligen Macht«,543 die denen, die zu ihr 538 H. Umbach, a. a. O., S. 345. 539 H. Umbach, a. a. O., S. 147. 540 H. Umbach, a. a. O., S.147. Der »Pax Romana« wird entgegengehalten: »Christus ist unser Friede« (Eph 2,14). Die Konsequenz lautet: »So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen« (Eph 2,19). 541 H. Schmitz, Das Göttliche und der Raum, System der Philosophie III/4, Bonn 1977, S. 213 , H. Umbach, a. a. O., S. 32. 542 O. F. Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart 1963, S. 154. 543 M. Josuttis, Vom Umgang mit heutigen Räumen in: Th. Klie (Hg), Der Religion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses Lernen. Grundlagen, Veröffentlichungen des Religionspädagogen Instituts Loccum Bd. 3, Münster 1998, S. 34 – 43, hier S. 38.
»Grenzüberschreitungen«
123
gehören, Anteil gibt, so dass sie attraktiv sind für Andere. »Säkularisierung« und »Sakralisierung« bezeichnen also nicht nur geistesgeschichtliche Prozesse, sondern phänomenologisch unterschiedliche Sichtweisen.
4.
»Grenzüberschreitungen« in Fest und Feier, Begehung und Spurensuche
Ist der gesamte Kirchenraum also nicht nur äußerer Rahmen für den Gottesdienst, sondern im Sinne des phänomenologisch wahrgenommenen Wohnens Element eines eben geschilderten Gesamtgeschehens, ist er selbst Ausdruck der »Kunst ›Gott zu feiern‹«.544 Deshalb tragen die Kirchenräume immer auch Spuren ihrer gottestdienstlichen Nutzung, ihre »Heiligkeit« zeigt sich in den Spuren in ihrer »Christusanwesenheit«: »Heiligung erfolgt durch Nutzung«.545 Ist das Fest soziales Urdatum aller Religion, so wird der Gottesdienst offen für die Anwesenheit Gottes bzw. Christi als des »Herrn des Festes«546 gegen alle anderen Mächte. Die Phänomenologie schärft die Wahrnehmung für »andere Räume«, »Heterotopien« (Foucault). Heilige Räume müssen deshalb nicht »ontologisch-substanzhaft« behauptet werden, sondern sind als »religiöse Räume« offen für die Begegnung mit der »Macht des Heiligen« (Josuttis). In »Grenzüberschreitungen« bei Fest und Feier, Verkündigung, Taufe und Abendmahl, aber auch bei »Begehungen« und »Spurensuche« durch »Exkursionen« verhält sich der Mensch räumlich-sinnlich selbst als »Leibraum« zu den möglichen bzw. bezeugten Erfahrungen der göttlichen Macht. Die Profanität der gegenwärtigen Welterfahrung angesichts der Globalisierung und Kommerzialisierung ist in neuer Weise offen die Erfahrung von »Sakralität« in Raum und Ritual. Ein wahrhaft »menschlicher Raum«547 kann aber ohne »umfriedete Bezirke« nicht auskommen. Gegenwärtige Kirchenräume sind aber nicht nur durch »Grenzüberschreitungen« der Begehung in ihrem Innern als »Räume für die Seele«548 fruchtbar zu machen, sondern auch als Teil der äußerlichen Stadtsilhouette bzw. des ge544 R. Volp, Liturgik, Die Kunst, Gott zu feiern, 2 Bde, Gütersloh 1992/94. 545 K. Raschzok, Der Feier Raum geben. Zu den Wechselbeziehungen von Raum und Gottesdienst, in:Th. Klie (Hg), Der Religion Raum geben a. a. O., S. 112 – 135, »Ein Raum wird deshalb zum heiligen Raum, weil sich in ihm Spuren der Christusanwesenheit mit Spuren der Lebensgeschichte seiner Nutzer verbunden haben«, hier S. 127. 546 W. Lipp, Der öffentliche Stadtraum und das religiöse Fest, in R. Bürgel (Hg). Raum und Ritual. Kirchbau und Gottesdienst in theologischer und ästhetischer Sicht, Göttingen 1995, S. 11 – 23. 547 H. Cox, Stadt ohne Gott?, Göttingen 1966. 548 F. Steffensky, Der Seele Raum geben, Kirchen als Orte der Besinnung und Ermutigung, in: M. Benn (Hg), Heilige Räume, a. a. O., S. 12 – 37.
124
»Andere Räume« – »Umfriedete Bezirke«
samten Ortsbilds nicht nur »historische« Symbole vergangener Gesellschaften, sondern zugleich auch »Zeichen« der »Gegenwart Gottes in der Welt«. Ihr bloßes Vorhandensein ist, phänomenologisch gesehen, ein Zeichen der »Grenzüberschreitung« im öffentlichen Raum: sie bezeichnen somit »Pforten des Himmels« auf der Erde.549
5.
Kirchenraum-Pädagogik als Exkursion in »Heterotopien«
Die Bedeutung der Kirchenraumpädagogik für die gegenwärtige religiöse Erziehung ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Jenseits und unabhängig von allen Theorie-Diskussionen über Säkularisierung und Sakralisierung ist sie zunächst entstanden aus ganz praktischen Exkursionen und Erkundungen in andere Lebenswelten außerhalb der Schule. Es ging ihr aber dabei von Anfang an nicht um eine »Verschulung« des Lebens, sondern um ein Öffnung der Schule mit ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten für die unterschiedlichen Lebenswelten: eine Erweiterung der Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler war das Ziel. Dies aber ist ein phänomenologischer Ansatz jenseits aller konfessionell-dogmatischer Engführungen. Hier schließt sich nun der Kreis zum Fachbereich Geistes- und Kulturwissenschaften dieser Universität: Menschliche, kindliche Erfahrungen sind hier fruchtbar zu machen für ihren »religiösen« Gehalt als »Heterotopien« – mittels der Phänomenologie! So formulierte die 10. Synode der EKD auf ihrer 1 Tagung zum Thema: »Der Seele Raum geben«: »Wer eine Kirche aufsucht, betritt einen Raum, der für eine andere Welt steht. Ob man das Heilige sucht, ob man Segen und Gottesnähe sucht oder schlicht Ruhe, ob ästhetische Motive im Vordergrund stehen – immer spricht der Raum: Durch seine Architektur, seine Geschichte, seine Kunst, seine Liturgie. Kirchen sind Orte, die Sinn eröffnen und zum Leben helfen können, Orte der Gastfreundschaft und Zuflucht. Sie sind Räume, die Glauben symbolisieren, Erinnerungen wach halten, Zukunft denkbar werden lassen, Beziehungen ermöglichen: zu sich selbst, zur Welt, zu Gott.«550 Und weiter : »Es ist eine schöne und notwendige Aufgabe, den Besuchern einer Kirche deren Funktionen, ihre Ausstattung, die Sprache ihrer Kunstschätze zu deuten und inhaltlich aufzuschließen. Darin drückt sich auch die Gastfreundlichkeit einer Kirchengemeinde aus. Die Synode bittet die Gemeinden, die Kirchenpädagogik [!] und die Schulung interessierter Gemeindeglieder weiter zu fördern. Speziell im Blick auf 549 So »werden Kirchenräume als gebaute Liturgie und räumlich gestaltetes Gebet wahrgenommen« H. Umbach, Wie im Himmel – so auf Erden. Über Raumträume und Traumräume im Gottesdienst, in: Chr. Bizer/J. Cornelius-Bundschuh/H.-M. Gutmann(Hg): Theologisches geschenkt, FS M. Josuttis, Bovenden 1996, S. 59 – 75, hier S. 67. 550 Abgedruckt in: M. Benn, a. a. O., S. 247 – 251, hier S. 247.
Thesen
125
Kinder gibt es gute Anleitungen, die noch mehr in Anspruch genommen werden sollten.«551
3 Thesen zum Schluss 5.1 Die »umfriedeten Bezirke« der eigenen Tradition erschließen als »Andere Räume« Dimensionen des »Heiligen«, so wie auch die »umfriedeten Bezirke« der anderen Traditionen, Konfessionen und Religionen offen sind für die Erfahrung, im »Fremden« »Spuren des Heiligen« zu entdecken.
5.2 »Grenzüberschreitungen« in Fest und Feier ermöglichen eine Identifikation mit eigener Tradition und sind die Voraussetzung für Offenheit gegenüber anderen Kulturen und Religionen.
5.3 Die »anderen Räume« der Religionen sind als »Heterotopien« Orte der Begegnungen mit dem »Heiligen« und können als Orte des »Friedens« und der Zuflucht wahrgenommen werden. Interreligiöser Dialog findet besonders durch gegenseitige Besuche (als Gast und Gastgeber) an diesen Orten statt.
551 M. Benn, a. a. O., S. 250.
10. Räume und Rituale als Rekonstruktion des Religiösen. Transformationen in »Andere Räume« und »Umfriedete Bezirke«552
Manfred Josuttis zum 75. Geburtstag
In drei Schritten möchte ich mich diesem Thema nähern, bei dem ich den Konstruktions- bzw. Rekonstruktionsbegriff in dem Bereich des Religiösen zu klären versuche, zunächst als Ableitung bzw. Kontrast zu dem Begriff der Transformation, um ihn dann theologisch zu präzisieren an biblischen Texten und neutestamentlich begründeten christlichen Ritualen: 1. Die Virtualität der Medien und die Leiblichkeit des Menschen (Raum) 2. Raumträume und Traumräume als Grund der religiösen Rekonstruktion (Ritual) 3. Der »Heilige Raum« als »Pforte des Himmels« zum »Weg in das Leben« (Religion)
1.
Die Virtualität der Medien und die Leiblichkeit des Menschen
In seinem Grundsatzreferat beim 26. Evang. Kirchbautag im Oktober 2008 in Dortmund setzt sich Thomas Erne, der Leiter des EKD-Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart mit dem Thema »Transformation als Zukunftsaufgabe der Kirche«553 mit den neuen Formen religiöser Interaktion und dem virtuellen Verständnis des religiösen Raumes auseinander, indem er sagt: Einerseits gilt, »dass in der Tat das Internet eine Zukunft der Kirche sein wird […]. Zugleich aber setzt diese zukunftsfähige Transformation von Kirche den 552 Vortrag zu den Bauhaus Lectures 2011 Dessau, 26./27. Mai 2011: Die Welt und ihr Double, Abriss zur Rekonstruktion: Religion – Rekonstruktion des Heiligen aus Texten/Handlungen 553 Th. Erne, Transformation als Zukunftsaufgabe der Kirche, in: Kunst und Kirche, Sonderheft 2009: Übergänge gestalten, 26. Evang. Kirchbautag, Die Dokumentation, S. 26 – 30.
128
Räume und Rituale als Rekonstruktion des Religiösen
materialen Realraum der Kirche, in der wir sitzen, in ein neues Recht.«554 Oder präziser : »Die mediale Explosion der religiösen Kommunikation via internet, und zwar als ihre materiale Kompensation, die Realraumkirchen und die RealLeib-Kommunikation: Predigt, Taufe, Abendmahl, Hochzeit, Bestattung, Konfirmation, das alles ist ein Segen, aber nur von Angesicht zu Angesicht und in gut gebauten Kirchenräumen.«555 Denn: »In der virtuellen Welt wird diese Dimension des Leiblichen […] gerade ausgeschlossen.«556 Im Unterschied zum »Spielraum des Theaters« lässt sich diese »fiktionale Realitätsverdoppelung« nicht »nahtlos an das Sozialverhalten des leiblichen Selbst zurückbinden.«557 Damit wird die »Transformation« der »Realräume« der Kirche neu problematisiert und (zurück)gewonnen.
1.1
Virtualisierung als »Entbettung«
Bereits i.J. 2006 gehörten 60 % der deutschen Bevölkerung zu den »Onlinern«, 97 % der 14 – 19 jährigen,558 sie bewegen sich damit im »medialen Raum«, in ihm »geht das Tastempfinden verloren, der Gehörraum, der Gefühlssinn, das Temperaturempfinden. Auch der Sehraum verändert sich.«559 Virtuelle Räume finden soz. auf einer »Fläche«, wenn auch in dreidimensionaler Illusion, statt. Diesen Vorgang kann man mit dem Soziologen Anthony Giddens als »Entbettung« bezeichnen.560 Mit »Entbettung« benennt man Vorgänge, bei denen »(soziale) Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen herausgehoben werden.«561 Dieses »Herausheben« meint eine Transformation, eine Art »Entbindung« aus der direkten leiblichen Kommunikation: »Eine solche ›Entbettung‹ löst eine Interaktionsstruktur wie einen Gottesdienst aus den Zwängen ortsgebundener Gewohnheiten und ortsgebundener Anwesenheit und bietet so vielfältige und hochwirksame Möglichkeiten zur Transformation von religiös Indifferenten zu religiösen Probanden, von religiös Beteiligten zu reli554 Th. Erne, a. a. O., S. 27. 555 Th. Erne, a. a. O., S. 27. 556 Th. Erne, a. a. O., S. 27. »Kirche im virtuellen Raum kann daher keine Nachahmung von Kirche im realen Raum mit etwas anderen technischen Mitteln sein, so wenig wie Kunst in der Moderne noch Nachahmung der Natur mit künstlerischen Mitteln ist.« 557 Th. Erne, a. a. O., S. 27. »Kirche im Internet fügt daher der real existierenden Kirche eine eigene Form hinzu, eine kommunikationsenthemmte Form von Kirche, eine ecclesia virtualis sui generis« 558 N. Döring, Kommunikation in virtuellen Räumen, GAGF 01/2007, S. 9, vgl. Th. Erne, a. a. O., S. 28. 559 Th. Erne, a. a. O., S. 29. 560 A. Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a.M. 1996. 561 A. Giddens, a. a. O., S. 33.
Die Virtualität der Medien
129
giösen Beobachtern, von solchen, die mit Ernst Christen sind […], zu solchen, die das eine oder andere in der christlichen Religion einfach einmal ausprobieren wollen.«562 Diese Räume sind, so meint Th. Erne mit Michel Foucault, »Illusionsheterotopien«.563 In diesen virtuellen Interaktionszusammenhängen ist gerade das, was »virtuelle Andachtsräume«564 versprechen, nicht möglich: »Das Verweilen in diesem Raum [ ! ] als Einübung in die Stille: Vor Gott verweilen und spüren, was in einem selbst vorgeht«.565 Denn auch das »Herausgehen« aus diesem »Raum« ist ein weiteres Benutzen des Bildschirms. Diese virtuell propagierte »Leiblichkeit« (Spüren, was in einem selbst vorgeht) durch das »Betreten« eines »virtuellen Andachtsraumes« wärmt nicht mehr als fotografiertes oder gefilmtes Kaminfeuer auf dem »Schirm«, der »Raum« ist eine »Illusionsheterotopie«. Die »Schutzhülle« für die Leiblichkeit wie z. B. das »Bett« ist rein virtuell und nicht leiblich-real.
1.2
Die Leiblichkeit des Menschen und der Raum
Der Leiblichkeit des Menschen, d. h. seiner Körperlichkeit566 entsprechen daher direkte »Begehungen«, »Exkursionen«, »Fest« und »Feier«567 in einem real existierenden »Freiraum«568, einem »Ander-Ort«, einem »umfriedeten Bezirk«, einer wirklichen »Heterotopie«,569 und – das ist meine These – in einen bzw. in einem »heiligen Raum«, der dann »Pforte des Himmels«, Übergang, Schwelle, Transformationsort werden kann. Dies ist aber ein – religionswissenschaftlich gesprochen – phänomenologischer Ansatz, der anthropologisch verankert ist: »Mensch sein heißt: als Sterblicher auf der Erde zu sein, heißt: wohnen.«570 562 Th. Erne, a. a. O., S. 29. 563 M. Foucault, Andere Räume, in: Aisthesis, Leipzig 1990, S. 34 – 46, hier : S. 45. 564 Z.B.: www.frankfurt-evangelisch.de, die Internetseite des Evang. Regionalverbands Frankfurt. 565 Zitat bei Th. Erne, a. a. O.,S. 26. 566 M. Josuttis, Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage, München 1991, spricht deshalb von »Leibraum« und »Körperarbeit«, z. B. S.97. 567 Vgl. H. Umbach, Heilige Räume – Pforten des Himmels, Vom Umgang der Protestanten mit ihren Kirchen, Göttingen 2005, S. 295 – 339. 568 »Freiräume« nennt R. Volp in Liturgik: Die Kunst, Gott zu feiern, Bd1: Einführung und Geschichte, Gütersloh 1994, S. 84: »›Tempel‹ der Ruhe. Die Meinung, man könne überall Gottesdienst feiern, gilt praktisch nur für zwei Fälle: – in Ausnahmefällen, die durch existentielle Betroffenheit (etwa bei einem Verkehrsunfall) Raum und Zeit nichtig werden lassen – für Menschen mit hoher spiritueller Übung, die gleichsam aus der Ruhe heraus leben.« 569 M. Foucault, Andere Räume, in: Aisthesis, Leipzig 1990, S. 34 – 46. 570 M. Heidegger, Bauen, Wohnen, Denken, in: ders. Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 145 – 162, hier : S. 146.
130
Räume und Rituale als Rekonstruktion des Religiösen
»Bauen« leitet Martin Heidegger von »buan«, »wohnen«, »bleiben« ab. »›Ich bin‹ heißt aber ›ich wohne‹.«571 »Der eingefriedete Raum gehört zum menschlichen Leben wie die körperlichen Erstreckungen des Leibes«572, sagt O. F. Bollnow über die Wohnung, d. h. den Raum. In der Religionspädagogik sind es H. J. Langeveld und P. Biehl, die – vom Wohnen ausgehend – von der »Welt des Kindes« z. B. an der »geheimen Stelle« auf dem »Dachboden«, der als »unheimlich« erlebt wird, phänomenologische »Analogien zum Erleben der Religion«573 beschreiben. Dieser Ort ändert sich mit dem Alter, aber : »Das eigentliche Erlebnis der geheimen Stelle bleibt immer wieder, daß friedliche Gefühle und solche der Geborgenheit sich einstellen«.574 Damit wird die Räumlichkeit der Religion festgehalten: »Alle Religion bedeutet ein Erleben des Ichs in der Welt und diese Welt selbst auf dem Hintergrund eines unergründlichen Geheimnisses. Eines Geheimnisses, das bisweilen Verheißung, bisweilen Bedrohung bedeutet.«575 In religiöser Hinsicht ist deshalb von Bedeutung, was für menschliches Wohnen allgemein gilt: »Intensive Erlebnisse bedürfen räumlicher Grenzen, der Umfriedung in einem gestalteten Raum«.576 Wohnen im »umfriedeten Bezirk« bedeutet, dass Menschen »dank der Umfriedung« eine Chance haben und wahrnehmen, mit ergreifenden Atmosphären in der Weise vertraut zu werden, daß sie sich unter Ihnen zurechtfinden und mehr oder weniger über sie verfügen.«577 Diese anthropologisch-phänomenologische Beschreibung ist eine wesentliche Voraussetzung auch für die Rede vom »Heiligen Raum«!
2.
Raumträume und Traumräume als Grund der religiösen (Re-)konstruktion
Gerd van der Leeuws berühmtes Werk »Phänomenologie der Religion« beginnt mit dem bedeutungsvollen Satz »§1 MACHT. 1. Was der Religionswissenschaft Objekt der Religion heißt, ist der Religion selbst Subjekt.«578 Die Phänomeno571 572 573 574 575 576
M. Heidegger, a. a. O., S. 146. O. F. Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart 1963, S. 148. H. Umbach, a. a. O., S. 31. M. Langeveld, Die Schule als Weg des Kindes, Braunschweig 1963, S. 74 ff. M. Langeveld, Das Kind und der Glaube, Braunschweig 1959, S. 35. P. Biehl, Wohnen – Raumerfahrung von Kindern. Eine phänomenologische Beschreibung. In: H.-G. Heimbrock (Hg): Religionspädagogik und Phänomenologie. Von der empirischen Wendung zur Lebenswelt, Forum zur Pädagogik und Didaktik der Religion, Bd. 15, Weinheim 1988, S. 203 – 216, hier: S. 209. 577 H. Schmitz, Das Göttliche und der Raum, System der Philosophie III/4, Bonn 1977, S. 213: »Solche Vertrautheit entlastet von der Unruhe des unvermittelten Preisgegebenseins an die abgründigen Erregungen und läßt daher den Frieden und die entspannte Ruhe gedeihen.« 578 G.v.d. Leeuw, Phänomenologie der Religion, Tübingen 19562, S. 3. »Sondern das Phänomen
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logie rechnet nach M. Josuttis damit, dass es »das Heilige« gibt, als »eine Wirklichkeit, die immer präsent, aber nicht immer zugänglich ist.«579 Das Heilige erschließt sich nur durch das Heilige selber.580 Mit diesem religionsphänomenologischen Ansatz kann man ebenso davon ausgehen, dass die Bibel als »Heilige Schrift« Wirklichkeiten erschließt, »die sich von der Realität des Heiligen her interpretieren lassen.«581 »Deshalb ist sie auch heute ›Heilige Schrift‹ und möglichst wörtlich und möglichst wirklich zu nehmen.«582 Eine Religionsphänomenologie, die »im Machtbereich« des »Heiligen« arbeitet, kann also »die klassischen Positionen Ottos und v. d. Leeuws übernehmen und weiterentwickeln: dem sinnlich-körperlichen Aspekt der Wahrnehmung entspricht der räumliche (Schmitz).«583 »Religiöse Texte (wie in christlicher Tradition die Grundlagentexte des AT und NT) können mit Hilfe der Phänomenologie nicht nur als historische Texte gelesen werden – das müssen sie selbstverständlich auch – sondern auch als Dokumente menschlicher Wahrnehmung und Erfahrung des Göttlichen, Heiligen (Otto). Die Geheimnisstruktur der Wirklichkeit scheint in ihnen bleibend auf.«584
2.1
Ein Raumtraum begründet und (re-)konstruiert den Traumraum (Gen 28)
Wie kommt es zu Transzendenzerfahrungen, wie und warum werden sie an bestimmten Orten »lokalisiert« und wie kann umgekehrt durch wiederholte kultische oder rituelle Verrichtungen eine Ebene vorbereitet werden, »auf der sich dann die Erfahrung des Göttlichen einstellen kann,«585 die ihrerseits wieder nach Konstruktion bzw. Rekonstruktion dieser Räume verlangen? Ein »Grundlagentext« aus dem Alten Testament zeigt dies exemplarisch: »Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm
579 580 581 582 583 584 585
ist ein subjektbezogenes Objekt und ein objektbezogenes Subjekt […]. Das Phänomen wird vom Subjekt nicht produziert, noch weniger wird es von ihm erhärtet oder erwiesen. Sein ganzes Wesen ist darin gegeben, daß es sich zeigt, sich ›jemandem‹ zeigt. Fängt dieser ›jemand‹ an, über dieses Zeigende zu reden, so ist die Phänomenologie da,« a. a. O., S. 769. M. Josuttis, Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität, Gütersloh 1996, S. 18. H. Umbach, a. a. O., S. 57, dort ebenso Hinweise zum Thema »Initiation«. M. Josuttis, a. a. O., S. 55. H. Umbach, a. a. O., S. 57, vgl. M. Josuttis, a. a. O., S. 18; 125 und K. Barth, Kirchliche Dogmatik I/1, Zürich 19648, S. 194. H. Umbach, a. a. O., S. 58 f., vgl. R. Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1964 (19171). H. Umbach, a. a. O., S. 59. H. Umbach, a. a. O., S. 63.
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Räume und Rituale als Rekonstruktion des Religiösen
einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen. Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und der Herr stand oben darauf und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe. Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er : fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wußte es nicht! Und er fürchtete sich und sprach: Wie schauerlich ist diese Stätte. Das ist nichts anderes als eine Wohnung Gottes, und dies ist das Tor des Himmels. Und als Jakob am Morgen aufstand, da nahm es den Stein, den er sich zu Häupten gelegt hatte, stellte ihn als Malstein auf und salbte ihn an seiner Spitze mit Öl. Und er gab jener Stätte den Namen Bethel, während die Stadt den Namen Lus hatte.«586
Eine im doppelten Sinn leiblich-räumliche »Einbettungsgeschichte«, die den Traumort lokalisiert und (re-)konstruiert, nachdem sie ihn im Traumraum transzendiert hatte! Ein Träumender hat eine Transzendenzerfahrung. Der Flüchtende entdeckt den heiligen Ort im Schlaf, er findet hier Ruhe auf der Flucht. Der Stein, der später, nach dem Erwachen, aufgerichtet wird, hat vorher als »Kopfkissen« gedient,587 bzw. als »Schutz hinter seinem Kopf.«588 Dieser Stein »war ihm im Traum nahe, der ihm die Heiligkeit des Ortes offenbarte; er war der Zeuge dieses Traumes.«589 »So wie der Schlafende im Traum verwandelt und aufgerichtet wird durch die Gegenwart des Heiligen, so wird der liegende Steinzeuge vom Erwachten seinerseits aufgerichtet zu einem Steinmal.«590 Der Konzentration und Konkretion an diesem Ort folgt die symbolische und architektonische Konstruktion der Aufrichtung des Steins als Rekonstruktion des Traums! Eine Massebe wird aufgestellt und mit Öl begossen.591 Die symbolische Rekonstruktion ist eine architektonische Konstruktion! Damit wird dieser Stein als das eigentliche Heiligtum von Bethel bezeichnet. Durch die unterschiedlichen Traditionsstränge und ihre literarische Verknüpfung im »Endprodukt« Gen 28 folgt auf die Konzentration (Traum), Konkretion (Ort), Konstruktion
586 Gen 28, 10 – 19, vgl. H. Umbach, a. a. O., S. 63, in der Luther-Übersetzung heißt es: »Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nicht anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels« (V. 17). 587 H. Gunkel, Genesis, GHKAT, Hsg. W. Nowack, Göttingen 19778, S. 318. 588 C. Westermann, Genesis (2. Teilband Gen. 12 – 36), BK I/2, Neukirchen 1981, S. 553. 589 C. Westermann, a. a. O., S. 557. 590 H. Umbach, a. a. O., S. 66. 591 H. Gunkel, a. a. O., S. 319.
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(Aufrichtung des Steins und Benennung des Heiligtums) schließlich die expansive Kommunikation als Entgrenzung und Universalisierung: »Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden.«592
Eine religiöse Universalität wird hier örtlich, räumlich und leiblich konkret. Und nach dem Verlust des Heiligtums mitsamt der gewaltigen Bedeutung Bethels, zum einen nach der Zentralisierung des Tempelkultes in Jerusalem,593 zum anderen nach dem Verlust des Jerusalemer Heiligtums und des Landes durch das Exil von Babylon, findet mittels der Verschriftlichung dieser Tradition eine weitere Transformation statt: Im Gelübde Jakobs »so soll der Herr mein Gott sein«594 und der Selbstverpflichtung des Einzelnen findet die Entgrenzung und Universalisierung dieses Geschehens als Möglichkeit der Partizipation für alle statt. Aus einem lokalen Kult wird durch Verschriftlichung eine Weltreligion! Die ursprüngliche »Einbettung« wird nach ihrer (Re-)Konstruktion personalisiert, universalisiert und damit mehrfach transformiert: Alle werden »in ihm«, d. h. »in Jakob« gesegnet! Nach Michel Foucault bezeichnet dieser Ort, einschließlich der (Re-)Konstruktion des Kultes und einschließlich der Transformation ins Universale als Ort der »Verwandlung« eine wirkliche »Heterotopie«.595 Diese Personalisierung wird dann im Neuen Testament »in Christus« universal auf die ganze Menschheit gedacht, aber auch immer räumlich ausgedrückt, selbst in den Texten!
2.2
Der Raum »in Christus« als (religiöse) Neuschöpfung im Ritual der Taufe
»Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur, das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.«596 Was im Internet unsere virtuellen Vertreter, als eine zweite Chance, »mein ›second life‹, so der Name des globalem interaktiven Simulationsspiels«597 versprechen, »indem die ganze Wirklichkeit als ein Spiel verdoppelt wird«, ist »eine virtuelle Welt, eine simulierte Kosmologie«,598 also eine Simulation, bzw. eine (spielerische) Illusion, bzw. eine Projektion. Dem gegenüber ist festzuhalten: »Das authentische Bekennen, Singen, Essen, Loben, 592 593 594 595 596 597 598
Gen 28,14. Vgl. H. Gunkel, a. a. O., S. 321. Gen 28,20 – 22 M. Foucault, a. a. O. 2 Kor 5,17 Th. Erne, a. a. O., S. 29. Th. Erne, a. a. O., S. 29.
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Räume und Rituale als Rekonstruktion des Religiösen
Klagen, Beten im realen Kirchenraum, worin sich religiöse Akteure wechselseitig als Beteiligte am religiösen Ritual wahrnehmen können, ist nicht Teil der religiösen Internet-Kommunikation.«599 Wie wird also die »neue Kreatur« leibhaftig erfahrbar? Bzw.: Wie wird die Schöpfung real »neu«? oder : Wie wird menschliches Leben authentisch, religiös gesprochen, wie werden »Lebensgeschichten geheiligt,«600 wie werden »Lebensgeschichten gerechtfertigt«601, wie wird menschliches Leben »gut«, wie wird es »bewahrt und gerettet«?602 Für die paulinische Theologie hat besonders der Neutestamentler Udo Schnelle eine Entwicklung von vor- bzw. frühpaulinischen Taufaussagen (mit der Formel »in Christus«) hin zu seiner später entfalteten Rechtfertigungslehre aufgezeigt.603 Systematisch zugespitzt lautet die Antwort: »Lebensgeschichten werden nach Paulus dadurch geheiligt, dass Menschen in der ›Taufe in Christus‹ der todbringenden Macht der ›Hamartia‹ (Sünde) gestorben sind und von nun an ›für Gott‹ leben (Röm 6).«604 »Der Wechsel vom ›alten Menschen‹ (Adam) in den ›neuen Menschen‹ (Christus) ist räumlich im Sinne eines Machtbereichs gedacht und bedeutet ein neues Sein« (Röm 5 und 6).605 Dieses räumlich-körperlich verstandene »neue Sein« ist gekennzeichnet von der »Abwaschung« (der Sünde), »Heiligung« (durch Gott), »Rechtfertigung« (in dem Namen des Herrn Jesus Christus) und durch »Geistbegabung« (des Geistes Gottes).606 Deshalb können die Christen als »Tempel des heiligen Geistes« (1 Kor 3; 1 Kor 6) räumlichkörperlich-leiblich bezeichnet werden, ihr sterblicher Leib ist »verschlungen vom Leben« (2 Kor 5). In der späteren Paulusschule werden diese Raummotive noch erweitert zu Gewandmotiven (»im göttlichen Kampfanzug«), die die reale »Macht seiner Stärke« (Eph 6) ausdrücken.607 Im Ritual des Taufgottesdienstes kommt dies durch reales Wasser und das persönlich zugesprochene göttliche Machtwort persönlich-leiblich zur Wirkung. So könnte man theologisch von 599 Th. Erne, a. a. O., S. 30. 600 V. Drehsen, Wie religionsfähig ist die Volkskirche? Sozialtheoretische Erkundungen neuzeitlicher Christentumspraxis, Gütersloh 1994, S. 174 ff. 601 W. Gräb, Rechtfertigung von Lebensgeschichten. Erwägungen zu einer theologischen Theorie der Amtshandlungen, in: Pastoraltheologie 76 (1987), S. 21 – 38. 602 K.-P. Jörns, Die neuen Gesichter Gottes. Die Umfrage: »Was die Menschen wirklich glauben« im Überblick, Neukirchen-Vluyn 1997, S. 15. 603 U. Schnelle, Gerechtigkeit und Christusgegenwart. Vorpaulinische und paulinische Tauftheologie, GTA 24, Göttingen 1983, ders. Wandlungen im paulinischen Denken, SBS 137, Stuttgart 1989. 604 H. Umbach, a. a. O., S. 131. 605 H. Umbach, a. a. O., S. 131. 606 1 Kor 6,11: »Aber ihr seid abgewaschen, aber ihr seid geheiligt, aber ihr seid gerechtfertigt in dem Namen des Herrn Jesus Christus und in dem Geist unseres Gottes.« 607 H. Umbach, a. a. O., S. 132, der Kolosserbrief steigert diese Raummotive ins Kosmische, z. B. Kol 2,9 u. 10 »Denn in ihm [d. h. Christus] wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig, und an dieser Fülle habt ihr teil in ihm, der das Haupt aller Mächte und Gewalten ist.«
Der »Heilige Raum« als »Pforte des Himmels« zum »Weg in das Leben«
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göttlicher »Konstruktion« bzw. »Rekonstruktion« bzw. »Neukonstruktion« des Menschen »in Christus« sprechen! Parallel gilt dies für das Abendmahl: Im »Altarsakrament« erkennt der Glaube »auf dem Tisch« in den Elementen von Brot und Wein Leib und Blut Christi: Leibliche Speisung findet statt, gleichzeitig gilt, wie Martin Luther sagt: »Im Glauben erreicht Gott in Wort und Sakrament das ›Herz‹ des Menschen, um ihn an Leib und Seele zu erfüllen.«608 Phänomenologisch beachtenswert ist in der Reformation seit Martin Luther, aber auch in der Mystik und in der Folge Luthers die Betonung des »Herzens« als Ort der Gegenwart Gottes. »Das bedeutet für ihn aber […] nicht, dass der Glaube auf sinnlich fassbare Symbole verzichten muss oder kann, im Gegenteil: sie dienen der Bezeugung des Evangeliums, mit dem Gott den ganzen Menschen beansprucht, rechtfertigt und heiligt.«609 Besonders im lutherisch geprägten Protestantismus wird die Zuordnung von »Wort« und »Sakrament« in ihren zentralen Symbolen in Raum und Ritual ausgeformt (Kanzel, Taufe, Altar als Prinzipalstücke des Kirchenbaus, sowie Orgel).610 Der Gottesdienst als religiöses Ritual ist nicht nur die Versammlung der Gläubigen an einem realen Ort in einem »umfriedeten Bezirk«,611 sondern bezeichnet in seinem Ablauf insgesamt den »Weg in das Leben«: »Das rituelle Verhalten führt zur Entdeckung spezifischer Wirklichkeit.«612
3.
Der »Heilige Raum« als »Pforte des Himmels« zum »Weg in das Leben«
In der Abendmahlsliturgie geschieht nach Manfred Josuttis folgendes: »Die Synergie der heiligen Handlung hat im Rahmen der Synchronie der heiligen Zeit und der Syntopie der heiligen Ortes Menschen für die Symbiose mit dem Göttlichen vorbereitet.«613 In den Worten der Sündenvergebung, dem Gesang des Trishagion, den Einsetzungsworten, dem Vaterunser, dem Agnus Dei und der Austeilung der Elemente von Brot und Wein wird »die kultische Urszene des christlichen Glaubens vergegenwärtigt.«614 »Jesus Christus lädt seine JüngerInnen zum Mahl. Noch einmal werden dadurch die räumlichen, zeitlichen und personalen Grenzen gesprengt, aber durch die Entgrenzung gleichzeitig präzisiert. Der ewige Augenblick definiert sich als ein Ereignis aus der Vergangen608 609 610 611 612 613 614
H. Umbach, a. a. O., S. 225. H. Umbach, a. a. O., S. 225. H. Umbach, a. a. O., S. 225. O. F. Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart 1963. M. Josuttis, Der Weg in das Leben, a. a. O., S. 278. M. Josuttis, a. a. O., S. 279. M. Josuttis, a. a. O., S. 287.
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Räume und Rituale als Rekonstruktion des Religiösen
heit.«615 In diesem speziellen Sinn kann man dabei theologisch von »Rekonstruktion« sprechen. Damit ist aber auch mehr als »Erinnerung« und mehr als »Vergegenwärtigung« gemeint: »Der Liturg vollzieht mit seinem Verhalten einen kultdramatischen Akt. […] Hier findet also, gewiss nur angedeutet und ganz vorübergehend, eine Aufführung statt, ein Drei-Minuten-Spiel, das sich von allen anderen Texten des Gottesdienstes dadurch unterscheidet, daß es auf den Kultstifter zurückgeht, ja, daß es ihn in personaler Repräsentanz durch den Liturgen auftreten läßt.«616 Durch diesen rituellen Akt der »Rekonstruktion« findet in diesem »umfriedeten Bezirk« in Raum und Ritual aber gleichzeitig eine räumliche und zeitliche »Entgrenzung« statt: »Heilig, heilig, heilig ist Gott der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll« (Jes 6). Der himmlische Engelsgesang aus dem Tempel von Jerusalem wird von den gegenwärtigen irdischen Menschen in der Gemeinde mitgesungen, und so gewinnen sie Anteil an der göttlichen Ewigkeit! Der gegenwärtige irdische Gottesdienst wird so zur »Pforte des Himmels«, in der leiblichen Einnahme der Elemente findet die »Vereinigung mit der Gottheit« statt.617 »In der Traumzeit der Abendmahlsfeier verschwimmen die Grenzen zwischen Himmel und Erde, Individuum und Gemeinschaft, Menschsein und Gottsein. Im heiligen Essen gewinnt jede/r Anteil am ewigen Heil.«618
3.1
»Rekonstruktion« von Kirchenräumen und -gebäuden?
Aus einem solchen theologisch rituell gewonnenen (Re-)Konstruktionsbegriff des »Heiligen Raumes« ergibt sich angesichts der »Wiederaufbau«-debatte von Gebäuden eine logischen Konsequenz hinsichtlich des Umgangs mit Geschichte und ihrer imaginierten Zukunft: Im Band 3/97 der Zeitschrift »Kunst und Kirche« mit dem Thema: »Streitfall Rekonstruktion«619 sind die anlässlich des damals geplanten und mittlerweile vollendeten Wiederaufbaus der Dresdner Frauenkirche kontroversen Argumente und Ansätze dokumentiert, ausgelöst durch den Satz von Roland Günter, »die These, daß nichts rekonstruiert werden 615 M. Josuttis, a. a. O., S. 287. 616 M. Josuttis, a. a. O., S. 287. 617 M. Josuttis, a. a. O., S. 297: »Nach einem langen Anmarschweg, nach zahlreichen Akten äußerer und innerer Präparation, nach Reinigung und Erleuchtung findet jetzt Vereinigung statt. Die Kommunikanten inkorporieren den Leib des Erlösers und werden in diesen Leib ihrerseits inkorporiert.« 618 M. Josuttis, a. a. O., S. 297. 619 Kunst und Kirche 3/97, Ökumenische Zeitschrift für Architektur und Kunst, seit 1971 vereinigt mit den »Christlichen Kunstblättern« ggr. 1860, Heftredaktion L. Kallmeyer, Darmstadt 1997.
Der »Heilige Raum« als »Pforte des Himmels« zum »Weg in das Leben«
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darf, ist ideologisch,«620 beantwortet von Manfred Sack: »Das schreckliche Vergnügen am Lügen. Ein Plädoyer wider das Rekonstruieren nicht mehr existierender Bauwerke«.621 Über Goethes Geburtshaus in Frankfurt schreibt er : »Nach viereinhalb Jahrzehnten knarren die Dielen und hölzernen Treppen ›wie bei Goethes‹ – und alle glauben, sie vernehmen die Goethezeit und nicht die Fünfzigerjahre. Welch ein Erfolg!«622 »Das schreckliche Vergnügen an derlei Lügen führt uns in die Irre – oder in ein Land, in dem Walt Disney König ist.«623 Im selben Band ist auch die Geschichte der unterschiedlichen Rekonstruktionen des Bauhauses in Dessau von Roland Günter dokumentiert,624 von der Erneuerung 1948/1960/61 bis zur »philologisch genauen« Rekonstruktion 1976/78.625 Günters Resümee lautet: »Das Problem darf nicht mehr heißen: Tabu! Sondern es besteht darin, ob eine Rekonstruktion unter mehreren Kriterien Sinn macht und ob sie gut oder schlecht recherchiert und durchgeführt wird. Rekonstruktion ist eine Weise, gegen das Vergessen tätig zu werden. Und eine reduktive städtische Umwelt reicher zu machen.«626 Maßstab dabei ist auch für religiöse Gebäude die »Sorge der Denkmalpfleger um die Unersetzbarkeit der authentischen Denkmalsubstanz.«627 Er zitiert als sein Resümee Gottfried Kiesow : »Erhalten Sie mehr, dann brauchen Sie weniger zu rekonstruieren!«628 Wenn aber dies gilt, dann ist theologisch-kirchlich das Gebot der Stunde die Erhaltung von Kirchengebäuden durch (erweiterte) Nutzung!
3.2
Erhaltung von Kirchen als »Zeichen für die Zukunft«
»Religion im Übergang«629 war der Titel eines Dialogs von Petra Bahr und Dietrich Korsch, die Kirchen als einmal erlebte positive Erinnerungszeichen gelungener religiöser Deutung offenhalten wollen »als Erwartungsräume neuer R. Günter, Rekonstruieren!, in: Kunst und Kirche 3/97, a. a. O., S. 131. M. Sack, a. a. O., S. 132 – 134. M. Sack, a. a. O., S. 134. M. Sack, a. a. O., S. 134. R. Günter, Rekontruieren!, in Kunst und Kirche 3/97, a. a. O., S. 140 – 145. R. Günter, a. a. O., S. 143. R. Günter, a. a. O., S. 145. J. Habich, Beim Barte Dehios’? in Kunst und Kirche 3/97, a. a. O., S. 146 – 149, hier S. 148: »Denkmalsubstanz und –aussage sind untrennbar miteinander verbunden. Die zweite muss an der ersten – auch für spätere Generationen – überprüfbar bleiben. Da historische Wirklichkeit zunehmend auf virtueller Ebene vermittelt wird, hat das Authentische eine Orientierungswert von allerhöchster Bedeutung.« 628 J. Habich, a. a. O., S. 149. 629 P. Bahr/D. Korsch, Religion im Übergang, in: Kunst und Kirche Sonderheft 2009, a. a. O., S. 6 – 11. 620 621 622 623 624 625 626 627
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Räume und Rituale als Rekonstruktion des Religiösen
Sinndeutung«630 für die Zukunft. Insofern seien sie »Transformatoren«, als sie »nicht nur den Wandel der Zeiten an sich erdulden, sondern auch selber gestalten.«631 Das bedeute, so meint P. Bahr : »Kirchen sind (und bleiben) sichtbare Zeichen den Notwendigkeit von Religion. Sie sind deshalb nie nur museale Räume. […] Kirchen tragen diese Zeichen auch über die gemeindliche Nutzung hinaus. Nach evangelischem Verständnis sind sie es nicht als geweihte Orte, sondern weil in ihnen das Potential steckt, von neuem genutzt und gefüllt zu werden. Die Außenseite der Kirchen, also der Baukörper, hat im ursprünglichen Sinne Verkündigungsfunktion.«632 Deshalb gilt: »Aber die Kirche ist sichtbar in der säkularen Stadt.«633 »Je säkularer, ungedeuteter, unbestimmter die Stadt ist, umso deutlicher sollen die Kirchen sein. […] Je deutlicher eine Kirche ist, innerlich und äußerlich, umso mehr kann sie undeutliche Gäste ertragen.«634 In der Leipziger Erklärung des 24. Evang. Kirchbautages 2002 »Nehmt eure Kirchen wahr!«635 wird aufgelistet: Kirchen seien »Seelen und Gedächtnis« der Dörfer und Städte, Versammlungsorte der christlichen Gemeinde, Schatzkammern des christlichen Glaubens, Kraftorte, »offen für alle«, gestaltete Räume, »Freiräume«. Für neue Nutzungskonzepte hatte bereits das »Schlusswort des 23. Kirchbautags Hamburg 1999« angedeutet: »Neue Nutzungskonzepte für Kirchengebäude müssen die Beziehung der Menschen zu ihrem Gebäude im Blick behalten.«636 Das können z. B. auch als Kolumbarien genutzte Kirchen sein, wenn sie gleichzeitig als Gottesdiensträume dienen, die der Botschaft des Evangeliums »durch den Tod in das Leben«637 Raum geben, also echte »Transformatoren«638 und damit »Zeichen für die Zukunft«639 sind.
630 P. Bahr/D. Korsch, a. a. O., S. 6. 631 Th. Erne, Vorwort Kunst und Kirche 2009, a. a. O., S. 1: »Kirchen sind zugleich Orte, die zum Wandel ermutigen. Das macht sie unverzichtbar. In Kirchen wird in den Übergängen des Lebens ein roter Faden sichtbar : Unsere Zeit in Gottes Hand.« 632 P.Bahr/D. Korsch, a. a. O., S. 10. 633 F. Steffensky, Der Heilige Raum, der die Sehnsucht birgt, in: R. Bürgel, A. Nohr, Spuren hinterlassen, Kirchbautage seit 1946, 25 Hamburg 2005, S. 193 – 218, hier : S. 207. 634 F. Steffensky, a. a. O., S. 208. 635 Leipziger Erklärung des 24. Evang. Kirchbautages in Leipzig 2002: Nehmt eure Kirchen wahr! In: R. Bürgel, A. Nohr, Spuren hinterlassen, a. a. O., S. 321 – 324. 636 Siehe: R. Bürgel, A. Nohr, a. a. O., S. 319 f, hier: S. 320. 637 H. Umbach, a. a. O., S. 198: »›In Christus‹ komme ich durch den Tod in das (ewige) Leben.« 638 H. Umbach, a. a. O., S. 170 – 179: Das »Mitsterben mit Christus« als »Leben in ihm«. Sowie: Text der Theologischen Kammer der EKKW Frühjahr 2011 zum Thema »Kolumbarien«: »… ich habe lieb die Stätte deines Hauses …«. Überlegungen zur Einrichtung von Kolumbarien in Kirchen. Ausaarbeitung der Theologischen Kammer der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Kassel 2011. 639 H. Umbach, Wie im Himmel – so auf Erden. Über Raumträume und Traumräume im Gottesdienst, in Theologisches geschenkt, FS für M. Josuttis, Hg. Ch. Bizer, J. CorneliusBuntschuh, H.-M. Gutmann, Bovenden 1996, S. 59 – 75, hier S. 66 f.
11. Bleibende Geliebte. Predigt zu 1 Joh 4, 7 – 12 am Sonntag, d. 25. April 2010, Universitätsgottesdienst Kassel Karlskirche640
I.
Text
1 Joh 4,7 – 12 7
Ihr Lieben, lasst uns einander liebhaben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. 8 Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe. 9 Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. 10
Darin besteht die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden. 11 Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben. 12 Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.
II.
Predigt
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! Liebe Universitätsgemeinde! Im Dialog mit einem Bibeltext zum Thema des Sommersemesters 2010 »Liebe, Leidenschaft und Ethos« habe ich mich für einen Abschnitt aus dem 1. Johannesbrief entschieden: Die Liebe ist von Gott und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht, denn Gott ist die Liebe.
640 Zuletzt abgedruckt in: Im Dialog. Universitätspredigten in der Karlskirche, Bd. 1, GeRECHTigkeit (en), GLÜCKselig, DIE KRISE – Fluch und Segen?!, LIEBE – Leidenschaft und Ethos, WS 2008/2009 bis SS 2010, Hgg. K. Heinemann, W. Spiegel, Kassel 2010.
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Bleibende Geliebte
I. Wenn ich das Stichwort »Liebe« in die technischen Begriffssuchmaschinen unserer gegenwärtigen Kommunikation eingebe, finde ich unter dem Stichwort »Liebe« zunächst das Stichwort »Partnersuche«. Partnersuche? »Mein Freund… spricht zu mir : Steh auf meine Freundin, meine Schöne, und komm her! Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin. Die Blumen sind aufgegangen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande. Der Feigenbaum hat Knoten gewonnen, und die Reben duften mit ihren Blüten. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her … zeig mir deine Gestalt, lass mich hören deine Stimme, denn deine Stimme ist süß und deine Gestalt ist lieblich… Mein Freund ist mein, und ich bin sein, der unter den Lilien weidet.«
Eine »Partnersuche« ist erfüllt in der Liebe. Schönste Worte der Weltliteratur aus dem Hohen Lied Salomos (2,10 – 16)! Jahrhunderte später formuliert: Ich bin dein und du bist mein – ich hab den Schlüssel in meinem Herzen – dort soll er immer verborgen sein. Bleibende Geliebte: Leidenschaftlich! II. Amo te – ama me! Nach der zweiten oder dritten Lateinstunde bekam ich ein Briefchen mit dieser Botschaft zugesteckt. Ich konnte den Text zwar sprachlich analysieren: Indikativ und Imperativ, du und ich erkennen, Feststellung und Aufforderung sehen, aber ich war der Sache selbst noch nicht gewachsen! Ein performativer Sprechakt – aufgeschrieben auf Papier – aber nicht zum Klingen gebracht im Herzen! Worte – Tatsachen – Zumutungen? Die Liebe blieb am Ende unerwidert: Amors Pfeil hatte nur eine erwischt, der Schlüssel zum Herzen passte nicht. Zu sehr war der Jugendliche noch in seiner Herkunft, seinem Elternhaus, seiner Prägung befangen. Und so blieben es Worte, Zumutungen, Enttäuschungen. Auf der anderen Seite Schmerz und Liebeskummer. Leidenschaft und Begierde, wenn sie den Partner nicht abwarten, bleiben unerfüllt, können zerstörerisch werden. Wenn Abhängigkeiten ausgenutzt werden, etwa zwischen Erwachsenen und Jugendlichen, können Verehrung und Vertrauen in Kränkung und Hass umschlagen, wie wir in den letzten Monaten erfahren haben. Amo te – ama me: das kann nie ein Befehl sein, nur eine Bitte, die, den anderen respektierend, frei macht. III. Als Jesus nach dem höchsten Gebot gefragt wird, antwortet er : »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Das ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten (Mt 22,37 – 40)«. Gottesliebe und Nächstenliebe, ja, sogar Feindesliebe werden durch Jesus als Schlüssel eines gelingenden Lebens freigelegt. Für dieses Ethos, das universale Gültigkeit be-
Predigt
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ansprucht, steht er mit der Leidenschaft seines Lebens ein! Kann man diese Liebe befehlen? Man kann sie nur erkennen und ihr entsprechen. Radikal. Das ist die Botschaft Jesu, die bis heute kulturprägend wirkt bis hin zur Verpflichtung zur Hilfeleistung im Straßenverkehr. Aber damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende, denn Gottesliebe und Nächstenliebe kann man nicht einfach befehlen – man muss sie erfahren können. Wie geht das? Das ist meine Frage. Und so bin ich im Dialog mit 1 Joh 4, 7 – 12: Ihr Lieben, lasst uns einander liebhaben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe. Daran ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. Darin besteht die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden. Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben. Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen. IV. Gott bleibt in uns und seine Liebe ist in uns vollkommen. Bleibende Geliebte sind wir – denn: Wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat! Hier, Geliebte, wird nun eine Geschichte in Stichworten nacherzählt und an die dritte Generation nach Jesu Geburt weitervererbt: Die Geschichte von Weihnachten, Ostern und Pfingsten. Und Gott wird in diesem Geschehen als Liebender beschrieben. »Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben« (Joh 3,16). Gott hat ihn gesandt in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen! An diesem und in diesem einen Menschen handelt der Gott Israels, der Schöpfer der Welt einzigartig. Gott kommt in ihm vollständig zur Welt. Die Trennung ist überwunden. Gott ist nicht eine Idee oder eine Projektion, sondern »das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns«. Der Theologe Eberhard Jüngel sagt es so: »Gott ist als Mensch zur Welt gekommen. Als dieser Mensch war er sichtbar. Als dieser Mensch gehörte er zu der Welt, die deshalb zu ihm gehört… in der Identität mit Jesus Christus ist Gott das eigentliche Geheimnis der Welt!«641 Der unsichtbare Vater im Himmel und der sichtbare Sohn auf Erden sind ein Raum der Liebe! Die Einheit des allmächtigen Schöpfers mit dem ohnmächtigen gekreuzigten Menschen bringt »auf unsichtbare Weise sichtbare Wirkungen hervor … Als Heiliger Geist ist Gott das
641 E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt: Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 1982, S. 519.
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Bleibende Geliebte
Geheimnis der Welt«.642 Gottes Sein kommt in seiner Liebe zu sich selbst, indem er uns Sterbliche in sein Leben einbezieht. So sagt es Vers 13: Daran erkennen wir, dass wir in ihm bleiben und er in uns, dass er »uns von seinem Geist gegeben hat«. Du – ich – wir ! Im sichtbaren »einander lieb haben« kommt Gottes Liebe zur Welt. Nicht als Befehl, sondern als Geschehen und als Bitte. »Geliebte – lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt«.
Durch unsere Sterblichkeit hindurch, durch unsere Gebrochenheit hindurch, durch unsere Fehlerhaftigkeit hindurch, durch unsere Begrenztheit hindurch wirkt diese Macht und macht uns zu »Bleibenden« in Gott, mitten im Alltag der Welt, jenseits des Scheiterns! Das ist die Grundlage christlicher Ethik! V. Gott ist die Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Marie Luise Kaschnitz sagt es so: Glauben Sie fragte man mich An ein Leben nach dem Tode Und ich antwortete: ja Aber dann wusste ich keine Auskunft zu geben Wie das aussehen sollte Wie ich selber Aussehen sollte Dort Ich wusste nur eines Keine Hierarchie Von Heiligen auf goldenen Stühlen sitzend Kein Niedersturz Verdammter Seelen Nur Nur Liebe frei gewordene Niemals aufgezehrte Mich überflutend Kein Schutzmantel starr aus Gold Mit Edelsteinen besetzt Ein spinnenwebenleichtes Gewand Ein Hauch Mir um die Schultern Liebkosung schöne Bewegung Wie einst von tyrrhenischen Wellen 642 A.a.O., S. 520.
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Wortfetzen Komm du komm Schmerzweb mit Tränen besetzt Berg- und Tal-Fahrt Und deine Hand wieder in meiner So lagen wir lasest du vor Schlief ich ein Wachte auf Schlief ein Wache auf Deine Stimme empfängt mich Entlässt mich und immer So fort Mehr also, fragen die Frager Erwarten Sie nicht nach dem Tode? Und ich antworte Weniger nicht.643
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus! Amen.
643 Text aus: J. Imbach, Dass der Mensch ganz sei. Vom Leid, vom Herz und vom ewigen Leben im Judentum, Christentum und Islam, Düsseldorf 1991, S. 117 f.
12. Veröffentlichungen Helmut Umbach
In Christus getauft – von der Sünde befreit. Die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus. Diss. theol. 1991, dann FRLANT 181, Göttingen 1999. Wie im Himmel – so auf Erden. Über Raumträume und Traumräume im Gottesdienst in: FS M. Josuttis, Bovenden 1996. Seit 1997 veröffentlichte Predigtstudien (in: Predigtstudien, Hg: W. Gräb u. a., Redaktion: M. Kumlehn), jeweils mit einem Partner : 1997/1998 I: Die Wahrheit über uns selbst (2 Kor 4, 6 – 10); 1998/1999 I: Verwandelnde Kraft (Mk 14, 17 – 26); 1999/2000 I: Mein Herz ist fröhlich (1 Sam 2, 1 – 2. 6 – 8); 1999/2000 II: Hoffnung auf Wunder? (Apg 12, 1 – 11); 2000/2001 I: Stationen der Hoffnung (Mt 27, 31 – 54); 2000/2001 II: Der Hüter an der Tür (Mk 13, 31 – 37); 2001/2002 I: Als die Zeit erfüllt war (Gal 4, 4 – 7) 2002/2003 I: Gleichheitsprinzip und Güte (Mt 20, 1 – 16) 2003/2004 II: Heimat auch für den Fremden (Apg 2, 41a. 42 – 47) 2004/2005 II: Harte Kost (Mt 12, 33 – 37) 2005/2006 I: Wegbeschreibung für Weihnachten (1 Joh 3, 1 – 6) 2007/2008 II: Wachet auf, ruft uns die Stimme (1 Thess 5, 1 – 11) 2008/2009 II: Die Leidenschaft der Gerechtigkeit (Mt 25, 31 – 46) 2009/2010 II: Früchte der Gerechtigkeit (2 Kor 9, 6 – 15) 2010/2011 II: Gott begegnen (Jes 6, 1 – 13) 2011/2012 II: Berufung (Jer 1, 4 – 10) 2013/2014 II: Neu geboren (1 Petr 2, 2 – 10) Heilige Räume – Pforten des Himmels. Vom Umgang der Protestanten mit ihren Kirchen (Habil.Schrift 400 S.), Göttingen 2005. Erfahrungen des Göttlichen bewegen. Die Entdeckung der Kirchenraum-Pädagogik und ihre Relevanz für die religiöse Erziehung heute. In: Deutsches Pfarrerblatt 10/2007, Hg: P. Haigis. Reformation – Konversion – Transformation. Weshalb Martin Luther auch heute für die Interdependenzen zwischen Heiliger Schrift, Biographie und religiöser Erziehung steht. In: Deutsches Pfarrerblatt 10/2008, Hg: P. Haigis. Das Bekenntnis zu Jesus Christus im Wandel der Geschichte, Anmerkungen zu Christo-
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Veröffentlichungen Helmut Umbach
logie und Paränese des Hebräerbriefs und ihre Relevanz heute. In: Deutsches Pfarrerblatt 10/2009, Hg: P. Haigis. Bleibende Geliebte. Predigt zu 1 Joh 4 am 25. April 2010, Universitätsgottesdienst, Karlskirche Kassel, in: Im Dialog. Universitätspredigten in der Karlskirche, Bd. 1, GeRECHTigkeit (en), GLÜCKselig, DIE KRISE – Fluch und Segen?!, LIEBE – Leidenschaft und Ethos, WS 2008/2009 bis SS 2010, Hgg. K. Heinemann, W. Spiegel, Kassel 2010. »Andere Räume« – »Umfriedete Bezirke« – »Grenzüberschreitungen«. Möglichkeiten protestantischen Kirchenbaus in Geschichte und Gegenwart. In: Deutsches Pfarrerblatt 12/2010, Hg: P. Haigis. Zugleich in: E.-M. Seng unter Mitwirkung von G. Brüne (Hg.), Der Kirchenbau zwischen Sakralisierung und Säkularisierung im 17./18. Jahrhundert und heute, München 2013. Gemeinschaft der Heiligen – Gemeinschaft der Sünder? Zum Sündenbegriff und »Bleiben in der Liebe« im 1. Johannesbrief. In: Deutsches Pfarrerblatt 3/2012, Hg. P. Haigis. »und dies ist das Tor des Himmels«. Räume und Rituale als Rekonstruktion des Religiösen. In: Deutsches Pfarrerblatt 1/2013, Hg. P. Haigis. »Durch die geöffneten Pforten des Paradieses.« Phänomenologische Anmerkungen zu Martin Luthers »Befreiung« als religiöses Geschehen. In: Deutsches Pfarrerblatt 11/ 2013, Hg. P. Haigis. »VIVA VOX EVANGELII« Zentrale Aussagen Martin Luthers zu Gottesdienst und Kirchengebäuden als Folge der reformatorischen Rückbesinnung auf das rechtfertigende Wort Gottes als ›articulus stantis et cadentis ecclesiae‹. Vortrag zum First International Workshop »PROTESTANT CHURCH ARCHITECTURE OF THE 16TH – 18TH CENTURIES IN EUROPE« im Forschungszentrum der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Wien, 28.11. –2. 12. 2013. IMAGO DEI – IMAGO HOMINIS Martin Luther über Bilder im Gottesdienst und in Kirchengebäuden, sowie signifikante Portraits des Reformators durch Künstler der Renaissance. Vortrag zur Fourth RefoRC – Conference May 15 – 17, 2014, Bologna, hosted by the Fondazione per le scienze religiose Giovanni XXIII IMAGO DEI – IMAGO HOMINIS Martin Luther on images in church service and -buildings and on significant portraits of the Reformer by Renaissance artists. Lecture for the Fourth RefoRC-Conference May 15 – 17, 2014, Bologna, hosted by the Fondazione per le scienze religiose Giovanni XXIII. Heilig – in Christus. Studien zu Raumaspekten der Christologie im Neuen Testament, zur Kirchenraum-Pädagogik und zum protestantischen Kirchenbau heute, Göttingen 2014.