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German Pages [358] Year 2017
Hebräische Avantgarde
Reihe Jüdische Moderne Herausgegeben von Alfred Bodenheimer, Jacques Picard, Monica Rüthers und Daniel Wildmann Band 18
Birgit M. Körner
Hebräische Avantgarde Else Lasker-Schülers Poetologie im Kontext des Kulturzionismus
2017 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Inaugural Dissertation zur Erlanugng des Doktorgrades der Philosophie des Fachbereichs 05 an der Justus-Liebig-Universität Gießen
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, der Stiftung Irène Bollag-Herzheimer, der Ursula Lachnit-Fixson Stiftung sowie der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Gießen/Wetzlar.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: „Der Bund der wilden Juden“ (1920): Zeichnung von Else Lasker-Schüler, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft, Wuppertal.
© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Sara Zarzutzki, Düsseldorf Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50905-7
Gewidmet meiner Tochter Chaja Chamutal
„Ein Projekt ist der subjektive Keim eines werdenden Objekts. Ein vollkommnes Projekt müßte zugleich ganz subjektiv, und ganz objektiv, ein unteilbares und lebendiges Individuum sein. Seinem Ursprunge nach, ganz subjektiv, original, nur grade in diesem Geiste möglich; seinem Charakter nach ganz objektiv, physisch und moralisch notwendig. Der Sinn für Projekte, die man Fragmente aus der Zukunft nennen könnte, ist von dem Sinn für Fragmente aus der Vergangenheit nur durch die Richtung verschieden, die bei ihm progressiv, bei jenem aber regressiv ist. Das Wesentliche ist die Fähigkeit, Gegenstände unmittelbar zugleich zu idealisieren, und zu realisieren, zu ergänzen, und teilweise in sich auszuführen. Da nun transzendental eben das ist, was auf die Verbindung oder Trennung des Idealen und des Realen Bezug hat; so könnte man wohl sagen, der Sinn für Fragmente und Projekte sei der transzendentale Bestandteil des historischen Geistes.“ Friedrich Schlegel, 17981
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Friedrich Schlegel: I. Fragmente. In: Athenaeum. Ersten Bandes Zweytes Stück. Hrsg. v. August Wilhelm u. Friedrich Schlegel. Berlin 1798, S. 8, Nr. 22.
Inhalt
I. Else Lasker-Schüler und der Kulturzionismus – Voraussetzungen einer Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.1 Poetologisches Vorspiel – Franz Kafkas letzte Erzählung Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.2 Der deutschsprachige Kulturzionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.3 Die Verbindung von Kulturzionismus und Avantgarde . . . . . . . . . . . I.4 „Die jüdische Dichterin“ – Vorbehalte der Forschung . . . . . . . . . . . . I.5 Hebräische Avantgarde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.6 Theoretischer und methodischer Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.7 Forschungsstand: Else Lasker-Schüler und der Kulturzionismus . . . . I.8 Aufbau der Arbeit und Textkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Der deutschsprachige Kulturzionismus als avantgardistisches Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 II.1 Der deutschsprachige Kulturzionismus als „Avantgarde des Zionismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 II.1.1 Die Kulturfrage im zionistischen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . 52 II.1.2 Der deutschsprachige Kulturzionismus als eigenständiger Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 II.1.3 Abgrenzungsbewegungen zwischen West und Ost . . . . . . . . . 59 II.1.4 Das poetologische Potenzial des Kulturzionismus . . . . . . . . . . 67 II.2 Das avantgardistische Selbstverständnis des frühen Kulturzionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 II.2.1 Bohème, Avantgarde und Kulturzionismus . . . . . . . . . . . . . . . 73 II.2.2 „Die Avantgarde des Zionismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 II.2.3 „Die Ersten“: kulturzionistische und „jung-jüdische“ Lyrik . . . 79 II.2.4 Das Manifest: Martin Bubers Essay Jüdische Renaissance (1901) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 II.2.5 „Ein großartiger Kampf“: Die Proklamation der „Demokratischen Fraktion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 II.3 Das kulturzionistische Projekt der „Erneuerung“ der jüdischen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 II.3.1 Die „Erneuerung“ der jüdischen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . 94 II.3.2 „Jüdische Renaissance“ – Jüdische Literatur/Kunst und jüdisches Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 II.3.3 Das antizipatorische Potenzial – Utopie und Messianismus . 106
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II.4 Zwischenfazit Kapitel II und Ausblick auf Kapitel III und IV . . . . . 112 III. „Jüdische Renaissance“: Lasker-Schülers Frühwerk zwischen Avantgarde und Kulturzionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 III.1 Der siebente Tag (1905) – Kulturzionistische Symbolik zwischen Zitat und poetologischer Umdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 III.1.1 Sozialhistorische und geschlechterpolitische Gründe für Lasker-Schülers Nichtaufnahme in die programmatischen kulturzionistischen Publikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 III.1.2 Die Einbandgestaltung im kulturzionistischen Kontext: Juda (1900) und Juedischer Almanach 5663 (1902/03) . . . . . . 128 III.1.3 Die Umdeutung der kulturzionistischen Einbandsymbolik in den Gedichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 III.2 „Mein Volk“ (1905) – Prophetische Tradition zwischen Avantgarde und Kulturzionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 III.2.1 Die kulturzionistischen Bezüge: Moses als Künstler und der „Wiederhall / in mir“ . . . . . . . . . 143 III.2.2 Die Prophetin Mirjam: Avantgarde-Position als Geburtsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 III.3 „‚Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt‘“ (1905) – Entwicklung einer weiblichen und orientalischen poetischen ‚Identität‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 III.3.1 Reflexion jüdischer Identität im Kontext der „Jüdischen Renaissance“: Galut-Erfahrung als Mutterverlust . . . . . . . . . 156 III.3.2 Entwicklung zur jüdischen Dichterin als „Auferstehung von halbem Leben zu ganzem“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 III.3.3 Erotik, Orientalisierung und weibliche Genealogie: Schreiben im Kontext des Hoheliedes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 III.3.4 Der Entwurf einer eigenständigen Poetologie im Kontext des Kulturzionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 III.4 Das Peter Hille-Buch (1906) – Dichterische Emanzipation im Kontext des Kulturzionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 III.4.1 Tinos „älterer Name“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 III.4.2 Die „Jerusalemiter“ als Kulturzionisten und jung-jüdische Dichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 III.4.3 Die „göttliche List“ der „Jerusalemiter“ und die Ablösung Tinos von ihrem Mentor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 III.4.4 „Der älteste der Jerusalemiter“: Intertextuelle Verweise auf Heinrich Heine und Martin Buber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 III.4.5 Tino und die „Jerusalemiter“: Orientalisierte Poetologie und schöpferische jüdische Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
9 III.4.6 Tino/Onit ‒ Die Überschreitung von eindeutigen Identitätskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 III.4.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 III.5 Zwischenfazit mit „[…] Amokläufer“ (1910) – Selbstgewählte Assoziation und kritische Überschreitung . . . . . . . . 210
IV. Erneuerung des Judentums: Else Lasker-Schülers avantgardistische Poetologie im Kontext der rabbinischen Tradition . . . . . . . . . . . . . . 215 IV.1 Melodien, Legende[n], Balladen: Die Hebräischen Balladen (1912/13) als avantgardistischer Midrasch und schöpferischer jüdischer Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 IV.1.1 „Esther“ – das gefährdete, bewahrende und subversive Potenzial der jüdischen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 IV.1.2 Avantgardistischer Midrasch: „Jakob“ – Die provokative und ethisch signifikante Umdeutung der Jakob-Figur . . . . . . 233 IV.1.3 Die verletzte Jakob-Figur als Prototyp eines schöpferischen jüdischen Mythos der Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 IV.2 Der Wunderrabbiner von Barcelona (1921) – Rabbinische Hermeneutik und antizipatorische avantgardistische Literatur . . . . 253 IV.2.1 Anlass des Kommentars: Antijüdische Ausschreitungen in Jerusalem im April 1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 IV.2.2 Jüdische Literatur und antijüdische Gewalt: Ch. N. Bialiks literarische Reaktion auf den Pogrom in Kischinew im April 1903 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 IV.2.3 Das (Luft-)Schiff: „Verwirklichung“ – Jüdischer Messianismus als antizipatorisches Projekt . . . . . . . . . . . . . . 276 IV.2.4 Amram, „die Judendichterin“, und der pluralistische rabbinische Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 IV.2.5 Hebräische Poetologie: Poetische und lebenswirkliche Ausrichtung auf Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 IV.3 Das Hebräerland (1937) – Avantgardistische Heiligung und dichterische Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 IV.3.1 „Heiliges Volk“ – Der kulturzionistische Diskurs in Das Hebräerland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 IV.3.2 Heiligung durch Erneuerung: Die Hebräer als Avantgardist/innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 IV.3.3 Hebräische Poetologie: Dichterische Offenbarung, fortgesetzte Aggada und ‚unendlicher‘ Erneuerungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
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V. Hebräische Avantgarde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 VI. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lexika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VII. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
Danksagung Diese Arbeit wurde 2015 an der Justus-Liebig-Universität Gießen als Dissertation angenommen und für den Druck leicht überarbeitet. An erster Stelle danke ich Joachim Jacob (Gießen), der diese Arbeit von ihren Anfängen an beständig begleitet hat; besonders für seine Zuverlässigkeit, sein kritisches Interesse, die intensiven Lektüren und das hermeneutische Gespräch. Ohne ihn hätte diese Arbeit nicht die vorliegende Form erreicht. Die Möglichkeit, eine halbe Stelle an seinem Lehrstuhl zu vertreten, war in der Abschlussphase eine große Unterstützung. Unvergesslich sind mir einige gemeinsame ‚Auslegungen‘ im Rahmen seines Promotionskolloquiums und Oberseminars, weit über den Kontext der Dissertation hinaus. Alfred Bodenheimer (Basel) hat das Zweitgutachten übernommen; ihm danke ich für die anregenden Gespräche an sonnigen und südlichen Orten, den unvoreingenommenen Blick auf Else Lasker-Schüler sowie für inspirierende und pragmatische ‚Midraschim‘. Seine genauen Hinweise haben es mir ermöglicht, meine Arbeit fruchtbar an aktuelle Debatten der Jüdischen Studien u.a. zum Utopiediskurs anzuknüpfen. Gedankt sei ihm auch für seine Bereitschaft, eine Master Class am GCSC an der Justus-Liebig-Universität Gießen zu halten. Für die Eröffnung von Forschungszusammenhängen und die finanzielle Förderung meines Promotionsprojekts danke ich dem Franz Rosenzweig Minerva Research Center, Jerusalem, das mir 2010 einen neunmonatigen Forschungsaufenthalt ermöglichte sowie 2011 erneut für drei Monate ein Anlaufpunkt war, besonders Stephen Aschheim und Yfrat Weiss sowie Irene Aue-Ben-David, Keren Sagi und Caroline Jessen und der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Förderung mit einem Graduiertenstipendium (2010–2013). An der Justus-Liebig-Universität Gießen gebührt mein Dank dem Graduate Center for the Study of Culture (GCSC), hier besonders Daniela Meinhardt und Jens Kugele, und der Arbeitsstelle Holocaustliteratur ( JLU Gießen), vor allem Sascha Feuchert und Markus Roth. 2010 hatte ich Gelegenheit, einen frühen Entwurf meines Projekts bei einem (Post)Doktoranden-Workshop des Leo-Baeck-Institutes, Jerusalem im Rahmen der Tagung „Thirty years of Austrian/German-Jewish Literary and Cultural Studies“ des Humboldt Kolleg an der Ben-Gurion-University of the Negev, Beer-Sheva zu diskutieren. 2015 konnte ich die Ergebnisse meiner Dissertation beim Colloquium des Zentrums für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg vorstellen. Dafür danke ich den Verantwortlichen, vor allem Irmela von der Lühe.
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Danksagung
Für die Möglichkeit, am Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur in der Konzeptionsphase und mit einem Artikel über Else Lasker-Schülers Drama IchundIch mitzuwirken, danke ich Bettina Bannasch und Gerhild Rochus. In der Phase der Projektentwicklung waren Günter Oesterle, Gerhard Kurz, Itta Shedletzky, Leo Motzkin und Mark H. Gelber wichtige Ratgeber/innen, später sagte Liliane Weissberg wichtige Dinge zur richtigen Zeit. Bedeutsam für den intellektuellen Horizont dieser Arbeit waren ebenso Elisa Klapheck, Daniel und Ludmilla Kempin-Edelmann, Birgit Klein, Elias Steinfeld, Bettina Leder, Caspar Battegay und Norbert Spangenberg. Außerdem gilt mein Dank den Mitarbeiter/innen des Archivs der National Library of Israel und des Marbacher Literaturarchivs, besonders Nikola Herweg. Nassrin Sadeghi, Claudia Sontowski, Mirjam Bitter, Christin Grunert, Christiane Weber, Anika Binsch, Anja Oesterhelt und Ulle Jäger sei herzlich gedankt für die fruchtbaren Diskussionen, kritischen Lektüren, beständige Motivation und praktische Beratung in fast allen Lebenslagen; außerdem Eva Bös und Christine Braun für das sorgfältige Lektorat sowie Thomas Schmitt für den letzten Feinschliff. Meinen Eltern danke ich für ihre Unterstützung meines anderen Weges, der vielleicht vor einem verschlossenen Bücherschrank in einem dunklen Flur seinen Anfang genommen hat oder aber im subversiven Potenzial der Märchen für kluge Kinder von Stefan Heym. Johanna Schoch danke ich für die Entlastung in der Abschlussphase und die gemeinsame Zeit, besonders die Erlebnisse in Israel. Diese Arbeit ist meiner Tochter Chaja Chamutal gewidmet, die mir noch einmal ganz neu gezeigt hat, wie Literatur und Leben ganz selbstverständlich ineinander übergehen.
I. Else Lasker-Schüler und der Kulturzionismus1 – Voraussetzungen einer Rekonstruktion
I.1 Poetologisches Vorspiel – Franz Kafkas letzte Erzählung Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse2
Die letzte Erzählung, die Franz Kafka geschrieben, selbstständig publiziert und in seinen letzten Erzählband Ein Hungerkünstler (1924) aufgenommen hat, weist zwei für Kafkas Werk ungewöhnliche Elemente auf: Zum einen stellt er zum ersten und einzigen Mal eine weibliche Protagonistin in den Mittelpunkt,3 und zum anderen verwendet er mit dem Volksbegriff ebenfalls einmalig explizit nationales bzw. völkisches Vokabular.4 In der Erzählung, in der das Verhältnis der Sängerin Josefine zum eigentlich unmusikalischen Volk der Mäuse beschrieben wird, greift Kafka Else Lasker-Schülers poetologischen Entwurf auf und entfaltet ihn in einer kulturzionistischen Perspektive als Modell jüdischer Künstler/
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Mit dem Begriff Kulturzionismus wird in dieser Studie das historische Phänomen einer Oppositionsbewegung um die „Demokratische Fraktion“ innerhalb der zionistischen Bewegung verstanden, die sich ab 1901 gegen einen einseitig als ‚politisch‘ verstandenen Zionismus, wie er Theodor Herzl zugesprochen wird, wendet. Der hier interessierende deutschsprachige Kulturzionismus orientiert sich an osteuropäischen zionistischen Modellen, die statt der Gründung eines Nationalstaates ein „geistiges Zentrum“ anstreben, und ist an der kulturellen und spirituellen Erneuerung des Judentums interessiert. Eine ausführliche Darlegung der historischen Genese und der hier vorgeschlagenen Definition eines spezifisch deutschsprachigen Kulturzionismus vgl. Kapitel II.1, zu der für diese Arbeit grundlegenden These einer Nähe des Kulturzionismus zur historischen Avantgarde vgl. bes. Kapitel II.2. Franz Kafka: Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse. In: Ders.: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Bd. 5,1: Drucke zu Lebzeiten. Hrsg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. Frankfurt/Main 1994, S. 350–377. Im Folgenden nachgewiesen mit Seitenangabe im Text. In der gesamten Arbeit werden Zitate, falls nicht anders vermerkt, orthographisch und in den Hervorhebungen wie im Original wiedergegeben, wobei Sperrdruck kursiv gesetzt ist. Bernd Auerochs weist auf diese Besonderheit hin, ohne eine Erklärung zu geben. Bernd Auerochs: Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten. In: Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. dems. u. Manfred Engel. Stuttgart, Weimar 2010, S. 318–329, hier S. 324. Bisher wurde die Erzählung als poetologische Reflexion Kafkas über seine eigene Autorrolle gedeutet. Vgl. u.a. Mark Anderson (1992) und Bernd Auerochs (2010). Neben der Bezeichnung „[d]as Volk der Mäuse“ (350) bzw. „Volk“ (passim) auch die Begriffe „Arbeitsvolk“ (374), „Volkspfeifen“ (353) und „Volksversammlung“ (361).
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Else Lasker-Schüler und der Kulturzionismus
innen-Existenz im Rahmen eines prophetischen Modells. In einer für Kafka typischen ambivalenten Konstellation heißt es: Unsere Sängerin heißt Josefine. Wer sie nicht gehört hat, kennt nicht die Macht des Gesanges. Es gibt niemanden, den ihr Gesang nicht fortreißt, was umso höher zu bewerten ist, als unser Geschlecht im ganzen Musik nicht liebt. (350)
Dem Volk der Mäuse werden hier und im Weiteren Eigenschaften zugeschrieben, die nationaljüdischen und antisemitischen Diskursen seit Ende des 19. Jahrhundert entstammen. Dabei werden sowohl Stereotype des ‚Jüdischen‘ als auch Elemente der jüdischen Tradition aufgerufen und z.T. ironisch verhandelt, so dass „das Volk der Mäuse“ als Metapher für das jüdische Volk lesbar ist. So wird es beschrieben als Volk, das in der Zerstreuung lebt (363) und ein von Entbehrung, Leid und Verfolgung geprägtes Leben führt. Diesen widrigen Umständen begegnet es mit „einer gewissen praktischen Schlauheit, die [es] freilich auch äußerst dringend [braucht]“ (350), und bewahrt dabei einen gewissen Humor (358). Darüber hinaus entstammt es einer alten Tradition, die nur ungenau erinnert wird, denn es gibt keine Geschichtsschreibung im eigentlichen Sinne, und scheint eine unbestimmte Erlösung zu erwarten.5 Als ewige, sich unablässig fortpflanzende Gemeinschaft ist es gleichzeitig durch „Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit“ bei einem eigentlich „zähe[n] und hoffnungsstarke[n] Wesen“ (365) charakterisiert. Wie der Doppeltitel deutlich anzeigt, folgt daraus, dass in der Erzählung das Verhältnis einer jüdischen Künstler/in-Figur und dem jüdischen Volk erörtert wird und Kafka die Beschreibung in die nationaljüdischen (und antisemitischen) Diskurse um jüdische Kunst einbindet.6
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Zur Interpretation des „Volks der Mäuse“ als jüdisches Volk vgl. Ritchie Robertson: Kafka. Judentum Gesellschaft Literatur. Stuttgart 1988 (zuerst 1985), S. 365–366. Robertson betont, dass man um 1900 davon ausging, dass es keine jüdische Historiographie im Sinne moderner Geschichtswissenschaften gäbe. Robertsons Interpretation, dass Josefines Gesang „keinen transzendentalen Sinn“ (364) habe, ist entgegenzuhalten, dass ihre Kunst in der Erzählung mehrfach direkt mit der Erlösungsthematik verbunden wird und eine im Hier und Jetzt erlösende, Frieden bringende Qualität hat, die eine Parallele zu Bubers MessianismusKonzept aufweist (vgl. Kapitel IV.2). So greift Kafka das von Richard Wagner 1850 in seinem Aufsatz „Das Judenthum in der Musik“ geprägte und um die Jahrhundertwende (u.a. in Otto Weiningers Schriften) virulente antisemitische Stereotyp der angeblichen jüdischen Unmusikalität auf, wenn erzählt wird, dass es sich bei Josefines Gesang weniger um Gesang, als vielmehr um ein Pfeifen handele, das gleichzeitig die charakteristische Lebensäußerung des Volks der Mäuse darstellt. Vgl. hierzu: Mark Anderson: Kafka‘s Clothes. Ornament and Aestheticism in Habsburg Fin de Siècle. Oxford 1992, S. 194–216.
Poetologisches Vorspiel
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Nun spricht eine Vielzahl von Argumenten dafür, die Erzählung Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse als eine konkrete Auseinandersetzung Kafkas mit Else Lasker-Schülers Werk, ihrem poetologischen (Selbst-)Entwurf und beider Rezeption in einem nationaljüdischen Kontext zu deuten. Darüber hinaus legt die Erzählung Zeugnis ab von einer ambivalenten Faszination Kafkas für seinen ‚Gegenstand‘, denn trotz schärfster Kritik der (männlich konnotierten) Erzählinstanz wird gleichzeitig eine Wertschätzung Josefines deutlich.7 Auf den Bezug der Erzählung auf Lasker-Schüler hat zuerst Hartmut Binder (1994) aufmerksam gemacht, der die Entstehungsgeschichte der Erzählung nachzeichnet und herausarbeitet, dass sie maßgeblich auf Lasker-Schülers Besuche in Prag, vor allem am 4. und 5. April 1913, aber auch 1921 und 1922, sowie die Berichte und Rezensionen, die zu ihren Lesungen in der Prager Presse erschienen sind, beruht.8 So offensichtlich Details der Besuche in die Erzählung eingeflossen sind,9 sind Binders Beobachtungen dennoch zu modifizieren, denn der kulturzionistische Rahmen der Erzählung und die Bezeichnung als Sängerin schon im Titel zeigen, dass Kafka weniger am von Binder hervorgehobenen generellen „Wechselverhältnis von Volksgemeinschaft und [E]inzelnem“,10 sondern besonders am Verhältnis zwischen dem jüdischen Volk und einer jüdischen Künstler/in-Figur und ihrer Kunst interessiert ist. Dass Kafka die Darstellung dieses Verhältnisses ausgerechnet als Auseinandersetzung mit Lasker-Schülers poetologischem Entwurf in Bezug auf den kulturzionistischen Diskurs über Literatur 7
Für die Erzählung Josefine betont die Forschung den ungewöhnlich milden und humorvollen Charakter. Vgl. u.a. Vivian Liska: Fremde Gemeinschaft. Deutsch-jüdische Literatur der Moderne. Göttingen 2011, S. 9. Biographisch ist von Kafka eine extrem ablehnende Haltung gegenüber Lasker-Schüler und ihrem Schreiben überliefert, die, wie Hartmut Binder betont, im Vergleich mit Kafkas Äußerungen zu anderen Autor/innen einzigartig heftig sei. Vgl. Hartmut Binder: Else Lasker-Schüler in Prag. Zur Vorgeschichte von Kafkas „Josefine“Erzählung. In: Wirkendes Wort, 44 (1994), H. 3, S. 405–438, hier S. 410. So schreibt Kafka in der Nacht vom 12. auf den 13. Februar 1913 an Felice Bauer: „Ich kann ihre Gedichte nicht leiden, ich fühle bei ihnen nichts als Langeweile über ihre Leere und Widerwillen wegen des künstlichen Aufwandes. Auch ihre Prosa ist mir lästig aus den gleichen Gründen, es arbeitet darin das wahllos zuckende Gehirn einer sich überspannenden Großstädterin.“ Auch das persönliche Urteil ist vernichtend: „[I]ch weiß den eigentlichen Grund nicht, aber ich stelle mir sie immer nur als eine Säuferin vor, die sich in der Nacht durch die Kaffeehäuser schleppt.“ Franz Kafka: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hrsg. v. Erich Heller und Jürgen Born. Frankfurt/Main 1967, S. 269. 8 Hartmut Binder: Else Lasker-Schüler in Prag. 9 Hartmut Binder nennt als Parallelen zu Lasker-Schülers Besuchen in Prag u.a. die Schauplätze, an denen Josefine auftritt (424), die in den Rezensionen ähnlich beschriebene Vortragsweise und äußere Erscheinung (426), die besonders enthusiastische Rezeption von Lasker-Schülers Dichtung und Vorträgen (426 f.) und die Spendenaufrufe für die Autorin (428/9). Hartmut Binder: Else Lasker-Schüler in Prag, bes. S. 424–429. 10 Hartmut Binder: Else Lasker-Schüler in Prag, S. 430.
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Else Lasker-Schüler und der Kulturzionismus
unternimmt, legt eine Sichtweise auf Lasker-Schülers Schreiben und Wirken frei, die als historische Konstellation aus heutiger Sicht mehrfach verstellt ist und die das Hauptinteresse dieser Arbeit bildet. Entgegen der von Binder postulierten „Übereinstimmung zwischen literarischer Fiktion und Prager Wirklichkeit“11 ist festzustellen, dass Kafka in seiner Erzählung weniger ein „Porträt“ Lasker-Schülers entwirft, sondern vor allem eine Auseinandersetzung mit ihrem poetologischen Entwurf führt, zu dem auf Grund der avantgardistischen Ausrichtung ihre Selbstinszenierung gehört. Für diese These spricht am deutlichsten der Name „Josefine“ selbst, der auf die Bedeutung der Joseph-Figur und -geschichte der Tora für Lasker-Schülers Dichtung und Poetologie12 verweist, wie er vor allem in ihrer Ich-Figuration13 des Prinzen Abigail Jussuf von Theben in orientalisierter Form Ausdruck fand und Zeitgenoss/ innen bekannt war. So nimmt die Erzählung Elemente der Josepherzählung auf, die Lasker-Schüler ihrerseits für ihren poetologischen (Selbst-)Entwurf fruchtbar gemacht hat, beispielsweise das Moment der Erwählung, die Verkennung durch die Brüder (hier das Volk der Mäuse), die prophetische Gabe, die Thematik des Träumens und die Schutz- oder Rettungsfunktion Josephs gegenüber dem jüdischen Volk.14 Die Bezeichnung als Sängerin lässt sich, über die allgemein 11 Ebd., S. 424. 12 Der Begriff Poetologie im Sinne einer Reflexion über die Herstellung von Poetizität ist besonders geeignet, um Lasker-Schülers avantgardistischen Dichtungsentwurf zu beschreiben. In dieser Studie markiert er die in der Forschung weitgehend anerkannte Tatsache, dass den meisten Texten von Lasker-Schüler eine Ebene der poetologischen Reflexion über Dichtung und dichterische Verfahren eingeschrieben ist. Dass der Begriff hier außerdem einen Gesamtentwurf von Autor/inschaft am Übergang von Leben und Literatur einschließt, der die Grenze von Literatur und Leben systematisch in Frage stellt (vgl. u.a. die IchFiguration Prinz Abigail Jussuf von Theben), ist eine notwendige Erweiterung, die durch Lasker-Schülers spezifischen Entwurf im Kontext der Avantgarden vorgegeben ist. Der Begriff Poetik in seiner traditionellen Konnotation kann diese mit den Avantgarden verbundene Besonderheit von Lasker-Schülers Schreiben nur ungenügend erfassen. Auf die Ebene der Reflexion haben u.a. Andrea Krauß (2002), Doerte Bischoff (2002), Herbert Uerlings (2003) und Almuth Hammer (2004) hingewiesen, ebenso deuten die Erkenntnisse über die genuine Konstruiertheit des Orients in Lasker-Schülers Schreiben in diese Richtung, u.a. Herbert Uerlings (2003) und Sylke Kirschnick (2007). 13 Zum Begriff der Ich-Figuration für Lasker-Schülers Umgang mit der Autor/in-Rolle vgl. noch immer einschlägig Meike Feßmann: Spielfiguren. Die Ich-Figurationen Else LaskerSchülers als Spiel mit der Autorrolle. Ein Beitrag zur Poetologie des modernen Autors. Stuttgart 1992. 14 Wichtig ist zu beachten, dass es sich dabei um keine Totalidentifikation Lasker-Schülers mit der Joseph-Figur handelt, sie also nicht tatsächlich als Prophetin auftritt. Vielmehr ist Lasker-Schülers schon durch den arabisierten Namen Jussuf verfremdete Ich-Figuration durch Distanzierungstechniken wie Ironie oder Überblendungen, z.B. mit der Figur König Davids, gebrochen. Vgl. zum poetologischen Gesamtentwurf als Verbindung prophetischer
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tradierte poetologische Bedeutung hinaus, ebenfalls konkret auf Lasker-Schülers Werk und Poetologie zurückführen. Viele ihrer frühen Gedichte tragen schon im Titel die Bezeichnung Lied, beziehen sich auf das Hohelied der hebräischen Bibel oder stehen in der Nachfolge der Psalmen als Lieder König Davids. Außerdem wird ihr Vortragsstil nicht nur in den Rezensionen zu den Lesungen in Prag als „singend“ beschrieben.15 Darüber hinaus nimmt Kafka weitere Elemente von Lasker-Schülers poetologischem Entwurf auf, so das Motiv der Kindlichkeit im Sinne eines kindlichen Schöpfungszustandes, die ambivalente Haltung zum jüdischen Volk mit prophetischen Implikationen, wie sie im Gedicht „Mein Volk“ gestaltet ist. Kafka spielt außerdem kritisch auf Lasker-Schülers Anklage gegen ihre Verleger an, die sie zuerst am 25. November 1923 in Berlin vorgetragen hat16 und die in der literarischen Szene mit reger Anteilnahme diskutiert wurde.17 Sie erscheint schließlich 1925 im Selbstverlag unter dem Titel Ich räume auf! Der Aspekt, der hier neben der poetologischen Ausrichtung vor allem inte ressiert, ist, dass Lasker-Schüler mehr als alle anderen jüdischen Autor/innen ihrer Zeit als Modell der ‚Sängerin des jüdischen Volkes‘ und für die Erörterung des Verhältnisses zwischen einer jüdischen Künstler/innen-Figur und dem jüdischen Volk geeignet erscheint, und zwar auf Grund ihrer Poetologie und der Rezeption auf nationaljüdischer Basis. Deutlich wird in der Erzählung darüber hinaus, dass es sich um eine Wechselbeziehung zwischen Inszenierung eines jüdischen poetologischen (Selbst-)Entwurfs und dessen (nationaljüdischer) Rezeption handelt, die Kafka mit dem Symbol der „Wage (sic)“ beschrieben und im Doppeltitel der Erzählung sichtbar gemacht hat: „Die Geschichte bekommt einen neuen Titel / Josefine, die Sängerin / oder / Das Volk der Mäuse / Solche oderTitel sind zwar nicht sehr hübsch, aber hier hat es vielleicht besonderen Sinn, es hat etwas von einer Wage.“18
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und königlicher Traditionsbestände: Almuth Hammer: Erwählung erinnern. Literatur als Medium jüdischen Selbstverständnisses. Göttingen 2004, S. 189–205. Hartmut Binder: Else Lasker-Schüler in Prag, S. 425 und 437. Vgl. KA 7, S. 567. Lasker-Schüler berichtet zuerst am 15. September 1923 Klaus Gebhard von ihrer Broschüre und den Plänen, sie bei Lesungen vorzutragen (KA 7, 271 f.). In Kafkas Erzählung heißt es über Josephine in diesem Zusammenhang u.a.: „Diese Mißachtung äußerer Schwierigkeiten hindert sie allerdings nicht, die unwürdigsten Mittel anzuwenden. Ihr Recht steht außer Zweifel; was liegt also daran, wie sie es erreicht; besonders da doch in dieser Welt, so wie sie sich ihr darstellt, gerade die würdigen Mittel versagen müssen. Vielleicht hat sie sogar deshalb den Kampf um ihr Recht aus dem Gebiet des Gesangs auf ein anderes, ihr weniger teures verlegt.“ (372) So hat Kafka die Änderung des Titels bei den Korrekturarbeiten am Erzählband Ein Hungerkünstler im Mai 1924 bestimmt. Vgl. die überlieferten Gesprächsblätter, die Kafka zur Kommunikation nutzte, da er auf Grund seiner Erkrankung zeitweise nicht sprechen durfte, hier vom 11. oder 12. Mai 1924, zitiert nach: Joachim Unseld: Franz Kafka. Ein Schriftstellerleben. München 1982, S. 230 f.
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Entsprechend hebt die Erzählinstanz eine elementare Verbindung von Josefines Kunst mit dem Wesen des Volkes der Mäuse hervor, so dass ihr Gesang, der vielmehr ein Pfeifen ist, Letzteres schließlich repräsentiert: Dieses Pfeifen, das sich erhebt, wo allen anderen Schweigen auferlegt ist, kommt fast wie eine Botschaft des Volkes zu dem Einzelnen; das dünne Pfeifen Josefines mitten in den schweren Entscheidungen ist fast wie die armselige Existenz unseres Volkes mitten im Tumult der feindlichen Welt. (362)
Diese Konzeption entspricht dem kulturzionistischen Literaturmodell, wie es Achad Haam19 im Anschluss an Johann Gottfried Herders Konzept des „Nationalgeistes“ (zuerst 1767)20 formuliert hat. Der jüdische Autor schreibe aus dem jüdischen „Volksgeist“ heraus und sei über diesen mit dem Volk verbunden, wobei Achad Haam zentral auf die jüdische prophetische Tradition Bezug nimmt.21 Dieses Modell kulturzionistischer Kunst- und Literaturproduktion ist ebenfalls in die Erzählung aufgenommen, da Josefines Kunst eine prophetische und letztlich in einem messianischen Sinne erlösende Funktion zugeschrieben wird. Trotz der kritischen Haltung gesteht die Erzählinstanz Josefine letztendlich zu, bei ihren Darbietungen tatsächlich etwas Besonderes für das Volk hervorzubringen, nämlich eine Stille, einen Frieden, der sich um ihr Pfeifen ausbreitet und dem durch den Bezug auf die Eigenschaften des Schabbat eine messianische Qualität zugewiesen wird.22 Kafka legt hier zum einen eine Rezeptionshaltung offen, die es tatsächlich gegeben hat,23 und spielt gleichzeitig auf den häufigen Bezug auf prophetische Dichtungsmodelle in der kulturzionistischen und der modernen und avantgar19 Achad Haam (hebr.: „Einer aus dem Volk“, eigentlich Ascher Ginsberg) ist das Pseudonym des wichtigsten Theoretikers des osteuropäischen Kulturzionismus, den er selbst als „geistigen Zionismus“ bezeichnet (vgl. Kapitel II). 20 Johann Gottfried Herder: Fragmente zur deutschen Literatur. J.G. Herders sämmtliche Werke. [Erste Sammlung.] Carlsruhe 1821, S. 24. 21 Vgl. Achad Haam: Priester und Prophet. In: Ders.: Am Scheidewege. Ausgewählte Essays. Autorisierte Übersetzung aus dem Hebräischen von Prof. Israel Friedlaender. Berlin: Jüdischer Verlag 1904, S. 258–271. Ders.: Moses, der Prophet. In: Moses. Berlin: Jüdischer Verlag 1905. 22 Dieser Frieden (hebr.: „Schalom“) verweist auf einen Zustand, der am Schabbat in Vorwegnahme der kommenden Welt (Olam Haba) erreicht und in der Liturgie erbeten wird. Bernd Auerochs spricht von einer „Sabbatfunktion der Kunst“. Bernd Auerochs: Kafka-Handbuch, S. 325. 23 Vgl. u.a. das in der zionistischen Wochenschrift Selbstwehr abgedruckte Gedicht „Else Lasker-Schüler in Prag“ von Otto Pick zu ihrem Aufenthalt 1921, das u.a. die Zeilen enthält: „Die Gegenwart zerstob wie nie gewesen / Vor deinem Wort, vor deinem Seherwesen. / Den Sinn, des Seins und vieler Träume Sinn / Erschlossest du uns, weise Deuterin.“ Otto Pick: Else Lasker-Schüler in Prag. In: Selbstwehr, Jg. 15 (21.1.1921), H. 3, S. 1.
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distischen Literatur an. Dass Kafka diese Zusammenhänge nicht nur abbildet, sondern kritisch reflektiert – nicht ohne ihnen durchaus ein Moment der poetischen ‚Wahrheit‘ zuzusprechen –, darauf weisen Distanzierungstechniken hin, so die selbstironische und ironisierende Haltung der männlich konnotierten Erzähl instanz, die sich „halb“ zu den „Opposition“-Treibenden (354) gegen Josefine zählt, und die für Kafka typische Ambivalenz der Aussagen, die immer wieder durch gegenteilige relativiert werden. So kann die Vermischung der künstlerischen und persönlichen Eigenschaften Josefines als Reflexion von Lasker-Schülers avantgardistischer Poetologie auf der Grenze von Literatur und Leben verstanden werden. Kafka spielt in der Erzählung auf die avantgardistische Haltung Lasker-Schülers an, wenn die Erzählinstanz Josefines Vortragskunst halb ironisch, halb anerkennend mit der Vorführung von etwas ‚Unkünstlerischem‘, in diesem Fall dem „Nüsseknacken“ vergleicht, wie es Avantgardekünstler/innen vielfach zur Aufhebung des Gegensatzes von Leben und Kunst unternommen haben: Selbst wenn es nur unser tagtägliches Pfeifen wäre, so besteht hier doch schon zunächst die Sonderbarkeit, daß jemand sich feierlich hinstellt, um nichts anders als das Übliche zu tun. Eine Nuß aufknacken ist wahrhaftig keine Kunst, deshalb wird es auch niemand wagen, ein Publikum zusammenzurufen und vor ihm, um es zu unterhalten, Nüsse zu knacken. Tut er es dennoch und gelingt seine Absicht, dann kann es sich eben doch nicht nur um bloßes Nüsseknacken handeln. Oder es handelt sich um Nüsseknacken, aber es stellt sich heraus, daß wir über diese Kunst hinweggesehen haben, weil wir sie glatt beherrschten und daß uns dieser neue Nußknacker erst ihr eigentliches Wesen zeigt, wobei es dann für die Wirkung sogar nützlich sein könnte, wenn er etwas weniger tüchtig im Nüsseknacken ist als die Mehrzahl von uns. (353)
Kafkas Erzählung zeigt dabei, wie stark ein Dichtungsentwurf als jüdische Dichterin und eine kulturzionistische bzw. nationaljüdische Rezeptionshaltung zeitgenössisch zusammenwirken, ohne ineinander aufzugehen. Vielmehr changiert das Verhältnis Josefines zum Volk der Mäuse exemplarisch zwischen Affinität und Abgrenzung, denn trotz ihres unstrittigen Status als einzige Sängerin des unmusikalischen Volkes der Mäuse in alter, verschütteter Tradition, fühlt sich Josefine vom Volk keineswegs angemessen gewürdigt. Das Volk ist sich im Gegenzug, trotz seiner Bereitschaft, ihr zuzuhören, über den Status ihrer Kunst nicht sicher. Entsprechend wird Josefine zwar am Ende „der zahllosen Menge der Helden unseres Volkes“ zugeordnet, aber gleichzeitig prophezeit, dass sie, „da wir keine Geschichte treiben, in gesteigerter Erlösung vergessen sein [wird] wie alle ihre Brüder.“ (377)
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Die in Kafkas Erzählung literarisch erörterte Frage, welche Rolle der kulturzionistische Diskurs für Lasker-Schülers Schreiben24 und ihre Positionierung als ‚jüdische Dichterin‘ im Kontext der Avantgarde gespielt hat, ist das Forschungsdesiderat, dem sich die vorliegende Studie widmet. I.2 Der deutschsprachige Kulturzionismus
Der Begriff Zionismus wird Nathan Birnbaum25 zugeordnet und bezeichnet die nationaljüdische Bewegung, wie sie durch Theodor Herzls Schrift Der Judenstaat (1896) und den I. Zionistischen Kongress in Basel 1897 institutionalisiert wurde. Ihr erklärtes Ziel ist dem Baseler Programm zufolge „die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden, die sich nicht anderswo assimiliren können oder wollen (sic)“.26 Kulturelle Aspekte scheinen für dieses von Herzl offiziell vor allem politisch, d.h. institutionell und diplomatisch, verfolgte Ziel zunächst eine nur marginale Rolle zu spielen.27 Vielmehr ist der Zionismus jedoch wichtiger Motor der Entwicklung eines modernen Judentums.28 Um 1900 zeigt sich innerhalb der zionistischen Bewegung ein vielschichtigeres Verhältnis zwischen ‚politischen‘ und ‚kulturellen‘ Aspekten. Neben im 24 Als Erster hat Mark H. Gelber auf motivische Bezüge Lasker-Schülers zum kulturzionistischen Diskurs in den Gedichtbänden Styx (1902) und Der siebente Tag (1905) hingewiesen. Mark H. Gelber: Eroticism and Masochism in Cultural Zionism: Else Lasker-Schüler und Dolorosa. In: Ders.: Melancholy Pride. Nation, Race and Gender in the German Literature of Cultural Zionism. Tübingen 2000, S. 203–220. Ders.: Jewish, Erotic, Female. Else Lasker-Schüler in the Context of Cultural Zionism. In: Else Lasker-Schüler. Ansichten und Perspektiven/Views and Reviews. Hrsg. v. Sonja Hedgepeth und Ernst Schürer. Tübingen, Basel 1999, S. 27–43. 25 Nathan Birnbaum verwendet den Begriff in der von ihm herausgegebenen, ersten nationaljüdischen Zeitschrift Selbst-Emancipation am 16. Mai 1890. 26 Anonym: Ergebnisse des Congresses. In: Die Welt, Jg. 1 (1897), H. 15, S. 1. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Theodor Herzl selbst diesen Artikel verfasst hat. 27 Diese Perspektive wird aus heutiger Sicht durch die Gründung des Staates Israel 1948 und den sogenannten ‚Nahostkonflikt‘ noch verstärkt, so dass der Zionismus allgemein als rein politisches Phänomen erscheint. So wird der „Kulturzionismus“ in historischen Darstellungen selten oder nur in Fußnoten erwähnt, während Untersuchungen zur Auseinandersetzung von Autor/innen mit diesem Diskurs allzu oft in eine politische Bekenntnisfrage münden. Eine Ausnahme bildet folgender Artikel: Paul Mendes-Flohr: Kulturzionismus. In: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 3. Hrsg. von Dan Diner. Stuttgart, Weimar 2012, S. 454–458. 28 Vgl. Shulamit Volkov: Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland. In: Das jüdische Projekt der Moderne. Zehn Essays. München 2001, S. 118–137. Volkov nennt Liberale, Orthodoxe und Zionisten als am Projekt einer jüdischen Moderne beteiligte Gruppierungen. Zur hier differenzierter betrachteten Rolle des Kulturzionismus als Vorreiter des Projekts siehe weiter unten.
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engeren Sinne politischen Fragen (wie Kolonisierung, Gründung von Institutio nen usw.) ist die sogenannte ‚Kulturfrage‘ einer der zentralen Diskussionspunkte auf den Zionistischen Kongressen. Die Kulturfrage betrifft im engeren Sinne die Bedeutung nationalkultureller und kulturpolitischer Aspekte im zionistischen Diskurs, wird jedoch bis zur Grundsatzfrage ausgeweitet, ob der Zionismus genuin eine Kulturbewegung sei.29 1899 lässt sich der Begriff „Kulturzionisten“ als Fremdbezeichnung für die auf der Relevanz dieser Kulturfrage beharrenden Teilnehmer/ innen der Zionistischen Kongresse nachweisen.30 Sammelpunkt für entsprechende Bestrebungen wird die sich im Vorfeld des V. Zionistischen Kongresses 1901 bildende Oppositionsgruppe die „Demokratische Fraktion“, der u.a. Martin Buber, Berthold Feiwel, Davis Trietsch und Chaim Weizmann angehören. Die Herausbildung zweier scheinbar prototypischer und einander entgegengesetzter Positionen eines ‚politischen‘ und eines ‚kulturellen‘ Zionismus geht auf taktische Positionierungen und Verwerfungen innerhalb der Zionistischen Bewegung selbst zurück. Deren Leitungsebene (v.a. Theodor Herzl und Max Nordau) drängt in der Anfangszeit kulturelle Aspekte vor allem aus Rücksicht auf die traditionell religiösen osteuropäischen Mitglieder zurück und provoziert dadurch die Polarisierung der beiden Richtungen. Gegenüber Herzls ‚politischem Zionismus‘ orientiert sich die zumeist jüngere Generation der Kulturzionist/innen an Theorien des osteuropäischen „geistigen“ Zionismus Achad Haams. Dieser sieht eine kulturelle Erneuerung des Judentums als wichtigstes Element zionistischer Bemühungen an. In Palästina soll lediglich ein „geistiges Zentrum“ gegründet werden (vorgestellt z.B. als Gründung einer Hochschule für Wissenschaft und Kunst und einer Akademie für Sprache und Dichtung), dessen ‚geistige‘ Errungenschaften in die Diaspora ausstrahlen sollen, um die dortige kulturelle Erneuerungsarbeit zu inspirieren.31 Die neuere Zionismus-Forschung hat gezeigt, dass eine prototypische Unterscheidung in einen ‚politischen‘ und einen ‚kulturellen‘ Zionismus der Komplexität des zionistischen Diskurses nicht gerecht wird. So sind nicht nur die Übergänge fließend,32 vielmehr ist das zionistische Projekt insgesamt durch eine genu-
29 Vgl. den Beitrag des Delegierten Awinowitzki auf dem V. Zionistischen Kongress 1901. Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des V. Zionisten-Kongresses in Basel. 26., 27., 28., 29. und 30. Dezember 1901. Wien: Verlag des Vereines „Erez Israel“ 1901, S. 423. 30 Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des III. Zionisten-Kongresses. Basel 15. bis 18. August 1899. Wien: Verlag des Vereines „Erez Israel“ 1899, S. 213. 31 Vgl. Kapitel II.1. 32 Schon Mark H. Gelber hat auf die fließenden Übergänge zwischen ‚politischem‘ und ‚kulturellem‘ Zionismus hingewiesen und u.a. Texte von Theodor Herzl und Max Nordau untersucht. Mark H. Gelber: Melancholy Pride, S. 9 f.
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ine Verbindung von Politik und Literatur geprägt.33 So lässt sich Theodor Herzls Wirken, wie Clemens Peck (2012) anschaulich gezeigt hat, als „politisches und literarisches Projekt“34 im Kontext moderner Utopiediskurse beschreiben. Herzl, der zuallererst Journalist, Schriftsteller und Theatermensch war, gibt mit der doppelten Darlegung seines Projekts, zum einen als juristische Schrift Der Judenstaat (1896) und zum anderen im Genre des utopischen Romans mit Altneuland (1902), selbst einen Hinweis auf diese Konstellation, mögen funktionalistische Elemente seines Literaturverständnisses auch nicht zu leugnen sein. Generell fand Politik für die konservativen vorzionistischen (z.B. Moses Hess) und ‚politisch‘ zionistischen Theoretiker des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts vor allem im Medium der Literatur statt. Der deutschsprachige Kulturzionismus, der sich maßgeblich zwischen den Zentren Wien, Berlin und Prag bewegt, betont die Verbindung von Literatur und Kunst mit politischen und sozialen Aspekten als explizites Programm. Daher ist es fruchtbar, den deutschsprachigen Kulturzionismus als eigenständiges historisches Phänomen und spezifischen Diskurs innerhalb der zionistischen Bewegung und des zionistischen Diskurses zu betrachten.35 Die deutschsprachigen Kulturzionist/innen, die einer jüngeren Generation angehören, entwickeln ein eigenes zionistisches Profil,36 verstehen und inszenieren sich als Vorreiter der zionistischen Bewegung und haben zugleich Anteil an der Entwicklung der historischen Avantgarde. Angestrebt wird eine Verbindung von ost- und westeuropäischem Zionismus und ‚westlichem‘ und ‚östlichem‘ Judentum, wobei sie sich zunächst an Achad Haams Konzept eines ‚geistigen 33 Auf diese Verbindung hat Philipp Theisohn aufmerksam gemacht, der den zionistischen Diskurs als einen gesamten versteht, der in allen seinen Ausprägungen gleichermaßen durch die Aspekte der Politisierung und Poietisierung geprägt sei. Er argumentiert gegen eine Abgrenzung des Kulturzionismus, der „nicht die kulturelle Dimension des Zionismus sei“ (dem ist zuzustimmen), kommt aber angesichts von Bubers Dialogphilosophie und dem Versuch, die Galut in das zionistisches Projekt einzubeziehen, zu dem Schluss, die kulturzio nistische Richtung sei letztendlich keine zionistische Position, da zwei einander ausschließende Raumkonzepte aufeinander träfen. Vgl. Philipp Theisohn: Die Urbarkeit der Zeichen. Zionismus und Literatur. Eine andere Poetik der Moderne. Stuttgart, Weimar 2005, S. 257–281. 34 Clemens Peck: Im Labor der Utopie. Theodor Herzl und das „Altneuland“-Projekt. Berlin 2012, S. 15. 35 Hier weiche ich von der Definition durch Paul Mendes-Flohr ab, der den deutschsprachigen Kulturzionismus nicht eigenständig betrachtet und den Begriff „Kulturzionismus“ auf Achad Haams osteuropäisches Modell engführt. Paul Mendes-Flohr: Kulturzionismus. 36 Entgegen der Position von Philipp Theisohn, der die zionistische Poetik bzw. Poiesis auf Phänomene der Urbarkeit und die angestrebte Staatsgründung zuspitzt, treten so Phänomene in den Blick, die eine Erneuerung der jüdischen Tradition und die Entwicklung positiver jüdischer Selbstbilder sowie den Einbezug der Diaspora in einen zionistischen Entwurf betreffen. Vgl. Philipp Theisohn: Urbarkeit der Zeichen.
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Zionismus‘ (im Sinne eines säkular verstandenen jüdischen ‚Volksgeistes‘) orientieren, es aber nach eigenen Maßgaben und unter den Bedingungen der Bohème und Lebensreformbewegung um 1900 und ab 1910 unter Anknüpfung an die sich etablierenden Avantgarden, vor allem den Expressionismus, modifizieren. Der Kulturzionismus erweitert das zionistische Spektrum explizit um Fragen der Entwicklung einer selbstbewussten jüdischen Identität bis hin zur Entwicklung einer individuell konzipierten jüdischen Religiosität, um Modelle eines schöpferischen Judentums, um den bewussten Bezug auf die jüdische Tradition und das Streben nach deren Erneuerung bzw. Modernisierung sowie um ethische und utopisch-messianische Elemente, die stark den Bereich der Imagination und der literarischen Überlieferung berühren. Seine Protagonist/innen versuchen in unterschiedlicher Ausprägung Diaspora und ‚Eretz Israel‘ in einem vielschichtigeren Verhältnis zu denken als die einseitige Orientierung auf die Gründung eines jüdischen Nationalstaates hin. Ebenso wird die Frage, in welcher Sprache jüdische Literatur entstehen kann, kontrovers beantwortet. Neben die Entwicklung einer modernen hebräischen Sprache treten Konzepte einer ‚Hebraisierung‘ der deutschen Sprache (Martin Buber) oder mehrerer jüdischer Nationalsprachen (Moritz Goldstein in der ‚Kunstwartdebatte‘37). Diese Widersprüche (oder vermeintlichen Inkonsistenzen)38 betreffen den Kern des kulturzionistischen Projekts, die Erneuerung der jüdischen Tradition, die das Judentum in der Diaspora einbeziehen muss,39 und lassen einen Diskurs erkennen, der gerade in seiner mehrdeutigen Besetzbarkeit für Autor/innen und Künstler/innen der klassischen Moderne und der Avantgarde interessant und poetologisch und motivisch anschlussfähig ist.40 Zentral ist der Anspruch auf „Verwirklichung“ (Buber),41 im 37 Moritz Goldstein: Deutsch-jüdischer Parnaß. In: Der Kunstwart. Rundschau für alle Gebiete des Schönen. Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben, Jg. 25 (März 1912), H. 11, S. 281–294. Moritz Goldstein: Begriff und Programm einer jüdischen Nationalliteratur. Berlin: Jüdischer Verlag [1912]. Julius H. Schoeps (Hg.): Deutsch-jüdischer Parnaß. Rekonstruktion einer Debatte. Berlin 2002. 38 Vgl. Philipp Theisohn: Urbarkeit der Zeichen, S. 257–282. 39 In seiner Einschränkung des Zionismus auf territoriale und staatliche Aspekte argumentiert Theisohn hier selbst einseitig ‚politisch‘-zionistisch. 40 Der deutschsprachige Kulturzionismus ist maßgeblich bestimmend für die Herausbildung und Heterogenität der von Michael Brenner für die Weimarer Republik beschriebenen, eigenständigen jüdischen Kultursphäre im Sinne einer breiten kulturellen jüdischen Erneue rungsbewegung. Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. München 2000. Zu einer kurzen Darstellung kulturzionistischer Literaturmodelle im engeren Sinne, allerdings ohne Bezug zur historische Avantgarde vgl. Andreas B. Kilcher: Einleitung. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hrsg. v. dems. 2., akt. u. erw. Auflage. Stuttgart, Weimar 2012, S. V–XXVII, hier S. XVII–XX. 41 Martin Buber: Der heilige Weg. Ein Wort an die Juden und an die Völker. Frankfurt/Main: Literarische Anstalt 1919, S. 11.
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Else Lasker-Schüler und der Kulturzionismus
Sinne eines verändernden Effektes von jüdischer Literatur (und Kunst) im individuellen und gemeinschaftlichen jüdischen Leben, der sich an Konzepte der historischen Avantgarden anschließen lässt. I.3 Die Verbindung von Kulturzionismus und Avantgarde
Um das poetologische Interesse der Avantgardistin Else Lasker-Schüler am Kulturzionismus nachzuvollziehen, zeigt diese Arbeit, dass der deutschsprachige Kulturzionismus, der besonders von Martin Buber geprägt wurde, in seiner Entstehungszeit und anteilig darüber hinaus im Kontext der Entwicklung der historischen Avantgarde steht.42 Der hier verwendete Avantgardebegriff stützt sich zentral auf die durchaus weiterhin gültige These Peter Bürgers, der in seinem Grundlagenwerk Theorie der Avantgarde (1974)43 die Rückführung der Institution Kunst in das Leben als das verbindende Hauptmerkmal der Avantgarden definiert hat.44 Darüber hinaus wird die in der neueren kulturwissenschaftlichen Avantgardeforschung vorgebrachte Kritik an Bürgers „Vereindeutigung“ der sehr unterschiedlichen Avantgardebewegungen integriert45 und von einem generell pluralistisch46 anzulegenden Avant42 Auf einen Bezug des Kulturzionismus zur Avantgarde hat in der historisch-kulturwissenschaftlichen Forschung bisher hingewiesen: Inka Bertz: Jüdische Renaissance. In: Handbuch der deutschen Reformbewegungen: 1880–1933. Hrsg. v. Diethart Kerbs u. Jürgen Reulecke. Wuppertal 1998, S. 551–564. Dies.: Politischer Zionismus und Jüdische Renaissance in Berlin vor 1914. In: Jüdische Geschichte in Berlin. Essays und Studien. Hrsg. von Reinhard Rürup. Berlin 1995, S. 149–180. Dies.: Eine neue Kunst für ein altes Volk. Die jüdische Renaissance in Berlin 1900–1924. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin. 25. Sept. bis 15. Dez. 1991. Berlin 1991. Diesen Kontext deutet auch an: Philipp Theisohn: Urbarkeit der Zeichen, S. 84. Valentina Di Rosa, die den Kulturzionismus mit den Avantgarden verbindet, ohne dies genauer herzuleiten, interpretiert ihn gleichzeitig als allein regressive Bewegung. Vgl. Valentina Di Rosa: „Begraben sind die Bibeljahre längst“. Diaspora und Identitätssuche im poetischen Entwurf Else Lasker-Schülers. Paderborn 2006, S. 17. 43 Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt/Main 1974. 44 Zu kritisieren ist dabei Peter Bürgers These, dass die Avantgarden aus internen Gründen gescheitert wären. Wie Dietrich Scheunemann eindrucksvoll zeigt, blendet Bürger (1992) die historischen Umstände, nämlich die Verfolgung und Vernichtung der Avantgarden und der Avantgardekünstler/innen und autor/innen, durch den Nationalsozialismus und Stalinismus aus. Dietrich Scheunemann: Preface. In: European Avant-Garde. New Perspectives. Hrsg. v. dems. Amsterdam, Atlanta 2000, S. 7–11, hier S. 9. 45 Vgl. u.a. Dietrich Scheunemann: European Avant-Garde, S. 7 ff. Ders. (Hg.): Avant-Garde/ Neo-Avant-Garde. Amsterdam, New York 2005. Andrew J. Webber: The European Avantgarde 1900–1940. Cambridge, Malden 2004. 46 Zur pluralistischen theoretischen Grundlegung vgl. u.a. Andrew J. Webber: The European Avant-garde.
Die Verbindung von Kulturzionismus und Avantgarde
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gardebegriff ausgegangen. Entsprechend wird das Merkmal der Auflösung der Grenze von Kunst/Literatur und Leben durch das Merkmal der Entwicklung künstlerischer und poetologischer Verfahren erweitert, mit denen die betreffenden Künstler/innen und Autor/innen auf die veränderten Produktionsbedingungen der Kunst in der Moderne reagieren.47 Als Hauptmerkmale48 der so verstandenen Avantgarde sind die potenziell a-mimetische Ausrichtung ihrer Kunst und Literatur und eine tendenzielle Auflösung des Werkbegriffs zu nennen49 sowie ihr hohes Reflexionsniveau.50 Aus der Perspektive der neueren Avantgardeforschung lässt sich der Kulturzionismus als eine ihrem Anspruch nach kulturrevolutionäre Bewegung beschreiben, die mit anderen ‚Ismen‘ der historischen Avantgarde strukturell vergleichbar ist. Als transnationale Bewegung will der Kulturzionismus als überkommen wahrgenommene Verhältnisse – den Zustand des Ghettos, die Assimilation und das traditionelle Judentum – durch eine z.T. radikal erneuerte oder explizit neu zu schaffende jüdische Kultur verändern. Allein der Anspruch, durch jüdische Literatur und Kunst sowie praktische Aufbauarbeit das jüdische Leben in der Diaspora und in Palästina zu erneuern, weist auf eine geistige Nähe zum avantgardistischen Impetus hin. Ebenso lässt sich eine Opposition gegen das als assi-
47 Zu dieser Erweiterung vgl. u.a. Dietrich Scheunemann: European Avant-Garde, u.a. S. 10, und ders. (Hg.): Avant-Garde/Neo-Avant-Garde. Scheunemann argumentiert, dass Benjamins Beobachtungen zur Erfindung der Photographie auch für die Literatur gelten, da die mimetische Funktion der Kunst generell in Frage gestellt werde. Ders.: On Photography and Painting. Prolegomena to a New Theory of the Avant-Garde. In: Ders.: European AvantGarde, S. 15–48, hier S. 19. Mittlerweile ist die Kombination von Bürgers These mit dem Merkmal der Entwicklung a-mimetischer Verfahren als Definitionsgrundlage der Avantgarde kanonisiert, vgl. Wolfgang Asholt u. Walter Fähnders: Einleitung. In: Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantegardekritik – Avantegardeforschung. Hrsg. v. dens. Amsterdam, Atlanta 2000 (Avant Garde. Critical Studies; 14), S. 9–27, hier S. 11. Hubert van den Berg u. Walter Fähnders: Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert – Einleitung. In: Metzler Lexikon Avantgarde. Hrsg. v. dens. Stuttgart, Weimar 2009, S. 1–19. 48 Jüngst hat Andrew J. Webber (2004) vorgeschlagen, das Merkmal einer radikal subjektiven künstlerischen Autonomie, wie es u.a. im Expressionismus zu beobachten sei, hinzuzufügen. Es lässt sich sowohl an Lasker-Schülers trotz aller poetischen Allianzen stets behauptete eigenständige und auf Differenz bestehende poetologische Position als auch an Bubers Betonung der jüdischen Identitätsbildung des/der Einzelnen und später einer individuellen Religiosität anschließen. 49 Für Lasker-Schülers Texte wurde der Werkbegriff schon länger in Frage gestellt, da eine Bewegung des kontinuierlichen Neuschreibens, Kommentierens, Neuarrangierens von Texten und Textelementen über die Menge der Gesamttexte zu beobachten ist. 50 Georg Jäger: Avantgarde. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Hrsg. v. Klaus Weimar. Berlin 2007, S. 183–187, hier S. 186: „Avantgarden sind Reflexionskulturen“.
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miliert51 wahrgenommene jüdische Bürgertum feststellen, die gerade für die jüngeren Generationen attraktiv war und an die antibürgerliche Haltung von Bohème und historischen Avantgarden anschließbar ist. Diese Untersuchung geht im Kontext der Entstehung des deutschsprachigen Kulturzionismus um 1900 von Vorläufern der historischen Avantgarde um die Jahrhundertwende aus, die mit dem Aufkommen der avantgardistischen Strömungen Expressionismus (um 1910) und Dadaismus (um 1916) schrittweise radikalisiert werden und als Übergänge zwischen historischer Moderne und historischer Avantgarde gelten können.52 Die kulturzionistischen Protagonist/ innen knüpfen konzeptuell an die ‚Ursprünge‘ der historischen Avantgarden53 im 19. Jahrhundert im Umfeld von Bohème,54 romantischen ‚Projekten‘ und frühsozialistischen Bewegungen an. Hier ist vor allem die zuerst von den Fourieristen und Saint-Simonisten vorgenommene Übertragung des aus der Militärsprache stammenden Begriffs einer „Vorhut“ auf die Kunst und die Rolle des Künstlers als „Avantgarde an der Spitze einer sozialen Bewegung“ relevant.55 In eben dieser Rolle sahen sich die Kulturzionist/innen in Bezug auf die zionistische Bewegung, 51 Der Begriff ‚Assimilation‘ wird zeitgenössisch als Kampfbegriff verwendet, in der Forschung spricht man eher von Akkulturation, um gegenüber einem Begriff der Assimilation im Sinne von bloßer Anpassung an das Vorgegebene den Handlungsspielraum der Protagonist/innen und die Varianz der Auseinandersetzung zu betonen. 52 Walter Fähnders geht von einer „kunst- und literarhistorischen Zäsur“ zwischen historischer Moderne und historischer Avantgarde 1910 aus, gesteht aber zu, dass „in Einzelfällen Grenzen zwischen Avantgarde und Moderne […] fließend sein“ können. Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890–1933. 2., akt. u. erw. Auflage. Stuttgart, Weimar 2010, S. 124. In der Forschung sind vor allem Verbindungen zwischen historischer Avantgarde und dem Ästhetizismus und Symbolismus nachgewiesen worden. 53 In der deutschsprachigen literaturwissenschaftlichen Forschung wird ein „eher enge[r] Avantgardebegriff“ verwendet, der „die einzelnen, historischen, national-regional wie gesamteuropäisch und international agierenden Bewegungen und Ismen zwischen futuristischem Aufbruch 1909 und dem Zweiten Weltkrieg“ umfasst. Vgl. u.a. Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne, S. 199. 54 Die Bedeutung der Bohème für die Herausbildung und Rezeption der wichtigsten deutschsprachigen Avantgardebewegungen, Expressionismus und Dadaismus, ist in der Forschung seit längerem erkannt worden. Helmut Kreuzer sieht in ihr die sozialgeschichtliche Grundlage für die Avantgarden. Helmut Kreuzer: Die Bohème. Beitrag zu ihrer Beschreibung. Stuttgart 1968. Grisko konstatiert „z.T. kausale Zusammenhänge zwischen antitraditionalistischer Avantgarde und B[ohème]“. Vgl. Michael Grisko: Boheme. In: Metzler Lexikon Avantgarde. Hrsg. v. Hubert van den Berg und Walter Fähnders. Stuttgart, Weimar 2009, S. 56–58, hier S. 57. Vgl. auch Georg Bollenbeck: Die Avantgarde als Boheme. Ein Diskussionsvorschlag. In: Erkundungen. Beiträge zu einem erweiterten Literaturbegriff. Helmut Kreuzer zum sechzigsten Geburtstag. Hrsg. v. Jens Malte Fischer, Karl Prümm u. Helmut Scheuer. Göttingen 1987, S. 10–35. 55 Georg Jäger: Avantgarde, S. 184.
Die Verbindung von Kulturzionismus und Avantgarde
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wie Berthold Feiwels Selbstbezeichnung als „Avantgarde des Zionismus“56 belegt. Der Kulturzionismus stellt demnach ein wichtiges Bindeglied zwischen diesen avantgardistischen ‚Anfängen‘ im 19. Jahrhundert und deren Weiterentwicklung unter den Bedingungen um 1900 dar. Um 1900 lässt sich in Berlin im Umkreis von Bohème und Lebensreformbewegung ein ähnliches Milieu zeigen, dass als Inspirations- und Entwicklungsort der historischen Avantgarde gelten kann. In diesem Umfeld bewegen sich zentrale Vertreter des Kulturzionismus,57 so u.a. Martin Buber und Efraim Moses Lilien im Umkreis der lebensreformerischen Gemeinschaften „Die Kommenden“ und „Neue Gemeinschaft“. Die kulturzionistischen Protagonist/innen haben somit aus einer spezifisch jüdischen Situation (oder einer spezifisch konstruierten Sicht auf diese Situation) heraus Anteil an der Entwicklung und Etablierung der typischen Diskursmerkmale und Aktionsformen der historischen Avantgarden, u.a. das Genre des Manifests, die VorreiterMetaphorik sowie die poetologische und selbstinszenatorische Erschließung prophetischer und utopischer bis messianischer Modelle. Für Martin Buber, dessen Rhetorik häufig eher auf Effekte eines „Sounds“58 und weniger auf präzise Analyse abzielt, und der von sich sagt: „Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch“,59 lässt sich darüber hinaus (trotz seiner Tendenz zur Essentialisierung u.a. ‚des Jüdischen‘) die Bedeutung a-mimetischer Techniken und eine Affinität zur Auflösung des Werkbegriffs in Anschlag bringen. Der deutschsprachige Kulturzionismus nimmt eine Vorreiterrolle im von Shulamit Volkov (2001) beschriebenen Projekt einer (im Sinne Habermas’) unvollendeten jüdischen Moderne ein, die nach Volkov von allen modernen jüdischen Gruppierungen (Liberale, Orthodoxe und Zionisten) gleichermaßen durchgesetzt wurde.60 Anders als diese verdeckt der deutschsprachige Kulturzionismus den Erneuerungsanspruch des Projekts nicht, sondern erhebt ihn explizit zu seinem Programm.
56 Berthold Feiwel: Stroemungen im Zionismus. In: Ost und West, Jg. 2 (1902), H. 10, Sp. 687– 694, hier Sp. 694. 57 Auf die Verbindung von Bohème und Kulturzionismus hat hingewiesen: Inka Bertz: Jüdische Renaissance in Berlin, S. 158. 58 Vgl. Caspar Battegay, der Bubers „Rede vom Blut“ als „Sound des Bluts“ bezeichnet und Dokumente einer entsprechenden Rezeption zitiert. Caspar Battegay: Der Sound des Bluts – Martin Buber. In: Das andere Blut. Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben 1830–1930. Köln, Weimar, Wien 2011, S. 174–189. 59 Martin Buber: Aus einer philosophischen Rechenschaft. In: Ders.: Werke. Bd. I: Schriften zur Philosophie. München, Heidelberg 1962, S. 1109–1122, hier S. 1114. 60 Shulamit Volkov: Die Erfindung einer Tradition.
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Für die Verbindung von Kulturzionismus und Avantgarde lassen sich zwei Phasen unterscheiden, zum einen kann der deutschsprachige Kulturzionismus um 1900 als ein Beitrag zur Entwicklung zentraler avantgardistischer Diskursmerkmale gelten. Zum anderen lässt sich ab 1910 eine Radikalisierung der kulturzionistischen Erneuerungsrhetorik beobachten, wie sie in Bubers Forderung einer „absoluten Erneuerung“ (1910) zu erkennen ist, die als Anknüpfen an die sich etablierenden historischen Avantgarden, vor allem den Expressionismus, zu verstehen ist. Nach dem Ersten Weltkrieg treten im Kontext der spezifischen jüdischen Situation ethische sowie utopische und kabbalistisch kontextualisierte messianische Aspekte in den Vordergrund. Die wesentlichen Überschneidungspunkte zu den historischen Avantgarden sind die Absicht durch jüdische Kunst und Literatur eine Veränderung des jüdischen Lebens zu erwirken und die Betonung der poietischen Qualität von Literatur, die auf eine „Verwirklichung“ im Hier und Jetzt ausgerichtet ist. Martin Bubers in Der heilige Weg (1919) geäußerter Anspruch, Aspekte des messianischen Zeitalters durch Mitarbeit des Menschen schon in der Gegenwart zu „verwirklichen“, lässt sich an die Definition der historischen Avantgarde als „antizipatorisches Projekt“ anknüpfen, wie sie Walter Fähnders und Wolfgang Asholt im Anschluss an Peter Bürger (1992) beschrieben haben.61 Grundlage ist Friedrich Schlegels Versuch, die Fragmenttheorie der Romantik mit dem Begriff des Projekts zu verbinden. Schlegel betont in seinen „Fragmenten“ im Athenaeum den seiner Qualität nach „progressiven“ „Sinn für Projekte, die man Fragmente der Zukunft nennen könnte“.62 Daran anschließend gehen Asholt/Fähnders davon aus, dass die Avantgarden „ein aus der Zukunft schon in die Gegenwart hereingeholtes antizipatorisches Potenzial“ im gegenwärtigen Moment (z.B. in der Aktionskunst) oder poetologisch im Text realisieren.63 61 Peter Bürger: The Decline of Modernism. Cambridge 1992. Hubert van den Berg u. Walter Fähnders: Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert, S. 14. Sie grenzen das Projekt der Avantgarden gleichzeitig von Habermas’ These einer unvollendeten historischen Moderne ab, die er als ein Projekt beschrieben hat, das auf Vollendung hin konzipiert sei und sein aufklärerisches Potenzial noch nicht habe voll entfalten können. Vgl. Jürgen Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. (1980). In: Ders.: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze. Leipzig 1990, S. 32–54. 62 Friedrich Schlegel: I. Fragmente. In: Athenaeum. Ersten Bandes Zweytes Stück. Hrsg. v. August Wilhelm u. Friedrich Schlegel. Berlin 1798, S. 8, Nr. 22. Einige Fragmente sind in zeitgenössischen Ausgaben präsent: Friedrich Schlegels Fragmente und Ideen. Hrsg. v. Franz Deibel. München, Leipzig: R. Piper & Co. 1905 (Die Fruchtschale. Eine Sammlung; 3), S. 43 f., Nr. 149. Deibel führt im Sachregister das Lemma „Projekt“ auf (285). Vgl. außerdem Friedrich Schlegel: Fragmente. Ausg. u. hrsg. v. Carl Enders. Leipzig: Insel-Verlag 1915. 63 Hubert van den Berg und Walter Fähnders: Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert, S. 14. Ähnlich: Andrew J. Webber: European Avant-garde, S. 219: „historical avant-garde
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Der Kulturzionismus strebt wie die Avantgarden eine fragmentarische Verwirklichung eines zukünftigen Zieles an, das heißt im Text oder in der konkreten praktischen Aufbauarbeit in Palästina, im pädagogischen und kulturpolitischen Bereich und in der individuellen jüdischen Identitätsentwicklung. Insgesamt ist jedoch zu beachten, dass der Kulturzionismus durchaus kulturpolitische und pädagogische Ziele verfolgt und versucht ein bürgerliches Publikum über konventionelle Darstellungsformen zu gewinnen, also nicht in allen Aspekten den Avantgarden nahesteht, die solche Tradition etablierenden und stützenden Handlungen dezidiert ablehnen. I.4 „Die jüdische Dichterin“64 – Vorbehalte der Forschung
Else Lasker-Schüler hat ihre ‚Dichtungen‘ und ihre Poetologie dezidiert in der jüdischen Tradition verortet und sich selbst als jüdische Dichterin verstanden.65 Hierauf deutet schon ihre stets selbstbewusst vorgebrachte und bei antisemitischen Angriffen verteidigte Selbstpositionierung als Jüdin hin: „Ich bin Jude, Gott sei Dank“.66 Zeitgenössisch lassen sich unzählige Beispiele für eine entsprechende Rezeption über die Spanne des Gesamtwerks nachweisen, die an Kafkas Darstellung in seiner Erzählung Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse erinnert. Diese Rezeptionshaltung beginnt in Lasker-Schülers nahem Umfeld als Reaktion auf ihren ersten Gedichtband Styx (1902), wenn Samuel Lublinski in der kulturzionistischen Zeitschrift Ost und West schreibt: Jede echte Lyrik beruht weit mehr als jede andere Dichtung auf dem Instinkt, und so wird man sich nicht wundern, daß in dem vorliegenden Gedichtbuch von Else LaskerSchüler Zeile für Zeile ihre Herkunft von einer uralten und mächtigen Rasse zu erzählen weiß; sie bewährt sich als späte und nicht unwürdige Enkelin jener uralten Sänger, die einst die Psalmen oder das Buch Hiob gedichtet haben. Namentlich die Eigenart ihres Naturempfindens offenbart eine altjüdisch-orientalische Prägung, deren Kraft und
looks both ways: forward to the future that it is programmatically creating and backwards in its previewing of the inevitable conversion of that future into the past“. 64 Peter Hille: Else Lasker-Schüler. In: Kampf. Zeitschrift für – gesunden Menschenverstand, N.F. (26. März 1904), H. 8, S. 238 f. 65 Dieser poetologische Entwurf ist als Aktualisierung der Heine’schen Poetik angelegt, wie in Kapitel III und IV genauer gezeigt wird. 66 So in einem Brief an Ludwig von Ficker nach antisemitischen Beschimpfungen von Margarethe Trakl, der Schwester Georg Trakls. Lasker-Schüler an Ludwig von Ficker. 9. Dezember 1914. KA 7, S. 72 f., hier S. 73.
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Glut durch die denkbar feinste moderne Seelendifferenzierung keineswegs geschwächt, wohl aber verinnerlicht wird.67
Fortgesetzt wird sie von Lasker-Schülers Mentor Peter Hille mit seinem Porträt von 1902, das 1904 in der Zeitschrift Kampf erschien und das Bild von LaskerSchüler grundlegend prägte: „Else Lasker-Schüler ist die jüdische Dichterin. Von großem Wurf. Was Deborah!“ 68 Die Affinität, aber auch Distanz zum kulturzionistischen Diskurs markiert explizit Ludwig Strauß in seinem Kommentar zu einem Spendenaufruf für Lasker-Schüler 1913, indem er ihre Gedichtsammlung Meine Wunder (1911) in der Zeitschrift Die Freistatt beurteilt als „wirkliche Dichtung, die vielleicht nicht dem Willen, aber dem Wesen nach jüdisch ist“. Gleichzeitig bezeichnet er die Gedichte jedoch als „nationale Dichtung in höherem Sinne“ und empfiehlt die Förderung von nationaljüdischer Seite: „Gerade für die Nationaljuden wäre es eine Pflicht, die ebenso bedeutende wie unbekannte Dichterin zu unterstützen.“69 Entsprechend wird der Topos der „(ur-)jüdischen“, orientalischen, eigentlich hebräischen Dichterin weitergetragen, sowohl in der jüdischen als auch in der nichtjüdischen und der antisemitischen Rezeption.70 Das Bild reicht hinein in freundschaftliche Kontakte und bis ins Schweizer Exil, wenn Karl Wolfskehl nach Wiederaufnahme des um 1916 unterbrochenen Briefkontakts 1936 spontan antwortet: „Wirklich verehrte, wirklich unvergessene, wirklich fabelhafte Else Lasker-Schüler! […] Wo kann ich etwas von Ihren neuen Zionsgedichten kennen lernen?“ (9.11.1936).71 Die Forschung hat bisher für Lasker-Schüler vor allem eine Vereinnahmung durch diese Rezeptionshaltung beschrieben, so dass Lasker-Schüler im Extremfall als ‚Opfer‘ einer sie auf die Position des ‚Anderen‘ (als Frau und Jüdin) festschreibenden jüdischen und nichtjüdischen Literaturkritik und allgemeinen 67 Samuel Lublinski: Gedichte von Else Lasker-Schüler. In: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für modernes Judentum, Jg. 1 (Dezember 1901), H. 12, Sp. 931 f. 68 Peter Hille: Else Lasker-Schüler, S. 238. Wobei sich in Hilles Essay schon ein, wenn auch kritischer Hinweis auf Heinrich Heine findet, der für Lasker-Schülers Profil als „jüdische Dichterin“ zentral ist, und Hille sich deutlich auf Motive aus Lasker-Schülers erstem Lyrikband Styx (1902) bezieht. 69 Ludwig Strauß: Für Else Lasker-Schüler. In: Die Freistatt, Jg. 1 (1913), H. 1, S. 69. 70 Am Beispiel der Rezeption der Hebräischen Balladen dargestellt bei Christine Radde: Else Lasker-Schülers „Hebräische Balladen“. Trier 1998, S. 17–23; sowie Stefanie Leuenberger: „Nicht dem Willen, aber dem Wesen nach jüdisch”. Zum Bild Else Lasker-Schülers in den Zeitschriften „Ost und West“, „Die Freistatt“ und „Die jüdische Rundschau“. In: Frauen und Frauenbilder in der europäisch-jüdischen Presse von der Aufklärung bis 1945. Hg. von Eleonore Lappin und Michael Nagel. Bremen 2007, S. 179–194. 71 Karl Wolfskehl an Else Lasker-Schüler. Zitiert nach: Karl Wolfskehl 1869–1948. Leben und Werk in Dokumenten. Hrsg. v. Manfred Schlösser. Darmstadt 1969, S. 280.
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Rezeptionshaltung erscheint.72 Vielmehr korrespondieren jedoch die jeweils genannten ‚jüdischen‘ Merkmale von Lasker-Schülers Dichtungen z.T. auffallend mit ihrer Selbstinszenierung, ihren poetologischen Strategien und den gewählten Themen, so dass von einem produktiven Spannungs- und Wechselverhältnis auszugehen ist. Dabei bleiben kulturzionistische Vereinnahmungsversuche sicherlich nicht aus und gewisse Stereotype werden angewendet und festgeschrieben. Gleichzeitig wird jedoch deutlich, dass Lasker-Schüler eine mal mehr und mal weniger annähernde Auseinandersetzung mit dem Kulturzionismus führt, in der dieser Diskurs poetologisch fruchtbar gemacht und dessen Schlüsselbegriffe und jüdische Identitätsentwürfe literarisch mehrdeutig verhandelt und überschritten werden. Schon 1904 schreibt Lasker-Schüler in einem Brief an Peter Hille selbstbewusst und Geschlechterrollen überschreitend: „[I]ch bin der letzte und tiefste Tropfen Saul und Davids“.73 Sie spricht Hilles oft als vereinnahmend angesehenem Porträt eine gewisse Gültigkeit zu, wenn sie es 1917 als Vorwort für die Publikation ihrer Gesammelten Gedichte wählt.74 Hier ist Kafkas literarische Darstellung wesentlich ‚zutreffender‘, die die Figur der Josefine als selbstbewusste Verkörperung und Inszenierungsinstanz der ihr zugeschriebenen Aspekte zeigt. Dass Lasker-Schüler sich selbst als „jüdische Dichterin“ positioniert und dass diese Positionierung nicht ohne den kulturzionistischen Diskurs denkbar ist,75 erscheint zunächst sowohl aus der Sicht der traditionellen als auch der progressiven Lasker-Schüler-Forschung als potenziell problematisch. Aus der Perspektive einer Forschung und Rezeption nach 1945 erscheint diese Verbindung als abwegig, da diese gerade in Deutschland lange Mühe hatte, den Bezug von Lasker-Schülers Werk und Poetologie zur jüdischen Tradition und jüdischen Diskursen ihrer Zeit überhaupt adäquat wahrzunehmen.76 Hinzukommt als weitere Schwierigkeit die immer noch zu beobachtende Tendenz, LaskerSchüler intellektuelles Potenzial, vor allem zu politischer Reflexion abzusprechen
72 So Stefanie Leuenberger: Zum Bild Else Lasker-Schülers. Leuenberger geht nicht auf die Parallelen zwischen den Rezeptionsstereotypen und Lasker-Schülers poetologischen Entwurf ein. 73 Peter Hille: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. Friedrich u. Michael Kienecker. Bd. VI: Texte – Briefe – Kommentare. Essen 1986, S. 170. 74 Else Lasker-Schüler: Die gesammelten Gedichte. Leipzig: Verlag der Weißen Bücher 1917, S. 7 f. 75 Sie ist selbstverständlich nicht allein auf diesen engzuführen, sondern u.a. auf die Bedeutung Heinrich Heines für Lasker-Schülers poetologischen Entwurf. 76 Hier ist als Pionierarbeit Jakob Hessings Biographie zu nennen, die allerdings eine tragische Nichtverbindung mit den Protagonisten der „Jüdischen Renaissance“ diagnostiziert. Jakob Hessing: Else Lasker-Schüler. Biographie einer deutsch-jüdischen Dichterin. Karlsruhe 1985.
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und damit ihre Einordnung in die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge ihrer Zeit zu erschweren.77 Entgegen früheren Forschungsbeiträgen zum Themenfeld Zionismus und Literatur geht es in dieser Arbeit nicht darum, Lasker-Schüler als (Kultur-) Zionistin im Sinne eines politischen oder ideologischen Bekenntnisses einzuordnen.78 Nicht nur würde eine solche Zuordnung einer differenzierten Auseinandersetzung im Medium literarischer und genuin mehrdeutiger Texte kaum gerecht. Darüber hinaus hat die Forschung seit den 1990er Jahren gerade Lasker-Schülers unideologisches Potenzial herausgearbeitet, das sich vereinnahmenden Identitätszuordnungen wie Nationalität, Ethnizität, Religionszugehörigkeit, Geschlecht und sexueller Identität widersetzt und schon dadurch einer nationaljüdischen Bewegung und den von ihr produzierten Ausschlüssen kritisch gegenüber stehen muss.79 Die vorliegende Studie stellt nun Lasker-Schülers komplexe poetologische Arbeit, wie sie die aktuelle Forschung, die Lasker-Schüler als Autorin der Avantgarde ernst nimmt,80 u.a. aus der Perspektive diskursanalytischer und dekon- struktivistischer Theoriebildung beschrieben hat,81 in den Kontext des historischen Phänomens des deutschsprachigen Kulturzionismus. Dabei wird folgendes Spannungsfeld ausgeleuchtet: Auf der einen Seite findet sich die zeitgenössisch selbstverständliche Wechselbeziehung zwischen einer nationaljüdischen, kulturzionistischen Rezeption und der Selbstinszenierung einer sich dezidiert als „jüdische Dichterin“ entwerfenden Autorin, die bewusst aus einer jüdischen Dichtungs tradition heraus schreibt. Auf der anderen Seite steht Lasker-Schülers unideolo77 Dieser Tendenz versucht u.a. folgende Arbeit entgegen zu wirken: Thomas Höfert: Signaturen kritischer Intellektualität. Else Lasker-Schülers Schauspiel „Arthur Aronymus“. St. Ingbert 2002. Kevin Vennemann fordert noch 2009 Lasker-Schüler endlich als politische Autorin ernst zu nehmen. Kevin Vennemann: Nachwort. In: Else Lasker-Schüler: „IchundIch“. Hrsg. v. Karl Jürgen Skrodzki und Kevin Vennemann. Frankfurt/Main 2009, S. 93–100, hier S. 99. Vgl. als positives Beispiel Alfred Bodenheimer u. Andreas B. Kilcher: Else Lasker-Schüler. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Andreas B. Kilcher. 2., akt. u. erw. Auflage. Stuttgart, Weimar 2012, S. 327–331. 78 Die Problematik dieser Forschungshaltung benennt auch Philipp Theisohn: Urbarkeit der Zeichen, S. 19. 79 Vgl. u.a. Doerte Bischoff, die für Lasker-Schüler den Begriff „Ethik der Differenz“ geprägt hat. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung. Figuren der Souveränität und Ethik der Differenz in der Prosa Else Lasker-Schülers. Tübingen 2002. 80 Diesen wichtigen Nachweis hat zuerst und noch immer einschlägig Markus Hallensleben geführt: Markus Hallensleben: Else Lasker-Schüler. Avantgardismus und Kunstinszenierung. Tübingen, Basel 2000. 81 Vgl. hierzu v.a. die Arbeiten von Doerte Bischoff (2002), Andrea Krauß (2002) und Sylke Kirschnick (2007).
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gische, subversive und spielerische Haltung, die sich jeder ideologischen Vereinnahmung entzieht und in ihren Texten und poetologischen (Selbst-)Entwürfen identitäre Festschreibungen systematisch unterläuft. So setzen ihre meist überdeterminiert intertextuellen, poetologisch reflektierten Texte auch jeder (vereindeutigenden) Interpretation Widerstände entgegen.82 Ziel ist es, Lasker-Schülers konzeptuell auf einer unhintergehbaren Differenz beharrende, dabei aber durchaus zu poetischen Allianzen fähige83 und auf diesen basierende, sowohl poetologisch als auch politisch reflektierte Positionierung in der vom deutschsprachigen Kulturzionismus maßgeblich bestimmten jüdischen Erneuerungsbewegung zu rekonstruieren. Lasker-Schülers Auseinandersetzung mit dem Kulturzionismus erweist sich dabei als eine der zentralen Grundkonstanten ihrer Dichtung über die Spanne ihres Gesamtwerks, umso mehr, da es ein wichtiges Merkmal von Lasker-Schülers Schreiben ist, Themen und Motive immer wieder zu bearbeiten oder Texte über das Gesamtwerk hinweg in immer neuen Versionen und Zusammenstellungen aktualisierend aufzunehmen und zu verändern. So bildet der kulturzionistische Diskurs eine Grundlinie ihrer Auseinandersetzung mit Judentum, jüdischer (literarischer) Tradition und jüdischer Identität im Medium avantgardistischer Literatur und regt, bedingt durch äußere sozialhistorische und biographische Anlässe, immer wieder zu neuer Positionierung und poetologischer Reflexion an.84 Um dieser Auseinandersetzung und dem poetisch produktiven Spannungsverhältnis gerecht zu werden, liegt der Fokus der Arbeit auf Lasker-Schülers Poetologie, die so angelegt ist, dass der poetologische Entwurf am Übergang von Leben und Literatur nicht von der thematischen, motivischen und metaphorischen poetologischen Arbeit in den einzelnen Texten zu trennen ist. Eine direkte organisatorische oder publizistische kulturzionistische Assoziation ist für einen poetologischen Bezug keine notwendige Voraussetzung. Dennoch kann gezeigt werden, dass Lasker-Schülers persönliche Kontakte und publizistische Bezüge umfangreicher und vor allem nicht auf den Kreis um Martin Buber 82 Vgl. hierzu Andrea Krauß (2002). 83 Lasker-Schülers Schaffen ist deutlich durch künstlerische Allianzen geprägt, so die Suche nach ‚Spielgefährten‘, die unzähligen Widmungsgedichte und ihre Prosatexte, die avantgardistische Netzwerke inszenieren (u.a. Mein Herz, Der Malik. Eine Kaisergeschichte), die Konzeption eines ‚Bundes wilder Juden‘ oder der von ihr gegründete Vortragskreis deutscher Emigrant/innen und Immigrant/innen „Der Kraal“ im Jerusalemer Exil. 84 Hier ist Vivian Liskas Konzept der „Uncommon communities“ anschlussfähig, der „fremden Gemeinschaften“ im Sinne von „provisorischen Gruppierungen, die weder in sich geschlossen sind noch den ‚Anderen‘ ausschließen“ (10) und die in „fiktiven, imaginären und poetische Allianzen“ (12) entfaltet werden. Vivian Liska: Fremde Gemeinschaft. Deutsch-jüdische Literatur der Moderne. Göttingen 2011 (Manhattan Manuscripts; 6). Liska untersucht Lasker-Schülers frühe orientalisierte Prosa und die Hebräischen Balladen. Ebd., S. 92–129.
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und den Jüdischen Verlag beschränkt sind, wie bisher in der Forschung angenommen (vgl. Kapitel III).85 Zentral sind die Verweise, die sich in Lasker-Schülers Texten auf kulturzionistische literarische und theoretische bzw. essayistische Schlüsseltexte und Debatten nachweisen lassen, und die bisher in der Forschung nur unzureichend berücksichtigt wurden.86 Darüber hinaus werden ähnliche Themen wie Orientalismus, die Definitionen des ‚Jüdischen‘ und die Entwicklung eines schöpferischen Modells jüdischer Kunst und Literatur bearbeitet. Als Verfahren wird ein Neuschreiben der jüdischen Tradition bzw. die Übernahme und Überschreitung des rabbinischen ‚Erbes‘ im Medium der Literatur in Verbindung mit utopischen und jüdischmessianischen Erlösungsmodellen und prophetischen Dichtungsmodellen realisiert. Sowohl bei Lasker-Schüler als auch im Kulturzionismus wird eine Poetologie bzw. Poetik entworfen, die (jüdische) Literatur und (jüdisches) Leben verbindet und auf Verwirklichung ausgerichtet ist. Die intertextuellen Bezüge sind, wie gezeigt werden kann, frappierend. Gleichzeitig überschreitet Lasker-Schüler durch die Kombination mit anderen Intertexten die Vereindeutigungstendenzen, die der kulturzionistische Diskurs, natio nal und z.T. völkisch anschließbar, in pädagogischen oder kulturpolitischen Kontexten u.a. für die Definition von Identität aufweist. Lasker-Schülers Schreiben und poetologischer Entwurf, die explizit aus der jüdischen Tradition entwickelt und an diese rückgebunden werden, sind ohne den kulturzionistischen Diskurs nicht zu denken, gerade weil sie im Umfeld der „Jüdischen Erneuerungsbewegung“ eine eigene Position entwickelt und behauptet. Lasker-Schülers das Gesamtwerk umfassende, eigenständige poetologische Projekt im Kontext von Avantgarde und Kulturzionismus wird hier mit dem Begriff „Hebräische Avantgarde“ bezeichnet. I.5
Hebräische Avantgarde
Als Lasker-Schüler 1912/13 ihre Gedichtsammlung Hebräische Balladen veröffentlicht, markiert sie eine poetologische Position, die nicht nur die zuvor entworfenen Modelle der ‚jüdischen Dichterin‘ als ‚urjüdisch‘, ‚orientalisch‘ 85 Vgl. zu dieser Einschätzung u.a. Jakob Hessing (1985), Andrea Hennecke-Weischer (2003), Sigrid Bauschinger (2004) und Valentina Di Rosa (2006). 86 Eine Ausnahme bildet Martin Bubers Text „Das Zion der jüdischen Frau“ (MBW 3, 75–81), den u.a. Herbert Uerlings untersucht hat. Herbert Uerlings: Ethnizität und Geschlecht in Else Lasker-Schülers ‚orientalischen‘ Erzählungen. Zu „Der Amokläufer“ („Tschandragupta“) und „Ached Bey“. In: Else Lasker-Schüler-Jahrbuch der Klassischen Moderne. Hrsg. v. Lothar Bluhm u. Andreas Meier. Bd. 2. Trier 2003, S. 6–26.
Hebräische Avantgarde
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und ‚altjüdisch‘ aufnimmt und dabei überschreitet,87 sondern gleichzeitig in die literarische deutsch-jüdische Tradition – vor allem Heinrich Heines Hebräische Melodien (1851) – und die zeitgenössischen kulturzionistischen Debatten um eine Modernisierung der biblischen hebräischen Sprache und deren Etablierung als einzig wahrer Sprache jüdischer Dichtung eingebettet ist.88 Auf Grund der von Lasker-Schüler selbstgewählten Setzung und der poetologischen Komplexität ist der Begriff des ‚Hebräischen‘ als Element des Titels dieser Arbeit besonders geeignet, um im Konzept „Hebräische Avantgarde“ LaskerSchülers poetologische, intellektuelle und gleichzeitig poetisch-spielerische Auseinandersetzung mit dem kulturzionistischen Diskurs und ihr darin entwickeltes eigenständiges und eigenen Parametern folgendes poetologisches Projekt zu bezeichnen.89 Dass dem Begriff des ‚Hebräischen‘ im Verlauf von Lasker-Schülers Schaffen eine grundlegende poetologische Bedeutung zukommt, darauf deutet schon hin, dass nicht nur die Hebräischen Balladen (1912/13), sondern ebenso der wichtige Exilprosatext Das Hebräerland (1937) ihn im Titel tragen. Diese Arbeit rekonstruiert Else Lasker-Schülers Beitrag zum Projekt einer „Jüdischen Renaissance“ (Buber 1901) bzw. jüdischen „Erneuerung“ (Buber 1910) im Medium der Literatur und in Übergängen zur bildenden Kunst. Dabei wird deutlich, dass Lasker-Schüler sich zentral und poetisch produktiv mit dem kulturzionistischen Diskurs auseinandersetzt und die Grundlagen ihres poetologischen 87 Ein Beispiel für die Übernahme des Begriffs ist die Rezension von Ernst Lissauer (1914) zu den Hebräischen Balladen: „Erwachtes Altjudentum bei Else Lasker-Schüler“ (1912/13): „Es sind nicht die Gedichte einer deutschen Dichterin, auch nicht einer deutschen jüdischen Stammes, sondern schlechthin die hebräischen Melodien einer hebräischen Singerin, die sich deutscher Laute bediente durch einen Zufall der Diaspora.“ Ernst Lissauer: Hebräische Balladen. Von Else Lasker-Schüler. In: Das literarische Echo, 15 (1912/13), Sp. 1300 f. 88 Lasker-Schüler reflektiert 1913 in ihrem Essay „Handschrift“ den Begriff im Kontext eines orientalisierten („hebräisch oder arabisch“) und graphischen Schriftverständnisses: „Meine Handschrift hat als Hintergrund den Stern des Orients. Oft sagten mir Theologen, ich schreibe deutsch wie hebräisch oder arabisch. Ich denke an der Ägypter Fetischkultur; ihnen ging aus dem Buchstaben schon die Blüte auf.“ (KA 3.1, 159) Bei der Titelwahl verwendet sie ihn jedoch dezidiert für Texte, die einen expliziten poetologischen Bezug zur jüdischen Tradition aufweisen. 89 Das hier vorgestellte Konzept ist von einer tatsächlichen hebräischsprachigen Avantgardeliteratur in Osteuropa, im Britischen Mandatsgebiet Palästina und ab 1948 in Israel abzugrenzen. Lasker-Schülers Verwendung des Begriffs der Hebräer steht aber durchaus im Kontext des Begriffs der „neuen Hebräer“, wie er im Jischuw (hebr.: die jüdische Bevölkerung in Palästina vor der Staatsgründung) propagiert wurde. Dies wird am deutlichsten in Das Hebräerland (1937). Zur Bewegung der „neuen Hebräer“ mit Abbildungen historischer Dokumente und bildkünstlerischer Leistungen vgl. den Katalogband: Dorett LeVitte Harten (Hg.): Die neuen Hebräer. 100 Jahre Kunst in Israel. Berlin 2005, bes. S. 14 f., 200. Der Begriff wird hier allerdings auf Israelis und die israelische Kunst bis in die Gegenwart ausgeweitet.
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Entwurfs aus einer Kombination von avantgardistischen Verfahren und der Erweiterung und Variation kulturzionistischer poetologischer und identitätspolitischer Parameter entwickelt. So gehört Lasker-Schüler zu den Autor/innen und Denker/ innen der jüdischen Moderne, wie Martin Buber, Walter Benjamin, Franz Kafka, Margarete Susman,90 Gershom Scholem und Chaim Nachman Bialik, die an der Erfindung und dem „Neuschreiben“ (Buber 1901) der jüdischen Tradition Anteil hatten.91 Im Frühwerk entwickelt sie Modelle schöpferischer jüdischer Dichtung sowie den poetologischen Entwurf als jüdische Dichterin in prophetischer Tradition und überträgt zunehmend rabbinische hermeneutische Verfahren auf die deutsch-jüdische avantgardistische Literatur. Die Verwendung des Begriffs des Hebräischen ist in Lasker-Schülers Schaffen nicht zu verstehen, ohne ihn mit den kulturzionistischen Bemühungen um die Entwicklung einer modernen hebräischen Sprache zu kontextualisieren.92 Dass Lasker-Schüler der Diskurs um eine Erneuerung der hebräischen Sprache und dessen poetologische Implikationen bekannt gewesen sind, zeigt ein poetologisch lesbarer Verweis auf diesen in ihrer Prosaarbeit Der Malik. Eine Kaisergeschichte (1919). Dort findet sich ein nichtübersetzter Brief in hebräischer Sprache vom Prinzen Abigail Jussuf von Theben an den Arier Giselheer. Der Brief ist in lateinischer Schrift mit Jussuf unterzeichnet und außerdem im Hebräischen mit dem Namen „(Zwi Ben Jehuda)“.93 Hier verweist Lasker-Schüler zentral auf den ‚Erfinder‘ des modernen Hebräisch Elieser Ben Jehuda (1858–1922).94 90 Zu Margarete Susmans Anknüpfen an die „Jüdische Renaissance“ vgl. Elisa Klapheck: Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie. Berlin 2014. 91 Hierauf hat Almuth Hammer in ihrer Studie Erwählung erinnern. Literatur als Medium jüdischen Selbstverständnisses (2004) hingewiesen, die Lasker-Schülers Einschreibung in die jüdische Tradition nachzeichnet. Hammer sieht aber keine Verbindung zum kulturzionistischen Projekt oder zur rabbinischen Tradition. 92 So fällt 1913 die Entscheidung, in den jüdischen Schulen in Palästina Hebräisch als Unterrichtssprache einzuführen. In Berlin gibt es seit den 1890er Jahren und noch stärker in den 1920er Jahren eine rege hebräisch-sprachige Gemeinschaft. Vgl. außerdem Michael Brenner (Hg.): Jüdische Sprachen in deutscher Umwelt. Hebräisch und Jiddisch von der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert. Göttingen 2002. 93 Vgl. die Übersetzung von Itta Shedletzky (KA 3.2, 239). Auf die weiteren Implikationen des Namens kann an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden. 94 Ben Jehuda war der Herausgeber des ersten modernen hebräischen Wörterbuchs, dessen erste sechs Bände 1910 in der Langenscheidtschen Verlagsbuchhandlung in Berlin erscheinen. Hierauf weist auch die Herausgeberin Ricarda Dick hin (ebd.). Markus Hallensleben liest den Brief als „endgültige Aufkündigung des künstlerischen Dialogs“ und schlussfolgert: „Wenn Elisier Ben Jehuda, wie die Editorin Ricarda Dick anmerkt, der Vorkämpfer für die Wiedererstehung der hebräischen Sprache war, dann präsentiert sich hier Lasker-Schüler – wohlgemerkt versteckt – als Vorkämpferin eines jüdischen Avantgardismus.“ Markus Hallensleben: Avantgardismus und Kunstinszenierung, S. 202.
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Gleichzeitig, und dies zeigt die besondere Position Lasker-Schülers in der Auseinandersetzung mit diesem Diskurs, entzieht sich Lasker-Schüler selbstbewusst jeglichem nationaljüdischen Anspruch, der die hebräische Sprache als die einzig wahre Sprache jüdischer Dichtung postuliert.95 Ihr Modell lässt sich eher als eine ‚Hebraisierung des Deutschen‘ bezeichnen,96 wenn sie angibt, dass die Hebräischen Balladen keiner Übersetzung bedürften, da sie schon in Hebräisch geschrieben seien.97 Mit der Bezeichnung Hebräisch bezieht sich Lasker-Schüler dabei immer auch auf Heinrich Heines Hebräische Melodien und die darin von ihm entwickelte Konzeption jüdischer Dichtung, die er der europäischen Literaturtradition basierend auf den griechischen Epen Homers gleichstellt.98 So entfaltet Lasker-Schüler die Kategorie des Hebräischen als eine grundlegend avantgardistische und revolutionäre Qualität, die am Übergang von Leben und Literatur operiert, zuallererst aber im Text und in der literarischen Erneuerung und Aktualisierung der Tradition ihren Platz hat. Darüber hinaus bezeichnet sie eine liebende und genuin schöpferische Qualität zwischen einzelnen, meist schöpferisch tätigen Menschen. So dass hebräisch zu schreiben, keine Frage einer bestimmten ‚buchstäblichen‘ oder konkreten Sprache ist, sondern eine besondere avantgardistische sowie ethische und utopisch-messianische Qualität von Literatur im Kontext der jüdischen Tradition.99 Diese Vorlage ist verbunden mit einem dem kulturzionistischen Diskurs entlehnten Begriff des ‚Urjüdischen‘, mit dem die Figuren der hebräischen Bibel als beispielhaft in ihrer Begegnung und schöpferischen Zusammenarbeit mit jhwh gedeutet werden. So lässt sich der Begriff
95 Hier ist Moritz Goldsteins in der ‚Kunstwartdebatte‘ artikuliertes Modell mehrerer jüdischer Nationalsprachen anschlussfähig. Vgl. FN 37. Für einem kurzen Überblick über die Positionen im deutschsprachigen Kulturzionismus vgl. Andreas B. Kilcher: Einleitung. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. 2. Auflage, S. XVII–XX. 96 Alfred Bodenheimer: Else Lasker-Schüler, S. 376, spricht von einer „‚semitischen‘ Durchdringung des Deutschen“. 97 Die Anekdote überliefert Paul Pförtner, zeitgenössisch wurde diese Einschätzung u.a. von Alice Jacob-Loewenson, die einige Gedichte Lasker-Schülers ins Hebräische übertrug, und dem deutsch- und hebräischsprachigen Autor Uri Zwi Greenberg ‚bestätigt‘. Vgl. Christine Radde: Else Lasker-Schülers „Hebräische Balladen“, S. 22, 42. 98 Vgl. zu Heines Entwicklung einer deutsch-jüdischen Poetik und gleichwertigen Dichtungstradition auch die Interpretation des Gedichts „Jehuda ben Halevy“ in: Norbert Oellers: Heines „Hebräische Melodien“. In: Das Jerusalemer Heine-Symposium. Gedächtnis, Mythos, Modernität. Hrsg. v. Klaus Briegleb u. Itta Shedletzky. Hamburg 2001, S. 36–48. 99 Christine Radde bezeichnet in ihrer Monographie zu den Hebräischen Balladen das Hebräische bei Lasker-Schüler als Essenz dessen, wie für sie das Judentum sein sollte: „poetisch, heilig und mythisch[ ]“. Christine Radde: Else Lasker-Schülers Hebräische Balladen, S. 44. Radde geht nicht auf einen Bezug zum kulturzionistischen Diskurs ein.
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‚Hebräer‘, wie Alfred Bodenheimer ausgeführt hat, als „Überschreiter“ übersetzen100 und somit an avantgardistische Modelle der Vorreiterschaft anbinden. Der Begriff einer „Hebräischen Avantgarde“ weist außerdem Überschneidungen zu Martin Bubers Lebenswerk auf, da Buber 1941 das Konzept eines „Hebräischen Humanismus“ skizziert,101 um seine philosophischen und ethischen Überlegungen zusammenzufassen. Zentral ist, dass Buber den „Hebräischen Humanismus“ im Rückblick als lebenslanges Projekt konstruiert und dabei, wie Michael Volkmann zeigt, den Begriff zweifach auf Kerndaten bzw. Schlüsseltexte der kulturzionistischen Bewegung zurückdatiert.102 Dies betrifft einmal das Jahr 1901, als Buber im Rahmen der kulturzionistischen Bemühungen der „Demokratischen Fraktion“ die „Jüdische Renaissance“-Bewegung proklamiert hatte, sowie das Jahr 1913, als er den Begriff „Hebräischer Humanismus“ in der Rede Wandlung (1918) zum ersten Mal verwendet.103 Die enge Verbindung zum kulturzionistischen Projekt einer Erneuerung der jüdischen Tradition und eine gewisse Distanz zu Modellen, die diese allein aus der Wiederbelebung der hebräischen Sprache erwarten,104 zeigt Bubers Aussage: Nicht der Hebraismus, sondern der hebräische Humanismus – das Wort in seinem großen historischen Sinn gefaßt – muß der Kern einer jüdischen Regenerationsbewegung sein. Das bedeutet: es gilt die leidenschaftliche Erfassung und Erneuerung der großen menschlichen Inhalte des Judentums; noch präziser: es gilt seinen größten, selbstständigsten Inhalt, seine Verwirklichungstendenz zu erfassen und neu zu leben – dann erst wird sich die große nationale Form wahrhaft ausbilden können.105 100 Alfred Bodenheimer: Die auferlegte Heimat. Else Lasker-Schülers Emigration nach Palästina. Tübingen 1995 (Conditio Judaica; 9), S. 29. 101 In einem Aufsatz für die zionistisch-sozialistische Zeitschrift Hapo’el Haza’ir (hebr.: Der junge Arbeiter) 1941 in Palästina. Martin Buber: Hebräischer Humanismus. In: Ders.: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. 2., durchges. und um Reg. erw. Aufl., Neuausg. Gerlingen 1997, S. 717–729. 102 Michael Volkmann: Martin Bubers hebräischer Humanismus. In: Martin Buber. Bildung, Menschenbild und Hebräischer Humanismus. Mit der unveröffentlichten deutschen Originalfassung des Artikels „Erwachsenenbildung“ von Martin Buber. Hrsg. v. Martha FriedenthalHaase und Ralf Koerrenz. Paderborn, München, Wien, Zürich 2005, S. 181–193. 103 Von der Rede hat sich ein Auszug in der Jüdischen Rundschau vom 27. September 1918 erhalten. Vgl. ebd., S. 182 f. 104 Buber schreibt, trotz gegenteiliger theoretischer Aussagen und trotz guter Kenntnisse der hebräischen Sprache bis zur Übersiedlung nach Palästina 1938 in deutscher Sprache und übersetzt zusammen mit Franz Rosenzweig die hebräische Bibel ins Deutsche, welches dabei eine hebräische Qualität erfahrbar machen soll. Vgl. Kapitel II.1. 105 Martin Buber: Wandlung. In: Jüdische Rundschau, 23. Jg. (27. September 1918), H. 39, S. 302. MBW 3, 348 f., hier 348. Die Herausgeberin Barbara Schäfer gibt an, dass Buber mit dem Begriff „Hebräischer Humanismus“ den Begriff „Jüdische Renaissance“ ersetzt. Ebd. S. 438. Ähnliche grundlegend schätzt Paul R. Mendes-Flohr den Begriff ein: „Der Zionismus geht,
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Buber führt hier seine Definition des „größten, selbstständigen Inhalt[s] des Judentums“, die an die Avantgarden anschließbare „Verwirklichungstendenz“, eng mit einem nationalkulturellen Ziel. Während Buber also am Begriff des Hebräischen den nationalen Aspekt betont, den „hebräischen Humanismus“ als Ausdruck der nationaljüdischen Idee versteht und Kultur nur aus „gemeinsame[m] Werk aus gemeinsamem Geist und Leben“ möglich werden sieht, beschreibt und betont Lasker-Schüler in ihrer Hebräischen Poetologie und in ihren Texten Positionen der Differenz und Distanz, der Ambiguität und Hybridität auch eines jüdischen Volksbegriffs und im Verhältnis zum Hebräerland. Lasker-Schülers im Kontext des Kulturzionismus entwickelte Poetologie einer „Hebräischen Avantgarde“ wird in dieser Arbeit als ein überdeterminiert intertextuelles Schreiben interpretiert, das explizit an Schreibweisen der jüdischen Tradition, sowohl des Tanach (der hebräischen Bibel), rabbinischer Hermeneutik und der deutsch-jüdischen Literaturtradition, wie sie vor allem Heinrich Heine entwickelt hat, anknüpft. Diese Konzeption bewegt sich, anders als Bernd Witte es für die deutsch-jüdische Literatur der Moderne behauptet, nicht allein auf der Ebene des Kommentars, sondern zwischen rabbinischer Kommentartradition und einem schöpferischen Anspruch, der mit Bezug auf prophetische Dichtungsmodelle und eine kabbalistisch inspirierte ‚Zusammenarbeit‘ mit jhwh als Modus dichterischer Offenbarung entwickelt wird. Für Lasker-Schüler ist außerdem zu beachten, dass hier keine essentialistische Perspektive als ‚Prophetin‘ gemeint ist, sondern die avantgardistische Reflexion der eigenen Setzungen im Sinne eines Metadiskurses über Dichtung immer impliziert ist und durch Verfahren wie den Einsatz von Ironie oder der Überdeterminiertheit der intertextuellen Verweise markiert wird. Das poetologische Konzept einer „Hebräischen Avantgarde“ lässt sich zusammenfassen als ein Projekt im Umkreis der „Jüdischen Erneuerungsbewegung“, in dem Lasker-Schüler in der Auseinandersetzung mit Kulturzionismus, Avantgarde und jüdischer Tradition zunächst einen poetologischen Entwurf als jüdische Dichterin und ein hochgradig intertextuelles Schreibverfahren im Kontext der jüdischen Tradition entwickelt. Nach und nach entsteht ein poetologisches Projekt, das die mündliche Tora weiterführt. Es kann als ‚Erbe‘ eines utopischen rabbinischen Projekts106 und gleichzeitig als dessen Überschreitung verstanden laut Buber, letztlich auf die Verkündung eines neuen hebräischen Humanismus aus.“ Paul R. Mendes-Flohr: Einleitung. In: Martin Buber: Ein Land und zwei Völker. Zur jüdischarabischen Frage. Hrsg. u. eingel. v. Paul R. Mendes-Flohr. Frankfurt/Main 1983, S. 32. Vgl. auch Grete Schaeder: Martin Buber. Hebräischer Humanismus. Göttingen 1966. 106 Vgl. Jacob Neusner: Rabbinic Utopia. Lanham u.a. 2007. Neusner beschreibt das rabbinische Judentum als ein utopisches Projekt, das durch ein System von Gesetzen und deren Auslegung auf die Erreichung eines utopischen und im Prinzip messianischen Zustandes auf Erden hinarbeite, der sich als ideale soziale und metaphysische Ordnung für die ganze
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werden. Im Kontext von jüdisch messianischen Vorstellungen werden poetologische Modelle und Bezüge zur jüdischen literarischen Tradition u.a. des Tanach (der hebräischen Bibel), der rabbinischen Schriften und der jüdischen Dichtungstradition, verbunden und Fragen von Auserwählung zwischen Leid und Erhebung, Vernichtung und Erlösung in Texten am Übergang von Literatur und Leben realisiert.107 I.6 Theoretischer und methodischer Rahmen
Um Lasker-Schülers Auseinandersetzung mit dem Kulturzionismus zu beschreiben, liegt der Fokus der Arbeit auf der Poetologie und ist besonders an der Übernahme von Schreibverfahren aus der jüdischen Tradition interessiert. Biographische Aspekte und die häufig untersuchte Kategorie der Identität werden entsprechend nur im Kontext von Lasker-Schülers avantgardistischer Verbindung von Literatur und Leben und als Teil des Projekts der jüdischen ‚Erneuerung‘ als Aspekte der Definition einer selbstbewussten, schöpferischen jüdischen ‚Identität‘ als Dichterin berücksichtigt. Dabei ist zu beachten, dass Lasker-Schüler ein Verfahren entwickelt, mit dem der poetologische Gesamtentwurf und die entsprechenden Entwürfe in den einzelnen Texten verbunden werden.108 Diese Arbeit basiert auf einem hermeneutischen Modell, das verbunden mit Erkenntnissen der Intertextualitätstheorie und der poetologisch orientierten Avantgardeforschung geeignet ist, über motiv- und sozialgeschichtliche Fragen hinauszugehen.109 Die Verbindung von Zionismus und Literatur kann dadurch Menschheit realisiere. Jüdische Autor/innen der Moderne übernehmen im Kontext der Avantgarden und vor allem nach dem Ersten Weltkrieg die utopische und ethische Ausrichtung des Projekts und adaptieren rabbinische aggadische (erzählende) Auslegungen sowie rabbinische Schreib- und Diskursverfahren, führen also das „rabbinische Projekt“ in einer modernisierten Form im Medium der Literatur weiter (dazu ausführlich Kapitel IV). 107 Für eine ausführliche Herleitung dieser Konzeption anhand von Lasker-Schülers poetologischen Entwürfen in der Gedichtsammlung Hebräische Balladen (1912/13), der Erzählung Der Wunderrabbiner von Barcelona (1921) und dem Exilprosatext Das Hebräerland (1937) vgl. Kapitel IV. 108 Vgl. hierzu auch Almuth Hammer: Erwählung erinnern. 109 Sich dem Thema ‚Zionismus und Literatur‘ aus der Perspektive der poetologischen Verfahren zu widmen, hat aus einem kultursemiotischen und theopolitischen Hintergrund heraus bisher Philipp Theisohn (2005) unternommen und dabei eine umfassende These zu einer zionistischen „Poeisis“ vorgelegt. Theisohn erarbeitet ein semiotisches Verfahren der „Urbarkeit der Zeichen“, das er als dritten Weg der Moderne entwirft. Theisohn, der z.T. ‚zionistisch‘ argumentiert oder seine Sprecherposition stellenweise nicht von seinem Gegenstand abgrenzt, schwankt dabei begrifflich zwischen dem Bezug auf einen kulturellen Raum und einen „realen“, so dass das Konzept der „Urbarkeit der Zeichen“ letztendlich undeutlich bleibt.
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gerade als Frage nach Schreibverfahren im Kontext der jüdischen Tradition sowie nach dem Umgang mit dieser Tradition in der Moderne und unter den Maßgaben der Avantgarde beantwortet werden. Somit versteht sich diese literaturwissenschaftliche, auf poetologische Aspekte fokussierte Studie als Beitrag zur Verbindung der Jüdischen Studien und der literatur- und kulturwissenschaftlichen Avantgardeforschung.110 Lasker-Schülers implizite Poetologie wird aus den Texten selbst sowie aus den überdeterminierten intertextuellen Verweisen erarbeitet. Somit sind Erkenntnisse der Intertextualitätstheorie111 für die folgende Untersuchung zentral, wobei es nicht allein darum geht, intertextuelle Verweise aufzuzeigen. Vielmehr liegt eine metapoetische avantgardistische Verfahrensweise vor, die den poetologischen Gesamtentwurf an der Grenze von Leben und Literatur miteinbindet. Darüber hinaus nimmt sie auf das zitierende und kommentierende Verfahren der rabbinischen Tradition, wie es u.a. Bernd Witte untersucht hat,112 Bezug (vgl. Kapitel IV). Entsprechend wird der Begriff ‚Intertexte‘ statt ‚Prätexte‘ für die ‚Quellentexte‘ verwendet, um das aktualisierende Potenzial des rabbinischen Verfahrens zu betonen, dessen Sinn gerade darin besteht, die Bedeutung der zitierten Texte in einem neuen historischen Kontext zu entfalten.113 Die zitierten Texte dienen also nicht als Vorlage, sondern stehen in einem Spannungsverhältnis zwischen ‚Ursprungstext‘ und neuem Text.114 Lasker-Schüler arbeitet gerade in der Prosa überdeterminiert intertextuell, sowohl auf der Ebene der Motive als auch der Textstrukturen, und geht dabei über die generelle Mehrdeutigkeit literarischer Texte deutlich hinaus.
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Sein Verweis auf die enge Verbindung von Literatur und Politik als zentrales Merkmal des (kultur-)zionistischen Diskurses ist jedoch sehr fruchtbar. Philipp Theisohn: Die Urbarkeit der Zeichen. Vgl. zu grundlegenden Überlegungen zu dieser Kombination: Eva Lezzi, Dorothea M. Salzer (Hg.): Dialog der Disziplinen. Jüdische Studien und Literaturwissenschaft. Berlin 2009. Die Ausführungen orientieren sich lose am Intertextualitätskonzept des späten Michail M. Bachtin, da er eine sozialhistorische Sphäre einbezieht. Vgl. Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. und eingeleitet v. Rainer Grübel. Frankfurt/Main 1979 und ders.: Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Hrsg. v. Edward Kowalski u. Michael Wegner. Berlin 1986. Zur Verbindung von moderner deutsch-jüdischer Literatur und rabbinischer Kommentartradition vgl. Bernd Witte: Jüdische Tradition. In der jüdischen Tradition ist dies die ‚mündliche Tora‘, die nach der rabbinischen Konzeption schon in der Offenbarung der schriftlichen Tora angelegt gewesen ist. Dies gilt strukturell für alle Zitate, wird aber in der rabbinischen und z.T. der avantgardistischen Literatur explizit zum hermeneutischen bzw. poetologischen Verfahren erhoben. Vgl. zur Praxis des Zitierens außerhalb eines jüdischen Kontextes: Joachim Jacob, Mathias Mayer (Hg.): Im Namen des anderen. Die Ethik des Zitierens. Paderborn, München 2010.
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Ein ähnliches Vorgehen lässt sich für die bildkünstlerischen Arbeiten zeigen, so dass Aspekte der Material Studies für diese Studie relevant sind. LaskerSchüler hat den visuellen Aspekten ihrer Arbeit und der Buchgestaltung große Aufmerksamkeit geschenkt. So geben die Gestaltung der Buchumschläge – beispielsweise von Der siebente Tag, Der Wunderrabbiner von Barcelona und Das Hebräerland – sowie Lasker-Schülers Zeichnungen Aufschluss über die Auseinandersetzung mit dem Kulturzionismus.115 Einen wichtigen theoretischen und methodischen Hintergrund der literaturwissenschaftlichen Interpretationen und kulturwissenschaftlichen Analysen auf judaistischer Grundlage bilden Erkenntnisse der Frauen- und Geschlechterforschung. Dabei bestimmt die Integration einer genderbewussten Forschungsperspektive – auf der Basis feministischer Wissenschaftskritik, der literatur- und kulturwissenschaftlichen Erforschung von Weiblichkeits- und Männlichkeitsbildern sowie Gender als Kategorie narratologischer Verfahren – das methodische Vorgehen auf allen Analyseebenen. Erst dadurch wird es möglich, Lasker-Schülers selbstbewusste und widerständige Beteiligung am Diskurs einer „jüdischen Erneuerung“ herauszuarbeiten. Ebenso können geschlechtsbedingte forschungsinterne Stereotype und Ausschlüsse Lasker-Schülers aus literaturwissenschaftlichen und judaistischen Untersuchungen über jüdische Tradition und literarische Moderne überwunden werden.116 I.7 Forschungsstand: Else Lasker-Schüler und der Kulturzionismus
In der Lasker-Schüler-Forschung besteht zunächst eine gewisse Einigkeit darüber, dass Lasker-Schüler zu Beginn ihres Schaffens um 1900 mit dem Kulturzionismus in Berlin in Kontakt gekommen ist und dieser Kontakt für die Bestimmung ihres Verhältnis zum Judentum und der jüdischen Tradition maßgeblich gewesen ist, eine Position, die Alfred Bodenheimer im Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur kanonisiert hat:117 115 Die Analyse bezieht sich lose auf Genettes Ausführungen zum Paratext, wobei er graphische und bildkünstlerische Aspekte aus fachwissenschaftlichen Gründen nicht einbezieht, jedoch deren Kommentarwert und die Autorisierung durch die Autor/innen betont. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/Main, New York 1992 (zuerst 1987), hier bes. S. 387 f. 116 Zentrale literaturwissenschaftliche Arbeiten zur Erneuerung der jüdischen Tradition wie Bernd Wittes Studie Jüdische Tradition und Literarische Moderne (2007) führen keine Autorinnen an. 117 Alfred Bodenheimer: Else Lasker-Schüler. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Andreas B. Kilcher. Stuttgart, Weimar 2000, S. 375–379. Erweitert: Ders. und
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Vor allem aber wurde L.-S. hier ihres Judentums auch als einer Zugehörigkeit zu einem Volk gewahr, während es zum Credo des Assimilationsdiskurses gehörte, das Judentum strikt als Religionszugehörigkeit zu definieren. Die Irritation, aber auch der neue Grad an Identifikation, die dies bei L.-S. auslösten, läßt sich an dem 1905 in der Sammlung Der siebte Tag erschienen Gedicht „Mein Volk“ erkennen.118
Neben dem identitätsbildenden Aspekt betont Alfred Bodenheimer, dass „der Kontakt mit dem Zionismus in Berlin [...] entscheidenden Einfluß auf LaskerSchülers weiteres Leben und Schaffen gehabt [hat]“.119 In welcher Form sich dieser „Einfluss“ jedoch äußert, wurde bisher zumeist biographisch oder unter dem Analyseschwerpunkt der Kategorie Identität sowie für das Werk auf der Ebene der Motive untersucht.120 Für geschichtswissenschaftliche Studien mit kulturwissenschaftlichem Zuschnitt ist es eine Selbstverständlichkeit, Lasker-Schüler als eine Beispielautorin für die Bemühungen um die Erneuerung der jüdischen Tradition im Rahmen der „Jüdischen Renaissance“-Bewegung in Deutschland zu nennen, so Michael Brenner in seiner Studie The Renaissance of Jewish Culture in Weimar Germany (1996, dt. 2000) für Lasker-Schülers Werk zwischen 1913 und 1933121 und Inka
Andreas B. Kilcher: Else Lasker-Schüler. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Andreas B. Kilcher. 2., akt. und erw. Auflage. Stuttgart, Weimar 2012, S. 327–331. 118 Alfred Bodenheimer: Else Lasker-Schüler, S. 376. Diese Auffassung teilt Shedletzky auf der Ebene der Identität: „The encounter with Martin Buber and his circle surely influenced Else’s first poetic reflections on her Jewish origins and her relation to the Jewish people.“ Itta Shedletzky: Bacherach und Barcelona. On Else Lasker-Schüler’s Relation to Heinrich Heine. In: The Jewish Reception of Heinrich Heine. Hrsg. v. Mark H. Gelber. Tübingen 1992, S. 113– 126, hier S. 118 f. Vgl. auch Judy Atterholt: Gender, Ethnicity and the Crisis of Representation in Else Lasker-Schüler’s Early Poetry and Prose. Standford 1993, S. 12. Ähnlich HenneckeWeischer, die betont, dass sie von dieser Form der Selbstauseinandersetzung beeinflusst blieb. Andrea Henneke-Weischer: Poetisches Judentum. Die Bibel im Werk Else Lasker-Schülers. Mainz 2003, S. 95. 119 Ebd. 120 Vgl. hier Philipp Theisohns Kritik an der literaturwissenschaftlichen Forschung zu Zionismus und Literatur, die sich auf eine Motiv- und Sozialgeschichte beschränke. Philipp Theisohn: Urbarkeit der Zeichen, S. 19. 121 Dt.: Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, S. 152–154. Brenner ordnet Lasker-Schülers Wirken dabei den Bemühungen um ein authentisches Judentum nach dem Modell des „Juden als Orientalen“ zu. Dabei behauptet Brenner fälschlicherweise, Lasker-Schüler habe sich maßgeblich mit der Jakob-Figur identifiziert (153), vielmehr handelt es sich um die Joseph-Figur.
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Bertz (1991, 1995) für das Frühwerk.122 Dabei werden jedoch der fiktionale Gehalt ihres Werks und poetologischen Entwurfs nur unzureichend berücksichtigt. In der literaturwissenschaftlichen, biographisch orientierten Forschung hat sich hingegen Jakob Hessings (1985) These gehalten, die besagt, dass LaskerSchüler aus persönlichen Gründen darin versagt habe, sich an Martin Buber und die „Jüdische Renaissance“-Bewegung anzuschließen: „Daß Else Lasker-Schüler auch zu dieser mit Bubers Namen verbundenen jüdischen Renaissance in Deutschland keine Beziehung fand, ist der vielleicht unglücklichste Aspekt ihrer Lebenstragik“.123 Mit einer gendersensiblen Perspektive lässt sich zeigen, dass hier eher von einem Ausschluss gesprochen werden kann, der auf (jüdisch-) bürgerliche und kulturzionistische Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder zurückzuführen ist (vgl. Kapitel III.1).124 Biographisch differenzierter argumentiert Alfred Bodenheimer (2000),125 der Lasker-Schülers Begegnung mit dem Zionismus als zunächst enttäuschend (376) beschreibt und davon ausgeht, dass „eine Annäherung an zionistisches Gedankengut erst in den 30er Jahren evident [sei]“ (ebd.). Während Andreas B. Kilcher (2003) Lasker-Schüler zu den jüdischen Autor/innen zählt, die, oft als erklärte Pazifisten, zwischen oder auch jenseits der Opposition von Akkulturation und Zionismus [standen], wenn sie beide Positionen gleichermaßen kritisierten und
122 Inka Bertz (1991 und 1995) nennt die kulturzionistische Rezeption, Lasker-Schülers Publikation in der kulturzionistischen Zeitschrift Ost und West 1901, das Gedicht „Mein Volk“ (1905) und den Bezug auf Konzepte eines orientalisierten Judentums, allerdings ohne auf Lasker-Schülers durchaus kritische Positionierung zu diesem Diskurs einzugehen. 123 Jakob Hessing: Else Lasker-Schüler, S. 78. Diese Position schreibt Judy Atterholt weiter, wenn sie Lasker-Schüler im Frühwerk zum einen „[a] growing attention to issues surrounding nascent Zionism“ bescheinigt, die jedoch andererseits ihre Unfähigkeit offenbaren würden, „to resolve many of the tensions and inconsistencies that characterize her uneasy relationship to Judaism in general and to Zionism in particular“ (60). Literaturwissenschaftlich fragwürdig ist dabei Atterholts Ansatz, überhaupt nach ideologischen Inkonsistenzen im Werk Lasker-Schülers zu suchen. Vgl. Judy Atterholt: Gender, Ethnicity and the Crisis of Representation, S. 1, 60. 124 Diese weisen Frauen die Rolle von Erzieherinnen und Hüterinnen, aber nicht von Schöpferinnen von Kultur zu. Lasker-Schüler überschreitet durch ihren antibürgerlichen Lebensstil und Textgestus sowie ihre zunächst selbstbewusst weiblich erotische und später androgyne Selbstinszenierung diese Modelle. Damit eignen sich ihre Texte nicht für die mit pädagogischen und politischen Zielen verbundenen und auf ein bürgerliches Publikum ausgerichteten Publikationsstrategien des „Jüdischen Verlags“. Somit ist die von Gelber (1999, 2000) beschriebene progressive Haltung in Bezug auf die Beiträge von Frauen zum kulturzionistischen Erneuerungsprojekt zu differenzieren. 125 Alfred Bodenheimer: Else Lasker-Schüler.
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dagegen eine aufgeklärt-kosmopolitische oder auch sozialistisch-internationale Europaidee favorisierten, in der das Judentum in unterschiedlicher Weise integriert war.126
Auf der Werkebene sind vor allem die thematische Erwähnung von Kultur zionisten oder die dem kulturzionistischen Spektrum zuzuordnende Frage nach der Rückkehr in eine jüdische Heimat bemerkt worden, wie sie sich mehr oder weniger verschlüsselt in den Prosatexten Das Peter Hille-Buch (1906), Der Wunderrabbiner von Barcelona (1921) und Das Hebräerland (1937) finden. Hier ergibt sich indirekt bereits die These einer Relevanz für das Gesamtwerk, die bisher nicht verfolgt wurde. Des Weiteren ist die Aufnahme von kulturzionistischen Motiven im Frühwerk erkannt worden, so zur frühen Lyrik (Gelber 1999, 2000, Battegay 2014) und aus der Perspektive der Postcolonial Studies zur frühen orientalisierten Prosa (Uerlings 2003, Plapp 2008). In ihrer Einschätzung von Lasker-Schülers Bezug zum Kulturzionismus kommen die Autoren zu unterschiedlichen Ergebnissen, die sich zwischen den Polen der hellsichtigen Vorwegnahme bestimmter für den Kulturzionismus wichtiger Aspekte, Motive oder Modelle durch Lasker-Schüler, der bloßen ‚getreuen‘ Ausführung derselben oder deren progressiver Überschreitung bewegen. Ersteres betont Alfred Bodenheimer (2000), der die These aufstellt, dass Lasker-Schüler mit ihrem orientalisierten Konzept eines authentischen, ursprünglichen Judentums „faktisch Bubers populären Gedanken vom Juden als Orientalen vorweggenommen [habe], der den rassistischen Herabsetzungen der Zeit mit einer selbstbewußten Andersartigkeit zu begegnen erlaubte“ (376). Zumeist wird jedoch von einer bloßen Ausführung oder poetischen Umsetzung kulturzionistischer Modelle ausgegangen. So Gelber (1999 und 2000), der Lasker-Schülers Arbeit als weiblichen Beitrag unter die Kategorie „Eroticism“ (2000) subsumiert oder unter der Überschrift „Jewish, Erotic, Female“ als Beispiel für die Verkörperung zionistischer Weiblichkeitsideale (1999) anführt.127 Auch Laurel Plapp (2008) kommt in seiner Studie Zionism and Revolution in European-Jewish Literature aus der Perspektive der Postcolonial Studies zu dem Schluss, dass LaskerSchüler mit ihrer Ich-Figuration als Prinzessin Tino von Bagdad das kulturzionistische Modell eines orientalisierten Judentums symbolisch ausführe und ihre jüdische Identität nach Bubers Neudefinition des „Ostjuden“ als „spiritualized, orientalized“ (100) modelliere.128 126 Andreas B. Kilcher: Einleitung. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur (2000), S. V–XX, hier S. XVII f. 127 Mark H. Gelber betrachtet Lasker-Schüler nicht als Autorin der Avantgarde, u.a. da diese Forschungsposition von Markus Hallensleben erst 2000 etabliert wurde, und geht nicht auf die progressive Überschreitung vereindeutigender Identitätskategorien ein (vgl. Kapitel III). 128 Laurel Plapp: Zionism and Revolution in European-Jewish Literature. New York 2008, S. 93–101, hier S. 100. Ähnlich argumentiert Judy Atterholt (1993), die davon ausgeht, dass Lasker-
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Auf der Basis der neueren Lasker-Schüler-Forschung arbeitet Herbert Uerlings (2003) anhand der frühen orientalisierten Erzählungen „Ached Bey“ (1907) und „Der Amokläufer“ (1910) aus der Perspektive der Gender Studies und Postcolonial Studies eine kritische Distanz Lasker-Schülers zum von ihm in Anführungszeichen gesetzten „kulturellen Zionismus“ (Martin Buber) (22) heraus.129 In seiner gendersensiblen und intersektionalitätstheoretischen Analyse kommt Uerlings zu dem Schluss, dass sich Lasker-Schüler gegen „die Binaritäten und Essentialisierungen dieses Zionismus“ (26) wende. Während Buber an einer essentialistischen Unterscheidung zwischen Orient und Okzident festhalte (vgl. 24), würden sich Lasker-Schülers Geschichten einer solchen Vereinnahmung widersetzen: „Die Erneuerung des Judentums wird bei Lasker-Schüler anhängig gemacht von der Revision eines Denkens, das auf der Ausgrenzung anderer – kulturell oder sexuell anderer – beruht.“ (22) Stattdessen wähle Lasker-Schüler eine andere Tradition als die patriarchale: „die der Verwerfung im Namen des Ausgeschlossenen, des Zulassens von Differenz und Alterität, des Hybriden und des Respekts vor dem Unversöhnlichen.“ (26) Dem ist zuzustimmen, dennoch ist der Kulturzionismus poetisch mehrdeutiger angelegt, als Uerlings auf Grund der programmatischen Texte annimmt. Lasker-Schüler nutzt die kulturzionistischen Motive gerade, um dichotome Identitätskonstruktionen und deren Ausschlüsse im kulturzionistischen Diskurs über Literatur und die Erneuerung der jüdischen Tradition zu überschreiten. Wie Lasker-Schüler in ihren Texten durch intertextuelle Bezüge markiert, kann der Kulturzionismus als ein wichtiges Referenzsystem für ihre poetologischen Entwürfe gelten (vgl. Kapitel III). Die Auseinandersetzung erschöpft sich nicht in differenten Positionen zur Konstruktion jüdischer Identität, vielmehr nähert sie sich gerade in der Übernahme rabbinischer Schreibverfahren erneut an. Auch Valentina Di Rosa (2006), die in ihrer Studie untersucht, wie sich Diaspora und Identitätssuche im Werk zeigen, und die das Umfeld der „Neuen Gemeinschaft“ um 1900 nachzeichnet, stellt eine Verbindung zu kulturzionistiSchüler Bubers Kategorien einer sogenannten motorischen orientalischen Identität und einer sensorischen westeuropäischen Identität übernimmt. Gleichzeitig richte sich Lasker-Schülers Schreiben gegen nationale/nationalistische Vereinnahmungen auch des Kulturzionismus, so dass ihr Orient vor allem eine Welt der Künstler sei. Judy Atterholt: Gender, Ethnicity and the Crisis of Representation, S. 105. Problematisch ist an Plapps Darstellung, dass Buber selbst sein Modell des orientalischen Juden um 1902 nur indirekt thematisiert und erst in seinen Reden über das Judentum 1909–1911 und in der vierten Rede „Der Geist des Orients und das Judentum“ (1916) explizit dargelegt hat. Obwohl der Orientalismusdiskurs schon um 1900 für kulturzionistische Entwürfe schöpferischer jüdischer Identität und authentischen Judentums eine Rolle spielt, kann Lasker-Schüler gerade als wichtige Mitentwicklerin dieses Konzepts im Medium avantgardistischer Literatur angesehen werden, die die Bedingungen dieser Konstruktion gleichzeitig im Text reflektiert. 129 Herbert Uerlings: Ethnizität und Geschlecht. Im Folgenden mit Seitenangabe im Text zitiert.
Forschungsstand
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schen Kategorien fest, u.a. die Aufwertung des „Alten Testaments“, den Bezug auf den jüdisch-orientalischen Mythos oder die Entgegensetzung von Morgenund Abendland. Di Rosa bringt dabei Kulturzionismus mit Avantgarde in Verbindung, ohne dies genauer zu erläutern, ihre Analyse mündet jedoch in eine gegenteilige Beurteilung: Wie schon die Wahl des Titelzitats ihrer Studie „Begraben sind die Bibeljahre längst“ zeigt, versteht Di Rosa den Kulturzionismus als rein „regressive Utopie“ (17), „Regression“ (17), „sentimentale Rückwendung“ (17) oder „sentimentale Re-Lektüre [des] Judentum[s]“ (191) und missversteht somit das kulturzionistische Projekt und dessen avantgardistischen Anspruch im Sinne eines antizipatorischen Potenzials.130 Zuletzt, und der bisherigen Forschung Rechnung tragend, hat Andreas B. Kilcher in der zweiten Auflage des Lexikons der deutsch-jüdischen Literatur (2012) Lasker-Schülers Schreiben expliziter in den „weitere[n] Kontext der kulturzionistischen ‚Renaissance‘“ eingeordnet. Er geht davon aus, dass Lasker-Schüler mit den „Exponenten des Kulturzionismus […] die Vorstellungen der Neubildung einer jüdischen Literatur, Kunst und Sprache teilte“.131 Der dargestellte Forschungsstand offenbart ein doppeltes Desiderat. Zum einen ist es dringend erforderlich, Lasker-Schülers Position als Autorin der Avantgarde in eine Untersuchung ihrer Auseinandersetzung mit dem Kulturzionismus systematisch einzubeziehen und diese Auseinandersetzung über das Gesamtwerk zu verfolgen. Zum anderen ist es notwendig, den Fokus von der seit den 1990er Jahren häufig untersuchten Kategorie der Identität abzuwenden, und stattdessen poetologische Verfahren in den Mittelpunkt der Untersuchung zu stellen. Wie die neuere Forschung erkannt hat, sind Lasker-Schülers Texte nur im Kontext des poetologischen Gesamtentwurfs angemessen zu verstehen. Auf Grund der überdeterminierten Intertextualität muss bei der Analyse eine Metaebene im Sinne einer poetologischen Reflexion über Dichtung mitberücksichtigt werden.
130 Daran ist nicht nur zu erkennen, dass Di Rosa der Aktualisierungsaspekt des jüdischen Erinnerungskonzepts und der jüdischen bzw. rabbinischen Literaturtradition unbekannt ist, darüber hinaus bindet sie antisemitische Stereotype und Diskursmuster in ihre Analyse ein, wenn sie z.B. den Rückbezug auf den Tanach als Bezug auf „unzeitgemäße[ ] bzw. ‚vorsintflutliche[ ]‘ Werte“ (18) bezeichnet oder die These aufstellt, dass Lasker-Schülers poetologisches Projekt im Exil scheitere, ohne die historischen Bedingungen der Vertreibung durch den Nationalsozialismus und der Exilsituation zu beachten. Stattdessen fragt Di Rosa suggestiv: „Kommt in diesem akzentuierten Unbehagen an der eigenen Identität […] nicht das Echo des unglücklichen Bewusstseins der jahrtausendealten conditio judaica (sic) zum Ausdruck?“ Valentina Di Rosa: Diaspora und Identitätssuche, S. 20. Hier wird hingegen die These einer Radikalisierung der avantgardistischen Poetologie im Exil verfolgt. 131 Alfred Bodenheimer u. Andreas B. Kilcher: Else Lasker-Schüler, S. 327–331, hier S. 328.
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Else Lasker-Schüler und der Kulturzionismus
I.8 Aufbau der Arbeit und Textkorpus
Die Auseinandersetzung mit dem Kulturzionismus erweist sich als eine für das Gesamtwerk und den poetologischen Gesamtentwurf relevante Grundkon stante von Lasker-Schülers Schreiben, wobei verschiedene Grade des Fruchtbarmachens und der spielerischen und subversiven Abweichung sowie Erweiterung zu beobachten sind. Kapitel II stellt den deutschsprachigen Kulturzionismus als eigenständige Richtung innerhalb der zionistischen Bewegung vor, der an der Entwicklung der Avantgarden teilhat. Anhand von Schlüsseltexten des kulturzionistischen Diskurses und zentraler Ereignisse, wie der Proklamation der „Demokratischen Fraktion“ als Oppositionsbewegung auf dem V. Zionistischen Kongress 1901, werden Merkmale erarbeitet, die mit der Metaphorik und Selbstinszenierung der Avantgarden korrespondieren. So wird ein Projekt der Erneuerung der jüdische Tradition rekonstruiert, das einerseits die jüdische Identitätsentwicklung des/der Einzelnen und andererseits den Umgang mit der als verfallen bewerteten jüdischen Tradition, die als ‚Material‘ zur Verfügung steht, zum Ziel hat. Spätestens ab den 1920er Jahren lässt sich eine Übernahme der rabbinischen Tradition durch die kulturzionistischen Autor/innen beobachten und damit verbunden die verstärkte Auseinandersetzung mit ethischen und utopischen bzw. messianischen Aspekten. Ebenso werden die Begrenzungen des kulturzionistischen Projekts vorgestellt, das als nationaljüdisches an völkische und rassische Diskurse und bürgerliche Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen anknüpft. Kapitel III und IV rekonstruieren in exemplarischen Werkanalysen LaskerSchülers spannungsreiche Auseinandersetzung mit dem avantgardistisch konnotierten Kulturzionismus. In Kapitel III wird gezeigt, dass Lasker-Schüler in ihrem Frühwerk die Grundlagen ihrer avantgardistischen Poetologie in expliziter Bezugnahme auf und Abgrenzung von kulturzionistischen poetologischen Angeboten und theoretischen Konzepten entwickelt. Hierzu werden an exemplarischen Beispielen aus dem Gedichtband Der siebente Tag (1905) (vgl. Kapitel III.1) und an der als Metatext über Dichtung angelegten Prosaarbeit Das Peter Hille-Buch (1906) (vgl. Kapitel III.4) Schreibverfahren und poetologische Entwürfe auf der Basis intertextueller und motivischer (literarischer und bildkünstlerischer) Bezüge untersucht. Deutlich wird, dass der kulturzionistische Diskurs für Lasker-Schüler vor allem poetologisch interessant ist, und sie dessen avantgardistische Potenziale aufnimmt und erweitert. Lasker-Schüler nutzt den kulturzionistischen Diskurs, um ein Profil als dezidiert jüdische Dichterin zu entwickeln, das sich bewusst an der Grenze von Literatur und Leben bewegt. Die dabei unternommene Kombination von Traditionsbeständen und die Betonung kulturell weiblicher Aspekte der Tradition („‚Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt‘“, vgl. Kapitel III.3)
Aufbau der Arbeit und Textkorpus
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realisieren umgekehrt schon das geforderte „Neuschreiben aus uraltem Material“. Der orientalisierte Dichter/in-Entwurf reicht von einem genealogisch weiblich verorteten und selbstbewusst erotischen Modell bis zu androgynen Hybridisierungen und knüpft an prophetische Modelle der jüdischen Tradition an („Mein Volk“, vgl. Kapitel III.2). Kapitel IV: Ab 1910/12 lässt sich für Lasker-Schüler im Kontext des Kulturzionismus ein poetologisches Projekt in der Nachfolge und Überschreitung der rabbinischen Tradition nachzeichnen, das die mündliche Tora im Medium der Literatur weiterführt und ethische und antizipatorische messianische Aspekte aufnimmt. So können die Hebräischen Balladen (1912/13) als Weiterführung der rabbinischen Textgattung Midrasch im Medium avantgardistischer Literatur beschrieben werden („Esther“). Außerdem arbeitet Lasker-Schüler an dem von Martin Buber in der Einleitung zu Die Legende des Baal=schem (1908) formulierten Projekt der Erfindung eines schöpferischen jüdischen Mythos mit („Jakob“, vgl. Kapitel IV.1). In ihrer Erzählung Der Wunderrabbiner von Barcelona (1921) überträgt LaskerSchüler verschiedene Parameter rabbinischer Hermeneutik auf avantgardistische Literatur. Sie nutzt das rabbinische Kommentarverfahren und rabbinische Erinnerungstechniken, um sich mit Bezug auf Heinrich Heines und Chaim Nachman Bialiks Texte zur europäischen Judenverfolgung mit zeitgenössischen Pogromen in Osteuropa und Jerusalem auseinanderzusetzen. Dabei bezieht sie sich auf den, zumindest für die Editionsebene gültigen,132 Pluralismus des rabbinischen Diskurses, untersucht die Grenzen dieses hermeneutischen Modells und erprobt Bubers Konzept der Verwirklichung,133 um in Literatur antizipatorisch erlösendes Potenzial zu entfalten. Lasker-Schüler entwickelt eine Poetologie, die auf ein mehrdimensional konzipiertes, nicht auf eine territoriale Dimension engzuführendes Jerusalem ausgerichtet ist (vgl. Kapitel IV.2). Im Exil nutzt Lasker-Schüler rabbinische Schreibverfahren, um ihr Schreiben und den kulturzionistischen Aufbau in Palästina als das avantgardistische und heiligende Projekt Hebräerland (1937) zu schildern. Dabei betont sie die ethische Notwendigkeit der Akzeptanz einer uneinholbaren Differenz und poetologisch das Schreiben aus einer distanzierten Position. Das rabbinische Kommentarverfahren und die rabbinischen Erinnerungstechniken werden ergänzt durch den avantgardistisch als erhaben und gleichzeitig als humorvoll gebrochen dargestellten Modus dichterischer Offenbarung (vgl. Kapitel IV.3).
132 Vgl. hierzu die kritische Darlegung in: Daniel Boyarin: Den Logos zersplittern. Zur Genealogie der Nichtbestimmbarkeit des Textsinns im Midrasch. Berlin 2002, bes. S. 18–22. 133 Vgl. Martin Buber: Der heilige Weg. 1919.
II. Der deutschsprachige Kulturzionismus als avantgardistisches Projekt
„I am a litterary man“1 Theodor Herzl (1896) „[…] wir sogenannten Culturmenschen“2 E. M. Lilien (1901)
II.1 Der deutschsprachige Kulturzionismus als „Avantgarde des Zionismus“3
Als Theodor Herzl (1860–1904) mit dem I. Zionistischen Kongress, der vom 29.–31. August 1897 in Basel stattfand, die moderne zionistische Bewegung institutionalisiert, hält Nathan Birnbaum (1864–1937)4 auf eben diesem Kongress ein Referat mit dem Titel Der Zionismus als Kulturbewegung,5 und etabliert parallel die ‚Kulturfrage‘ im zionistischen Diskurs.6 Birnbaum, der 1893 mit seiner Schrift Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande als Mittel zur Lösung der Judenfrage konzeptuell Herzls Der 1 2
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Theodor Herzl: Briefe und Tagebücher. Hrsg. v. Alex Bein u.a. Bd. 2: Zionistisches Tagebuch. 1895–1899. Bearbeitet v. Johannes Wachten und Chaya Harel. Berlin, Frankfurt/Main, Wien 1983, S. 354. Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des V. Zionisten-Kongresses und der I. Tagung des Council der Jewish Agency für Palästina. Wien: Verlag des Vereines „Erez Israel“ 1901, S. 401. Zitatnachweise aus den Protokollen (wechselnde Verlagsorte, 1897–1937) stehen im Folgenden mit römischer Ziffer für die Kongressnummer, Kurztitel Kongress, Jahr und Seitenzahl in Klammern im Text. Die Protokolle sind digital verfügbar unter http://www.compactmemory.de. Berthold Feiwel: Stroemungen im Zionismus. In: Ost und West, Jg. 2 (1902), H. 10, Sp. 687– 694, hier Sp. 694. Wie Inka Bertz zeigt, ist es ebenfalls Birnbaum, der osteuropäische kulturzionistische Ideen schon vor 1900 nach Berlin u.a. an Heinrich Loewe transferiert. Inka Bertz: Politischer Zionismus und Jüdische Renaissance in Berlin vor 1914. In: Jüdische Geschichte in Berlin. Essays und Studien. Hrsg. v. Reinhard Rürup. Berlin 1995, S. 149–180, hier S. 151 f. Die Lektüre von Birnbaums Schriften gilt als Auslöser für Martins Bubers Hinwendung zum Zionismus. Zu Birnbaums wechselvollen Positionierungen vgl. Jess Olson: Nathan Birnbaum and Jewish Modernity. Architect of Zionism, Yiddishism, and Orthodoxy. Stanford 2013. Nathan Birnbaum: Der Zionismus als Kulturbewegung. In: Ders.: Die Jüdische Moderne. Frühe zionistische Schriften. Mit einem Vorwort v. Hendryk M. Broder. Augsburg 1989, S. 83–102. Vgl. die Einschätzung von Caspar Battegay: Das andere Blut. Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben 1830–1930. Köln, Weimar, Wien 2011, S. 162, Anm. 109.
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Judenstaat (1896)7 vorweggenommen hatte, ohne je eine vergleichbare Wirkung zu erlangen, führt hier vor allem nationalkulturelle Argumente für die Notwendigkeit der zionistischen Bewegung an: Das eigene Land her, und aus den Juden des Ostens wird ein fortschrittliches Kulturelement, aus den Juden des Westens werden national-charakteristische Europäer, aus beiden ein einheitliches Volk mit abendländischer Zivilisation und innerlich fortschreitender nationaler Kultur.8
Dabei geht der „Kulturauftrag“ über den innerjüdischen Bereich hinaus: Ein jüdisches Staatsvolk, das sich in Palästina etabliert, wird nämlich nicht blos im Inneren der Mittler zwischen den sozial-ethischen und den politisch-ästhetischen Elementen des Europäismus, sondern auch nach außen der langgesuchte Mittler zwischen Morgen- und Abendland sein. Denn wenn irgend ein Volk dazu befähigt ist, so das jüdische, mit seiner anererbten orientalischen Eigenart und seiner europäischen Erziehung […].9
Ab diesem Moment entwickelt die eigentlich pragmatische Frage, welche Rolle nationalkulturelle und kulturpolitische Aspekte innerhalb der zionistischen Bewegung spielen sollen, ungeahnten Sprengstoff in den Kongressdebatten, wird sie doch verbunden mit der grundsätzlichen Frage, ob „der Zionismus […] nicht an und für sich eine Culturbewegung“10 sei. Im Folgenden wird gezeigt, wie die Debatten um die Kulturfrage innerhalb der zionistischen Bewegung zur Konfrontation zwischen einem prototypisch verstandenen ‚politischen‘ und einem ‚kulturellen‘ Zionismus führen. Die jüngere Generation um die innerzionistische Oppositionsbewegung der „Demokratischen Fraktion“ entwickelt dabei ein eigenes Profil eines deutschsprachigen11 Kultur7
Theodor Herzl: Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen. Altneuland/Der Judenstaat. Hrsg. v. Julius H. Schoeps. Bodenheim 1985. 8 Nathan Birnbaum: Der Zionismus als Kulturbewegung, S. 91. 9 Ebd., S. 97. 10 Vgl. den Beitrag des Delegierten Awinowitzki auf dem V. Zionistischen Kongress (V. Kongress 1901, 423). 11 Die Bezeichnung „deutschsprachig“ bezieht sich auf die Tendenz der Kulturzionist/innen, zur angestrebten Erneuerung des Judentums maßgeblich in deutscher Sprache beizutragen. Dabei geht es nicht um eine nationalstaatliche Einengung, sondern der Begriff bezieht sich auf die Zentren Wien, Berlin und Prag. Die Bezeichnung „westeuropäisch“ würde die Trennung zwischen einem Ost- und einem Westjudentum reproduzieren, die die Kultur zionist/innen überwinden wollten, vgl. den programmatische Titel der Zeitschrift Ost und West.
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Der deutschsprachige Kulturzionismus
zionismus. Dieser ist als ein auf ‚Verwirklichung‘ zielendes Projekt, in dem jüdische Literatur und Kunst das ‚jüdische Leben‘ verändern sollen, eng mit der Entwicklung der historischen Avantgarden verbunden. II.1.1 Die Kulturfrage im zionistischen Diskurs
Die eigentlichen Gegner der ‚Kulturfrage‘ sind die religiös-orthodoxen Zionisten, die schon ein Jahr später auf dem II. Kongress 1898 fordern, dass der Zionismus auf der Modernisierung der Gebote der Tora basieren solle, und die eine säkulare moderne jüdische Kultur ablehnen. Exemplarisch für die Vehemenz dieser Position kann die Aussage von Rabbiner Isaak Jakob Reines auf dem V. Kongress gelten: „Die Culturfrage ist ein Unglück für uns. Die Cultur wird alles zerschlagen. […] Die Culturfragen dürfen im Baseler Programm nicht enthalten sein.“ (IV. Kongress 1900, 395). Er vertritt den Standpunkt, die „Culturfrage“ sei nicht zionistisch, und wer sie vertrete, sei gegen den Zionismus (ebd.).12 Besorgt um den Zusammenhalt der noch jungen Bewegung, versuchen die Kongressleitung und besonders Theodor Herzl als Vorsitzender der Kongresse von 1897 bis 1903 eine Diskussion der ‚Kulturfrage‘ weitgehend zu unterbinden.13 Die Debatten finden entsprechend meist erst in den Abendsitzungen und gegen Ende der Kongresse einen Platz, wie Dr. Marcus Ehrenpreis schon auf dem I. Kongress kritisch anmerkt: „Ich bedauere unendlich, dass dieser Gegenstand, den wir alle so ernst nehmen, gleichsam erst in zwölfter Stunde verhandelt werden soll.“ (I. Kongress 1897, 183)14 Herzl selbst versteht die „Culturfrage“ als ‚Bekenntnis‘-Frage im Sinne eines religiösen bzw. säkularen Bekenntnisses und befürchtet eine Spaltung der noch jungen zionistischen Bewegung und den Verlust wichtiger Unterstützer. Daher
12 Rabbiner Reines stellt auf dem IV. Kongress einen Antrag zur Abschaffung des Culturausschusses, der jedoch abgelehnt wird. 13 Eine ähnliche Einschätzung über die Arbeit der 1901 gegründeten Kulturkommission bei Jacques Kornberg: Ahad Ha-Am and Herzl. In: At the Crossroads. Essays on Ahad Ha-Am. Hrsg. v. dems. New York 1983, S. 106–132, hier S. 109 f. 14 Marcus Ehrenpreis kann sein Referat „Hebräische Sprache und Literatur“ nur verkürzt halten. Gleiches ereignet sich auf dem II. Kongress. Dort wird die Diskussion des Themas mehrfach abgebrochen (II. Kongress 1898, 36 u. 216). Der eingesetzte „Culturausschuss“ erhält keine ausreichenden finanziellen Mittel, um sinnvoll arbeiten zu können (III. Kongress 1899, 200). Auf dem V. Kongress werden nach langer Debatte mehrere Referate zu Kulturfragen gehalten (u.a. Max Nordau und Martin Buber), aber eine Diskussion der Inhalte abgelehnt, um sich den Organisationsstatuten zuzuwenden (V. Kongress 1901, 201).
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plädiert er schließlich auf dem III. Kongress dafür, die „Culturfrage“ von den Kongressen ausschließen: Mein Standpunkt und, ich glaube, auch der Standpunkt aller Actions-Comitémitglieder in dieser Frage ist also der, dass wir den ganzen Complex dieser Fragen für jetzt und für eine absehbare Zeit vom Congresse ausscheiden (Stürmischer Beifall und Händeklatschen). (III. Kongress 1899, 79)
Diese Haltung führt zu wiederholten polemischen Diskussionen, wenn Herzl z.B. auf dem III. Kongress behauptet, nicht zu wissen, was mit „Culturfrage“ gemeint sei.15 Die Befürworter halten die Entwicklung einer gleichwertigen modernden jüdischen Nationalkultur für einen unverzichtbaren Bestandteil des Zionismus und sehen Kultur als wichtiges Mittel zur propagandistischen und pädagogischen Verbreitung der nationaljüdischen Idee an. Entsprechend betonen sie die elementare Bedeutung der Kultur für die zionistische Bewegung, so z.B. Dr. Kahn: „Der Zionismus wird entweder culturfreundlich sein oder er wird nicht sein!“ (ebd., 199) oder Chaim Weizmann: „Die Culturfrage soll und wird zum Lebensnerv werden. Es wird die Zeit kommen, wo es unbedingt der Inhalt des Congresses sein wird, sowie die Cultur stets der Inhalt des Lebens gewesen ist.“ (IV. Kongress 1900, 223) Nachum Sokolow urteilt: „Die Opposition gegen die Cultur überzeugt mich jedes Jahr, wie nöthig die Cultur ist“ (V. Kongress 1901, 420). Die Heftigkeit der Debatte illustriert eine der frühesten Erwähnungen des Begriffs „Culturzionisten“ auf dem III. Zionistischen Kongress 1899. Dort stellt der Delegierte Josef Rosenfeld-Berdyczew einen Antrag für die Unterstützung dieser „zionistischen Partei“: Der hohe Kongress möge dafür Sorge tragen, der jüdisch-nationalen Jugend jüdischgeistige Nahrung zuzuführen, unsere jüdisch-nationale Entwicklung zu autorisieren, zu sanctionieren. Diese „Sanction“ ist sehr notwendig, da von Seiten der „praktischen“ oder „politischen“ Zionisten den Culturanhängern so viele Hindernisse in den Weg gelegt wurden oder auch gelegt werden und uns der Name „Zionist“ abgestritten wird. Diesen theuren Namen, welchen wir mit mit (sic) unserem Blute erkaufen! Da sich eine „Chewra-Kadischa“16 unter Anführung moderner Torquemadas bildet, um die Culturzionis15 Herzl fragt: „Was ist diese Culturfrage, die in den Couloirs und Commissionszimmern, wie ich höre, so heftig besprochen wird?“ (III. Kongress 1899, 79) In der anschließenden Diskussion empört sich der Delegierte Echiel Wolfowitsch Tschlenow gegen diese Aussage, da man auf dem II. Kongress definiert habe, was unter Kultur zu verstehen sei: „Sprache, Geschichte, Literatur, Volksgefühl, Volksbewusstsein“ (III. Kongress 1899, 100). 16 „Chewra-Kadischa“ (hebr.: „heilige Gesellschaft“ bzw. „Bruderschaft“) ist die Bezeichnung für die seit der frühen Neuzeit etablierten jüdischen Beerdigungsgesellschaften, die für die
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Der deutschsprachige Kulturzionismus
ten zu begraben, so ist es heilige Pflicht des Congresses, auch diese zionistische Partei in Schutz zu nehmen, damit dadurch jeder Streit vermieden wird. (Zustimmung und Zischen.) (III. Kongress 1899, 213; Hervorh. B.M.K.)
Der Begriff „Kulturzionisten“ ist zunächst keine Selbstbezeichnung seiner Protagonist/innen, sondern entsteht als Sammelbegriff für diejenigen nationaljüdischen Strömungen, aber auch Einzelpersonen, die zwischen 1897 und 1901 versucht haben, die sogenannte ‚Kulturfrage‘ in die moderne zionistische Bewegung einzubringen. So markiert der „kulturzionistische“ Maler und Illustrator E. M. Lilien seine Distanz zu diesem Begriff, wenn er auf dem V. Zionistischen Kongress die Formulierung „wir sogenannten Culturmenschen“ (V. Kongress 1901, 401) wählt. Kanonisiert wurde der Begriff Kulturzionismus 1929 im Jüdischen Lexikon.17 Die polemisch geführte Debatte führt zur Konfrontation zweier als prototypisch verstandener Richtungen innerhalb der zionistischen Bewegung und des zionistischen Diskurses: eines politischen Zionismus vertreten durch Theodor Herzl und eines Kulturzionismus, der prominent mit dem osteuropäischen „Kulturzionisten“ Achad Haam18 verbunden ist, der sich in deutlicher publizistischer Opposition zu Herzl positioniert, sein Konzept jedoch als „geistigen Zionismus“ (hebr.: „ziyonut ruchanit“) bezeichnet.
Begleitung der Sterbenden, die rituelle Bestattung und die Begleitung der Angehörigen in der siebentägigen Trauerzeit zuständig sind. 17 Artikel „Kulturzionismus“. In: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden. Begründet v. Georg Herlitz und Dr. Bruno Kirschner. Bd. 3. Berlin 1929, Sp. 928. Hier findet sich allerdings nur der Querverweis auf den Artikel „Zionismus, Theorie“ – damit wird die Zugehörigkeit des Phänomens zum Zionismus betont. 18 Achad Haam (hebr.: „Einer aus dem Volk“) ist das Pseudonym des wichtigsten Theoretikers eines osteuropäischen Kulturzionismus, der als „geistiger Zionismus“ (hebr.: „ziyonut ruchanit“) bezeichnet wird. Zu Achad Haams Biographie und Einfluss auf den deutschsprachigen Kulturzionismus siehe weiter unten. Die deutschsprachigen Zionist/innen hatten erst spät und nur eingeschränkt Zugang zu Achad Haams Werk, da er in hebräischer Sprache publiziert hat, die die meisten westeuropäischen Zionist/innen nicht beherrschten. Zuerst veröffentlichte der Jüdische Verlag 1904 einige Essays in deutscher Übersetzung: Achad Haam: Am Scheidewege. Ausgewählte Essays. Autorisierte Übersetzung aus dem Hebräischen v. Prof. Israel Friedlaender. Berlin: Jüdischer Verlag 1904. Später: Ders.: Am Scheidewege. Erster Band. Aus dem Hebräischen von Israel Friedlaender. Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage. Berlin: Jüdischer Verlag 1913. Ders.: Am Scheidewege. Zweiter Band. Aus dem Hebräischen von Dr. Harry Torczyner. Berlin: Jüdischer Verlag 1916. Erst 1923 begann der Jüdische Verlag mit einer Werkedition, von der nur zwei Bände realisiert wurden.
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Achad Haam, der aus der Tradition der osteuropäischen „Chibbat Zion“Vereine19 kommt, die als Vorläufer oder Wegbereiter des modernen Zionismus vor der Institutionalisierung durch Herzl gelten können, betont, dass es deren Anhängern selbstverständlich gewesen sei, dass kulturelle und politische Tätigkeit gleichermaßen zur Erfüllung des zionistischen Zieles notwendig seien. Entsprechend beschreibt er die „Entstehung“ der „Culturfrage“ 1902 folgendermaßen: Es ist kein bloßer Zufall, daß die Kulturfrage gleichzeitig mit dem neuen, sogenannten „politischen“ Zionismus entstand. Auch vorher gab es einen Zionismus, den Zionismus ohne jedes unterscheidende Epitheton, und dieser Zionismus kannte eine Kulturfrage nicht. […] Da entstand der neue Zionismus und legte sich das Attribut „politisch“ bei. […] Kein Wunder also, daß dieses Attribut, das nichts hinzufügt, von vielen verstanden ward, als wolle es etwas ausschließen […].20
Die Gegenseite hingegen, repräsentiert von Herzl und Nordau, weist Achad Haam die Erfindung des Begriffs politischer Zionismus zu:21 19 „Chibbat Zion“ (hebr.: „Zionsliebe“) ist die Bezeichnung für die Bewegung russischer Juden und Jüdinnen, die sich nach den Pogromen 1881/2 für Landerwerb und landwirtschaftliche Besiedlung in „Eretz Israel“ einsetzt, und gilt als Basis des modernen Zionismus. Die Anhänger werden als „Chovevei Zion“ (hebr.: „Zionsliebende“) bezeichnet. Theoretische Begleitung ist u.a. Leon Pinskers Aufruf Auto-Emancipation (1882). Grundlegende Texte hat ediert Julius H. Schoeps (Hg.): Palästinaliebe. Leon Pinsker, der Antisemitismus und die Anfänge der nationaljüdischen Bewegung in Deutschland. Berlin, Wien 2005. 20 Achad Haam: Die Renaissance des Geistes [1902]. In: Ders.: Am Scheidewege. Bd. 2, S. 105– 155, hier S. 107 f. 21 Die Altneuland-Kontroverse kann als Kulminationspunkt der Debatte betrachtet werden, die u.a. zum persönlichen Bruch zwischen Herzl und Buber geführt hat. Ausgangspunkt ist eine eher kleinliche Rezension, die Achad Haam zu Herzls utopischem Roman veröffentlicht, wobei er die Gattungszugehörigkeit ignoriert und den Roman als politische Schrift liest. Achad Haam weist Herzl akribisch alle Unwahrscheinlichkeiten nach, kulminierend in der polemischen, aber doch weitgehend sachorientierten Kritik, Herzls Altneuland sei die Imitation eines europäischen Staates ohne etwas speziell Jüdisches und als Anbiederung an die Nichtjuden Europas geschrieben. Vgl. Achad Haam: „Altneuland“. In: Ost und West, Jg. 3 (1903), H. 4, S. 227–244. Herzl, durch das Scheitern der Bemühungen um eine Charta für die Kolonisation in Sinai/El-Arisch politisch geschwächt, versteht den Angriff als politischen und reagiert über Max Nordau und unter Missachtung von Presseabsprachen mit einer Vernichtungsschrift gegen Achad Haam. Deren Heftigkeit führt zur Solidarisierung der deutschsprachigen Kulturzionist/innen mit Achad Haam und beinah zur Spaltung der zionistischen Bewegung. Dass Herzl Achad Haams Kritik als politischen Angriff aufgefasst hat, bestätigen seine Briefe an Nahum Sokolow (14.4.1903) und an Martin Buber (23.5.1903), vgl. Theodor Herzl: Briefe und Tagebücher. Bd. 7. Briefe 1903–Juli 1904. Berlin, Frankfurt/ Main, Wien 1996, S. 90 und S. 128 f. Zum publizistischen Vertrauensbruch vgl. Leo Winz: Die Juden von gestern. (Eine Erwiderung.) In: Ost und West, Jg. 3 (1903), H. 4, S. 217–226. Barbara Schäfer kritisiert die Haltung der „Demokratischen Fraktion“ im Konflikt als
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Der deutschsprachige Kulturzionismus
Er ist kein Zionist. Er ist das Gegenteil eines Zionisten. Es ist ein blosser Kniff, dass er von einem „politischen“ Zionismus spricht, um glauben zu machen, dass es einen anderen gibt, einen geheimnisvollen, nie erklärten, seinen eigenen. Politischer Zionismus ist Tautologie. Ein Zionismus, der nicht politisch wäre, […] wäre überhaupt kein Zionismus.22
1901 formiert sich darüber hinaus auf dem V. Zionistischen Kongress unter dem Namen „Demokratische Fraktion“ eine Oppositionsbewegung junger westeuropäischer Kulturzionist/innen, die sich theoretisch an Achad Haam orientiert und letztendlich aus den Debatten zwischen einem „politischen“ und einem „geistigen“ Zionismus mit einem eigenen kulturzionistischen Profil hervorgeht, das deutliche Überschneidungen zu den sich etablierenden Avantgarden aufweist. II.1.2 Der deutschsprachige Kulturzionismus als eigenständiger Weg
Wie die hier skizzierten Auseinandersetzungen zeigen, ist schon die Verwendung des Begriffs „Kulturzionismus“ dazu angelegt, eine Debatte weiterzuführen, die in Opposition zu einem „politischen Zionismus“ bis heute andauernd letztendlich die Frage verhandelt, was Zionismus genannt werden darf und was nicht.23 Obwohl die Forschung heute weitgehend davon ausgeht, dass es sich im Grunde um einen einzigen zionistischen Diskurs handelt,24 ist – wie gezeigt – in historischer Perspektive die z.T. polemische, fremd- bzw. eigendefinierte Ausdifferenzierung zweier Richtungen in einer Debatte um die ‚Kulturfrage‘25
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unpolitisch, vgl. Barbara Schäfer: Zur Rolle der „Demokratischen Fraktion“ in der Altneuland-Kontroverse. In: Jewish Studies Quarterly, Jg. 2 (1995), S. 292–308. Max Nordau: Achad Ha-Am über „Altneuland“. In: Die Welt, Jg. 7 (13. März 1903), H. 11, S. 1–5, hier S. 4. Implizit führen heutige Forschungsbeiträge diese Debatte weiter. So Philipp Theisohn: Urbarkeit der Zeichen. Zionismus und Literatur – eine andere Poetik der Moderne. Stuttgart, Weimar 2005, der den Kulturzionismus unter einen zionistischen Diskurs subsumiert (36), um bei seiner Betrachtung von Bubers Kulturzionismus zu der Schlussfolgerung zu kommen, dieser sei nicht zionistisch, da er nicht eindeutig auf eine Staatsgründung ausgerichtet sei und stattdessen die Diaspora einbeziehen wolle (269 f. und 281). Auch geben Wissenschaftler/innen, die sich mit Achad Haam, der Leitfigur eines osteuropäischen Kulturzionismus, beschäftigen, häufig an, einen neuen Weg für den heutigen Zionismus, die aktuelle Situation des Israelischen Staates und für dessen Bezug zum Diasporajudentum finden zu wollen, so u.a. Jacques Kornberg: At the Crossroads. An Introductory Essay. In: At the Crossroads. Essays on Ahad Ha-Am. Hrsg. v. dems. New York 1983, S. XV–XXV, hier S. VII. Mark H. Gelber hat auf die fließenden Übergänge zwischen ‚politischem‘ und ‚kulturellem‘ Zionismus hingewiesen. Mark H. Gelber: Melancholy Pride. Nation, Race, and Gender in the German Literature of Cultural Zionism. Tübingen 2000 (Conditio Judaica; 23), S. 9f. Vgl. Nathan Birnbaum: Der Zionismus als Kulturbewegung.
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innerhalb des zionistischen Diskurses, und damit verbunden eines historischen Phänomens „Kulturzionismus“, zu konstatieren.26 Entsprechend lässt eine eigenständige Betrachtung des Kulturzionismus differenzierte Erkenntnisse über den zionistischen Diskurs erwarten.27 Im Folgenden wird von einem eng gefassten Kulturzionismus-Begriff ausgegangen, der sich vorrangig am historischen Phänomen eines deutschsprachigen28 Kulturzionismus als Bewegung um die Protagonisten der „Demokratische Fraktion“ und deren Nachfolger/innen orientiert, und der konzeptuell maßgeblich durch die Schriften Martin Bubers geprägt wurde. Der so definierte deutschsprachige Kulturzionismus bringt in Abgrenzung von Theodor Herzls „politischem Zionismus“ und in Anlehnung an Achad Haams „geistigen Zionismus“ unter den geistesgeschichtlichen Bedingungen um 1900 eine eigenständige Perspektive auf den Umgang mit einer auf Zion ausgerichteten Tradition im Judentum unter modernen nationaljüdischen Vorzeichen in den zionistischen Diskurs ein. Das spezifische Profil entsteht in enger Anbindung an die historischen Avantgarden bzw. als eine Vorläuferbewegung derselben im Umkreis der Bohème und Lebensreformbewegung. Das eigene Profil als „dritter Weg“ innerhalb der Debatte um den „politischen Zionismus“ Herzls und den „geistigen Zionismus“ Achad Haams beruht auf der meist biographisch begründeten vermittelnden Stellung zwischen Ost- und Westjudentum, u.a. bei Martin Buber und Chaim Weizmann,29 und auf der Nähe zu Bohème und Lebensreformbewegung als Geburtsstätten der historischen Avantgarden. Die neuere Zionismus-Forschung hat darüber hinaus auf die generelle Nähe von Zionismus und Literatur hingewiesen30 bzw. gerade am Beispiel Herzls aufgezeigt, dass bereits der sogenannte politische Zionismus an der Grenze von 26 So verwendet Buber den Begriff in einem Brief an Herzl vom 24.7.1902 als eigene zionistische Kategorie: „Ich habe mit ihm [Max Liebermann, Anm. B.M.K.] viel über Zionismus und besonders aber Kulturzionismus gesprochen.“ Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. In drei Bänden. Bd. 2: 1918–1938. Hrsg. v. Grete Schaeder. Heidelberg 1973, S. 175. Als prominenter Vertreter eines osteuropäischen Kulturzionismus versucht Achad Haam 1902 in Minsk eine Kulturkommission als Parallelinstitution zum Zionistischen Kongress zu etablieren, die alle vereinen soll, die an der Entwicklung einer nationaljüdischen Kultur interessiert sind. 27 Vgl. FN 23. 28 Der Begriff eines „westeuropäischen“ Kulturzionismus schließt die spezifische Ausrichtung der Prager Kulturzionist/innen tendenziell aus und widerspricht dem kulturzionistischen Interesse, ‚Ost- und Westjudentum‘ zu verbinden. Vgl. zum kulturzionistischen Profil des Prager Zionismus: Iris Bruce: Kafka and Cultural Zionism. Dates in Palestine. Madison 2007. 29 Eigenständig ist die kulturzionistische Position ebenso gegenüber einem religiös-orthodoxen Zionismus, wobei sie Anteile des praktischen Zionismus, der den Fokus auf die Besiedelung auch ohne politische Legitimation legt, integriert. 30 Vgl. Philipp Theisohn: Urbarkeit der Zeichen.
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Politik und Literatur entsteht.31 Dies lässt sich schon daran ablesen, dass Herzls zionistischer Entwurf in doppelter Ausführung vorliegt, einmal als juristische Schrift Der Judenstaat (1896) und einmal als utopischer Roman Altneuland (1902). Diese zentrale Struktur liegt auch darin begründet, dass vor und um 1900 und auch noch lange danach die tatsächlich in einem engeren Sinne politisch zu definierenden Aspekte des Zionismus (Institutionalisierung der Bewegung durch den Zionistischen Kongress, Organisationsstrukturen, Militär …) für die Handlungsoptionen der zionistischen Bewegung eine untergeordnete Rolle spielen (womit die Unternehmungen in diese Richtung nicht abgewertet werden sollen). Entgegen der heutigen Sichtweise auf den Zionismus, in der er seit der Gründung des Staates Israel 1948 als rein politisches Phänomen erscheint, müsste man für die frühzionistischen Schriften im 19. Jahrhundert (u.a. Moses Hess) sowie für die zionistische Bewegung um 1900 bis in die 1920/30er Jahre eigentlich von einem „Kultur-/Zionismus“ sprechen. Diese Schreibweise betont bei jedem Lesevorgang ‚performativ‘, dass der moderne Zionismus von seinen Anfängen bei Moses Hess, über Herzls Altneuland-Projekt32 bis hin zu im engeren Sinne kulturzionistischen Konzepten vor allem ein „kulturelles“ Unternehmen ist, das an der Grenze von Literatur, Politik und Leben entsteht und stattfindet.33 Trotz der Institutionalisierung mit dem I. Zionistischen Kongress 1896 agieren die zionistischen Protagonist/innen wirkmächtig in und durch Literatur – im Sinne eines erweiterten Literaturbegriffs –, die auf das Leben zurückwirkt, und überschreiten somit die Grenzen von Politik und Kultur. Wobei ein eher instrumentelles Verhältnis, das Literatur zum Erreichen politischer Ziele propagandistisch und als ‚Illustration‘ einer Vision nutzen will, für den gesamten zionistischen Diskurs eine Rolle spielt, aber eben nicht so einseitig auf den politischen Zionismus bezogen und nicht so eindimensional, wie bisher angenommen. Zu beobachten ist nun, dass die Kulturzionist/innen gerade diesen Aspekt, der prinzipiell den gesamten zionistischen Diskurs zwischen 1880 und den 1930er Jahren betrifft, im Kontext der entstehenden Avantgarden explizit zu ihrem Programm erheben und sich selbst zur „Avantgarde des Zionismus“34 stilisieren.
31 Vgl. Clemens Peck: Im Labor der Utopie. Theodor Herzl und das „Altneuland“-Projekt. Berlin 2012. Alfred Bodenheimer: Wandernde Schatten. Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne. Göttingen 2002, S. 60 f., betont „das literarische Wesen des Projekts“ und zeigt, „daß Literatur für Herzl in den ersten Jahren seines Projekts nicht bloß die bevorzugte Ausdrucksform war, sondern dessen Essenz ausmacht.“ 32 Clemens Peck: Im Labor der Utopie. Peck geht nicht auf den Avantgardebezug des Projektbegriffs oder die Nähe der für ihn zentralen Analysekategorie der Utopie zu den Avantgarden ein. 33 Hier spielt die poietische Qualität von Literatur eine wichtige Rolle. 34 Berthold Feiwel: Stroemungen im Zionismus, Sp. 694.
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Die avantgardistischen Potenziale des deutschsprachigen Kulturzionismus beziehen sich im Detail auf die inszenierte Vorreiterposition innerhalb der zionistischen Bewegung, die Nähe zu avantgardistischer Rhetorik und dem utopischen bzw. antizipatorischen Potenzial der Avantgarden sowie den explizit bis radikal vertretenen Anspruch, die jüdische Tradition zu erneuern35 (vgl. Kapitel II.2). Die Kulturzionist/innen machen die oben beschriebene Struktur des Zionismus um 1900 als einem Projekt an der Grenze von Literatur und Politik und einem Projekt der Modernisierung der jüdischen Tradition und des jüdischen Lebens explizit. Hier sind, wie später noch genauer ausgeführt wird, zwei Phasen zu unterscheiden. Zunächst tragen die Kulturzionist/innen im Kontext von Bohème und Lebensreformbewegung fokussiert auf die Verbindung von jüdischer Literatur/ Kunst und jüdischem Leben zur Entwicklung der Formensprache und des Habitus der historischen Avantgarden im Kontext der jüdischen Tradition bei. Nach deren Etablierung um 1910 vollzieht sich eine konzeptuelle und rhetorische Radikalisierung des kulturzionistischen Projekts durch das Anknüpfen an den Expressionismus, das sich mit Buber mit dem Schlagwort der „absoluten Erneue rung“ (1910) charakterisieren lässt. Trotz dieser Nähe ist zu beachten, dass für das Ziel der Schaffung einer jüdischen Nationalkultur identitätspolitisch vereindeutigende Aspekte sowie pädagogische, kulturpolitische und völkische Elemente eine Rolle spielen. So weisen viele Interpreten des Kulturzionismus auf dessen theoretische Inkonsistenzen hin,36 wobei erkennbar ist, dass diese die Attraktivität des theoretischen Angebots gerade für mehrere jüngere jüdische Generationen zwischen 1900 und 1933 nicht beeinträchtigt haben. II.1.3 Abgrenzungsbewegungen zwischen West und Ost
Um eine eigene kulturzionistische Perspektive zu entwickeln, grenzen sich die Protagonisten der „Demokratischen Fraktion“ zunächst mit Bezug auf Achad Haam von Herzls politischem Zionismus ab, um später und indirekter ebenso zu Achad Haams als zu moderat empfundener Position auf Distanz zu gehen. Um die Abgrenzungsbewegungen exemplarisch nachzuvollziehen, sind zunächst die 35 Vgl. Martin Buber: Drei Reden über das Judentum. Dritte Rede: Die Erneuerung des Judentums. In: Ders.: Werkausgabe. Hrsg. v. Paul Mendes-Flohr und Peter Schäfer. Bd. 3: Frühe jüdische Schriften. 1900–1922. Hrsg., eingel. u. komm. v. Barbara Schäfer. Gütersloh 2007, S. 219–256, hier S. 238–256. Zitate aus Bubers Werken werden im Folgenden mit dem Kürzel MBW, arabischer Band- und Seitenzahl in Klammern im Text nachgewiesen. 36 U.a. Paul Mendes-Flohr: Kulturzionismus. In: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 3. Hrsg. v. Dan Diner. Stuttgart, Weimar 2012, S. 454–458, hier S. 458, und Philipp Theisohn: Urbarkeit der Zeichen, S. 270.
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Modelle eines politischen und eines osteuropäischen Kulturzionismus zu skizzieren, um anschließend zu zeigen, wie die deutschsprachigen Kulturzionist/ innen ihr Profil in relativ freier Adaption von Achad Haams Theorien entwerfen. Unter dem „politischen Zionismus“, ikonisch vertreten durch Theodor Herzl, wird ein Zionismus verstanden, der – wie es in dem im Rahmen des I. Zionistischen Kongresses 1897 entstandenen Baseler Programm heißt – „die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden, die sich nicht anderswo assimiliren (sic) können oder wollen“37 Dieses Ziel soll vorrangig auf politisch-diplomatischem Wege verwirklicht werden.38 Herzls Modell propagiert dabei den Zionismus auch gegenüber nichtjüdischen Adressat/ innen als „Lösung der Judenfrage“ und wertet die Gründung eines „Judenstaates“ nach dem Vorbild der europäischen Nationalstaaten als Ende des Antisemitismus. Diese Ausrichtung folgt einem liberalen Politikverständnis und wird dominant von der Leitungsebene der Zionistischen Kongresse vertreten, während die Mehrheit der Mitglieder osteuropäische Zionist/innen sind, die eher aus der Tradition der „Chowewei-Zion“-Bewegung kommen. Die osteuropäische Richtung des Zionismus, bzw. eines osteuropäischen Kulturzionismus, wird in deutlicher Opposition zu Herzl von Achad Haam39 mit
37 Anonym: Ergebnisse des Congresses. In: Die Welt, Jg. 1 (1897), H. 15, S. 1. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Theodor Herzl diesen Artikel verfasst hat. 38 Der I. Zionistische Kongress gilt als Moment der Institutionalisierung des modernen Zionismus, dessen Vorläufer in Osteuropa in der Mitte des 19. Jahrhunderts liegen. 39 Achad Haam (1856 Skvira, heutige Ukraine – 1927 Tel Aviv) wuchs in einem chassidischen Milieu auf und erhielt eine traditionelle jüdische Erziehung. Gleichzeitig war er von den Schriften der Haskala (der jüdischen Aufklärung), der deutschen Aufklärung, des englischen Positivismus und des russischen Populismus beeinflusst, sprach neben Hebräisch und Russisch auch Französisch, Englisch und Deutsch. 1884 ging Achad Haam nach Odessa und unterstützte Leon Pinskers Versuch, die einzelnen Zirkel der frühzionistischen „Chowewei Zion“-Bewegung politisch zu vereinigen. Mit seinem Essay Dies ist nicht der Weg (hebr.: Lo se haderech) wurde er 1889 schlagartig in der russischen zionistischen Bewegung bekannt. 1891 und 1893 reiste Achad Haam nach Palästina und berichtete kritisch über Missstände in der Verwaltung der ersten landwirtschaftlichen Siedlungen. Unter dem Pseudonym Achad Haam etablierte er sich als kritischer Begleiter der zionistischen Bewegung und war zwischen 1897 und 1904 Herzls schärfster Kritiker. Seine Essays gelten als stilbildend für das moderne Hebräisch und er gab die hebräische Zeitschrift HaSchiloah heraus. Da Achad Haam kaum zu politischen Kompromissen bereit war, wirkte er vor allem über seine Schüler, die jedoch eigene Interpretationen seiner Konzeption entwickelten. Er beriet Chaim Weizmann während der Verhandlungen um die Balfour-Erklärung. 1922 emigrierte er nach Palästina.
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dem Konzept eines „geistigen Zionismus“ (hebr.: „ziyonut ruchanit“40) vertreten.41 Kern von Achad Haams Modell ist die Etablierung eines „geistige[n] nationale[n] Zentrum[s]“ (hebr.: „merkas ruchani“)42 in Palästina. „Geistig“ meint dabei keine religiöse oder mystische Komponente, vielmehr ist Achad Haam Vertreter eines säkularen Judentums. Er schließt hier an J. G. Herders Konzept des „Nationalgeistes“ (zuerst 1767)43 an und vertritt das Konzept eines „jüdischen Volksgeistes“ (hebr.: „ruach leumi“), der als eine Art kollektives Unbewusstes (im Sinne C. G. Jungs) vorgestellt werden kann und zur alleinigen Quelle von jüdischer Literatur, Religion, Sprache und Ethik wird.44 Achad Haam geht davon aus, dass sich der Volksgeist in einzelnen Individuen ausdrückt, aber eigentlich schaffend ist das jüdische Volk in seiner Gesamtheit. Als Essenz dieses „Volksgeistes“ beschreibt Achad Haam das „sittliche Ideal“ des Judentums,45 sein „geistiger Zionismus“ ist mit hohen ethischen Werten in einer humanistischen Ausrichtung verbunden.
40 Von hebr.: „ruach“: Geist, Wind, Atem. In der hebräischen Bibel ist die Verwendung von „ruach“ stark mit den späteren Propheten verbunden. „Ruach“ kann an einen anderen Ort oder in eine visionäre Sphäre versetzen. Besonders häufig verwendet Ezechiel den Begriff und trug zu dessen Ausweitung im Sinne eines geistigen Vermögens des Menschen bei. Vgl. Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament. Hrsg. v. Ernst Jenni unter der Mitarbeit v. Claus Westermann. Bd. II. München, Zürich 1976, Sp. 726–753, hier Sp. 734 u. 741. Achad Haam übernimmt somit prophetisches Vokabular für seine kulturzionistische Konzeption, so wird bei Ezechiel die Neubelebung der Gebeine mit ruach bezeichnet, ebenso „neues Herz“ (Ez 18,31; 36,26), „neue[r] Geist“ (Ez. 11,19; 18,31; 36,26). 41 In seinem Artikel zum Stichwort „Kulturzionismus“ beschäftigt sich Paul Mendes-Flohr fast ausschließlich mit Achad Haams theoretischer Konzeption und setzt dessen hebräischen Terminus „ziyonut ruchanit“ („geistiger Zionismus“) mit dem Begriff des Kulturzionismus gleich. Die Mitglieder der „Demokratischen Fraktion“ werden als „einige seiner Schüler“ (456) bezeichnet. Der westeuropäische Kulturzionismus gewinnt kein eigenes Profil, obwohl Mendes-Flohr indirekt erwähnt, dass seine Protagonisten u.a. das Unternehmen eines Jüdischen Verlags in deutscher statt hebräischer Sprache begründen (456), allein hier also deutlich von Achad Haams Konzept einer „modern-säkularen hebräischen Kultur“ (455) abweichen. Paul Mendes-Flohr:: Kulturzionismus, S. 454–458. In dieser Arbeit wird der deutschsprachige Kulturzionismus hingegen im Kontext von Bohème, Lebensreformbewegung und Avantgarde als eigenständige zionistische Richtung profiliert. 42 Achad Haam: Die Renaissance des Geistes [1902], hier S. 133. 43 Vgl. Johann Gottfried Herder: Fragmente zur deutschen Literatur. J.G. Herders sämmtliche Werke. [Erste Sammlung.] Carlsruhe 1821, S. 24. 44 Achad Haam hat nie theoretisch konsistent dargelegt, was er genau unter dem jüdischen ‚Volksgeist‘ versteht. Paul Mendes-Flohr übersetzt das Konzept als „eine quasi-metaphysische ethische Kraft, die sich aus der kumulierten historischen Erfahrung der Juden speiste – die geistige Physiognomie des jüdischen Volkes.“ Paul Mendes-Flohr: Kulturzionismus, S. 457. 45 Das „sittliche Ideal“ des Judentums definiert Achad Haam als die „Durchsetzung der sittlichen Kraft, Zurückdrängung der tierischen Triebe, Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit in Tat und Gedanken und ununterbrochener Kampf gegen Unwahrheit und Ungerech-
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Achad Haam hält die Assimilation, die er an westeuropäischen Juden und Jüdinnen als „geistige Knechtschaft“46 beobachtet, für das vorrangige Problem, das der Zionismus lösen müsse. Bedroht sei das Fortbestehen des Judentums. Deshalb müssten dessen „geistige“ Kräfte zunächst gesammelt werden, um eine jüdischen Nationalkultur in hebräischer Sprache wiederzubeleben, aus der zu einem späteren Zeitpunkt evolutionär ein tatsächlich „jüdischer Staat“ entstehen könne, der dem jüdischen Volksgeist entspräche. Ein „Judenstaat“ nach Herzls Modell erscheint Achad Haam als Nachahmung des europäischen Nationalstaatmodells ohne spezifisch jüdischen Anteil und damit als „Assimilation auf kollektiver Grundlage“47. Außerdem hält er eine Masseneinwanderung nach Palästina für praktisch nicht durchführbar, so dass weiterhin Juden und Jüdinnen in der Diaspora leben würden. Dennoch strebt Achad Haam die Ansiedlung in Palästina an, sonst wäre er kein Zionist, wie er in einem Brief vom 16.9.1906 an Alter Druyanov48 in Abgrenzung zu Simon Dubnow schreibt.49 Sein Ziel ist jedoch „nicht eine ‚gesicherte Heimstätte für das Volk Israels‘, sondern ‚ein festes Zentrum für den Geist Israels‘“,50 um dort die „schöpferische Kraft unseres Volkes“51 zu sammeln. Achad Haam imaginiert dieses geistige Zentrum als „Ansiedlung einer größeren Zahl jüdisch gesinnter Männer, die ungestört in allen Zweigen menschlicher Kultur von Ackerbau und Handwerk bis zu Wissenschaft und Literatur sich betätigen.“52 Ganz konkret plädiert er auf der Versammlung russischer Zionisten in Minsk 1902 für die Gründung einer Hochschule für Wissenschaft und Kunst und einer Akademie für Sprache und Dichtung in Palästina. „Aus diesem Mit-
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tigkeit […].“ Achad Haam: Umwertung aller Werte [1898]. In: Ders.: Am Scheidewege. Bd. 1, S. 252–271, hier S. 260. Vgl. Achad Haam: Äußere Freiheit und innere Knechtschaft [1891]. In: Am Scheidewege. Ausgewählte Essays, S. 149–171. Vgl. Michael Brenner: Geschichte des Zionismus. Dritte, durchges. u. akt. Auflage. München 2008, S. 46. Vgl. Ahad Ha-Am: To A. Druyanov (Vilna). Odessa, Sept. 16, 1906. In: Ders.: Essays, Letters and Memoirs. Hrsg. v. Leon Simon. Oxford 1946, S. 263: „I never believed in the possibility of realising a complete national program in the Diaspora. If I believed it to be possible for our national spirit to develop freely in the Diaspora I should not be a Zionist. You know that this is the whole basis of my Zionism and that is where I differ from Dubnow.“ Simon Dubnow hat die Theorie eines jüdischen Nationalismus vorgelegt, nach dem sich die „jüdische Weltnation“ in Harmonie mit den bürgerlichen Rechten und Pflichten in den jeweiligen Ländern in den Bereichen Gemeinde, Sprache und Bildung selbstständig behauptet, um eine nicht territorial gebundene jüdische Autonomie zu erlangen. Sie wird in der Forschung als Diaspora-Nationalismus oder Autonomismus bezeichnet. Achad Haam: Die Bilanz [1912]. In: Ders.: Am Scheidewege. Bd. 2, S. 71–104, hier S. 76. Ders.: Die Renaissance des Geistes [1902]. In: Ebd., S. 105–155, hier S. 138. Ders.: Judenstaat und Judennot [1898]. In: Ebd., S. 7–28, hier S. 18.
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telpunkt wird dann der Geist des Judentums zu allen Punkten der weiten Peripherie dringen, zu allen Gemeinden der Diaspora, um sie zu beleben und alle zu einer Einheit zusammenzuhalten.“53 Achad Haams Modell strebt also eine nicht mehr nur imaginative oder im kulturellen Gedächtnis verankerte Verbindung zu Jerusalem oder „Eretz Israel“ an, sondern möchte diesen traditionellen Topos durch die ganz konkrete Eta blierung eines kulturellen oder „geistigen“ Zentrums am Sehnsuchtsort partiell realisieren, ohne dass alle Juden und Jüdinnen in „Eretz Israel“ leben müssen oder (sofort) ein moderner Nationalstaat etabliert werden soll. In Anlehnung an Achad Haams Konzeption formieren sich die Kulturzionist/ innen auf dem V. Zionistischen Kongress 1901 als Oppositionsbewegung um die „Demokratische Fraktion“ und behaupten also sowohl ihre Zugehörigkeit als auch ihre Abgrenzung zum zionistischen Diskurs. Die Wahl dieses Namens zeigt jedoch schon an, dass es hier um mehr ging als die ‚Kulturfrage‘. Vielmehr handelt sich um einen doppelten Generationenkonflikt,54 für den vor allem die generationsbedingt differente Definition von Kultur und von deren Verhältnis zu Politik innerhalb der zionistischen Debatten von Interesse ist. Auf der einen Seite stehen die Vertreter des zionistischen ‚Establishments‘, wie Theodor Herzl (1860–1904) und Max Nordau (1849–1923), mit ihrem klassisch liberalistischen Verständnis von Kultur und Politik.55 Auf der anderen Seite stehen die Vertreter einer jüngeren Generation, u.a. Martin Buber (geb. 1878), Berthold Feiwel (geb. 1875), E. M. Lilien (geb. 1874), Chaim Weizmann (geb. 1874), die vom geistigen und kulturkritischen Milieu um 1900 in Wien und Berlin beeinflusst sind und einen aus nietzscheanischen und besonders bei Buber neoromantischen Einflüssen zusammengesetzten, z.T. völkischen oder völkisch anschließbaren Kulturbegriff vertreten.56 Dabei steht letzteren die Konzeption des osteuropäischen Kulturzionismus, der vor 1900 schon u.a. durch Nathan Birnbaum nach Berlin gebracht wurde, zur Verfügung. Doch auch innerhalb eines solchen gesamten ost- und westeuropä 53 Ebd., S. 18 f. 54 Inka Bertz hat die Abgrenzung der „Demokratischen Fraktion“ gegen Herzls politischen Zionismus als Generationenkonflikt beschrieben. Inka Bertz: Jüdische Renaissance in Berlin, S. 154 f. Eine ähnliche Bewegung ist auch für die Adaption von Achad Haams „geistigem Zionismus“ zu beobachten. 55 Vgl. Clemens Peck: Im Labor der Utopie, der den Einfluss von Herzls politischem Liberalismus auf seine poetologischen Strategien in Altneuland beschreibt. 56 Zur Fichte-Rezeption im Kulturzionismus vgl. Manfred Voigts: „Wir sollen alle kleine Fichtes werden!“ Johann Gottlieb Fichte als Prophet der Kulturzionisten. Berlin, Wien 2003. Zum völkischen und rassentheoretischen Kontext vgl. Mark H. Gelber: „Deutsche Rassentheorie und Kulturzionismus“. In: Janusfiguren. „Jüdische Heimstätten“. Exil und Nation im deutschen Zionismus. Hrsg. v. Andrea Schatz und Christian Wiese. Berlin 2006, S. 103–124.
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ischen Kulturzionismus sind zwei unterschiedliche Kulturbegriffe zu differenzieren.57 Hier liegt ebenfalls ein Generationenkonflikt vor, der für Buber 1910 in seiner Kritik an Achad Haams „evolutionärer Position“ gegenüber der eigenen „revolutionären“, gerade im Kontext einer expressionistischen Rhetorik, anschaulich wird.58 Die Abgrenzung zu Achad Haam zeigt sich in einer eher freien Adaption seiner theoretischen Überlegungen, wie Jehuda Reinharz sie für Bubers Reden über das Judentum ab 1909 gezeigt hat.59 Die produktive und durchaus kritische Auseinandersetzung ist jedoch schon deutlich früher anzusetzen, dokumentiert in Nathan Birnbaums Rede Der Zionismus als Kulturbewegung auf dem I. Zionistischen Kongress 1897 (I. Kongress 1897, 83), seinem Essay über Achad Haam (1903)60 und ebenso in Bubers Essays Jüdische Renaissance (1901) und Ein geistiges Zentrum (1902). Zuletzt wird in der biographischen Forschung zu Buber kolportiert, dass Buber durch die Lektüre Achad Haams im Sommer 1889 Zionist wurde.61 Außerdem ist zu beobachten, dass sich Achad Haams Schriften durchaus zu bestimmten Übertragungen seiner Anhänger angeboten haben. So hat Achad Haam den Zionismus aus einer „inneren“ Notwendigkeit statt wie Herzl aus dem Antisemitismus begründet. Dabei geht Achad Haam zwar vom Wirken des jüdischen „Volksgeistes“ aus, betont aber die Wirksamkeit desselben durch den Einzelnen. Diese national fühlenden Einzelnen können sicherlich leicht die individuelle Komponente dieser Wirkung zum zentralen Element ihres Interes57 Achad Haam vertritt einen an der jüdischen und europäischen Aufklärung geschulten Kulturbegriff, verbunden mit einigen völkischen Elementen, die er von Herder übernimmt. Vgl. dazu Jehuda Reinharz: Ahad Ha-Am, Martin Buber and German Zionism. In: At the Crossroad, S. 142–155, hier S. 153: „For him [Achad Haam, B.M.K.] Jewish Kultur was secular and rationalist. Buber’s concept was tied to romanticism, especially German romanticism and thus viewed Kultur as sensibility and as a way to return to Judaism as a spiritual entity.“ Ders.: Achad Haam und der deutsche Zionismus. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts 61/1982, S. 3–27. 58 Vgl. Martin Buber: Die Erneuerung des Judentums, MBW 3, S. 238–256. Hier liegt eine Parallele zur expressionistischen Generation ‚der Söhne‘ vor. 59 Vgl. Jehuda Reinharz: Ahad Ha-Am und der deutsche Zionismus, hier S. 147. Er benennt einen Einfluss ab den 1890er Jahren, untersucht ihn aber konkret erst in den Reden Bubers ab 1909. Reinharz nennt Bubers Vorgehen: „a clear adaption of Ahad Ha-Am’s ideas with a peculiar and unique Buberian emphasis on what he called ,religiosity‘ and later, ,dialog‘.“ Eine ähnlich freie Adaption beobachtet Jacques Kornberg: An Introductory Essay, S. XXV, für den US-amerikanischen Kontext. 60 Mathias Acher (Nathan Birnbaum): Achad ha=am. Ein Denker und Kämpfer der jüdischen Renaissance. Vortrag. Berlin: Jüdischer Verlag 1903. Birnbaum nimmt gerade Nordaus „Vernichtungsschrift“ als Anlass, Achad Haams Lehren den „Juden des Westens“ zugänglich zu machen, damit sie Nordaus Urteil selbst überprüfen können (ebd., S. 3 f.). 61 Vgl. Martin Treml: Einleitung. In: MBW I, S. 39.
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ses machen. Oder anders formuliert, wenn „das nationale Judentum ‚ihrer Seele Wurzel ist‘“,62 so kann der Schwerpunkt durch eine jüngere Generation im Kontext der Lebensreformbewegungen durchaus darauf gelegt werden, was dies für die Seele bedeutet. Des Weiteren entlehnt Achad Haam sein Volksgeistkonzept bei Herder. Da dieses ebenso von den Romantiker/innen weiterentwickelt wurde, wird Achad Haam selbst anschlussfähig für eine neoromantische und völkische Rezeption der deutschsprachigen Kulturzionist/innen, die wiederum in loser Adaption an Johann Gottlieb Fichte anschließen.63 Sogar die Wendung des „Geistigen“ in eine jüdisch-mystische Richtung ist in diesem Sinne nicht abwegig. So wird durch Buber Achad Haams deutlich auf eine säkulare jüdische Kultur abzielendes Modell zu einem modernen Verständnis individueller Religiosität64 umgewandelt. Insgesamt begegnen die Kulturzionist/innen Achad Haam mit einer Rezeptionshaltung, die auch ihre Reaktion auf Martin Bubers Reden kennzeichnet65 und die Max Nordau in seiner Kritik an Achad Haams Rezension von Altneuland polemisch, aber wohl hier durchaus zutreffend, folgendermaßen beschrieben hat: „Den naiven Leser, der nicht mit dem Kopfe, sondern mit dem Herzen liest, bestechen die nationalen Ergüsse, deren unverständliche Mystik ihnen Tiefsinn scheint und in die sie, geübte Deuter, alles Mögliche hineingeheimnissen, was nie darin gewesen ist.“66 Die deutschsprachigen Kulturzionist/innen unterscheiden sich von Achad Haams Konzeption nicht nur durch einen anderen Kulturbegriff, sondern prominent durch eine enthusiastische Nietzsche-Rezeption. Außerdem vertreten sie das Konzept, zu einer „Jüdische Renaissance“ durchaus in deutscher Sprache beitragen zu können. Achad Haam hat die Veränderungen seiner Theorien selbst z.T. kritisch beglei67 tet und ist u.a. der nach seinen Vorstellungen nicht in ein jüdisches Denken 62 Achad Haam: Die Bilanz [1912]. In: Ders.: Am Scheidewege. Bd. 2, S. 71–104, hier S. 75. 63 Auf die antiaufklärerischen Elemente in Achad Haams Denken wird in der Forschung hingewiesen. Vgl. Jacques Kornberg: An Introductory Essay, S. XIX. 64 Buber bezieht sich hier auf die von Georg Simmel entwickelte Unterscheidung zwischen Religion und Religiosität, schreibt letzterer jedoch eine metaphysische Qualität zu. Vgl. Georg Simmel: Die Religion. Frankfurt/Main 1922. Paul Mendes-Flohr: Von der Mystik zum Dialog. Martin Bubers geistige Entwicklung bis hin zum „Ich und Du“. Mit einer Einführung von Ernst Simon. Königstein/Ts. 1979, S. 84. 65 Vgl. Caspar Battegay: Das andere Blut, S. 176, der von Bubers „Sound“ spricht und eine entsprechende zeitgenössische Rezeption nachweisen kann. 66 Max Nordau: Achad Ha-am zu Altneuland, S. 3 (Hervorh. B.M.K.). 67 Vgl. auch Steven J. Zipperstein: Elusive Prophet. Ahad Ha’am and the Origins of Zionism. Berkeley, Los Angeles 1993, S. 231, der die Enttäuschung der jungen Generation benennt, dass Achad Haam nicht die entsprechenden Schlüsse aus seiner Theorie zieht und darauf beharrt, dass u.a. Nietzsche, Militarismus, Persönlichkeitskult, Materialismus und Marxismus nicht in den ‚Jüdischen Volkgeist‘ absorbiert werden könnten.
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assimilierbaren Nietzsche-Rezeption scharf entgegengetreten.68 Dies zeigt sich auch in Achad Haams Beharren auf dem Hebräischen als der einzig wahren Sprache jüdischer Literatur und des jüdischen „Volkgeistes“. Achad Haams differenzierte Auseinandersetzung mit den Adaptionen seiner Theorien hat seine Nachfolger nicht davon abgehalten, sich als Träger seiner „cultural legacy“ zu verstehen und als Achad-Haamisten zu definieren.69 Obwohl die Kulturzionist/innen eine kleine Gruppe innerhalb der zionistischen Bewegung darstellen, gewinnt ihre Position zunehmend politische Wirkung, so u.a. in der Entscheidung des Kongresses, eine jüdische Ansiedlung allein in Palästina (1905) anzustreben und nicht etwa in Uganda, wie Herzl 1903 vorschlägt.70 Nach Herzls überraschendem Tod 1904 ist die kulturzionistische Position in der sich anschließenden Orientierungsphase der zionistischen Bewegung deutlich präsent, wie die Beiträge im Band Die Stimme der Wahrheit. Jahrbuch für wissenschaftlichen Zionismus dokumentieren.71 Schließlich werden beide Richtungen auf dem VIII. Zionisten-Kongress 1907 durch den Vorsitzenden Chaim Weizmann unter dem Schlagwort eines „synthetischen Zionismus“ vereint. Ab diesem Punkt ist die Einbindung kultureller Anliegen (u.a. jüdische Bildungseinrichtungen, Schulbücher, Hebräischunterricht und jüdische Literatur) in die zionistische Arbeit selbstverständlich.72 Ab dem XI. Kongress ist die Integration kultureller Anliegen mehrheitsfähig. Die langsame Entwicklung kann beispielhaft am Beschluss der Gründung der Hebräischen Universität in Jerusalem illustriert werden. Schon auf dem I. Kongress 1897 spricht sich der Delegierte Zwi Hermann Schapira für die Gründung aus. Beschlossen wird diese erst auf dem XI. Kongress 1913, nun allerdings bei nur drei Gegenstimmen mit breiter Zustimmung. Der Vizepräsident Gaster fasst diese Entwicklung folgendermaßen zusammen: „Als ich vor 15 Jahren zum erstenmal beim 68 Vgl. Achad Haam: Umwertung aller Werte [1898]. In: Ders.: Am Scheidewege. Bd. 1, S. 252– 271. Er lehnt die von ihm als „germanisch“ und „arisch“ beschriebenen Anteile des Nietzscheanismus ab. 69 Ebenso Jehuda Reinharz: Ahad Ha-Am, Martin Buber, and German Zionism. In: At the Crossroads, S. 142–155, hier S. 154. 70 Vgl. die Einschätzung der Wirkung des Kulturzionismus bei Mendes-Flohr: Kulturzionismus. 71 Die Stimme der Wahrheit. Jahrbuch für wissenschaftlichen Zionismus. Hrsg. unter der Mitwirkung von Autoritäten aller Konfessionen von Lazar Schön. Jg. 1. Würzburg: N. Philippi 1905. Die VI. Abteilung widmet sich u.a. mit einem Beitrag von Martin Buber explizit dem Thema „Zionismus und Kultur“, aber auch insgesamt sind kulturzionistische Themen sowie literarische Beiträge prominent vertreten. 72 Wobei Weizmann noch auf dem XI. Kongress 1913 darauf hinweist, dass die Debatte dennoch nicht beendet sei und die Gegner diese Synthese abwertend als „Achad-Haamismus, Kolonisations- oder auch Cho-wewe-Zionismus“ (XI. Kongress 1913, 157) bezeichneten und weiterhin dem politischen Zionismus gegenüberstellten.
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II. Kongreß die Kulturfrage aufgerollt hatte, da schüttelten die Herren die Köpfe und verstanden nicht, was Kultur war. Die Antwort ist heute da. Wir sind hier die Vertreter der jüdischen Kultur.“ (Ebd., 311) II.1.4 Das poetologische Potenzial des Kulturzionismus
Für die gesonderte Betrachtung der im Umfeld von Bohème und Lebensreformbewegung und später des Expressionismus entworfenen Version eines deutschsprachigen Kulturzionismus spricht nun als zweites Argument, dass dieser sich inhaltlich anders positioniert als ein prototypisch konstruierter „politischer“ Zionismus und damit das Ziel der zionistischen Bewegung über die „die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden, die sich nicht anderswo assimiliren (sic) können oder wollen“73, hinaus erweitert. Der Kulturzionismus entwirft eine inhaltlich differente Definition dessen, was Zionismus bzw. Zionist/in zu sein bedeuten kann und sollte, und wie ein zionistisches Modell umgesetzt werden soll. Zentral ist hier die Frage nach der Definition der Diaspora im Verhältnis zu Zion oder Jerusalem als nationales oder „geistiges“ Zentrum, und daran angeschlossen Möglichkeiten der literarischen Imagination bzw. „Verwirklichung“.74 Der deutschsprachige Kulturzionismus weist durch den Einbezug der Diaspora,75 und über den Bezug auf die Romantik, ein starkes utopisches Element auf, das tendenziell mit einer Realisierung eines jüdisch-messianischen Potenzials schon im Hier und Jetzt verbunden ist. Die traditionelle „Zionssehnsucht“ wird auf der Basis der Tradition und in deren moderner Adaption und Überschreitung weitreichender bzw. pluraler definiert, so dass tendenziell ein „Zionismus“ vorliegt, der Zentrum und Peripherie (Diaspora) gleichzeitig zu denken versucht. Die „Zionssehnsucht“ oder „Zionsliebe“ wird nicht auf eine eindeutig nationalstaatliche Umsetzung eng geführt, sondern, stärker als bei Achad Haam selbst, in der eigenen Persönlichkeit und in Bezug auf die literarische Tradition verortet. Letztere wird dabei konzipiert als zu überwindende rabbinische und wiederzubelebende prophetische Tradition. 73 Anonym [wahrscheinl. Theodor Herzl]: Ergebnisse des Congresses. In: Die Welt, Jg. 1 (1897), H. 15, S. 1. 74 Vgl. Philipp Theisohns (2005) Konzept einer zionistischen Poetik bzw. Poiesis im Sinne einer „Urbarkeit der Zeichen“, wie auch der Titel seiner Studie. 75 Vgl. die von Caspar Battegay organisierte Tagung zu „Utopie in der deutsch-jüdischen Literatur: Möglichkeit, Ordnung, Diaspora“, Institut für Jüdische Studien, Universität Basel, 9./10. Juni 2014. Battegay schlägt im Ausschreibungstext vor, „eine Gemeinschaft in der Diaspora“ nach dem Modell von Robert Musils „Möglichkeitssinn“ zu verstehen als eine, die „alles [denkt], was ebensogut sein könnte“.
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Ein zentraler Unterschied zu einem prototypisch konstruierten politischen Zionismus oder einheitlich auf eine Staatsgründung ausgerichteten zionistischen Diskurs76 ist die differenziertere Haltung des Kulturzionismus zur Rolle der Diaspora. Bei Achad Haam selbst ist diese ambivalent, da er zwar davon ausgeht, dass der jüdische „Volksgeist“ entgegen der Stereotype einer Degeneration der jüdischen Kultur im Ghetto in ihr nicht versiegt sei und dennoch schöpferische Werke entstanden seien, vor allem während der Haskala (der jüdischen Aufklärung). Gleichzeitig hält er eine wirkliche Entfaltung des „Volksgeistes“ nur im eigenen Land für möglich. Entsprechend soll seiner Meinung nach in der Dia spora keine zionistische „Gegenwartsarbeit“77 geleistet werden, die zur Verbesserung der materiellen und politischen Lage des jüdischen Volkes führen könnte. Kulturelle Arbeit müsse aber in der Diaspora durchgeführt werden,78 denn jeder „verlorene Funken“ jüdischer Kreativität sei ein „nationaler Verlust“, der verhindert werden müsse. Achad Haam bezeichnet es als „die eigentliche zionistische Arbeit“ (1916 [1902], S. 138), alle kulturellen Bestrebungen zu sammeln und aufzubewahren. Prinzipiell können dabei auch Nichtzionist/innen und sogar Nichtjuden und Nichtjüdinnen mitarbeiten. Das Kunst- und Literaturschaffen wird innerhalb dieser Parameter aber tendenziell eingeschränkt, denn nach Achad Haams Modell sollen nur nationaljüdische Themen aus dem Volksgeist und allein in hebräischer Sprache bearbeitet werden. Die deutschsprachigen Kulturzionist/innen weichen von Achad Haams Konzeption vor allem darin ab, dass sie „Gegenwartsarbeit“ und „Verwirklichung“ zu zentralen Kategorien ihrer Erneuerungsbestrebungen machen und Kulturarbeit in der Diaspora befürworten. Das Konzept eines „geistigen Zentrums“ spielt zunehmend eine untergeordnete Rolle. Buber transformiert Achad Haams Ideen in ein Konzept, das zunächst an der persönlichen Entwicklung einer modernen, lebendigen und schöpferischen jüdischen Identität interessiert ist, die eine Erkenntnis der Volkszugehörigkeit und eine Selbstermächtigung zu Wissen über die Tradition einschließt (vgl. die Jüdische Lehrhausbewegung von Franz Rosenzweig) und bis hin zu einer individuellen jüdischen Religiosität reicht. Für diese Entwicklung ist die programmatische Überwindung der Grenze von Kunst/Literatur zum Leben, und z.T. zur Politik, zentral. Entsprechend verstehen sich viele der kulturzionistischen Protagonist/ innen selbst als Dichter/innen bzw. Künstler/innen. Dabei spielen utopische und 76 Vgl. Philipp Theisohn: Urbarkeit der Zeichen, der diesen Aspekt als Kriterium verwendet, um zu definieren, was zionistisch ist und was nicht 77 Der Begriff „Gegenwartsarbeit“ bezeichnet im zionistischen Diskurs die Frage, ob wesentliche Aspekte der (kultur-)zionistischen Aufgabe in der Diaspora zu leisten sind oder nur in Palästina erfolgreich sein können. 78 Achad Haam: Die Renaissance des Geistes [1902], S. 137 f.
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messianische Aspekte und der Bezug auf die prophetische Tradition eine wichtige Rolle. Dies betrifft sowohl die ethischen Aspekte als auch die Situierung des prophetischen Modells an der Grenze von Leben und Werk, die es anschließbar an die Avantgarden macht. Außerdem sind intertextuelle und konzeptuelle Bezüge auf die jüdische Tradition, u.a. den Chassidismus und die Kabbala, sowie Schreibverfahren der rabbinischen Tradition und die (deutsch-)jüdische Literatur von Bedeutung. Eine zentrale Abweichung von Achad Haams Konzeption ist darüber hinaus, dass die Kulturzionist/innen ein jüdisches Schreiben in deutscher Sprache für möglich bzw. notwendig halten. Hier finden sich zwar durchaus gegenteilige programmatische Aussagen, u.a. von Martin Buber in seiner Rede auf einer Konferenz für hebräische Sprache und Kultur (1909).79 In dieser Rede verbindet Buber die hebräische Sprache mit der „schöpferischen Funktion des Volkgeistes“. Er vertritt die Ansicht, dass der Einzelne nur durch die Wiederbelebung und Aufnahme der hebräischen Sprache in das eigene Leben „der innersten Form seines Daseins nach Jude“ sein könne (MBW 3, 212). Das bedeutet, dass schöpferische jüdische Identität konsequent geschlussfolgert, nur in hebräischer Sprache möglich ist. Bubers eigene Praxis beweist jedoch eine gegenteilige Position. Er selbst hat bis zu seiner Emigration nach Jerusalem in deutscher Sprache publiziert und in deutscher Sprache zur „jüdischen Erneuerung“ beigetragen. Zusammen mit Franz Rosenzweig erprobt er mit der Bibelübersetzung außerdem die Möglichkeit einer Hebraisierung der deutschen Sprache, d.h. eine Übertragung hebräischer Sprachqualitäten auf die deutsche Sprache.80 Der Vorschlag, eine jüdische Nationalliteratur ohne eine einheitliche jüdische Nationalsprache zu entwickeln, lässt sich indirekt den Ausführungen von Moritz Goldstein zur Situation von Juden in der deutschen Kultur in seinem berühmten Essay „Deutsch-jüdischer Parnaß“ (1912) in der Zeitschrift Kunstwart entnehmen, der die sogenannte „Kunstwart-Debatte“ anstößt.81 Goldstein thematisiert im öffentlichen Raum das Dilemma, in dem sich kulturschaffende deutsche Juden 79 Martin Buber: Die hebräische Sprache und der Kongreß für hebräische Kultur. In: MBW 3, S. 211–218. 80 Vgl. hierzu und zu weiterführender Literatur: Ran HaCohen: Einleitung. In: MBW 14: Schriften zur Bibelübersetzung, S. 11–34, hier S. 25 f. Für die Perspektive der Postcolonial Studies vgl. Naomi Seidman: Faithful Renderings. Jewish-Christian Difference and the Politics of Translation. Chicago, London 2006, S. 177 f., sowie Alfred Bodenheimer: Grabmal? Gastgeschenk? Die Buber-Rosenzweigsche Verdeutschung der Schrift als Projekt jüdischer Authentizität. In: Judaica. Beiträge zum Verstehen des Judentums (2003), H. 1, S. 2–11. 81 Moritz Goldstein: Deutsch-jüdischer Parnaß. In: Der Kunstwart. Rundschau für alle Gebiete des Schönen. Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben, Jg. 25 (März 1912), H. 11, S. 281–294. Vgl. Julius H. Schoeps (Hg.): Deutsch-jüdischer Parnaß. Rekonstruktion einer Debatte. Berlin 2002.
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seiner Einschätzung nach befinden, nämlich „daß deutsche Kultur zu einem nicht geringen Teil jüdische Kultur ist“ (291), der Beitrag von Juden aber nicht anerkannt bzw. gar nicht gewünscht werde, so dass – polemisch zugespitzt – folgende paradoxe Situation gegeben sei: „Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und die Fähigkeiten dazu abspricht.“ (283) Für die Frage nach der Sprache einer jüdischen Literatur bringt Goldstein ein pragmatisches Argument vor: „Denn wir deutschen Juden, wir heute Lebenden, wir können ebensowenig hebräische Dichter werden, wie wir nach Zion auswandern können.“ (291) Für die Literaturproduktion von Juden (und Jüdinnen) empfiehlt er aus kulturzionistischer Perspektive „Palliative“, wie „sich laut und rücksichtslos, ich möchte beinah sagen schamlos als Jude bekennen“ (292), „überall und unbedingt als Jude wirken“ (292), die Behandlung jüdischer Stoffe (293) (wobei jüdische Kunst nicht mit der Behandlung jüdischer Stoffe identisch sei) sowie „die Schaffung eines neuen Typus Jude, neu nicht im Leben, sondern in der Literatur“ (293). Deutlicher finden sich seine Überlegungen zu dem Ziel, „eine Nationalliteratur zu begründen ohne Nationalsprache“ (5) in der Broschüre Begriff und Programm einer jüdischen Nationalliteratur:82 Welche Sprache also ist unsere Nationalsprache? Die Antwort heisst: Keine und jede, welche Juden als ihre Muttersprache sprechen. […] [Wir] dürfen uns nicht auf eine Sprache beschränken. Denn die Träger der jüdisch-nationalen Kultur sprechen nicht eine Sprache und haben ihre Leistungen nicht in einer Sprache niedergelegt. (5)
An diese Überlegungen anschließend heißt es weiter: „Entsprechend können auch die in deutscher Sprache dichtenden Juden dem Kulturzionismus dienen“ (7). Obwohl viele Protagonist/innen des Kulturzionismus und sich assoziierende Autor/innen versuchen, Hebräischkenntnisse zu erwerben, und einige durchaus nach Palästina auswandern, bietet der Kulturzionismus dennoch den Rahmen, jüdische Literatur in deutscher Sprache zu produzieren, und damit zum Projekt der Erneuerung der jüdischen Tradition beizutragen. Ebenso integriert werden Konzepte, eine hebräische Qualität in der deutschen Sprache zu entwickeln. So verbindet Lasker-Schülers poetologischer Entwurf (und dessen Rezeption) mit der Bezeichnung „Hebräisch“ bestimmte poetische und ethische sowie avantgardistische Implikationen, die, in der Nachfolge Heinrich Heines, ‚hebräisches‘ Schreiben in deutscher Sprache ermöglichen. 82 Moritz Goldstein: Begriff und Programm einer jüdischen Nationalliteratur. Berlin: Jüdischer Verlag [1912].
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Neben diesen zentralen Modifikationen lassen sich ebenso Anschlüsse an zentrale Punkte von Achad Haams Entwurf eines „geistigen Zionismus“ beo bachten, vor allem an das Modell des Prophetischen sowie spätestens ab den 1920er Jahren und eng damit verbunden an seine Betonung ethischer Aspekte. So hatte Achad Haam schon früh die arabische Position in Palästina angemessener und kritischer berücksichtigt als z.B. Herzl,83 wie sein Essay Die Wahrheit aus Palästina (1891) erkennen lässt. Eine entsprechende ethische, (hebräisch) humanistische, universalistische Ausrichtung und die zunehmende In-den-BlickNahme ‚des Anderen‘ wird spätestens im Zuge von Bubers Hinwendung zur Dialogphilosophie in den 20er Jahren (Ich und Du, 1923)84 für den Kulturzionismus manifest. Entsprechend sind es dem Kulturzionismus nahestehende Protagonisten wie Hugo Bergmann, Martin Buber, Ernst Simon, Gershom Scholem und Robert Weltsch, die in Palästina mit der Vereinigung „Brit Schalom“ ab 1925 die Idee eines binationalen jüdisch-arabischen Staates in Palästina propagieren.85 Für poetologische Modelle im Kontext des Kulturzionismus ist das Fruchtbarmachen des prophetischen Modells86 zentral, das sich an avantgardistische Modelle unter dem Gesichtspunkt anschließen lässt, dass ein Prophet/eine Prophetin ebenfalls an der Grenze von Wort und Leben agiert und im eigenen Leben ein zukünftiges Ideal schon im Hier und Jetzt realisiert. Ein Bezug auf prophetische Modelle lässt sich dabei schon für Herzl oder dessen zeitgenössische Rezeption als moderner Moses beobachten.87
83 Vgl. Achad Haam: Die Wahrheit aus Palästina [1891]. In: Am Scheidewege. Bd. 1, 86 f. Vgl. auch Paul Mendes-Flohr: Kulturzionismus, S. 455, 457. 84 Vgl. hier die Einschätzung von Philipp Theisohn: Urbarkeit der Zeichen, S. 281. 85 Lasker-Schüler steht in ihrer politischen Haltung, wie sie in Briefen aus ihrer Exilzeit und in den Aussagen der autobiographisch mit Lasker-Schüler verbundenen Ich-Erzählerin zu einem friedlichen Zusammenleben von Juden und Arabern in Palästina in Das Hebräerland (1937) zum Ausdruck kommt, der Vereinigung „Brit Schalom“ nahe. Sie ist mit zentralen Protagonisten befreundet und lädt sie zu den Veranstaltungen des von ihr in Jerusalem gegründeten Vortragskreises der „Kraal“ ein, so z.B. Martin Buber, Ernst Simon und Hugo Bergmann. Zur politischen und ethischen Haltung von „Brit Schalom“ vgl.: Shalom Ratzabi: Between Zionism and Judaism. The Radical Circle in Brith Schalom 1912–1933. Leiden, Boston, Köln 2002. 86 Vgl. für die neuhebräische Literatur: Reuven Shoham: Poetry and Prophecy. The Image of the Poet as a „Prophet“, a Hero and an Artist in Modern Hebrew Poetry. Leiden, Boston 2003 und Dan Miron: The Prophetic Mode in Modern Hebrew Poetry and other Essays on Modern Hebrew Literature. New Milford, London 2010. 87 Herzl sieht sich u.a. selbst in der Rolle Moses’. Vgl. Michael Brenner: Geschichte des Zionismus, S. 34.
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Achad Haam gibt ein Anknüpfen an die prophetische Tradition88 als möglichen Weg vor, womit er ethische und poetologische Aspekte meint, jedoch an die jüdisch-messianische Tradition anknüpft.89 Als letzte hier zu zitierende Polemik gegen den „politischen Zionismus“ hat er sie in die poetologisch umsetzbare Formel gebracht hat: „Israels Erlösung wird durch ‚Propheten‘ geschehen, nicht durch ‚Diplomaten‘ …“.90 Die deutschsprachigen Kulturzionist/innen betonen die Nähe von Achad Haams prophetischem Modell zur angestrebten Überwindung der Grenze von Leben und Werk und verbinden es mit prophetischen Dichtungsentwürfen der europäischen, deutsch-jüdischen und expressionistischen Dichtungstradition. Im Kontext der Avantgarden werden noch weitere jüdische Traditionsbestände in relativ freier Kombination hinzugefügt, so bei Buber z.B. der Chassidismus, bei anderen Autor/innen die „Urtexte“ der hebräischen Bibel wie das Hohelied und die Psalmen sowie „königliche“ oder jüdisch-eigenstaatliche Konzepte in der Nachfolge König Davids, der als Verfasser der Psalmen gilt. Insgesamt bietet der kulturzionistische Diskurs erweiterte Möglichkeiten für Literatur- und Kulturproduktion im Kontext des zionistischen Diskurses sowie für die Entwicklung poetologischer Modelle in Auseinandersetzung mit dem Ziel einer „Erneuerung“ der jüdischen Tradition. Der Zionismus erscheint aus dieser Perspektive weniger als unmittelbar auf die Gründung eines „Judenstaates“ fokussiertes nationaljüdisches Unternehmen. Eine künstlerische oder literarische Auseinandersetzung mit dem (kultur-)zionistischen bzw. kultur-/zionistischen Diskurs kann entsprechend weniger leicht als ideologisches Bekenntnis interpretiert werden. Gerade durch die Verwendung der deutschen Sprache bzw. deren tendenzieller ‚Hebraisierung‘ und die Nähe zur Entwicklung der historischen Avantgarde bietet der Kulturzionismus vielfältige Möglichkeiten der Auseinandersetzung. Umso mehr, wenn von den betreffenden Autor/innen eine Identifikation bzw. Selbstinszenierung als jüdische/r Autor/in vorgenommen werden 88 Dies lässt sich für die Selbstinszenierung bzw. Rezeption Achad Haams beobachten. Arnold J. Band beschreibt die Wirkung von Achad Haams modernem Hebräisch als „Sinaitic or Mosaic [tone]“ und argumentiert, dass Achad Haam besonders in seinem Essay über Moses ein „mosaic self-image“ entwickelt habe. Arnold J. Band: The Ahad Ha-Am and Berdyczewski Polarity. In: At the Crossroads, S. 49–59, hier S. 55 und S. 57. Kornberg bezeichnet Achad Haam als „national educator, a moral teacher and guide“. Jacques Kornberg: An Introductory Essay. In: At the Crossroads, S. XV. Der neuhebräische Dichter Chaim Nachman Bialik, enger Freund Achad Haams, nennt ihn nach seinem Tod: „the only true teacher of his generation. A Maimonides of the modern age.“ Zitiert nach: Steven J. Zipperstein: Elusive Prophet, S. 324. 89 Zu Achad Haams prophetischem Selbstbild als Schriftsteller vgl. Steven J. Zipperstein: Elusive Prophet. 90 Achad Haam: Der erste Zionistenkongreß [1897]. In: Ders.: Am Scheidewege. Bd. 2, S. 1–6, hier S. 6.
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kann, bzw. im Kontext der (antisemitischen) Fremddefinition von außen sich als Thema der deutsch-jüdischen Literatur aufdrängt. Dabei rücken die historisch zu beobachtende Vielfalt der (kultur-)zionistischen Entwürfe und deren prinzipielle Situierung im Spannungsfeld von Literatur und Politik und ebenso zentral zwischen Imagination und „Verwirklichung“ (Buber) bis hin zu Phänomenen von „Urbarkeit“91 oder gerade explizit als intertextuelle Modelle wie bei LaskerSchüler in den Vordergrund. Das avantgardistische Potenzial eines als eigenständiges Phänomen betrachteten deutschsprachigen Kulturzionismus ist im Folgenden anhand der Untersuchung wichtiger Schlüsseltexte und historischer Schlüsselmomente im Rahmen der Etablierung einer Oppositionsbewegung um die „Demokratische Fraktion“ genauer darzustellen. II.2 Das avantgardistische Selbstverständnis des frühen Kulturzionismus II.2.1 Bohème, Avantgarde und Kulturzionismus
Für die „Jüdische Renaissance“ in Berlin um 1900 ist die Verbindung von „Caféhaus und Zionismus“ zentral.92 Gerade hier, im Caféhaus, treffen Dichter/innen und Künstler/innen mit Zionist/innen zusammen, und letztere sind an literarischen und künstlerischen Arbeiten interessiert bzw. oft selbst literarisch oder künstlerisch tätig. Wie selbstverständlich sich zionistische Redner um 1900 in den Kreisen aus Caféhauskultur, Bohème und Lebensreform93 bewegten, mag die an Börries von Münchhausen94 gerichtete Einladung Else Lasker-Schülers illustrieren: 91 Philipp Theisohn: Urbarkeit der Zeichen. 92 Inka Bertz: Jüdische Renaissance, S. 156 f.: „Fast könnte man […] für Berlin um 1900 von einer Mischung zwischen ‚Salonkultur und Zionismus‘ sprechen. Dabei waren die Grenzen zwischen Zionisten und Künstlern durchaus fließend“. 93 Zum Zusammenhang von Bubers frühen Schriften mit der Lebensphilosophie um 1900 vgl. Yotam Hotam: Moderne Gnosis und Zionismus. Kulturkrise, Lebensphilosophie und nationaljüdisches Denken. Göttingen 2010. 94 Börries von Münchhausen (1874–1945) war ein sächsischer Aristokrat, der sich intensiv für die Wiederbelegung der deutschen, völkischen Ballade einsetzte. Er vertrat nationalistische und völkische Werte, die ihn zur Wertschätzung zionistischer Positionen führte. 1900 veröffentlichte von Münchhausen den Gedichtband Juda, in dem er das antike jüdische Erbe feiert. Ders. und E. M. Lilien: Juda. Goslar: F. A. Lattmann. 1900. Der Band wurde durch die Jugendstil-Illustrationen des kulturzionistischen Graphikers E. M. Lilien begleitet und setzte Standards für die jung-jüdische und kulturzionistische Lyrik, Illustration und Publi-
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Der deutschsprachige Kulturzionismus
Herr Baron! Morgen sind wir versammelt im Westendcafé (Kurfürstendammeck) nicht zu verwechseln mit dem Café des Westens, Kantstr. – ebenfalls nicht mit dem Göthecafé. Zwei Anführer des Zionismus werden dort sein, Dr. H. Löwe und ein Amerikaner ‚Tritsch‘. Ich erzählte Letzterem von Ihren Gedichten, Herr Baron, und er wird Dr. L. extra veranlassen, morgen mitzukommen. Mit verbindlichem Gruße, Herr Baron, Else Lasker-Schüler. (9 Uhr abends.)95
Für die Verbindung von Kulturzionismus und historischer Avantgarde erweist sich die Bohème als Übergang. Sie ist als Geburtsstätte und Resonanzraum der wichtigsten deutschsprachigen Avantgardebewegungen (Expressionismus und Dadaismus) beschrieben worden96 und war ebenfalls ein wichtiger Einflussfaktor für den deutschsprachigen Kulturzionismus.97 So hatten u.a. Martin Buber, der um 1900 im Kreis der „Neuen Gemeinschaft“ der Brüder Heinrich und Julius Hart verkehrte, und E. M. Lilien als Mitglied der literarischen und kulturellen Gesellschaft „Die Kommenden“ Kontakt zur Berliner Bohème.98 Beide
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kationsqualität. Zur Wirkung auf die frühe Lyrik Lasker-Schülers und zur Rolle von Münchhausen im Nationalsozialismus vgl. Kapitel III. Zur Zusammenarbeit von Lilien und von Münchhausen vgl. Mark H. Gelber: Melancholy Pride, S. 87–124. Postkarte von Else Lasker-Schüler an Börries von Münchhausen vom 15. Juni 1899 (KA 11, 374). Vgl. ebenso die Postkarte vom 17. Juni 1899, die eine weitere Einladung enthält, da man sich zuvor doch im Café des Westens getroffen hatte: „Die Zionisten sind auch dort.“ (Ebd.) Gemeint sind die Zionisten Heinrich Loewe und Davis Trietsch, die sich beide sehr früh zionistisch engagierten und dabei stark vom osteuropäischen „geistigen Zionismus“ Achad Haams beeinflusst waren, der auch der Vorläufer des hier untersuchten deutschsprachigen Kulturzionismus ist. Helmut Kreuzer: Die Bohème. Beitrag zu ihrer Beschreibung. Stuttgart 1968, sieht in der Bohème die „sozialgeschichtliche Grundlage der Avantgarden“. Michael Grisko: Boheme. In: Metzler Lexikon Avantgarde. Hrsg. v. Hubert van den Berg und Walter Fähnders. Stuttgart, Weimar 2009, S. 56–58, hier S. 57, konstatiert „z.T. kausale Zusammenhänge zwischen antitraditionalistischer Avantgarde und B[oheme]“. Vgl. ebenso Georg Bollenbeck: Die Avantgarde als Boheme. Ein Diskussionsvorschlag. In: Erkundungen. Beiträge zu einem erweiterten Literaturbegriff. Helmut Kreuzer zum sechzigsten Geburtstag. Hrsg. v. Jens Malte Fischer, Karl Prümm u. Helmut Scheuer. Göttingen 1987, S. 10–35. Die Verbindung von Bohème und Kulturzionismus betont auch Inka Bertz: Jüdische Renaissance, S. 158. Diese Verbindung hat Valentina Di Rosa aus literaturwissenschaftlicher Perspektive detaillierter untersucht. Zur Problematik ihrer Sicht auf den Kulturzionismus vgl. Kapitel I. Forschungsüberblick. Valentina Di Rosa: „Begraben sind die Bibeljahre längst“. Diaspora und Identitätssuche im poetischen Entwurf Else Lasker-Schülers. Aus dem Ital. übers. von Susanne Koopmann. Paderborn 2006.
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genannten lebensreformerischen Gruppierungen konnten zu dieser Zeit auch Lasker-Schüler zu ihren Mitgliedern zählen. Die Protagonist/innen des Kulturzionismus nahmen unter dem Schlagwort der „Jüdischen Renaissance“ aktiv am Geflecht der gegen- und nachnaturalistischen Strömungen um die Jahrhundertwende Anteil. Jugendstil,99 Nietzsche-Rezeption, Bohème und Lebensreform, sozialistische Theorien, aber auch sozialaristokratische Elemente gehen in das Projekt „Jüdische Moderne“ (Nathan Birnbaum100 1896) oder „Jüdische Renaissance“ (Martin Buber 1901) ein. Wie selbstverständlich dieser Hintergrund ist, wird daran deutlich, dass Buber während seiner Arbeit als Redakteur des zionistischen Zentralorgans Die Welt von September bis Dezember 1901 dem Herausgeber Theodor Herzl als zuständig galt für „die Literatur von Boheme, Frauenemanzipation und Lebensreform“.101 Die wichtigsten programmatischen Verbindungselemente zwischen Bohème und Avantgarde sind die Forderung nach einer Verschmelzung von Kunst und Leben und der damit verbundene Anspruch, von der Kunst ausgehend die Gesellschaft zu verändern und eine „neue Kunst“ und einen „neuen Menschen“ zu schaffen. Diese Schlüsselbegriffe werden im Kulturzionismus in eine nationaljüdische Richtung gewendet und tragen dazu bei, avantgardistische Potenziale und Methoden im Kontext der jüdischen Tradition zu entwerfen. Neben der schon von Peter Bürger (1974) herausgehobenen Verbindung von Kunst bzw. Literatur und Leben102 gibt es weitere nach dem heutigen Stand der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung kanonisierte Charakteristiken der historischen Avantgarde,103 die sich auf den Kulturzionismus übertragen
99 Prominent und stilbildend verbindet der Graphiker E. M. Lilien Jugendstilelemente und kulturzionistische Thematik, u.a. in seinen Illustrationen zu Börries von Münchhausens Juda (1900). Diese Illustrationen hat Mark C. Gelber einschlägig im Kontext des Kulturzionismus untersucht. Vgl. Mark H. Gelber: E. M. Lilien und die jüdische Renaissance. In: Bulletin des Leo-Baeck-Instituts. 1990, H. 87, S. 45–53. 100 Nathan Birnbaum (Mathias Acher): Die jüdische Moderne. Vortrag gehalten im akademischen Vereine „Kadimah“ in Wien. Leipzig 1896. 101 Herzl begrüßte den Einfluss dieser neuen Initiative zunächst, wobei er versucht, das Potenzial der jungen Akteure (Martin Buber und Berthold Feiwel) für die zionistische Bewegung zu nutzen und zu begrenzen, bis es 1903 über die Altneuland-Kontroverse zum Bruch kam. Martin Treml: Einleitung. In: MBW I, S. 49. 102 Zur Positionierung des hier verwendeten Avantgardebegriffs in der aktuellen und historischen Avantgarde-Forschung vgl. den entsprechenden Unterpunkt im Kapitel I. 103 Vgl. den Merkmalkatalog bei Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne, S. 123–207. Es ist in gewisser Weise absurd, einen Merkmalkatalog für die Kunst der Avantgarden auszustellen und widerspricht deren Kunstauffassung. Aus historischer Perspektive lassen sich jedoch ‚typische‘ Merkmale beobachten, die im literaturwissenschaftlichen Fachdiskurs pragmatischen zur Epochen- oder Strömungsabgrenzung genutzt werden.
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lassen.104 So tritt der Kulturzionismus als dezidierte und durch die programmatisch angestrebte Verbindung von ‚Ost-‘ und ‚Westjudentum‘ internationale Gruppenbewegung mit einer kunst- und sozialrevolutionären Programmatik auf und verbreitet diese in Grundsatzerklärungen oder Manifesten verbunden mit einem avantgardistischen Selbstverständnis. Die kulturzionistischen Protagonist/innen vollziehen den Bruch mit bestimmten Aspekten der jüdischen Tradition und entwerfen das Konzept einer neuen jüdischen Kunst und eines neuen jüdischen Menschen. Sie beteiligen sich an der Auflösung der Grenze von Kunst und Leben einschließlich der Politisierung beider Bereiche. Dabei geben sie einer Zukunftsdimension Ausdruck, indem sie anstreben, ein in der jüdischen messianischen Tradition stehendes antizipatorisches Potenzial schon in der Gegenwart zu realisieren (vgl. Kapitel II.3.3). Als weniger relevant erweisen sich radikale ästhetische Innovationen. Es lassen sich aber durchaus frühe Versuche der Gattungsüberwindung, der Tendenz zum Gesamtkunstwerk und zur Theatralisierung des Lebens nachweisen sowie Elemente der Auflösung des Werkbegriffs, vor allem bei Martin Buber, der in späteren Jahren betont, keine Lehre zu haben, sondern ein Gespräch zu führen.105 Hinzu kommt ein, schon um 1900 im Feindbild der Assimilation präsenter, später besonders in der zionistischen Jugendbewegung, gerade nach dem Ersten Weltkrieg populärer, antibürgerlicher Impuls.106 Das Bild des zionistischen Bürgerschrecks beschreibt der dem Zionismus nahestehende Autor und Rechtsanwalt Sammy Gronemann anschaulich am Beispiel des oben erwähnten frühen und stark engagierten Zionisten Heinrich Loewe zu dessen 75. Geburtstag: Lange vor Herzl und vor organisierter Verwirrung der Gefühle hat er auf eigene Faust für sich den Judenstaat etabliert, hat er mitten im deutschesten Deutschland, d.h. mitten in der deutschen Israelite, angefangen, Hebräisch zu reden und jüdisch zu wirken, verlacht, misstrauisch angesehen, allgemeines Kopfschütteln erregend. Urplötzlich taucht dieser schlanke Jüngling in den sittsamen Versammlungen braver Staatsbürger jüdischen Glaubens auf, er, ‚der Sünde fluchbeladener Sohn‘, keck und unbekümmert sein Lied singend,
104 Eine Verbindung zwischen „Jüdischer Renaissance“ und Avantgarde um 1900 betont aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive Inka Bertz: Jüdische Renaissance, S. 156. 105 Martin Buber: Aus einer philosophischen Rechenschaft. In: Ders.: Werke. Bd. I: Schriften zur Philosophie. München, Heidelberg 1962, S. 1109–1122, hier S. 1114. 106 Gershom Scholem hat „ein Rebellieren gegen die Atmosphäre der mittleren Bürgerschicht“, meist der eigenen Familie, als wichtige Motivation genannt, sich dem Zionismus anzuschließen. Gershom Scholem: Es gibt ein Geheimnis in der Welt. Tradition und Säkularisierung. Ein Vortrag und ein Gespräch. Hrsg. v. Itta Shedletzky. Frankfurt/Main 2002, S. 51. Inka Bertz: Jüdische Renaissance in Berlin, S. 150, hat die „Jüdische Renaissance“ der Krise des Bürgertums zugeordnet.
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eine jüdische Parole herausschmetternd, dass die Perrücken wackeln und dass den guten Bürgern bald schwarz, bald blau-weiss vor den Augen wird.107
Diese groben Verbindungslinien zwischen Bohème, früher historischer Avantgarde und Kulturzionismus gilt es im Folgenden in der Analyse einzelner kulturzionistischer Schlüsseltexte deutlicher herauszuarbeiten. Dabei zeigt sich, dass die kulturzionistischen Protagonist/innen und die Autor/innen und Künstler/ innen, die in Auseinandersetzung mit dem kulturzionistischen Diskurs arbeiten, einen wichtigen Anteil an der Entwicklung der Formensprache der historischen Avantgarde aus der jüdischen Tradition heraus hatten.108 II.2.2 „Die Avantgarde des Zionismus“
Wichtiges Merkmal der historischen Avantgarden ist ein Selbstverständnis als Vorreiterbewegungen, dessen Vorläufer im Stilpluralismus der Jahrhundertwende zu finden ist, in dem sich die verschiedensten literarischen und künstlerischen Strömungen gegen den Naturalismus und gegeneinander absetzten. Ein entsprechendes Selbstverständnis, das sich auf die Definition des Avantgardebegriffs in einem politischen und künstlerischen Sinn mit Vorläufern im Frühsozialismus des 19. Jahrhunderts bezieht, lässt sich im frühen Kulturzionismus beobachten. Zunächst ist deutlich, dass sich die Protagonisten im Umkreis der „Demokratischen Fraktion“ Begriffe für ihre Bewegung wählen, die den Kulturzionismus als eine genuin moderne Bewegung oder Teil einer genuin modernen Kulturbewegung beschreiben, so die Begriffe „Jüdische Moderne“ (Nathan Birnbaum 1893), „jung-jüdische“ Bewegung (Berthold Feiwel 1903) oder „Jüdische Renais107 Sammy Gronemann: Heinrich der Löwe [1944]. In: Meilensteine. Vom Wege des Kartells Jüdischer Verbindungen (K.J.V.) in der Zionistischen Bewegung. Eine Sammelschrift. Im Auftrage des Präsidiums des K. J. V. hrsg. von Eli Rothschild. Tel Aviv 1972, S. 30–32, hier S. 30. 108 Der Kulturzionismus weist als nationalkulturelle Bewegung Elemente auf, die nach Georg Bollenbecks Klassifikation den Hauptargumentationsfiguren des Anti-Avantgardismus zuzurechnen sind: die Vorstellung, dass Kunst dem Volk entstamme, der individuellen und nationalkulturellen Bildung dienen solle und primär der Schönheit verpflichtet sei. Vgl. Georg Bollenbeck: Der negative Resonanzboden. Avantgarde und Antiavantgardismus in Deutschland. In: Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde, Avantgardekritik, Avantgardeforschung. Hrsg. v. Wolfgang Asholt u. Walter Fähnders. Amsterdam 2000, S. 467–504. Dazu ist anzumerken, dass um 1900 und bis zum Ersten Weltkrieg die Übergänge und Kontakte zwischen den einzelnen ideologischen Richtungen noch durchlässiger waren und die ‚klassischen‘ historischen Avantgarden z.T. durchaus politisch agierten bzw. nationalistische und völkische Anteile aufwiesen, prominent der italienische Futurismus.
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sance“ (Martin Buber 1901), definiert im Sinne einer „Wiedergeburt“ und verbunden mit dem „Kommen“ einer neuen allgemeinen „Schönheitskultur“.109 Ein explizit avantgardistisches Selbstverständnis dokumentiert eine Selbstcharakterisierung der Bewegung durch Berthold Feiwel (1875–1937), eine der zentralen Persönlichkeiten des Kulturzionismus. Er verwendet in seinem Artikel Stroemungen im Zionismus (1902) in der kulturzionistisch ausgerichteten Zeitschrift Ost und West direkt den Begriff Avantgarde: „Sie [die Gruppe der „demokratischzionistischen Fraktion“, Anm. B.M.K.] könnte man die Avantgarde des Zionismus nennen.“110 Diese Selbstbezeichnung bringt zum Ausdruck, dass unter den kulturzionistischen Protagonisten ein Bewusstsein darüber besteht, die Vorreiter einer Bewegung zu sein, wie es radikalisiert ein Hauptelement der historischen Avantgarden ist. Der Begriff Avantgarde wird von Feiwel dabei zunächst im ursprünglich militärischen Wortsinn als „kleine Vorhut“ verwendet. Dies markiert Feiwels ebenfalls militärisch konnotierter Verweis auf die „erste Gelegenheit zu einem solchen Kampfe“, als die er den V. Zionisten-Kongress 1901 bezeichnet.111 Feiwel verwendet den Begriff ‚Avantgarde‘ für den Kulturzionismus in seiner militärisch-politischen und fortschrittlich-künstlerischen Bedeutung, wie er von Vertretern des utopischen Sozialismus (den Saint-Simonisten und den Fourieristen) im 19. Jahrhundert erstmals auf die Rolle des Künstlers bezogen wurde, dem sie eine Vorreiterrolle bei der Vermittlung neuer fortschrittlicher Gedanken zuschrieben.112 Die Gruppe um die „Demokratische Fraktion“, die sich um eine jüdische Kunst und eine Erneuerung der jüdischen Tradition bemüht, wird somit von Feiwel mit einem Avantgardebegriff beschrieben, der dessen ins 19. Jahrhundert reichende Semantik als fortschrittliche und politisch engagierte Kunst und Literatur für sich reklamiert. Da die Protagonisten der „Demokratischen Fraktion“ z.T. an sozialistische Ideen anknüpfen, kann davon ausgegangen werden, dass 109 Martin Buber: Juedische Renaissance. In: MBW 3, S. 143. 110 Berthold Feiwel: Stroemungen im Zionismus, Sp. 694. Feiwel unterscheidet in seinem Artikel drei Richtungen innerhalb des politischen Zionismus, den palästinensischen, den osteuropäischen und den westeuropäischen Zionismus, wobei er die jüdische Moderne/die „demokratische Fraktion“ als Teil des osteuropäischen Zionismus als dritte Untergruppe neben Orthodoxie und „Chowewe-Zion“/praktischem Zionismus präsentiert. 111 Ebd. Buber verwendet in seinem Bericht an Paula Winkler vom 1.1.1902 vom V. ZionistenKongress, auf dem die „Demokratische Fraktion“ in Erscheinung getreten ist, ebenfalls den Begriff „Kampf“: „Es war ein großartiger Kampf, in dem unsere Minorität gesiegt hat, wenn auch unsere Spezialanträge (auch der auf Unterstützung des Verlags) durchgefallen sind.“ Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. In drei Bänden. Bd. 1: 1897–1918. Mit einem Geleitwort von Ernst Simon und einem biographischen Abriß von Grete Schaeder. Hrsg. v. Grete Schaeder. Heidelberg 1972, S. 171. 112 Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne. 2., akt. u. erw. Ausgabe. Stuttgart, Weimar 2010, S. 199, nennt 1825 Olinde Rodrigues und 1845 Gabriel Désiré Laverdant.
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diese Konnotation der Selbstbezeichnung und der damit verbundenen Vorbilder von Feiwel intendiert ist.113 II.2.3 „Die Ersten“: kulturzionistische und „jung-jüdische“114 Lyrik
Dieses avantgardistische Selbstverständnis lässt sich ebenfalls an literarischen Beispielen zionistischer und jung-jüdischer Lyrik nachweisen.115 Lyrik ist zunächst die Hauptgattung (kultur-)zionistisch orientierter Literatur, wobei zwischen Gedichten unterschieden werden muss, die sich deutlicher der von Ludwig Strauß116 geprägten Kategorie einer nationaljüdischen Dichtung als „üble Hurrahlyrik in unseren Reihen“117 zuordnen lassen und Gedichten, die sich differenzierter und poetologisch mehrdeutiger der angestrebten „Erneue rung“ der jüdischen Tradition widmen. Erstere finden sich u.a. in den Chanukka-Ausgaben des zionistischen Zentralorgans Die Welt118 und thematisieren 113 Nach Feiwel: Stroemungen im Zionismus, Sp. 694, wird die „Jüdische Moderne“ durch eine Jugend repräsentiert, die „kulturell europäisch und durch den Achad-Haamismus“, sozial durch „das Hindurchschreiten durch die modernen sozialen Bewegungen“ bis hin zu einem „geläuterten Sozialismus“ geprägt ist. 114 Der Begriff „jung-jüdisch“ ist eine Selbstbezeichnung der betreffenden Autoren, die im Folgenden ohne Anführungszeichen verwendet wird. Vgl. zum Begriff Mark H. Gelber: The jungjüdische Bewegung: An Unexplored Chapter in German-Jewish Literary and Cultural History. In: Yearbook. Leo Baeck Institute, 31 (1986), S. 105–119. 115 Der Begriff „zionistische“ Lyrik wird hier für Gedichte verwendet, die ein zionistisches Narrativ verfolgen oder den heroischen Aspekt in den Vordergrund stellen. Sie erscheinen in der Welt, meist in den Feiertagsbeilagen. Als jung-jüdisch bezeichne ich Lyrik, die u.a. von Feiwel und Buber unter diesem Begriff in die ersten programmatisch kulturzionistischen Publikationen aufgenommen wurde. Sie unterscheidet sich meist qualitativ in der Komplexität ihrer Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition. 116 Ludwig Strauß (1892–1953) war ein deutsch-jüdischer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, der sich schon früh zionistisch engagierte. Er heirate Eva Buber, die Tochter von Martin und Paula Buber, geborene Winkler. 1933 als Privatdozent der Universität Aachen entlassen, emigrierte er 1935 ins Britische Mandatsgebiet Palästina. 117 Ludwig Strauß: Für Else Lasker-Schüler. In: Die Freistatt, (April 1913) H. 1, S. 69. Strauß entwickelt die Kategorie der zionistischen „Hurrahlyrik“ in einer Würdigung der Lyrik Lasker-Schülers in einem nationaljüdischen und kulturzionistischen Kontext. Ihr Gedichte bezeichnet er in Abgrenzung als „wirkliche[ ] Dichtung, die vielleicht nicht dem Willen aber dem Wesen nach jüdisch ist“. Strauß’ Text ist dem 1913 erschienen Spendenaufruf für Lasker-Schüler angefügt, den u.a. Pauline Fürstin zu Wied, Selma Lagerlöf, Richard Dehmel, Karl Kraus, Adolf Loos und Arnold Schönberg unterzeichnet haben. Ebd., S. 68 f. 118 Herzl sah von Beginn an literarische Beiträge in der Welt vor. Feiwel und Buber bauten diesen Bereich unter ihrer Redaktion von Oktober 1900 bis Dezember 1901 im Kontext ihrer kulturzionistischen Vorstellung aus. Generell erscheinen in der Welt 1900/1901 regelmäßig einzelne Gedichte, allerdings nicht in jeder Ausgabe der wöchentlich erscheinenden
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meist ein jüdisches Heldentum mit dem typischen nationalistischen Vokabular von Blut, Fahnen, Boden und Heimat und verwenden eher einfache und eingängige Rhythmen und Reimschemata. Entsprechend findet sich unter den Lyrikbeiträgen, die im Juedischen Almanach 5663 und in die erste Sammlung jung-jüdischer Lyrik Junge Harfen (1903) aufgenommen wurden, keiner, der sich der Chanukka-Thematik widmet. So wird z.B. in J. C. Boruchowischs Gedicht Traum, das Feiwel aus dem Jiddischen übertragen hat, charakteristisch „Muth“ auf „Blut“ gereimt und die zionistische Botschaft insgesamt eingängig und eher wenig komplex formuliert: Es wehen die Fahnen, es rauscht die Musik: „Wir kehren vom schrecklichen Golus zurück. […] Doch die Knechtschaft ist aus und das Elend vorbei, Und das Volk stand auf, und das Volk ward frei, Und es brachen die Ketten und fiel das Band – Wir kehren zurück in’s Heimatland.“119
Auf der anderen Seite finden sich viele Gedichte, die sich ihrem Gegenstand differenzierter nähern und deren Bezug auf die jüdische Tradition vielschichtiger ist. Letztere sind expliziter dem Kulturzionismus zuzurechnen und finden sich u.a. in dessen ersten programmatischen Publikationen Juedischer Almanach 5563 (1902/3) und Junge Harfen (1903), wobei viele der aufgenommenen Gedichte ebenfalls vorher in der Welt erschienen waren. Sie präsentieren sich jedoch thematisch weniger heroisch und setzen sich poetologisch mit Aspekten der Erneuerung der jüdischen Tradition auseinander.120 Dabei lässt sich feststellen, dass die dem zionistischen Diskurs nahestehende Lyrik gerade durch das Spannungsverhältnis zwischen meist heroischer Umdeutung und Aufwertung bestimmter Aspekte der Tradition auf der einen und poetologischen ReflexioZeitschrift. Besonders lyrikintensiv sind die Pessach- und Chanukka-Ausgaben, die das Fest der Befreiung aus Ägypten und die Wiedereinweihung des Zweiten Tempels in einen zionistischen Kontext einbetten. 119 J. C. Boruchowisch: Der Traum. Aus dem Jüdischen übersetzt v. Berthold Feiwel. In: Die Welt, 5. Jg. (15.3.1901), H. 11, S. 12. 120 Für diese idealtypische vorgestellte Unterscheidung lassen sich auch Gegenbeispiele finden. Auch in den programmatisch kulturzionistischen Publikationen finden sich Gedichte, die z.B. deutlich nationalistische Terminologie verwenden, wie das Gedicht Psalm von Leo Rafael, das deutliche Worte für die Aufbauarbeit in „Eretz Israel“ findet und eine jüdischnationalreligiöse Version der Blut-und-Boden-Terminologie liefert, indem das lyrische Wir davon spricht, mit „unserem Schweiße“ und „unserem Herzensblut“ Gottes „heiligen Boden“ zu „netzen“ (achte Strophe). Leo Rafael: Psalm. In: Junge Harfen. Eine Sammlung jungjüdischer Gedichte. Hrsg. v. Berthold Feiwel. Berlin: Juedischer Verlag 1903, S. 4f.
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nen auf der anderen Seite geprägt ist. Beide hier unterschiedenen Gruppen artikulieren jedoch, wenn auch in unterschiedlicher Weise, ein avantgardistisches Selbstverständnis. Als Beispiel für die erste Gruppe der zionistischen „Hurrahlyrik“ sei hier exemplarisch Max Fleischers Chanukka-Gedicht121 Makkabi zitiert: Makkabi Ich bin Judäas Waffenschmied, Mein Hammer in der Esse glüht. Ich schmiede Judäas goldene Zeit, Judäas Selbstheit und Einigkeit. Ich bin der Freiheit Riesensohn, Ich bin eine Ceder vom Libanon. Mein Wipfelhaupt umbraust der Sturm, Ich rage am Berge, ein einsamer Thurm Und blicke in stiller Majestät Hinab, wo die ewige Woge geht …122
Das Gedicht besingt den makkabäischen Heroismus mit phallischer Symbolik unter Verwendung der typischen eingängigen Reime und Rhythmen. Auffällig 121 Das als Lichterfest konzipierte Chanukka, das an das Wunder der Ölvermehrung zur Wiedereinweihung des Zweiten Tempels nach dem Sieg der Makkabäer über die mazedonischen Syrer erinnert, wurde von den Zionist/innen als Symbol nationaler Befreiung umgedeutet und als Fest jüdischen Heroismus und jüdischer Wehrhaftigkeit installiert. 1883 richtet die Studentenverbindung „Kadima“ in Wien die erste zionistische Makkabäerfeier an Chanukka aus. Bei dieser Umwidmung wurden die problematischen Aspekte der anschließenden makkabäisch-hasmonäischen Herrschaft ausgeblendet, die sich u.a. in der Gewaltenverschmelzung durch die gleichzeitige Übernahme der Ämter König und Hohepriester zeigt. Ebenso verdrängt wurde die durchaus produktive Auseinandersetzung mit hellenistischen Einflüssen in der jüdischen Tradition. 122 Max Fleischer: Makkabi. In: Die Welt, Jg. 4 (1900), H. 50, S. 7. Ähnlich bei Otto Abeles: Leih’ mir Makkabi’s Arm …. In: Die Welt, Jg. 5 (6.12.1901), H. 49, S. 2 (Chanukka-Ausgabe): „Leih’ mir Makkabi’s Arm! Dann muss das Werk gelingen. / Dann kann ich eine Riesenfackel schwingen, / An meiner Liebe rother Gluth entfacht. // […] // Die junge, stolze Kraft kehrt uns zurück – –/ Dann, grosser Gott, dann stirbt die alte Klage, / Dann Hallelujah, Herr! – Es ward der Tag der Tage!“
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ist jedoch die avantgardistische Metaphorik, die eine sich überhebende, überragende Position über dem gewöhnlichen aber „ewige[n]“ (Z. 10) Auf und Ab des Lebens formuliert. Sie ist anderen Selbstbeschreibungen von avantgardistischen Autoren verwandt, die durch die Formulierung einer alles erfassenden Perspektive den Anspruch ihrer Kunst, eine ‚Vorhut‘ zu verkörpern, bekräftigen.123 Zu nennen wäre hier prominent Filippo Tommaso Marinetti, der in seinem futuristischen Manifest vom 20. Februar 1909 formulierte: „Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte“ als „stolze Leuchttürme oder vorgeschobenen Wachposten vor dem Heer der feindlichen Sterne, die aus ihren himmlischen Feldlagern herunterblickten“.124 Diese Metaphern und Bildfelder sind den von Max Fleischer verwendeten Begriffen – Riesensohn, Ceder, Wipfelhaupt, Thurm – sowie der Position des Ragens am Berge, Sturm umbraust, über den Topos der Erhabenheit und der erhobenen, hervorragenden Position verwandt, die darüber hinaus durchaus als avantgardistische Poetik zu verstehen, etwas Kommendem vorausgeht: „Ich schmiede Judäas goldene Zeit, / Judäas Selbstheit und Einigkeit.“ Eine ähnliche Haltung lässt sich schon aus den häufig programmatischen Titeln kulturzionistischer oder in der Selbstdefinition jung-jüdischer125 Lyrik ablesen. So das Gedicht Junge Harfen von Max Barber,126 das nicht nur titelgebend für die erste kulturzionistische Lyriksammlung wurde, sondern schon im Titel die signifikante Differenz, „neu zu sein“, formuliert und sich programmatisch kulturzionistisch für die Erneuerung der jüdischen Tradition ausspricht. Ähnliches gilt für Berthold Feiwels Gedicht Die Ersten,127 in dem diese als Vorreiter gefeiert werden, und das Gedicht Frühling von Anton Lindner, das mit Formulierungen wie die „holde Auferstehungweise“ auf die Metaphorik der „Jüdischen Renaissance“ als „Wiedergeburt“ verweist. Dabei ist zu beachten, dass es sich um Gedichte und Publikationen aus der Zeit von 1901 bis 1903 handelt, die avantgardistische Metaphorik also schon früh entwickelt und im Kontext der jüdischen Tradition eingesetzt wird.
123 Vgl. hierzu Wolfgang Asholt und Walter Fähnders: Einleitung. In: Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantegardekritik – Avantegardeforschung. Hrsg. v. dens. Amsterdam, Atlanta 2000, S. 9–30. 124 Filippo Tommaso Marinetti: Futuristisches Manifest [1909]. In: Manifeste und Proklamationen, S. 3–7. 125 Zum Begriff vgl.: Mark H. Gelber: The jungjüdische Bewegung. An Unexplored Chapter in German-Jewish Literary and Cultural History. In: Yearbook. Leo Baeck Institute, 31 (1986), S. 105–119. 126 Max Barber: Junge Harfen In: Junge Harfen, S. 3 und Juedischer Almanach, S. 18. 127 Berthold Feiwel: Die Ersten. In: Junge Harfen, S. 9 und Juedischer Almanach, S. 29.
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Junge Harfen In den Weiden hangen die Harfen … Klangen einst kampflich zum Sausen der scharfen Schwerthiebe. Nun sind sie stumm, sind längst geborsten. Wächst noch nicht junges Harfenholz in den Forsten Oben am Libanon? … Scheuer Klage Ton Wimmert aus den alten Harfen. Müde bewegen Sie sich im Winde. Es klingt wie Sterbender Segen: Baut junge Harfen -----------------------------------------Baut junge Harfen und spannt darüber Der Freude goldenen Saiten! Das Königslied klingt! Das soll uns aus trüber Gebanntheit zur Sonne geleiten.
Als Ausdruck eines avantgardistischen Selbstverständnisses kann das Gedicht insofern interpretiert werden, als zunächst eine zerbrochene, verendende, verfallende Tradition gezeigt wird (die stummen, längst gebrochenen Harfen; alt, müde und wimmernd), auf deren Erneuerung das lyrische Ich mit leichter Ungeduld wartet: „Wächst noch nicht junges Harfenholz in den Forsten / Oben am Libanon?“128 Wiederum wird das junge Harfenholz in einer erhobenen Position erwartet („Oben am Libanon“). Die Gebrochenheit der Tradition wird in den ersten beiden Strophen formal deutlich, da das Paarreimschema durch Enjambements unterbrochen wird und in der sechsten Zeile die Strophenform überschreitet. Die zweite Strophe endet mit der Aufforderung „Baut junge Harfen“, die durch Wiederholung mit der ersten Zeile und dem Beginn der dritten Strophe eingebunden ist. Außerdem markiert eine Zeile aus Bindestrichen visuell eine Zäsur. Dem Avantgardekontext kann ebenfalls zugeordnet werden, dass im Gedicht das Modell einer poetischen und kriegerischen Dichtung nach dem Vorbild König 128 Die Zedernbäume im Libanon sind ein häufiges Motiv kulturzionistischer Lyrik und rekurrieren auf mehrere Erwähnungen von Zedernholz in der hebräischen Bibel. So sind die Paläste König Davids und Salomons aus Zedernholz gebaut und es heißt, dass die Gerechten wachsen werden wie die Zeder im Libanon. Vgl. KA 1.2, S. 85.
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Davids entworfen wird. So wird eine enge Verbindung des Harfenklangs mit der kriegerischen Auseinandersetzung vorgenommen: „Klangen einst kampflich zum Sausen der scharfen / Schwerthiebe“. Zusammen mit dem Begriff „Königslied“ aus der letzten Strophe wird deutlich, dass hier ein In-Eins-Setzen des kämpferischen, erobernden Aspekts von König David, dem das Erreichen der jüdischen Eigenstaatlichkeit zugesprochen wird, und seinem Ruf als Harfe spielender Psalmendichter vorgenommen wird. Die traditionell als poetologische Metapher für Dichtung verwendeten Harfen werden direkt als Begleitung des Kampfgeschehens imaginiert und erscheinen somit als weitere Waffe oder zumindest direkte Unterstützung im siegreichen Kampf. Heroisches Judentum spielt also bei Barber eine wichtige Rolle, wird jedoch nicht mit dem Vorbild der Makkabäer, sondern deutlicher mit der dichterischen Profession verbunden. Hier tritt außerdem die Komponente der prophetischen Dichtung hinzu, ohne die kämpferische Seite auszublenden oder zu ersetzen, denn aus der Genealogie von König David wird nach jüdischer Tradition der Messias erwartet. Die letzte Strophe ist eine Aufforderung an die gegenwärtige Generation, den segnend ausgesprochenen Auftrag der sterbenden Tradition auszuführen, sie deutet die Vision einer Befreiung und Erlösung an.129 Diese wird mit den Formulierungen: „Der Freude goldene Saiten! / Das Königslied klingt! Das soll uns aus trüber / Gebanntheit zur Sonne geleiten“ nicht direkt kriegerisch ausgedrückt. Doch das „Königslied“ ist, wie die erste Strophe gezeigt hat, ein dichterisches und ein kriegerisches. Im Umgang mit der jüdischen (literarischen) Tradition ist ein Anknüpfen und gleichzeitig ein Neuschaffen im Sinne von Bubers Maxime des „Neuschaffens aus uraltem Material“ (1901) zu beobachten. Dies zeigt sich auch daran, dass Barber in seinem Gedicht prominent an den Psalm 137 anknüpft, den er in der ersten Zeile zitiert: „In den Weiden hangen die Harfen …“. Im Psalm wird die Herausforderung, die jüdische Tradition nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im babylonischen Exil weiterzuführen, behandelt.130 Es gibt noch nicht 129 Die Formulierung „aus trüber Gebanntheit zur Sonne“ erinnert an eine ikonische Illustration E. M. Liliens aus Juda, die einen älteren Juden in religiöser Kleidung umgeben von Dornenranken unter den aufragenden ägyptischen Pyramiden zeigt. Sein Weg geht nach „Zion“, das in hebräischen Lettern in der aufgehenden Sonne platziert ist. 130 Im Psalm 137 verspotten die Sieger die Gefangenen, indem sie sie auffordern, im Exil Zionslieder zu singen. Doch diese weigern sich und hängen ihre Harfen an die Weiden, dabei konfrontiert mit dem Dilemma, dass die alten Gesänge fern vom zerstörten Tempel nicht gesungen werden können, doch Jerusalem nicht vergessen werden soll. Aus TanachZitaten wird ein neues „Zionslied“ zusammengefügt, das ein Erinnerungs- und Rachegesang ist, ein Schwur, nicht zu vergessen, nicht Jerusalem und nicht die Taten der Babylonier. Diese aus erinnerungstheoretischer Sicht vielschichtige Passage wurde in der jüdischen und deutschjüdischen Literatur mehrfach bearbeitet, prominent von Heine im Gedicht „Jehuda ben Halevy“. Im kulturzionistischen Kontext übernimmt Max Kleinberg Motive des Psalms 137
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die z.T. destruktive Radikalität einer „absoluten Erneuerung“ oder eines Modus der Revolution. Vielmehr wird ein Modus von Evolution (wachsen, bauen, geleiten), ein eher moderater Fortschritt in konventionellerer Form angestrebt, mit dem auch ein bürgerliches Publikum angesprochen werden kann. Somit formuliert Barber in seinem Gedicht den kulturzionistischen Anspruch, Literatur im Spannungsfeld von zionistischer Politik (im Kontext der Besiedlung Palästinas und der Gründung eines „Judenstaates“), kulturzionistischem Entwurf (der Etablierung eines geistigen Zentrums und der Wiederbelebung und Erneue rung der Tradition) und heiligem Text (Psalmen als Teil des Tanachs) anzusiedeln. Lyrik in der Tradition der Psalmen und Kampfmittel für politisch-territoriale oder kulturpolitische Ziele, die Erneuerung einer doppelten Tradition – das wird hier mit einem avantgardistischen Impetus als Programm kulturzionistischer Lyrik formuliert. II.2.4 Das Manifest: Martin Bubers Essay Jüdische Renaissance (1901)
Wichtiges Merkmal der verschiedenen ‚Ismen‘ der Avantgarde ist das Ausrufen der eigenen Bewegung als einer neuen mit einem entsprechend großem Differenzpotenzial gegenüber allem Anderen und Vorhergehenden. Beliebte Form dieser Deklaration ist das Manifest,131 gerade wenn dieses, wie z.B. das Dadaistische Manifest (1918) von Huelsenbeck, in der ironischen Zuspitzung der Gattungskonvention besagt: „Gegen dies Manifest sein, heißt Dadaist sein!“132 Das Manifest kann als die avantgardistische Gattung überhaupt gelten, wobei die entsprechenden Texte nicht explizit als „Manifeste“ bezeichnet werden müs-
in seinem Gedicht Klagehaine, Erstabdruck in: Die Welt, 22 (1901), S. 10. Es beginnt mit den Zeilen „Fern an Babels weiten Wassern / Ragt en Hain von Trauerweiden“ und zitiert weiter in der vierten Strophe „Ja, an diesen Strömen klagte / Einst das Volk, das auserwählte, / Klagte um die ferne Heimat. Um die alte heil’ge Stätte.“ Zur Forschung vgl. u.a. Alfred Bodenheimer: Zwischen Sehnsucht und Rückkehr. Exil und Eretz Israel – eine Geschichte in Texten. In: Jakob Hessing und Alfred Bodenheimer (Hg.): Jüdischer Almanach 5758, S. 126–137. (Neudruck in Jakob Hessing (Hg.): Israel: Geschichte in Texten. Frankfurt/Main 1998, S. 11–22.) 131 Vgl. zum „Manifestantismus“ der Avantgarden Walter Fähnders: Projekt Avantgarde und avantgardistischer Manifestantismus. In: Der Blick vom Wolkenkratzer, S. 69–96. Außerdem: „Die ganze Welt ist eine Manifestation“. Die europäische Avantgarde und ihre Manifeste. Hrsg. v. Wolfgang Asholt u. Walter Fähnders. Darmstadt 1997. 132 Richard Huelsenbeck: Dadaistisches Manifest (1918). In: Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920. Hrsg. v. Thomas Anz u. Michael Stark. Stuttgart 1982, S. 75–77, hier S. 77.
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sen.133 Nicht nur kann das Manifest als die Gattung der Avantgarde gelten,134 vielmehr ist auch die Verwendung des Begriffs für literarische oder künstlerische Proklamationen ein Hauptaspekt der Avantgarde.135 Besonders interessant für die innerzionistische Debatte um Politik und Kultur ist, dass das Manifest als Gattungsbegriff zwischen politischer und künstlerischer Grundsatzerklärung changiert und damit auf eine Transgression der Grenze zwischen Politik und Kultur abzielt. Für diese Praxis existieren Vorformen im Stilpluralismus der Jahrhundertwende, die in der Avantgarde (gerade in ihrem Performancecharakter) radikalisiert werden, und die die Kulturzionist/innen in ihrer frühen Phase erprobt haben. Bubers Proklamation einer „Jüdischen Renaissance“136 kann im Anschluss daran als erstes Manifest des Kulturzionismus bezeichnet werden. Es weist deutliche Merkmale der Gattung Manifest auf und die entsprechende Wirkung wird dadurch verstärkt, dass der Essay in der ersten Ausgabe der ersten programmatisch kulturzionistischen Zeitschrift Ost und West platziert wurde.137 Dabei verweist zum einen das Vokabular, mit dem Buber das Ideal einer Bewegung entwirft, für die er ein „Aktionsprogramm“ fordert und zur „Tat“ aufruft, auf die Avantgarde. Zum anderen findet sich die Verschmelzung politischer und künstlerischer Elemente, wie sie für Manifeste typisch ist. Buber imaginiert außerdem eine Grup-
133 Walter Fähnders: Projekt Avantgarde und avantgardistischer Manifestantismus. In: „Der Blick vom Wolkenkratzer.“ Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung. Hrsg. v. dems. u. Wolfgang Asholt. Amsterdam, Atlanta 2000, S. 69–96, hier S. 77 f. Sowie Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938). Stuttgart, Weimar 1995. 134 Vom 16. bis ins 20. Jahrhundert ist der Begriff Manifest politisch definiert für einen herrschaftlichen Staatsakt. Im 19. Jahrhundert wird er für Programme politischer Parteien oder Organisationen verwendet. Erst seit Ende des 19. Jahrhunderts wird seine Bedeutung auf künstlerische Grundsatzerklärungen ausgeweitet. Walter Fähnders spricht noch für F. T. Marinettis Manifest des Futurismus (1909) davon, dass die Manifest-Titelgebung für den Bereich Kunst und Literatur weiterhin als neu gelten kann. Walter Fähnders: Projekt Avantgarde, S. 74. 135 Vgl. Walter Fähnders: „Die Eroberung des Manifests durch die Avantgarde markiert den Sieg auf einem Kampfplatz, der zuvor durch nicht-künstlerische und nicht-literarische Strategen besetzt war.“ Ebd., S. 73 f. 136 Erstdruck: Martin Buber: Juedische Renaissance. In: Ost und West, 1 (1901), H. 1, Sp. 7–10. Im Folgenden zitiert mit Seitenangabe im Text nach der Werkausgabe: Martin Buber: Juedische Renaissance. In: MBW 3, S. 143–147. 137 Die Einordnung von Bubers Essay als „Manifest“ nimmt bspw. Bernd Witte vor. Bernd Witte: Die Renaissance des Judentums aus dem Geist der Neuromantik. Martin Buber und die Entstehung des Kulturzionismus. In: Etudes Germaniques, 59 (2004), 2, S. 305–325, hier S. 311.
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penbewegung138 gleichgesinnter „Mitstrebender“ (146), die er definiert als „jener Teil des jüdischen Stammes, der sich als jüdisches Volk fühlt“ und die an der von ihm beschriebenen Entwicklung „durchglüht“ teilnimmt (143). Buber spricht hier von einer „Kulturbewegung“ (145), deren Protagonist/innen er als weitere Parallele zu den historischen Avantgarden prophetische Qualitäten zuschreibt. Gleichzeitig tritt der Essay den Lesenden (im gewissen Sinne avantgardistisch) als ein Manifest ohne festes Programm entgegen, denn Buber beschreibt die „Jüdische Renaissance“ als eine Bewegung, die explizit etwas anderes sein soll als eine Partei mit einem festgeschriebenen Programm, wie es der politische Zionismus mit dem auf dem I. Zionistischen Kongress 1897 beschlossenen Baseler Programm ist. Was Buber fordert, ist „[n]icht das Programm einer Partei, sondern das ungeschriebene Programm einer Bewegung“ (146). Hier liegt also ein Manifest vor, das bisher explizit nur eine Maxime ausgeben kann. Diese ist allerdings avantgardistisch konnotiert und ruft auf zum „Neuschaffen aus uraltem Material“ (145), wobei der Bruch mit der Tradition noch moderat anmutet. Sieben Monate nach seiner Proklamation einer „Jüdischen Renaissance“ in Ost und West geht Buber noch einen Schritt weiter und spricht in einem Brief an Herzl selbst von einem Manifest. Buber legt darin sein Konzept für seine Arbeit als Redakteur der zionistischen Zeitschrift Die Welt dar139: Die Welt ist meiner Ansicht bestimmt, das Organ und die Centrale der jungjüdischen Geistes- und Kunstbewegung zu werden. Wir haben viele junge, sich herausringende Talente. Die meisten wissen nicht, wohin sie gehören. Eine gar nicht lange Zeit zielbewußter Förderung, Sammlung und Leitung und wir können Europa mit einem literarischen Manifest kommen. Diese Entwicklung würde mit unserer politischen parallel gehen.140
Buber verwendet hier den Terminus „literarisches Manifest“ im Kontext der von ihm lancierten jungjüdischen Literatur und verbindet damit ein avantgardistisches Ziel, nämlich eine Proklamation, und dies schon 1901.
138 Der Gruppen- und Bewegungscharakter gilt als eines der konstituierenden Merkmale der historischen Avantgarde. 139 Bubers Tätigkeit als Redakteur von Die Welt beschränkte sich auf Grund seines sich mit der Zeit ausdifferenzierenden Selbstverständnisses als Kulturzionist auf die Monate September bis Dezember 1901. 140 Brief Martin Bubers an Theodor Herzl, 11.8.1901. Martin Buber: Briefwechsel. Bd. I, S. 162 (Hervorh. B.M.K.).
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II.2.5 „Ein großartiger Kampf“: Die Proklamation der „Demokratischen Fraktion“
Aus einer avantgardistischen Rezeptionshaltung heraus kann das Auftreten der „Demokratischen Fraktion“ auf dem V. Zionistischen Kongress 1901 als avantgardistische Selbstproklamation betrachtet werden.141 Buber schildert das Auftreten der „Demokratischen Fraktion“ auf dem V. Zionistischen Kongress in einem Brief an seine Lebensgefährtin Paula Winkler vom 1.1.1902 als eine aus der Sicht der Protagonisten erfolgreiche Proklamation: Es war ein großartiger Kampf, in dem unsere Minorität gesiegt hat, wenn auch unsere Spezialanträge (auch der auf Unterstützung des Verlags) durchgefallen sind. Nun sind wir in allen Köpfen und auf allen Lippen. Wir gründen eine neue Organisation innerhalb der Partei. Die Sache ist für die Entwicklung der Bewegung von größter Bedeutung.142
Schon einige Tage zuvor (am 26.12.1901) hatte Buber diese Entwicklung angekündigt: […] es hat sich eine Gruppe der Modernen gebildet, zu deren intellektueller Leitung ich – bescheiden ausgedrückt – gehöre. Die Alten fürchten sich gar sehr vor uns, vorläufig mehr als begründet wäre. Heute haben wird aber auch schon einen bedeutsamen Geschäftsordnungssieg errungen, der hauptsächlich einer Brandrede von mir zu verdanken war.143
Der kämpferische und revolutionäre Impetus ist nicht zu übersehen, ebenso wenig das avantgardistische Selbstverständnis als eine „Gruppe von Modernen“ oder „Wir Jungen“, vor der sich „Die Alten fürchten“, und der sich dabei abzeichnende Generationenkonflikt innerhalb der zionistischen Bewegung. Zunächst handelt es sich um mehrere im Gegensatz zu späteren Selbstproklamationen der Avantgarde viel konventionellere und sich durchaus im Rahmen der Verfahren eines demokratisch organisierten politischen Kongresses bewegende Interventionen, die in Absprache mit der Kongressleitung stattfinden. Buber hält sein angekündigtes Referat Von Jüdischer Kunst und stellt mehrere Anträge des „Culturausschusses“ zur Abstimmung, während Chaim Weizmann den Antrag auf die Gründung einer Jüdischen Hochschule erläutert. Doch der erste öffentliche Auftritt der ersten Oppositionsgruppe innerhalb der zionistischen Partei 141 Die Gründung der „Demokratischen Fraktion“ wird auf ein Treffen im Dezember 1901, unmittelbar vor dem V. Kongress, im Hause Weizmanns in Bern datiert. 142 Brief Bubers an Paula Winkler, 1.1.1902. In: Martin Buber: Briefwechsel. Bd. 1, S. 171 (Hervorh. B.M.K.). 143 Brief Bubers an Paula Winkler, Basel, 26.12.1901. In: Ebd., S. 171 (Hervorh. B.M.K.).
Das avantgardistische Selbstverständnis
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weitet sich zu einem Skandal aus.144 Schon in der zweiten Sitzung finden heftige Debatten um die Platzierung der Fragen der ‚Hebung‘ (d.h. der so genannten ‚Kulturfrage‘) in der Tagesordnung statt. Nachdem Buber am letzten Kongresstag die Anträge des „Culturausschusses“ vorgetragen hat, konkurriert deren Diskussion und Abstimmung mit den notwendigen Wahlen der Gremien des Kongresses (also dem Kern der Organisation des politischen Zionismus). Als diese nach einer Abstimmung zugunsten der Wahlen verschoben werden, verlassen die Delegierten der „Demokratischen Fraktion“ den Saal, was Herzl ironisch als „ihren Exodus“ kommentiert (alle Zitate V. Kongress 1901, 412).145 Weizmann und Trietsch treten aus Protest gegen die Behandlung des „Culturausschusses“ von ihren Ämtern zurück und verlesen eine entsprechende „Protesterklärung“ mit 37 Unterschriften, so dass Herzl schließlich bekennt, er bereue es, Buber und Weizmann überhaupt Rederecht erteilt zu haben (V. Kongress 1901, 419). So enden die Interventionen mit einer deutlichen Inszenierung von Opposition bei gleichzeitiger Beteuerung, keine sein zu wollen. Bubers Brief vom 26.12.1901 gibt Aufschluss, dass die Protagonisten der „Demokratischen Fraktion“ sehr genau wussten, was sie taten: „dieser Kongreß ist eine Wende. Wir Jungen beginnen, die Sache in die Hand zu nehmen.“146 Für die Kongressgeschichte ist es der bis dahin größte „Zwischenfall“, wie Herzl die Ereignisse bezeichnet.147 Trotz einer regen Streitkultur (gerade zur ‚Kulturfrage‘) hat es auf den vorhergehenden Kongressen keine vergleichbaren Aktionen gegeben. Praktiken der Avantgarde stehen diese und weitere Aktionen148 der „Demokratischen Fraktion“ insofern nahe, als es dabei gelingt, die Grenze zwischen Politik und Kunst innerhalb des Kongressgeschehens und der zionistischen Bewegung zu verschieben. Die Vertreter der „Demokratischen Fraktion“ präsentieren ein national-kulturelles Projekt, das an der Grenze von Kultur und Politik operiert, und sprengen damit den Rahmen des Kongresses, der kulturelle Fragen zugunsten politischer Einigkeit unterdrückt oder allein für Propagandazwecke nutzbar machen will. Dass diese Transgression stattfindet und wahrgenommen wird, zeigt die Heftigkeit der Debatte, und dass sie zeitweilig gelingt, zeigt die angenommene Resolution, mit der die ‚Kulturfrage‘ offiziell in das Programm der zionistischen 144 Vgl. V. Kongress 1901 (v.a. 26.12.1901, 27–30; 30.12.1901, 389–33). Herzl spricht von „gereizte[n] Zwischenfällen“ (429), der Delegierte Sokolow von einem „Tohu-wabohu“ (420). 145 Buber verwendet den Begriff „Exodus“ für den Auszug in seinem Artikel Ein Wort zum fünften Congreß (MBW 3, 99) und berichtet außerdem, dass der Vorfall den „Spott-Ausdruck“ „Secessio in Montem Sacrum“ (lat. Der Auszug zum Heiligen Berg, bezogen auf den Ständekampf in Rom 494 v.d.Z.) erhielt, den die Betroffenen „gern“ akzeptieren, „indem [sie, B.M.K.] seine wörtliche Bedeutung festhalten“ (MBW 3, 95). 146 Martin Buber: Briefwechsel. Bd. I, S. 171. 147 Vgl. V. Kongress 1901, 412, 413, 429, 433. 148 Ein Anklang an den zeitgenössischen Begriff der „Aktion“ ist hier bewusst intendiert.
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Der deutschsprachige Kulturzionismus
Bewegung aufgenommen wird. Andererseits wird hier erneut die Ambivalenz des frühen Kulturzionismus deutlich, da die Frage der „culturellen Hebung“ als Frage der nationalen Erziehung und damit mit einem Diskursmerkmal des Anti-Avantgardismus artikuliert wird: Der Congress erklärt die culturelle Hebung, das heisst die Erziehung des jüdischen Volkes im nationalen Sinne, für eines der wesentlichen Elemente des zionistischen Programms und macht es allen Gesinnungsgenossen zur Pflicht, an ihr mitzuarbeiten. (V. Kongress 1901, 389).
Die antiavantgardistische Argumentation liegt darin begründet, dass sich die Kulturzionist/innen im Rahmen des Kongresses und am Anfang ihrer oppositio nellen Positionierung noch viel konformer präsentieren als in (späteren) eigenen Publikationen. Die Transgression der Grenze von Politik und Kunst wird auf dem V. Zionisten-Kongress durch unterschiedliche Aktionen in mehreren Medien vollzogen, um so die Botschaft der „Demokratischen Fraktion“ zu verbreiten. Neben verfahrenskonformen Anträgen und Bubers angekündigtem Referat Von jüdischer Kunst findet im Rahmen des Kongresses die tatsächlich erste Ausstellung moderner „Jüdischer Kunst“ statt, die in den Kongreß-Protokollen als Beilage D dokumentiert ist (V. Kongress 1901, 459 f.). Gezeigt wurden graphische, malerische, bildhauerische und photographische Werke u.a. von Moritz Gottlieb, E. M. Lilien, Alfred Nossig, Hermann Struck und Lesser Ury. Obwohl Buber in seiner Rede betont, dass hier erst die Anfänge einer jüdischen Kunst149 präsentiert werden, deutet seine Beschreibung der Wirkung der Kunstwerke in einer Vorankündigung in Die Welt auf das Ziel einer Übertretung der Grenze zwischen Kunst und Politik hin: Im Angesichte dieser Werke werden die Worte unserer Verhandlungen reiner und echter werden: es wird uns nicht möglich sein, Flittertand und abgegriffenes Metall zu bieten, wenn von den Wänden diese wunderbaren Augen auf uns blicken werden. Wir werden von dieser schlichten Sprache lernen.150
Zwar wird hier erneut die jüdische Kunst gemäß dem klassisch-idealistischen Modell unter das Primat der Erziehung gestellt, aber gleichzeitig wird ein 149 Ein Auszug aus Bubers Referat „Juedische Kunst“ erschien in: Ost und West, Jg. 2 (1902), H. 3, Sp. 205–210, hier Sp. 206. 150 Martin Buber: Jüdische Kunst. In: Die Welt, Jg. 5 (1901), H. 50, S. 10. Durch die fünfmalige Wiederholung des Verbs „werden“ bringt Buber deutlich eine enthusiastische Ausrichtung auf die Zukunft zum Ausdruck.
Das kulturzionistische Projekt der „Erneuerung“
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Erlebnis an der Grenze von Politik und Ästhetik angestrebt. Durch die programmatische Integration einer Ausstellung in einen politischen Kongress und die Führung von politischen Verhandlungen in den Räumen einer Ausstellung soll die Bedeutung der jüdischen Kunst für das zionistische Projekt unmittelbar anschaulich gemacht werden. Das geforderte und für die Zukunft angestrebte Ziel einer „Jüdischen Kunst“ wird im Moment der Ausstellung für die Rezipient/innen schon in der Gegenwart realisiert und erfahrbar, ähnlich dem antizipatorischen Potenzial avantgardistischer Aktionskunst oder Happenings, so dass die Inszenierung als eine von deren Vorformen angesehen werden kann. Die bisher gezeigte grundlegende Nähe zwischen dem deutschsprachigen Kulturzionismus und der historischen Avantgarde sowie dessen Rolle als Mitvorbereiter der letzteren, wie sie sich im kulturzionistischen Selbstverständnis und in den literarischen bzw. „kulturpolitischen“ Entwürfen zeigen ließ, wird im Folgenden in drei prototypischen Schwerpunkten in ihrer historischen Entwicklung untersucht: die Verbindung von Kunst/Literatur und Leben um 1900, das Projekt einer „Erneuerung der jüdischen Tradition“ und dessen Radikalisierung um 1910, die Entfaltung eines antizipatorischen Potenzials und einer ethischen (jüdisch-messianischen) Ausrichtung in den 1920er Jahren. II.3 Das kulturzionistische Projekt der „Erneuerung“ der jüdischen Tradition
Im Folgenden schlage ich vor, auf der Basis des von Wolfgang Asholts und Walter Fähnders für die Avantgarden in Anschlag gebrachten Projektbegriffs151 von einem kulturzionistischen Projekt der „Erneuerung“152 der jüdischen Tradition zu sprechen. Im Anschluss an Friedrich Schlegel, der in seinen Athenaeums-Fragmenten einen seinem Charakter nach progressiven „Sinn für Projekte, die man Fragmente der Zukunft nennen könnte“153, ausmacht, definieren Asholt und Fähnders das Projekt der Avantgarden als den Versuch, „ein aus der 151 Vgl. u.a. Wolfgang Asholt: Projekt Avantgarde und avantgardistische Selbstkritik. In: Der Blick vom Wolkenkratzer, S. 97–120; Walter Fähnders: Projekt Avantgarde. Ebd., S. 69–96. 152 Zur Reflexion des Erneuerungsanspruchs als Erfindung einer Tradition vgl. Eric Hobsbawm: Introduction. Inventing Traditions. In: The Invention of Tradition. Hrsg. v. dems. u. Terence Ranger. Cambridge 1983, S. 1–14. 153 Friedrich Schlegel: I. Fragmente. In: Athenaeum. Ersten Bandes Zweytes Stück. Hrsg. v. August Wilhelm u. Friedrich Schlegel. Berlin 1798, S. 8, Nr. 22. Zeitgenössische Ausgaben sind: Friedrich Schlegels Fragmente und Ideen. Hrsg. v. Franz Deibel. München, Leipzig: R. Piper & Co. 1905 (Die Fruchtschale. Eine Sammlung; 3), S. 43 f., Nr. 149. Deibel führt im Sachregister das Lemma „Projekt“ auf (285). Vgl. außerdem Friedrich Schlegel: Fragmente. Ausgewählt und hrsg. v. Carl Enders. Leipzig: Insel 1915.
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Zukunft schon in die Gegenwart hereingeholtes antizipatorisches Potenzial“ zu realisieren,154 so dass ihm „als Gesetztes, als Imaginäres bereits Realität, wenn nicht gar ‚Vollendung‘ zu[kommt]“.155 Die Kulturzionist/innen verfolgen ein in den Grundparametern vergleichbares bzw. anschließbares Unterfangen, das sie um 1900 als Vorläufer der Avantgarden entwickeln, um dann um 1910 das eigene Projekt durch ein Anknüpfen an die sich nun etablierenden historischen Avantgarden zu radikalisieren.156 Konzeptuell handelt es sich bei dem kulturzionistischen Projekt der Erneuerung der jüdischen Tradition um ein Weiterführen bzw. eine Übernahme und eine Überschreitung der als verfallen oder veraltet verstandenen rabbinischen Tradition, so dass ein Weg zwischen Anknüpfung an dieselbe und deren radikaler Erneuerung gesucht wird. Die Übernahme betrifft sowohl textuelle Verfahren und diskursive Praktiken als auch utopische, messianische und ethische Aspekte des rabbinischen „Projekts“, wie es Jacob Neusner157 beschrieben hat. Angelegt ist das kulturzionistische Projekt der Erneuerung der jüdischen Tradition schon in Achad Haams Konzept eines geistigen Zionismus, da er an die biblische und die rabbinische Tradition anknüpft, indem er deren Botschaft in humanistische Werte überträgt.158 Achad Haam macht dabei die prophetische Tradition als Gegenmodell zur rabbinischen gerade als ethische in einem humanistischen Sinne fruchtbar.159 Im Kontext der Avantgarde lassen sich weitere jüdische Traditionselemente für das Erneuerungsprojekt nutzen, so die poetische wie kriegerische Tradition König Davids, wie die erste Anthologie jung-jüdischer Lyrik Junge Harfen (1903) zeigt. Bei Martin Buber wird die rabbinische Tradition nicht nur durch prophetische Aspekte, sondern zusätzlich durch die scheinbar authentische, lebendige, 154 Hubert van den Berg u. Walter Fähnders: Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert – Einleitung. In: Metzler Lexikon Avantgarde. Hrsg. v. dens. Stuttgart, Weimar 2009, S. 14. 155 Walter Fähnders: Projekt Avantgarde und avantgardistischer Manifestantismus. In: „Der Blick vom Wolkenkratzer.“ Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung. Hrsg. v. dems. u. Wolfgang Asholt. Amsterdam, Atlanta 2000, S. 69–96, hier S. 72. 156 Anders Inka Bertz: Jüdische Renaissance, S. 176, die um 1910 eine Entfremdung der „Jüdischen Renaissance“-Bewegung von den Avantgarden beobachtet. 157 Jacob Neusner: Rabbinic Utopia. Lanham u.a. 2007. Neusner beschreibt das rabbinische Judentum als ein utopisches Projekt, das durch ein System von Gesetzen im Hier und Jetzt eine ideale soziale und metaphysische Ordnung für die ganze Menschheit realisieren wolle. 158 Vgl. Paul Mendes-Flohr: Kulturzionismus, S. 454 f.: „Das Judentum befand sich ihm [Achad Haam, B.M.K.] zufolge an einem ‚Scheideweg‘ – entweder würde es eine kümmerliche Existenz unter dem Joch der anachronistischen rabbinischen Tradition führen oder sich als eine modern-säkulare hebräische Kultur neu begründen.“ 159 Vgl. u.a. Achad Haam: Priester und Prophet [1893]. In: Ders.: Am Scheidewege. Bd. 1, S. 240–251.
Das kulturzionistische Projekt der „Erneuerung“
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Religiosität statt Religion verkörpernde chassidische Tradition ‚wiederbelebt‘. So heißt es in der Einführung zu Die Legende des Baal=schem: Die chassidische Lehre ist das Stärkste und Eigenste, was die Diaspora geschaffen hat. Sie ist die Verkündigung der Wiedergeburt. Es wird keine Erneuerung des Judentums möglich sein, die nicht ihre Elemente in sich trüge.160
Der neuhebräische Dichter Chaim Nachman Bialik, der ein enger Freund Achad Haams war und von 1922 bis 1924 in Berlin und Bad Homburg lebte, entwirft die moderne hebräische Literatur hingegen in seinem Essay Halacha und Aggada (dt. 1919) als Medium für die Fortführung der beiden rabbinischen Gattungen.161 Mit dem Projekt der Avantgarden ist das kulturzionistische Erneuerungsprojekt des Weiteren erstens dadurch verbunden, dass es im Unterschied zu dem von Shulamit Volkov beschriebenen Projekt der jüdischen Moderne seinen Erneuerungsanspruch explizit betont.162 Zweitens beschränkt es sich keinesfalls auf eine Erneuerung im Medium der Literatur (auch wenn hier der Kernbereich zu sehen ist), auch nicht auf Literatur und bildende Künste, sondern seine Protagonist/ innen operieren gerade an der Grenze von jüdischer Literatur/Kunst und jüdischem Leben, von Kultur und Politik und beziehen u.a. Identitätsbildungsprozesse, die Entwicklung schöpferischer oder heroischer jüdischer Selbstbilder, demokratisch orientierte bzw. selbstermächtigende Bildungsprojekte (das „Jüdische Lehrhaus“), praktische Siedlungsbemühungen, lebensreformerisch konzeptualisierte architektonische Entwürfe, wie die Gartenstädte, oder die Arts and Crafts-Bewegung, u.a. in der Buchgestaltung, mit ein. Für das kulturzionistische Projekt der Erneuerung der jüdischen Tradition lassen sich zwei thematische Schwerpunkte ausmachen, die schon um 1900 angelegt sind und um 1910 radikalisiert werden: zum einen um 1900 die „Jüdische 160 Martin Buber: Einführung. In: Ders.: Die Legende des Baal=schem. Frankfurt/Main: Literarische Anstalt Rütten und Loening 1907, S. VI. 161 Der Essay wurde vom jungen Gershom Scholem übersetzt. Dt. zuerst: Chaim Nachman Bialik: Halacha und Aggada. Übersetzt v. Gerhard [Gershom] Scholem. In: Der Jude, Jg. 20 (1919), H. 1–2, S. 61–77; Wiederabdruck: Chaim Nachman Bialik: Halacha und Aggada. Übertragen v. Gerhard [Gershom] Scholem. In: Ders.: Essays. Autorisierte Uebertragung aus dem Hebräischen von Victor Kellner. Berlin: Jüdischer Verlag 1925, S. 82–107. Vgl. hierzu ebenfalls Mendes-Flohr: Kulturzionismus, S. 458: Bialik versuche, „einen neuen Kanon für das jüdische Volk einzuführen, der das überkommene rabbinische Korpus heiliger Schriften ablösen und doch eine gewissen Zusammenhang damit bewahren sollte.“ Zu den Anknüpfungen an Heinrich Heines Überlegungen in diese Richtung vgl. Kapitel IV. 162 Vgl. Shulamit Volkov: Die Erfindung der Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland. In: Dies.: Das jüdische Projekt der Moderne. Zehn Essays. München 2001. Volkov stellt keinen Bezug des Projektbegriffs zu den Avantgarden her.
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Der deutschsprachige Kulturzionismus
Renaissance“-Bewegung mit dem Anspruch, durch jüdische Literatur und Kunst das jüdische Leben zu verändern bzw. zu erneuern, und zum anderen ab den 1920er Jahren ein Fokus auf die Übernahme und Weiterentwicklung der ethischen, messianischen und utopischen Potenziale des rabbinischen Projekts.163 Die deutlich ethische Ausrichtung wird durch die Ausgrenzungserfahrung von jüdischen Soldaten im Ersten Weltkrieg sowie den verschärften rassistischen Antisemitismus bestärkt. Im Folgenden wird zunächst die konzeptuelle Entwicklung des Erneuerungsanspruchs bei Martin Buber ausführlicher dargestellt, um anschließend die beiden Schwerpunkte des Projekts an exemplarischen Textstellen in ihren wichtigsten Aspekten zu skizzieren. Dabei steht die Profilierung der avantgardistischen Potenziale des Kulturzionismus im Vordergrund. Die beiden Unterkapitel II.3.2 und II.3.3 korrespondieren mit den Kapiteln III und IV, in denen untersucht wird, inwiefern Lasker-Schülers eigenes poetologisches Projekt im Kontext der Avantgarde mit dem kulturzionistischen Erneuerungsprojekt korrespondiert, es überschreitet, kritisiert oder sich darin oder an dessen Rand oder in dezidierter Abgrenzung situiert. II.3.1 Die „Erneuerung“ der jüdischen Tradition
Die Erneuerung der jüdischen Tradition, bzw. die „geistige“ „Rettung des Judentums“, wie sie Achad Haam propagiert hat, war ein zentrales Anliegen des Kulturzionismus von Beginn an. Schon in Martin Bubers Konzept einer „Jüdischen Renaissance“ (1901) ist ein deutlicher Erneuerungsanspruch gegenüber der Tradition formuliert, die als „uralte[s] Material“ einem „Neuschaffen“ zur Verfügung stehe (MBW 3, 145). Letzteres ist eine Haltung, die grundsätzlich auch die historischen Avantgarden kennzeichnet, wobei Buber 1901/02 noch keine radikale Überwindung oder Zerstörung des Alten anstrebt. Eine Radikalisierung des kulturzionistischen Erneuerungsanspruchs ist erst um 1910 parallel zur Etablierung der historischen Avantgarden zu beobachten und kann als eine Annäherung an diese interpretiert werden.164
163 Jacob Neusner: Rabbinic Utopia. 164 Barbara Schäfer hat diese wesentliche Veränderung von Bubers Begriff der „Jüdischen Renaissance“ konstatiert, indem sie diskutiert, welches die adäquate hebräische Übersetzung des Begriffs sei. Schäfer fasst zusammen: „From now it is renewal (hiddush) from the roots, not revival (tehiyya): not merely a rejuvenation or revival, but a genuine and total renewal.“ Barbara Schäfer: Jewish Renaissance and Tehiyya – Two that are one? In: Jewish Studies Quarterly, Vol. 10 (2003), H. 4, S. 320–335, hier S. 329.
Das kulturzionistische Projekt der „Erneuerung“
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Um 1900 verwendet Buber die Begriffe der „Wiedergeburt“, der „Erhebung“,165 den religiös konnotierten Begriff der „Auferstehung“ und den vitalistisch geprägten Begriff des „Erwachens“. Sie alle beziehen sich metaphorisch auf die Wiederbelebung und Erhöhung eines vorhandenen Potenzials, sollen aber nicht „Rückkehr“ und auch nicht „,Fortschritt‘ in dem sehr langweiligen Gebrauchssinne dieses Wortes“ sein, sondern „Wiedergeburt“; keine „Rückkehr zu den alten, im Volkstum wurzelnden Gefühls-Traditionen und zu deren sprachlichem, sittlichem, gedanklichem Ausdruck“, sondern „ein Neuschaffen aus uraltem Material“ (MBW 3, 145). Was Buber erwartet, ist die „Auferstehung [des jüdischen Volkes, B.M.K.] von halbem Leben zu ganzem“ (ebd., S. 144). Der Neuheitsanspruch wird mit einem bestimmten Bezug zur Tradition verbunden, die jetzt als „uralte[s] Material“ zur Verfügung steht. So beschreibt Buber, dass die jüdische Überlieferung Ströme des Volkslebens [kennt], die zu versiegen scheinen, aber unter der Erde weiterfliessen, um nach Jahrtausenden hervorzubrechen; und sie kennt Samenkörner des Volkstums, die sich Jahrtausende lang in dumpfen Königsgräbern ihre Keimkraft bewahren.166
Buber geht also von einem verschütteten, überdauernden, „königlichen“167 Potenzial aus, das neue Ausdruckskraft sucht. Die Tradition wird dabei zu einer Art Steinbruch, der für ein „Neuschaffen“ freigegeben wird. Auch in Bubers Artikel Ein geistiges Zentrum (Oktober 1902) fällt der Begriff der Erneuerung noch nicht.168 Die „Jüdische Renaissance“ ist weiterhin als „jüdische Wiedergeburt“169 definiert und vitalistisch als „Frühling“ (163) umschrieben. Allerdings wird hier bereits deutlicher ein revolutionärer Impetus artikuliert, u.a. wenn Buber davon spricht, dass denen, die es ernst mit der „Wiedergeburt des Volkes“ (ebd.) meinen, „ein heiliger Krieg befohlen“ (ebd.) sei. Dieser Impetus, der an die militärische Konnotation des Avantgardebegriffs anschließt, zeigt sich ebenfalls in der Forderung, dass die „Herrschaft jener alten kranken Kultur“ gebrochen werden und „eine junge auf den Thron gesetzt werden“ soll.170 Dass 165 Die Bezeichnung „Erhebung“ verweist auf den Begriff der „sozialen, wirtschaftlichen, spirituellen und physischen Hebung des Judentums“, der auf dem IV. Zionisten-Kongress 1900 in London für die ‚Kulturfrage‘ geprägt wurde. 166 MBW 3, 144 ff. 167 Das Adjektiv „königlich“ ist ein Verweis auf die jüdischen Könige und somit die historische Zeit, als es eine jüdische Staatlichkeit gegeben hat. 168 Martin Buber: Ein geistiges Zentrum. In: Ost und West, Jg. 2 (Oktober 1902), H. 10, Sp. 663– 672. Im Folgenden zitiert im Text nach der Werkausgabe: MBW 3, S. 155–165. 169 MBW 3, 155. 170 MBW 3, 164. Dabei ist zu beachten, dass Buber mit diesen Worten für eher konventionelle kulturpolitische Forderungen der Kulturarbeit, namentlich für die Einrichtung von „Mit-
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Der deutschsprachige Kulturzionismus
diese Konzeption die kulturzionistische bzw. jung-jüdische Lyrik bestimmt, wird anhand von Titeln wie Max Barbers Junge Harfen,171 Berthold Feiwels Die Ersten172 und Anton Lindners Fruehling als „holde Auferstehungsweise“173 und den Bezug auf die Tradition König Davids als Psalmendichter und Kämpfer für jüdische Eigenstaatlichkeit augenscheinlich, wie weiter oben ausgeführt. Über diese Vorläufer eines avantgardistischen Erneuerungsanspruches geht Buber in seiner dritten Rede über das Judentum am 18. Dezember 1910 vor den Mitgliedern des kulturzionistischen Studentenvereins Bar Kochba in Prag hinaus.174 Buber markiert schon mit dem Titel Erneuerung des Judentums seine Abkehr vom Konzept der „Jüdischen Renaissance“ und fordert eine „Erneuerung im absoluten Sinne“.175 Im Kontext der hier dargestellten Zusammenhänge ist es sicherlich kein Zufall, dass die Radikalisierung des kulturzionistischen Programms zeitlich mit der Entstehung der historischen Avantgarde um 1910 zusammentrifft, so dass von einer zweiten Phase der expliziten Annäherung an die historischen Avantgarden gesprochen werden kann.176 Den avantgardistischen Impetus macht schon Bubers Motto der „absoluten Erneuerung“ deutlich, mit dem er den Propheten Jesaja zitiert: „Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen“ ( Jesaja 65,17). Damit bekräftigt Buber, dass er für das Judentum „nicht lediglich eine Verjüngung oder Neubelebung, sondern eine wahrhafte und vollkommene Erneuerung“177 (MBW 3, 239) anstrebt. Der Gestus ist nun der der radikalen Erneuerung, offensichtlich beeinflusst von Nietzsches Credo einer Umwertung aller Werte. Buber zitiert hier
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teilungscentren“ und „Ausbildungscentren“, v.a. einer „Jüdischen Hochschule“ als „organisatorische[n] Anfang eines geistigen Centrums“ (ebd., 164 f.), argumentiert. Max Barber: Junge Harfen. In: Junge Harfen, S. 3 und Juedischer Almanach, S. 18. Berthold Feiwel: Die Ersten. In: Juedischer Almanach, S. 29 und Junge Harfen, S. 9. Anton Lindner: Fruehling. In: Junge Harfen, S. 6. Buber hat die Rede zuvor in Wien gehalten, vgl. den Kommentar von Barbara Schäfer in: Martin Buber: MBW 3, 415. Die besondere Bedeutung dieser Rede wird u.a. dadurch deutlich, dass Buber für die Publikation aller Reden 1911 die ersten beiden aus der Perspektive der dritten überarbeitet hat, vgl. ebd. MBW 3, 239. Buber selbst macht den Neuheitsanspruch und dessen Radikalität gleich zu Beginn seiner Rede explizit: „Wenn ich von Erneuerung spreche, bin ich mir bewußt, daß dies ein kühnes, ja schier verwegenes Wort ist, das der unserer Zeit geläufigen Welt- und Lebensanschauung widerspricht und von ihr nicht anerkannt werden kann.“ (MBW 3, 238). Buber wertet die Gültigkeit des Begriffes „Jüdische Renaissance“ ab, indem er betont, dass diese Bezeichnung mehr aus „einem Wort der Hoffnung […] denn der Erfahrung“ (MBW 3, 254) hervorgegangen sei. Inka Bertz beobachtet hingegen eine Entfremdung des Kulturzionismus von den Avantgarden. Inka Bertz: Jüdische Renaissance, S. 176. MBW 3, 239.
Das kulturzionistische Projekt der „Erneuerung“
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Jesaja, was aber von Barbara Schäfer unberücksichtigt bleibt,178 in diesem Zitat spricht jhwh selbst. Indem die göttliche Deklaration, eine neue Erde und einen neuen Himmel schaffen zu wollen, als Leitmaxime für menschliches Handeln übernommen wird, wird im gewissen Sinne eine Transgression begangen. Buber markiert mit dieser Haltung einen Übergang des Kulturzionismus von einer Phase der Mitwirkung an der Entwicklung avantgardistischer Formensprache im Umfeld der Bohème zu einer Phase einer radikalisierten Rhetorik, die als direktes Anknüpfen an die sich etablierenden historischen Avantgarden zu verstehen ist. Die „Idee der Erneuerung in diesem absoluten Sinne“ (MBW 3, 239) ist für Buber dabei jedoch eingebettet in sein Konzept des Judentums als einem geistigen Prozess,179 der sich als „Streben nach einer immer vollkommeneren Verwirklichung […] der Idee der Einheit, der Idee der Tat und der Idee der Zukunft“ (MBW 3, 243)180 vollzieht. Die Radikalität reicht also nicht an spätere Konzepte eines dadaistischen „provokative[n] Nihilismus“ heran, die „das ‚Alte‘ neutralisieren“ wollen und eine „Neuschöpfung ‚aus dem Nichts‘“ propagieren.181 Ein Weiterführen der jüdischen Tradition ist auch im Konzept der „absoluten Erneuerung“ gewahrt. Die Buchausgabe von Bubers vierter Rede vor den Mitgliedern von Bar Kochba Vom Geist des Judentums (1916) bewegt sich weiter in die 1910 eingeschlagene Richtung. Bezeichnenderweise erscheint sie im expressionistischen Kurt Wolff Verlag und hebt somit Bubers Verbindung zu dieser Avantgardebewegung hervor. Das Motto der vierten Rede lautet: „Brecht euch einen Neubruch; Es ist Zeit Jahwe zu suchen.“ (Hosea 10,12) Erneut zitiert Buber den Ausspruch eines Propheten. Der Terminus „Neubruch“ und der Imperativ „brecht euch“ referieren beide auf den Traditionsbruch der Avantgarde und drücken einen radikaleren und martialischeren Erneuerungsanspruch aus als der Begriff des „Neuschaffens“ von 1901. Bubers im Kontext der historischen Avantgarden und des Ersten Weltkriegs radikalisierte Rhetorik zeigt sich des Weiteren in der expliziten Formulierung eines revolutionären Anspruchs. Buber ändert den Modus der angestrebten Erneuerung, indem er sich von der Idee der Evolution, wie Achad Haam sie vertreten hat (vgl. MBW 3, 238, 241, 254),182 abwendet, an deren Stelle den Modus der Revolution setzt und damit seinen kulturzionistischen Mentor explizit überschreitet. Buber 178 Barbara Schäfer: Jewish Renaissance and Tehiyya. 179 „Das Judentum ist ein geistiger Prozess, der sich in der inneren Geschichte des Judenvolkes und in den Werken der großen Juden dokumentiert hat.“ (MBW 3, 242) 180 Die Idee der Einheit bezieht sich dabei auf den monotheistischen Gedanken, die Idee der Tat auf eine Tatbezogenheit des Judentums gegenüber einer Religion des Glaubens und die Idee der Zukunft auf den messianischen Aspekt. Alle drei Konzepte gehen mit spekulativen und essentialisierenden Vorstellungen über das Wesen des Judentums einher. 181 Hubert van den Berg: Metzler Lexikon Avantgarde, S. 71. 182 Martin Buber: Drei Reden über das Judentum. Frankfurt/Main 1911. MBW 3, S. 238–256. Buber tritt hier erstmals in seiner Emphase für den Begriff „Jüdische Renaissance“ zurück.
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geht es nicht mehr um einen allmählich sich vollziehenden Prozess der Erneuerung, sondern um einen Moment der plötzlichen und grundsätzlichen Umkehr: Denn ich meine mit Erneuerung durchaus nichts Allmähliches und aus kleinen Veränderungen Summiertes, sondern etwas Plötzliches und Ungeheures, durchaus nicht Fortsetzung und Verbesserung, sondern Umkehr und Umwandlung. Ja, gerade so, wie ich für das Leben des einzelnen Menschen daran glaube, daß es darin einen Moment des elementaren Umschwungs geben kann, eine Krisis und Erschütterung und ein Neuwerden von der Wurzel bis in alle Verzweigungen des Daseins, gerade so glaub ich für das Leben des Judentums daran. (MBW 3, 239; Hervorh. B.M.K.)
In Bubers nietzscheanischen Formulierungen klingt eine Rastlosigkeit an, die Sehnsucht nach einer Krisis, die den Moment des Umschwungs bringen soll, die Buber zu seiner anfänglichen Begeisterung für den Ersten Weltkrieg geführt hat. Diese Haltung steht derjenigen von vielen Künstler/innen und Autor/innen des Expressionismus nahe, die die Vorstellung vertraten, das Ziel eines „neuen Menschen“ sei durch einen radikalen Umschwung oder einen Krieg zu erreichen. Inhaltlich definiert Buber die angestrebte absolute Erneuerung des Judentums im Modus der Revolution als Erneuerung des Geistes. Der von Buber beschriebene Geistesprozess (Einheit, Tat, Zukunft) soll neu anheben, das Judentum als „schaffendes Volk“ hervortreten.183 Buber strebt eine tiefere Erneuerung an, wenn sie wirkungsvoll sein soll: Die muß in tieferen Schichten anheben, auf dem Grunde des Volksgeistes, da wo einst die großen Flammen des großen Geisteskampfes brannten, und wo aus der Glut die drei Gewaltigen, [jhwh] , der Einheitsgott, Meschiach, der Träger der Zukunft, und Jisrael, der um seine Tat ringende Mensch, in reiner Kraft, weltumfangend hervortraten.184
Dabei bindet Buber seine Forderung nach einer absoluten Erneuerung im gleichen radikalen Gestus erneut an die Kategorie des Lebens zurück, das nun gleichermaßen als „absolutes Leben“ bezeichnet wird: „In der Gegenwart kennt das jüdische Volk nur das relative Leben; es muß das absolute Leben, es muß das lebendige Judentum wiedergewinnen.“185
183 MBW 3, 253: „Die Erneuerung des Judentums“. 184 Ebd., 254. 185 Ebd., 253. Buber definiert das „absolute Volksleben“ als „das wahre Leben eines schaffenden Volkes“, verbundenen mit einem „nicht lediglich aggressiven oder defensiven“, sondern „positive[n] Volksbewusstsein, das Bewusstsein von der unsterblichen Substanz des Volkes“ (ebd.).
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„Absolute Erneuerung“ und „absolutes Volksleben“ sind allein mit einem avantgardistischen Impetus möglich: „aber das, wovon ich einzig das Absolute erwarte, [ist] die Umkehr und Umwandlung, de[r] Umschwung aller Elemente“ (MBW 3, 242). Die an Buber exemplarisch zu beobachtende Radikalisierung und damit verbunden explizitere Profilierung eines kulturzionistischen Projekts der Erneue rung der jüdischen Tradition findet im Kontext der und als Beitrag zur Entwicklung der historischen Avantgarden statt. Das Projekt erfährt jedoch durch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs und Bubers Abrücken von seiner anfänglichen Kriegsbegeisterung nach Gustav Landauers Intervention eine neue Ausrichtung auf ethische, dialogische, die Position des Anderen stärker berücksichtigende Konzepte, die durch jüdisch-messianische Aspekte weiterhin mit Tendenzen innerhalb der historischen Avantgarden verbunden sind. So lassen sich für den Bezug des Kulturzionismus zur Avantgarde neben der Erneuerungsthematik zwei inhaltliche Schwerpunkte unterscheiden, die in den unterschiedlichen geistesgeschichtlichen und lebenspraktischen sowie künstlerischen Zeitumständen begründet sind. Diese sollen im Folgenden unter den Stichworten „Jüdische Renaissance – jüdische Kunst/Literatur und jüdisches Leben“ sowie „antizipatorisches Potenzial – Utopie und Messianismus“ idealtypisch unterschieden werden, wobei es im Detail Überschneidungen und Kontinuitäten gibt. II.3.2 „Jüdische Renaissance“ – Jüdische Literatur/Kunst und jüdisches Leben „So geht es doch den meisten Juden auf der Welt!“ rief Chane. „Sie werden zu Dingen getrieben, die ihnen nicht liegen und die ihrer nicht würdig sind, und sie brennen vor Sehnsucht, davon loszukommen.“ „Die ganze jüdische Renaissancebewegung beruht darauf !“ warf Kaiser dazwischen. Sammy Gronemann, 1920186
„Die durch äußere Agitation Gewonnenen sollen nicht Zionisten sein, wie man conservativ oder liberal ist, sondern wie man Mensch oder wie man Künstler ist.“187 Diese Forderung verkündet Martin Buber auf dem III. Zionisten-Kongress 1899. Die zunächst im Kontext der zionistischen Bewegung politische Position, „Zionist“ zu sein, wird von Buber als schöpferische Aufgabe („Künstler“) definiert, die die ganze Persönlichkeit („Mensch“) umfasst. Damit gibt Buber 186 Sammy Gronemann: Tohuwabohu. Berlin: Welt-Verlag 1920, S. 336. 187 III. Kongress 1899, 191; Hervorh. B.M.K.
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seine Sicht auf den Zionismus als ein Projekt der Verschmelzung von Kunst und Leben (sozialer Realität), Leben und Werk zu erkennen, die die Grenzen zwischen Kunst (Kultur) und Politik unscharf werden lässt.188 Ein entsprechender, hier prototypisch unterschiedener erster Schwerpunkt des kulturzionistischen Projekts konzentriert sich im Kontext von Bohème-Milieu und der Nähe zu den Lebensreformbewegungen um die Jahrhundertwende auf die (tendenzielle) Auflösung der Grenze zwischen Kunst/Literatur und Leben, verbunden mit dem Anspruch, von der Kunst ausgehend die Gesellschaft zu verändern und eine „neue Kunst“ und einen „neuen Menschen“ zu schaffen. Für die Kulturzionist/innen geht es vor allem um die Entwicklung einer nationaljüdischen Kunst und Literatur, die wiederum eine positiv konnotierte, schöpferische, moderne nationaljüdische Identität ermöglichen soll. Besonders deutlich wird dieses Konzept in Bubers Rede Von jüdischer Kunst (1901) auf dem V. Zionistischen Kongress 1901, der weiter oben als Selbstproklamation der „Demokratischen Fraktion“ als Avantgarde der zionistischen Bewegung interpretiert worden ist. Hier formuliert Buber das Konzept, durch „Werke“ „zu Zionisten zu machen“: Wir gewinnen weite Kreise der Intelligenz, die sich von uns fernegehalten, weil sie in unserer Bewegung nur politische Leitworte erblicken und den tief modern-culturellen Gehalt der Sache nicht kennen. Wir propagieren unsere Ideen durch Werke, in denen sie sich verkörpert. Wir machen endlich die Unseren zu wahren, ganzen Zionisten. (Beifall.) (V. Kongress 1901, 167 f.)
Es ist wohl kein Zufall, dass Buber hier nicht ‚erziehen‘ sagt, obwohl seine Rede Anklänge an das klassisch-idealistische Erziehungsmodell aufweist. Der Fokus liegt auf einer scheinbar unmittelbareren Kategorie, „dem Leben“: „Das Leben allein kann zu wirklichen Zionisten machen.“ (V. Kongress 1901, 168) Das klassisch-idealistische Modell der Erziehung durch Kunst und Schönheit189 wird im Kontext von Jugendstil und Ästhetizismus der Jahrhundertwende mit avantgardistischen Impulsen einer Rückführung von Kunst auf das Leben und die Politisierung beider umgedeutet,190 das Ziel ist es: „die Idee zu leben“ (ebd.). 188 Diesen Zusammenhang hat Inka Bertz: Jüdische Renaissance, S. 158, gesehen: „Die von der Bohème, in der sich viele Kulturzionisten bewegten, ausgegebene Devise der Verschmelzung von Kunst und Leben brachte auch die Grenzen von Kunst und Politik und die von Politik und Leben zum Verschwimmen“. 189 Buber versteht die Kunst u.a. als „ein[...] große[r] Erzieher“: „Unsere Kunst wird aber auch uns belehren. […] Wir werden sie anschauen und uns erkennen.“ Martin Buber: Gesammelte Aufsätze und Ansprachen 1900–1915. 2., verb. u. erw. Aufl. Berlin 1920, S. 65 f. 190 Zu Bubers pädagogischen Schriften vgl. Martin Buber: Werkausgabe. Hrsg. v. Paul MendesFlohr u. Peter Schäfer. Bd. 8: Schriften zu Jugend, Erziehung und Bildung. Hrsg., eingel. u.
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Buber setzt auf Modelle, wie Leben oder Erlebnis,191 die eine vermeintliche „Ursprünglichkeit“ und Innerlichkeit bzw. Authentizität suggerieren: Das ist innerliche Erziehung des Volkes. Das ist zugleich: Den schaffenden Kräften Bethätigung geben. Das ist aber auch: Propaganda in grossem Stil. Wir haben bisher durch das Wort agitiert. Nun wollen wir aber durch das Leben agitieren. (V. Kongress 1901, 167 f.)
So fragt sich der junge Jude in Bubers erster Rede zum Judentum Das Judentum und die Juden zufolge: „Was macht es, daß er das Volk nicht bloß um sich: daß er es in sich fühlt?“192 Dabei ist ein an die Avantgarden anschließbares Moment der ästhetischen Überwältigungserfahrung kalkuliert oder angestrebt, wie Buber es in einem Brief an Theodor Herzl vom 3.5.1902 formuliert: Sie haben wahrscheinlich gehört, daß unser jungjüdischer Abend in sehr erfreulicher Weise verlaufen ist. Das Programm war nahezu ausschließlich prononciert zionistisch, und da die Kreise, die sonst bei unseren Veranstaltungen zu fehlen pflegten, sehr zahlreich vertreten waren, darf man wohl von einem großen Propaganda-Erfolge sprechen. Leute, die sonst nicht viel von uns wissen wollen, waren tief ergriffen, und man sah ihnen an: die werden den Zionismus in sich nicht mehr loswerden können. In dieser überwältigenden künstlerischen Form packt unsere Idee die Leute stärker und hält sie ganz anders fest als in der Form der Versammlungsreden, die ich jedoch in ihrer aufklärenden und beweisenden Bedeutung durchaus nicht unterschätze.193
Martin Buber entwickelt im Rahmen dieses Konzepts ein Modell einer individuellen Selbsterziehung zu einer neuen jüdischen Identität194, deren geistesgeschichtliche Grundlagen er in den Drei Reden über das Judentum vor den Mitkomm. v. Juliane Jacobi. Gütersloh 2005. 191 Buber übernimmt den Begriff von Wilhelm Dilthey, passt ihn aber der eigenen Theoriebildung an. 192 MBW 3, 218–227, hier 221. 193 Brief Bubers an Theodor Herzl, 3.5.1902. Martin Buber: Briefwechsel. Bd. 1, S. 173 (Hervorh. B.M.K.). Auch Herzl selbst nutzte bekanntermaßen entsprechende Überwältigungseffekte für seine Inszenierung der Zionistischen Kongresse. Vgl. u.a. Robert Wistrich: Theodor Herzl. Between Myth and Messianism. 194 Caspar Battegay hat anschaulich gezeigt, dass diese Argumentation maßgeblich auf einem Zirkelschluss beruht, in dem man sich zuerst zum eigenen Judentum bekennt und dann entsprechend in sich eine „jüdische“ Substanz entdeckt, und wie diese Aporie im Begriff des Blutes verschleiert wird. Caspar Battegay: Der Sound des Bluts – Martin Buber. In: Ders.: Das andere Blut, S. 174–189.
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gliedern des dem Kulturzionismus nahestehenden Vereins jüdischer Studenten Bar Kochba in Prag vorträgt. So profiliert Buber die „Erneuerung des Judentums“ (1910) in der „Dritten Rede über das Judentum“ deutlich als eine Frage der persönlichen Erneuerung und (Selbst-)Erziehung zum Judentum, also als Veränderung der eigenen Persönlichkeit und des eigenen Lebens: […] bereit sein heißt sich und die anderen zu dem großen Selbstbewußtsein des Judentums erziehen, zu dem Selbstbewußtsein, dem der Geistesprozeß des Judentums in seiner ganzen Größe, in der Fülle seiner Elemente, in den vielfältigen Wandlungen seiner geschichtlichen Offenbarung und in dem namenlosen Geheimnis seiner latenten Gewalten sich kundtut. (MBW 3, 256)
Alle Juden und Jüdinnen sind dazu aufgerufen, die „großen Tendenzen des Judentums in [ihrem] persönlichen Leben [zu] verwirklichen“.195 Angestrebt wird das Modell eines „neuen Juden“, der eine „einheitliche Persönlichkeit“ entwickelt, die ihre innere Zerrissenheit überwindet196 und sich gegen das kon struierte innerjüdische und antisemitische Feindbild jüdischer „Degeneration“ im Ghetto oder in der Phase der „Assimilation“ abgrenzt. Es ist offensichtlich, dass das Streben nach der Überwindung der Zerrissenheit, gerade durch Hinwendung zur Natur und zu körperlicher Arbeit sowie zu explizit sinnlicher Kunst und Literatur, an lebensreformerische Modelle der Jahrhundertwende anknüpft.197 Die Forderung nach einem „neuen Menschen“ und einer „neuen Kunst“ wird im Kontext von Bohème und Jugendstil entwickelt und prägt die historischen Avantgarden.198 Die Kulturzionist/innen nehmen mit ihrem Projekt der „Jüdischen Renaissance“ und später der „Jüdischen Erneuerung“ 195 Ebd. 196 Nachweise für diese Programmatik finden sich schon in Bubers Essay Jüdische Renaissance (1901), wenn Buber schreibt: „Die Bewegung, die in unserer Zeit anhebt, wird den Juden wieder dazu bringen, sich als Organismus zu fühlen und nach harmonischer Entfaltung seiner Kräfte zu streben, ins Gehen, Singen und Arbeiten so viel Seele zu legen wie in die Behandlung intellektueller Probleme, und seines gesunden vollkommenen Leibes in Stolz und Liebe froh zu werden. Sie wird den Zwiespalt zwischen Denken und Thun, die Inkongruenz von Enthusiasmus und Energie, von Sehnsucht und Opfermut aufheben und die einheitliche Persönlichkeit, die aus einer Willensglut heraus schafft, wiederherstellen.“ (MBW 3, 146 f.) 197 Zur Verbindung von Literatur und Lebensreform zuletzt: Thorsten Carstensen, Marcel Schmid (Hg.): Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900. Bielefeld 2016. 198 Vgl. hierzu: Alexandra Gerstner, Barbara Könczöl, Janina Nentwig (Hg.): Der Neue Mensch. Utopien, Leitbilder und Reformkonzepte zwischen den Weltkriegen. Frankfurt/Main u.a. 2006. Gottfried Küenzlen: Der neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne. Frankfurt/Main 1997.
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Anteil an deren Entwicklung. So sind in späteren Jahren deutliche Parallelen zu expressionistischen Modellen der Veränderung des Menschen ‚von innen‘ durch eine ‚Wandlung‘ festzustellen.199 Dass der Anspruch, ein „jüdisches Leben“ zu erschaffen, im Kontext des Auftretens der historischen Avantgarden weiterbesteht, zeigt Bubers Artikel Kulturarbeit (1917), in dem er den Anspruch der „Jüdischen Erneuerungsbewegung“ folgendermaßen formuliert200: Was wir wollen, dafür ist das Wort ‚Kultur‘ zu groß – und zu klein. Wir wollen nicht ‚Kultur‘, sondern Leben. Wir wollen das jüdische Leben umgestalten; das heißt: wir wollen aus dem Leben von Juden ein jüdisches Leben machen.201
Die Kulturzionist/innen wollen nicht nur einige Werke jüdischer Kunst oder Literatur schaffen, sie wollen auf das jüdische Leben selbst einwirken. Durch kulturelle Bestrebungen wie die Förderung jüdischer Kunst und Literatur, durch Publikations-, Editions-, Übersetzungstätigkeit, jüdische Erziehungs- und Bildungsarbeit, praktische Siedlungstätigkeit bis hin zur Errichtung von Kultureinrichtungen wie einer Jüdischen Hochschule in Palästina, soll ein „neues jüdische Lebens“ erschaffen werden. Das erneuerte jüdische Leben ist ein zionistisches Leben im Sinne eines Zionismus, der keine Lebensanschauung, sondern eine Lebensform ist, und wird dabei selbst zum Kunstwerk. So legt Buber in seiner Rede Zionismus als Lebensanschauung und als Lebensform vom 2. Mai 1914 vor den Mitgliedern des kulturzionistischen Vereins Jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag den Unterschied zwischen fiktiven und realen Anhängern eines Ismus202 dar, der sich darin zeige, dass die einen ihn als bloße Lebensanschauung vertreten, während die anderen ihn als Lebensform lebten. Am Beispiel des Sozialismus beschreibt er das Konzept der Lebensform, das auch für die Anhänger anderer Ismen, namentlich genannt werden Konservatismus, Liberalismus und Zionismus, zutreffe:
199 Vgl. Walter Fähnders: „Ein Flügel der Avantgarde setzt auf eine Veränderung des Menschen ‚von innen‘ – so der Expressionismus, zu dessen zentralen Vorstellungen die ‚Wandlung‘ des Menschen gehört, die durch eine Opfertat […] oder durch die Apokalypse des Krieges herbeigeführt werden kann“. Walter Fähnders: Metzler Lexikon Avantgarde, S. 226. 200 Martin Buber: Kulturarbeit. In: Der Jude, 1. Jg. (März 1917), Heft 12, S. 792–793. MBW 3, 276–278. 201 MBW 3, 276. 202 Vgl. für die Begriffsverwendung in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Avantgardeforschung u.a.: Hubert van den Berg und Walter Fähnders: Metzler Lexikon Avantgarde, S. 1 ff.
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Der Sozialismus [bzw. u.a. der Zionismus, Anm. B.M.K.] ist real, wen er nun auch dieses Leben formt, wenn er nicht bloss Disposition bleibt, sondern wenn er aus der Disposition und Lebensanschauung auch dieses Leben formt, zum Leben, zum Inhalt auch Gestalt gibt und der Mensch dieses Leben lebt wie ein Werk, wie ein Kunstwerk, gestaltet, durchgebildet. (MBW 3, 135; Hervorh. B.M.K.)
Als Modell dieses „neuen Juden“ bzw. dieser „neuen Jüdin“ werden im Rahmen der allgemeinen Orientbegeisterung im Kontext der imperialistischen Bestrebungen des Wilhelminischen Kaiserreichs und auf die v.a. auch literarisch und philosophiegeschichtlich tradierte Verbindung von Judentum und Orient im 19. Jahrhundert orientalistische bzw. orientalisierte Konzepte von jüdischer Identität entwickelt.203 Buber spricht 1902 in seinem Artikel „Ein geistiges Zentrum“ von einer ererbten und mit dem Klima und Boden Palästinas verbundenen „orientalischen Eigenschaft“ von Juden und Jüdinnen (MBW 3, 159 f.). Die berühmte Formulierung, das „Judentum [war] der Apostel des Orients vor der Menschheit“ (MBW 3, 237) findet sich in der Zweiten Rede zum Judentum von 1910. Explizit entfaltet Buber das Konzept erst in der vierten Rede: Der Geist des Orients und das Judentum (1916).204 Bei Buber ist außerdem eine Verbindung von orientalischen und „ostjüdischen“ Konzepten „authentischer“ jüdischer Identität zu beobachten. Als Vorbild für den Entwurf einer orientalisierten literarischen Tradition für die deutsch-jüdische Literatur fungiert Heinrich Heine. Als ein frühes Beispiel der Verbindung von Kulturzionismus, Orientalismus und der Inszenierung orientalisierter jüdischer Identität und deren Authentizität im Rahmen einer Vorwegnahme bzw. Vorform avantgardistischer Inszenierungsformen kann die Performance des Zionisten Heinrich Loewe gelten, die er 1896 anlässlich der Gewerbeausstellung im Treptower Park in Berlin in der Abteilung „Kairo“ aufgeführt hat. Sie wurde auf der Basis von historischen Quellen folgendermaßen beschrieben: Dort befand sich, gegenüber dem Nilpanorama und dem Beduinenlager, zwischen der großen Pyramide und dem Edfutempel „ein Haus, das eine getreue Nachahmung eines Teils vom Turme Davids in Jerusalem darstellt“. Tische und Stühle aus Bambusrohr, 203 Eine ausführliche Darstellung kann hier nicht erfolgen. Der Zusammenhang von Zionismus und Orientalismus ist im Kontext der Postcolonial Studies untersucht worden, wobei Edward Saids Konzept hier „blinde Flecken“ aufweist. Vgl. dazu kritisch Laurel Plapp: Zionism and Revolution in European-Jewish Literature. New York u.a. 2008. 204 Auch Hans Kohns Beitrag erscheint erst 1913: Hans Kohn: „Der Geist des Orients“. In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Hrsg. v. Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag. Leipzig 1913, S. 9–18, ebenso Jakob Wassermann: Der Jude als Orientale. Ebd., S. 5–8. Der Artikel von Davis Trietsch: Der Juedische Orient. In: Juedischer Almanach 5663, S. 253–258, behandelt kaum kulturelle oder poetische Aspekte.
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Palmenzweige und orientalische Blumen schmückten das Innere des Pavillons. Dort saß Heinrich Loewe, einen Fez auf dem Kopf, verkaufte Wein, Parfum und andere Produkte der jüdischen Kolonien in Palästina und präsentierte dem staunenden Publikum Zeitungen in modernem Hebräisch.205
Die Inszenierung trägt schon deutliche Züge avantgardistischer Happenings und Performances, da hier durch die Präsenz des Hebräischen in aktuellen Zeitungen und durch die Produkte aus den ersten jüdischen Kolonien in ‚Eretz Israel‘ für die Besucher/innen ein antizipatorisches Moment eingelöst wird, da ein utopisch erscheinendes Projekt als schon realisiert erfahrbar wird. Ebenso wird die scheinbare Realität und Authentizität einer „orientalischen“ jüdischen Identität durch die Verkleidung Heinrich Loewes erzeugt. Generell darf die Authentizitätscharakter stiftende Kraft solcher ethnologischen Nachahmungen gerade im Kontext der allgemeinen Orientbegeisterung nicht unterschätzt werden.206 So weist die literarisierte Schilderung der Wirkung derselben Inszenierung durch den Autor Sammy Gronemann anlässlich Heinrich Loewes 75. Geburtstags 1944 deutlich auf die gelungene Inszenierung einer „orientalischen“ jüdischen Identität hin: Ich sehe ihn [Heinrich Loewe, Anm. B.M.K.] in allen Stadien seines Lebens: Wie er 1896 auf der Berliner Gewerbeausstellung, den roten Fez auf dem Kopf, auf einem Tabouret vor dem Eingang zu dem Pavillon der jüdischen Kolonien in Palästina sass, in dem Hirsch Hildesheimer und der Weinbauer Schub Esra-Wein ausschenkten, und eine Dame schnüffelte neugierig und lüstern um den hübschen Fremdling aus dem Morgenlande herum, nicht ganz so schön wie Heines Prinzessin, aber auch sie wollte wissen: Name, Heimat, Sippschaft. ‚Wo sind Sie geboren‘? fragte sie zaghaft und sorgsam artikulierend. Da erhob sich der Fremde von dem Stamme der Asra: „Dr. Heinrich Loewe aus Magdeburg“.207
Heinrich Loewe wirkt also tatsächlich wie ein „hübsche[r] Fremdling aus dem Morgenlande“, also ein orientalischer Jude. Entsprechend geht bei dieser Insze205 Inka Bertz: Jüdische Renaissance, S. 177, bezieht sich auf Heinrich Loewes sachliche und eher gewerblich orientierte Darstellung des Ereignisses in der Zeitung für jüdische Vereine in Berlin. Heinrich Loewe: Eine jüdische Palästinaausstellung in Berlin. Berliner Vereinsbote, 2 (10.7.1896), H. 28, S. 1 f., und auf die deutlich literarisierte Schilderung der Inszenierung bei Sammy Gronemann: Heinrich der Löwe. In: Meilensteine, S. 30–32. 206 Für Lasker-Schülers Orientalisierungen haben Markus Hallensleben (2000) und Sylke Kirschnick (2007) die Verbindung zu zeitgenössischen Werbeplakaten, Anzeigen und Gewerbe- und Weltausstellungen gezeigt. 207 Sammy Gronemann: Heinrich der Löwe. In: Meilensteine, S. 31.
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nierung die Wirkung von im weitesten Sinne kulturellen Produkten (landwirtschaftliche Erzeugnisse und Zeitungen in modernem Hebräisch) mit identitären, politischen Aspekten ineinander über. Eine ähnliche Wirkungsabsicht hatte die weiter oben von den Mitgliedern der „Demokratischen Fraktion“ im Rahmen des VI. Zionistischen Kongresses 1901 organisierte erste Ausstellung moderner jüdischer Kunst. Ziel war auch hier, die Grenze von jüdischer Kunst und jüdischem Leben bzw. zionistischer Politik und zionistischem Leben zu verwischen. Das in solchen Unternehmungen und dem Streben nach einer „neuen jüdischen Kunst“ und einem „neuen jüdischen Menschen“ zu beobachtende antizipatorische Element bildet den dritten Schwerpunkt des kulturzionistischen Projekts einer „Erneuerung“ der jüdischen Tradition und betont die enge Anbindung des Projekts an die Avantgarden. II.3.3 Das antizipatorische Potenzial – Utopie und Messianismus
Dass der (kultur-)zionistische Diskurs utopische Elemente enthält, ist offensichtlich.208 Die Forderung nach der Errichtung eines jüdischen Staates oder die Ziele des Kulturzionismus, ein „geistiges Zentrum“ in ‚Eretz Israel‘ zu begründen und das Judentum zu „erneuern“, waren zu ihrer Entstehungszeit weit entfernt von ihrer tatsächlichen Realisierung. Sie rekurrieren innerhalb der jüdischen Tradition und des jüdischen kulturellen Gedächtnisses letztendlich auf eine über Jahrhunderte in der Diaspora tradierte Erinnerung an das und die Sehnsucht nach dem verlorene/n Land, wobei die Rückkehr traditionell mit messianischen Vorstellungen verbunden ist. Dies zeigen u.a. die Diskussionen mit (ultra)orthodoxen Kreisen, die die Errichtung eines jüdischen Staates durch Menschenhand (bis heute) ablehnen, da diese erst durch jhwh selbst, markiert durch das Kommen des Meschiach, erreicht werden könne. Auch die Rezeption und z.T. Selbststilisierung Theodor Herzls als moderner Messias,209 wie sie z.B. der russisch-zionistische Journalist Mordechai Ben-Ami mit dem Bericht über seine Wahrnehmung Herzls auf dem I. Zionistischen Kongress überliefert, gehört in diesen Kontext: Es ist nicht mehr der elegante Dr. Herzl aus Wien, es ist ein aus dem Grabe erstandener königlicher Nachkomme Davids, der vor uns erscheint, in der Größe und Schönheit, mit der Phantasie und Legende ihn umwoben haben. Der ganze Saale ist ergriffen, als hätte sich ein historisches Wunder vollzogen. […] Der zweitausendjährige Traum unseres 208 Vgl. zeitgenössisch Karl Landauer und Herbert Weil: Die zionistische Utopie. München 1914. 209 Vgl. u.a. Robert S. Wistrich: Theodor Herzl. Between Myth and Messianism.
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Volkes schien in Erfüllung zu gehen; es war, als ob der Moschiach [Messias, Anm. B.M.K.] Ben David vor uns stand […].210
Diese utopische bzw. jüdisch-messianische Ebene stellt eine weitere Parallele zwischen Kulturzionismus und historischer Avantgarde dar, wobei der Kulturzionismus wiederum als Vorreiter der zionistischen Bewegung gelten kann, der diesen Aspekt explizit und konzeptuell fruchtbar macht. Kulturzionismus und Avantgarde entfalten ihr utopisches Potenzial in ihren Versuchen, einen neuen Menschen, eine neue Kunst, ein neues Leben zu schaffen,211 der Kulturzionismus mit den schon erwähnten Aporien in einem nationaljüdischen Kontext. Eine utopische Komponente des Expressionismus ist prominent dokumentiert in Kurt Pinthus’ Einleitung zu der von ihm herausgegebenen Sammlung expressionistischer Dichtung Menschheitsdämmerung: Diese zukünftige Menschheit, wenn sie im Buche „Menschheitsdämmerung“ […] lesen wird, möge nicht den Zug dieser sehnsüchtigen Verdammten verdammen, denen nichts blieb als die Hoffnung auf den Menschen und der Glaube an die Utopie.212
So wird in der Forschung von einer generellen Nähe zwischen den Avantgarden und Utopien ausgegangen, da sie strukturelle Gemeinsamkeiten in ihren Entstehungsursachen und Realitätsbezügen aufweisen. Der für den Kulturzionismus wesentlichste Aspekt geht jedoch über die von Pinthus beschworene Zukunftsdimension hinaus, bei der eine „zukünftige Menschheit“ aus der Position von etwas Realisiertem auf dessen Anfänge als Hoffnung und Utopie zurückblickt. Vielmehr findet sich die strukturelle Nähe im Konzept eines „Präsentismus“, mit dem etwas Zukünftiges in der Gegenwart realisieren werden soll.213 So lässt sich für die „Jüdische Renaissance“ und verstärkt ab 1910 für die „Jüdische Erneuerung“ eine Denkfigur nachweisen, die dadurch charakterisiert 210 Mordechai Ben-Ami: Erinnerungen an Theodor Herzl. In: Die Welt, Jg. 18 (3. Juli 1914), H. 27, S. 687–692, hier S. 692. 211 Hubert van den Berg: Metzler Lexikon der Avantgarde, S. 150, stellt für die sich in den 20er Jahren gegen den Traditionalismus der Bezalel-Schule in Jerusalem engagierenden Künstler/ innen eine Überschneidungen auf „ideologisch-programmatischer Ebene“ „mit utopischen Dimensionen der Avantgarde wie des Zionismus, u.a. in der Vorstellung vom ‚Neuen Menschen‘“ fest. 212 Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung. Berlin: Ernst Rowohlt 1920 (1919), S. XVI. 213 „Mit ihrem ‚Präsentismus‘ (Walter Fähnders) und ‚Manifestantismus‘ waren die Avantgarden utopisch und die Utopien avantgardistisch.“ Inge Münz-Koenen: Utopie. In: Lexikon Avantgarde, S. 351–353, hier S. 352. Münz-Koenen definiert den Begriff als „partielle Verwirklichung der Zukunft in der Gegenwart“ (ebd.).
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wird, dass es sich nicht mehr wie in der historischen Moderne um ein Projekt handelt, das auf Vollendung hin konzipiert ist (Habermas 1981), sondern um ein Projekt, das schon im Hier und Jetzt partielle Erfüllung findet.214 Als Vorläufer und in enger Anbindung an das antizipatorische Projekt der historischen Avantgarde lassen sich für den Kulturzionismus ähnliche Ansätze nachweisen. Sie entstehen wiederum um 1900 im Kontext von Bohème, Lebensreform und gnostischen Vorstellungen,215 und werden später gerade von Martin Buber radikalisiert und zu einer kulturzionistischen Theorie einer messianischen Menschentat im Hier und Jetzt in schöpferischer Zusammenarbeit mit jhwh ausgearbeitet.216 Dabei sind sich die Kulturzionist/innen des utopischen Anteils ihrer Bestrebungen und der Attraktivität, die von diesem ausging, von Anfang an bewusst. So spricht Buber in seiner Rede Von jüdischer Kunst (1901) auf dem V. ZionistenKongress von einer Art ‚Möglichkeitssinn‘217 des Zionismus, der jüdischen Kunst und damit der Ziele des Kulturzionismus: „Das, was wir jüdische Kunst nennen, ist kein Sein, sondern ein Werden, keine Erfüllung, sondern eine Möglichkeit, ebenso wie der Zionismus heute ein Werden und eine schöne Möglichkeit ist.“218 Schon sehr früh ist die Tendenz zu beobachten, ein bloßes utopisches Element, im Sinne von „Nichtort“, also potenzieller Unrealisierbarkeit oder Unerreichbarkeit, gerade in der Realität, zu Gunsten eines „unmittelbaren Handelns“ im Sinne der utopischen Ziele in der Gegenwart zu überschreiten.219 In seinem Artikel Gegenwartsarbeit (1901)220 beschreibt Buber dies als „Arbeit an der Zukunft“ auf der Basis eines „activen Glaubens an die Zukunft“ (MBW 3, 70), der auf „den Wandlungen, die ihr [der jungen Generation von Zionisten, Anm. B.M.K.] Glaube an die Zukunft durchmachte“ (MBW 3, 71), basiert. Statt weiterhin „utopisch und phantasievoll“ (ebd.) zu bleiben, begann: „[u]nser Glaube […] den Wegen der geschichtlichen Nothwendigkeit nachzugehen und die gegenwärtigen Verhältnisse mit klaren, unbefangenen Augen zu betrachten“ (MBW 3, 72). Ein 214 Walter Fähnders 2009, S. 72. 215 Vgl. hierzu Yotam Hotam: Moderne Gnosis und Zionismus. Kulturkrise, Lebensphilosophie und nationaljüdisches Denken. Göttingen 2010. 216 Vgl. Martin Buber: Der heilige Weg. Ein Wort an die Juden und an die Völker. Frankfurt/Main: Literarische Anstalt 1919. 217 Der Begriff ‚Möglichkeitssinn‘ geht im Utopiediskurs auf Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930) zurück. Zum Bezug von Utopiediskurs und Zionismus vgl. Clemens Peck: Im Labor der Utopie. Theodor Herzl und das „Altneuland“-Projekt. Berlin 2012. 218 Martin Buber „Von jüdischer Kunst“ [1901] In: Ders: Gesammelte Aufsätze und Ansprachen 1900–1915. 2., verb. u. erw. Aufl. Berlin 1920, S. 63. 219 Martin Buber: Gegenwartsarbeit. In: Die Welt, Jg. 5 (1901), H. 6, S. 4. 220 Zum Begriff Gegenwartsarbeit vgl. FN 77. Nach Barbara Schäfers Kommentar hat Bubers Beitrag Gegenwartsarbeit (1901) mit der politisch-zionistischen Debatte wenig zu tun. MBW 3, 399.
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passives Hoffen auf eine utopische Zukunft wird also abgelöst vom Modell der aktiven Tat, die die utopische Dimension in der Gegenwart „verwirklichen“221 will. So werden schon um 1900 Vorläufer der beschriebenen antizipatorischen Denkfigur der Avantgarden im kulturzionistischen Diskurs deutlich. So u.a. wenn Berthold Feiwel in seinem Artikel Stroemungen im Zionismus (1902) das Ziel der (kultur-)zionistischen Jugend im Umfeld der „Demokratischen Fraktion“ formuliert: „Sie kann und will schon jetzt ‚Zionismus‘ leben.“222 In dieser Formulierung ist enthalten, dass das utopische Potenzial der kulturzionistischen Position durch die Rückführung ins eigene Leben „schon jetzt“ realisiert werden kann. Um 1910 entwickelt Buber die Struktur am Modell des prophetischen Sprechens weiter. Die prophetische Botschaft enthält ein antizipatorisches Element, vergegenwärtigt der Prophet oder die Prophetin doch im Moment seines/ihres Auftretens etwas Zukünftiges, indem er/sie durch sein/ihr Mahnen und vorbildliches, gottesfürchtiges Leben das zu erreichende Ideal bereits im Hier und Jetzt verkörpert. Sowohl Buber als auch zuvor schon Achad Haam haben, wie weiter oben beschrieben, das prophetische Modell in seiner poetischen und ethischen Dimension für den Kulturzionismus fruchtbar gemacht und somit das kultur zionistische Projekt der „Erneuerung des Judentums“ in den beschriebenen antizipatorischen Rahmen gestellt. In seiner Rede Erneuerung des Judentums (1910) rekurriert Buber zunächst explizit auf das utopische Potenzial des Projekts einer „Jüdischen Erneuerung“: „Ich bin mir also bewußt, daß ich, wenn ich von Erneuerung spreche, den Boden dieser Zeit verlasse und den einer neuen, kommenden Zeit betrete.“ (MBW 3, 238 f.) Schon mit der Etablierung dieser Sprecherposition wird ein antizipatorisches Potenzial realisiert, denn der Vortragende spricht im Hier und Jetzt und ist gleichzeitig auf dem „Boden“ einer kommenden Zeit verortet. Er übernimmt damit die Rolle eines prophetischen Kanals, der zwischen Zukunft und Gegenwart vermittelt. Des Weiteren sind Anklänge an eine messianische Dimension markiert, denn kurz darauf zitiert Buber die Offenbarung des Johannes: Der letzte Jesaias läßt den Herrn sprechen: „Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen“ (sic) ( Jes 65,17), und der Autor der Apokalypse bekennt: „Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde.“ (Apk 21,1) Das ist keine Metapher, sondern unmittelbares Erlebnis. Es ist das Erlebnis des Menschen, dem sein Wesen und damit das Wesen der Welt neu geworden ist. (MBW 3, 239)
221 Vgl. hierzu Bubers Begriff der Verwirklichung. 222 Berthold Feiwel: Stroemungen im Zionismus, Sp. 694.
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Der deutschsprachige Kulturzionismus
Der Beginn des Zitates ist in dieser Arbeit schon im Kontext der „absoluten Erneuerung“ auf die Nähe zur historischen Avantgarde hin interpretiert worden. Nun ist von besonderem Interesse, dass Buber das zweite, ebenfalls prophetische Zitat auf die Kategorie des „unmittelbare[n]“ Erlebnis[ses]“223 eng führt. Hier ist erneut die Realisierung einer zukünftigen Dimension in einem Moment der Gegenwart formuliert, wobei der Bezug auf die Apokalypse auf die expressionistische Hoffnung auf einen radikalen auch kriegerischen Umschwung verweist. Um 1910 und noch stärker nach dem Ersten Weltkrieg tritt die jüdisch-messia nische Dimension dieses Modells deutlicher in den Vordergrund. Die enge Verbindung dieses Modells zur Kategorie des Messianischen224 formuliert Buber in einem Brief, in dem er argumentiert, dass der jüdische Messiasglaube geprägt sei von der Einheit „der messianische[n] Funktion des Menschen“ (in der Gegenwart) und der „absolute[n] Erfüllung“ (in der messianischen Zukunft).225 Buber entwickelt dieses Modell der „messianischen Funktion des Menschen“ schon in seiner ersten Rede über das Judentum Das Judentum und die Juden, die er mit dem Erzählen eines talmudischen Gleichnisses abschließt, das er zur eigenen Legende erweitert226: Als ich ein Kind war, las ich eine alte jüdische Sage, die ich nicht verstehen konnte. Sie erzählte nichts weiter als dies: „Vor den Toren Roms sitzt ein aussätziger Bettler und wartet. Es ist der Messias.“ Damals kam ich zu einem alten Manne und fragte ihn: „Worauf wartet er?“ Und der alte Mann antwortete mir etwas, was ich damals nicht verstand und erst viel später verstehen gelernt habe; er sagte: „Auf dich.“ (MBW 3, 227)
Die Diskussion des Messianischen verstärkt sich in spätexpressionistischen Kreisen zeitgleich zu innerjüdischen Diskussionen durch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs nicht nur bei Buber, sondern auch bei Ludwig Strauß, Max Brod, Gershom Scholem, Walter Benjamin und Margarete Susman.227 223 Diesen Begriff übernimmt Buber von seinem akademischen Lehrer Wilhelm Dilthey, passt ihn aber den eigenen Vorstellungen an. 224 Die Verbindung von Messianismus und Expressionismus ist in der Forschung in Ansätzen im Kontext der jüdischen Tradition untersucht worden. Vgl. Hans Otto Horch: Expressionismus und Judentum. Zu einer Debatte in Martin Bubers Zeitschrift Der Jude. In: Die Modernität des Expressionismus. Hrsg. v. Thomas Anz u. Michael Stark. Stuttgart, Weimar 1994. Vivian Liska: Messianic Endgames in German-Jewish Expressionist Literature. In: Europa! Europa? The Avant-Garde, Modernism and the Fate of a Continent. Hrsg. v. Sascha Bru, Hubert van den Berg u.a. Berlin 2009, S. 342–358. Lisa Marie Anderson: German Expressionism and the Messianism of a Generation. Amsterdam, New York 2011. 225 Brief Bubers an Hugo Bergmann, 4.12.1917. In: Martin Buber: Briefwechsel. Bd. I, S. 517. 226 Vgl. Caspar Battegay: Das andere Blut, S. 188, der hier von einer „Art Auto-Hagiographie“ Bubers spricht. Jeder trage Bettler und Messias in sich. 227 Vgl. hierzu u.a. Elke Dubbels: Figuren des Messianischen in Schriften deutsch-jüdischer Intellektueller 1900–1933. Berlin, Boston 2011. Elisa Klapheck: Margarete Susman und ihr jüdischer
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In Bubers Briefen erscheint der Begriff des Messianischen 1917 exakt im Kontext des antizipatorischen Elements. So schreibt Buber am 26.11.1917 zur Begründung seiner Weigerung, „Jesus als den Messias der Welt anzusehen“, an den Landgerichtsrat S.: Fühlen Sie nicht wie ich, daß das Messianische nichts Geschehenes, nichts an einem bestimmten Fleck der geschichtlichen Vergangenheit Lokalisiertes sein kann, sondern einzig das, dem wir ins Unendliche entgegenblicken, in die Ewigkeit entgegenharren, als Ideal überempirisch, als das, an dessen Verwirklichung wir allstündlich arbeiten können, uns unmittelbar gegeben, unberührbar wie Gott selber und unanzweifelbar lebendig wie er, – die absolute Zukunft?228
Nicht nur tritt in diesem Briefauszug neben die als avantgardistische Rhetorik interpretierten Begriffe „absolute Erneuerung“ und „absolutes Leben“ der Begriff „absolute Zukunft“, gleichzeitig wird von Buber die antizipatorische Struktur des kulturzionistischen Projekts hervorgehoben. In Der heilige Weg. Ein Wort an die Juden und an die Völker (1919) legt Buber ein kabbalistisch konnotiertes Modell einer schöpferischen Zusammenarbeit des Menschen (jüdischen Menschen) mit jhwh vor, mit dem messianische Aspekte im Hier und Jetzt verwirklicht werden sollen. Buber vertritt das Konzept eines „aktiven Messianismus, der die Welt zum Gottesreich bereiten will“, anstatt zu warten, „daß Gott sich selbst sein Reich baue“:229 Bauende Begier liegt darin, die nicht warten will, bis Gott den Anfang macht, sondern ahnt, sie werde mitten im Bauen des mitbauenden Gottes inne werden. Formungswille, der ansetzt, wo allein angesetzt werden kann: jetzt und hier. Der Messianismus entschlossener Menschen, denen das eigene ungeteilte Leben gerade gut genug ist, ein Körnchen des messianischen Reiches zu werden.230
Entsprechend verstehe ich das hier beschriebene kulturzionistische Projekt der Erneuerung der jüdischen Tradition als ein Projekt im Sinne des aus dem romantischen Fragment entlehnten antizipatorischen Projektbegriffs der Avantgarden. Buber hat dessen Funktion und Umsetzung explizit formuliert:
Beitrag zur politischen Philosophie. Berlin 2014. 228 Brief Bubers an den Landgerichtsrat S., 26.11.1917. In: Martin Buber: Briefwechsel. Bd. I, S. 512 f., hier S. 513 (Hervorh. B.M.K.). 229 Martin Buber: Der heilige Weg, S. 36. 230 Ebd., S. 39 (Hervorh. B.M.K.).
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Der deutschsprachige Kulturzionismus
In der erlösenden Funktion, der erlösenden Tat messianischer Menschen bereitet sich die absolute Zukunft in der Gegenwart, in aller Gegenwart. Ihre Vollendung ist unsrem Bewußtsein entrückt – wie Gott; ihr Vollzug ist unserem Bewußtsein zugänglich – wie das Erlebnis Gottes im Menschen. Ich glaube an die Erfüllung am Ende der Tage, der nichts Vergängliches vorgreifen, aber alles Vergängliche vorarbeiten darf und soll.231
Das kulturzionistische Projekt einer Erneuerung der jüdischen Tradition bewegt sich demnach in einem Spannungsfeld zwischen Zukunftsbezogenheit mit utopischen und im „[ J]etzt und [H]ier“ zu verwirklichenden messianischen Anteilen im Sinne einer partiellen antizipatorischen Verwirklichung der utopischen Ziele im Handeln in der Gegenwart. Damit hat es Anteil am Projekt Avantgarde. Darüber hinaus fällt auf, dass Buber sich zur Illustration des utopischen, messianischen und antizipatorischen Potenzials verstärkt literarischer bzw. biblischer und talmudischer Quellen bedient, dem Medium Literatur und der literarischen Tradition also eine besondere Rolle bei der Entfaltung des antizipatorischen Potenzials zukommt, gerade für eine avantgardistische Literatur an der Grenze von Leben und Text. Buber betont zwar in Der heilige Weg (1919), dass das Ziel dieser Anstrengungen die „wahre Gemeinschaft“ und „nicht das Philosophem und nicht das Kunstwerk“ sei,232 wirkt aber selbst letztendlich vor allem in Wort und Schrift. Hier bieten sich Anknüpfungspunkte für Autor/innen, um utopische bzw. messianische Konzepte im Umfeld von Kulturzionismus und Avantgarde zu entfalten (vgl. Kapitel IV). II.4 Zwischenfazit Kapitel II und Ausblick auf Kapitel III und IV
Anhand exemplarischer Schlüsseltexte ist das avantgardistische Potenzial des Kulturzionismus herausgearbeitet worden. Der deutschsprachige Kulturzionismus konnte dabei als ‚dritter Weg‘ in den Auseinandersetzungen um die ‚Kulturfrage‘ im zionistischen Diskurs und die daraus hervorgehende Konfrontation zwischen einem jeweils prototypisch verstandenen westeuropäischen, politischen Zionismus Theodor Herzls und einem osteuropäischen, geistigen Zionismus Achad Haams bestimmt werden. Der Spur der Selbstdarstellung seiner Protagonist/innen, die sich als „Avantgarde des Zionismus“ verstanden, folgend, ließ sich die Nähe des deutschsprachigen Kulturzionismus zur Bohème und zur Lebensreformbewegungen um die Jahrhundertwende und zu deren Forderung 231 Brief Bubers an Hugo Bergmann, 4.12.1917. Martin Buber: Briefwechsel. Bd. I, S. 516 (Hervorh. B.M.K.). 232 Martin Buber: Der heilige Weg, S. 23.
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nach einer Verbindung von Leben und Kunst bzw. Literatur aufzeigen. Der Kulturzionismus ist somit als eine der Vorläuferbewegungen zu verstehen ist, die die Formensprache und das selbstinszenatorische Repertoire der historischen Avantgarden mitgeprägt bzw. mitentwickelt haben. Dabei ließen sich zwei Phasen des kulturzionistischen Projektes unterscheiden, zum einen die „Jüdische Renaissance“, die ein „Neuschreiben aus uraltem Material“ anstrebte, und zum anderen ab 1910 mit deutlich radikalisierter Rhetorik ein Neuanknüpfen an die sich etablierenden Avantgarden, vor allem den Expressionismus, unter dem Schlagwort der „absoluten Erneuerung“. Im Kontext der „Jüdischen Renaissance“ steht die Veränderung des jüdischen Lebens durch jüdische Kunst und Literatur im Mittelpunkt sowie die Entwicklung einer stolzen und schöpferischen jüdischen Identität, während spätestens nach dem Ersten Weltkrieg ethische und utopische bzw. jüdisch-messianische Aspekte in den Vordergrund rücken. Das avantgardistische Potenzial des Kulturzionismus gelangt aber an deutliche Grenzen, wenn kulturpolitische und pädagogische sowie identitätspolitische, nationale und völkische Aspekte im Sinne eines einheitlichen jüdischen Volksbegriffs betont werden. Im Folgenden stehen Lasker-Schülers Poetologie und Werk als Autorin der Avantgarde im Zentrum und werden auf poetologische Bezüge zum kulturzionistischen Projekt einer Erneuerung der jüdischen Tradition hin untersucht. Dabei werden analog zur Entwicklung des kulturzionistischen Projekts einer Erneuerung der Tradition zwei Phasen unterschieden. Kapitel III widmet sich dem Frühwerk, das deutliche Parallelen zu den hier vorgestellten Parametern des kulturzionistischen Projekts der Verbindung von Kunst/Literatur und Leben und der Entwicklung einer modernen und schöpferischen jüdischen Identität aufweist und in dem Lasker-Schüler in enger und kritischer Auseinandersetzung mit dem Kulturzionismus die Grundlagen ihrer Poetologie entwickelt. Ab 1910/12 lässt sich Lasker-Schülers Schreiben als eigenständiger Beitrag zu den breiter angelegten Bemühungen um eine Übernahme und Überschreitung des rabbinischen Projekts in seinen poetologischen und ethischen sowie antizipatorischen utopischmessianischen Aspekten beschreiben (vgl. Kapitel IV). Insgesamt ist zu zeigen, wie Lasker-Schüler ihre poetische, poetologische und bildkünstlerische Arbeit in den Modi der Assoziation, der Kritik und der Überschreitung in Auseinandersetzung mit dem kulturzionistischen Projekt der „Erneuerung der jüdischen Tradition“ positioniert und welche poetologischen Potenziale bzw. produktiven Reibungspunkte das kulturzionistische Erneuerungsprojekt für eine avantgardistische und sich als „jüdische Dichterin“ verstehende und inszenierende Autorin bietet.
III. „Jüdische Renaissance“: Lasker-Schülers Frühwerk zwischen Avantgarde und Kulturzionismus
Else Lasker-Schüler kommt um 1900 im Kontext der Berliner Bohème mit dem Kulturzionismus in Kontakt. Dabei ist nicht, wie bisher angenommen, der Einfluss Martin Bubers zentral, sondern es lassen sich unterschiedliche Kontakte nachweisen, so zu E. M. Lilien und Börries von Münchhausen,1 aber auch zu Davis Trietsch, Heinrich Loewe, Hermann Struck, Samuel Lublinski und Karl Wolfskehl. Später treten andere Personen hinzu, die in unterschiedlicher Weise mit dem Zionismus sympathisieren und häufig selbst Autoren sind, so Israel Zangwill, Erwin Loewenson, Schamai Pinsky, Paul Leppin und Arthur Holitscher. Ebenso zentral sind Kontakte zu den kulturzionistischen Kreisen um den Prager „Verein jüdischer Studenten Bar Kochba“,2 u.a. zu Hugo Bergmann und Max Brod, im Schweizer Exil zu den Linkszionisten Jacob Zucker, Benjamin Saglowitz und David Farbstein3 und zu zentralen deutschsprachigen Protagonist/innen in Palästina.4 Außerdem lassen sich Briefe an oder briefliche Erwähnungen von Arthur Ruppin, Chaim Weizmann, Kurt Blumenfeld und Oscar Wassermann nachweisen, die für unterschiedliche zionistische Organisationen v.a. in Palästina tätig waren. Diese Liste erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, vermittelt aber einen Eindruck der vielfältigen und vor allem über die Spanne des Gesamtwerks relevanten Kontakte.
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Vgl. hierzu Mark H. Gelber: Melancholy Pride. Nation, Race, and Gender in the German Literature of Cultural Zionism. Tübingen 2000 und ders.: Jewish, Erotic, Female: Else LaskerSchüler in the Context of Cultural Zionism. In: Else Lasker-Schüler. Ansichten und Perspektiven/Views and Reviews. Hrsg. v. Sonja Hedgepeth u. Ernst Schürer. Tübingen, Basel 1999, S. 27–43. Vgl. zu dieser Zuordnung Iris Bruce: Kafka and Cultural Zionism. Dates in Palestine. Madison 2007. Vgl. hierzu Alfred Bodenheimer u. Andreas B. Kilcher: Else Lasker-Schüler. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Andreas B. Kilcher. 2., akt. und erw. Auflage. Stuttgart, Weimar 2012, S. 327–331, hier S. 329 f, die Zucker, Sagalowitz, Farbstein, Bergmann, Simon, Agnon, Krakauer, Buber, Kraft, Ben-Chorin, Brod und Kestenberg nennen. So u.a. Hermann Struck, Hugo Bergmann, Martin Buber sowie Gershom Scholem, Judah Leon Magnes, Schalom Ben-Chorin, Ernst Simon, Werner Kraft, Arnold Zweig, Uri Zwi Greenberg, S. J. und Esther Agnon, Salman Schocken, Kurt Wilhelm, Abraham Albert und Anna Ticho, Robert Weltsch, Nachum Goldmann, Gershon Swet, Leopold Krakauer und Leo Kestenberg.
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In ihren Schriften gebraucht Lasker-Schüler den Begriff „Zionismus“ in zweifacher Weise, ohne prototypisch zwischen einem ‚kulturellen‘ und einem ‚politischen‘ Zionismus zu unterscheiden. So lässt sich eine eher die Institutionen betreffende Verwendung zeigen und eine, die stärker literarisiert auf Fragen der jüdischen Identität und Tradition bezogen ist. Aus ihren Briefen an kulturzionistisch engagierte Personen5 geht hervor, dass Lasker-Schüler den institutionalisierten Zionismus als eine Art Wohlfahrts einrichtung versteht, deren Aufgabe es ist, Juden und Jüdinnen und besonders jüdische Autor/innen und Künstler/innen zu unterstützen. Wichtiger Ansprechpartner ist Martin Buber, den sie u.a. „[s]ehr werter Mїr von Zion“6 und „lieber guter Herr Doktor von mir hoch verehrter Palästinäer“7 nennt. Im Oktober 1918 wendet sich Lasker-Schüler an ihn als Stellvertreter „de[s] Zionismus“ und bittet ihn um Hilfe für die in einer Nervenheilanstalt untergebrachte erste Frau des frühen Zionisten Willy Bambus (1862–1904), Elise:8 […] ich habe eine große Bitte wegen einer Frau an den Zionismus zu richten, deren Mann ††† zwar ein wütendes Scheusal war, aber als erster vor 100 Jahren im Zionismus obwaltete: Bambus. […] Nun dachte ich aber, wenn nun die zionistische Bewegung ihrer gedenkt, so daß Frau B. etwa (wenn es noch geht) in ein Erholungsheim käme […]? Ich will selbst vorher fragen bevor der Zionismus sich erkundigt […]. (Hervorh. B.M.K.)9
Für Lasker-Schülers Schreiben lässt sich zeigen, dass die Bedeutung des Begriffs „Zionismus“ mit Fragen einer dichterischen jüdischen Genealogie in einem weit gefassten orientalisierten Kontext verbunden ist. Dies zeigt sich anschaulich 5
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Neben den bereits genannten lassen sich als Vertreter Zionistischer Organisationen Korres pondenzen oder briefliche Erwähnungen nachweisen von: Chaim Weizmann (Präsident des Zionistischen Weltkongresses), Kurt Blumenfeld, Oscar Wassermann (Keren Hajessod) und Arthur Ruppin. Die Aufzählung erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Brief an Martin Buber, wahrscheinlich vom 18. Januar 1914, KA 7, S. 15. Brief vom 28. Oktober 1918, KA 7, S. 161 f. Willy Bambus (1862–1904) war einer der frühen Zionisten in Berlin (vgl. KA 7, 608). Lasker-Schülers langjährige Kontakte und Hilfeleistungen für Elise Bambus hat Thomas Höfert dokumentiert: Thomas Höfert: Else Lasker-Schüler, Elise Bambus & die „Irrenanstalt Dalldorf“. Jahrzehntelange Unterstützungs-Arbeit . Mit einem Lasker-Schüler-Brief aus einem Berliner Psychiatrie-Archiv und weiteren unbekannten Materialien. Berlin, Münster 2009. Brief vom 28. Oktober 1918, KA 7, S. 161 (Hervorh. B.M.K.). In diesen Kontext gehören die Briefe und Karten u.a. an Schmuel Hugo Bergmann, Arthur Ruppin und Chaim Weizmann im Kontext der Palästinareisepläne in den 20er Jahren und der tatsächlichen Reisen nach Palästina im Exil ab 1933, in denen Lasker-Schüler die Vertreter der Zionistischen Institutionen um Unterstützung bei Visafragen, der Organisation von Lesungen in Palästina oder generell um finanzielle Unterstützung für sich und andere bittet. Vgl. u.a. Karte an Hugo Bergmann, Anfang Oktober 1923, KA 7, S. 273 oder 11. Januar 1924, KA 7, S. 288.
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und durchaus ironisch in folgendem Zitat aus Lasker-Schülers Stellungnahme „Lasker-Schüler contra B. und Genossen“ (Mai 1912):10 Ich war schon überall, wo irgend etwas von Asien zu spüren ist. Auch im orientalischen Seminar war ich beim Rektor, der dachte freundlich über den Namen meines ehrwürdigen Urherrn nach, und alle seine Schüler taten das, und Schülerschüler, Muselmänner, Chinesen, Japaner, Studenten aus Vampur, Koreaner, Sudanesen; es dachten Siamesen, Indier, Serben, Türken, Montenegriner, Talmudisten, Zionisten, auch die beiden Söhne einer Kaffernfamile dachten, und denken wahrscheinlich jetzt noch nach.11
Zionisten gehören also dorthin, „wo irgend etwas von Asien“ zu spüren ist, in den Gegenstandbereich des „orientalischen Seminars“. Zur Debatte steht der Name des „ehrwürdigen Urherrn“, also die genealogische Abstammung der Dichterin Else Lasker-Schüler, auf die ironisierend durch die Bezeichnung „Schüler“ und „Schülerschüler“ hingewiesen wird. Poetologisch interessant ist an dieser Darstellung, dass das Judentum durch Gelehrte der Schrifttradition (Talmudisten) und durch nationaljüdische Zionisten vertreten wird, die durch den Reim hervorgehoben werden. Sie scheinen die relevanten jüdischen Bezugsgruppen für die Klärung der genealogischen Abstammung der Dichterin und damit verbunden der Grundlage ihrer jüdischen Dichtung zu sein. Eine direkte Antwort können die genannten Gruppen nicht geben. Hingegen wird durch die lange Kette der z.T. willkürlich, z.T. ‚lyrisch‘ wirkenden, dabei immer wieder im Rhythmus unterbrochenen Aufzählung eine, wenn auch diskontinuierliche, orientalische Ahnenreihe der „Schülerschüler“ performativ erzeugt. Das Verfahren erinnert an Heinrich Heines Übernahme rabbinischer Diskursverfahren.12 Zuletzt ist eine ironische Haltung zu beobachten, denn der rhyth10 Zuerst in: Der Sturm, Jg. 3 (Mai 1912), H. 111, S. 51 f. Die Rheinisch-Westfälische Zeitung hatte Lasker-Schülers Gedicht „Leise sagen“ nicht autorisiert vorabgedruckt und mit der Bemerkung versehen „—Vollständige Gehirnerweichung, hören wir den Leser – leise sagen.“ (Vgl. KA 3.2, 239 ff.) Daran schloss sich ein langwieriger Rechtstreit an, der zuletzt im Sinne der Autorin entschieden wurde. Lasker-Schüler wehrte sich in zwei ironisch bis sarkastischen Texten, „Lasker-Schüler contra B. und Genossen“ und „Wenn mein Herz gesund wär’ – Kinematographisches“, in denen sie auf die Frage ihrer geistigen Gesundheit anspielt und u.a. Alfred Döblin als Psychiater Dr. Ziegenbart auftreten lässt. (KA 3.1, S. 265–273, Kommentare KA 3.2, S. 237-241.) 11 KA 3.1, S. 269 (Hervorh. B.M.K.). 12 Dieses addierende Verfahren, das zu keiner eindeutigen Antwort führt, erinnert an rabbinische Erzähltechniken, wie sie Heinrich Heine im Gedicht „Jehuda ben Halevy“ als Ahnenreihe der sephardischen Dichter im Geiste des ‚Schlemihltums‘ für seine Rolle als jüdischer Dichter entworfen hat. Vgl. Bernd Witte: Der Ursprung der deutsch-jüdischen Literatur in Heinrich Heines „Der Rabbi von Bacherach“ In: Die von Geldern Haggadah und Heinrich Heines „Der Rabbi von Bacherach“. Hrsg. v. Emile G. L. Schrijver u. Falk Wiesemann. Wien
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mische Höhepunkt „Talmudisten, Zionisten“ wird durch die nochmalige absurde Zuspitzung „auch die beiden Söhne einer Kaffernfamilie“ zurückgenommen. Will man Lasker-Schülers Verhältnis zum Kulturzionismus bestimmen, ergibt sich aus diesem Befund eine komplexe Konstellation. Die selbstbewusste Bestimmung einer Position als dezidiert jüdische Dichterin innerhalb des jüdischen Volkes, wie sie Lasker-Schüler vorgenommen hat, ist ohne den Kontext des Kulturzionismus nicht in dieser Form denkbar. Gleichzeitig ist diese immer auch Nachfolge und Aktualisierung von Heinrich Heines poetologischem Entwurf unter anderen Zeitumständen13 und mit einer kritischen und den kulturzionistischen Diskurs subversiv erweiternden Haltung verbunden.14 Betrachtet man den kulturzionistischen Diskurs als zentralen Referenzpunkt für die Entwicklung einer Poetologie im Kontext der jüdischen Tradition, so lässt sich zeigen, dass Lasker-Schülers Frühwerk ein starkes Resonanzverhältnis15 zum kulturzionistischen Projekt einer „Jüdischen Renaissance“ (vgl. Kapitel II.3) aufweist. Die Parallelen gehen dabei deutlich über biographische bzw. sozialgeschichtliche und über rein motivische Bezüge hinaus und betreffen vor allem den Entwurf einer Rolle als jüdische/r Dichter/in sowie eng damit verbunden die Entwicklung poetologischer Verfahren zur Erneuerung der jüdischen Tradition.16
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1997, S. 37–47. Die rhythmische Struktur erinnert darüber hinaus an die rhythmische Bewegung des jüdischen Gebetes. Vgl. zu Heines konsequent jüdischem poetologischen Entwurf Bernd Witte: Jüdische Tradition und literarische Moderne. Heine, Buber, Kafka, Benjamin. München 2007, S. 39–94, hier S. 90. Zu Heine und Lasker-Schüler zuerst Itta Shedletzky: Bacherach und Barcelona. On Else Lasker-Schüler’s relation to Heinrich Heine. In: The Jewish Reception of Heinrich Heine. Hrsg. v. Mark H. Gelber. Tübingen 1992, S. 113–126. Dies hat Herbert Uerlings für die orientalisierten Erzählungen „Ached Bey“ und „Der Amokläufer“ gezeigt. Herbert Uerlings: Ethnizität und Geschlecht in Else Lasker-Schülers ‚orientalischen‘ Erzählungen. Zu „Der Amokläufer“ („Tschandragupta“) und „Ached Bey“. In: Else Lasker-Schüler-Jahrbuch zur Klassischen Moderne 2, 2003, S. 6–26. Hier lässt sich, wie schon in der Einleitung ausgeführt, Vivian Liskas Konzept der „Uncommon Communities“ oder der „Fremden Gemeinschaft“ fruchtbar machen, wobei es vielleicht überraschen mag, wieviel Lasker-Schüler und die Kulturzionist/innen bei aller markierten Differenz gemeinsam haben, so dass man vielleicht umgekehrt von einer ‚verwandten Distanz‘ sprechen könnte. Vivian Liska: When Kafka Says We: Uncommon Communities in GermanJewish Literature. Bloomington u.a. 2009. Vivian Liska: Fremde Gemeinschaft. Deutsch-jüdische Literatur der Moderne. Göttingen 2011 (Manhattan Manuscripts; 6). Vgl. zu diesem generellen Merkmal von Lasker-Schülers Schreiben: Almuth Hammer: Dichtung als Selbstentwurf. Else Lasker-Schülers Konzeption einer prophetischen Poetologie. In: Dies.: Erwählung erinnern. Literatur als Medium jüdischen Selbstverständnisses. Mit Fallstudien zu Else Lasker-Schüler und Joseph Roth. Göttingen 2004, S. 155 und S. 189–205. Hammer geht nicht auf einen Bezug zum kulturzionistischen Diskurs ein, obwohl sie die Neuformulierung des jüdischen Selbstverständnisses im Medium der Literatur um 1900 untersucht.
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Somit ist es wichtig, den Fokus der Untersuchung auf die Poetologie und weniger, wie bisher in der Forschung häufig geschehen, auf Fragen der persönlichen Identität zu legen17 bzw. die identitären Entwürfe im Kontext einer Poetologie am Übergang von Leben und Literatur zu deuten. Wie das folgende Kapitel zeigt, entwickelt Lasker-Schüler die Grundlagen ihrer Poetologie in enger Auseinandersetzung mit den kulturzionistischen Entwürfen. Ausgehend von einer ähnlichen Basis im Umfeld von Berliner Bohème, Lebensreformbewegung und früher Avantgarde entstehen mit dem kulturzionistischen Projekt einer „Jüdischen Renaissance“ und mit Lasker-Schülers Poetologie einer „Hebräischen Avantgarde“ zwei in Beziehung stehende Projekte, die hier sowohl in ihrer poetologischen Nähe und ihren Überschneidungen als auch in den Abgrenzungsbewegungen und Unterschieden darzustellen sind. An exemplarischen und intertextuell aufeinander verweisenden Textbeispielen wird rekonstruiert, wie Lasker-Schüler in ihrem Frühwerk als jüdische Dichterin ein poetologisches Projekt jüdischer Dichtung entwirft, das zum Projekt einer „Jüdischen Renaissance“ zu zählen ist und von Lasker-Schüler als zugehörig markiert wird. Dessen Schwerpunkte sind neben der grundlegenden, die Avantgarde vorbereitenden Arbeit an der Grenze von Literatur und Leben: die Erfindung einer schöpferischen, modernen jüdischen Identität und das Neuschreiben der jüdischen Tradition. Beide Aspekte sind für Lasker-Schülers Werk vor allem poetologisch inte ressant, wobei die Entwicklung einer poetischen Identität nicht von der Entwicklung von Schreibverfahren zur Erneuerung der jüdischen Tradition zu trennen ist.18 Vielmehr wird ein Neuschreiben der jüdischen Tradition gerade über das Einschreiben einer konsequent aus der jüdischen Tradition entwickelten weiblichen Perspektive und die Entwicklung einer weiblichen bis androgynen ‚Identität‘ als jüdische Dichter/in aus der Kombination jüdischer Traditionsbestände möglich.19 17 So u.a. bei Valentina Di Rosa: „Begraben sind die Bibeljahre längst“. Diaspora und Identitätssuche im poetischen Entwurf Else Lasker-Schülers. Paderborn 2006. 18 Vgl. Almuth Hammer: Erwählung erinnern, S. 189–205. 19 Hier geht Lasker-Schüler deutlich über den von Mark H. Gelber beobachteten ‚weiblichen‘ Ausdruck im kulturzionistischen Diskurs unter den Stichworten „Jewish, Erotic, Female“ hinaus, denn die Einschreibung und Erarbeitung einer ‚Identität‘ als jüdische Dichterin muss selbst als ein poetologisches Verfahren verstanden werden. Gelber berücksichtigt nur einen Aspekt der frühen Lyrik, in der sich ebenso Verweise auf Moses oder Heinrich Heine finden lassen. Die Bezeichnung „Jewish, Erotic, Female“ ordnet Lasker-Schüler zu stark dem Stereotyp der „schönen Jüdin“ zu, das sie selbst, nicht zuletzt durch androgyne Entwürfe, immer wieder unterlaufen hat. Zur grundsätzlichen Differenz des hier vertretenen Ansatzes zu Mark H. Gelbers Studie vgl. den Forschungsüberblick. Vgl. Mark H. Gelber: Melancholy Pride, S. 203–220, und ders.: Jewish, Erotic, Female, S. 27–43.
Der siebente Tag
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Poetologische Modelle, die sowohl für das kulturzionistische Projekt einer „Jüdischen Renaissance“ als auch für Lasker-Schüler wichtig sind, sind das Schreiben in einer prophetischen Rolle, der intertextuelle und strukturelle Bezug auf Texte der jüdischen Tradition, die Markierung einer avantgardistisch konnotierten Vorreiterposition, Meister-Jünger/in-Verhältnisse, der Entwurf schöpferischer jüdischer Künstler/innen- und Dichter/innen-Modelle, Heimat- und Diasporakonstruktionen und Fragen zur Rolle der Literatur in der jüdischen Erneuerungsbewegung. Die Auseinandersetzung mit dem kulturzionistischen Diskurs ist Lasker-Schülers Werk als Spur eingeschrieben, die als Grundlinie das Gesamtwerk durchzieht.20 Lasker-Schüler erarbeitet durch ihr hochgradig intertextuelles Verfahren, mit dem die Texte der Tradition, deren Figuren und Strukturen, motivisch, metaphorisch oder poetologisch aufgegriffen und subversiv umgeschrieben werden, eine eigene Stimme in der jüdischen Tradition. Es ist die Stimme einer Autorin, aber sie ist nicht als dezidiert weibliche Stimme angelegt, sondern auf einer Verbindung ‚weiblicher‘ und ‚männlicher‘ Traditionselemente. Neben Sulamith, Eva, Ruth und Mirjam dienen Moses, König David und Heinrich Heine als ‚Vorbilder‘. Gerade in dieser Kombination wird ein Neuschreiben der jüdischen Tradition ermöglicht, das etwas Neues erschafft und gleichzeitig etwas Altes präsent hält und aktualisiert. III.1 Der siebente Tag (1905) – Kulturzionistische Symbolik zwischen Zitat und poetologischer Umdeutung
Zu Beginn ihrer literarischen Karriere und noch vor dem Erscheinen ihres ersten Gedichtbandes Styx (1902) veröffentlichte Lasker-Schüler im Juni 1901 zwei Gedichte in der ersten programmatisch kulturzionistischen Zeitschrift Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für Modernes Judentum, gegründet von Leo Winz und Davis Trietsch.21 Mitarbeiter war u.a. Martin Buber, der in der ersten Ausgabe den programmatischen Essay „Juedische Renaissance“ ( Januar 1901) publiziert hatte.22 Auf Lasker-Schülers Beitrag folgte im Dezember 1901 eben20 Die intertextuellen Verweise gehen weit über die von Mark H. Gelber beobachteten motivischen Bezüge hinaus und betreffen den gesamten poetologischen Entwurf. Vgl. Mark H. Gelber: Melancholy Pride, S. 203–220. 21 Else Lasker-Schüler: „Sulamith“ und „Das Lied des Gesalbten“. In: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für Modernes Judentum, Jg. 1 (1901), H. 6, Sp. 457 f. Zuvor waren vor allem erotische Gedichte von Lasker-Schüler in Die Gesellschaft 1899 und 1900, in Das Magazin für Litteratur (vier Mal) 1900 und in einer Veröffentlichung der lebensreformerischen Gemeinschaft „Die Kommenden“ (1901) erschienen (vgl. KA 3.2, 45 f.). 22 Martin Buber: Juedische Renaissance. In: Ost und West, Jg. 1 (1901), H. 1, Sp. 7–10.
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falls in Ost und West eine enthusiastische Rezension ihres ersten Gedichtbandes durch Samuel Lublinski, die auf kulturzionistischen Literaturkriterien basiert.23 U.a. konstatiert Lublinski: daß in dem vorliegenden Gedichtbuch von Else Lasker-Schüler Zeile für Zeile ihre Herkunft von einer uralten und mächtigen Rasse zu erzählen weiß; sie bewährt sich als späte und nicht unwürdige Enkelin jener uralten Sänger, die einst die Psalmen oder das Buch Hiob gedichtet haben.24
Die Publikation der Gedichte „Lied des Gesalbten“ und „Sulamith“ in Ost und West stellt die deutlichste offizielle Verbindung Lasker-Schülers mit dem kulturzionistischen Projekt einer „Jüdischen Renaissance“ dar. Es sind ihre ersten Gedichte, die sich schon in den Titeln auf die jüdische Tradition beziehen und darüber hinaus jüdisch messianische Motive verhandeln.25 Dass jedoch kein weiterer Beitrag von Lasker-Schüler in Ost und West folgt oder in die frühen programmatischen Publikationen des von den kulturzionistischen Protagonisten gegründeten Jüdischen Verlags aufgenommen wird, hat zu der von Jakob Hessing (1985) formulierten Forschungsthese geführt, ihre Assoziation mit dem Projekt einer „Jüdischen Renaissance“ sei aus persönlichen Gründen gescheitert.26 Stefanie Leuenberger argumentiert, dass die nationaljüdische Rezeption von Lasker-Schülers Texten eher auf ideologischer Vereinnahmung als auf selbstgewählter Nähe beruhe.27 Demgegenüber hat Mark H. Gelber als Erster 23 Samuel Lublinski: Gedichte von Else Lasker-Schüler. In: Ost und West, Jg. 1 (Dezember 1901), H. 12, Sp. 931 f. Der Literaturkritiker Samuel Lublinski war Mitarbeiter der Zeitschrift Ost und West, mit der lebensreformerischen „Neuen Gemeinschaft“ assoziiert und ein wichtiger früher Förderer von Lasker-Schülers Lyrik. Vgl. seine Wertschätzung in Samuel Lublinski: Die Bilanz der Moderne. Berlin: Cronbach 1904, S. 108 u. 164, passim. 24 Samuel Lublinski: Gedichte von Else Lasker-Schüler, Sp. 931. 25 Zu Lasker-Schülers Gedicht „Sulamith“ als Beitrag zum Utopiediskurs Anfang des 20. Jh. vgl.: Birgit M. Körner: „Und meine Seele verglüht in den Abendfarben / Jerusalems“ – Utopische Signaturen bei Else Lasker-Schüler. In: Europäisch-jüdische Utopien/European-Jewish Utopias. Hrsg. v. Caspar Battegay. Berlin, Boston 2016, S. 131-151. (Yearbook for European Jewish Literature Studies/Jahrbuch für europäisch-jüdische Literaturstudien; 3) 26 Jakob Hessing urteilt in seiner Biographie einer deutsch-jüdischen Dichterin, in der er als Erster die jüdischen Bezüge von Lasker-Schülers Leben und Werk hervorgehoben hat: „Daß Lasker-Schüler auch zu dieser mit Bubers Namen verbundenen jüdischen Renaissance in Deutschland keine Beziehung fand, ist der vielleicht unglücklichste Aspekt ihrer Lebenstragik.“ Jakob Hessing: Else Lasker-Schüler. Biographie einer deutsch-jüdischen Dichterin. Karlsruhe 1985, S. 78. 27 Stefanie Leuenberger: „Nicht dem Willen, aber dem Wesen nach jüdisch“. Zum Bild Else Lasker-Schülers in den Zeitschriften „Ost und West“, „Die Freistatt“ und „Die jüdische Rundschau“. In: Frauen und Frauenbilder in der europäisch-jüdischen Presse von der Aufklärung bis 1945. Hg. von Eleonore Lappin u. Michael Nagel. Bremen 2007, S. 179–194. Alfred
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darauf hingewiesen, dass in den ersten beiden Gedichtbänden Styx und Der siebente Tag kulturzionistische Motive deutlich präsent sind, hält dies aber ebenfalls für eine Frage vereinnahmender Rezeption.28 Weitere Forschungsbeiträge zeigen jedoch die Ausführung, die zufällige Bezugnahme bzw. die Vorwegnahme kulturzionistischer Konzepte.29 Diese disparate Forschungslage, die eine an sich vielschichtige Positionierung Lasker-Schülers zum kulturzionistischen Projekt einer „Jüdischen Renaissance“ widerspiegelt, lässt sich anhand von Lasker-Schülers zweitem Gedichtband Der siebente Tag30 neu sortieren. Er kann als inhaltliche Weiterführung der in Ost und West publizierten Gedichte „Das Lied des Gesalbten“ und „Sulamith“ verstanden werden, die sich mit der jüdischen messianischen Tradition auseinandersetzen. In ersterem wird als ‚Lied des Messias‘ die erlösende Botschaft einer paradiesähnlichen, schuldfreien Liebe und Erotik sowie einer poetischen Schöpfungstätigkeit formuliert. In „Sulamith“ wird anhand der mehrdeutigen Metapher der „Abendfarben / Jerusalems“ die Ambivalenz von Zerstörung und Erlösung in einem messianischen Kontext ausgelotet. Durch diesen Bezug unterscheiden sich die beiden Gedichte von den meisten Gedichten in Styx, die eher den vitalistischen Ausdruck weiblicher Erotik thematisieren.31
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Bodenheimer geht davon aus, die Begegnung mit der „Jüdischen Renaissance“ habe zwar Lasker-Schülers Verständnis vom Judentum als Volkszugehörigkeit geprägt, eine Relevanz des zionistischen Diskurses läge jedoch erst im Exil vor. Alfred Bodenheimer: Else LaskerSchüler. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Andreas B. Kilcher. Stuttgart, Weimar 2000, S. 375–379, hier S. 375. Andreas B. Kilcher hat in der zweiten Auflage ihr Schreiben in den „weitere[n] Kontext der kulturzionistischen ‚Renaissance‘“ eingeordnet. Er geht davon aus, dass Lasker-Schüler mit den „Exponenten des Kulturzionismus […] die Vorstellungen der Neubildung einer jüdischen Literatur, Kunst und Sprache teilte“. Alfred Bodenheimer u. Andreas B. Kilcher: Else Lasker-Schüler. In: Metzler Lexikon der deutschjüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Andreas B. Kilcher. 2., akt. und erw. Auflage. Stuttgart, Weimar 2012, S. 327–331. Mark H. Gelber: Melancholy Pride. Vgl. zu den Positionen von Herbert Uerlings, Laurel Plapp und Alfred Bodenheimer den Forschungsüberblick in der Einleitung. Lasker-Schüler, Else: Der siebente Tag. Gedichte von Else Lasker-Schüler. Berlin: Verlag des Vereins für Kunst 1905. Wobei Caspar Battegays Einschätzung zuzustimmen ist, dass insgesamt für Lasker-Schülers Frühwerk eine enge Verbindung erotischer und kulturzionistischer Aspekte zu beobachten ist. Caspar Battegay: „Wie ein heimlicher Brunnen / Murmelt mein Blut“. Das Gedächtnis des Bluts in Else Lasker-Schülers früher Lyrik. In: Naturgeschichte, Körpergedächtnis. Erkundungen einer kulturanthropologischen Denkfigur. Hrsg. v. Andrea Bartl u. Hans-Joachim Schott. Würzburg 2014 (= Konnex. Studien im Schnittbereich von Literatur, Kultur und Natur; Bd. 1), S. 117–134, hier S. 131. Vgl. auch Mark H. Gelber: Melancholy Pride, S. 203–220 und ders.: Jewish, Erotic, Female, S. 27–43.
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Der Titel Der siebente Tag verweist auf den Schabbat als Tag der Vollendung der Schöpfung. Im Gedicht „Der letzte Stern“ heißt es dazu: Es naht der siebente Tag – Und noch ist das Ende nicht erschaffen.32
Der Gedichtband changiert also zwischen ursprünglichem, aber unvollendetem Schöpfungsgeschehen und weist gleichzeitig auf die messianische Zukunft, in der die Vollendung erreicht werden wird, voraus.33 Gerade den schöpferisch tätigen Dichter/innen und Künstler/innen kommt eine besondere Bedeutung in diesem Unterfangen zu.34 Neben der inhaltlichen Weiterentwicklung ist die von Lasker-Schüler maßgeblich bestimmte Gestaltung des Einbandes zu betrachten. Die Verwendung von blauen Davidsternen auf hellerem Grund verweist auf die Symbole der zionistischen Bewegung und macht den Band prominent als Publikation lesbar, die sich schon optisch als Beitrag zur kulturzionistisch propagierten „Jüdischen Renaissance“ präsentiert. Hinzu kommt, dass Lasker-Schüler sich in den Gedichten mit der jüdischen Tradition gerade über die intertextuellen Bezüge auf den kulturzionistischen Diskurs und dessen Symbolik auseinandersetzt. Die Eigenständigkeit des Beitrags und der Anspruch, die Parameter des Projekts mit eigenen poetologischen Schwerpunkten zu verbinden, markiert Lasker-Schüler durch die Umdeutung der (David)Stern- und Farbsymbolik des Einbandes in den Gedichten selbst. Ihr Entwurf geht dabei deutlich über den bisher von Mark H. Gelber mit den Stichworten „Jewish, Erotic, Female“ als „Eroticism“ betitelten weiblichen Beitrag zum kulturzionistischen Diskurs hinaus.35 Vielmehr wird hier ein poetologisches Programm für eine jüdische Literatur im Sinne des Projekts der „Jüdischen Renaissance“ entworfen, das neoromantische Elemente mit einer poetischen Nachfolge Heinrich Heines kombiniert, um ein Neuschreiben der Tradition zu ermöglichen, ohne diese als zentralen Bezugspunkt zu verlieren.
32 KA 1.1, S. 102. 33 Hier spielen kabbalistische Vorstellungen eine Rolle, siehe Kapitel IV. 34 Im Gedicht selbst ist das Tanzen die schöpferische Aktivität des lyrischen Ichs, das als ein „silbernes Blicken“ gekennzeichnet ist. Auf die Verbindungen zur poetologischen Chiffre des Tanzes innerhalb Lasker-Schülers Werk kann hier nicht ausführlicher eingegangen werden. Vgl. u.a. die Erzählung „Ich tanzte in der Moschee“ in Die Nächte Tino von Bagdads oder „Der Derwisch“. 35 Mark H. Gelber: Jewish, Erotic, Female und ders.: Melancholy Pride, S. 203–220.
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III.1.1 Sozialhistorische und geschlechterpolitische Gründe für LaskerSchülers Nichtaufnahme in die programmatischen kulturzionistischen Publikationen
Eine exemplarische Untersuchung der Publikationsstrategien des von den führenden Kulturzionisten (u.a. Martin Buber, Berthold Feiwel, Davis Trietsch, E. M. Lilien) gegründeten Jüdischen Verlags und weiterer kulturzionistischer Publikationsorgane zeigt, dass die misslungene Assoziation Lasker-Schülers keineswegs ein persönliches Versagen war, sondern die Gründe für diese Distanz mindestens ebenso stark auf der ‚Gegenseite‘ zu verorten sind. Trotz der von Mark H. Gelber beobachteten generell positiven Haltung der jüngeren, mit der Bohème assoziierten und häufig mit sozialistischen Ideen sympathisierenden Kulturzionisten gegenüber den Beiträgen von Autorinnen und Künstlerinnen zur „Jüdischen Renaissance“36 enthalten die ersten programmatischen Publikationen, der Juedische Almanach 5663 (1902/03) und Junge Harfen (1903), des Jüdischen Verlags keine Beiträge von Autorinnen. Darüber hinaus entwirft Berthold Feiwel die „Jüdische Renaissance“ im Geleitwort des Almanachs als geschlechterspezifisches Projekt. Die Präsentation der Früchte des Aufbruchs einer „Jüdischen Renaissance“, der „Ausblick […] in die neue jüdische Welt“ (10), der „brausende Akkord des Volksfrühlings“ (10), das „Zeichen der jüdischen Renaissance“ (10) ist explizit männlich konnotiert: „Aus dem Reichtum aber, den die Vereinigung der Männer des Geistes schaffen und geben wird, wird dem Volke ein neues Vertrauen in seinen Wert und in seine künftige Bestimmung erwachsen. (Hervorh. B.M.K.)“37 Nach Feiwel ist das Ziel des Almanachs: „eine gewisse Einheit innerhalb des lebendigen Judentums deutlich werden zu lassen: die Einheit der Schaffenden. Und von den Schaffenden haben wir alle, die wir fanden, zu Wort kommen lassen, jeden nach seiner Weise.“38 Dies ist eine deutliche Ausgrenzung der Beiträge von Autorinnen und Künstlerinnen im Rahmen eines Juedischen Almanachs, der nach eigenem Anspruch die bisherigen Früchte der „Jüdischen Renaissance“ präsentiert und kanonisiert. Das Programm des Almanachs suggeriert somit, dass die als verschüttet gesehene jüdische Tradition literarisch und künstlerisch allein über Männer wiederbelebt wird und die „Jüdische Renaissance“ wird als ein Bund der „[s]chaffenden“ 36 Ebd., S. 162, 170, 175, 183. Nachgewiesen vor allem für E. M. Lilien und für Berthold Feiwels und Martin Bubers Arbeit als Editoren beim zionistischen Zentralorgan Die Welt sowie Leo Winz, dem Herausgeber von Ost und West. Gelber nennt außerdem Samuel Lublinski (ebd., S. 170). Auf das Fehlen von Autorinnen in den programmatischen Publikationen der Kulturzionisten geht Gelber nicht ein. 37 Berthold Feiwel: Geleitwort. In: Juedischer Almanach 5663. Berlin: Jüdischer Verlag 1902/03, S. 13. 38 Ebd., S. 14 f. (Hervorh. B.M.K.).
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Söhne bzw. „Männer des Geistes“ imaginiert, der die drei im Almanach als signifikant repräsentierten Gruppen umfasst. Mit Theodor Herzl, Achad Haam und Nathan Birnbaum sind Schlüsselfiguren der (kultur-)zionistischen Bewegung, mit Chaim N. Bialik, Morris Rosenfeld, J. L. Perez Schlüsselfiguren der neuhebräischen und jiddischen Literatur vertreten, des Weiteren die jung-jüdischen, vor allem westeuropäischen Autoren (u.a. Buber und Feiwel selbst), die in deren Fußstapfen treten wollen. Diese Konzeption korrespondiert mit traditionellen bürgerlichen Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen, die in dichotomer Verteilung dem Mann aktiv-schöpferische und der Frau passiv-kulturverbreitende Fähigkeiten zuschreiben.39 Sie lassen sich in den theoretischen Überlegungen Berthold Feiwels und Martin Bubers zur Rolle der jüdischen Frau in der „Jüdischen Renaissance“ beobachten. In den beiden Essays zum Thema (1901)40 ist eine Verhaftung in traditionellen, bürgerlichen und patriarchalen Vorstellungen von Weiblichkeit im privat definierten Bereich festzustellen.41 Beide Autoren führen aus, dass eine Tradition „starker“ jüdischer Frauen in der Geschichte durch Anpassung „entartet“42 sei und die jüdische Frau die größere Gefahr für das heutige Judentum darstelle, da sie an der „Auflösung des Judentum“ (Feiwel, S. 2) durch „Entjudungsarbeit im Kleinen“ (ebd.), also im häuslichen und erzieherischen Bereich, arbeite. Um dem entgegenzuwirken, 39 Wie Lasker-Schüler in ihren Texten solche dichotomen Konzepte u.a. in ihrer Auseinandersetzung mit dem kulturzionistischen Diskurs überschreitet, ist ein Thema der folgenden Gedicht- und Prosainterpretationen. Vgl. dazu auch Herbert Uerlings: Ethnizität und Geschlecht in Else Lasker-Schülers ‚orientalischen‘ Erzählungen. Zu „Der Amokläufer“ („Tschandragupta“) und „Ached Bey“. In: Else Lasker-Schüler-Jahrbuch zur Klassischen Moderne 2, 2003, S. 6–26. 40 Berthold Feiwel: Die jüdische Frau. In: Die Welt, Jg. 5 (26.4.1901), H. 17, S. 1–3. Martin Buber: Das Zion der jüdischen Frau. In: Ebd., S. 3–5. Mark H. Gelber untersucht in seiner Studie im Kapitel „Feminist-Zionist Expression: Ideology, Rhetoric, and Literature“ ebenfalls die Beiträge von Feiwel und Buber. Vgl. Mark H. Gelber: Melancholy Pride, S. 161–202. Zur Rolle von Frauen in der zionistischen Bewegung und zu Männlichkeits- und Weiblichkeitsbildern im zionistischen Diskurs vgl. u.a.: Manfred Voigts: Kafka und die jüdisch-zionistische Frau. Diskussionen um Erotik und Sexualität im Prager Zionismus. Mit Text-Materialien. Würzburg 2007. Tamara Or: Vorkämpferinnen und Mütter des Zionismus: die deutsch-zionistischen Frauenorganisationen (1897–1938). Frankfurt/Main u.a. 2009. Rahel KaznelsonShazar (Hg.): The Plough Woman. Records of the Pioneer Women of Palestine. A Critical Edition. Ed. and annotated by Mark A. Raider. Hanover u.a. 2002. Mikhal Dekel: The Universal Jew: Masculinity, Modernity, and the Zionist Moment. Evanston 2010. 41 Auch Mark H. Gelber verweist auf die generelle patriarchale Orientierung der (kultur-) zionistischen Bewegung. Mark H. Gelber: Melancholy Pride, S. 275. Vgl. hierzu auch Herbert Uerlings: Ethnizität und Geschlecht, S. 24–26. 42 Berthold Feiwel: Die jüdische Frau, S. 2 und Martin Buber: Das Zion der jüdischen Frau, S. 4.
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sollen jüdische Frauen im Rahmen von Familiengestaltung, Kindererziehung und Unterstützung ihres Ehemannes für die nationaljüdische Bewegung wirken. Als Lösungsweg bietet sich die notwendige Erziehung der Mütter an.43 Buber geht über Feiwels Überlegungen hinaus und betont die Gleichwertigkeit von Männern und Frauen, wenn er statt von einem Erziehungsbedarf „der jüdischen Frau“ von notwendiger „Selbsterziehung“ spricht, die er ebenso vom jüdischen Mann erwartet. Durch eine „Wandlung“ (Buber, S. 3) und durch ‚Selbsterziehung‘ (4) zu einer „ganze[n] lebendige[n] Persönlichkeit“ soll „die jüdische Frau“ die „Schuld der Jüdin am Niedergang des Volkes“ in ihre besondere Rolle bei der Wiedergeburt desselben umwandeln: „Denn die nationale Erneuerung kann in ihrem innersten Kern nur von der jüdischen Frau ausgehen.“ (alle Zitate S. 4) In Bubers Modell mischen sich bürgerliche mit jüdisch-traditionellen Werten, die jüdischen Frauen eine gleichberechtigte Stellung basierend auf einer genderspezifischen Lebensaufgabe zusprechen.44 So ist für Buber einer von starker Idealisierung von Weiblichkeit geprägte differenzfeministischen Haltung zu beobachten, die mit einer genderspezifischen Verteilung genuin schöpferischer versus bewahrender und verbreitender Fähigkeit zur Kulturarbeit verbunden ist: „Denn Culturideen finden und theoretisch entwickeln mag der Mann, sie verwirklichen, lebendige fortwirkende Cultur schaffen kann nur die Frau.“ (4). Dabei eröffnet sich die Möglichkeit, dass die jüdische Frau „in Wort und Schrift tätig sein [kann] für die Verbreitung der nationalen Idee“ (4), also z.B. als Autorin im Kontext der „Jüdischen Renaissance“. Dennoch spielt für Buber bei diesem Prozess in der Diaspora das Haus eine zentrale Rolle [„in der Galuth ist das jüdische Haus die jüdische Nation“ (4)], so dass er „die jüdische Frau“ neben Selbsterziehung und Publikations- und Agitationstätigkeit letztendlich doch vor allem auf die traditionellen bürgerlichen Werte von Haus, Familie und Mutterschaft verpflichten möchte.45 43 Berthold Feiwels Analyse weist leicht misogyne Tendenzen auf, denn er beschreibt das Wirken der jüdischen Frau im privaten Bereich als dämonisch anmutende Kraft, die sich der männlichen Kontrolle entzieht: „sie zerstören neben ihrer eigenen Individualität, auch die Persönlichkeit ihrer Männer, ihrer Söhne, vor allem ihrer Töchter.“ Berthold Feiwel: Die jüdische Frau, S. 2. 44 Die starke Differenzierung unterschiedlicher Aufgabenbereiche und Fähigkeiten auf Grund des unterschiedlichen biologischen Geschlechts geht bei Buber einher mit der in der jüdischen Tradition gefundenen Gleichwertigkeit von Mann und Frau. Buber zitiert, dass „die jüdische Frau“ zur Zeit des jüdischen Staatswesens „die durchaus gleichberechtigte Beherrscherin des Hauses“ gewesen sei. Martin Buber: Das Zion der jüdischen Frau, S. 3. 45 Neben dem Studium jüdischer Geschichte und Literatur sowie der hebräischen Sprache und der Gestaltung des Hauses mit jüdischen Kunstwerken und Büchern obliegt „der jüdischen Frau“ nach Bubers Ideal die Gestaltung des Hauses als „Stätte der Gesundung“ und die Unterstützung des Mannes: „Sie wird wieder Anregerin sein und ihren Mann, wenn er
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Die im Juedischen Almanach verkündete Programmatik einer genderspezifischen Ausrichtung und der damit verbundenen Ausgrenzung von Autorinnen lässt sich für die Gesamtpublikation des Jüdischen Verlags bis 1938 (und z.T. nach dessen Wiederaufnahme 1959 bis in die 1990er Jahre)46 nachweisen. Im Programm des Jüdischen Verlags erschienen während seines Bestehens von 1902 bis 1938 unter weit über 200 Titeln47 insgesamt nur fünf Werke, die von Frauen geschrieben wurden.48 Neben der Geschlechterkonzeption der Kulturzionisten kann die Ausrichtung des Almanachs auf das jüdische Bürgertum als Zielpublikum und das anvisierte Genre des erzieherischen Familienbuchs in der Tradition der Aufklärung als Grund für die deutlich bürgerlich-konservative Ausrichtung angeführt werden: „Möge er ein jüdisches Familienbuch werden, dem man in jedem kommenden Jahre gerne seinen Nachfolger anreihen wird.“49 Die im Almanach präsentierte jüdische Literatur und jüdische Kunst sollte der nationaljüdischen Erziehung dienen. Nach dem Scheitern des Antrags auf finanzielle Unterstützung des neu
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verzweifelt, müde vom Kampf des Tages nach Hause kommt, den Weg der Selbsthilfe führen.“ Ebd., S. 5. Der 1959 wieder gegründete Jüdische Verlag folgt dieser Programmpolitik (mit wenigen Ausnahmen) bis in die 90er Jahre. Erst ab 1992 sind regelmäßige Publikationen von jüdischen Autorinnen und Denkerinnen zu verzeichnen. Die erste bildet ein Einblick in die Werke Margarete Susmans (Margarete Susman: Das Nah- und Fernsein des Fremden. Essays und Briefe. Frankfurt/Main: Jüdischer Verlag 1992). Ein Gedicht Lasker-Schülers, „Ich weiß“ aus Mein blaues Klavier 1943, nimmt der Verlagsdirektor (1925–1937, 1959) Siegmund Kaznelson 1959 in die Anthologie Jüdisches Schicksal in deutschen Gedichten. Eine abschließende Anthologie auf, mit der er das Ende einer Tradition konstatiert. Zur Geschichte des Jüdischen Verlags: Anatol Schenker: Der Jüdische Verlag, 1902–1938. Zwischen Aufbruch, Blüte und Vernichtung. Tübingen 2003. Das Verlagsverzeichnis von 1924 führt ca. 200 z.T. mehrbändige Titel wie Lexika oder Werkausgaben auf. Bei diesen sechs Ausnahmen handelt es sich um die historischen Aufzeichnungen einer Jüdin (Glikl bas Judah Leib, 1646–1724), die Werke bereits verstorbener Autorinnen mit explizit prozionistischer Thematik (George Eliot und Gertrud Marx) oder die Autorinnen sind selbst zionistisch-publizistisch tätig und engagiert wie Bath Hillel (Bertha Badt-Strauss, 1885–1970), Dr. Esther Else Rapin (1889–1978) und Helena Hanna Cohn (1886–1954). Demgegenüber steht die Publikation aller namhafter männlicher Autoren und Denker des Zionismus. Die Publikation von Autorinnen lässt sich der Leitung durch Ahron Eliasberg (1911–1920) zuordnen. Alfred Feilchenfeld (Hg.): Denkwürdigkeiten der Glueckel von Hameln 1646–1724. Berlin 1913. George Eliot: Daniel Deronda. Roman. Gekuerzt und hrsg. v. Alexander Eliasberg. Berlin 1918. Gertrud Marx: Jüdische Gedichte. Ausgewählt von Bertha Badt. Berlin 1919. Bath Hillel: In Bene Berak und andere Erzählungen. Berlin 1920 (Schriften des Ausschusses für jüdische Kulturarbeit. Jüdische Jugendbücher; 3). Helena Hanna Cohn: Frauenfrage in Palästina. Berlin 1920. Jüdisches Fest. Jüdischer Brauch. Ein Sammelwerk. Unter Mitwirkung von Else Rabin, hrsg. v. Friedrich Thieberger. Berlin 1936. Berthold Feiwel: Geleitwort, S. 16.
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gegründeten Verlags durch die zionistische Organisation auf dem V. ZionistenKongress 1901 ist die Frage der Finanzierung zentral für das junge Verlagsunternehmen. Demzufolge wird es für die Programmkonzeption eine Rolle gespielt haben, den eher konservativen Geschmack des zahlungskräftigen jüdischen Bürgertums zu berücksichtigen. Eine Autorin wie Lasker-Schüler, die vor allem für erotisch-sinnliche Liebesgedichte aus selbstbewusster weiblicher Perspektive in Bohèmekreisen bekannt ist, passt sogar mit Gedichten jüdischer Thematik nicht in diesen pädagogischen und kulturpolitischen Rahmen.50 Als 1904 eine erweitere Neuausgabe des Almanachs erscheint, die weniger theoretische Beiträge enthält und Lyrik, Prosa und Illustrationen noch breiteren Raum einräumt und somit noch mehr ein „Familienbuch“ darstellt, wird mit Marta Wieners „Sei gesegnet!“ ein formal konventionelles, religiös konnotiertes Gedicht einer Autorin aufgenommen, ohne das Vorwort zu ändern.51 Für Lasker-Schülers Position zum Projekt einer „Jüdischen Renaissance“ ergibt sich somit ein mehrschichtiges Szenario. Der frühen offiziellen Assoziation (1901) folgt eine Nichtaufnahme in zentrale Publikationen, deren Gründe konzeptuell und programmpolitisch vor allem auf kulturzionistischer Seite zu verorten sind.52 Gleichzeitig markiert die Einbandgestaltung von Lasker-Schülers zweitem Gedichtband Der siebente Tag (1905) sehr deutlich und, wie Briefstellen belegen, gewollt, eine Zugehörigkeit zum Projekt einer „Jüdischen Renaissance“ (vgl. Kapitel III.1.2). Gerade auf dem Hintergrund der Nichtbeteiligung von Autorinnen an den programmatischen kulturzionistischen Publikationen wird die Gestaltung von Der siebente Tag lesbar als selbstbewusste Positionierung im Umfeld der „Jüdischen Renaissance“ und als Beginn eines eigenen poetologischen Projekts, das sich auf eigene Weise der jüdischen Erneuerung verpflichtet sieht. Durch die für längere
50 So werden von E. M. Lilien weitgehend Illustrationen mit traditionellen Motiven aus Morris Rosenfelds Gedichtsammlung Lieder des Ghettos (1903) statt der erotischen Motive aus Juda (1900) gewählt. Morris Rosenfeld: Lieder des Ghetto. Autor. Übertr. aus dem Jüdischen v. Berthold Feiwel mit Zeichnungen v. E. M. Lilien. Berlin: Calvary 1902. Hinzu kommt Lasker-Schülers biographische Situation als geschiedene Frau mit einem außerehelichen Kind und ihr Leben in Bohèmekreisen. 51 Marta Wiener: Sei gesegnet! In: Juedischer Almanach 1904/05, S. 187. 52 Lasker-Schüler steht in dieser Zeit im literarischen Austausch mit ihrem Mentor Peter Hille. Ab 1903/04 ist sie mit dem von ihrem zweiten Ehemann und literarischen und künstlerischen Weggefährten Herwarth Walden gegründeten „Verein für Kunst“ assoziiert und begründet 1910 den „Sturm“-Kreis mit. Von einer Unfähigkeit zur Assoziation kann also nicht gesprochen werden. Herwarth Walden förderte mit dem 1904 gegründeten Verein neue Autor/ innen, wie Heinrich und Thomas Mann, Alfred Döblin, Rainer Maria Rilke und Else Lasker-Schüler.
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Zeit beibehaltene publizistische Distanz53 wird sie gleichzeitig als Markierung eines eigenständigen Projekts des Entwurfs einer jüdischen Dichtung lesbar. III.1.2 Die Einbandgestaltung im kulturzionistischen Kontext: Juda (1900) und Juedischer Almanach 5663 (1902/03)
Signifikantes und hier erstmals besprochenes Beispiel für Lasker-Schülers Selbstplatzierung im Kontext der kulturzionistischen Bemühungen um ein „Neuschreiben der Tradition“ im Sinne einer „Jüdische Renaissance“ ist die Einbandgestaltung ihres zweiten Gedichtbands Der siebente Tag.54 Der Einband weist generell bemerkenswerte Ähnlichkeiten zu (kultur-)zionistischen Publikationen dieser Zeit auf und zitiert darüber hinaus Elemente der Einbandgestaltung der beiden prominentesten kulturzionistischen Publikationen: die Gedichtsammlung Juda (1900) von Börries von Münchhausen, illustriert von E. M. Lilien und den Juedischen Almanach 5663 (1902/03, veränderte, 2. Auflage 1904),55 die erste Publikation des Jüdischen Verlags, herausgegeben von Berthold Feiwel. Der Einband von Der siebente Tag zeigt auf einem hellen, grauen bis blaugrauen Untergrund dunkelblaue Davidsterne, die zusammen mit dem Titel und einer Zeile mit der Gattungsangabe und dem Namen der Autorin („Gedichte von Else Lasker-Schüler“) einen rechteckigen Rahmen bilden. Auf der Einbandrückseite findet sich ein gleichgroßes, aus Davidsternen gebildetes Rechteck. Der innere Einband zeigt ein Muster aus unzähligen blauen Davidsternen auf hellem, braungrauem Grund. Auf dem Titelblatt befindet sich unter dem Bandtitel ein aus Davidsternen gebildeter Kreis. Für die Bindung am Buchrücken wurde hellblaues Leinen verwendet.56 53 Lasker-Schüler publiziert 1913 Gedichte in der kulturzionistisch assoziierten Zeitschrift Die Freistatt. 1920 gibt sie Gedichte für eine Anthologie Jüdischer Dichtung im Weltverlag frei, außerdem beteiligt sie sich an Das jüdische Prag. Eine Sammelschrift des kulturzionistischen Prager Selbstwehr-Verlags 1917 mit dem Gedicht „Alte Tempel in Prag“. 54 Die hier unternommenen Beobachtungen am „verlegerischen Peritext“ beziehen sich lose auf Genettes Untersuchung zum Paratext, die zu größerer Aufmerksamkeit gegenüber dieser „Übergangszone zwischen Text und Außer-Text“ geführt hat. Genette bezieht Illustrationen aus fachwissenschaftlichen und pragmatischen Gründen nicht in seine Untersuchung ein, betont aber deren „mitunter sehr starken Kommentarwert“ und die häufige Autorisierung durch den „Autor“. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/ Main, New York 1992 (zuerst 1987), hier bes. S. 387 f. 55 Auf die Bedeutung der Gedichtsammlung für den kulturzionistischen Diskurs hat zuerst Mark H. Gelber hingewiesen. Vgl. Mark H. Gelber: Melancholy Pride, S. 87–124. 56 Vgl. Abbildung in: Else Lasker-Schüler 1869–1945. Bearbeitet v. Erika Klüsner u. Friedrich Pfäfflin. Marbacher Magazin 71/1995, S. 49 f. Die Beschreibung bezieht sich auf das zugängliche Exemplar im Literaturarchiv Marbach.
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Die gewählte Farbgebung und das Symbol des Davidsterns verweisen deutlich auf die zentralen Symbole der zionistischen Bewegung. Zum einen erinnern der hellblaue Buchrücken von Der siebente Tag und die Farbwahl von blauen Davidsternen auf einem helleren Untergrund an die Farbkombination Blau-Weiß und damit an die auf dem I. Zionisten-Kongress 1897 etablierten Farben der zionistischen Bewegung.57 Auf dem gleichen Kongress wurde der Davidstern als Symbol der zionistischen Bewegung eingeführt.58 Somit ist augenscheinlich, dass die graphische Gestaltung von Der siebente Tag bei den zeitgenössischen Betrachter/ innen visuell und durch die Markierung als Gedichte verstärkt den Eindruck einer kulturzionistischen Publikation hervorgerufen haben muss.59 Lasker-Schüler hat bekanntermaßen ihr Leben lang großen Wert auf die Gestaltung ihrer Bücher gelegt und, soweit es jeweils möglich war, darauf Einfluss genommen.60 Mehrere Briefstellen legen nahe, dass Lasker-Schüler die Gestaltung des Einbands von Der siebente Tag selbst in dieser Ausführung (mit-)bestimmt hat. Aus ihren Briefen an Axel Juncker, den Verleger ihres ersten Gedichtbandes Styx, wird deutlich, dass sie die Gestaltung ihres zweiten Buches früh geplant
57 Die auf dem I. Zionistischen Kongress entworfene Fahne der zionistischen Bewegung zeigt, der Gestaltung des Tallit (Gebetsschal) nachempfunden, zwei blaue Streifen auf weißem Grund, und in deren Mitte zwei übereinanderliegende, einen sechseckigen Stern bildende blaue Dreiecke auf weißem Grund. Sie wurde als Fahne des 1948 gegründeten Staates Israel übernommen. 58 Vgl. Gershom Scholem: Das Davidschild. Geschichte eines Symbols. Erw. Fassung. Aus dem Hebräischen und mit einem Nachwort von Gerold Necker. Berlin: Jüdischer Verlag 2010, S. 53. Scholem gibt an, dass die Zionisten die weite Verbreitung des Davidsterns als Symbol für das Judentum im 19. Jahrhundert nutzen wollten. Er sei ein sinnentleertes Symbol ohne in der jüdischen Tradition verwurzelte religiöse Bedeutung gewesen und habe nur formal als Äquivalent zum christlichen Symbol des Kreuzes gedient. 59 Beispiele einer ähnlichen Covergestaltung kulturzionistischer Publikationen sind z.B. die Broschüre von Heinrich Loewes Plädoyer für „Eine jüdische Nationalbibliothek“, die in hellblau und weiß/beige gehalten ist. Heinrich Loewe: Eine jüdische Nationalbibliothek. Berlin: Juedischer Verlag 1905. Der Umschlag der ebenfalls im Jüdischen Verlag erschienenen Broschüre von Mathias Acher (Nathan Birnbaum) ist in hellblau gehalten. Mathias Acher (Nathan Birnbaum): Achad ha=am. Ein Denker und Kämpfer der jüdischen Renaissance. Vortrag. Berlin: Juedischer Verlag 1903. Beide Broschüren habe ich in der National Library of Israel eingesehen. Ein späteres Beispiel sind die von Franz Rosenzweig übersetzten Gedichte Jehuda Halevis. Der Einband zeigt goldene Schrift auf blauem Grund, die Titelseite den Titel in blau auf weißem Untergrund. Franz Rosenzweig: Sechzig Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi. Deutsch. Mit einem Nachwort und mit Anmerkungen. Konstanz: Oskar Wöhrle Verlag 1924. 60 Dies zeigt u.a. ein weiterer Brief an ihren ersten Verleger Axel Juncker vom April/Mai 1907 zu Die Nächte Tino von Bagdads: „Ich möchte auch die Farbe des Deckels und das Bild vor der Herausgabe sehn.“ (KA 6, 77).
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hat.61 Im Mai 1904 formuliert sie deutliche Vorstellungen über die Einbandgestaltung, die auf den schöpfungsgeschichtlichen Kontext des Titels hinweisen und an die zionistische Farbsymbolik erinnern: „wollen Sie das Buch sofort in Druck geben mit golfblauem Deckel Leinwand mit Silberschrift ‚Der siebente Tag‘“ (10. Mai 1904, KA 6, 62). Der siebente Tag erscheint schließlich im Verlag des „Vereins für Kunst“, den Lasker-Schülers zweiter Ehemann Herwarth Walden 1904 gegründet hatte. Obwohl der Gedichtband vielleicht aus Kostengründen nicht in blauem Leinen und silberner Schrift realisiert werden konnte, spricht der Umstand, dass LaskerSchüler im Verlag Herwarth Waldens veröffentlichte, dafür, dass sie den Einband im Rahmen der verlegerischen Möglichkeiten so gestalten konnte, wie sie es wollte. Gerade weil beide ein künstlerischer Kampf und die Zugehörigkeit zu den entstehenden Avantgarden verband.62 Am 11. Oktober 1904 drückt Lasker-Schüler ihr Wohlgefallen über die tatsächlich realisierte Buchgestaltung aus: „Mein zweites Buch erscheint in circa 8 Tagen. Herrlich gebunden, groß. [I]ch hoffe es macht Furore.“ (KA 6, 66) Die kulturzionistische Assoziation ist durch die Verwendung von blauen Davidsternen auf hellerem Grund für einen Gedichtband mit einem Titel, der auf die jüdische Tradition verweist, sogar deutlicher als im ersten Entwurf gegenüber Juncker. Die Einbandgestaltung von Der siebente Tag zitiert nicht nur generell die typische Farbgebung zionistischer Publikationen. Sehr deutlich ist der direkte Verweis auf das erste kulturzionistische „Kultbuch“ Juda (1900),63 das Gedichte von Börries von Münchhausen und Illustrationen von E. M. Lilien vereint.64 Diese ungewöhnliche Zusammenarbeit zwischen dem deutsch-nationalen und völkisch orientierten, nichtjüdischen Autor von Münchhausen und dem jüdischnationalen, kulturzionistischen, jüdischen Graphiker Lilien wurde in jüdischen und nichtjüdischen Kreisen euphorisch rezipiert und setzte einen neuen Standard 61 Lasker-Schüler erwähnt Axel Juncker gegenüber am 28. Oktober 1903, dass sie „bald wieder ein Buch von 30 Gedichten herausgeben“ (KA 6, 54) wolle. Ab Februar 1904 bemüht sie sich um einen Verleger und sendet Anfragen u.a. an Juncker, Eugen Dietrichs, den Insel- und den Fischer-Verlag (KA 6, 444). 62 Vgl. hierzu Lasker-Schülers Brief an Karl Kraus nach der Scheidung von Herwarth Walden vom 5. Juli 1912: „Herwarth beging Fahnenflucht nicht Ehebruch. Ich bin Krieger – bin nie verheiratet aber stand im Heer zu zweit. ich und er.“ Lasker-Schüler an Karl Kraus, 5. Juli 1912, KA 6, S. 234. 63 Börries von Münchhausen und E. M. Lilien: Juda. Goslar: F.A. Lattmann. 1900 (Erste Auflage. 1.–3. Tausend). 64 Auch in ihrem Gedichtzyklus Hebräische Balladen (1912) unternimmt Lasker-Schüler u.a. eine poetologische Auseinandersetzung mit diesem Band. Schon die Bezeichnung der in die Sammlung aufgenommenen Gedichte als Balladen sowie ein eigener Entwurf eines „aristokratischen“ Judentums weisen auf eine Auseinandersetzung mit von Münchhausen hin.
Der siebente Tag
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jung-jüdischer, kulturzionistischer Lyrik, Illustration und Publikationsqualität.65 Juda ist eine Sammlung meist zuvor publizierter Gedicht von Münchhausens, die in Aufnahme der (englisch-)romantischen Balladentradition, formal sehr unterschiedlich, thematisch um die Verherrlichung eines aristokratischen antiken jüdischen Erbes kreisen. Lilien liefert dazu vom Jugendstil geprägte Illustrationen, die auf neuartige Weise jüdische und kulturzionistische Symbole, erotische Motive und Pflanzenornamente verbinden.66 Die Einbandgestaltung von Der siebente Tag (1905) weist signifikante Parallelen zu Liliens Gestaltung des Buchumschlags von Juda (1900) auf. Lilien verwendet zunächst den Farbkontrast dunkelblau auf hellblauem Grund und zeigt den Titel Juda in Weiß auf dunkelblauem Grund innerhalb eines dunkelblauen Davidsterns, der sich wiederum vor einem Symbol der Bundestafeln befindet und von Dornenranken und Rosenblüten umgeben ist. Lilien nutzt also den Farbkontrast eines weißen Titels auf blauem Grund und verweist wie Lasker-Schüler in Der siebente Tag auf die Farben und Symbole der zionistischen Bewegung.67 Für den inneren Einband wählt er ein Muster aus weißen Menorot (siebenarmige Leuchter) auf blauem Grund,68 während Lasker-Schüler blaue Davidsterne auf hellem Grund zeigt. Die strukturellen Parallelen der Gestaltung gerade der inneren Einbände sind auffallend, während die symbolische Differenz auf zwei verschiedene Konzepte von Künstler/innentum und Dichter/innentum hinweist. Die von Lilien abgebildeten Menorot verweisen auf das zentrale Objekt des Stiftszeltes, das durch den jüdischen Künstler Bezalel und seine Gehilfen nach den Moses offenbarten Vorschriften angefertigt wurde.69 Lilien wählt die Menora zum einen als Symbol des antiken Judentums –im Stiftszelt und im Tempel – und zum anderen als das traditionelle und modern aufgegriffene Symbol des jüdischen Künstlers und der jüdischen bildenden Kunst nach dem Vorbild Bezalels.70 65 Mark H. Gelber hat diese Zusammenarbeit im Rahmen des Kulturzionismus eingehend untersucht. Mark H. Gelber: Melancholy Pride, S. 87–124. 66 Zu Lilien vgl. ebd. sowie Mark H. Gelber: E. M. Lilien und die jüdische Renaissance. In: Bulletin des Leo-Baeck-Instituts, 1990, H. 87, S. 45–53. 67 Mark H. Gelber spricht von einer „provocative presentation of the Jewish national colors“. Mark H. Gelber: Melancholy Pride, S. 87. 68 Das von Lilien entworfene Emblem des Jüdischen Verlags zeigt ebenfalls einen Davidstern in Linien gezeichnet, der die Buchstaben „J“ und „V“ verbindet und von einem Kreis umgeben ist. Im Hintergrund befindet sich eine brennende Menora (ein siebenarmiger Leuchter). In einer späteren Auflage ebenfalls 1900 bei Egon Fleischel & Co Berlin ist der innere Buchumschlag beidseitig mit gelben Menorot auf blauem Grund illustriert. Auch hier beziehe ich mich auf die Exemplare der National Library of Israel. 69 Vgl. die Beschreibung in Schemot/Exodus (25,31–40). 70 So wurde die 1906 im Umkreis kulturzionistischer Initiativen von Boris Schatz gegründete Kunstgewerbeschule in Jerusalem nach Bezalel benannt.
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Lasker-Schüler hingegen wählt den Davidstern als das moderne Symbol des Judentums. Der in seiner Bedeutung Scholem zufolge zwischen einem sinnleeren Parallelsymbol zum christlichen Kreuz und dem Symbol des Zionismus angesiedelte Davidstern71 wird von Lasker-Schüler auf die königlich, poetisch und messianisch konnotierte Figur König Davids als Psalmendichter zurückgeführt. Wobei sie die Sternensymbolik mit den ‚Eigenschaften‘ Davids verbindet und den Davidstern zu einem Symbol jüdischer Dichtungsbegabung und Auserwählung entwickelt.72 Dies wird u.a. deutlich in ihren Zeichnungen, in denen der Davidstern häufig auserwählte, meist jüdische Dichter/innen- bzw. Künstler/ innen-Figuren markiert,73 und in der späteren poetologischen Konzeption in Das Hebräerland: „In den Augen, in der Schläfe den Kometen der Dichtung, in der anderen den Davidstern.“ (KA 5, 52) Im Kontext von Der siebente Tag korrespondiert diese Deutung – poetisch, königlich, messianisch, schöpferisch – mit dem im Titel markierten Bezug des Gedichtbandes auf den siebten Tag der Schöpfung. Hier sind Parallelen zu Bezügen auf König David in der jung-jüdischen Literatur um 1900 zu sehen (vgl. Kapitel II.2), der kriegerische Aspekt bzw. die jüdische Eigenstaatlichkeit spielen jedoch für Lasker-Schülers Konzeption kaum eine Rolle, wie weiter unten noch genauer gezeigt wird. Es liegt nahe, anzunehmen, dass Lasker-Schüler Juda kannte, denn Lilien verkehrt um 1900 wie sie selbst bei der lebensreformerischen Gemeinschaft „Die Kommenden“. Außerdem hatte sie 1898 Kontakt zu Börries von Münchhausen und wusste offensichtlich um sein philo-kulturzionistisches Interesse, wie ihre Einladung zu einem Abend zeigt, auf dem (Kultur-)Zionisten anwesend sein werden, denen sie von Börries von Münchhausens Gedichten berichtet hat.74 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Lasker-Schüler durch Lilien zur Verwendung des Davidsterns in ihren Zeichnungen inspiriert wurde. Die Einbandgestaltung von Der siebente Tag weist außerdem Parallelen zu dem ebenfalls von Lilien gestalteten Einband des ersten Juedischen Almanachs
71 Vgl. Gershom Scholem: Davidschild, S. 53. 72 Almuth Hammer hat gezeigt, dass die Figur des König David und das von ihm symbolisierte jüdische Königtum und Dichtertum einen wesentlichen Aspekt von Lasker-Schülers IchFiguration Prinz Jussuf von Theben, entwickelt aus dem biblischen Joseph, bilden. Vgl. Almuth Hammer: Erwählung erinnern, S. 195–200. 73 Vgl. Ricarda Dick (Hg.): Else Lasker-Schüler. Die Bilder. Berlin 2010. 74 Vgl. die Postkarte von Else Lasker-Schüler an Börries von Münchhausen vom 15. Juni 1899 (KA 11, 374) sowie Kapitel II. Mark H. Gelber hat auf Parallelen zwischen Liliens Illus trationen und Lasker-Schülers früher erotischer Lyrik hingewiesen, u.a. auf die prominente Verwendung des Begriffs „Lilien“ in zwei Gedichten in Styx (1902). Mark H. Gelber: Melancholy Pride, S. 204–216.
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5663 auf.75 Für die erste programmatische Publikation des 1902 von Martin Buber, Berthold Feiwel, Chaim Weizmann, Davis Trietsch und E. M. Lilien gegründeten Jüdischen Verlags arbeitet Lilien, wie auch Lasker-Schüler, erneut mit dem Farbkontrast von Blau auf hellem Untergrund (hell-blaugrau) und knüpft damit erneut an die zionistischen Farben an. Als weitere Symbole wählt er Davidsterne, die alternierend komplett ausgefüllt blau auf hellem Grund oder mit hellen Linien auf blauem Grund gestaltet wurden, sowie zwei zu den Betrachtenden gerichtete Hände in der Geste des Priestersegens.76 Die Illustration wird für die Vorder- und Rückseite des Umschlags verwendet und auf dem Titelblatt in schwarz-weiß wiederholt. Die von Lasker-Schüler bestimmte Gestaltung des Einbands ihres zweiten Gedichtbandes Der siebente Tag zeigt somit deutliche Parallelen zu den prominentesten kulturzionistischen Publikationen dieser Zeit und ist visuell als Beitrag zum Projekt einer „Jüdischen Renaissance“ rezipierbar. Dass dies sozusagen im Eigenverlag geschieht, macht diese Positionierung umso spannender, denn sie markiert gleichzeitig eine Eigenständigkeit und Distanz zu bestimmten Aspekten dieses Projekts. Dieser Eindruck wird bestärkt, wenn man die Verwendung der Farben Blau und Weiß (oder Silber, wie zunächst für den Einband geplant) und der (David-) Sternsymbolik in den Gedichten selbst zur Analyse hinzuzieht, da diese gerade in nichtzionistischen bzw. zionismuskritischen Kontexten verwendet, und mit anderen, vor allem in einer (neo)romantischen Tradition stehenden Bedeutungskontexten verbunden werden. III.1.3 Die Umdeutung der kulturzionistischen Einbandsymbolik in den Gedichten
Die Einbandgestaltung legt nahe, Lasker-Schülers zweiten Gedichtband Der siebente Tag als Beitrag zum Projekt der „Jüdischen Renaissance“, also dem „Neuschreiben aus uraltem Material“ und der „Wiederauferstehung“ des Judentums bzw. der jüdischen Tradition zu interpretieren. Wenn man dem Verweischarakter von Einbandsymbolik und deren Verwendung in den Gedichten nachgeht, also die Verwendung der Farben Blau und Weiß bzw. (wie ursprünglich für den Einband geplant) Silber und die Sternsymbolik untersucht, wird deutlich, dass 75 Zur Nichtaufnahme von Gedichten von Lasker-Schüler in diesen Band, obwohl sie mehrere der Herausgeber bzw. Mitarbeiter des Verlags kennt und zuvor in Ost und West publiziert hat, vgl. Kapitel III.4. 76 Vgl. hierzu Achad Haam: Priester und Prophet. In: Ders.: Am Scheidewege. Aus dem Hebräischen von Israel Friedlaender. 2., verbesserte und vermehrte Auflage. Bd. 1. Berlin: Jüdischer Verlag 1913, S. 240–251.
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Lasker-Schüler nicht nur, wie Mark Gelber gezeigt hat,77 in ihren Gedichten kulturzionistische Motive aufnimmt, sondern in ihnen viel grundlegender das poetologische Potenzial des Kulturzionismus auslotet. Schon durch den Titel Der siebente Tag wird eine schöpfungsgeschichtliche und messianische Dimension betont, die besonders mit Dichtung und Liebesbegegnungen verbunden wird, dabei aber ebenso das messianische Potenzial der zionistischen Bewegung und besonders des kulturzionistischen Projekts aufgreift. In der kulturzionistisch assoziierten Lyrik tauchen mehrfach die Symbole eines Sterns und des blauen, weiten Himmels als Referenz auf die zionistischen Farben und Symbole auf. Sie finden sich u.a. in Karl Wolfskehls Gedicht „Das Zeichen“78 und eindeutig zionistisch motiviert in der letzten Strophe des Gedichts „Passah“, das die Autorin Dolorosa (Marie Eichhorn, geb. 1879)79 mit einer Widmung an E. M. Lilien („[d]em Maler E. M. Lilien zu eigen.“) versehen hat: Der Heimat Palmen rauschen leis’, Und über uns strahlt hell und fern Im dunkelblauen Himmelsmeer Der Zionsstern.80
Hier wird in orientalisiertem Ambiente ein idealisiertes Bild der jüdischen Heimat entworfen. Der „Zionsstern“ symbolisiert die Hoffnung auf die Heimkehr, wie sie am Pessachfest mit dem traditionellen Wunsch „Nächstes Jahr in Jerusalem“ tradiert wird, und weist den Weg zur Erfüllung der Verheißung. Auch Lasker-Schüler verwendet die Farben Blau und Weiß bzw. Silber und die Sternensymbolik in einigen Gedichten in Der siebente Tag als Bezeichnungen für Naturelemente wie Himmel, Meer, Wind und Sterne, die auf die schöpfungsgeschichtliche und messianische Dimension, die der Titel und die Einbandgestaltung aufrufen, referieren. Sie entwirft jedoch ein anderes Modell von ersehnter Heimat als z.B. Dolorosa, vielmehr wird ein erneuerter paradiesischer Zustand angestrebt, der mit schöpferischer Tätigkeit, Liebesbeziehungen und einem der Romantik entlehnten poetischen Potenzial der Farbe Blau als der Sehnsuchtsfarbe schöpferischer Dichtung und Liebe verbunden ist. Erstrebt wird weniger ein 77 Mark H. Gelber: Melancholy Pride, S. 203–220. 78 Karl Wolfskehl: Das Zeichen. In: Berthold Feiwel (Hg.) Junge Harfen. Eine Sammlung jungjüdischer Gedichte. Berlin: Jüdischer Verlag 1903, S. 8: „Goldnes Zeichen, klar im Blauen / Sternenlicht ins Thal gefallen“. 79 Gelber hat die Assoziation der nichtjüdischen Autorin Dolorosa an die Bemühungen einer „Jüdischen Renaissance“ untersucht. Er ordnet sie der Kategorie „Masochism“ zu. Mark H. Gelber: Melancholy Pride, S. 221–246. 80 Dolorosa: Passah. Dem Maler E. M. Lilien zu eigen. In: Die Welt, Jg. 5 (3.4.1901), H. 14, S. 13.
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realer, urbar zu machender, sondern ein in der Imagination angesiedelter, poetisch konnotierter ‚Ort‘ des Ursprungs und der (messianischen) Erlösung, der mit starkem Bezug auf die jüdische Tradition entworfen wird. Die schöpfungsgeschichtliche Dimension, der Erlösungskontext und allgemein die Betonung des Bezugs auf die jüdische Tradition, die mit dem Titel der Gedichtsammlung korrespondieren, werden im Gedicht „Wir beide“ mit poetologischen und motivischen Verweisen auf die (Neo-)Romantik weiter entfaltet: Wir beide Der Abend weht Sehnen aus Blütensüße, Und auf den Bergen brennt wie Silberdiamant der Reif, Und Engelköpfchen gucken überm Himmelstreif, Und wir Beide sind im Paradiese. Und uns gehört das ganze bunte Leben, Das blaue, große Bilderbuch mit Sternen, Mit Wolkentieren, die sich jagen in den Fernen Und hei! Die Kreiselwinde, die uns drehn und heben! Der liebe Gott träumt seinen Kindertraum Vom Paradies – von seinen zwei Gespielen, Und große Blumen sehn uns an von Dornenstielen … Die düstere Erde hing noch grün am Baum.81
Zunächst werden indirekt die zionistischen Farben zitiert, wenn der „Reif“ wie „Silberdiamant“ mit dem „Himmelstreif“ zusammentrifft. Die Formulierung „Das blaue, große Bilderbuch mit Sternen“ referiert auf den Sternenhimmel, lässt sich aber ebenfalls auf den Einband von Der siebente Tag beziehen und eröffnet durch den Begriff „Bilderbuch“ eine Metaebene der Reflexion über Dichtung. So wird die Farbsymbolik um eine poetologische und schöpfungsgeschichtliche Dimension erweitert. Insgesamt werden im Gedicht Liebeslyrik und poetologische Ebene mit der Sehnsucht nach einem paradiesischen Urzustand verknüpft, in dem das lyrische Ich und das angesprochene Du erneut schöpferisch, spielerisch und kindlich mit „Gott“ verbunden sein werden. Die Verwendung der Sternsymbolik im Gedichtband folgt dieser Konzeption, wenn von „Sternenzeiten“ (KA 1.1, 92) und „Paradiessterne[n]“ (ebd., 98) die 81 KA 1.1, S. 83. Bezüge zum Gedicht „Im Anfang“ sind deutlich, wobei dort das auf Heine verweisende, poetologisch deutbare lyrische Ich sich ohne Liebespartner in einem kindlichen Zustand mit jhwh und dem Teufel auseinandersetzt.
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Rede ist. Im Gedicht „Der Letzte“ (ebd., 100 f.) wird die Sternensymbolik mit der jüdisch-messianischen Erlösungshoffnung verbunden. Dort heißt es vom lyrischen Ich in der Rolle des Messias: „Alle Sterne träumen von mir“ (ebd., 100). Dabei wird nie explizit von einem Davidstern gesprochen, erst die Einbandgestaltung vereindeutigt den Bezug vieler Gedichte auf die jüdische Tradition. Die Farben Blau, Silber oder Weiß finden sich außerdem in Gedichten, die deutlich mit kulturzionistisch lesbaren Motiven arbeiten. Die Verwendung von Blau und Weiß im Gedicht „Unser stolzes Lied“ (KA 1.1, 87) markiert eine kritische Haltung zur politischen zionistischen Bewegung, während ansonsten Topoi der kulturzionistischen Lyrik mit einer dezidiert weiblichen Perspektive verbunden werden. Unser stolzes Lied Der Goldhäutigen zu eigen Aber fremde Tage hängen Über uns mit kühlen Bläuen, Und weiße Wolkenschollen dräuen, Das goldene Strahleneiland zu verdrängen. Auch wir beide sind besiegte Siegerinnen, Und Kronen steigen uns vom Blut der Ceder, Propheten waren unsere Väter, Und unsere Mütter Königinnen. Und süße Schwermutwolken ranken Sich über ihre Gräber lilaheiß in Liebeszeilen, Und unsere Leiber ragen stolz, zwei dunkle Säulen, Über das Abendland, wie östliche Gedanken.82
Das Gedicht „Unser stolzes Lied“ behandelt zunächst ein wichtiges Thema des (kultur-)zionistischen Diskurses: den Stolz auf die eigene jüdische Herkunft und das jüdische Erbe.83 Der Gedichtanfang ruft die zionistischen Farben in der Konnotation von blauem Himmel und weißen Wolken auf, lässt sie aber zum Teil der Diasporaerfahrung (die „fremde[n] Tage“) und der Bedrohung der beiden Protagonistinnen werden: „Aber fremde Tage hängen / Über uns mit 82 KA 1.1, S. 87. 83 Gelber zitiert einige Zeilen des Gedichts, um zu zeigen, wie einzelne Motive auf einen nationaljüdischen Kontext verweisen, so die Erwähnung eines stolzen jüdischen Erbes und die klare Unterscheidung zwischen Ost und West, Mark H. Gelber: Melancholy Pride, S. 216 f.
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kühlen Bläuen, / Und weiße Wolkenschollen dräuen, / Das goldene Strahleneiland zu verdrängen.“ Lasker-Schüler arbeitet mit der Gegenüberstellung von kaltem, nordischem Abendland („kühle Bläuen“) und warmem („lilaheiß“), orientalisierten Morgenland, die in den letzten beiden Zeile explizit genannt wird: „Und unsere Leiber ragen stolz, zwei goldene Säulen, / Über das Abendland, wie östliche Gedanken.“ Die Farbkombination Blau und Weiß wird ebenfalls als Bestandteil der potenziellen Verdrängung des stolzen, orientalischen Erbes gezeigt. Letzteres wird explizit mit der Farbe Gold verbunden, denn das Gedicht ist der „Goldhäutigen“ gewidmet und das „goldene Strahleneiland“ ist bedroht. Durch die Farbe Gold und die Bezeichnung der Mütter als Königinnen wird auf Sulamith und Esther als Königinnen der jüdischen Tradition und damit auf zentrale Texte des Tanach (das Hohelied und die Esther-Rolle) verwiesen. Das lyrische Ich und „die Goldhäutige“, der das Gedicht gewidmet ist, werden als weiblich markiert und scheinen als „besiegte Siegerinnen“ auch im Exil das Erbe ihrer Propheten-Väter und Königinnen-Mütter weiter zu tragen. Sie sind durch diese Genealogie, und verbunden mit einer gewissen poetischen Tradition „vom Blut der Ceder“,84 als Jüdinnen gekrönt und auserwählt. Die zionistische Position scheint diesem Stolz und dem orientalisierten und schöpferischen jüdischen Identitätsgefühl im Kontext einer antiken Tradition der Propheten und Königinnen eher als hinderlich gegenüberzustehen und wird als Teil des feindlichen Abendlandes identifiziert. Durch die Betonung der weiblichen Perspektive liegt es nahe, hier erneut Kritik an der patriarchalen bzw. bürgerlich konservativen Haltung der zionistischen Bewegung zu sehen. Respektive wird durch die Kombination von weiblicher („Kronen“ und „Königinnen“) und männlicher („Propheten“) bzw. phallischer Symbolik („Ceder“ und die ragenden „dunklen Säulen“) eine potenziell bedrohliche weibliche Machtposition entworfen. Die von Lasker-Schüler genannten Motive: Schwermut, Stolz, Liebe, die Gegenüberstellung von Ost und West bzw. Morgen- und Abendland, der Bezug auf die antike jüdische Tradition und das prophetische und königliche Erbe sowie der Aspekt der Auserwählung sind Topoi der jung-jüdischen Lyrik, die hier aus einer weiblichen Perspektive angewendet werden. Dabei wird eine kulturelle und poetische jüdische Identität im Rahmen einer jüdischen Tradition entworfen, die sich in „lilaheiß[en]“85 „süßen Schwermutwolken“ und „in Liebeszeilen“ über den Grä84 Die Zeder im Libanon ist ein beliebtes Motiv der zeitgenössischen jung-jüdischen Lyrik. 85 Mit dem Adjektiv „lilaheiß“ könnte Lasker-Schüler auf den Einband der ersten Anthologie jung-jüdischer Lyrik Junge Harfen verweisen, der in lila/violett gehalten ist und dem ein Muster aus vertikalen Palmenwedeln eingeprägt ist. Der Titel ist in der Farbe Silber gehalten, vgl. die Ausführungen zur geplanten Einbandgestaltung von Der siebente Tag weiter oben, die ebenfalls den Titel in Silber vorgesehen hatte. Die Beschreibung des Einbands bezieht sich auf das zugängliche Exemplar im Marbacher Literaturarchiv.
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bern der prophetischen und königlichen Vorfahren „rank[t]“. Ein entsprechendes Dichtungsmodell gewinnt das schöpferische Potenzial aus dem Topos der Melancholie86 über den Verlust der verlorenen Position, aber auch aus der Erinnerung und durch das Anknüpfung an die Tradition und die in ihr gegenwärtige Liebe, die u.a. im Hohelied und in der Esther-Geschichte gefunden werden kann.87 Deutliche Kritik an einem nationalstaatlichen Konzept von Heimat findet sich im Gedicht „Heim“ (102), in dem die Farben Blau und Silber und das auf die weiße Farbe verweisende Motiv der „Wolkenschichten“ verwendet werden, um das „Heim“ gerade nicht als einen jüdischen Staat in ‚Eretz Israel‘ zu entwerfen. Zu Beginn der ersten Strophe heißt es: „Unsere Zimmer haben blaue Wände, / Und wir wandeln leisehin durch Himmelweiten“ und zu Beginn der zweiten: „Und wir erzählen uns Geschichten, / Bis der Morgen kommt, in Silberglocken“, bevor sie mit der Erwähnung von Wolkenschichten endet. Entsprechend besteht das „Heim“ des Liebespaares aus Himmel, Sonne, Wolken, „wiesenhellen Teppichen“ und Quellen und ist somit als Paradieslandschaft gestaltet. Außerdem wird mit der Bezeichnung „blaue Wände“ über den Romantikbezug der Farbe Blau erneut eine poetologische Dimension aufgerufen. Lasker-Schüler überschreitet den politisch-zionistischen Diskurs, indem sie das (jüdische oder allgemein menschliche) „Heim“ in einer poetischen und liebenden Dimension ansiedelt und in beiden Aspekten mit schöpferischen und schöpfungsgeschichtlichen Bezügen verbindet. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die durch die Einbandgestaltung von Der siebente Tag aufgerufene, kulturzionistisch konnotierte Rezeptionshaltung die Bezüge der Gedichte auf die jüdische Tradition hervorhebt. Gleichzeitig wird eine vereindeutigende zionistische Lesart durch die kritische und die schöpfungsgeschichtlich und (neo-)romantisch konnotierte Verwendung der zionistischen Farben und der Sternsymbolik in den Gedichten selbst unterlaufen und explizit mehrdeutig gestaltet. Dabei wird aus der jüdischen Tradition ein kultureller, eine weibliche Perspektive einbeziehender, poetologischer Entwurf entwickelt, der konzeptuell als Beitrag zur Vollendung der Schöpfung durch Dichtung angelegt ist. Lasker-Schüler realisiert ein avantgardistisch-antizipatorisches Potenzial, da sie ein Konzept nahelegt, mit dem im Lieben und Dichten, wie rituell im Erleben des Schabbats, eine messianische Vollendung oder Erlösung im ‚Jetzt und Hier‘ fragmentarisch vorwegnehmend erlebt und ‚verwirklicht‘ werden kann.88 86 Hier ließe sich an Mark H. Gelbers Begriff eines „Melancholischen Stolzes“ für die kulturzionistische Literatur anknüpfen. Vgl. Mark H. Gelber: Melancholy Pride. 87 Vgl. hierzu die Interpretation des Gedichts „Esther“ (Kapitel VI.1), in dem ebenfalls eine liebend harmonische und eine destruktive Ebene gestaltet werden und das sowohl die Etablierung und den Erhalt als auch die Zerstörung von Tradition thematisiert. 88 Dieses Modell betrifft den poetologischen Entwurf im Rahmen der jüdischen Tradition, nicht ein in der Forschung teilweise konstatiertes unreflektiertes prophetisches Sendungsbewusstsein Lasker-Schülers.
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Die Gedichtsammlung Der siebente Tag ist somit zum einen durch die intertextuellen und visuellen Bezüge als Assoziation mit dem Projekt der „Jüdischen Renaissance“ angelegt und betont zum anderen gleichzeitig eine eigene Gestaltung jüdischer und kulturzionistischer Motive und Symbole. Dabei wird deutlich, dass Lasker-Schüler das poetologische Potenzial des kulturzionistischen Diskurses interessiert und sie dessen messianische und schöpferische Dimension betont. Erlösung wird nicht politisch und auch nicht kulturpolitisch erwartet, sondern an die jüdische Tradition und die Liebes- und Dichtungsthematik im Sinne von Auserwählung rückgebunden. Lasker-Schüler nutzt den Kulturzionismus als ein Referenzsystem, um das Modell einer ‚Identität‘ als „stolze“ jüdische Dichterin und eines schöpferischen, jüdischen dichterischen Ausdrucks zu entwickeln. Dabei wird der Topos des gottgegebenen Dichtertums aufgerufen und für eine jüdische Dichterin aktualisiert. III.2 „Mein Volk“ (1905) – Prophetische Tradition zwischen Avantgarde und Kulturzionismus Mein Volk Der Fels wird morsch, Dem ich entspringe Und meine Gotteslieder singe …. Jäh stürz ich vom Weg Und riesele ganz in mir Fernab, allein über Klagegestein Dem Meer zu. Hab mich so abgeströmt Von meines Blutes Mostvergorenheit. Und immer, immer noch der Wiederhall In mir, Wenn schauerlich gen Ost Das morsche Felsgebein, Mein Volk, Zu Gott schreit.89
89 KA 1.1, S. 96 f. Zur Publikationsgeschichte vgl. KA 1.2, S. 134 ff., 200, 340 und 374.
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Lasker-Schülers Gedicht „Mein Volk“, zuerst 1905 in ihrem zweiten Gedichtband Der siebente Tag veröffentlicht, ist in mehrfacher Hinsicht ein programmatisches Gedicht und als solches von Lasker-Schüler prominent platziert und motivisch zitiert worden. So fungiert es als Eröffnungsgedicht der ersten und zweiten Auflage von Lasker-Schülers Gedichtsammlung Hebräische Balladen (1912/13 und 1914),90 ist als Beitrag in Kurt Pinthus erster Anthologie expressionistischer Lyrik Menschheitsdämmerung (1920)91 aufgenommen und erscheint 1941 im Schweizer Exil in einer signifikant veränderten Version, in der u.a. eine Umwertung von „Mostvergorenheit“ (Verfallsprozess) in „Mostgegorenheit“ (Veredelungsprozess) vorgenommen wird.92 Zuletzt verwendet Lasker-Schüler das Gedicht in einem Entwurf zu Das Hebräerland (1937), entscheidet sich jedoch in der publizierten Fassung, zwar poetologisch zentral, aber nur mehr indirekt auf „Mein Volk“ zu verweisen.93 In der Forschung gilt „Mein Volk“ vor allem als das Gedicht, in dem LaskerSchüler ihre „spannungsvolle Verbundenheit mit ihrem Volk“94 oder generell vor allem ihr biographisches und nur teilweise ihr poetisches Verhältnis zum Judentum definiere.95 Tatsächlich wird im Gedicht, wie schon dem Titel zu entnehmen 90 KA 1.1, S. 157. Der Kommentar vermerkt, dass Lasker-Schüler diese Änderung zuerst in ihrem Handexemplar der Hebräischen Balladen von 1920 vorgenommen hat. 91 Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung. Berlin: Ernst Rowohlt 1920. 92 KA 1.1, S. 274. Else Lasker-Schüler: Mein Volk. In: Israelitisches Wochenblatt für die Schweiz, Jg. 41 (17. Oktober 1941), H. 42, S. 11. 93 Vgl. KA 5, S. 17 f. und Entwurf I, S. 167 f. In der Erzählung wird die Position der Erzählerin zum jüdischen Volk und zu den Bewohner/innen Jerusalems strukturell wie in „Mein Volk“ als sich ‚abströmende‘ Position am Rande dargestellt, so KA 5, S. 11. 94 Birgit Lermen: „Mein Volk“. Zu Else Lasker-Schülers spannungsvoller Verbundenheit mit ihrem Volk. In: Gedichte von Else Lasker-Schüler. Hrsg. v. Birgit Lermen u. Magda Motté. Stuttgart 2010, S. 51–63, hier S. 51. 95 Die meisten Interpretationen legen den Hauptfokus auf das biographische Bekenntnis zum Judentum, auch wenn einige durchaus auf die poetologische Ebene und den Bezug auf die jüdische Tradition eingehen. Exemplarisch für diese Richtung seien genannt: Birgit Lermen (2010), Andrea Hennecke-Weischer (2003: „poetisches Bekenntnis zum Judentum“, S. 139) und Jakob Hessing (1985). Von dieser Tendenz einer letztendlich biographisierenden Lesart weichen ausdrücklich Markus Hallensleben (2000), Philipp Theisohn (2006) und Caspar Battegay (2014) ab. Markus Hallensleben liest „Mein Volk“ als Rede der Moses-Figur und als „moderne Allegorie des Gesetzesbruchs“ (228). Lasker-Schüler entwickle das Modell eines avantgardistischen Ichs als jüdisches „‚alter ego‘“(229). Markus Hallensleben: Else Lasker-Schüler. Avantgardismus und Kunstinszenierung. Tübingen, Basel 2000, S. 226–229. Zur Auseinandersetzung mit Philipp Theisohns Interpretation als prototypisches Beispiel für eine zionistische Poetik siehe weiter unten. Philipp Theisohn: Urbarkeit der Zeichen Zionismus und Literatur. Eine andere Poetik der Moderne. Stuttgart, Weimar 2005, S. 31–35. Caspar Battegay: Das Gedächtnis des Bluts, S. 117–134.
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ist, das Verhältnis des lyrischen Ichs zu dessen „Volk“, das durch Motive der jüdischen Tradition (z.B. das Schreien des Volkes gen Ost und zu Gott) als jüdisches Volk zu erkennen ist, verhandelt. Durch die Zeile „[u]nd meine Gotteslieder singe …. (sic)“ ist das Gedicht jedoch als ein poetologisches markiert, so dass als dessen Thema das Verhältnis zwischen jüdischem/r Dichter/in und dem jüdischen Volk sowie Fragen von Traditionsbezug und poetischem ‚Eigenraum‘ untersucht werden. Dabei wird der zentrale Konflikt von Identitätsbildung bzw. Individuation zwischen Ablösung von und Verbundenheit mit dem Ursprung mit der Entwicklung einer Rolle als jüdische/r Dichter/in im Modell jüdischer prophetischer Tradition verbunden. Das Gedicht ist nicht primär eine Auseinandersetzung mit jüdischer Identität oder allgemein eine Positionierung zu einem nationaljüdisch definierten Judentum, sondern in ihm wird die Frage behandelt, wie sich eine nationaljüdische Konzeption (für eine jüdische Autorin) unter den Vorzeichen eines Neuschreibens der Tradition poetologisch fruchtbar machen lässt.96 Durch die Verwendung des Volksbegriffs und der Blutmetaphorik97 lässt sich das Gedicht zeitgenössisch auf eine nationaljüdische, zionistische Position beziehen, die die Zugehörigkeit zum Judentum oder die persönliche jüdische Identität als Volkszugehörigkeit definiert. Um 1905 ist dies für Juden und Jüdinnen in Deutschland nicht selbstverständlich. Die Mehrheit vertritt um 1900 die dem liberalen Judentum und/oder dem Streben nach Assimilation bzw. Akkulturation nahe stehende Position, Judentum allein als Konfession zu definieren und sich in Deutschland dem ‚deutschen Volk‘ zugehörig zu fühlen oder zuzuordnen. Im Gedicht wird eine nationaljüdische Definition von Judentum jedoch durch die Ausrichtung der Lieder des lyrischen Ichs und der Schreie des jüdischen Volkes auf jhwh von einer religiösen Definition jüdischer Identität und jüdischer Dichtung überlagert, so dass ein nicht aufzulösendes Spannungsverhältnis zwischen nationaler bzw. völkischer und religiöser Definition entsteht. Lasker-Schüler entwickelt durch einen konsequenten Bezug auf die Tradition eines heiligen Volkes und der prophetischen Auserwählung einen jüdischen Volksbegriff, der eher der Suche nach einer modernen Definition als Gottesvolk und weniger einem modernen Volks- oder Nationalstaatsbegriff verpflichtet scheint.
96 Hier ähnelt das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit dem von Philipp Theisohn, der jedoch „Mein Volk“ als prototypisches Beispiel einer zionistischen Poetik bzw. Poiesis interpretiert. 97 Vgl. zur „Rede vom Blut“ im jüdischen Diskurs: Caspar Battegay: Das andere Blut. Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben 1830–1930. Köln, Weimar, Wien 2011, und zu „Mein Volk“: Ders.: Das Gedächtnis des Bluts, hier S. 128–131. Battegay weist auf eine Parallele zu Bubers Rede über das Blut hin. Ob es sich bei dem lyrischen Ich um ein „säkulare[s] Bewusstsein“ handelt, ist meiner Meinung nach jedoch nicht eindeutig festlegbar.
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Während die meisten Arbeiten den nationaljüdischen Aspekt des Gedichtes unter einen allgemeinen jüdischen subsumieren, als sei die Definition von Judentum als Volkszugehörigkeit evident,98 hat auf der anderen Seite Philipp Theisohn „Mein Volk“ als Beispiel für eine zionistische Poetik „in nuce“ gedeutet.99 Theisohn verfolgt die Frage, wie „die Literatur zur Nation als ihrem kulturellen Bezugspunkt [gelange]“,100 wobei er zu dem Schluss kommt, „der jüdische Künstler“ müsse „sich selbst für sein Werk […] opfern“, um „das Volk als Entscheidungsträger an jenem Ort einzusetzen, an welchem bisher das Provisorium herrschte, die […] durch das Vorläufige bedrohte Existenz in eine kulturell produktive, sich selbst zeugende Instanz zu verwandeln.“101 Theisohns Analyse ist entgegen zu halten, dass der Bezugspunkt, der im Gedicht für das lyrische Ich, die Literatur und das jüdische Volk genannt wird, jhwh ist. Somit besetzt er/sie die souveräne Position und wird als „kultureller Bezugspunkt“ genannt und nicht die Nation. Ebenso ist das Gedicht in konsequenter Weise mit Bezug auf die jüdische Tradition konstruiert,102 so dass weder das jüdische Ich noch das jüdische Volk noch die entstehende Literatur oder Kultur als selbstzeugend aus dem Nichts gestaltet sind. Die poetische Aufgabe ist entsprechend nicht ein gefordertes Opfer des „zionistischen Künstlers“, sondern die Reflexion der Ambivalenz einer doppelten Auserwählung als jüdische/r und prophetische/r Dichter/in. Falls im Gedicht eine ‚zionistische‘ Poetik entworfen wird, sind deren Parameter offensichtlich anders zu bestimmen als in Philipp Theisohns Modell. Vielmehr geht es um eine Poetologie, die im Kontext der jüdischen Tradition schreibt und die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk relevant findet, und zwar in der Ambivalenz von Gemeinschaft und Individualität,103 von Verbundenheit und Abgrenzung, von Zugehörigkeit zu einer Tradition und deren Aneignung bzw. Neuschreiben. 98 Den Bezug auf den zionistischen und nationaljüdischen Diskurs haben bisher Judy Attholt (1992/1993), Alfred Bodenheimer (2000), Philipp Theisohn (2006), Alfred Bodenheimer u. Andreas B. Kilcher (2012) und Caspar Battegay (2014) gesehen. Die meisten Arbeiten gehen nicht auf diesen Kontext oder weitreichender den Bezug zur „Jüdischen Renaissance“Bewegung ein, vgl. exemplarisch Birgit Lermen (2010). Besonders signifikant ist diese Aussparung bei Christine Radde, die in „Mein Volk“ ein Programm zur Rettung des Volkes vor dem Verfall erkennt, ohne diesen Befund zu kontextualisieren. Christine Radde: Else Lasker-Schülers „Hebräische Balladen“. Trier 1998, S. 120. 99 Philipp Theisohn: Urbarkeit der Zeichen, S. 35. 100 Ebd., S. 32. 101 Ebd., S. 35. Das Modell der kulturellen Selbstzeugung aus dem Nichts entwickelt Philipp Theisohn aus entsprechenden Entwürfen des Idealismus. 102 Philipp Theisohn weist selbst auf den Bezug auf Ezechiel 37 und Exodus 17 hin, ebd., S. 33. 103 Valentina Di Rosa hat auf die Bezüge zu Gustav Landauers Abhandlung „Durch Absonderung zur Gemeinschaft“ hingewiesen. Vgl. Valentina Di Rosa: Diaspora und Identitätssuche, S. 71–73.
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Durch den jüdischen Volksbegriff und das Sprechen in einem prophetischen Modell liegt es nahe, zu untersuchen, wie sich das Gedicht „Mein Volk“ und der darin entwickelte poetologische Entwurf auf den kulturzionistischen Diskurs beziehen. Dies wird in der folgenden Analyse mit dem Fokus auf eine avantgardistische Haltung zwischen Überwindung und Neuschreiben der Tradition verbunden. III.2.1 Die kulturzionistischen Bezüge: Moses als Künstler und der „Wiederhall / in mir“
Bezüge auf den kulturzionistischen Diskurs sind durch die poetologische Ausrichtung des Gedichts und die eindeutige Metaphorik von jüdischem Volk, Blut,104 Gottesliedern, dem Topos der Jerusalemsehnsucht und des Leids in der Galut sowie den Befund einer verfallenden jüdischen Tradition offensichtlich. So lässt sich die im Gedicht formulierte Abgrenzungsbewegung von einer im Verfall befindlichen jüdischen Tradition – das „morsche Felsgebein“, der morsche Felsen von dem das lyrische Ich sich „abgeströmt“ hat – im zeitgenössischen Kontext zum einen als Referenz auf den allgemeinen zionistischen Topos verstehen, nach dem das assimilierte oder akkulturierte Judentum als im Verfall befindliche Tradition verachtet wird. Zum anderen klingen die von Achad Haam und Martin Buber im kulturzionistischen Kontext artikulierten Positionen an, die das rabbinische Judentum ebenfalls als erstarrte, unlebendige, verfallene Tradition definieren, die es zu überwinden und wieder in ein lebendiges Judentum umzuwandeln gilt. Buber verwendet dabei selbst die Metaphorik von „Volksströmen“, die unterirdisch wirken und in günstigeren Zeiten wieder ‚hervorbrechen‘.105 Im Gedicht „Mein Volk“ verweist des Weiteren die Blutmetaphorik auf den nationaljüdischen Diskurs, und die Metapher der „Mostvergorenheit“ des Blutes nimmt den Topos der Assimilationskritik erneut auf. Hier hat sich der Prozess einer Veredelung, die Herstellung von Wein, der eine wichtige Rolle in den jüdischen
104 Zur Verbindung der „Rede vom Blut“ mit Gemeinschaftsvorstellungen im deutsch-jüdischen Schreiben und für die Entwicklung einer modernen jüdischen Identität vgl. Caspar Battegay: Das andere Blut, S. 17: „Das Motiv des Blutes gerät zu einem Leitmotiv in der Konstruktion eines Judentums in der Moderne beziehungsweise einer Auseinandersetzungen mit der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit und politischer, religiöser, kultureller oder nationaler Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben.“ Zu „Mein Volk“ vgl. Caspar Battegay: Das Gedächtnis des Blutes, S. 128–131. 105 Martin Buber: Juedische Renaissance (1901). In: MBW 3, S. 143–147, hier S. 144: „Aber sie [die Geschichte, Anm. B.M.K.] kennt Ströme des Volkslebens, die zu versiegen scheinen, aber unter der Erde weiterfliessen, um nach Jahrtausenden hervorzubrechen“.
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Ritualen spielt, in einen Verfallsprozess verwandelt. Das zu Heiligende ist ungenießbar geworden. Durch die Bezüge auf das „Lied des Mose“ (Dewarim/Deuteronomium 32,1–43) und weitere Textstellen der Tora, in denen Moses mit dem Schlagen von Wasser aus einem Felsen verbunden ist (u.a. Schemot/Exodus 17,5 f.), liegt es darüber hinaus nahe, das lyrische Ich mit Moses zu identifizieren oder zumindest sein Sprechen im intertextuellen Bezug auf Moses zu interpretieren.106 Somit ist das im Gedicht artikulierte Spannungsverhältnis zwischen jüdischem Volk und prophetischem Anführer ein in der Tradition zu verortendes. Die Auseinandersetzung zwischen einer auserwählten Dichter/in-Figur wird konsequent auf die Tradition zurückbezogen, die durchaus thematisiert, dass Moses Probleme mit dem von jhwh durch ihn konstituierten jüdischen Volk und der eigenen Rolle in diesem Prozess, vor allem dem Sprechen zum Volk107 und seiner Auserwählung durch jhwh hat. Die Rezeption von „Mein Volk“ als Rede von Moses bereitet in Der siebente Tag die letzte Zeile des vorhergehenden Gedichts „Mein stilles Lied“ vor: „Und meine Arme, die sich heben wollen, / Sinken . . . . . .“ (KA 1.1, 96), denn sie spielt an auf den Kampf zwischen Josua und Amalek, den ersterer nur gewinnen konnte, wenn Moses, unterstützt von Aharon und Hur, seine Arme erhoben hielt.108 Der Bezug auf Moses als prophetische Dichterfigur in Verbindung zum jüdischen Volk weist auf den kulturzionistischen Diskurs hin, in dem Moses als prototypische Künstlerfigur entworfen wird. Dies zeigt exemplarisch die ästhetisch aufwendige Publikation Moses, die 1905 im Jüdischen Verlag erschien.109 Der Band vereint theoretische und essayistische Arbeiten, u.a. von J. G. Herder („Moses und die Dichtung“) und Achad Haam („Moses, der Prophet“), sowie die Abbildung bildkünstlerischer Arbeiten von Botticelli, Michelangelo, Rembrandt und Dürer sowie Lesser Ury als Künstler aus dem Umkreis der „Jüdischen Renaissance“,
106 Hierauf hat zuerst Markus Hallensleben hingewiesen. Markus Hallensleben: Avantgardismus und Kunstinszenierung, S. 226–229. Für diese Lesart spricht auch, dass Lasker-Schüler im Typoskript von Das Hebräerland mit Buntstift neben das gestrichene Gedicht notiert „Das Lied an Gott“. Vgl. KA 1.2, S. 374. 107 Moses gibt an, dass sein Sprechen behindert sei und bittet darum, dass ein anderer, schließlich sein Bruder Aharon, für ihn zum Volk spricht (Schemot/Exodus 4,10–17). 108 „10. Und Josua tat, wie Mose ihm sagte, daß er wider Amalek stritte. Mose aber und Aaron und Hur gingen auf die Spitze des Hügels. 11. Und wenn Mose seine Hand emporhielt, siegte Israel; wenn er aber seine Hand niederließ, siegte Amalek. 12. Aber die Hände Moses wurden schwer; darum nahmen sie einen Stein und legten ihn unter ihn, daß er sich daraufsetzte. Aaron aber und Hur stützten ihm seine Hände, auf jeglicher Seite einer. Also blieben seine Hände fest, bis die Sonne unterging.“ (Schemot/Exodus 17,10–12) 109 Adolf Gelber (Hg.): Moses. Berlin: Jüdischer Verlag 1905.
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und (re-)konstruiert somit eine Tradition der vielfältigen Auseinandersetzung mit der Moses-Figur. Als Motto ist dem Band ein Zitat von Heinrich Heine vorangestellt, das besagt, „[…] daß Moses […] ein großer Künstler war und den wahren Künstlergeist besaß“, der Israel erschaffen habe: „ein großes, ewiges, heiliges Volk, ein Volk Gottes“.110 Moses gilt den Kulturzionist/innen in Heines Sinn als Vorbild im Spannungsfeld zwischen Kunst schaffen und ein jüdisches Volk erschaffen, genauer: als Vorbild für den Versuch, durch jüdische Kunst und Literatur ein jüdisches Volk zu erschaffen. Entsprechend finden sich im (kultur-)zionistischen Diskurs häufig Selbststilisierungen bzw. entsprechende Rezeptionshaltungen, die z.B. Theodor Herzl oder Achad Haam als moderne Moses-Figuren imaginieren. Die Moses-Figur bildet gewissermaßen den Prototyp, um das prophetische Modell insgesamt (und unter Anschluss an entsprechende poetologische Modelle der europäischen nichtjüdischen Tradition)111 als Dichtungs- und Lebensmodell fruchtbar zu machen. So werden die Protagonisten der „Jüdischen Renaissance“ von Buber als modernde Propheten entworfen: Zahlreicher als in irgend einer anderen Zeit sind in der unseren jene Menschen, die den Sinn für das Kommende besitzen, jene Johannes-Naturen, die an den eigenen Schmerzen die werdende Gestaltung eines neuen Menschheitslebens erkennen. Diesen Hellsichtigen ist es heute vergönnt, die Boten einer neuen Renaissance mit Augen zu schauen. 110 Das Zitat findet sich in „Geständnisse“: „Ich hatte Moses früher nicht sonderlich geliebt, wahrscheinlich weil der hellenische Geist in mir vorwaltend war, und ich dem Gesetzgeber der Juden seinen Haß gegen alle Bildlichkeit, gegen die Plastik, nicht verzeihte. Ich sah nicht, daß Moses, trotz seiner Befeindung der Kunst, dennoch selber ein großer Künstler war und den wahren Künstlergeist besaß. Nur war dieser Künstlergeist bei ihm, wie bei seinen ägyptischen Landsleuten, nur auf das Kolossale und Unverwüstliche gerichtet. Aber nicht wie die Ägypter formierte er seine Kunstwerke aus Backstein und Granit, sondern er baute Menschenpyramiden, er meißelte Menschenobelisken, er nahm einen armen Hirtenstamm und schuf daraus ein Volk, das ebenfalls den Jahrhunderten trotzen sollte, ein großes, ewiges, heiliges Volk, ein Volk Gottes, das allen andern Völkern als Muster, ja der ganzen Menschheit als Prototyp dienen konnte – er schuf Israel! Mit größerm Rechte als der römische Dichter darf jener Künstler, der Sohn Amrams und der Hebamme Jochebet, sich rühmen, ein Monument errichtet zu haben, das alle Bildungen aus Erz überdauern wird!“ (Hervorh. B.M.K.) Heinrich Heine: Geständnisse. In: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. v. Manfred Windfuhr im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf. Bd. 15: Geständnisse/ Memoiren/ kleinere autobiographische Schriften. Bearbeitet v. Gerd Heinemann. Hamburg 1982, S. 9–57. 111 Hier wäre im Einzelnen zu untersuchen, wie jüdische prophetische Modelle in die Konzeption eines prophetischen Dichtungsmodells in der europäischen Literatur eingegangen sind. In diesen Kontext ist Birgit Lermens Beobachtung einzuordnen, dass die beiden Daktylen in „Mein Volk“ (Vers 5 und Vers 6) Hölderlins „Wasser von Klippe / Zu Klippe geworfen“ aus „Hyperions Schicksalslied“ anklingen lassen. Birgit Lermen: „Mein Volk“, S. 53.
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[…] Sie leiden, wie einst die Propheten litten: weil sie wissend und einsam sind. […] Ihrer aus Leiden geborenen Prophetie müssen wir uns anvertrauen.112
Ein poetologisches Angebot des Kulturzionismus ist es also, in einer prophetischen Rolle zu sprechen, deren Modell sich zwischen Auserwählung und Leiden, Verpflichtung gegenüber jhwh und gegenüber dem jüdischen Volk aufspannt, und im Falle eines jüdischen Propheten eine doppelte Auserwählung markiert, einmal als Jude (oder Jüdin) und einmal als Prophet/in. Als poetologisches Gedicht ist „Mein Volk“ des Weiteren als Auseinandersetzung mit dem im Kulturzionismus entwickelten Modell eines „jüdischen Volksgeistes“ als Hauptquelle für ein jüdisches Schreiben deutbar. In seinem Essay „Juedische Renaissance“ (1901) fordert Buber: eine jüdische Kunst und Dichtung, die nicht bloss zufällig von Juden stammt und im besten Falle vielleicht im Vorübergehen ein Blättchen biblischen Stoffes erhascht, sondern eine, in der die Volksseele schluchzt und singt, eine, die in Inhalt und Form die Art und das Schicksal unseres Stammes gestalten will.113
Im Gedicht „Mein Volk“ verwandelt sich das bei Buber genannte neoromantische bzw. kitschige Schluchzen und Singen der Volksseele in ein schauerliches Schreien gen Ost und zu jhwh. Auch nach Achad Haam artikuliert sich der ‚jüdische Volksgeist‘, in dem die „originelle Schöpfungskraft“ (113) seit der Bibel schlummere, im einzelnen Künstler oder Dichter114 als eine Art Echo in dessen Inneren („der Wiederhall / in mir“),115 eigentlich schaffend sei das jüdische Volk in seiner Gesamtheit.116 So wird der „Volksgeist“ zur alleinigen Quelle von jüdischer Literatur, Religion, Sprache und Ethik.117 Das Gedicht „Mein Volk“ ruft eine solche Verbindung mit der Formulierung „Wiederhall / in mir“ auf, die beschreibt, wie die Leiden der Diaspora und die 112 113 114 115
Martin Buber: Juedische Renaissance. In: MBW 3, S. 145. Martin Buber: Juedische Renaissance, Sp. 1 f. In Achad Haams Modell gibt es nur eine männliche Künstler- oder Dichterposition. Achad Haam: Am Scheidewege. Ausgewählte Essays. Autorisierte Übersetzung aus dem Hebräischen v. Prof. Israel Friedlaender. Berlin: Jüdischer Verlag 1904. 116 Achad Haam: Die Renaissance des Geistes [1902]. In: Ders.: Am Scheidewege. Bd. 2, S. 105–155. Achad Haam geht davon aus, dass es ein „Gepräge des jüdischen Geistes [gibt, das] an allen […] Werken sichtbar ist und […] ihrem Schaffen einen eigenen charakteristischen Zug verleiht, der an den Arbeiten ihrer nichtjüdischen Fachgenossen sich nicht findet“ (116). Als Grundlage der Arbeit des Künstlers oder Autors gelten „seine Beziehungen zu seinem Volke (sic) […] das ihm Begabung und Genie verliehen hat“ (118). 117 Vgl. Jacques Kornberg: At the Crossroads, S. XVI.
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Sehnsucht nach Erlösung im lyrischen Ich wie ein Echo zu vernehmen sind. Anders als in Achad Haams säkularer Konzeption ist der gemeinsame Bezugspunkt von lyrischem Ich und jüdischem Volk, neben der genealogischen Verbindung (Volk und Blut), jhwh. Das lyrische Ich setzt sich gleichzeitig gegen eine solche Konzeption zur Wehr, indem durch die auffällige Häufung des Personalpronomens „ich“, der Reflexivpronomen „mich“, „mir“ und der Possessivpronomen „mein“, „meine“, „meines“, „mein“ die ‚Individualität‘, Aktivität und generell die eigenständigen Aneignungsund Abgrenzungsbewegungen des lyrischen Ichs betont werden.118 So wird in der Ambivalenz der prophetischen Rolle – zwischen Vermittlungsposition und Außenseiterdasein – eine Poetologie entworfen, die eine Zugehörigkeit zur jüdischen Tradition als signifikant für den poetologischen Entwurf herausstellt. Gleichzeitig ist nicht eindeutig bestimmbar, ob es sich bei den „Gotteslieder[n]“ des lyrischen Ichs tatsächlich um eine Transformation der unartikulierten Schreie des Volkes zu jhwh handelt, oder ob die individuelle Auserwählung und Beziehung zu jhwh für das dichtende lyrische Ich und seine poetischen ‚Produkte‘ dem Bezug zum Volk vorausgehen. Im Gedicht erarbeitet Lasker-Schüler also gerade den poetischen Freiraum, als jüdische/r Dichter/in mit Bezug auf eine brüchige Tradition individuell zu schaffen, denn nicht nur das jüdische Volk ist auserwählt, auch der/ die prophetische Künstler/in und Dichter/in ist es als Individuum. Schon der Titel benennt mit der Bezeichnung „Mein Volk“ das Spannungsverhältnis und die Ambivalenz von genealogischer Zugehörigkeit und Abgrenzung, Vereinnahmung und Aneignung, Individualität und Kollektivität. Gleichzeitig wird die Auserwählung als prophetische/r Dichter/in als untrennbar von der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk gezeigt. Im Gedicht „Mein Volk“ gestaltet Lasker-Schüler diese paradoxe Verbindung von Ursprung und Ablösung, Zugehörigkeit und Individuation als eine potenziell unendliche Zirkelstruktur, die zu keinem Ende kommt, weder ‚individualpsychologisch‘ noch in der poetischen Arbeit. Notwendig für eine Poetologie im Kontext des Kulturzionismus ist demnach kein Selbstopfer für eine kulturelle Selbstzeugung des Volkes aus dem Nichts, wie Theisohn argumentiert,119 sondern eine Selbstbehauptung im Spannungsfeld von Individuation und Gemeinschaft, artikuliert im konsequenten Bezug auf die brüchige Tradition, die jedoch in diesem Prozess neuzuschreiben, d.h. zu aktualisieren und zu überschreiten ist.120 118 Gelber interpretiert den „Widerhall“ als Referenz auf die Sinnlosigkeit aller Versuche, einer jüdischen Identifikation zu entkommen. Dies sei ein weiteres im Gedicht aufgegriffenes, wichtiges Thema nationaljüdischer Zirkel. Mark H. Gelber: Melancholy Pride, S. 217. 119 Vgl. Philipp Theisohn: Urbarkeit der Zeichen, S. 35. 120 Hier widerspreche ich Caspar Battegays Deutung, der in „Mein Volk“ das „säkulare“ und „partikularisierte Ich der Moderne“ artikuliert sieht. Caspar Battegay: Das Gedächtnis des Blutes, S. 117–134, hier S. 120, 128 u. 130.
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Die jüdische Tradition wird als ein bis zur Erlösung unendlich zu vollziehender Prozess der Auserwählung als Ansprache, des Hörens und des Antwortens entworfen. Poetologisch zentral ist somit der Bezug auf ein in Texten und Sprechweisen tradiertes Erbe zwischen „Gotteslieder[n]“, „Wiederhall“, Schreien „gen Ost“ und die Notwendigkeit, dieses zu aktualisieren. III.2.2 Die Prophetin Mirjam: Avantgarde-Position als Geburtsprozess
Der Avantgardebezug von „Mein Volk“, und dabei auch die Nähe des deutschsprachigen Kulturzionismus zur historischen Avantgarde (vgl. Kapitel II), zeigt sich zunächst darin, dass das Gedicht die Frage nach dem Umgang mit einer morsch werdenden, also als veraltetet rezipierten Tradition aufwirft.121 So findet sich auf der inhaltlichen Ebene die Feststellung eines verfallenden Ursprungs („Der Fels wird morsch, / Dem ich entspringe“), von dem eine Abgrenzungsbewegung beschrieben wird, und die Thematisierung der jüdischen Tradition als einer, die morsch wird bzw. ‚vergärt‘, und der in einer radikalen Abgrenzungsbewegung etwas Eigenes entgegengesetzt wird. Das „[E]ntspringen“, das jähe Stürzen, und auch das Abströmen beschreiben diesen Bruch mit der verfallenden Tradition durch die Wasser- und die Bewegungsmetaphorik als aktiv und vital. Diese Betonung auf der Inhaltsebene wird auf der rhythmischen Ebene durch eine Abweichung vom trochäischen Vers mit Auftakt unterstützt und betont den Eindruck einer Zäsur.122 Die sich aktiv abströmende und damit von der verfallenden Tradition abgrenzende Dichter/in-Figur nimmt hier nicht nur eine auf der prophetischen Rolle basierende Außenseiterposition ein, sondern ebenso eine selbstbewusste Vorreiterposition im Sinne eines avantgardistischen Selbstverständnisses, die sich aktiv von den verfallenden und vergorenen Anteilen „abgeströmt“ hat. Die Ambivalenz des Gedichts zwischen Abströmen und „Wiederhall“/„Widerhall“ ist das oft verdeckte oder geleugnete Dilemma aller Avantgardebewegungen, vollkommen neu sein zu wollen und diesen Anspruch z.T. radikal zu behaupten, und gleichzeitig durchaus auf einer Tradition oder zumindest Traditionselementen aufzubauen bzw. selbst wieder Tradition zu bilden. Für eine jüdische Literatur stellt sich diese Frage in einer besonderen Schärfe, da sie eng mit Fragen des kulturellen Gedächtnisses und der Notwendigkeit des Erhalts der Tradition
121 Auch Caspar Battegay nennt den Bezug des Gedichts zur Avantgarde. Ebd., S. 130 f. 122 Vgl. Andrea Hennecke-Weischer: Poetisches Judentum. Die Bibel im Werk Else Lasker-Schülers. Mainz 2003, S. 136.
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verbunden ist, so dass eine jüdische Literatur ohne jüdischen Traditionsbezug paradox bzw. undenkbar ist.123 Lasker-Schüler macht diese besondere poetologische Voraussetzung für eine avantgardistische jüdische Literatur deutlich, indem sie, trotz des heftigen Entspringens, Stürzens und Abströmens, statt einer rigorosen Abtrennung oder Zerstörung der Tradition deren schmerzlichen „Wiederhall“ im lyrischen Ich beschreibt. In der Erstfassung publiziert Lasker-Schüler orthographisch falsch die Schreibweise „Wiederhall“ und verändert dies erst in späteren Fassungen in „Widerhall“.124 Da sie jedoch im Manuskript des Hebräerlandes (1937) erneut beide Varianten erwägt,125 kann durchaus davon ausgegangen werden, dass es sich nicht um einen bloßen Schreibfehler handelt, sondern dass nicht der Aspekt der Opposition oder des Echos („Widerhall“), sondern der Aspekt der Wiederholung („Wiederhall“) betont werden sollte. Die beiden Schreibweisen spiegeln dabei das ambivalente Verhältnis zwischen jüdischem Volk und jüdischer/m Dichter/ in. Darüber hinaus wird im Gedicht deutlich markiert, dass eine Verbindung mit der Tradition trotz allem bestehen bleibt. Die Traditionsanbindung wird über die Motive des schreienden Gebets des Volkes zu jhwh, dessen Leiden, Auserwählung und die Ausrichtung nach Osten, in der der Topos der Jerusalemsehnsucht anklingt, gestaltet. Damit wird indirekt auf den zentralen ‚Gründungsmythos“ jüdischer Literatur verwiesen, den Psalm 137, der eine ambivalente Poetologie jüdischer Dichtung im Exil entwirft:126 „Wenn ich dein vergesse Jerusalem“, und u.a. in Heinrich Heines Hebräischen Melodien in Referenz auf die Zionsgedichte von Jehuda Halevi127 eine zentrale Rolle spielt.128 123 Vgl. hierzu Alfred Bodenheimer: Ungebrochen gebrochen. Über jüdische Narrative und Traditionsbildung. Göttingen 2012 und Almuth Hammer: Erwählung erinnern. 124 Vgl. KA 1.1, S. 97 und 157. 125 Vgl. Entwurf I, KA 5, 167. Statt „Mein Volk“ findet sich in der publizierten Fassung das Gedicht „An Gott“ (KA 5, 18). 126 Vgl. zu diesem Komplex Alfred Bodenheimer: Zwischen Sehnsucht und Rückkehr. Exil und Eretz Israel – eine Geschichte in Texten. In: Jüdischer Almanach 5758 (1998). Hrsg. v. Jakob Hessing u. Alfred Bodenheimer. Frankfurt/Main 1997, S. 126–136. 127 Die erste deutsche Ausgabe von Halevis Gedichten erscheint erst in den 1920er Jahren, übersetzt von Franz Rosenzweig, und erneut 1933 in deutscher und hebräischer Fassung in der Schocken-Bibliothek. Auf die zionistisch konnotierte Einband- und Titelgestaltung der ersten Publikation wurde schon in Kapitel III.1 hingewiesen. Franz Rosenzweig: Sechzig Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi. Deutsch. Mit einem Nachwort und mit Anmerkungen. Konstanz: Oskar Wöhrle Verlag 1924. Jehuda Halevi: Zionslieder. Mit der Verdeutschung von Franz Rosenzweig und seinen Anmerkungen. Berlin: Schocken Verlag 1933 (Bücherei des Schocken Verlags; 2). 128 Darin ließe sich als zeitgenössische Positionierung 1905 eine Kritik am Assimilationsdiskurs erkennen, dem ein partielles „Vergessen Jerusalems“ unterstellt werden kann, wenn z.B. im
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Der in „Mein Volk“ formulierte Umgang mit der Tradition ist, anders als der um 1909 von den einsetzenden historischen Avantgarden postulierte, weder ein Zerschlagen oder eine völlige Zerstörung der Tradition noch die Forderung nach einem absoluten Neuanfang. Der/die jüdische Dichter/in muss sich mit einer morschen, bröckelnden Tradition in der Ambivalenz einer Abgrenzungsbewegung und einer inneren Verbundenheit auseinandersetzen, vergorene Anteile überwinden und dennoch „Gotteslieder“ singen. „Mein Volk“ zeigt dabei auf der Ebene des Schreibverfahrens, wie der avantgardistische Umgang mit der verfallenden jüdischen Tradition aussehen könnte. Es findet eine Auseinandersetzung mit mehreren Texten der jüdischen Tradition statt, die durch das Zitat erinnert und gleichzeitig durch den neuen Bedeutungszusammenhang aktualisiert werden.129 Aus einer morsch werdenden Tradition werden die zeitgenössisch wertvoll scheinenden Bruchstücke herausgelöst und in einem neuen Zusammenhang fruchtbar gemacht.130 Damit setzt das Gedicht den formulierten poetologischen Anspruch selbst um, und es kann dem antizipatorischen Charakter des avantgardistischen Projekts zugeordnet werden, da schon in der Gegenwart der auf die Zukunft ausgerichtete Erneuerungsanspruch realisiert wird.131 Die Zirkelstruktur132 zwischen Titel und Gedichttext, Anruf und Antwort, jüdischem Volk und jüdischer/m Dichter/in bestimmt den poetologischen Prozess als tendenziell unendlichen. Damit kommt Lasker-Schüler Verfahren der rabbinischen Schrifttradition nahe, aktualisiert diese und überschreitet sie schon dadurch, dass hier eine Autorin schreibt (vgl. Kapitel IV). Doch nicht nur der Umgang mit der Tradition weicht von dem später von avantgardistischer Seite postulierten radikalen Bruch mit der Tradition ab, auch die avantgardistische Vorreiterposition an sich wird in „Mein Volk“ mit ‚untypischen‘ Motiven formuliert. Lasker-Schüler arbeitet in „Mein Volk“ zur Formulierung der Abgrenzung und Vorreiterposition mit dem Motiv des Wassers, das
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Liberalen Judentum die Synagogen Tempel genannt werden, weil der Tempel eben nicht mehr in Jerusalem, sondern in z.B. Berlin stehen können soll. Zur These, die moderne deutsch-jüdische Literatur als Literatur des Kommentars und als Säkularisierung der rabbinischen Tradition zu beschreiben, vgl. Bernd Witte: Jüdische Tradition und literarische Moderne. Heine, Buber, Kafka, Benjamin. München 2007. Witte wählt nur kanonisierte männliche Autoren als Beispiele, Lasker-Schüler findet keine Erwähnung. Zu den problematischen Implikationen seines Konzeptes und zu Argumenten gegen eine einseitige Säkularisierungsthese vgl. in dieser Arbeit die Einleitung zu Kapitel IV. Lasker-Schüler hat dieses Modell in Das Hebräerland (1937), in dem sie sich mit der Nähe von Kulturzionismus und Avantgarde auseinandersetzt, in Bezug auf Bubers Konzept der „bauenden Begier“ (Der heilige Weg, 1919) poetologisch weiterentwickelt. Vgl. Kapitel IV.3. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel II.3. Die Zirkelstruktur analysiert auch Philipp Theisohn: Urbarkeit der Zeichen, S. 31–35.
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traditionell bzw. kulturgeschichtlich einen ‚weiblich‘ konnotierten Bezugsrahmen eröffnet, so dass das Abströmen vom Felsen als Ablösung von einem Ursprung im Sinne eines Geburtsprozesses deutbar ist, wobei die schmerzhaften Aspekte dieses Ablösungsprozesses und der Individuation („ganz in mir“) nicht verleugnet werden. Hierbei handelt es sich ausdrücklich nicht um die von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders in ihrem Sammelband Der Blick vom Wolkenkratzer (2000) festgestellte, typische „Bilder- und Metaphernwahl“ avantgardistischer Manifeste von Marinetti bis zur russischen Avantgarde. Die untersuchten männlichen Avantgardekünstler wählen meist eine vertikale (bzw. phallische) und explizit kriegerische im Sinne einer militärischen Vorhut konnotierte Metaphorik sowie die Beschreibung von Positionen, die einen absoluten Überblick und eine unangreifbare Souveränität der Sprecherposition formulieren.133 Die so verkündete avantgardistische Positionierung erfüllt somit die Kriterien einer traditionell konnotierten Männlichkeit. So heißt es in Marinettis erstem futuristischen Manifest vom 20. Februar 1909: „Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte!“ und „Aufrecht auf dem Gipfel der Welt, schleudern wir noch einmal unsere Herausforderung den Sternen zu!“134 In einem frühen Schlüsseltext der russischen Avantgarde, an dem u.a. Wladimir Majakovskij beteiligt war, heißt es: „Aus der Höhe von Wolkenkratzern blicken wir herab auf ihre Nichtigkeit!“135 In diesem Kontext kann für Lasker-Schüler durchaus von dem Entwurf einer ‚weiblich‘ konnotierten avantgardistischen Position und Schreibstrategie gesprochen werden, die durch die Einbindung eines weiteren Intertextes der jüdischen Tradition, der mit einer Prophetin verbunden ist, noch verstärkt wird. Im Kontext der jüdischen Tradition sind sowohl das Motiv des Wassers als Leben spendende Quelle als auch das des Meeres mit Mirjam, Moses älterer Schwester, verbunden, von der der Midrasch sagt, dass sie die Israeliten in der Wüste mit Wasser versorgt hat. Mirjams Bedeutung wird besonders anschaulich,
133 Vgl. Wolfgang Asholt und Walter Fähnders: Einleitung. In: Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantegardekritik – Avantegardeforschung. Hrsg. v. dens. Amsterdam, Atlanta 2000 (Avant Garde. Critical Studies; 14), S. 9. Asholt und Fähnders schreiben durch die Titelwahl das in den Manifesten konstruierte Narrativ der explizit ‚männlichen‘ Avantgarde fort. Der Band enthält jedoch drei Aufsätze zu den Geschlechterverhältnissen in der Avantgarde. Birgit Wagner nimmt gerade das Forschungsdefizit ‚Avantgarde und Gender‘ zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen: Birgit Wagner: Subjektpositionen im avantgardistischen Diskurs. In: Der Blick vom Wolkenkratzer, S. 163–182. 134 Filippo Tommaso Marinetti: Futuristisches Manifest [1909]. In: Manifeste und Proklamatio nen der europäischen Avantgarde (1909–1938). Hrsg. v. Wolfgang Asholt u. Walter Fähnders. Stuttgart u.a. 1995, S. 3–7. 135 Ebd., S. 28.
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„Jüdische Renaissance“
wenn direkt nach ihrem Tod gesagt wird, dass es kein Wasser mehr für die Israeliten gab: 1. Und die Kinder Jisrael, die ganze Gemeinde kamen nach der Wüste Zin im ersten Monat und das Volk blieb zu Kadesch, und Mirjam starb dort, und wurde dort begraben. 2. Und es war kein Wasser da für die Gemeinde und sie rotteten sich zusammen wider Moscheh und Aharon. (Bemidbar/Numeri 20,1–2)
Mirjam wird in der Tora als Prophetin bezeichnet (Schemot/Exodus 15,20), wobei im Talmud ihre Eigenständigkeit gegenüber dem Propheten Moses betont wird.136 Als Prophetin ist Mirjam für die Konzeption von „Mein Volk“ relevant, da ihr Wirken eng mit einem „Gotteslied[…]“ in der Tora verbunden ist, dem „Lied am Schilfmeer“ nach der Rettung der Israeliten durch jhwh vor der ägyptischen Armee am roten Meer: 20. Da nahm Mirjam, die Prophetin, die Schwester Aharons, die Pauke in ihre Hand, und alle Weiber zogen aus, ihr nach mit Pauken und in Reigen. 21. Und Mirjam stimmte ihnen an: Singet dem Ewigen: denn mit Hoheit hat er sich erhoben, Roß und Reiter hat er geschleudert ins Meer. (Schemot/Exodus 15,20–21; Hervorh. B.M.K.)
Das Lied, das Moses und die Israeliten zuvor anstimmen und das zusammen mit Mirjams Lied das „Lied am Schilfmeer“ bildet, enthält folgende Zeilen, in denen die Verbindung des jüdischen Volkes mit jhwh über den „Berg des Heiligtums“ aufgegriffen wird, die für die Felsmetaphorik in „Mein Volk“ eine Rolle spielt: Bis du sie [dein Volk, Anm. B.M.K.] gebracht und eingepflanzt auf den Berg seines Eigentums, die Stätte, die zu deinem Sitze du gemacht, Ewiger, das Heiligtum, Herr, das deine Hände errichtet. (15,17)
Das jüdische Volk wird mit dem Berg des Heiligtums als Ort jhwhs im „Lied am Schilfmeer“ eng verbunden („gebracht und eingepflanzt“). Das Einpflanzen weist jedoch auf organische Prozesse voraus, die eine Zerstörung (ein Morsch werden) des Bergs möglich erscheinen lassen, so dass die Verbindung von morschem Felsen (Z. 1) und dem „morsche[n] Felsgebein, / Mein Volk“ im Gedicht, hier eine Parallele hat. Auch auf die Wassermetaphorik findet sich ein Bezug: So korrespondiert die erste Strophe des Gedichts strukturell mit folgendem Vers über jhwhs Verände136 Dort wird betont, dass Mirjam in dem entsprechenden Toravers als Aharons und nicht Moses Schwester bezeichnet wird und dies bedeute, dass sie schon vor dessen Geburt prophetische Fähigkeiten gehabt habe (Talmud, Megilla 14a und Sota 12b).
„Mein Volk“
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rung des zu durchquerenden Meeres. Hier wird in gleicher Abfolge von etwas Erhöhtem (Fels – „türmten“), etwas Fließendem und dem Zielpunkt des Meeres gesprochen, allerdings als eher statischer Effekt: „Und durch den Hauch deiner Nase türmten sich Gewässer, stand wie ein Damm Fließendes, gerannen die Fluten im Herzen des Meeres.“ (Schemot/Exodus 15,8) Im Gedicht „Mein Volk“ wird also sowohl eine Auseinandersetzung mit dem „Moses-Lied“ als auch mit dem „Lied am Schilfmeer“ vollzogen, das traditionell mit Moses und Mirjam verbunden ist. Somit ist dem Entwurf einer prophetischen Dichter/in-Figur in „Mein Volk“ durch den Begriff „Gotteslieder“ und die Wassermetaphorik im Kontext der jüdischen Tradition eine Ebene kulturell definierter Weiblichkeit eingeschrieben. Das lyrische Ich ist als prophetische Figur angelegt, die geschlechtlich ambigue Elemente aufweist, wie es für Lasker-Schülers Figuren und Sprechinstanzen auch nachfolgend häufig der Fall ist, so besonders prominent für ihre Ich-Figuration Prinz Abigail Jussuf von Theben.137 Lasker-Schüler erweitert das Repertoire sowohl von Entwürfen einer avantgardistischen Vorreiterstellung als auch von kulturzionistischen Entwürfen einer prophetischen Poetik und positioniert sich in besonderer Weise gegenüber dem avantgardistischen und dem kulturzionistischen Diskurs. Zum einen nimmt sie topologische Motive und sogar das Motiv des prophetischen jüdischen Dichters, der in seinem Inneren eine Art jüdisches Echo des „Volksgeistes“ hört, auf, macht sie aber, entgegen Achad Haams säkularem Modell, gerade im religiösen Bezug für den poetologischen Entwurf fruchtbar. Zum anderen formuliert sie eine Abgrenzungsbewegung vom Volk, die kulturzionistische und avantgardistische Aspekte verbindet, deren konventionelle Formulierung jedoch durch einen ‚weiblichen‘ bzw. tendenziell androgynen (Moses, Mirjam und über die „Gotteslieder“ auch König David) Entwurf überschreitet. So gestaltet Lasker-Schüler eine vielschichtigere Verbindung zur jüdischen Tradition als den von den Avantgarden postulierten Abbruch der Tradition oder deren Vernichtung. Vielmehr reflektiert sie gerade aus jüdischer Perspektive die Unmöglichkeit, ohne Bezug auf die Tradition zu schreiben. Das hier schon anklingende Verfahren, die jüdische Tradition auf ihre poetologisch deutbaren weiblichen Modelle zu befragen, führt Lasker-Schüler im Gedicht „‚Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt‘“ weiter und reflektiert ihr Vorgehen im Gedicht selbst. Hier wird die Frage nach der Entwicklung einer schöpferischen, jüdischen poetischen ‚Identität‘ konsequent mit einer weiblichen Perspektive auf die jüdische Tradition verbunden, um das Modell einer orientalisierten Poetologie und Dichterin-Rolle zu entwerfen. 137 Weitere Beispiele sind die androgynen Namen Tino und Amram.
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„Jüdische Renaissance“
III.3 „‚Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt‘“ (1905) – Entwicklung einer weiblichen und orientalischen poetischen ‚Identität‘ „Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt“138 Als ich also diese Worte an mich las, Erinnerte ich mich Tausend Jahre meiner. Eisige Zeiten verschollen – Leben vom Leben, Wo liegt mein Leben – Und träumt nach meinem Leben. Ich lag allen Tälern im Schoß, Umklammerte Berge, Aber nie meine Seele wärmte mich. Mein Herz ist die tote Mutter, Und meine Augen sind traurige Kinder, Die über die Lande gehen. „Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt“ …. Ja, diese Worte an mich sind heiße Tropfen, Sind mein stilles Aufsterben. „Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt“ …. In den Nächten sitzen sieben weinende Stimmen Auf der Stufe des dunklen Tors Und harren. Auf den Hecken sitzen sie Um meine Träume Und tönen. Und mein braunes Auge blüht Halberschlossen vor meinem Fenster Und zirpt. – „Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt“ …. 138 KA 1.1, S. 85 f.
„Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt“
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Schon der Titel des bisher in der Forschung nicht behandelten Gedichts „‚Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt‘“, den Lasker-Schüler explizit als Zitat markiert,139 weist das Gedicht als ein poetologisches aus.140 Gleich in der ersten Zeile wird das Titelzitat als an das lyrische Ich adressierte Aussage definiert und als Erinnerungsanlass, der das Schreiben des Gedichts auszulösen scheint, ausgewiesen: „Als ich also diese Worte an mich las“.141 Wie weiter unten genauer gezeigt wird, wird gerade die Erinnerung an die Verbindung zur jüdischen Tradition und die eigene jüdische Identität ausgelöst. Entsprechend wird das Gedicht hier als eine vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Titelzitat interpretiert, die prominent auf kulturzionistische Topoi Bezug nimmt und in der Auseinandersetzung mit dem kulturzionistischen Diskurs Möglichkeiten einer jüdischen Dichtung durch eine Autorin entwirft. Lasker-Schüler reflektiert in dem Gedicht „‚Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt‘“ die Thematik der Dichterin-Werdung im Kontext des Auserwählungstopos, der traditionell zwischen den Polen Leiden und Erhebung angesiedelt ist und in der kulturzionistischen Lyrik eine zentrale Rolle spielt. Das im Titelzitat formulierte Szenario einer Taube, die in ihrem eigenen Blut schwimmt, verweist in der jüdischen Tradition auf die Opfervorschriften zur Zeit der Wüstenwanderung im Stiftszelt und später im Tempel in Jerusalem, in denen u.a. die rituelle Verwendung des Blutes der Taube eine Rolle spielt.142 Die Ambivalenz dieses Opfers, das die Tötung des Opfertiers und dessen gleichzeitige Heiligung und Überführung in einen höheren, jhwh näheren Zustand beinhaltet, rekurriert dabei auf die Frage der Auserwählung im Judentum. Hinzu kommt die weitere Bedeutung der Taube als Symbol der Errettung, die nach der Sintflut Noah und 139 Es ist möglich, dass sich Lasker-Schüler hier auf das Porträt bezieht, in dem ihr Mentor Peter Hille sie als die Prophetin Deborah und „schwarzen Schwan Israels“ bezeichnet hat. Peter Hille: Else Lasker-Schüler. In: Kampf. Zeitschrift für – gesunden Menschenverstand. Neue Folge (26. März 1904), H. 8, S. 238 f. In ihrem Prosaband Das Peter Hille-Buch legt LaskerSchüler der an Hille angelehnten Figur Petrus folgendes verändertes Zitat über die an sie selbst angelehnte Figur Tino in den Mund: „‚Meine wilde, schwarze Taube, die ich mit mir nahm‘, sagte Petrus und lächelte.“ (KA 3.1, 42) 140 Dass das Gedicht „‚Täubchen …‘“ für Lasker-Schüler von großer Bedeutung war, zeigt auch, dass sie dessen Titel noch einmal in ihrem Exildrama IchundIch (1941) zitiert. Kurz bevor die Dichterin stirbt, sagt „[d]ie körperlose Stimme König Davids: Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt – …“ (KA 2, 233). 141 Dies wird erneut in der fünften Strophe betont: „Ja, diese Worte an mich“. 142 Der Artikel zum Symbol Taube von Adam Lengiewicz führt die Bedeutung in der jüdischen Tradition nur unzureichend an. Die von ihm erwähnte Verbindung zu Muttergöttinnen, als Symbol der Liebe, Erotik sowie der „erot. Unschuld“ junger Mädchen und die Bezeichnung der Liebenden im Hohelied als Tauben spielen auch im vorliegenden Gedicht eine Rolle, wie weiter unten ausgeführt wird. Vgl. Adam Lengiewicz: Taube. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. v. Günter Butzer u. Joachim Jacob. Stuttgart, Weimar 2012, S. 440–441.
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den anderen Überlebenden das zu erreichende Land und die Versöhnung mit jhwh anzeigt. Die Ambivalenz der Auserwählungsthematik wird im Gedicht auf drei Bedeutungsebenen reflektiert, die alle in einer kulturell weiblichen Perspektive dargestellt werden: auf einer genealogisch jüdischen, auf einer liebend-erotischen und auf einer poetologischen. Alle drei Bedeutungsebenen von Auserwählung werden für den Entwurf einer orientalisierten Poetologie einer jüdischen Dichterin auf der Basis des Hoheliedes zusammengeführt. Lasker-Schüler verbindet dabei konsequent Aspekte von weiblicher Identitätsbildung mit dem Entwurf einer Poetologie im Rahmen der jüdischen Tradition. Dieser Entwurf korrespondiert poetologisch und ‚entwicklungspsychologisch‘ mit dem Modell einer „Jüdischen Renaissance“, ist jedoch progressiver und vielschichtiger angelegt, als z.B. Gedichte mit ähnlicher Thematik von Martin Buber und Berthold Feiwel. III.3.1 Reflexion jüdischer Identität im Kontext der „Jüdischen Renaissance“: Galut-Erfahrung als Mutterverlust
Das Lesen des Titelzitats löst im lyrischen Ich die Erinnerung an die eigene jüdische Identität aus, die als Diasporaexistenz gestaltet ist und mit den Worten verschlüsselt wird: „Erinnerte ich mich / Tausend Jahre meiner“. Der Verweis auf eine tausendjährige diasporische Vergangenheit, mit der sich das lyrische Ich identifiziert, findet sich häufig in kulturzionistischer Lyrik,143 wobei die Zahl Tausend als Symbol für ein Zeitalter im Sinne der Eschatologie des prophetischen Judentums steht144 bzw. in der kabbalistischen Verwendung eine Epoche bezeichnet. Weitere Motive der jüdischen Tradition bestätigen, dass es sich tatsächlich um die Erinnerung an eine jüdische Identität und Vergangenheit handelt. Am deutlichsten evoziert wird die jüdische ‚Identität‘ des lyrischen Ichs durch die Bezeichnung „mein braunes Auge“ in der letzten Strophe, die auf die weibliche Protagonistin des Hoheliedes zurückgeht. Ein weiterer Verweis ist das Motiv der Augen, die als „traurige Kinder, / Die über die Lande gehen“ bezeichnet werden. Es erinnert an das Ahasvermotiv, das Motiv des Wandernden Juden, das sehr häufig in kulturzionistischer Lyrik145 und generell deutsch-jüdischer Literatur146 bearbeitet wird. 143 Vgl. u.a. Karl Wolfskehl: Das Zeichen. In: Junge Harfen, S. 8 und Berthold Feiwel: Die Ersten. Ebd., S. 9. 144 Vgl. Till R. Kuhnle: Tausend. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 441–442. 145 Vgl. u.a. Mathias Acher: Ahasver-Gedichte. In: Junge Harfen, S. 34–37 und Ben Israel: Der Ewige Jude. In: Ost und West 1 (1901), H. 1, Sp. 3 f. sowie die Abbildung einer Skulptur mit selbigem Titel von Alfred Nossig, ebd. Sp. 5 f. 146 Vgl. u.a. Stefan Heym: Ahasver. München 1981. Lasker-Schüler nimmt das Motiv in Der siebente Tag im Gedicht „Mein Wanderlied“ auf, welches mit dem schönen Wortspiel „Tor-
„Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt“
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Neben diesen eingewobenen Elementen der jüdischen Tradition ist der Verweis auf zwei zentrale Topoi des kulturzionistischen Diskurses von besonderer Bedeutung. Die erinnerte tausendjährige Geschichte wird zu Beginn der zweiten Strophe mit der als Galutmetapher lesbaren Formulierung als „[e]isige Zeiten verschollen“ bezeichnet, die auf eine Existenz in einer kalten, unwirtlichen, lebensbedrohlichen Umgebung verweist. Deutlich wird eine Bodenlosigkeit, verstehbar im Sinne von fehlendem ‚Heimatboden‘ oder fehlender geographischer Verortung, markiert, denn es ist von Zeiten die Rede, nicht von einem Ort. Diese ‚Bodenlosigkeit‘ ist in der jüdischen Tradition mit dem Exil des jüdischen Volkes aus dem von jhwh versprochenen Land verbunden. Das Adjektiv „verschollen“ suggeriert zusammen mit dem Adjektiv „[e]isig[ ]“ die Vorstellung von Eisschollen, die ohne feste Bodenhaftung auf dem Meer umhertreiben. Es verweist außerdem auf die zweite Bedeutung von Scholle als Erdscholle.147 Zusammen mit dem Präfix „ver-“ wird der Verlust einer solchen als Bezeichnung für Grundbesitz angedeutet. Das Adjektiv „verschollen“ hat dabei neben der Verwendung im Sinne von „fortleben und aufenthaltsort unbekannt“148 eine poetologische Bedeutung. Es ist zunächst das Partizip Perfekt zum Verb verschallen, bezeichnet also etwas, das aufgehört hat zu schallen.149 So wird im Gedicht die Galut als tonloser, unschöpferischer, unpoetischer Zustand beschrieben.150 Dem Adjektiv „[e]isig[ ]“ ist außerdem die durch die Verben „blüht“ und „zirpt“ als warm und sommerlich markierte Atmosphäre in den letzten beiden Strophen gegenübergestellt. Somit wird neben dem Topos der leidvollen Galut existenz der Topos des Gegensatzes zwischen Abend- und Morgenland, kaltem Norden und warmem Süden/Osten, als Element des kulturzionistischen Diskurses zitiert.151 Das Blühen und Zirpen des lyrischen Ichs erinnert an die von Buber in seinem Essay „Juedische Renaissance“ entfaltete Vision derselben als eine Art
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abwärts“ auf das Substantiv Tora anspielt und darüber hinaus kabbalistische Bezüge aufgreift (KA 1.1, 100). DWB. Bd. 15, Sp. 1453: Scholle: „klumpen v. erde oder eis“. DWB. Bd. 25, Sp. 1138 f. Ebd., Sp. 1138 und Sp. 1055 f. Das Adjektiv „verschollen“ korrespondiert hier mit dem Adjektiv „stumm[…]“ in der fünften Strophe und steht im Gegensatz zu den Verben „tönen“ und „zirp[en]“ im zweiten Teil des Gedichts. Vgl. zur Motivik kulturzionistischer Lyrik Mark H. Gelber: Melancholy Pride. In Der siebente Tag wird die Gegenüberstellung von Morgen- und Abendland als südliche, warme, orientalisierte und kühle, nördliche Gegend besonders explizit in „Unser stolzes Lied“ bearbeitet. Orientalisierende Elemente finden sich z.B. in: „Unser Stolzes Lied“ (87) oder „Mein stilles Lied“ (94 ff.); das Blutmotiv in: „Mein Liebeslied“ (99), „Wir Drei“ (99), „Mein Volk“ (96 f.), „Mein Sterbelied“ (97 f.) „Meiner Schwester Kind“ (85) und das Motiv der Mutter in „Mein stilles Lied“ und „Unser stolzes Lied“. Vgl. zur Blutmetaphorik in Lasker-Schülers früher Lyrik auch Caspar Battegay: Das Gedächtnis des Blutes.
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„Jüdische Renaissance“
jüdischer ‚Volksfrühling‘, in dem die „Samenkörner des Volkstums, die sich Jahrtausende lang in dumpfen Königsgräbern ihre Keimkraft bewahren“, aufgehen, wenn die Juden das „innere Ghetto“ gegen eine neue Naturverbundenheit eintauschen werden.152 Abweichend ist die Thematik des Gedichtes aber kein „Völkerfrühling“, sondern ein ganz individuelles ‚Aufblühen‘. Trotzdem lassen sich Parallelen von Lasker-Schülers Gestaltung der letzten Strophen und der häufig verwendeten Frühlingssymbolik kulturzionistischer Lyrik ziehen.153 Im sich in der fünften Strophe anschließenden Opferritual wird der Leidens aspekt der jüdischen und persönlichen Geschichte überwunden und stattdessen ein sinnliches, blühendes, zirpendes, also dichtendes lyrisches Ich in einem orientalischen Ambiente gestaltet. Dies ist kulturzionistisch als Überwindung des Leidenszustandes der Diaspora lesbar und suggeriert konkret das „Heilige Land“. Im poetologischen Kontext des Gedichts geht es jedoch vor allem um die Entwicklung einer schöpferischen, orientalisierten jüdischen Identität, wie sie im kulturzionistischen Diskurs schon um 1900 virulent ist, theoretisch allerdings weitreichender erst ab 1910 entfaltet wird.154 In dem sich entfaltenden Netz aus Bezügen auf die jüdische Tradition und den kulturzionistischen Diskurs wird das Titelzitat „‚Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt‘“ selbst als eine Aussage über das sich als jüdisch identifizierende lyrische Ich lesbar. Die doppelte Bestimmung des Blutes als „seinem“ und „eigenen“ macht eine ‚rassische‘ oder nationaljüdische Lesart möglich, da das Blut schon durch das Possessivpronomen „seinem“ ausreichend als das Blut des Täubchens bezeichnet wäre. Diese Lesart unterstützt, dass das Adjektiv „eigenen“ das ansonsten regelmäßige, trochäische Metrum des Titelzitats unterbricht und somit die semantische Doppelung hervorhebt. Das Adjektiv „eigenen“ verstärkt dabei die Zuordnung und verweist auf eine noch tiefere Verbindung zwischen dem Blut und dem Täubchen. Das Adjektiv ‚eigen‘ hat dabei eine doppelte Bedeutung im Sinne von Ursprünglichkeit und Besonderheit. So führt das Grimm’sche 152 Martin Buber: Juedische Renaissance. MBW 3, S. 143–147, hier S. 144. 153 Vgl. u.a. in Junge Harfen (1903): Anton Lindner: „Frühling“ (6); Efraim Frisch: „Und doch!“ (64); Martin Friedländer: „Neuer Frühling“ (65); Morris Rosenfeld: „Der Juedische Mai“ (68–72). 154 Buber spricht 1902 in seinem Artikel „Ein geistiges Zentrum“ von einer ererbten und mit dem Klima und Boden Palästinas verbundenen „orientalischen Eigenschaft“ von Juden und Jüdinnen (MBW 3, 159 f.). Die berühmte Formulierung, das „Judentum [war] der Apostel des Orients vor der Menschheit“ (MBW 3, 237) findet sich erst in der zweiten „Rede zum Judentum“ von 1910. Explizit entfaltet Buber das Konzept in der vierten Rede: „Der Geist des Orients und das Judentum“ (1916). Auch Hans Kohns Beitrag erscheint erst 1913: Hans Kohn: „Der Geist des Orients“. In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Hrsg. v. Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag. Leipzig 1913, S. 9–18, ebenso Jakob Wassermann: Der Jude als Orientale. Ebd., S. 5–8. Der Artikel von Davis Trietsch: Der Juedische Orient. In: Juedischer Almanach 5663, S. 253–258, behandelt kaum kulturelle oder poetische Aspekte.
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Wörterbuch für ‚eigen‘ – neben der die Possessiva verstärkenden Funktion155 – ebenfalls auf, dass: „eigen zugleich das innere, geheime, der natur und sinnesart eines jeden angemessene, […], aus ihr entspringende aus[drückt] […]“. Die doppelte Bedeutung von ‚eigen‘ besteht darin, dass „jedes wort […] einen eignen, natürlichen sinn [hat], der sowol sein eigentlicher ursprünglicher, als sein eigenthümlicher, besonderer ist (sic)“.156 In Verbindung mit der Blutmetaphorik des Gedichttitels lassen sich beide Aspekte als Elemente des ‚rassischen‘ Diskurses einer jüdischen Identität oder Zugehörigkeit zum Judentum interpretieren. Die Zugehörigkeit zum Judentum erscheint einerseits als ‚ursprünglich‘ und ist andererseits als ‚besonders‘ im Sinne von auserwählt definiert. Im vorliegenden Gedicht wird erstere Bedeutung dadurch aufgerufen, dass das Titelzitat im lyrischen Ich eine Erinnerung an seine, schon einmal bekannt gewesene, demnach als ‚ursprünglich‘ erscheinende, jüdische Identität auslöst. Der Aspekt der Besonderheit im Sinne von Auserwählung wird im Gedicht „‚Täubchen […]‘“ und auch sonst in Lasker-Schülers Werk als verbunden mit besonderem Leid (durch Verfolgung und Exil) und besonderer (Auf-)Gabe reflektiert.157 Das Adjektiv „eigen“ lässt sich jedoch auch in der Konnotation von Eigensinn deuten.158 Denn bei aller Nähe, die hier zum kulturzionistischen Diskurs markiert wird, ist zu beachten, dass die an das lyrische Ich gerichtete titelgebende Aussage zwar eine Erinnerung an die Verbindung mit der jüdischen Tradition und Geschichte auslöst, gleichzeitig aber durch die Formulierung „Erinnerte ich mich / Tausend Jahre meiner (Hervorh. B.M.K.)“ die subjektive oder individuelle Aneignung derselben betont wird. Die Häufung der Possessivpronomen „mein“, „meinem“, „meine“, „mich“, „mein“, „meine“ in der zweiten bis vierten Strophe betont diese individuelle Komponente und verweist auf eine ähnliche Positionierung im Gedicht „Mein Volk“. Die Betonung einer eigenen Definition von (nationaljüdischer) Zugehörigkeit findet sich mehrfach in Lasker-Schülers Werk und lässt sich als poetologische Grundposition ihrer Auseinandersetzung mit dem Kulturzionismus bestimmen.159 155 156 157 158
DWB, Bd. 3, Sp. 92. DWB, Bd. 3, Sp. 94, Bedeutung 10. Vor allem in Der Wunderrabbiner von Barcelona (1921) und in Das Hebräerland (1937). Im Grimm’schen Wörterbuch findet sich hierzu: „9) eigen steht zuweilen dem allgemeinen gegenüber: das ist meine eigne Sache, geht andere nichts an.“ Vgl. DWB, Bd. 3, Sp. 94. 159 Ein weiteres Beispiel ist das Gedicht „Mein Volk“, das zuerst wie „‚Täubchen, das in seinem eignen Blute schwimmt‘“ in Der siebente Tag publiziert wurde. Der darin beschriebene Zustand einer Abgrenzung trotz innerer Zugehörigkeit wird auch in den Prosaarbeiten Das Peter Hille-Buch (1906) und Das Hebräerland (1937) im Kontext der Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Juden und Jüdinnen verwendet. Zum Gedicht „Mein Volk“ und seinem Bezug zur Figur Moses siehe Kapitel III.2.
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Wie eng Elemente der jüdischen Tradition und eine individualistische Deutung derselben verbunden werden, zeigt sich an der Darstellung der Leiderfahrung in der Galut. Denn die Galut wird nur z.T. in einem jüdisch-traditionellen und nur ansatzweise in einem nationaljüdischen, politisch oder kulturell zionistischen Sinne gedeutet, sondern ebenso deutlich in einer entwicklungspsychologischen Weise. Sie wird explizit als Trennung „Leben vom Leben“ definiert und mit dem Motiv der „toten Mutter“ und der „traurige[n] Kinder“ verbunden und fügt somit eine weibliche Konnotation ein, die metaphorisch in der Beschreibung: „Ich lag allen Tälern im Schoß, / Umklammerte Berge“ anklingt. Das Motiv des Mutterverlustes ruft zum einen Lasker-Schülers Gedichte zu diesem Thema aus ihren ersten beiden Gedichtbänden Styx und Der siebente Tag auf. So findet sich im Gedicht „Mutter“ aus Styx eine Passage, die der Beschreibung der Galuterfahrung als Trennung „Leben vom Leben“ in „‚Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt‘“ ähnelt: […] Ich fühle mein nacktes Leben, Es stösst sich ab vom Mutterland, So nackt war nie mein Leben, So in die Zeit gegeben, Als ob ich abgeblüht Hinter des Tages Ende, Versunken Zwischen weiten Nächten stände, Von Einsamkeit gefangen. Ach Gott! Mein wildes Kindesweh! … Meine Mutter ist heimgegangen.160
Die schmerzliche Ablösung von der Mutter bei der Geburt („Ich fühle mein nacktes Leben / Es stösst sich ab vom Mutterland,“) wird durch den Tod der Mutter erneut erlebt. Im Gedicht „‚Täubchen […]‘“ wird die Galuterfahrung metaphorisch zu einer ähnlich existentiellen und dabei zugleich individuellen und überindividuellen Erfahrung gestaltet. Zum anderen zitiert Lasker-Schüler mit ihrer Darstellung den Midrasch über die Stammmutter Rachel, die nicht wie die anderen jüdischen Stammmütter (und -väter) in der Höhle Machpela (Hebron) begraben wurde, sondern am Wegrand (bei Bethlehem). Der Midrasch erklärt dies damit, dass Jaakov/Jakob die Zerstö160 KA 1.1, S. 34. Weitere Gedichte, die die Thematik des Mutterverlustes aufnehmen sind „Chronica“ (33), „Frühling“ (35), „Chaos“ (49) und „Volkslied“ (62) in Styx und „Mein stilles Lied“ (94ff.) in Der siebente Tag. Die Motive werden in diesen Gedichten jedoch nicht in einen kulturzionistischen Kontext eingebettet.
„Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt“
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rung des Ersten Tempels voraussah. Bei der Vertreibung nach Babylonien würden die Kinder Israels weinend am Grab vorbeiziehen und Rachel würde jhwh um Vergebung für sie und um Rückkehr bitten.161 Es findet eine Identifizierung des lyrischen Ichs mit dieser Erzählung statt, wenn dessen Herz mit der „toten Mutter“ gleichgesetzt und die Augen als die „traurige[n] Kinder, / Die über die Lande gehen“ bezeichnet werden. Die Galuterfahrung wird als individuelle und kollektive Verlusterfahrung gestaltet. Durch die Übertragung auf die Ebene des existenziellen, aber entwicklungspsychologisch notwendigen Verlustes der Mutter wird dieser Traditionsbestand individuell fassbar angeeignet und kann als Verweis auf eine über die Mutter weitergegebene jüdische Genealogie verstanden werden. Gleichzeitig werden gerade hier als ‚Rahmung‘ (zu Beginn der zweiten und am Ende der vierten Strophe) Motive der jüdischen Tradition eingebunden, die prominent in kulturzionistischer Lyrik verwendet werden, so dass neben der individuellen eine überindividuelle und poetologische Ebene präsent bleibt. Lasker-Schüler verschränkt im Gedicht einen entwicklungspsychologisch notwendigen Schritt (die Ablösung von und den Verlust der Mutter) mit der Frage nach der Entwicklung einer dichterischen ‚Identität‘ im Rahmen der jüdischen Tradition. III.3.2 Entwicklung zur jüdischen Dichterin als „Auferstehung von halbem Leben zu ganzem“162
Die Verbindung von jüdischer Identität und jüdischer Literatur und damit einhergehend ein Konzept von Literatur, die das Leben verändern soll, ist eine zentrale Forderung des Kulturzionismus und der „Jüdischen Renaissance“. So lässt sich Lasker-Schülers Entwurf einer ‚Identität‘ als jüdische Dichterin vergleichen mit thematisch ähnlichen Versuchen in der jung-jüdischen Literatur, u.a. bei Martin Buber und Berthold Feiwel. In seinem Gedicht „Ackersmann“, das Buber als 25-Jähriger veröffentlichte, gestaltet er mit relativ konventioneller Metaphorik modellhaft die Entwicklung einer Dichterexistenz in einem nationaljüdischen Kontext. Anlass für die Reflexion des lyrischen Ichs über seine Bestimmung: „Was soll dein Leben?“, ist die Beobachtung eines Ackermanns beim Aussäen auf „tragbereite Schollen“. Das lyrische Ich geht die metaphorischen Möglichkeiten durch, kann jedoch weder 161 Vgl. Der Midrasch Bereschit Rabba. Das ist die haggadische Auslegung der Genesis. Zum ersten Male ins Deutsche übertragen v. Lic. Dr. August Wünsche. Leipzig: Otto Schulze 1881, S. 403. 162 Martin Buber: Juedische Renaissance. MBW 3, S. 143–147, hier 144.
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„Jüdische Renaissance“
Ackersmann, noch Samenkorn, noch Ackerboden sein. Erst der Anblick vom Winde verwehter Blumensamen und die Identifikation mit ihnen ermöglichen einen produktiven Selbstentwurf: […] Doch lebt in tiefstem Herzen dir Ein leuchtend starker Schönheitswillen. So lass ihn, schwer vor Prachtgeschenken, Mit Duft und Glanz die Menschen tränken.163
Da zuvor die Klage erklang: „Du bist ein Lied, das niemand singt, / Das keinen Trost und Frieden bringt!“ und durch den Verweis auf den „Schönheitswillen“ wird deutlich, dass hier die Entwicklung einer Dichterexistenz im Kontext zeitgenössischer literarischer Strömungen des Jugendstils und des Ästhetizismus beschrieben wird. Bezüge auf den kulturzionistischen Diskurs sind offensichtlich. So wird das Ideal des den Ackerboden bearbeitenden Juden aufgerufen und die Metapher der Samenkörner, die im Erdreich überdauern, zitiert die Metapher der die Galut überlebenden „Volkskeime“, die erneut erblühen werden (vgl. dritte Strophe). Am deutlichsten ist der Bezug durch die Verwendung des Volksbegriffs für die vom Winde verwehte wilde Blumenmischung markiert, die metaphorisch für das im Exil verstreute jüdische Volk steht. Es wird entsprechend als noch „ohn’ Ernst und ohne Kraft“, aber mit dem „verborgnen Glanz, / Der künftigen Blüten Reiz“ aus zionistischer Perspektive beschrieben. Darüber hinaus ist die Rede von einer Gemeinschaft der Leidenden, denen kein Kämpfen helfen kann: „Der Brüder Armut, Durst und Leid / Kannst du mit Flamm’ und Blut nicht stillen“. Stattdessen soll die kulturzionistische Position eines poetischen Wirkens Linderung des Leidens schaffen: Und giesse deiner Farben Saft Aus über Träume, Schmerz und Irren, […] Und all dein Blühn sei eine Macht, Der Welt aus vollem Glück gebracht!164
Bubers Gedicht vollzieht eine ähnliche Entwicklung nach wie Lasker-Schülers „‚Täubchen […]‘“: Ein äußerer Anlass führt zur Selbstreflexion über die Bestimmung des jüdischen lyrischen Ichs, deren Ergebnis erst einmal negativ ausfällt 163 Martin Buber: Ackersmann. In: Junge Harfen, S. 62 f., hier S. 63. 164 Ebd.
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und anschließend in eine produktive Dichterexistenz gewandelt wird. Parallele Formulierungen wie „tragbereite Schollen“ und die Substantive „Schoss“, „Mutter“, „Blühen“, „Auge“, „Herz“ und „Träume“ sowie das Leiden als „Schmerz“ und „Irren“ legen es nahe, Lasker-Schülers Gedicht als ‚Antwort‘ auf Bubers an einem traditionell männlichen Dichtungsmodell orientierten poetologischen Entwurf zu lesen. Beide Gedichte setzen außerdem den Vorgang des Blühens als poetologische Metapher165 und die Verbindung des Motivs der Augen mit dem Vorgang des Blühens ein.166 Buber gleitet bei der Verhandlung des pathetischen Gehalts der poetischen Bestimmung in eine wohl nicht ironisch gemeinte, z.T. kitschige Sprechweise, wenn sich das lyrische Ich u.a. als „Du wilde Blume, heiss und still, / Die von der Welt nichts weiss und will!“ anspricht, und die poetologischen Reflexionen sind neben der eher einfachen Metaphorik von Ackersmann und Samenkörnern in eine nachvollziehbare Narration eingebettet.167 Bubers Gedicht ist formal konventioneller als Lasker-Schülers von freien Rhythmen, metaphorischen Verdichtungen und intertextuellen Anspielungen geprägtes Gedicht.168 Entgegen dieser konventionellen Gestaltung verknüpft Lasker-Schüler systematisch den Entwurf einer schöpferischen jüdischen Dichterin-‚Identität‘ unauflösbar mit dem poetischen Produkt selbst. Statt einer einfachen Metaphorik werden mehrere Intertexte des kulturzionistischen Diskurses und das Hohelied zitiert und so eine produktive Mehrdeutigkeit entfaltet, so dass appellative Botschaften vermieden werden. Die Metaphorik ist tendenziell die einer kulturell definierten Weiblichkeit.
165 Ebd.: „Und all dein Blühn sei eine Macht, / Der Welt aus vollem Glück gebracht!“ 166 Ebd.: „Und ein gekröntes Blumenreich / Wird ihrem Aug in dir erblauen.“ 167 So endet das Gedicht damit, dass der Ackersmann heimgeht und die singenden Sinne des lyrischen Ichs einen Jubelchor zu den Sternen aufsteigen lassen. 168 Es ist über alle elf Strophen in einem vierhebigen Jambus gehalten und bis auf die letzte Strophe ist das Reimschema regelmäßig abcbdd mit wechselnder Kadenz in den ersten vier Zeilen und gleicher Kadenz in den beiden letzten. Es finden sich nur zwei kleine, aber bedeutende Abweichungen im Metrum bei den Adjektiven „heiligen“ (vierte Strophe) und „künftigen“ (siebte Strophe). Da die Verkürzungen der Worte „Flammen“ zu „Flamm’“ und „Aug“ statt Auge vorgenommen wurde, muss die Rhythmusunterbrechung als beabsichtigt angesehen werden. Die beiden Adjektive verweisen auf eine religiöse, messianische Ebene. Das Reimschema wird signifikant in der letzten Strophe verändert, wenn mit „Land“ und „Feldrand“ zum ersten Mal ein vollständiger reiner Kreuzreim vor dem die jeweilige Strophe schließenden Paarreim steht (ababcc). Der Reim enthält eine zionistische Konnotation und die erreichte Harmonie spiegelt den Zustand des lyrischen Ichs wieder, das nun seine Bestimmung gefunden hat, um sich sinnvoll in die Welt und die kulturzionistische Sache einzubringen. Zusammen mit den beiden hervorgehobenen Adjektiven verweist es auf einen messianischen Erlösungskontext.
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Lasker-Schüler reflektiert Auserwählung in der Ambivalenz zwischen Leid und Erhebung und entwickelt einen poetologischen Entwurf, der auf der Transformation von Leid in dichterische Produktivität und Erlösung basiert. Die Zirkelstruktur des Gedichts macht dieses Modell im Lese- und Schreibvorgang als potenziell unendlichen Prozess erfahrbar, inszeniert und reflektiert ihn zugleich. So wird in der fünften Strophe, nachdem in den ersten vier Strophen des Gedichts „‚Täubchen […]‘“ Motive der jüdischen Tradition zur Beschreibung einer doppelten Leidenserfahrung verwendet wurden, letztere als ambivalente Erfahrung von Auserwählung gestaltet. Durch die Wiederholung des Titelzitats am Beginn und am Ende der Strophe entsteht der Eindruck der Rahmung eines zentralen Geschehens. Auffällig wird noch einmal bekräftigt, was „diese Worte“ für das lyrische Ich bedeuten: „Ja, diese Worte an mich sind heiße Tropfen / Sind mein stilles Aufsterben“. Die „heißen Tropfen“ sind als Tränen verstehbar. Doch wichtiger ist die Formulierung „Sind mein stilles Aufsterben“. Aufsterben ist kein Neologismus, sondern hat als vom 14. bis 17. Jahrhundert juristisch verwendeter Begriff in der Bedeutung von „durch Todesfall (erblich) zukommen“ eine genealogische Konnotation.169 Innerhalb des Gedichtes spielt die Verwendung des Begriffs auf den Mutterverlust und das genealogische und poetische jüdische Erbe an, wie die enge Verbindung beider Themen in den Strophen zwei und drei zeigt. Anschließend wird mit der Opfer- und Errettungssymbolik der Taube im Judentum gearbeitet. Diese bildet zur Zeit des Stiftszeltes und des Tempels das geforderte minimale tierische Ganzopfer (Wajikra/Leviticus 1,14–17) und zwei Tauben das minimale Schuldopfer (Wajikra/Leviticus 5,7–11).170 Zentral ist hier bei beiden Opfern der Vorgang des Ganzopfers: Und er [der Priester] zerreiße es bei den Flügeln, trenne aber nicht, und der Priester lasse es in Dampf aufgehen auf dem Altar, auf dem Holze über dem Feuer; ein Ganzopfer ist es, ein Feueropfer des Wohlgeruchs dem Ewigen. (Wajikra/Leviticus 1,17)
Beide Opfervorgänge beinhalten die rituelle Verwendung des Blutes der geopferten Taube, wie es im Gedicht in der Formulierung „‚Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt‘“ anklingt. Zentraler Anknüpfungspunkt an die 169 DWB, Bd. 1, Sp. 749 f. U.a. verwendet Luther den Begriff. 170 Die Tora unterscheidet im Buch Wajikra/Leviticus zwischen Ganzopfer, Speiseopfer, Mahlopfer, Sühneopfer und Schuldopfer. In der Parascha (Wochenabschnitt) Mezora wird beschrieben, wie der samenflüssige Mann (Wajikra/Leviticus 15,14 f.) und die Frau nach der Menstruation (Wajikra/Leviticus 15,29 f.) jeweils zwei Tauben als Sühneopfer und als Ganzopfer darzubringen haben: „7. Wenn aber sein Vermögen nicht reicht zu einem Lamme, so bringt er zu seinem Schuldopfer, da er gesündigt, zwei Turteltauben oder zwei junge Tauben dem Ewigen, eine zum Sühnopfer und eine zum Ganzopfer. […]“ (Wajikra/Leviticus 5,7).
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Beschreibung des Opfers einer Taube in der Tora ist jedoch das Verbrennen des Opfertiers. Der im Gedicht verwendetet Begriff „Aufsterben“ verweist auf diesen Vorgang, bei dem das getötete und von seinem Blut getrennte Tier auf dem Altar verbrannt wird: „[…] als Ganzopfer, ein Feueropfer des Wohlgeruchs dem Ewigen“ (Wajikra/Leviticus 1,9). Auf einer abstrakten Ebene drückt er die Doppeldeutigkeit des Opfervorgangs zwischen dem Töten und der Heiligung des geopferten Tieres aus. Damit kann die Taube hier als Symbol für die Auserwählung im Sinne einer Ambivalenz von Leiden und besonderer Gottesnähe verstanden werden, wie sie nach Lasker-Schülers Verständnis die jüdische und poetische Auserwählung bestimmt.171 Die jüdische Deutung des Opfers wird dadurch bekräftigt, dass anschließend durch die „sieben weinende[n] Stimmen“ auf „der Stufe des dunklen Tors“ das sieben Tage dauernde jüdische Trauerritual der Schiwa (von hebr.: „schewa“, sieben) anklingt. Durch die Symbolik der Taube und der Verbindung zur „Rede vom Blut“172 wird jedoch auch auf christologische Kontexte von Opfer und Auferstehung Jesu angespielt.173 Dass die Stimmen „harren“, also warten,174 zeigt, dass noch etwas folgen muss. So wird in den letzten beiden Strophen ein neuer Zustand des lyrischen Ichs 171 Lasker-Schüler hat sich u.a. in Der Wunderrabbiner von Barcelona (1921) und in Das Hebräerland (1937) erneut mit der Doppeldeutigkeit der jüdischen Auserwählung zwischen Erhöhung und besonderer Verantwortung, aber auch den negativen Folgen einer von anderen falsch verstandenen jüdischen Auserwählung, vor allem im antijudaistischen und antisemitischen Diskurs, auseinandergesetzt. Zum Aspekt der „Erwählung“ im Judentum und in Lasker-Schülers Wunderrabbiner von Barcelona vgl. Almuth Hammer: Erwählung erinnern, S. 59–62 und S. 162–165. 172 Caspar Battegay: Das andere Blut, S. 13. 173 Die Anspielung auf christliche Traditionen ist für Lasker-Schüler generell nicht abwegig, da sie in ihrem Werk mehrfach christliche Motive oder Figuren gestaltet hat. Diese sind wie die Figur Jesus jedoch stets in einem jüdischen Verständnis verankert und können im Kontext einer ‚Rückeroberung‘ jüdischer Traditionsbestände gerade durch Protagonist/innen der „Jüdischen Renaissance“ verstanden werden. Die Taube als Symbol des Heiligen Geistes spielt entsprechend keine Rolle für das Gedicht und der erotisch-orientalische Kontext der letzten beiden Strophen widerspricht einer christlichen Deutung des Opfer- und Auferstehungsgeschehens. Lasker-Schülers Arbeit mit christlichen Elementen in einem jüdischen Kontext hat Alfred Bodenheimer für das Gedicht „Moses und Josua“ anschaulich gezeigt. Alfred Bodenheimer: Wandernde Schatten. Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne. Göttingen 2002, S. 109–112. Zur Kontroverse um christliche Motive bei LaskerSchüler vgl. Jakob Hessing, der die Vereinnahmungsversuche von christlicher Seite nach 1945 als „christlichen Rezeptionsmythos“ analysiert hat. Jakob Hessing: Die Heimkehr einer jüdischen Emigrantin. Else Lasker-Schülers mythisierende Rezeption 1945 bis 1971. Tübingen 1993. 174 Das Grimm’sche Wörterbuch verzeichnet „harren“ im Sinne von ausdauern, warten. Das Verb wird in der Lutherbibel häufiger benutzt, u.a. in 1 Samuel 13,8: „da harret er sieben
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beschrieben, der, markiert durch die abweichende formale Gestaltung, dessen Zustand zu Beginn des Gedichts gegenübersteht. Die dabei visuell markierte Verkürzung der Strophen zu ihrem Ende hin sowie die semantische und phonetische Steigerung der Reihung „Und harren“, „Und tönen“, „Und zirpt“ zu dem hell klingenden Verb in der dritten Person Singular vollziehen das Aufsteigen und somit den Vorgang der Erhebung und „Auferstehung“ nach. Hier geht es, anders als im ebenfalls mit solch einer Verkürzung gestalteten Gedicht „Sulamith“,175 in dem so die Selbstauflösung des prophetischen und liebenden lyrischen Ichs „in den Abendfarben Jerusalems“ inszeniert wird, gerade um den Beginn einer Entwicklung des lyrischen Ichs in einem orientalischen, poetischen und erotischen Kontext. Das Auferstehungsgeschehen verweist auf den kulturzionistischen Diskurs, verwendet Buber den Begriff „Auferstehung“ doch prominent in seinem Essay „Juedische Renaissance“.176 In Bubers Formulierung „Dem jüdischen Volke steht die Auferstehung von halbem Leben zu ganzem bevor“177 lässt sich eine Parallele zum hier untersuchten Gedicht sehen. Bei Buber ist dieses „halbe[ ] Leben“ geprägt durch die Erfahrung von Golus (Galut) und Ghetto (Sp. 9). Damit korrespondiert, dass das lyrische Ich im vorliegenden Gedicht seine Galut-Erfahrung als Trennung „Leben vom Leben“ beschreibt. Die Frage „Wo liegt mein Leben –/ Und träumt nach meinem Leben“ wird in diesem Kontext formuliert und beschreibt einen Zustand der Entfremdung und Ziellosigkeit, aber auch der Sehnsucht (das Träumen) und kann als eine individuelle Darstellung des von Buber als „halbe[s] Leben“ bezeichneten Zustands des jüdischen Volkes aufgefasst werden. Im Verlauf des Gedichts vollzieht das lyrische Ich eine Transformation aus einem leidvollen, ziellosen, verschollenen, mit Buber „halben“ Leben in einen neuen Zustand, der allerdings weiterhin als noch „halberschlossen“ bezeichnet wird. Auch Buber beschreibt die 1901 bestehende jung-jüdische Literatur als ein „dunkle[s] Tasten“178 und somit ebenfalls als ein noch nicht oder erst „halberschlossen[es]“ Potenzial. Seine volle Entfaltung wird also noch erwartet, kann aber durch das lyrische Ich nun aktiv durch das Zirpen, poetologisch im Sinne von Dichten oder Singen zu verstehen, angestrebt werden.
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tage“ (DWB, Bd. 10, Sp. 494–497). Die Lutherbibel kann als wahrscheinliche Quelle Lasker-Schülers angesehen werden. KA 1.1, S. 48. Vgl. außerdem die Verwendung des Begriffs in kulturzionistischer Lyrik, in Berthold Feiwel (Hg.): Junge Harfen: Anton Lindner: „Frühling“: „Die holde Auferstehungweise“ (6) und Efraim Frisch „Und doch!“: „auferstehen“ (64). Martin Buber: Juedische Renaissance. In: Ost und West, Jg. 1 (1901), H. 1, Sp. 7–10, hier Sp. 10. Ebd., Sp. 10.
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Das Gedicht „‚Täubchen […]‘“ endet auffällig mit dem Titelzitat und mehreren Punkten, die eine Weiterführung oder Wiederholung des Lese- und Schreibprozesses, aber auch der poetischen Transformation suggerieren. Lasker-Schüler inszeniert damit eine Zirkelstruktur, die auf die potenzielle Unendlichkeit des vollzogenen Umwandlungs- und Erhebungsprozesses deutet und eine endgültige Erlösung höchstens in messianischer Dimension möglich erscheinen lässt. Die Zirkelstruktur weist eine Parallele zu einem weiteren poetologischen Gedicht in Junge Harfen, zu dem Gedicht „Die Ersten“ von Berthold Feiwel, auf.179 Feiwel arbeitet mit einem Motiv der jüdischen Tradition, dem der männlichen Erstgeborenen, die ursprünglich für den Tempeldienst vorgesehen waren, bevor ihre Aufgabe vom Stamm der Leviim übernommen wurde.180 In Feiwels Gedicht wird eine Generation der „Ersten“ angerufen und beschrieben, die in einer Art erneuertem Priesterdienst (vgl. „euer Priesterkleid“, dritte Strophe) für die Zukunft des jüdischen Volkes arbeitet, obwohl sie noch in der Diaspora lebt. Damit appelliert Feiwel offensichtlich an die jung-jüdische Generation. Zentral für die poetologische Aussage ist dabei die sechste Strophe: Und jedes neue Leid wird euch zum Lied Und jedes neue Lied zu neuem Leiden, Und immer grössre Sehnsucht quillt aus beiden, Aus jedem Leiden und aus jedem Lied.
Die hier formulierte Zirkelstruktur reflektiert Lasker-Schüler in ihrem Gedicht. Es zeigt performativ, wie Leiden in ein Lied umgewandelt wird, und deutet mit dem Titelzitat, das zugleich die Schlusszeile bildet, die potenziell endlose Wiederholung des Vorgangs an. Auch die von Feiwel verwendete Formulierung „Aus tausendjährger Schmerzen dunklem Schoss“ (neunte Strophe) korrespondiert mit Lasker-Schülers Zeile „Erinnerte ich mich tausend Jahre meiner“ und der Beschreibung der Diasporaerfahrung u.a. als „Ich lag allen Tälern im Schoß“. Ebenso finden sich bei Lasker-Schüler die Begriffe „Herz“ und „Blut“ in einem poetologischen Kontext, wie ihn Feiwel in den letzten beiden Zeilen der siebten Strophe entwirft: „Und euer Lied in immer heissrer Glut / Muss es entströmen eurem Herzensblut“.181 Außerdem reflektiert Feiwel die Verbindung von Sehnsucht und Leiden, wobei er die Rolle der Sehnsucht betont und sie natio 179 Berthold Feiwel: Die Ersten. In: Junge Harfen, S. 9. 180 Daran erinnert das Ritual „Pidion haBen“, mit dem (im orthodoxen Judentum noch heute) die männlichen Erstgeborenen, deren Eltern weder dem Geschlecht der Kohanim noch dem der Leviim angehören, nach dem 30. Lebenstag durch die Zahlung von fünf Silberschekeln an einen Kohen symbolisch ausgelöst werden. 181 Berthold Feiwel: Die Ersten, S. 9.
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naljüdisch als volksbefreiend und Erlösung bringend beschwört: „Und müsset lieben, lieben euer Leid, / Aus dem die Sehnsucht wird, die euer Volk befreit.“ Bei Lasker-Schüler wird die Sehnsucht poetologisch und erotisch gestaltet und in der letzten Strophe auf der Basis des Hoheliedes in die Metapher des braunen Auges, das halberschlossen blüht und zirpt, gefasst und somit eine abweichende Poetologie formuliert. Gegenüber Bubers und Feiwels traditionell männlich konnotierten poetologischen Entwürfen erarbeitet Lasker-Schüler den Entwurf einer dezidiert weiblich konnotierten auserwählten Dichterin-‚Identität‘. Diese wird auf der Basis des Hoheliedes entwickelt, wie im Folgenden genauer zu zeigen ist. III.3.3 Erotik,182 Orientalisierung und weibliche Genealogie: Schreiben im Kontext des Hoheliedes
Schon mit ihrem Gedicht „Sulamith“ aus dem ersten Gedichtband Styx, das zuerst im Juni 1901 in der kulturzionistischen Zeitschrift Ost und West publiziert wurde, und auf das die Gestaltung der letzten drei Strophen vom Gedicht „‚Täubchen […]‘“ verweist, hat Lasker-Schüler sich auf die Protagonistin des Hoheliedes bezogen. In dem poetologischen Gedicht „‚Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt‘“ nimmt Lasker-Schüler mehrere Motive aus dem Hohelied auf und arbeitet sie als eine Bedeutungsebene in die vielschichtige Auseinandersetzung mit dem mehrdeutigen Titelzitat ein. So bildet das Hohelied den zentralen Intertext, auf dessen Basis Erotik, Orientalisierung und eine weibliche Genealogie als Kategorien von Lasker-Schülers poetologischem Entwurf erarbeitet werden.183 In den letzten beiden Strophen des Gedichts findet eine Verschiebung der ‚Bildwelt‘ in einen erotischen und südlich-orientalischen Kontext statt, die jedoch durch die Wiederaufnahme von Bezügen mit den vorangegangenen Strophen verbunden ist. So klang die nun offen erotische Grundstimmung schon in den Substantiven „Schoß“ und den „Bergen“, verstanden als Brüste, oder dem Adjek182 Mark H. Gelber hat Lasker-Schülers frühe Lyrik unter dem Begriff „Eroticism“ im kulturzionistischen Kontext motivisch analysiert. Vgl. Mark H. Gelber: Melancholy Pride, S. 203– 220 und ders.: Jewish, Erotic, Female. S. 27–43. Caspar Battegay hat auf die systematische Verbindung erotischer und kulturzionistischer Elemente in Lasker-Schülers früher Lyrik hingewiesen. Caspar Battegay: Das Gedächtnis des Bluts, S. 117–134, S. 131. 183 Doerte Bischoff hat das Hohelied als zentralen Intertext des Peter Hille-Buchs herausgestellt. Vgl. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung, Figuren der Souveränität und Ethik der Differenz in der Prosa Else Lasker-Schülers. Tübingen 2002. S. 97–208, passim. Zu poetologischen Parallelen zwischen dem Gedicht „‚Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt‘“ und dem Peter Hille-Buch vgl. Kapitel III.4.
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tiv „heiß[ ]“ an. Die „sieben weinende[n] Stimmen“ sitzen nun auf „den Hecken“ und das Motiv der Träume aus der zweiten Strophe wird erneut aufgenommen. Deutlich wird der auch aus poetologischer Sicht veränderte Zustand markiert, wenn dem „stillen Aufsterben“ das Tönen der Stimmen und das Zirpen des „braune[n] Auge[s]“ des lyrischen Ichs gegenübergestellt werden. Hier wird eine dritte Bedeutungsebene des Titelzitats bearbeitet. Die Anrede des lyrischen Ichs als „Täubchen“ kann in einem sexuellen oder zumindest erotisch werbenden Sinne verstanden werden, gilt die Taube doch als Symbol erotischer Unschuld junger Mädchen,184 ist also im Diminutiv als galante bis anzügliche Geschlechterzuordnung deutbar. Auch eine gewalttätige Konnotation gehört zur literarischen Tradition, so führt das Grimm’sche Wörterbuch das Lemma „Täubchen“ u.a. als „Kosewort“ auf, das z.B. bei Friedrich Maximilian Klinger für ein „reines, unschuldiges Mädchen“ in einem potenziell gewalttätigen Entjungferungsszenario verwendet wird.185 Populärkulturell lässt sich ein Verweis auf den Beginn der Operette Die Fledermaus (1874) von Johann Strauss vermuten. Der im ersten Akt beim ersten Auftritt von der Figur Alfred gesungene Text betont die erotische Komponente der Bezeichnung Täubchen und arbeitet ebenfalls mit der Wiederholung der Anrede.186 Die Verwendung des Substantivs Taube in einem erotischen Sinne geht auf antike Traditionen und auf das Hohelied zurück.187 Darin spricht der männliche Protagonist seine Geliebte mehrfach als „Taube“ an (Hohelied 2,14; 5,2; 6,9), beide Partner-/innen vergleichen die Augen des anderen/der anderen mit Tauben (er: Hohelied 1,15; 4,1; sie: Hohelied 5,12). Die Verbindung der Bezeichnung Taube mit den Augen wird am Schluss des Gedichtes durch das zirpende braune Auge aufgenommen. So ist das lyrische Ich durch die geschlechterspezifische Konnotation des Diminutivs „Täubchen“ und durch die Adressierung des Titelzitats an es selbst als weibliches erkennbar.188 Durch die Zuordnung „mein braunes Auge“ erscheint 184 Vgl. Adam Lengiewicz: Taube. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 440 f. 185 DWB, Bd. 21, Sp. 166: „‚nun, wärs schön gewesen, hätt der stürmer des täubchens (reinen, unschuldigen mädchens) nest durchsucht‘ […].“ Vgl. Friedrich Maximilian Klinger: Otto. Trauerspiel. Leipzig: Weygand 1775, S. 78. 186 „Täubchen, das entflattert ist, / Stille mein Verlangen. / Täubchen, das ich oft geküsst, / Laß dich wieder fangen! / Täubchen, holdes Täubchen mein, / Komm, o komm geschwinde; / Sehnsuchtsvoll gedenk ich dein, / Holde Rosalinde.“ Johann Strauß: Die Fledermaus. Text nach H. Meilhac u. L. Halévy von C. Haffner und Richard Genée, Stuttgart 1976, S. 13. 187 Vgl. DWB, Bd. 21, Sp. 166 f. 188 Dass es sich hier um ein weibliches lyrisches Ich handelt, darauf deutet auch die Identifikation des eigenen Herzens mit der toten Mutter, die weibliche Symbolik (Schoß und Berge, die hier eher als Brüste, denn als phallische Symbole zu deuten sind), die jüdische matrilineare Genealogie und die Metapher des braunen Auges, die im Kontext des Hoheliedes mit der weiblichen Protagonistin verbunden ist.
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es orientalisiert in der Rolle der weiblichen Protagonistin des Hoheliedes. Dieser Eindruck wird dadurch unterstützt, dass das Zirpen des braunen Auges lautmalerisch an Grillen oder Zikaden erinnert und somit einer südlichen Gegend zuzuordnen ist. Im Kontext der Bezüge zum Hohelied erscheint es als ein erotisches Locken. Auch die Bezeichnung „Halberschlossen vor meinem Fenster“ ruft Assoziationen an das Hohelied und das dort zelebrierte ‚orientalische‘ Liebeswerben auf, bei dem mehrfach das Gitter oder die verriegelte Tür, hinter der sich die Geliebte befindet, erwähnt wird: „Siehe, da steht er hinter unserer Wand, schauend durch die Fenster, lugend durch die Gitter.“ (Schir HaSchirim/Hohelied 2,9)189 Neben Erotik und Orientalisierung wird als dritter Aspekt des Hoheliedes die eigentümliche Erwähnung der Mutter der Geliebten aufgegriffen.190 So wird im Hohelied die Bezeichnung der Geliebten als Taube mit der Mutter und der für das Gedicht so zentralen Thematik der Auserwähltheit verbunden: „Eine aber ist meine Taube, meine Holde, einzig ist sie der Mutter, auserwählt ihrer Gebärerin.“ (Hohelied 6,9) Des Weiteren wird dort wie im Gedicht die Ablösung von der Mutter durch die Geburt mit der Ablösung durch die im Hohelied beschriebene erste Liebe oder das erste sexuelle Begehren verbunden: „Unter dem Apfelbaume weckte ich dich, dort gebar dich mit Wehen deine Mutter, dort entwand sich (deiner), die dich gebar.“ (Hohelied 8,5) Das Gedicht „‚Täubchen […]‘“ nimmt die Referenz auf die Figur der Mutter und der uneinholbaren Ablösung von ihr auf. So wird die durch die jüdische Mutter aufgerufene, matrilineare jüdische Genealogie auf der poetologischen Ebene als Ursprung der jüdischen Dichterin-Existenz eingesetzt, ebenso prägend ist der Verlust dieses ‚Ursprungs‘, ein Topos, den Lasker-Schüler in ihrem weiteren Werk entfaltet und der hier über den Diasporabezug als strukturelle und entwicklungspsychologische Parallele zum Verlust Jerusalems in der jüdischen Tradition gestaltet wird. III.3.4 Der Entwurf einer eigenständigen Poetologie im Kontext des Kulturzionismus
Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass das Titelzitat, das die Zuschreibung einer auserwählten Position zwischen Opferrolle und Erhebung formuliert, 189 Hier findet sich eine Stelle mit eindeutig sexueller Metaphorik, jedoch merkwürdig mehrdeutiger Adressierung: „Mein Geliebter langte mit der Hand durch die Öffnung, und mein Inneres ward rege für dich.“ Ähnlich explizit: „Aufstand ich, meinem Geliebten aufzutun, und meine Hände troffen von Myrrhe, und meine Finger von fließender Myrrhe auf dem Griff des Riegels.“ (Hohelied 5,4 f.) Übersetzung hier und im Folgenden Leopold Zunz. 190 Vgl. die Analyse von Doerte Bischoff im Kontext des Peter Hille-Buchs. Dies.: Ausgesetzte Schöpfung, S. 168–183.
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im Gedicht auf dreifache Weise gedeutet und poetologisch produktiv gemacht wird. Die drei möglichen Bedeutungsebenen des Titelzitats als jüdische, erotische und dichterische Auserwählung werden nach der performativ vollzogenen (potenziell unendlichen) zirkulären Umwandlung von Leiden in Erhebung zum Entwurf einer weiblichen, jüdischen und orientalisierten Poetologie verbunden. Der kulturzionistische Diskurs fungiert in Lasker-Schülers poetologischem Entwurf im Gedicht „‚Täubchen […]‘“ als ein wichtiges Referenzsystem, um ein Verfahren zu entwickeln, das systematisch ein Neuschreiben der Tradition mit der Konstruktion einer weiblich konnotierten dichterischen ‚Identität‘ aus der jüdischen Tradition verbindet. Der Vergleich mit den programmatischen Gedichten von Buber und Feiwel zeigt, dass Lasker-Schüler einerseits kulturzionistische Schlüsselbegriffe aufgreift, ihren poetologischen Entwurf andererseits dem traditionell männlich konnotierten kulturzionistischen Dichtermodell gegenüber stellt. Dies wird vor allem durch den Bezug auf das Hohelied, eine weibliche Genealogie und den selbstbewussten Ausdruck weiblichen Begehrens erreicht. Aus der Perspektive des Gesamtwerks wird deutlich, dass das Gedicht „‚Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt‘“ sehr prominent Elemente enthält, die für Lasker-Schülers Poetologie im weiteren Verlauf ihres Schaffens prägend sind. So sind die hier entworfenen Parameter relevant für das Frühwerk und verweisen auf Lasker-Schülers Liebeslyrik, in der u.a. häufig die Motive der Hecke, des Erblühens und der Träume verwendet werden.191 Zentral ist vor allem die Auseinandersetzung mit den beiden Aspekten der Auserwählung, Leiden und Erhebung. Sie bilden die Grundkonstellation der Geschichte des biblischen Joseph, dessen Schicksal zwischen dem Leid, welches er durch seinen Verkauf durch die Brüder und das folgende Dasein als Sklave und Gefangener erlebt, und der Begabung als Traumdeuter192 und der Erhebung zum Stellvertreter des Pharao angesiedelt ist. Die Joseph-Figur geht maßgeblich in die Gestaltung von Lasker-Schülers wichtigster und langlebigster Ich-Figuration Prinz Jussuf von Theben ein.193 Weitere Verweise auf Lasker-Schülers Poetologie sind die Arbeit mit Motiven und Figuren der jüdischen Tradition und deren Umdeutung, u.a. 191 U.a. in „Erkenntnis“: „Eva, kehre um vor der letzten Hecke noch! / Wirf nicht Schatten mit Dir, / Blühe aus, Verführerin“ (KA 1.1, 81f., hier 82), „Die Liebe“ („ein pochendes Erblühen“, 84), „Mein Liebeslied“ (99) und „Traum“ (84). Die Hecken erscheinen meist als idyllischer Ort, so in den Gedichten „Ruth“ (90) oder „Erkenntnis“ (81 f.). Im Gedicht „Ruth“ findet sich auch das Motiv der dunklen bzw. „braune[n]“ Augen („meine Augen sind schwere dunkle Tropfen“) und das der blühenden Blicke, diesmal jedoch des angesprochen Du („In meiner Seele blühen süß Deine Blicke“). 192 Die Thematik des Träumens klingt ebenfalls im hier untersuchten Gedicht an. 193 Lasker-Schüler entwickelt die Ich-Figuration des Prinzen von Theben um 1910 und arbeitet mit ihr bis ins Exil, so erwähnt sie sie noch 1937 in Das Hebräerland und danach in wenigen Briefen.
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die Aufnahme erotischer Elemente im Kontext der biblischen Tradition des Hoheliedes, die Umdeutung kulturzionistischer Motive, der Entwurf eines orientalisierten Judentums und einer weiblichen, jüdischen und poetischen Genealogie, die mit dem Verlust der Mutter verbunden ist. Der Ausdruck „Mein Herz“ wird später der Titel ihres Briefromans über die Bohème des „Cafés des Westens“ sein und von Lasker-Schüler zur Chiffre ausgearbeitet. Das im Gedicht „‚Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt‘“ entwickelte und vorgeführte Verfahren der unauflösbaren Verbindung von poetologischem Entwurf als Neuschreiben der Tradition und der Konstruktion einer ‚Identität‘ als jüdische Dichterin aus der jüdischen Tradition prägt Lasker-Schülers Gesamtwerk. Es wird in ihrer ersten längeren Prosaarbeit Das Peter Hille-Buch (1906), das auf einer Metaebene über Dichtung reflektiert und die Geschichte einer Dichterin-Werdung rekonstruiert, mit zentralem Bezug auf den Kultur zionismus erneut thematisiert. III.4 Das Peter Hille-Buch (1906) – Dichterische Emanzipation im Kontext des Kulturzionismus
Das 1906 erschienene Peter Hille-Buch ist Lasker-Schülers erster längerer Prosatext. Es ist eine Hommage an ihren Freund und Mentor, den katholischen Dichter Peter Hille (1854–1904), den sie um 1900 im Umkreis der lebensreformerischen Gemeinschaft „Die Kommenden“ kennenlernte. In 46 Episoden wird von der Wanderung der Figur „Tino“, der ersten Ich-Figuration194 LaskerSchülers, und der Figur „Petrus“, die auf Hille rekurriert, erzählt. Beide Namen gehen auf Hille zurück, der sich in Anlehnung an den Heiligen Petrus selbst mit diesem Namen und in einem Brief an Lasker-Schüler in der metonymischen Übertragung als „Dein Felsen“ bezeichnet hat.195 Er sprach Lasker-Schüler in 194 Den Begriff der Ich-Figuration hat Meike Feßmann geprägt. Meike Feßmann: Spielfiguren. Die Ich-Figurationen Else Lasker-Schülers als Spiel mit der Autorrolle. Ein Beitrag zur Poetologie des modernen Autors. Stuttgart 1992, S. 116–130. In dem 1907 erschienen Prosaband Die Nächte Tino von Bagdads fungiert Tino als zentrale Protagonistin. 195 Peter Hille an Lasker-Schüler am 15. November 1901. Peter Hille: Sämtliche Briefe. Kommentierte Ausgabe. Hrsg. und bearb. v. Walter Gödden u. Nils Rottschäfer. Bielefeld 2010, S. 349. Weitere Stellen sind: „Dein Felsen“ (Peter Hille: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. Friedrich u. Michael Kienecker. Bd. VI: Texte – Briefe – Kommentare. Essen 1986, S. 140) und „Ich heiße Peter. Das heißt Fels. Und so ein Felsen, ein fester, fühlender, das Wirkliche, Gott fühlender Fels will ich sein […].“ (Peter Hille: Sämtliche Briefe, S. 267) Lasker-Schüler schreibt an Peter Hille im Februar/März 1904: „Lieber St. Petrus“ (ebd.,486) und „St. Petrus“ (ebd., 490). Auch gegenüber anderen spricht Lasker-Schüler von „Petrus Hille“, vgl. den Brief an Julius Hart vom 23.5.1901 (KA 6, 26).
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seinen Briefen als „Tino“ an196 und nannte diesen Namen in seinem literarischen Porträt über die Freundin. Lasker-Schüler hat ihn für die Protagonistin ihres zweiten Prosabuchs Die Nächte Tino von Bagdads (1907) verwendet. Die Handlung des Peter Hille-Buches spannt sich in Episoden vom ersten Zusammentreffen der beiden Hauptfiguren bis zu Petrus’ Beerdigung. In mythisierender Redeweise wird mit Bezügen auf die Apostelgeschichten der christlichen Bibel, Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883–1885)197 sowie Hilles literarische Arbeiten, u.a. zum Martyrium Jesu,198 vom Kreis um Petrus erzählt. Doch Das Peter Hille-Buch ist nur auf der einen Seite als Huldigung an eine Meister-Figur gestaltet. Auf der anderen Seite erzählt es inmitten der Verehrung für den „Propheten“199 die Geschichte von Tinos dichterischer Selbstfindung und der Emanzipation vom verehrten Mentor.200 Sowohl auf der inhaltlichen Ebene 196 Dorothee Ostmeier deutet den Namen als Zusammensetzung der von Hille mit LaskerSchüler assoziierten Figuren Deborah, Sappho und Sulamith. Dorothee Ostmeier: Identitätsspiele. Peter Hille/Else Lasker-Schüler. In: Prophet und Prinzessin. Peter Hille und Else Lasker-Schüler. Mit Berichten aus der Werkstatt der Peter-Hille-Forschungsstelle. Hrsg. v. Walter Gödden u. Michael Kienecker. Bielefeld 2006, S. 227–252, hier S. 247. Die Wahl des androgynen Namens wurde von Hille in seinem Porträt von Lasker-Schüler folgendermaßen kommentiert: „Tino ist der unpersönliche Name, den ich für die Freundin und den Menschen fand, die flammenden Geist und zitternde Welt wie mit Blumenkelchen umfangende Seele.“ (Peter Hille: Gesammelte Werke, Bd. V, S. 81 f.). In der Ansprache in den Briefen verwendet Hille den Namen Geschlechterzuordnungen überscheitend: „Liebe Tino“, „Lieber Tino“ und „Liebes Tino“ (Peter Hille: Gesammelte Werke, Bd. VI, S. 130 f.). Zur Überschreitung von Genderkonstruktionen in Hilles Werk vgl. Dorothee Ostmeier: Poetische Dialoge zu Liebe, Gender und Sex im frühen zwanzigsten Jahrhundert. Else Lasker-Schüler, Peter Hille und Gottfried Benn, Lou Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke, Bertolt Brecht und Margarete Steffin. Bielefeld 2014, S. 56–95. 197 Vgl. hierzu Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung, S. 97–208, hier S. 107–115, 122 f. und passim. Zum Komplex einer jüdischen Nietzsche-Rezeption siehe Steven Aschheim: The Nietzsche Legacy in Germany 1890–1990. Berkeley u.a. 1992, und Werner Stegmaier u. Daniel Krochmalnik (Hg.): Jüdischer Nietzscheanismus. Berlin, New York 1997. 198 Doerte Bischoff hat auf den Bezug zu Hilles Gedicht „Brautseele“ hingewiesen. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung, S. 151. Valentina Di Rosa sieht eine Parallele zu Hilles „Welt- und Waldspiel“ Myrddhin und Vivyan und führt einige der Episodentitel auf Hilles Werke zurück, so den Titel „Petrus-Poseidon“ auf das Gedicht „Seegesicht“ und die Episode „Petrus unter den Arbeitern“ auf Hilles Drama Die Sozialisten (1886). Der Titel „PetrusWotan“ verweise darüber hinaus auf das Porträt „Peter Hille als Wotan mit einem Auge“ von Franz Strassen. Valentina Di Rosa: „Begraben sind die Bibeljahre längst“. Diaspora und Identitätssuche im poetischen Entwurf Else Lasker-Schülers. Paderborn 2006, S. 123. Allerdings missversteht Di Rosa das intertextuelle Schreibverfahren Lasker-Schülers als „bloßes Tarnmanöver“ (ebd., Fußnote 21). 199 Else Lasker-Schüler: Das Peter Hille-Buch. In: KA 3.1, S. 27–66, hier S. 58. Im Folgenden nachgewiesen mit Seitenzahl in Klammern nach dem Zitat. 200 Diese doppelte Ausrichtung hat zuerst bemerkt: Christine Reiß-Suckow: „Wer wird mir Schöpfer sein!!“ Die Entwicklung Else Lasker-Schülers als Künstlerin. Konstanz 1997, S. 72. Sie
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als auch auf der Ebene des Schreibverfahrens wird dabei eine eigenständige Poetologie entworfen und umgesetzt, die über die Figur Petrus und die Referenzen auf Hilles Werk hinausgeht. Wie weiter unten gezeigt wird, spielt dabei die Begegnung mit den hier als Kulturzionisten und jung-jüdische Dichter dechiffrierten „Jerusalemitern“ und die dabei aufgedeckte genealogische und poetische Zugehörigkeit Tinos zum Judentum und zur jüdischen Tradition eine zentrale Rolle. Lasker-Schülers Schreibverfahren operiert im Peter Hille-Buch programmatisch am Übergang von Leben und Literatur. Entsprechend ‚berichtet‘ das „Buch“ chiffriert und vor allem mythisierend von den ‚Lehrjahren‘ mit dem radikal antibürgerlichen Hille und von den Kreisen der Berliner Bohème. Zeitgenössische Personen treten unter poetisierten Namen auf, so Lasker-Schülers zweiter Ehemann Herwarth Walden als Goldwarth oder Samuel Lublinski als die Figur des Indianerhäuptlings Sam Bugdahan.201 Das Peter Hille-Buch ist geprägt von poetischen Rollenspielen und weist ein dichtes Netz an intertextuellen Bezügen auf, die deutlich machen, dass hier vor allem ein „Metadiskurs über Dichtung“ geführt wird.202 Lasker-Schülers Schreibverfahren ist mit avantgardistischem Gestus am Übergang von Leben und Literatur situiert und stellt damit besondere Anforderungen an das methodische Vorgehen einer literaturwissenschaftlichen Interpretation, da weder biographisierende Ansätze, noch Ansätze, die diese Spannung zugunsten einer rein textuellen Betrachtung auflösen wollen, dem Entwurf gerecht werden.203 Die nachfolgenden Analysen zeigen, dass es notwendig ist, die sozialhistorische Ebene einzubeziehen, da sich gerade dadurch wichtige poetologische Bezüge erhellen lassen. Dabei muss jedoch deren potenzielle Literarisierung immer mitgedacht werden. Lasker-Schüler markiert dieses Spannungsverhältnis selbst, indem sie ihren Prosatext Das Peter Hille-Buch nennt, also auf die reale Person Hille oder zumindest auf dessen literarischen Mythos verweist, im Text aber nur die Figur wird von den meisten neueren Arbeiten gesehen, vgl. u.a. Bauschinger (2004), Di Rosa (2006a, S. 116, 2006b, S. 197), und Dorothee Ostmeier (2006). Zuvor ging man von einem biographisch grundierten, hierarchischen Mentor-Schülerin-Verhältnis aus (u.a. Feßmann 1992, Hessing 1985), das der Text jedoch unterläuft. 201 Vgl. die Anmerkungen von Ricarda Dick, KA 3.2, S. 65–80, passim. Ähnliche Praktiken finden sich im George-Kreis. 202 Valentina Di Rosa: Literarisches Duett, S. 199. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung, S. 104, untersucht es als „radikales Schreibexperiment“. 203 Bisher wurde das Peter Hille-Buch in der Forschung vor allem biographisch gedeutet: u.a. Reiß-Suckow (1997), Feßmann (1992), Hessing (1985). Doerte Bischoff untersucht in ihrer diskursanalytischen und psychosemiologischen Studie, wie die väterliche Symbolinstanz „selbst vom Text als Effekt seiner rhetorischen Praktiken und Inszenierungen ausgestellt wird.“ (103) Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung.
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„Petrus“ behandelt. Diese tritt darüber hinaus in verschiedenen mythischen Rollen, wie Wotan, Mephisto, Dionysos, Prophet und Gott, auf, und verweist gerade damit auf literarische Texte Hilles. Durch dieses Verfahren werden beide Ebenen – die des ‚Lebens‘ und die der ‚Literatur‘ – gleichzeitig präsent gehalten, aber auch deutlich gemacht, dass schon die ‚Realität‘ nur mythologisiert und in literarischen Modellen wahrnehmbar ist; und dass im Text vielleicht eine ‚Realität‘ gestaltet wird, der mehr Ausdruck von ‚Wirklichkeit‘ oder ‚Wahrheit‘ zugesprochen werden kann als den Möglichkeiten des ‚realen Lebens‘. Entsprechend verbinden die folgenden Analysen die markierten Referenzen auf eine realhistorische Ebene und auf die Protagonist/innen der literarischen Bohème um 1900 mit der Ebene des Metadiskurses über Dichtung. Die realhistorischen Bezüge, vor allem auf Hille, den Kulturzionismus und die jung-jüdischen Dichter, werden dabei als Verweise auf Intertexte erkennbar, die zur Entwicklung einer eigenen Poetologie genutzt werden. Die kulturzionistische Position wird in der Erzählung durch die Gruppe der „Jerusalemiter“ vertreten, die in der Forschung bisher auffällig häufig ignoriert wurde.204 Die Deutung als Chiffre für das „organisierte[ ] Judentum“205 oder als Zionisten206 diente vor allem als Indiz, um Lasker-Schülers biographisches Verhältnis zum Zionismus zu bestimmen.207 Im Zusammenhang mit der Interpretation des Peter Hille-Buches als Erzählung einer dichterischen Selbstfindung wurde ihr Auftreten bisher nicht berücksichtigt. Demgegenüber bildet die Begegnung mit den als Kulturzionisten208 und jung-jüdische Dichter erkennbaren „Jerusalemitern“ gerade das konstitutive Element für Tinos Ablösung von ihrem
204 Dies überrascht vor allem in den Anmerkungen zum Peter Hille-Buch von Ricarda Dick in der Kritischen Ausgabe, Bd. 3.2 Dort werden einige Namen entschlüsselt, auf Ben Ali Brom und die „Jerusalemiter“ geht der Kommentar jedoch nicht ein (KA 3.2, 65–80). Doerte Bischoff erwähnt sie nur als Störenfriede. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung, S. 128. 205 Jakob Hessing: Else Lasker-Schüler, S. 80. 206 Alfred Bodenheimer: Else Lasker-Schüler, S. 376, merkt an, dass die „Jerusalemiter“ „unschwer als Zionisten zu dechiffrieren“ seien. 207 Jakob Hessing (1985) nimmt die Begegnung als Beweis für das Scheitern von LaskerSchülers Beziehung zur „Jüdischen Renaissance“, Alfred Bodenheimer (2000) sieht eine enttäuschende Begegnung mit den Zionisten gestaltet. Die betreffende Episode ist aus poetologischer Perspektive mehrdeutiger angelegt. 208 Valentina Di Rosa hat im Kontext der Analyse des Peter Hille-Buchs und des darin poetisierten literarischen Umfelds auf die Präsenz von Kulturzionisten hingewiesen und für Lasker-Schüler die Auseinandersetzung mit Gemeinschaftsvorstellungen Martin Bubers und Gustav Landauers im Umfeld der „Neuen Gemeinschaft“ untersucht, ohne diesen Bezug für die im Peter Hille-Buch erzählte Entwicklung einer Dichterin-Identität fruchtbar zu machen. Valentina Di Rosa: Diaspora und Identitätssuche, S. 29–94, bzw. 65–94. Dies.: Literarisches Duett, S. 189, 193.
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Mentor Petrus, und ist darüber hinaus wichtiger Bezugspunkt für das über die Figur Tino entworfene, orientalisierte Dichtungsmodell. III.4.1 Tinos „älterer Name“
Das Peter Hille-Buch ist zum einen die Hommage an den Mentor, zum anderen (re-)konstruiert es den Entwicklungsprozess der Erzählerin Tino und ihre Emanzipation als Dichterin. Für die Ablösung vom Mentor ist eine Begegnung mit den „Jerusalemitern“ zentral, die Tinos genealogische und poetische Zugehörigkeit zur jüdischen Tradition offenbart.209 Neben dem „Jehovavolk“ und den „Jerusalemitern“ ist auch Tino im Peter Hille-Buch indirekt als Jüdin zu erkennen, ohne einer der beiden Gruppen zugeordnet zu werden. Die Frage nach Tinos Herkunft, ihrem „älteren Namen“ (45 f.), dem „Rätsel“ ihres „Blutes“ (46) ist eng mit poetologischen Aspekten verbunden, denn Tinos (wiederzuentdeckende) jüdische Identität wird gleichzeitig als die Zugehörigkeit zu einer jüdischen Dichtungstradition gestaltet. Beide Aspekte – jüdische Identität und jüdische Literatur bzw. Poetologie – sind dabei nicht voneinander zu lösen und müssen in der Analyse verbunden betrachtet werden. Das Peter Hille-Buch beginnt zunächst mit der Szene „Petrus der Felsen“, die von der gegenseitigen210 Erwählung von Petrus und Tino erzählt. Tino ist aus der Stadt geflohen und hat jegliche Erinnerung an ihre Vergangenheit verloren: „die Nacht hatte meine Wege ausgelöscht, auch konnte ich mich nicht auf meinen Namen besinnen, heulende hungrige Norde hatten ihn zerrissen.“ (29) Vom Berg herab steigt Petrus, der sie ‚auserliest‘,211 ihr den neuen Namen „Tino“ gibt und den sie von nun an auf seiner Wanderschaft begleitet. Durch die Bezeichnung „auserlas“ (ebd.) wird schon zu Beginn die poetologische Ebene markiert. Der Verlust der Erinnerung stellt Tinos Identität radikal in Frage, gleichzeitig tritt sie in ein neues Deutungssystem ein. Fragen von Identität und Literatur sowie 209 Diese Szene wurde bisher nicht in die Interpretationen zu Tinos dichterischer Selbstwerdung einbezogen. 210 Doerte Bischoff hat gezeigt, dass hier strukturell ein Chiasmus vorliegt und beide Figuren erst im Text erschaffen werden, ohne eine vorhergehende Existenz zu haben, daher rein textuell zu verstehen seien. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung, S. 134–141. Petrus sei als sprechend ohne Körper, Tino als Körper ohne Sprache angelegt und beide dialogisch aufeinander verwiesen, so dass kein eindeutiges Mentor-Schülerin-Verhältnis und keine Identitäts- bzw. Emanzipationsgeschichte erzählt werde. Bischoff geht jedoch nicht auf die Verweise auf Tinos jüdische Herkunft ein, die auf etwas vor der Erwählung und Namensgebung durch Petrus hindeutet und damit den Text und das darin konstruierte Verhältnis zwischen Petrus und Tino unterhöhlt. 211 Die Anspielung auf die Tätigkeit des Lesens verweist auf die poetologische Ebene des Textes, in dem vor allem einen Metadiskurs über Dichtung geführt wird.
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Auserwählung und Auslegung sind von Anfang an auf das engste verbunden. Die heulenden Nordwinde weisen jedoch schon voraus auf den, im Laufe der Erzählung als unhintergehbare Differenz konturierten Kontrast zwischen nordischer, germanischer, christlicher (Petrus) und südlicher, orientalisierter jüdischer (Tino) Tradition. Trotz der von Tino benannten Auslöschung ihrer Erinnerung ist die Erzählung auffällig von Hinweisen auf Tinos Herkunft durchzogen, die sich als Zugehörigkeit zur jüdischen Tradition deuten lassen. Sie verweisen auf zeitgenössische, rassische/rassistische bzw. völkische Diskurse, wie sie u.a. der Kulturzionismus tradiert hat. So wird das Motiv des Blutes verwendet,212 z.B. wenn Petrus bei dem Besuch bei der Zauberin Hellmüte zu Tino sagt: „Vordunkel ist Dein Blut; die Zauberin mag nach Deinem älteren Namen sinnen“ (45) und die Zauberin tatsächlich „[e]inen Tropfen Blut meines [Tinos, Anm. B.M.K.] Herzens“ untersucht, der sich „klärt“ „wie ein Rätsel“ (46), jedoch ohne zunächst zu einem Ergebnis zu führen.213 Tinos Herkunft wird mehrfach durch Metaphern einer orientalisierten Fremdheit umschrieben, z.B. wenn Petrus auf die Frage: „‚Wer ist sie?‘“ antwortet: „‚Ja, das möchtest Du gerne wissen – gefunden habe ich sie – irgendein fremder, gebräunter Stern hat sie wohl aus der Hand fallen lassen‘“ (31). Wie schon für das Gedicht „‚Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt‘“ gezeigt, liegt hier der Verweis auf eine orientalisierte jüdische Identität vor, die als orientalisierte Fremdheit und mit Bezug auf die ebenfalls gebräunte, weibliche Protagonistin Sulamith des Hoheliedes und des Knaben David gestaltet wird.214 Beim Besuch einer Synagoge an Jom Kippur bleibt Tinos Zugehörigkeit zum dort so genannten „Jehovavolk“ jedoch unklar, da der Äußerung „Ehern und weich ist unser Tempel, süss und schwermütig seine Gesänge“ kein Sprecher/keine Sprecherin zugewiesen wird. Tino als Sprecherin anzunehmen liegt nahe, da Petrus antwortet und die „viele[n] Männer und Frauen und Kinder“, die den Berg zum „Jehovatempel“ hinaufsteigen, Petrus’ und Tinos Präsenz erst nach diesen beiden Aussagen gewahr werden. Darüber hinaus ist Petrus durch die Parallelszene „Petrus und der Nazarener“, in der Tino und Petrus eine Kirche besuchen, als Katholik bekannt,215 während ebenfalls deutlich wird, dass Tino nie zuvor eine katholische Kirche besucht hat: „ich sah zum ersten Male Männer aus Stein, die Petrus ähnelten […]“ (35). Daher ist ein Dialog zwischen Tino und Petrus anzu212 Vgl. Caspar Battegay: Das andere Blut. 213 Als Antwort können die Geschenke, die die Zauberin an Tino sendet, verstanden werden: „Sandalen aus Löwinnenhaut mit Silberschnallen.“ (47) Deren poetologischer Bezug wird in Kapitel III.4.5 genauer ausgeführt. 214 Zum Hohelied als Intertext des Peter Hille Buchs vgl. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung. 215 Als er das „Morgenläuten“ hört, standen „aus Petrus’ Palmensonntagaugen […] selige Erinnerungen auf“ (35).
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nehmen, in dem das Possessivpronomen „unser“ Tino als Angehörige des „Jehovavolkes“ und damit als Jüdin erkennbar werden lässt, diese Zuordnung aber gerade nicht explizit gemacht wird. Weitere Hinweise auf eine jüdische Herkunft sind, dass Tino gewisse Kenntnisse über die jüdische Tradition und die baulichen Besonderheiten des Tempels (der Synagoge) hat. So weiß sie, dass sich hinter dem Vorhang „Allerheiligstes“ (die Tora) verbirgt. Es ist allerdings Petrus, der sie in seiner Rolle als Dichter-Mentor auf die Form der hebräischen Schriftzeichen hinweist, die ihm wie Harfen oder gebogene Saiten erscheinen. In der Szene „Zwei grosse Engel tragen Petrus ins Tal“ wird der tote Petrus verhüllt auf einer Bahre an Tino vorbei getragen und sie zerreißt nach jüdischem (aber auch arabischem) Ritus ihr Gewand (63). Tino selbst bleibt gegenüber den Versuchen, ihre Vergangenheit zu ergründen, und bei der Begegnung mit jüdischen Orten oder Personen entsprechend der postulierten Auslöschung der Erinnerung an ihre Vergangenheit auffallend passiv. Vor der Auseinandersetzung mit den „Jerusalemitern“ gibt Tino nur einen einzigen Hinweis auf ihre Zugehörigkeit zur jüdischen Tradition, wenn sie das „alle tausend Jahre wieder aufkling[ende]“ „hohe Lied“ als poetologische Referenz benennt, die sie liebt (40). Die zweite, noch deutlichere Benennung ihrer poetologischen und genealogischen Zugehörigkeit zur jüdischen Tradition wird erst in der Szene „Petrus und ich in den Bergen VII“, die Tinos endgültige Ablösung bzw. Emanzipation von ihrem Mentor Petrus erzählt, indirekt vollzogen. Für diese Ablösung ist eine Begegnung mit den „Jerusalemitern“ bestimmend, so dass zunächst diese Bezeichnung dechiffriert und kontextualisiert werden soll. III.4.1 Die „Jerusalemiter“ als Kulturzionisten und jung-jüdische Dichter
„Die Jerusalemiter“ sind im Peter Hille-Buch eine Gruppe von „Juden“ (56), der Petrus und Tino mehrmals während ihrer Wanderschaft begegnen und die selbstverständlich, aber lose, mit dem Kreis um Petrus verbunden sind. So sind sie auf einem Fest Onit von Wetterwehes eingeladen, besuchen Petrus und Tino mit Geschenken und nehmen an Petrus’ Beerdigung teil. Mit einem poetologischen Fokus lässt sich zeigen, dass Lasker-Schüler die „Jerusalemiter“ als Referenz auf die Protagonisten der kulturzionistischen Bewegung und die Motivik jung-jüdischer Lyrik anlegt. Dass die Zuordnung als „Juden“ nicht synonym zu der Bezeichnung „Jerusalemiter“ zu setzen ist, zeigt eine Begegnung Petrus’ und Tinos mit einer anderen Gruppe von Juden in der Szene „Petrus und ich im Tempel Jehovas“.216 Diese 216 Gegen eine alleinige Definition der „Jerusalemiter“ als Juden lässt sich auch aus der Per spektive der chiffrierten „Realität“ argumentieren. Juden wie Samuel Lublinski oder Herwarth
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zweite Gruppe besteht aus „viele[n] Männer[n] und Frauen mit ihren Kindern“ (40), die am „Versöhnungstag“ ( Jom Kippur) im „Sternentempel“ beten und gerade nicht als „Jerusalemiter“, sondern als „Jehovavolk“ bezeichnet werden.217 Hier wird ein idealisiertes, primär religiös und familiär geprägtes Bild vom Judentum gezeichnet und die Szene ist durch eine von Lasker-Schüler mit dem Geist des Versöhnungstags218 assoziierte Harmonie geprägt. Der in der Bezeichnung „Jehovavolk[ ]“ anklingende jüdische Volksbegriff wird hier explizit religiös, nämlich im Sinne von Gottes Volk („Jehovavolk“), und nicht als nationaljüdische Definition im Sinne eines modernen jüdischen Nationalstaates oder überhaupt einer konkreten territorialen Verortung verwendet. Vielmehr wird durch die Bezeichnung der Synagoge als Tempel219 zwar auf die antike Tradition als jüdisches Volk im eigenen Land verwiesen, durch die Beschreibung der Gebete als „unendlich wie die Wellen der Flüsse Babylons“ (40)220 jedoch gleichzeitig die Existenz des „Jehovavolks“ in der Diaspora als ebenso elementar für das hier gestaltete Judentum genannt. Demgegenüber stehen die „Jerusalemiter“, die explizit als „Juden“ (56), aber auch als „Fremdlinge“ bezeichnet werden und denen von Tino prominent „Jerusalem“ als „ihre[ ] Heimat“ (56) zugeordnet wird. Die hier verkörperte Definition von Judentum wird somit explizit mit einem Heimat- und Diaspora-Diskurs verbunden. Die Bezeichnung „Jerusalemiter“ verweist dabei metonymisch auf das den Juden und Jüdinnen von Gott versprochene Land. Die Termini „ihre Heimat“ (durch Tino, 56) und das „verlorene Land ihrer Väter“ (durch die Jünglinge um
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Walden werden nicht den „Jerusalemitern“ zugeordnet und Tino selbst ist im Text als Jüdin erkennbar, wird aber trotz signifikanter poetologischer Parallelen letztendlich in Distanz zu den „Jerusalemitern“ gezeigt. Dabei fällt auf, dass im Judentum der Name Gottes nicht in dieser Weise ausgesprochen, sondern schriftlich durch die Konsonanten jhwh und mündlich durch die Aussprache „Adonai“ (Herr) ersetzt wird, so dass die Bezeichnung eine christlich perspektivierte Benennung darstellt und eine distanzierte Position betont. Dies gehört sicherlich in den Kontext der „vergessenen“ jüdischen Identität Tinos. Der höchste jüdische Feiertag Jom Kippur (der Versöhnungstag) nimmt eine zentrale Position in Lasker-Schülers Schreiben ein, vgl. u.a. das Gedicht „Versöhnung“, den Essay „Der Versöhnungstag“ und die Versöhnungsthematik in Das Hebräerland (1937). Im Kontext zeitgenössischer Denominationen wäre die Bezeichnung „Tempel“ dem Reformjudentum zuzuordnen und würde auf die Haltung deutscher Juden und Jüdinnen verweisen, ihre Synagogen explizit als Tempel zu bezeichnen, um die nationale Zugehörigkeit zu Deutschland zu betonen. Man wartete nicht mehr auf eine Rückkehr nach Jerusalem und den Wiederaufbau des Tempels, sondern die eigene Synagoge wurde als Tempel bezeichnet, der gerade am Main oder Rhein usw. stehen können sollte. Diese Stelle verweist auf den Psalm 137, dem in der jüdischen Literatur eine zentrale Rolle zukommt. Vgl. u.a. Alfred Bodenheimer: Zwischen Sehnsucht und Rückkehr. Exil und Eretz Israel – eine Geschichte in Texten. In: Juedischer Almanach 5758 (1998). Hrsg. v. Jakob Hessing u. Alfred Bodenheimer. Frankfurt/Main 1997, S. 126–136.
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Petrus, 56) beziehen sich auf die jüdische Eigenstaatlichkeit vor der Vertreibung in das babylonische Exil. Hier wird eine nationale Komponente jüdischer Selbstdefinition und Identität erkennbar, die eine Dechiffrierung als zionistisch orientierte Gruppe nahelegt. Auch die Reisen, die die „Jerusalemiter“ „in ihre[ ] Heimat“ unternehmen, könnten, sieht man sie nicht als imaginäre Reisen in der Literatur an, als realhistorischer Bezug auf die (Kultur-)Zionisten verweisen, die vermehrt solche Reisen unternommen haben. Die religiöse Komponente tritt hinter dem Aspekt der Heimat zurück, auch wenn die „Jerusalemiter“ an Petrus’ Grab beten, also nicht als a-religiös gezeigt werden. Die nationale Komponente klingt jedoch in der Bezeichnung „Jerusalemiter“ ebenfalls nur an und ist zu schwach ausgeprägt, um damit den politischen Zionismus oder das zionistische Unternehmen der Gründung eines jüdischen Natio nalstaats zu bezeichnen.221 Die Bezeichnung „Jerusalemiter“ verweist stärker auf den Topos der Jerusalemsehnsucht, der in der jüdischen Tradition seit der Zerstörung des Ersten Tempels eine zentrale Rolle einnimmt und für dessen Tradierung neben traditioneller Religiosität vor allem jüdische Dichtung relevant ist. So hebt die Beschreibung der „Jerusalemiter“ als mit „schwermütigen Lidern“ und „blassen Wangen“ eine sehnsüchtige poetische Qualität hervor. Durch die Homophonie von „Lidern“ mit dem Substantiv „Liedern“, die u.a. auf die Psalmen (hebr.: „Schir HaMaalot“: Stufenlied) verweist, wird eine explizit poetologische Komponente eingebracht. Die „Jerusalemiter“ sind entsprechend eng mit der Tätigkeit des Dichtens verbunden oder bilden generell eine Gruppe von Dichtern (57). Während bei der ersten Begegnung beim orientalischen Fest Onit von Wetterwehes noch unklar ist, ob nur einige der „Jerusalemiter“ Dichter sind [„Und von den Jerusalemitern traten einige zu uns heran; Onit liebte die dichtenden Söhne Zebaoths. Sie hatten blasse Wangen und schwermütige Lider […]“ (33)], nehmen in der Szene „Petrus und die Jerusalemiter“ alle „Jerusalemiter“ „ihre Harfen und spiel[ ]en darauf […]“ (57), so dass eine Übereinstimmung zwischen der Gruppe der „Jerusalemiter“ und den „dichtenden Söhnen Zebaoths“ angenommen werden kann. Lasker-Schüler gestaltet die „Jerusalemiter“ als Zionisten, die Dichter sind und ihre Ziele mit poetischen Mitteln verfolgen. Damit ist auch markiert, dass dies 221 Jerusalem oder das Gebiet des antiken jüdischen Staates selbst sind für den damaligen politischen Zionismus trotz der im Baseler Programm genannten ‚öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina‘ zunächst keine zentrale Kategorie. So sind unter den politischen Umständen immer wieder Ansiedlungspläne u.a. in Ostafrika („Ugandaplan“ nach dem Kischnew-Pogrom 1903) durchaus ernsthaft im Gespräch. Der Traditionsbezug war für Herzl und andere politische Zionisten nebensächlich gegenüber der notwendigen Rettung verfolgter osteuropäischer Juden und Jüdinnen, er wurde jedoch von den religiös orthodoxen und den ‚kulturellen‘ Zionist/innen verteidigt.
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die Dimension ist, die Lasker-Schüler am (kultur-)zionistischen Unternehmen vor allem interessiert. Durch die Bezeichnung als „die dichtenden Söhne Zebaoths“ wird deutlich, dass Lasker-Schüler hier das poetische Portrait jung-jüdischer Dichter gestaltet. Diese spielen auf ihren Harfen, womit auf die erste Sammlung jung-jüdischer Lyrik Junge Harfen (1903), herausgegeben von Berthold Feiwel, verwiesen wird. Der poetologische Kontext ist somit ein poetisch-musikalischer und verweist auf König David, der als erster jüdischer Dichter mit seiner Lyra die Psalmen gedichtet haben soll. Zebaoth ist einer der Name jhwhs („Gott der Himmlischen Heerscharen“), der zwischen einer kriegerischen und einer auf die Himmelerscheinungen bezogenen Deutung changiert.222 Die „dichtende Söhne Zebaoths“ können als zur Dichtung inspirierte ‚Kämpfer‘ in der Tradition des Dichters und Kämpfers König David223 gedeutet werden. Sie lassen sich dem Kulturzionismus zuordnen oder zumindest einer Sichtweise auf den Zionismus, die dessen poetisches Potenzial betont. Zweitens korrespondiert die Bezeichnung mit Lasker-Schülers Gedicht „Zebaoth“ (Der siebente Tag), das jhwh wenig kriegerisch als Jüngling und Geliebter im Rosekleide anspricht und dabei stark auf Motive der Jahrhundertwende im Kontext von Neoromantik und Jugendstil anspielt, die die frühe kulturzionistische und jung-jüdische Lyrik und Graphik (E. M. Lilien) geprägt haben:224 Gott ich liebe Dich in Deinem Rosenkleide, Wenn Du aus Deinen Gärten trittst, Zebaoth. […] Oh, Du Gottjüngling, Du Dichter, […]225
Die Bezeichnung der „Jerusalemiter“ als „die dichtenden Söhne Zebaoths“ evoziert also den Kontext von Jugendstil und Jugendkult der Jahrhundertwende und verbindet Dichtung und Jugend mit einem der Aspekte jhwhs in der jüdischen Tradition. Explizit werden die „Jerusalemiter“ als „dichtende Söhne Zebaoths (Hervorh. B.M.K.)“ bezeichnet. Hier besteht eine Parallele zu der genderexklusiven Haltung 222 Auffallend ist im Hebräischen auch die weibliche Endung. 223 Hier besteht eine Parallele zu Max Barbers Gedicht „Junge Harfen“ (1903). 224 Auf die motivischen Parallelen zwischen Liliens kulturzionistischen Illustrationen und Lasker-Schülers früher Lyrik hat Mark H. Gelber hingewiesen. Mark H. Gelber: Melancholy Pride, S. 203–220, hier S. 206, 215. 225 KA 1.1, S. 97.
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der jung-jüdischen Gruppierung, die mit der Selbstidentifikation der Beteiligten korrespondiert, wie sie u.a. in Feiwels Gedicht „Die Ersten“ oder „Wacht auf, ihr Schläfer in tiefer Nacht!“226 formuliert wird: „Das Volk der Juden ist erwacht / Und ruft nach seinen Söhnen.“ Dass Jerusalem so prominent für ihre Bezeichnung ist, lässt sich zuletzt auf die kulturzionistische Konzeption beziehen, die ausgehend von Achad Haam ein „geistiges Zentrum“ in Jerusalem zum Ziel hat. So reisen die „Jerusalemiter“ zwar in ihre „Heimat“, kehren aber offensichtlich wieder zurück und lassen sich nicht dauerhaft dort nieder. An dieser Stelle ist offen, ob sie eine tatsächliche oder imaginierte Reise unternehmen und ob die mitgebrachten Geschenke als Zeichen eines orientalisierten Settings, als Motive ihrer Gedichte oder als „reale“ Mitbringsel zu verstehen sind bzw. bewegt sich deren Bedeutung gerade zwischen diesen Polen. III.4.2 Die „göttliche List“ der „Jerusalemiter“ und die Ablösung Tinos von ihrem Mentor
In der Episode „Petrus und die Jerusalemiter“ wird ein Besuch der Gruppe bei Petrus und Tino beschrieben. Die „Jerusalemiter“ sind „wieder in ihrer Heimat“ (56) gewesen. Sie bringen orientalische Geschenke und Petrus redet „sonnige Worte mit ihnen“. Die idyllische Situation wird unterbrochen von den Jünglingen, die Petrus umgeben. Diese haben Angst, dass Petrus den „Wünsche[n] der Juden“ entsprechen könnte und ihnen voranzieht ins „verlorene Land ihrer Väter“. Petrus äußert sich daraufhin kritisch gegenüber jedem Heimatkonzept, das an einen konkreten territorialen Ort gebunden ist, indem er sagt: „Wer seine Heimat nicht in sich trägt, dem wächst sie doch unter den Füssen fort“ (56 f.). Er plädiert hier für ein Heimatkonzept, das unabhängig ist von einem Leben an einem bestimmten Ort und seinem Modell von Wanderschaft im Kontext der Bohème entspricht. Petrus kritisiert mit seiner Antwort indirekt das zionistische Projekt, einen jüdischen Staat zu schaffen, und auch die kulturzionistische Haltung, die ja ebenfalls auf ein territorial verortetes ‚geistiges Zentrum‘ in Jerusalem ausgerichtet ist. Das von Petrus vertretene Konzept einer Heimat, die man in sich trägt, lässt sich mit der traditionellen Sehnsucht nach Jerusalem nur partiell verbinden. Denn in der berühmten Formulierung von Heinrich Heine wird diese in Form eines Buches (der Tora) als „portatives Vaterland“ und weniger als Verkörperung des In-sich-Tragens von Heimat konstituiert. Problematisch ist Petrus’ Aussage außerdem, da er hier eine antijudaistische Haltung der christli226 Berthold Feiwel: Wacht auf, ihr Schläfer in tiefer Nacht! In: Ost und West, Jg. 1 (1901), H. 12, Sp. 911–912.
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chen Tradition aufruft, die die Juden und Jüdinnen zu einem Leben der ewigen Wanderschaft verurteilt sieht, wie sie in dem im christlichen Kontext entstanden Mythos des Ewigen Juden Ahasver verkörpert wird. Petrus’ Kritik lässt die „Jerusalemiter“ aber nicht verstummen. Stattdessen setzt „der jüngste der Fremdlinge“ Tino seinen Turban auf, worauf hin sich eine komplexe Szene abspielt: Aber der jüngste der Fremdlinge setzte mir seinen Turban auf und eine Trauer kam über mein Leben, wie die Schwermutwolke über den Goldhimmel, und meine Hände sehnten sich, mit Sternen zu spielen. „Sieh, Deiner Freundin Augen stehen gen Osten,“ riefen die Jerusalemiter. Und Petrus schwankte, aber seine Lieblinge lachten über ihre göttliche List – und nahmen heimlich ihre Harfen und spielten Misstöne statt der Lieder lieblicher Zebaothländer. Und Petrus schalt sie. Und wir beide zogen auf die Berge und sassen auf den Gipfeln, wie auf dem Buckel grosser Dromedare. Sein Bart wehte – eine Königsfahne. Und in der Ferne sahen wir die Jünglinge trotzigen Hauptes heimwärts ziehen, ihnen zur Rechten und Linken gingen die Dichter mit den Turbanen, ihre Gebärden erzählten von Wundern. (Hervorh. B.M.K) (57)
Tinos emotionale Reaktion auf das Aufsetzen des Turbans ist sehr stark. Sie wird überwältigt von Trauer und Schwermut und ihre Hände sehnen sich danach, „mit Sternen zu spielen“ (57). Die „Jerusalemiter“ deuten diese Reaktion mit den Worten: „Sieh, Deiner Freundin Augen stehen gen Osten“ (57). Der Terminus „Osten“ steht hier metonymisch für Jerusalem und verweist auf die jüdische Tradition, in der europäischen Diaspora Richtung Osten, also Jerusalem, zu beten, wo sich mit der Westmauer die Überreste des jüdischen Tempels befinden. Dabei sind Parallelen zu Lasker-Schülers Gedicht „Mein Volk“ (1905) zu erkennen, dort heißt es: „Und immer noch der Widerhall / In mir, / Wenn schauerlich gen Ost / Mein Volk, / Zu Gott schreit.“227 Die für Tino beschriebene Reaktion kann als innerer „Widerhall“ verstanden werden und es liegt ebenfalls der Bezug auf die traditionelle Gebetsrichtung gen Jerusalem vor.228 Die „Jerusalemiter“ zeigen mit ihrem Handeln Tinos ‚innere‘ Verbindung zu ihrer Gruppe auf, denn sie spürt einen sehnenden und poetischen Bezug zu Jerusalem. Hessing weist darauf hin, dass diese Deutung und Zuordnung nur aus der Perspektive der „Jerusalemiter“ erfolgt und deutet die beschriebene Veränderung Tinos, die er biographisch mit Lasker-Schüler gleichsetzt, als Reaktion auf den an sie formulierten Anspruch: 227 KA 1.1, S. 96 f. 228 Durch das Adjektiv „schauerlich“ und das Verb „schreien“ entsteht allerdings ein negativerer Eindruck des Bezugs zur jüdischen Tradition, als die im Peter Hille-Buch erwähnte „Trauer“ und Sehnsucht „mit Sternen zu spielen“.
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Ob ihre Augen in dieser Szene wirklich gen Osten stehen, ist schwer zu sagen; das behaupten nur die Jerusalemiter. Wie eine Schwermutwolke legt sich ihr Anspruch an Else Lasker-Schüler über den Goldhimmel ihrer erdichteten Erlösung, und sie flieht vor ihm auf die Berge […].229
Dieser Interpretation sind vier Argumente entgegenzuhalten, die zeigen, dass Tinos Reaktion keineswegs als eindeutig ablehnende gestaltet ist, die auf einen als unangemessen empfundenen, kulturzionistischen Anspruch an sie selbst und ihre Dichtung reagiere. Vielmehr wird eine ambivalente Reaktion zwischen melancholischer Trauer und schöpferischer Sehnsucht beschrieben und somit auf eine poetische Nähe zu den jung-jüdischen Dichtern verwiesen, der dennoch im Folgenden eine eigene poetologische Position entgegengesetzt wird. Erstens korrespondieren die Merkmale von Tinos Reaktion auf das Aufsetzen des Turbans mit der zuvor gegebenen Beschreibung der „dichtenden Söhne Zebaoths“. Diese haben „schwermütige Lider“, womit ihre Sehnsucht nach Jerusalem metaphorisiert wird, die Tino nun ebenso empfindet. Des Weiteren sehnen sich Tinos Hände ‚mit Sternen zu spielen‘, während die „Jerusalemiter“ in Gesten (also mit ihren Händen) von Wundern erzählen. Auch werden später Tinos Vorfahren dem Zeichen Davids (das entweder der Davidstern oder die Harfe sein kann) zugeordnet, so dass ein Spielen mit den Sternen als Spielen mit dem Erbe der jüdischen Tradition und dem Auserwählungstopos in einer messianischen und schöpfungsgeschichtlichen Dimension interpretierbar ist. Es wird also deutlich eine innere Verbindung zwischen Tino und den „Jerusalemitern“ gestaltet. Zweitens wird das Handeln der „Jerusalemiter“ von Tino nicht als unangemessen und eigenmächtig bezeichnet, sondern als „göttliche List“. Es handelt sich um eine göttlich inspirierte Aktion und nicht um einen ungerechtfertigten Anspruch. Sie korrespondiert mit den für Lasker-Schülers Poetologie wichtigen Kategorien des Spiels und des göttlich inspirierten und legitimierten Amts als Dichter/in. Die „List“ der „Jerusalemiter“ wirkt wie ein Spiel, das sehr ernste Konsequenzen hat, da es eine göttliche Autorität ‚ins Spiel bringt‘, die über Petrus’ Autorität hinaus weist. Drittens sind in der inhaltlichen und syntaktischen Struktur der Handlung Parallelen zu der Szene „Petrus im Mai“ festzustellen, in der Tino sich zum ersten Mal mit einer Ablösung von Petrus noch verneinend auseinandersetzt und 229 Jakob Hessing: Else Lasker-Schüler, S. 80. Hessing vertritt 2011 unverändert eine biographisierende Lesart und geht davon aus, dass Lasker-Schüler das tatsächliche „Erlebnis“ eines „mythologische[n] Ereignis[ses]“ beschreibe. Vgl.: Jakob Hessing: Durch Peter Hille neugeboren. In: „Jeder Vers ein Leopardenbiss.“ 9. Almanach aus Anlass des 20jährigen Bestehens der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft. Hrsg. v. Hajo Jahn. Wuppertal 2011, S. 23–25, hier S. 24 (Else-Lasker-Schüler-Almanach; 9).
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ebenfalls zum ersten Mal ihren Bezug zur jüdischen Tradition mit einer ähnlich starken emotionalen Reaktion benennt: Und auf einmal war ich ihm weit vorausgegangen – er stand mitten auf der Wiese und dichtete. „Ich werde mich nie von ihm trennen,“ sagte ich laut zum hellen Himmel, aber er hörte es garnicht in seinem Lenzübermut. (44)
Dort nennt Tino „das hohe Lied, das alle tausend Jahre wieder aufklingt“ (44) als die ihr wichtige poetologische Referenz und die adressierten Jünglinge verspotten sie dafür: Und dann setzten wir uns alle nebeneinander auf das frische Grün, und sie drangen unbändig in mich, zu gestehen, wen ich von ihnen am liebsten hätte – und ich zeigte der Reihe nach auf jeden von ihnen. „Euer Leben spielt in Tönen vor mir hin und ich liebe Euer Lied, wie das hohe Lied, das alle tausend Jahre wieder aufklingt.“ Und die Jünglinge riefen: „Sie hat zu viel von den grünen Lüften getrunken,“ – aber ich war tief bewegt, und um meine Rührung zu verbergen, sprach ich salbungsvoll wie ein Prediger. Und hinter dem Zaun stand Petrus und lachte und schwang seinen Riesenbleistift über unsere Köpfe! „Eine Quelle ist Eure Freundin, die nicht mündet, eine Quelle, die aufsteigt und Euch plötzlich überströmt.“ (Hervorh. B.M.K.) (44)
Auch hier löst ein unvermittelter Bezug auf die jüdische Tradition eine „tief bewegt[e]“ Reaktion in Tino aus. Der Abwehr durch die Jünglinge wird eine Aussage entgegengestellt, die mit „aber“ einsetzt. Die Jünglinge verspotten Tino, „aber“ sie ist tief bewegt. In der Szene „Petrus und die Jerusalemiter“ weist Petrus den Wunsch der „Jerusalemiter“ zurück, aber der jüngste der Fremdlinge setzt Tino seinen Turban auf und offenbart ihren Bezug zur jüdischen Tradition. Der Abwehr eines Hinweises auf die Anbindung an die jüdische Tradition wird eine tiefere Verbindung entgegengesetzt, die nicht zu überwinden ist. Sie wird als weitgehend unbewusste vor allem emotional wahrgenommen und nur indirekt benannt und bildet im Peter Hille-Buch einen Subtext, der die Petrus-MentorErzählung unterläuft. Petrus’ ‚Auserlesen‘ und Benennen Tinos, die ihre Dichterin-Werdung und Das Peter Hille-Buch konstituieren, sind eine andere Erwählung230 und Benennung vorausgegangen, nämlich die als Jüdin durch jhwh, die Tino und ihr dichterisches Schaffen potenziell der jüdischen Tradition zuordnet. Es ist diese vorhergehende Erwählung, die es Tino ermöglicht, über den poetischen Auftrag des Mentors „Du wirst meinem Andenken einen Thron bereiten“ 230 Doerte Bischoff verweist auf die Ambivalenz von Erwählung und des Sich-Aussetzens sowie strukturelle Parallelen einer impliziten Ethik bei Lasker-Schüler zu Überlegungen Emmanuel Lévinas’. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung, S. 148.
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(50) hinauszugehen und gerade in der Erfüllung des Gebots – Tino tritt als Autorin des Peter Hille-Buchs auf – eine eigenständige poetologische Position zu entwickeln. Zuletzt markiert Petrus’ Reaktion des Schwankens ebenfalls deutlich, dass es sich um eine tatsächliche Parallele zwischen Tino und den jung-jüdischen Dichtern handelt. Bisher als Felsen apostrophiert, wird seine Autorität, die Schutz und Orientierung gewährt, sein Auserlesen und seine Namensgebung durch die Zugehörigkeit Tinos zur jüdischen Tradition in Frage gestellt. Um sein Schwanken zu verstehen, muss beachtet werden, dass Petrus zuvor in der Episode „Petrus und der Mond“ selbst als Heimat bezeichnet wurde: „Und es war mir offenbar: eine wandernde Landschaft ist er, die ersehnte Heimat der Jubelnden“ (31). Bis hierhin war Petrus Tinos ‚wandernde‘ Heimat, doch jetzt wird ihre Verbindung zu einer anderen, vorgängigen ‚Heimat‘ aufgezeigt, die noch dazu mit ihrem Blut, ihrem früheren Namen, ihrer religiösen Identität, ihren poetologischen Vorstellungen und ihrer Sehnsucht verbunden ist. Dass Petrus schwankt, erzählt Tino, also gerät er zumindest für sie selbst als bisher zentrale Autorität ins Wanken. Dem entspricht der inhaltliche Fortgang der Erzählung, denn Petrus wird von dem unmittelbar folgenden Rückzug in die Berge nicht mehr lebend zurückkehren. Obwohl Tino Petrus hier ein letztes Mal loyal folgt, bleibt die mit dem Turban assoziierte orientalisierte Wahrnehmung im Text präsent, wenn sie die Gipfel als „Buckel grosser Dromedare“ (57) beschreibt. Tinos weiterbestehende Faszination für die „Jerusalemiter“ und deren Poesie wird deutlich in ihrer Beobachtung der von dannen ziehenden Gruppe: „ihnen [den Jünglingen um Petrus, Anm. B.M.K.] zur Rechten und Linken gingen die Dichter mit den Turbanen, ihre Gebärden erzählten von Wundern.“ (57) Die Begegnung mit den „Jerusalemitern“ ist der Auslöser für das von Tino vollzogene poetische und genealogische Bekenntnis zu ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Tradition und für die anschließende noch vor Petrus’ Tod vollzogene, als traumatisch erlebte Ablösung. Der Bruch ist durch die folgenden sechs Szenen „Petrus und ich in den Bergen II–VII“ markiert, die nicht zuletzt auf Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra anspielen. Die „göttliche List“ der „Jerusalemiter“ wird zum Auslöser für den Rückzug der beiden Hauptfiguren in den Raum ihrer ersten Begegnung,231 sozusagen den Ursprungsort ihrer gegenseitigen ‚Auserlesung‘ und poetischen Benennung.
231 Eine Szene I fehlt, so dass die Eingangsepisode „Petrus der Felsen“, die ja ebenfalls von der Begegnung Tinos und Petrus in den Bergen erzählt, rückblickend als diese Szene I erkennbar wird.
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Dass die Begegnung mit den „Jerusalemitern“ das Verhältnis der beiden Hauptfiguren grundlegend verändert und erschüttert hat, wird zum einen dadurch betont, dass sich Tino zum ersten Mal selbst zu ihrer Herkunft äußert, indem sie angibt, die „Vorfahren“ ihrer Mutter hätten im „Zeichen Davids“ gestanden (60). Diese ist durch die Erwähnung des Davidsterns/Davidschilds und durch die Betonung der Weitergabe des Erbes über die Mutter, das auf die über die Mutter weitergegebene Zugehörigkeit zum Judentum verweist, als jüdische erkennbar. Petrus antwortet mit der Vorstellung einer gemeinsamen literarischen Vision, die zu einem Moment der symbiotischen Verbindung von Petrus und Tino führt: „Manchmal dünkt es mich“, sagte Petrus, „Du hast dieselben Augen meines tiefsten Traumes.“ Auf seinem Herzen stand er geschrieben mit den Sternenlettern meiner Mutter. […] Und sein Blick versank in Tausendtiefen. Harte Falten umhüllten seinen Leib und er war nur Gestalt und kein Körper mehr. Ich hatte ihn schon einmal so gesehen in meiner ersten Blüte Blut, ihn nur gefühlt unter lauschendem Herzschlag zwischen zärtlicher Nacht von seidiger Haut umwebt. Und ich fürchtete mich, er war ein Zauberer und ich stürzte die Berge herab, mir voraus mein Herz, über die Wiesen und Hecken, und ein Turm war mein Kopf, ich konnte mich nicht wiederfinden -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Es war im Spätsommer 1903, als mich die Furcht vom Erdältesten vertrieb.“ (60 f.)
Die Entkörperung Petrus’ geht einher mit einer Erinnerung Tinos, ihn in einem als embryonal umschriebenen Zustand schon einmal so gesehen zu haben. Diese imaginierte symbiotische Verbindung auf einer so frühen Entwicklungsstufe, die mit den Adjektiven ‚lauschend‘, ‚zärtlich‘ und ‚seidig‘ als geborgen konnotiert ist,232 erzeugt in Tino Angst, die zur endgültigen Ablösung von Petrus führt. Sie vollzieht sie als überstürzte Flucht, die als Ich-Verlust erlebt wird. Schon die durch die Querstriche markierte Leerstelle im Text deutet den traumatischen Charakter an, ebenso das Symbol des Turms, das in Lasker-Schülers Texten an
232 Vgl. hier auch Valentina Di Rosa: Literarisches Duett, die ebenfalls von einer traumatischen, mit einem Ich-Verlust bzw. einer Spaltung verbundenen Ablösung ausgeht und hier die „pränatale Symbiose im Mutterleib eindeutig suggerier[t]“ sieht, S. 203. Über weitere Parallelstellen in Lasker-Schülers Werk kann sie zeigen, dass „der Abschied vom sterbenden Meister das Urtrauma des [symbolischen] Mutterverlustes [erneuert]“, S. 203–206. Iris Hermanns Interpretation, diese Szene beruhe auf einem sexuellen Erlebnis zwischen Tino und Petrus, scheint mir nicht überzeugend. Vielmehr ist die Kenntnis zeitgenössischer psychoanalytischer Theoriebildung vorauszusetzten. Iris Hermann: Raum – Körper – Schrift. Mythopoetische Verfahrensweisen in der Prosa Else Lasker-Schülers. Paderborn 1997, S. 126 f., hier S. 127.
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anderer Stelle mit dem befürchteten Verlust der Mutter und antisemitischer Bedrohung verbunden verwendet wird.233 Petrus’ Imagination einer gemeinsamen literarischen Vision ist in diesem Kontext ein mindestens ambivalentes Angebot. Dadurch, dass sich diese symbio tische Vision gerade ereignet, nachdem Tino ihre genealogische und poetische Zugehörigkeit zur jüdischen Tradition benannt, also eine unhintergehbare Differenz zu dem Katholiken Petrus artikuliert hat, kann diese Szene als Kritik an einem universalistischen christlichen Verständnis interpretiert werden. Die gemeinsame literarische Vision mag Überschneidungen haben (wie Zwillinge in einem embryonalen Stadium bzw. ein Embryo im Mutterleib), die jüdische Position ist dennoch eine der aufrechterhaltenen Differenz, und die gemeinsame Vision erst zu erreichen, wenn diese Position von christlicher Seite tatsächlich in ihrer Differenz erfasst und respektiert werden kann.234 Es ist das Beharren auf einer poetologischen und identitären Differenz, die Tinos Position als eigenständige Dichterin prägt. Bei Petrus’ Beerdigung steht sie fern vom Grab [„Ich aber stand fern vom Grabe.“ (65)] und ebenfalls nicht bei der Gruppe der „Jerusalemiter“, die am Grab beten. Diese Szene zeigt auch, dass die doppelte Konzeption des Peter Hille-Buchs als Andenken an den Mentor und als eigene poetologische Positionierung auf einer Konzeption von Literatur basiert, die aus der Erfahrung eines Verlustes bzw. einer Vertreibung („als mich die Furcht vom Erdältesten vertrieb“, 61) entsteht. So ersetzt Das Peter Hille-Buch in gewisser Weise den verlorenen Mentor und bildet in der eigenen poetischen Vision „die Centrale, die ich mir aufbaute“,235 wie Lasker-Schüler in einem Brief aus der Entstehungszeit formuliert. Hier lässt sich strukturell eine weitere Parallele des Peter Hille-Buchs zum Dichtungsmodell ausmachen, das in Lasker-Schülers Darstellung der „Jerusalemiter“ verkörpert ist. Auch deren Dichtung entsteht aus einem Zustand der Vertreibung und aus einer Sehnsucht, in diesem Fall nach Jerusalem, die poetisches Potenzial erzeugt. Mit der empfundenen Trauer ist ein schöpferischer, in eine 233 So in Lasker-Schülers Erzählung „Der letzte Schultag“. Hinweise auf die psychoanalytische Theoriebildung lassen sich im Peter Hille-Buch mehrfach erkennen, so der vergessene ältere Name Tinos und die Darstellung der traumatischen Ablösung als Wiederholung des Mutterverlustes. Eine systematische Untersuchung zu den Bezügen Lasker-Schülers auf die zeitgenössische psychoanalytische Theoriebildung steht noch aus, sie sind in jedem Fall offensichtlich gegeben. Erste Ansätze bei Thomas Höfert (2002, 2009) und zu Sigmund Freuds kulturtheoretischen Arbeiten bei Sabine Graf (2009). 234 Das Motiv christlicher ‚Übergriffigkeit‘ und Fragen der christlichen Toleranz gegenüber jüdischer Differenz beschäftigen Lasker-Schüler erneut in Der Wunderrabbiner von Barcelona (1921) und dem Drama Arthur Aronymus und seine Väter (1932), hier mit noch deutlicherer psychoanalytischer Konnotation. Vgl. zu letzterem Thomas Höfert: Signaturen kritischer Intellektualität. Else Lasker-Schülers Schauspiel „Arthur Aronymus“. St. Ingbert 2002. 235 Else Lasker-Schüler an Salomo Friedlaender, 16. Februar 1905, KA 6, S. 67.
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messianisch-erlösende Richtung weisender Impuls, „mit Sternen zu spielen“, verbunden (57). Dieses Spielen wird von Lasker-Schüler primär in einer zwar aktiven und schöpferischen Rolle gegenüber jhwh, aber kaum territorial, sondern vor allem in der Literatur und einem dialogischen Sehnsuchtsdiskurs verortet. Der existentielle Verlust ist allenfalls in Literatur zu ersetzen oder (in einem psychoanalytischen Sinne) zu kompensieren. III.4.3 „Der älteste der Jerusalemiter“: Intertextuelle Verweise auf Heinrich Heine und Martin Buber
Lasker-Schülers Gestaltung der „Jerusalemiter“ zielt also auf deren poetologisches Potenzial. Auch die Bezeichnung des „älteste[n] der Jerusalemiter“ als Ben Ali Brom ist vor allem poetologisch von Bedeutung, wobei im Kontext der systematischen Überschreitung der Grenze von Leben und Literatur im Peter Hille-Buch der Bezug auf eine realhistorische Person in die Analyse einbezogen werden kann. Der bisher unternommene Dechiffrierungsversuch als Otto Brahm überzeugt in den hier vorgestellten Zusammenhängen nicht, da kein zionistisches oder kulturzionistisches Engagement des jüdischen Direktors des Deutschen Theaters bekannt ist.236 Vielmehr kann der Name Ben Ali Brom als eine Verdichtung der motivischen Ausrichtung kulturzionistischer und jung-jüdischer Lyrik auf eine orientalisierte Poetologie deutsch-jüdischer Literatur interpretiert werden. Er verweist zunächst auf Heinrich Heines Gedicht „Ali Bey“ (1839)237 und hebt dabei die durch weitere intertextuelle Verweise markierte Verbindung der kulturzionistischen Poetik mit Heines Werk hervor.
236 Auf Grund der Zuordnung Onit von Wetterwehes als Gerhard Hauptmann schlägt Markus Hallensleben dessen Freund, den jüdischen Direktor des Deutschen Theaters Otto Brahm als Ben Ali Brom vor, da dieser im Peter Hille-Buch als Freund Onit von Wetterwehes fungiert. Vgl. Markus Hallensleben: Avantgardismus und Kunstinszenierung. Da Hallensleben nicht mit den im Text genannten Merkmalen argumentiert, wird diese Zuordnung und generell die Dechiffrierung als Gerhard Hauptmann in der Forschung kritisch gesehen. So Ricarda Dick (KA 3.2, 69 f.). Valentina Di Rosa: Diaspora und Identitätssuche, S. 121, schlägt alternativ Julius Hart als einen der Gründer der „Neuen Gemeinschaft“ vor. Hier ist vor allem noch nicht ausreichend berücksichtigt, dass Onit ein Anagramm des Namens Tino ist. Am 2.7.1902 unterzeichnet Lasker-Schüler einen Brief an Elsa Asenijeff mit „Prinz Onit“ (KA 3.2, 69). 237 Wie auch schon Theodor Herzl, der den arabischen Protagonisten in Altneuland Raschid Bey nennt.
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Außerdem weist Das Peter Hille-Buch motivische und strukturelle Parallelen zu frühen lyrischen Arbeiten Martin Bubers auf,238 der sich intensiv mit MeisterJünger-Verhältnissen im Kontext der jüdischen Tradition auseinandergesetzt hat. Da Buber aus realhistorischen Gründen ebenfalls eine naheliegende Anführerfigur für die Gruppe der „Jerusalemiter“ und „dichtenden Söhne Zebaoths“ ist, könnte es sich um eine partielle Chiffrierung Bubers handeln.239 Als Sprecher der „Demokratischen Fraktion“ und Mitbegründer des Jüdischen Verlags240 ist er Vertreter einer Generation jung-jüdischer Autor(/innen), hat selbst literarische Ambitionen und veröffentlicht literarische Beiträge. Darüber hinaus verkehrt er wie Hille und Lasker-Schüler in der relevanten Zeitspanne nachweislich in den Kreisen der „Neuen Gemeinschaft“. Lasker-Schüler und Hille haben im Gegenzug die kulturzionistischen Bemühungen durchaus wahrgenommen und jeweils einmalig in Ost und West publiziert.241 Letztendlich sind aber die poetologischen Implikationen der Namenswahl, die Lasker-Schülers Sicht auf eine kulturzionistische und jung-jüdische Poetik verdichtet, der interessantere Punkt. Der Name „Ben Ali Brom“ ist zusammengesetzt aus dem hebräischen Wort „Ben“ für Sohn und wird orientalisiert durch den Vornamen Ali, der aus europäischer Sicht als ‚typischer‘ arabischer Name gelten kann242 und literarisch durch 238 Vgl. hier auch Doerte Bischoff, die auf Bezüge zu Bubers Geschichte des Rabbi Nachman (1906) und seiner Darstellung des Zaddiks aufmerksam macht, vgl. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung, S. 163 f. 239 Diese These formuliert Di Rosa in einer Fußnote als Frage: „Ben Ali Brom = Martin Buber?“ und beantwortet sie verneinend. Valentina Di Rosa: Diaspora und Identitätssuche, S. 130, FN 36. Ihre Interpretation beruht dabei auf dem Missverständnis einer Szene, in der Tinos Verwandte ihren Sohn „Klein-Pull“ sehen wollen und die sich biographisch auf LaskerSchülers erste Scheidung und ihren außerehelichen Sohn Paul beziehen lässt. Die Zeile „und ich erkannte unter ihnen Jene, die sich dünkten mit mir verwandt zu sein“ (KA 3.1, 37) bezieht sich nicht auf die „Jerusalemiter“, denn die Reaktion der Verwandten [„Und als ich mich also weigerte, wurden sie jähzornig und bewarfen meinen Scham“ (37)] passt nicht zu dem generell als wohlwollend gestalteten Verhältnis zwischen Petrus, Tino und den „Jerusalemitern“. 240 Buber ist u.a. auf dem 5. Zionisten-Kongress (1901) mit seinem Referat „Über jüdische Kunst“ als Sprecher der „Demokratischen Fraktion“ hervorgetreten. Er publiziert in der ersten Ausgabe von Ost und West (1901) den Essay „Juedische Renaissance“, gründet prominent den Jüdischen Verlag mit und ist Mitherausgeber des Juedischen Almanachs. 241 Else Lasker-Schüler: Das Lied des Gesalbten und Sulamith. In: Ost und West, Jg. 1 ( Juni 1901), H. 6, Sp. 457 f. Peter Hille: Hirtenliebe. Biblische Szene. In: Ost und West, Jg. 1 (August 1901), H. 8, Sp. 611–618. 242 Ali ist ein typischer arabisch-muslimischer Name und bedeutet der „Erhabene“, der „Edle“. Er ist einer der 99 Namen Allahs und geht in seiner Verwendung als Name für einen Menschen auf Ali ibn Abu Talib zurück, den Cousin und Schwiegersohn Mohammeds. Darüber hinaus besteht eine Verbindung zum hebräischen Namen Eli („mein Gott“).
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die Geschichte „Ali Baba und die vierzig Räuber“ aus den Geschichten aus tausendundeiner Nacht243 tradiert ist. Der Nachname Brom ist eine Abwandlung des hebräischen Abram, des ursprünglichen Namens von Abraham vor seiner Umbenennung durch jhwh zum „Vater einer Menge von Völkern“ (Bereschit/Genesis 17,5).244 Durch den Aspekt der Orientalisierung,245 die Verwendung des Vornamens Ali und eines Nachnamens mit der Bedeutung ‚erhaben‘ und ‚Vater‘ verweist Lasker-Schüler auf das Gedicht „Ali Bey“246 (1839) von Heinrich Heine. Der Name des porträtierten muslimischen Herrschers bedeutet ähnlich wie Abram bzw. Abraham „erhabener Stammesführer“. Heine bewegt sich im Gedicht durchaus ironisch zwischen den Stereotypen eines erotischen und grausamen Orients, wenn er den Herrscher direkt aus einer Haremsszene in den durch die erotische Erinnerung verklärten, dennoch brutalen Kampf gegen die Franken schickt: Und der Held besteigt sein Schlachtroß, Fliegt zum Kampf, doch wie im Traume; Denn ihm ist zu Sinn, als läg er Immer noch in Mädchenarmen. Während er die Frankenköpfe Dutzendweis heruntersäbelt, Lächelt er wie ein Verliebter, Ja, er lächelt sanft und zärtlich.247
243 Auf die Geschichten aus tausendundeiner Nacht wird im Peter Hille-Buch mit Tinos Verkleidung als Scheherazade auf dem orientalisierten Fest Onit von Wetterwehes hingewiesen. 244 Diese Deutung scheint sinnvoller als der Name des chemischen Elements Brom (griech.: Bocksgestank). Abram bedeutet „der Vater ist erhaben“ und betont die Gottesfürchtigkeit des jungen Abram, der jhwhs Aufruf folgt und seine Familie und deren religiöse Tradition verlässt (Bereschit/Genesis 12–16). 245 Hier wird der Begriff der Orientalisierung verwendet, um anzuzeigen, dass es sich bei Lasker-Schülers poetologischem Verfahren um den reflektierten und kalkulierten Einsatz entsprechender ‚Elemente‘ handelt. Die Arbeiten von Sylke Kirschnick (2007) und Markus Hallensleben (2000) haben anschaulich gezeigt, dass Lasker-Schülers „Orient“ ein Zeichensystem, eine Kulisse und Staffage ist, die mit zeitgenössischer Populärkultur interagiert, und nicht, wie in der älteren Forschung vertreten, eine Phantasiewelt zur Flucht vor der Realität (weiterhin u.a. bei Di Rosa 2006a). 246 Bey ist ein Herrschertitel im Osmanischen Reich, der z.T. bis ins 20. Jh. im Gebrauch ist, so dass der Name „Ali Bey“: „hoher/erhabener Stammesführer/Vater“ bedeutet. 247 Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. v. Manfred Windfuhr. Bd. 2: Neue Gedichte. Bearb. v. Elisabeth Genton. Hamburg 1983, S. 87.
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Lasker-Schüler gestaltet mit der Wahl des Namens Ben Ali Brom die „Jerusalemiter“ als jüdisch-orientalische Nachfolger der von Heine entworfenen deutsch-jüdischen Poetik, wie ihre Betonung des genealogischen Aspekts zeigt.248 Der „älteste“ der „Jerusalemiter“ und die „dichtenden Söhne Zebaoths“ werden in Lasker-Schülers Sicht poetisch als die judaisierten Söhne dieses „Ali Bey“ dargestellt, die in der Nachfolge König Davids ebenfalls poetische und im Kontext der Lebensreformbewegung und des Jugendstils sinnliche sowie kämpferische Aspekte in einem orientalisierten Kontext verbinden. In dieser Sichtweise verwirklichen sie ein ähnliches poetisches Potenzial wie der von Heine entworfene muslimische Herrscher, weichen jedoch auch signifikant von dessen Darstellung ab, da sie eine schwermütige, sehnsüchtig-liebende statt einer offen erotischen und gewalttätigen Komponente verkörpern. Sie sind die „dichtenden Söhne Zebaoths“, also in der Nachfolge König Davids poetische Kämpfer zwischen Liebesdiskurs und jhwh. Entsprechend werden die jung-jüdischen Dichter im Peter Hille-Buch als „die Dichter mit den Turbanen“ bezeichnet und die „Jerusalemiter“ insgesamt mit orientalisierten Attributen im Kontext von Jugendstil und Neoromantik ausgestattet, so die Geschenke, die sie aus „ihrer Heimat“ mitbringen: „Feierkleider und seidene Tücher, geschnitzte Kästchen und Schmuck aus Cedernholz und verzuckerte rote Rosen und andere Näschereien.“ (56) Wobei die Rosen auf die Jugendstilästhetik verweisen und das Zedernholz auf die häufige Erwähnung des Motivs der Zeder im Libanon, das aus dem Hohelied und den Psalmen stammt, in jung-jüdischer Lyrik. Lasker-Schüler zeigt die „Jerusalemiter“ als poetische Nachfolger von Heinrich Heine und der von ihm vorgenommenen Verbindung orientalisierter und jüdischer Versatzstücke.249 Dabei schließt sie an die Bedeutung Heines für die jung-jüdische Literatur und die Bemühung um jüdische Vorbilder im Rahmen der „Jüdischen Renaissance“ an.250 Lasker-Schüler bezieht sich auf das von den Kulturzionist/innen z.T. schon um 1900 als schöpferische jüdische Qualität tradierte Modell eines orientalisierten Judentums, das von Buber noch 1916 in 248 Auf die Bedeutung von Heinrich Heine für Lasker-Schülers Poetologie hat zuerst hingewiesen: Itta Shedletzky: Bacherach und Barcelona. On Else Lasker-Schüler’s Relation to Heinrich Heine. In: The Jewish Reception of Heinrich Heine. Hrsg. v. Mark H. Gelber. Tübingen 1992, S. 113–126. Zu Heines grundlegender Verortung seiner Poetik in der jüdischen Tradition vgl. Bernd Witte: Jüdische Tradition und literarische Moderne, S. 90. 249 Vgl. dazu u.a.: Hans-Jürgen Schrader: Fichtenbaums Palmentraum. Ein Heine-Gedicht als Chiffre deutsch-jüdischer Identitätssuche. In: The Jewish Self-Portrait in European and American Literature. Edited by Hans-Jürgen Schrader, Elliot M. Simon, Charlotte Wardi. Tübingen 1996 (Conditio Judaica; Bd. 15), S. 5–44. 250 Wie der Band The Jewish Reception of Heinrich Heine, hrgs. v. Mark H. Gelber (1992) zeigt, hat Heine sowohl die politisch zionistische Führung (Herzl und Nordau) als auch die jungjüdische sowie die neuhebräische Literatur zwischen 1880 und 1910 und die jiddische Literatur beeinflusst.
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der vierten Rede zum Judentum „Der Geist des Orients und das Judentum“ weiter ausgeführt wird.251 Darauf, dass Lasker-Schüler die „Jerusalemiter“ in die Nachfolge von Heinrich Heine stellt, verweist deren Harfenspiel. Hier klingt zunächst ein Bezug auf den Psalm 137252 an, den Tino während des Jom-Kippur-Gottesdienstes zitiert: „Bei den Wassern Babels saßen wir und weinten“ (40). Dieser Psalm über die Problematik der ersten jüdischen Dichter im Exil253 referiert ebenfalls auf das Harfenspiel derselben. Er wurde u.a. von Heinrich Heine mit Referenz auf den mittelalterlichen Dichter Jehuda Halevi im Gedicht „Jehuda ben Halevy“ in den „Hebräischen Melodien“, dem dritten Buch des Zyklus Romanzero bearbeitet: Bei den Wassern Babels saßen Wir und weinten, unsre Harfen Lehnten an den Trauerweiden – Kennst du noch das alte Lied? (...) Lange schon, jahrtausendlange Kochts in mir. Ein dunkles Wehe!254
Lasker-Schüler bezieht sich auf Heine auch insofern, als dass sie die „Jerusalemiter“ explizit mit dem Sehsinn verbindet, 255 der in einem traditionellen 251 Buber spricht 1902 in seinem Artikel „Ein geistiges Zentrum“ von einer ererbten und mit dem Klima und Boden Palästinas verbundenen „orientalischen Eigenschaft“ von Juden und Jüdinnen (MBW 3, 159 f.). Die berühmte Formulierung, das „Judentum [war] der Apostel des Orients vor der Menschheit“ (MBW 3, 237) findet sich erst in der zweiten „Rede zum Judentum“ von 1910. Explizit entfaltet Buber das Konzept in der vierten Rede: „Der Geist des Orients und das Judentum“ (1916). Auch Hans Kohns Beitrag erscheint erst 1913: Hans Kohn: „Der Geist des Orients“. In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Hrsg. v. Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag. Leipzig 1913, S. 9–18, ebenso Jakob Wassermann: Der Jude als Orientale. Ebd., S. 5–8. Der Artikel von Davis Trietsch: Der Juedische Orient. In: Juedischer Almanach 5663, S. 253–258, behandelt kaum kulturelle oder poetische Aspekte. 252 Psalm 137,1: „Bei den Wassern Babels saßen wir und weinten bei unserm Gedenken an Zion.“ 253 Zur Beziehung von Gesang und Exil im Psalm 137: Alfred Bodenheimer: Zwischen Sehnsucht und Rückkehr. Exil und Eretz Israel – eine Geschichte in Texten. In: Jakob Hessing und Alfred Bodenheimer (Hg.): Jüdischer Almanach 5758, S. 126–137. (Neudruck in Jakob Hessing (Hg.): Israel: Geschichte in Texten. Frankfurt/Main 1998, S. 11–22.) Sowie Alfred Bodenheimer: Ungebrochen gebrochen, S. 41–46. 254 Die „Hebräischen Melodien“ bilden den dritten Teil des Romanzero (1851). 255 In Heines Poetik spielt die Augenmetaphorik, u.a. in dem Erzählfragment Der Rabbi von Bacherach (1840), eine zentrale Rolle. Vgl. zu Heines Poetik hier: Norbert Altenhofer: Die
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philosophischen Diskurs dem Hellenentum und dem Abendland zugeordnet ist, während dem Judentum der Hörsinn (u.a. über das zentrale Gebet „Schma Jisrael“ – „Höre Israel, ich bin dein Gott“) zugeordnet wird. So in der ersten Beschreibung der „Jerusalemiter“: „Sie hatten blasse Wangen und schwermütige Lider und der älteste mit den tröstenden Augen nannte sich Ben Ali Brom“ (33), und erneut für Ben Ali Brom, der als „der Jerusalemiter mit den tröstenden Augen“ (40) bezeichnet wird. Auch sind es gerade Tinos „Augen“, die als nach Osten stehend beschrieben werden (57) und ihre Zugehörigkeit zur jüdischen Tradition offenbaren. Außerdem erzählen die „Dichter mit den Turbanen“ Tinos visueller Wahrnehmung nach in Gebärden von Wundern, also in durch den Sehsinn wahrnehmbaren Zeichen. Lasker-Schüler entwirft im Peter Hille-Buch das Konzept eines schöpferischen Judentums, indem sie die Dichotomie von Sehsinn und Hörsinn mit der vereindeutigenden Zuordnung Hellenentum und Judentum unterläuft.256 Sie ordnet den „Jerusalemitern“ und Tino explizit beide Sinne zu: den Sehsinn durch das Motiv der Augen257 und den Hörsinn durch das Harfenspiel in der Nachfolge König Davids. So werden die hebräischen Buchstaben von Petrus zwar mit dem Sehsinn erfasst, verweisen mit ihrem Schriftbild aber gerade über den Hörsinn auf die jüdische Dichtungstradition, da sie wie Harfen oder Elemente von Saiteninstrumenten erscheinen: „‚Wundervoll ist die Gestalt dieser alten Sprache, wie Harfen stehen die Schriftzeichen und etliche sind gebogen aus feinen Saiten.‘“ (40) Gerade Heine hat im Gedicht „Jehuda ben Halevy“ die Gleichwertigkeit der jüdischen Tradition und Literatur mit dem hellenistischen erzählerischen Erbe betont.258 Die Erzählung vom Kästchen in orientalischem Ambiente, in das das lyrische Ich bei Heine die Gedichte Halevis statt der Epen Homers legt, klingt in den „geschnitzte[n] Kästchen und Schmuck aus Cedernholz“ (56) unter den verlorene Augensprache. Über Heinrich Heine. Hrsg. v. Volker Bohn. Frankfurt/Main, Leipzig 1993. 256 Auch Martin Buber hat die Bedeutung des Sehsinns für die Erneuerung des Judentums betont: „Und überdies war es [im Ghetto, Anm. B.M.K.] eine Sünde, zu schauen. Wir aber wissen, daß es Sünde ist, nicht zu schauen […] und daß groß das Erkennen ist, welches sieht.“ Martin Buber: Was ist zu tun? Einige Bemerkungen zu den „Antworten der Jugend“. In: Ders.: Die jüdische Bewegung. Gesammelte Aufsätze und Reden. Köln 1963, S. 122–137, hier S. 136 f. 257 Diese Betonung einer Verbindung von Judentum und Sehsinn findet sich bei LaskerSchüler auch in der Erzählung Der Wunderrabbiner von Barcelona (1921), in der die andere Leserichtung des Hebräischen von rechts nach links in einem antisemitischen Kontext thematisiert, dabei aber mit ‚dem Wesen des Judentums‘ in Verbindung gebracht wird. 258 Vgl. Norbert Oellers: Heines „Hebräische Melodien“. In: Das Jerusalemer Heine-Symposium. Gedächtnis, Mythos, Modernität. Hrsg. v. Klaus Briegleb u. Itta Shedletzky. Hamburg 2001, S. 36–48.
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Geschenken der „Jerusalemiter“ an. Ebenso erinnert die Homophonie von „schwermütigen Lidern“ und schwermütigen Liedern an Heines berühmte Gedichtsammlung Das Buch der Lieder und korrespondiert mit der vor allem lyrischen Produktion der jung-jüdischen Dichter. So könnte Heine selbst der „älteste der Jerusalemiter“ sein, aber über Heines berühmtes Gedicht vermittelt auch Jehuda Halevi. Zentral ist, dass der Name „Ben Ali Brom“ als Verdichtung bestimmter poetologischer Merkmale fungiert, die sowohl mit der jung-jüdischen Poetik als auch auffallend mit der für Tino entworfenen Poetologie korrespondieren: ( Jerusalem-)Sehnsucht, Orientalisierung, Bezug auf Heinrich Heine und Lieder in der Tradition König Davids. Nun lassen sich darüber hinaus und neben den oben genannten biographischen Bezügen motivische und poetologische Parallelen des Peter Hille-Buchs zu Martin Bubers literarischem und publizistischem Frühwerk feststellen. Zunächst ist der Name Ben Ali Brom explizit eine Selbstbezeichnung des „ältesten Jerusalemiters“: „und der älteste mit den tröstenden Augen nannte sich Ben Ali Brom (Hervorh. B.M.K.)“ (33) und lässt sich mit Buber verbinden, da dieser in seinen Arbeiten für Die Welt ein Pseudonym mit der Bezeichnung Ben verwendet hat. Er unterzeichnete einige seiner Artikel mit Baruch ben Nerijahu.259 Buber stilisiert sich hier zum Nachkommen von Baruch Nerijahu, des Schreibers und Gefährten des Propheten Jeremia, der in der mündlichen Überlieferung als Priester und Prophet gilt (MBW 3, 83). Hier liegt strukturell eine ähnliche ambivalente Position zwischen der Rolle als Schreiber und Begleiter eines Propheten und der eigenen Übernahme der prophetischen Rolle vor, wie sie auch für das Verhältnis von Tino und Petrus im Peter Hille-Buch bestimmend ist (vgl. Kapitel III.4.5). Zweitens verwendet Buber eine Namensbezeichnung mit Ben in einem Gedicht aus seinem „Cyclus ‚Elischa Ben Abuja, genannt Acher‘“, das er in der ersten Sammlung jung-jüdischer Lyrik Junge Harfen (1903) publiziert hat.260 Im Gedicht „Zwei Tänze“ wird ähnlich der Konstruktion des Peter Hille-Buches ein MeisterSchüler-Gespräch zwischen dem später der Lehre abtrünnigen Rabbiner und seinen Schülern beschrieben.261 Dabei parallelisiert Buber hellenistische und jüdisch-chassidische Traditionen eines unmittelbaren Gotterlebens in ähnlicher Weise, wie Lasker-Schüler im Peter Hille-Buch christlich-katholische und jüdische Traditionen gegenüberstellt und mit der Petrus-Figur germanische und griechisch259 Baruch ben Nerijahu [Martin Buber]: „Zwei Sprüche vom Juden-Mai.“ In: Die Welt, Jg. 5 (17. Mai 1901), H. 20, S. 9–10. Später erneut verkürzt als Baruch. 260 Berthold Feiwel (Hg.): Junge Harfen. S. 32 f. Wie in Kapitel III.1 und III.3 gezeigt werden konnte, bezieht sich Lasker-Schüler mehrfach auf Gedichte aus dieser Publikation, so dass eine Kenntnis derselben angenommen werden kann. 261 Im Text finden sich auffällig Striche als Pausen: „- - - - - - - - - - - -“, wie sie auch an der entscheidenden Stelle der Ablösung Tinos von ihrem Mentor gesetzt sind und den erlebten Ichverlust bei der Trennung dokumentieren (vgl. Kapitel III.4.3).
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dionysische Aspekte einbindet. In beiden Texten geht es zentral um die Weitergabe eines spezifischen Traditionsaspekts, der nicht der Hauptüberlieferung entspricht. Buber stellt die scheinbar authentisch jüdische, am Erlebnis jhwhs orientierte Tradition des Chassidismus dem starren Festhalten an den Geboten, wie er es im traditionellen Judentum findet, gegenüber. Lasker-Schüler entwickelt in Auseinandersetzung mit der Poetik des Bohème-Autors Peter Hille eine avantgardistische Poetologie, die sich gegen bürgerliche und konservative Literaturmodelle wendet. Buber hat außerdem im Juedischen Almanach 5663 das Gedicht „Der Juenger“ aus dem Zyklus „Geist der Herr“262 veröffentlicht, welches das Ende einer Wanderung mit einem Meister in nietzscheanischen Motiven beschreibt. Die Ablösung des „Juengers“ findet wie für Tino in den Bergen statt, ist allerdings mit klassischen Inspirationstopoi gestaltet („felsig[er]“ Weg, „Blitz“ und „Bergesfeuer“) und nicht als traumatische Flucht. Die bei Buber für den „Juenger“263 gewählte Beschreibung als „blass“ und mit „grosse[r] Sehnsucht“ ähnelt der der „Jerusalemiter“ durch Tino. Ein Bezug zwischen der starken Orientalisierung der „Jerusalemiter“ und Ben Ali Broms könnte außerdem über Bubers Sammlung Ekstatische Konfessionen264 bestehen, die u.a. Texte ‚orientalischer‘ Mystiker enthält. Buber hat sie schon 1903 dem Verleger Diederichs angeboten, also zur Zeit seiner Assoziation zur „Neuen Gemeinschaft“ an ihr gearbeitet. Bemerkenswert ist, dass beide Gedichte von Buber explizit die Position des Andersseins (Acher – der Andere, der abtrünnige Rabbiner) und, wie der Meister in „Der Juenger“ rät: des „[s]ein Eigen sein[s]“, thematisieren. Hier ist ein deutlicher Kontrast zwischen dem eher konservativ agierenden literarischen Programmpolitiker Buber und dem innovativeren Autoren festzustellen. Die vom jungen Buber formulierte poetologische und weltanschauliche Position, die er im Kontext seiner Überlegungen zu einer notwendigen Selbstfindung als Jude/Jüdin und seiner Distanzierung vom offiziellen politischen Zionismus entwickelt, ähnelt der von Lasker-Schüler in der Beerdigungsepisode markierten Position Tinos, die Petrus und den „Jerusalemitern“ gegenüber als distanziert gestaltet ist. Gleiches gilt für die in Lasker-Schülers Gedicht „Mein Volk“ artikulierte poetologische Position einer nötigen Abgrenzung des jüdischen Dichters/der jüdischen Dichterin, der/die in der prophetischen Rolle spricht, vom jüdischen Volk. Die Gestaltung der Figur Ben Ali Brom lässt durch ihre Bezüge auf Heine, Buber und die jung-jüdische Lyrik das gleiche poetologische Verfahren erkennen, das Lasker-Schüler schon für die Figur Petrus durch die Verbindung real-historischer, poetisierter und intertextueller Referenzen unternimmt. Das Porträt der 262 Juedischer Almanach 5663, S. 168. 263 Ebd. 264 Martin Buber: Ekstatische Konfessionen. Jena: Diederichs 1909.
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„Jerusalemiter“ ist zusammengesetzt aus real-historischen Bezügen auf den Kulturzionismus und die jung-jüdischen Dichter, einer Auseinandersetzung mit deren lyrischen und theoretischen Texten, besonders solchen mit poetologischem Gehalt, sowie auf Heinrich Heine als Wegbereiter einer sich nun in anderer Form realisierenden (jüdischen) Moderne und somit wichtige Referenz der „Jüdischen Renaissance“. Nachdem die Relevanz der Begegnung mit den „Jerusalemitern“ für die Wiederentdeckung von Tinos jüdischer ‚Identität‘ und literarischer Zugehörigkeit zur jüdischen Tradition gezeigt worden ist, sind nun die Parallelen und Abgrenzungen ihres im Peter Hille-Buch formulierten poetologischen Entwurfs zum kulturzionistischen Entwurf der „Jerusalemiter“ zu zeigen. III.4.4 Tino und die „Jerusalemiter“: Orientalisierte Poetologie und schöpferische jüdische Dichtung
Das Peter Hille-Buch ist als Metatext über Dichtung und die von Lasker-Schüler in ihrem Frühwerk entwickelte Poetologie lesbar. Auf der poetologischen Ebene findet eine Auseinandersetzung mit signifikanten Intertexten, wie dem Hohelied, Peter Hilles Werken, kulturzionistischer Lyrik und Essayistik, Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra sowie Heinrich Heines Werk statt, um auf deren Basis die Grundzüge von Lasker-Schülers eigener Poetologie zu entwickeln. Dies betrifft zum einen ihr überdeterminiertes intertextuelles Schreibverfahren, das neben motivischen Bezügen die Struktur der Intertexte aufnimmt und poetologisch fruchtbar macht. Zum anderen wird gerade in den Episoden mit den „Jerusalemitern“ konsequent eine in der jüdischen Tradition und der deutsch-jüdischen Literatur situierte jüdische Dichtungskonzeption erarbeitet. Diese steht der Poetik der „Jerusalemiter“ auffällig nahe, wird aber aus einer konsequent weiblichen Genealogie und, im poetischen Dialog mit dem Katholiken Petrus, unter avantgardistischen, Identitätsgrenzen überschreitenden Vorzeichen entwickelt. Wie in Kapitel III.4.2 gezeigt, lässt Tino im Peter Hille-Buch ein ambivalentes Verhältnis zu den „Jerusalemitern“ erkennen, das sich aufspannt zwischen einer deutlichen Nähe und Faszination bei gleichzeitiger äußerlicher Distanzierung. Diese Doppelung betrifft ebenso die poetologischen Parallelen und Abgrenzungen. Dabei werden Fragen der jüdischen Identität, die als Zugehörigkeit zur jüdischen Tradition markiert ist, eng mit den Fragen der Poetologie verbunden, und sind ebenfalls dem Projekt der Verbindung von Literatur und Leben zuordnen. Es lassen sich vier wesentliche Punkte nennen, in denen sich die von LaskerSchüler über Tino entworfene Poetologie von derjenigen der „Jerusalemiter“
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unterscheidet. Erstens: die Frage der Heimat als einer national bzw. territorial definierten, zweitens: die explizit über die Mutter abgeleitete jüdische Genealogie von Tinos Schreiben verbunden mit der konzeptuellen Überschreitung von Geschlechtergrenzen, die eine explizit weibliche bis androgyne Dichter/innenPosition gegenüber einer Konzeption der „dichtenden Söhne Zebaoths“ entwirft, drittens: die stärkere Betonung der sephardischen Dichtungstradition, während die kulturzionistischen Positionen zeitweise die osteuropäische jüdische Tradition bzw. die Verschmelzung beider Richtungen im Begriff des Ostens fruchtbar machen, und viertens: die metatextuelle und avantgardistische Konzeption von Lasker-Schülers Poetologie. Tino äußert Kritik an der Poetik der „Jerusalemiter“, kurz bevor sie sich mit Petrus gegen sie solidarisiert und in die Berge zurückzieht: „und sie nahmen heimlich ihre Harfen und spielten darauf Misstöne statt der Lieder lieblicher Zebaothländer. Und Petrus schalt sie. Und wir zogen auf die Berge […]“ (57). Diese Szene ist in der Forschung mehrfach als Enttäuschung an der zionistischen bzw. im hier entwickelten Kontext kulturzionistischen Lyrik bzw. als Ablehnung derselben interpretiert worden.265 Tatsächlich bringt die Rede von den „Lieder[n] lieblicher Zebaothländer“ eine nationale Komponente ein, die die Episode, in der es um Fragen der Heimat geht, implizit begleitet.266 Der Begriff „Zebaothländer“ verweist signifikant auf mehrere Länder des von Lasker-Schüler als Dichter porträtierten jüdischen Gottes und widerspricht einem nationalstaatlichen Konzept. Die gespielten Misstöne könnten also jüdischnationalistische Lieder und damit Lyrik bezeichnen, ähnlich der von Ludwig Strauß als „Hurrahlyrik“ bezeichneten Gedichte,267 die in Kapitel II als ein Ausdruck kulturzionistischer Lyrikproduktion untersucht wurden. Lasker-Schüler favorisiert hier deutlich ein diasporisches, jedoch sehnsüchtig auf Jerusalem ausgerichtetes und sich im Kontext der jüdischen Tradition bewegendes Dichtungsmodell, das jüdische Dichtung in mehreren Ländern oder Nationalstaaten verortet und keine reale territoriale Verortung anstrebt. Entsprechend wird bei Lasker-Schüler der „Ort“ der Heimat mit Petrus’ Worten ‚in sich‘ situiert, also in der Imagination, aber abweichend von Petrus durch Tino gleichzeitig im Buch. Dabei ist zu beachten, dass bei aller impliziten Kritik an einem nationalstaatlichen Konzept oder nationalistischer Lyrik die Szene einen spielerischen Charakter hat. Die „Jerusalemiter“ scheinen Petrus absichtlich zu provozieren, so dass diese Lieder nicht grundsätzlich ihre poetische Produktion charakterisieren: 265 Vgl. Alfred Bodenheimer: Else Lasker-Schüler, S. 376. 266 Tino hat zu Beginn Jerusalem als die Heimat der „Jerusalemiter“ bezeichnet, die anderen Jünglinge um Petrus befürchten, ihr Meister könne den „Juden“ voranziehen „ins verlorene Land ihrer Väter“. 267 Ludwig Strauß: Für Else Lasker-Schüler. In: Die Freistatt, Jg. 1 (1913), H. 1, S. 69.
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Aber der jüngste der Fremdlinge setzte mir seinen Turban auf und eine Trauer kam über mein Leben, wie die Schwermutwolke über den Goldhimmel, und meine Hände sehnten sich, mit Sternen zu spielen. „Sieh, Deiner Freundin Augen stehen gen Osten,“ riefen die Jerusalemiter. Und Petrus schwankte, aber seine Lieblinge lachten über ihre göttliche List – und nahmen heimlich ihre Harfen und spielten Misstöne statt der Lieder lieblicher Zebaothländer. Und Petrus schalt sie. Und wir beide zogen auf die Berge und sassen auf den Gipfeln, wie auf dem Buckel grosser Dromedare. Sein Bart wehte – eine Königsfahne. Und in der Ferne sahen wir die Jünglinge [um Petrus, Anm. B.M.K.] trotzigen Hauptes heimwärts ziehen, ihnen zur Rechten und Linken gingen die Dichter mit den Turbanen, ihre Gebärden erzählten von Wundern. (Hervorh. B.M.K.) (57)
Die „Jerusalemiter“ benehmen sich wie aufmüpfige oder rebellierende Kinder gegenüber Petrus’ Autorität und Tinos poetische Faszination bleibt trotz der „Misstöne“ am Ende der Szene bestehen. Vielmehr korrespondiert der spielerische Ansatz mit Tinos eigenen poetologischen Sehnsüchten und Vorstellungen und sicherlich auch mit dem Erbe Heinrich Heines.268 Dem von Petrus verkörperten traditionell männlich konnotierten Dichtungsverständnis setzt Tino eine Poetik des freien Spielens entgegen: Und er [Petrus, Anm. B.M.K.] nahm seinen Stift und aus seiner Manteltasche die grosse weisse Papierrolle und dichtete, aber ich [Tino, Anm. B.M.K.] blickte über die weiten, grünen Schosse der Wiesen auf zu den Vögeln. Wie silberne Wirbelwinde kreisten sie durch die Lüfte – wer so spielen könnte! (47)
Wichtig ist, dass es sich um eine „göttliche List“ handelt und somit auf ein Wirken jhwhs durch das Handeln der „Jerusalemiter“ angespielt wird. Zeitgenössisch ließe sich hier eine Entgegnung zum Vorwurf von Seiten der Orthodoxie an den Zionismus sehen, dieser setzte menschliches Handeln anstelle des göttlichen Weltenplans. Lasker-Schüler betont die Inspiration der „Jerusalemiter“ durch jhwh und gestaltet hier eine von kabbalistischen Vorstellungen beeinflusste Haltung, die für den Kulturzionismus zentral ist und von der Notwendigkeit menschlichen Handelns zur Vollendung der göttlichen Schöpfung ausgeht (vgl. Kapitel IV).269 268 Hier sei auf Lasker-Schülers Gedicht „Im Anfang“ verwiesen, in dem das lyrische Ich in der Nachfolge von Heines ‚Schlemihltum‘ im Himmel Gott und Teufel respektlos, aber geliebt ärgert. 269 Eine systematische Untersuchung von Lasker-Schülers Rezeption der zeitgenössisch so präsenten und z.T. populärwissenschaftlich aufgearbeiteten Lehre der Kabbala steht noch aus. Bisher ging die Forschung von einer Beschäftigung erst in den 1920er Jahren aus, vor allem nach dem Tod ihres Sohnes, verschiedentlich wurde auf frühere Bezüge hingewiesen, die mit den gnostischen Konzepten der Lebensreformgemeinschaften verbunden sind. Zu
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Außerdem ist hier eine Parallele zu der u.a. von Herbert Uerlings (2003) beobachteten Struktur in Lasker-Schülers Frühwerk zu sehen, in der eine junge weibliche Figur zusammen mit einem jungen Geliebten oder hier mit mehreren „Jünglingen“ eine väterliche, patriarchale Autorität in Frage stellt oder stürzt.270 Jedoch ist dieser Befund im Einzelnen zu differenzieren, da z.B. die Ablösung von Petrus zwar mit Hilfe der „Jerusalemiter“, aber in weiter bestehender Loyalität und wertschätzender Überschreitung erfolgt und das Verhältnis generell mehrdeutiger als ein traditionelles Meister-Jünger(/in)-Verhältnis gestaltet ist (vgl. Kapitel III.4.5). Des Weiteren führt Lasker-Schüler im Unterschied zur kulturzionistischen bzw. jung-jüdischen Poetik der „Söhne“ für Tino prominent die Figur der Mutter als zentralen poetischen Ursprung ein. Dies geschieht im Kontext von „Träumen und Märchen“ (60), die Petrus ihr von der „Goldmutter“ erzählt, um sie vor seinem sich schon ankündigenden Weggang „auf eine[n] anderen Stern“ (60) zu trösten. Die Benennung ihrer jüdischen Identität erfolgt indirekt, wenn Tino angibt, „Vorfahren“ ihrer Mutter hätten im „Zeichen Davids“ gestanden (60): Und dann fragte er mich: „Was wirst Du tun, wenn ich auf einem andern Stern wandle?“ Und als Petrus sah, wie traurig ich wurde, senkte er den Kopf und erzählte mir Träume und Märchen aus den Städten der Goldmutter. […] Am liebsten hörte ich von der Lagunenstadt, der Lieblingsstadt meiner Mutter, dann stiegen Wohlgerüche auf, die mich einwiegten. Schon ihre Vorfahren mit dem Zeichen Davids waren die Gäste der Dogen gewesen. (Hervorh. B.M.K.) (60)
Dabei ist eine doppelte Deutung der Bezeichnung „im Zeichen Davids“ möglich, der als jüdischer König und jüdischer Dichter ja selbst in einer doppelten Rolle erinnert wird. Das „Zeichen Davids“ als eine Art Familienwappen ist erstens interpretierbar als allgemeiner Verweis auf den „Magen David“, den Davidstern oder das Davidschild, als modernes Symbol für das Judentum und damit als metaphorische Benennung der Vorfahren der Mutter als Juden und Jüdinnen. Zweitens kann das Zeichen Davids auf die Harfe König Davids verweisen und somit auf die Weitergabe seiner poetischen Gabe, also auf ein poetisches Verwandtschaftsverhältnis anspielen. Gemeint ist sicherlich gerade das produktive Spannungsverhältnis aus beiden Aspekten, das exemplarisch die Genealogie einer jüdischen Dichtkunst beschwört. Die Anspielung auf König David eröffnet darüber hinaus messianische Anklänge, da nach jüdischer Tradikabbalistischen Bezügen im Peter Hille-Buch vgl. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung, S. 164 f. und 198–204. 270 So zu finden in mehreren der orientalisierten Erzählungen in Die Nächte Tino von Bagdads und Der Prinz von Theben. Herbert Uerlings: Ethnizität und Geschlecht, S. 7.
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tion der Messias aus dem Geschlecht Davids erwartet wird. Die Formulierung: „Schon ihre Vorfahren mit dem Zeichen Davids […]“ (60) deutet somit auch eine messianische Genealogie an, die bis zu Tino selbst reicht und knüpft damit an eine ‚jüdische Tradition‘ an, den eigenen Stammbaum bis zu König David zurückzuverfolgen.271 Lasker-Schüler entwirft für Tino eine explizit über die Mutter tradierte poetische jüdische Genealogie, die sie mit der sephardischen Poesie und der Tradition des Hoheliedes als Liebesdichtung verbindet. Dass die Figur der Mutter explizit als wichtigstes Glied dieser Genealogie genannt wird, gewinnt an Bedeutung durch die rabbinische Tradition, die bestimmt, dass die Weitergabe des Judentums über die Mutter stattfindet. Somit werden genealogische Zugehörigkeit und poetisches Erbe miteinander verschränkt. Eine Verortung in einem explizit weiblichen Kontext findet sich erneut bei Petrus’ Beerdigung, bei der Tinos eigenständige Position durch ihr Abseitsstehen vom Grab und den „Jerusalemitern“ markiert wird. Bezeichnenderweise ist Tino jedoch in einem explizit weiblichen Kontext verortet: Ich hatte die Augen tief geschlossen, aber Rabas Hand fühlte ich auf der meinen und Najades warmen Atem. Und Hellmüte die Zauberin hielt mich umschlugen und forschte bang in meinen Zügen. (65)
Tino wird von einer Gruppe von Frauen getröstet, die dem engeren Kreis um Petrus angehörten. Die wichtige Rolle der Figur der Mutter für die dichterische Begabung Tinos und ihr Selbstverständnis als jüdische Dichterin wird durch die hohe poetologische Aufladung der Szene „Petrus und ich in den Bergen VII“, die zuletzt zur Ablösung vom Mentor führt, betont. So weist die Gattungsreferenz „Märchen und Träume“272 auf eine poetologische Ebene und Venedig wird als stark poetisch und literarisch konnotierter ‚Raum‘ als „Lieblingsstadt“ der Mutter bezeichnet. Tino wird somit einer sephardischen Tradition zugeordnet, die einem orientalisch definierten Judentum nahesteht.273 271 Berühmt hierfür ist der mittelalterliche Rabbiner und Kommentator des Tanach Raschi. Entsprechende Verweise wurden bis in die Moderne gepflegt. 272 Interessanter Weise lässt sich ein Bezug zu den beiden zentralen Begriffe in Theodor Herzls „Nachwort des Verfassers“ in Altneuland (1902) feststellen. 273 Die Bezeichnung sephardisch wird für die Nachkommen der 1492 aus Spanien und 1496 aus Portugal vertriebenen Juden und Jüdinnen verwendet. Im Zuge dieser Vertreibung kam eine große Anzahl von Juden und Jüdinnen nach Venedig, sind also „die Gäste der Dogen gewesen“ (60), womit indirekt auf die immer von der jeweiligen Regierungsmacht abhängende Ansiedlungsberechtigung angespielt wird. Sie wurden mit dem Begriff „Levante“ (ital.: Sonnenaufgang) bezeichnet, der im Sinne von Osten gebraucht wird und für die Länder des
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Venedig, symbolisch durch das orientalische Stadtbild mit den Topoi des Orients sowie dem Irrealen, literarisch Imaginativen, aber auch Unheimlichen verbunden,274 beschreibt dabei ein durchaus ambivalentes mütterliches Erbe, das symbolisch zwischen Liebe und Gefährdung, Schönheit und Tod angesiedelt ist, das Lasker-Schüler mit dem Verfahren der Literarisierung von Elementen ihrer Biographie mehrfach gestaltet hat.275 Die Bezeichnung der Mutter als „schön“ verweist auf das Wissen um die symbolischen Grundlagen dieser ‚Verortung‘. Lasker-Schüler bezieht sich hier mit einer selbst gewählten Verschiebung nach Venedig auf die sephardische Dichtungstradition. Sie stellt sich in die Nachfolge Heinrich Heines, der mit dem Gedicht „Jehuda ben Halevy“ die spanisch-jüdischen Dichter Jehuda Halevi, Moses Iben Esra und Solomon Iben Gabirol in das jüdische kulturelle Gedächtnis zurückgeholt hat,276 während die Kulturzionisten und jung-jüdischen Dichter sowohl Vorstellungen eines orientalischen Judentums (Trietsch, Buber) als auch verstärkt die osteuropäische277 und damit aschkenasische Tradition als Inspirationsquelle für ihre Dichtungen entdeckten.278
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östlichen Mittelmeeres steht, also auch für das Gebiet von ‚Eretz Israel‘. Im 19. Jahrhundert wird die Bezeichnung Levantiner außerdem für eine gemischt europäisch-orientalische Herkunft verwendet. Vgl. Artikel: Venice. In: Encyclopedia Judaica. Vol. 16. Jerusalem 1971, Sp. 94–102. Hier schließt die von Lasker-Schüler über König David und die Mutter konstruierte poetische jüdische Identität an. Vgl. Susanne Gramatzki: Venedig. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 462–464. Lasker-Schüler bekräftigt den so entworfenen poetischen Bezug der Figur der Mutter zum literarischen Imaginationsraum Venedig erneut, wenn sie im ersten Gedichtband der Gesammelten Werke bei Cassirer dem zweiten Teil den Titel: „Immer blickt meine schöne Mutter auf Venedig“ gibt. Die erste deutsche Ausgabe von Halevis Gedichten erscheint erst in den 1920er Jahren, übersetzt von Franz Rosenzweig, vgl. Kapitel III.2.2, Anmerkung 126. So enthalten auch der Juedische Almanach 5663 und Junge Harfen (1903) z.T. aus dem Jiddischen übertragene Gedichte osteuropäischer Autoren, wie Mathias Acher (Nathan Birnbaum), J. L. Perez, S. Frug, Chaim Nachman Bialik oder die Lieder des Ghettos des in die USA emigrierten Dichters Morris Rosenfeld. Außerdem kommen die ersten Impulse für eine „Jüdische Renaissance“ mit der prominenten Figur Achad Haam, wie gezeigt, aus dem osteuropäischen Judentum. Ab 1904 wendet Buber sich dem osteuropäischen Chassidismus zu. Vielen deutsch-jüdischen Autoren wird das Ostjudentum nach der direkten Begegnung im Ersten Weltkrieg zur Inspirationsquelle. Man erwartete aus dem scheinbar authentischen jüdischen Leben dort wichtige Impulse für eine Erneuerung des Judentums. Zu einer erinnerungskulturellen Einordnung des Bezugs auf das spanische Judentum vgl.: Carsten Schapkow: Vorbild und Gegenbild. Das iberische Judentum in der deutsch-jüdischen Erinnerungskultur 1779–1939. Köln 2011. Die von Schapkow konstatierte eindeutige Opposition des (Kultur-)Zionismus zur sephardischen Tradition ist jedoch zu differenzieren, so ist z.B. für Theodor Herzl der Bezug auf Heinrich Heine konstitutiv. Ebenso bieten sich Jehuda Halevis Zionsgedichte geradezu für eine programmatisch zionistische Rezeption an. Außerdem wäre der sephardische Ursprung der Kabbala zu beachten, die schon in den
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Während die Kulturzionisten gemäß ihrer Konzeption einer Verbindung von Ost- und Westjudentum eine Kontingenz der Begriffe Orient und Osten, orientalisches Judentum und Ostjudentum entwerfen, betont Lasker-Schüler zunächst deutlicher die sephardische, jüdisch-orientalische literarische Tradition in der Nachfolge Heines und führt diese in ihrem Werk weiter.279 Tinos eigener Bezug zur Orientalisierung wird über das von ihr als poetisches Vorbild genannte Hohelied markiert.280 Dabei lässt sich ihre Aussage gegenüber den Jünglingen um Petrus und deren „Lied der Jünglinge“ als Bezug auf das Schlagwort von der „Jüdischen Renaissance“ als Wiedergeburt verstehen. Tino verkündet ein Aufleben des Hoheliedes alle „tausend Jahre“ und nähert sich damit dem Postulat der „Jüdischen Renaissance“ einer „Wiedergeburt“, einem „Neuschaffen aus uraltem Material“ (Buber 1901), an. Es fällt auf, dass Tino statt einer einzigen „Jüdischen Renaissance“ eher eine Kette von „Wiederauflebungszeiten“ zu imaginieren scheint. Entsprechend könnten König David, Jehuda Halevi sowie nun Tino und die „Jerusalemiter“ jeweils einen solchen Moment des Auflebens markieren. „Alle tausend Jahre“ ist dabei eher eine mythologisierte Zeitangabe, wobei Tinos Modell vielmehr ein ‚unendliches‘ Auf und Ab solcher Renaissancezeiten zu sein scheint. III.4.5 Tino/Onit ‒ Die Überschreitung von eindeutigen Identitätskategorien
Lasker-Schüler überschreitet im Peter Hille-Buch sowohl die poetologische Position Peter Hilles als auch die der jung-jüdischen Dichter, ohne dabei die jeweils bestehende poetologische Nähe aufzugeben. Diese Überschreitung wird maßgeblich über die Konstruktion der Geschlechterrollen erreicht, die, neben der Betonung einer dezidiert weiblichen jüdischen und poetischen Genealogie, eine eindeutige Geschlechterzuordnung und mit dieser verbundene dichotome
gnostisch orientierten Debatten in der Lebensreformbewegung um 1900 und später u.a. in den (kultur-)zionistischen Arbeiten Gershom Scholems und Martin Bubers eine Rolle spielt, bei Buber explizit als messianisch konnotiertes Wirken im ‚Jetzt und Hier‘ (vgl. Kapitel IV). 279 Zum einen wird die mütterliche poetische Genealogie mit spanischen Vorfahren immer wieder an Erzählfiguren betont, die nicht von der Autorin zu trennen sind, u.a. im letzten Prosawerk Das Hebräerland. Zum anderen ist ihre Erzählung Der Wunderrabbiner von Barcelona in Spanien angesiedelt. Lasker-Schüler greift in der Gestaltung des Wunderrabbiners auf die sephardische Tradition zurück und verbindet sie mit osteuropäischen, chassidischen Elementen. 280 Auf die Bedeutung des Hoheliedes als Intertext des Peter Hille-Buchs weisen Doerte Bischoff (2006) und Dorothee Ostmeier (2006) hin.
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Merkmalsverteilungen sowie hierarchische Verhältnisse unterläuft.281 Für Tinos Dichter/intum wird ein genealogisch weibliches bis androgynes Modell entwickelt. Dies ist schon in dem androgynen Namen Tino angelegt, der darüber hinaus durch das Anagramm Onit als Name für die Figur Onit von Wetterwehes eine signifikante Doppelung erfährt.282 Es steht dem kulturzionistischen Modell der „dichtenden Söhne Zebaoths“, dem Modell der Jünger um Petrus und dem von Petrus verkörperten, traditionell männlichen Dichtungsverständnis283 als eigenständige Konzeption gegenüber.284 Die Veruneindeutigung von traditionellen Geschlechterrollen betrifft ebenso das Verhältnis von Petrus und Tino, das als Verhältnis Meister-Jüngerin kaum auf eine literarische Tradition zurückgreifen kann und abweichend von traditionellen und hierarchisch angelegten Meister-Jünger-Verhältnissen gestaltet ist. Die Überschreitung von eindeutigen Geschlechterrollen im Text ist am deutlichsten für die Figur der Tino realisiert, trifft aber begrenzt auch auf Petrus zu, der u.a. mütterliche Aspekte verkörpert. Zunächst fällt auf, dass die Erzählfigur in der ersten Episode den androgynen Namen Tino erhält und ihr auch in den ersten drei Episoden kein bestimmtes Geschlecht zugeordnet wird. Petrus ist zunächst nur eine Stimme, die zu dem sich artikulierenden Ich spricht. Erst nach dem Auserlesen Tinos löst sich Petrus vom Felsen und ihm wird eine eindeutige Geschlechtsidentität zugeordnet: 281 Vgl. hierzu Doerte Bischoff, S. 97–208, passim. Dorothee Ostmeier zeigt, dass Hille und Lasker-Schüler „Figuren [entwerfen, Anm. B.M.K.], die nicht auf geschlechtsspezifischen oder kulturellen Identitäten beruhen, sondern auf einem Ich, das gerade solche Identitätsfixierungen auflöst.“ (252) Hille spricht u.a. anknüpfend an Jesus vom „Schwestertum des Mannes“ (236). Ostmeier stellt jedoch den christlichen und jüdischen Dialoganteil zwischen Petrus und Tino sowie Hille und Lasker-Schüler harmonisiert dar und verharmlost für Lasker-Schüler die destruktiven Aspekte (252), die in ihren poetologischen Entwürfen und auch im Peter Hille-Buch einen wichtigen Platz haben. Dorothee Ostmeier: Identitätsspiele, S. 227–252, hier S. 227, 236 u. 252 und ebenso dies.: Poetische Dialoge, S. 56–95, hier S. 94. 282 Die Szene eines orientalisierten Maskenballs, in der eine zweite Initiation Tinos stattfindet, und dessen poetologische Ebene durch die Parallelisierung einer germanischen Märchen tradition und orientalischem Erzählen in der Nachfolge der Geschichten aus tausendundeiner Nacht im Kleid Scheherazades deutlich ist, kann hier nicht ausführlich betrachtet werden. Die Anspielungen auf Goethe (Petrus als Mephisto) weisen auf die literarische Tradition, Poesie und Orient zu verbinden, und dessen West-östlichen Divan hin. 283 Mehrfach wird, sicherlich auch ironisch, auf die phallischen Symbole seiner großen Papierrolle und seines „großen Bleistift[s]“ hingewiesen. 284 Auch Iris Hermann kommt zu dem Schluss, dass „Tino […] die männlich konnotierte Schreibtradition aus[probiert], […] dann aber am Schluss zu einer eigenen [gelangt]“(220), die Hermann als „Poetik des Verwitterns“ bezeichnet (225): „Schrift ist so Zeit und Raum nicht enthoben, sondern in den Raum gefügt und der zeitlich bedingten Auslöschung bewusst ausgesetzt.“ (225). Iris Hermann: Topographien des Schreibens. Beobachtungen in Else Lasker-Schülers Peter Hille-Buch. In: Prophet und Prinzessin, S. 207–225.
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Und vom Gestein zur Erde stieg ein Mann mit hartem Bart- und Haupthaar, aber seine Augen waren samtne Hügel. Und kleine Kobolde kletterten über seinen Rücken und beklopften ihn mit ihren Hämmerchen und nannten ihn Petrus. (29)
Die folgenden drei Episoden „Petrus und ich auf der Wanderung I–III“ führen zur stückweisen Enthüllung von Tinos Geschlechtsidentität als weiblich. Doch in dem Moment, als diese zum ersten Mal benannt wird, wird sie gleichzeitig in der Figur des jungen Fürsten Onit von Wetterwehes (30) verdoppelt, wenn ausgerechnet Onit fragt „Wer ist sie?“ (31) Im Verlauf der Erzählung werden Tino verschiedene Rollenbezeichnungen zugeordnet, die zwei männliche umfassen. So wird sie von Petrus sowohl als „Prinzessin“ (32), als „überströmende Quelle“, „mein[…] Kamerad[…], Tino nenne ich sie“ (45), „eine gar strenge Priesterin“ (47) sowie „Mädchen, das mich sucht, meines Herzschlags tiefster“ (63) bezeichnet; sie selbst zeigt sich als Mutter [„mein Kind“ (36)] und Tochter [„meiner Mutter“ (60)]; den Jünglingen um Petrus ist sie Geliebte oder zumindest erotisch Begehrte (41, 44, 45, 58) und die Stadtbewohner bezeichnen sie als „Knaben“ (59). Tino imaginiert sich außerdem als orientalische Prinzessin und schlüpft, von Onit gedrängt, in das Kleid Scheherazades. Ihr Name weist gleichzeitig über Das Peter Hille-Buch hinaus, da Lasker-Schüler 1907 ihren zweiten Prosaband Die Nächte Tino von Bagdads gerade mit dieser Ich-Figuration als Protagonistin in der Rolle einer orientalischen Prinzessin veröffentlicht. Gleichzeitig wird im Peter Hille-Buch gerade das Fest bei dem jungen Fürsten Onit von Wetterwehe stark orientalisiert gestaltet, so dass er als orientalischer Prinz und damit sowohl als männliches Äquivalent zu Tino als auch als eine Vorform der später von Lasker-Schüler entwickelten, sowohl männlichen als auch weiblichen Ich-Figuration Prinz Abigail Jussuf von Theben gelten kann.285 Darüber hinaus werden Tino männliche Rollen der jüdischen Tradition zugeschrieben. Zum einen steht sie über ihre Mutter in der Genealogie König Davids. Zum anderen tötet sie in der Szene „Ich erschlage Tabak“ am Morgen von Petrus’ Begräbnis den sich blasphemisch verhaltenden Narren und verscharrt ihn, wie Moses es mit dem von ihm getöteten Aufseher über die jüdischen Sklaven getan hat.286 285 Vgl. Der Malik. Eine Kaisergeschichte (1916), Der Prinz von Theben (1914). Die Verbindung wird dadurch bekräftigt, dass Lasker-Schüler die Verkleidungsszene Tinos, in der niemand der Anwesenden sie erkennt, als poetische Schlüsselszene in Das Hebräerland erneut gestaltet, und zwar in Form einer Verkleidung der „Dichterin“ als Kind als Joseph auf einem Purimball im elterlichen Haus. Hier wird die Erzählerin durch die Figur der geliebten Mutter erkannt. 286 Dieses Motiv nimmt Lasker-Schüler in der Erzählung Der Wunderrabbiner von Barcelona wieder auf, dort berichtet die Protagonistin Amram, sie habe einen Süßwarenhändler, der
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Lasker-Schüler zitiert und überschreitet in der Tino-Figur Peter Hilles literarisches Portrait, das 1904 in der Zeitschrift Kampf erschien287 und wohl schon 1902 angelegt war. Im Portrait bezeichnet Hille Lasker-Schüler als „schwarzen Schwan Israels“, im Peter Hille-Buch heißt es: „‚Meine wilde, schwarze Taube, die ich mit mir nahm,‘ sagte Petrus und lächelte.“ (42). Die Verschiebung auf die Symbolik der Taube verweist ambivalent auf die jüdische Tradition und wird in Lasker-Schülers poetologischem Gedicht „‚Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt‘“ entfaltet (vgl. Kapitel III.3). Des Weiteren zitiert Lasker-Schüler mit dem symbolischen Geschenk der Zauberin Hellmüte, das auf Tinos „ursprünglichen“ jüdischen Namen verweist, „Sandalen aus Löwinnenhaut mit Silberschnallen“ (47), ironisch eine besonders kitschige Formulierung aus Hilles Porträt und deutet diese signifikant um. Hille kommt nach dem fulminanten Einstieg: „Else Lasker-Schüler (Walden) ist die jüdische Dichterin. Von großem Wurf. Was Deborah!“, und der Aufzählung dichotomer Attribute zu folgender Beschreibung: „Mit zierlichbraunen Sandälchen wandert sie in Wüsten, und Stürme stäuben ihre kindlichen Nippsachen ab, ganz behutsam, ohne auch nur ein Puppenschühchen hinabzuwerfen.“288 Aus den „zierlichbraunen Sandälchen“ (und dem Verweis auf „kindliche Nippsachen“ und „Puppenschühchen“) werden „Sandalen aus Löwinnenhaut mit Silberschnallen“, so dass durch die Zurücknahme des Diminutivs und die Symbolik der Farbe Silber, die im Peter Hille-Buch mehrmals in Bezug auf etwas Erhabenes, Kosmisches oder jüdisch Heiliges verwendet wird, ein kämpferisches und königliches Potenzial symbolisiert wird, das eine spielerische, aber keine kindische Komponente enthält.289 Lasker-Schüler schreibt dem veränderten Zitat darüber hinaus eine Spur der Geschichten um König David ein, von dem berichtet wird, dass er vor seinem Kampf mit Goliat einen Löwen erschlägt. (1 Samuel 17,34–37). Auch die Herkunft Tinos von einem „gebräunten Stern“ lässt sich nicht nur auf Sulamith, die Protagonistin des Hoheliedes, sondern auch auf David zurückführen, der ebenfalls als „bräunlich und schön“ beschrieben und wie Tino von den Stadtbewohnern
jüdische Kinder missbraucht, mit ihrem Dolch getötet (KA 4.1, 13). 287 Peter Hille: Else Lasker-Schüler. In: Kampf. Zeitschrift für – gesunden Menschenverstand. N.F. (26. März 1904), H. 8, S. 238 f. In seinem Porträt schreibt Hille Lasker-Schüler verschiedene weibliche Rollen zu: Deborah, Sappho, Kind und Braut, Mutter, Sulamith, Prinzeß Tino, außerdem taucht Heine als Vergleich auf, den Hille trotz der hier geäußerten Kritik sehr geschätzt hat. 288 Ebd., S. 238. 289 Des Weiteren die Stelle: „und der Silberstern hing am Morgenhimmel“ (35), und in einem explizit jüdischen Kontext die Aussage während des Synagogenbesuchs: „die vielen Silbersterne des weissen seidenen Vorhangs: er verbarg Allerheiligstes“ (40).
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als „Knabe“ bezeichnet wird: „Da nun der Philister sah und schaute David an, verachtete er ihn; denn er war ein Knabe, bräunlich und schön.“(1 Samuel 17,42) Neben der Überschreitung von Geschlechtergrenzen wird im Peter Hille-Buch eine Ambivalenz der Rollenverteilung zwischen Petrus und Tino erzeugt. Auf der Oberfläche erscheint sie als Meister-Schülerin-Verhältnis und ist in der Forschung häufig nur als solches wahrgenommen worden.290 Petrus gilt als Mentor, der als Prophet und z.T. mit gottähnlichen Eigenschaften dargestellt wird, Tino als dessen Jüngerin. Aus der Art und Weise, wie Lasker-Schüler sich über ihr Peter Hille-Buch als poetologisches Projekt geäußert hat, sowie aus Stellen im Text selbst lässt sich aber eine Ambivalenz ablesen, die auch Tino als Prophetin bzw. prophetische Dichterin zeigt und eine gegenseitige Erwählung und Bedingtheit der Beziehung gestaltet. So gibt es u.a. eine Parallele zur Benennung Tinos durch Petrus, wenn sie ihm zum ersten Mal seinen Namen nennt („Du heisst, wie die Welt heisst!“) und Tino gerade dadurch eine weitgehend egalitäre Position markiert: „[…] ich fühlte meine Kraft, die sich losstiess, und ich bäumte mich und streckte mich, und meine Augen blieben weit vor all der Majestät.“ (51) Durch die Namenswahl für die Figur Petrus wird eine Stelle aus dem MatthäusEvangelium aufgerufen, in welcher Jesus zu Petrus sagt: „Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen […]“ (Mt 16,18). Im Peter Hille-Buch gibt Petrus Tino nach einer Art Initiationsakt bei dem „Grab eines Propheten“, der als Besuch am Grab Friedrich Nietzsches dechiffriert wurde, den Auftrag: „Du wirst meinem Andenken einen Thron bereiten“ (50). Die Ambivalenz entsteht dadurch, dass hier Petrus mit dem Verweis auf Jesus zu Tino spricht. Gleichzeitig ist Petrus durch seinen Namen und die Metonymie des Felsens als die Basis für eben dieses Werk markiert. Lasker-Schüler hat diese Ambivalenz poetologisch fruchtbar gemacht, wie es deutlich aus einer Briefstelle hervorgeht, in der sie mit Bezug auf dieselbe Bibelstelle über Das Peter Hille-Buch sagt: „[I]ch sammele jede freie Minute mir und schenke sie dem Peter-Hillebuch, es wird die Grundlage meines Lebens sein, die Centrale, die ich mir selbst aufbaue, der Glaube, daß ich nötig dem Leben war.“291 Hier spricht Lasker-Schüler in der Rolle Jesus’ (in der jüdischen Konnotation als Prophet und daher nicht in einer göttlichen Position) und beabsichtigt auf dem ‚Felsen‘, der das Buch über Hille, aber auch Hille als die Figur Petrus ist, die Zentrale ihres Werkes zu errichten. Dem entspricht die Konstruktion einer gegenseitigen Erwählung von Tino und Petrus und eines wechselseitigen Verhältnisses, denn auch Petrus hätte ohne die Begegnung nicht als Petrus erkennbar werden können. 290 Hier sei exemplarisch verwiesen auf Jakob Hessing: Else Lasker-Schüler. 291 Else Lasker-Schüler an Salomo Friedlaender, 16. Februar 1905, KA 6, S. 67.
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Mit dem Peter Hille-Buch soll also zum einen der Auftrag erfüllt werden, zum anderen wird Hille zur Basis einer eigenen im prophetischen Dichtungsmodell angelegten Poetologie, die seinen eigenen poetologischen Entwurf in der Anbindung an die jüdische Tradition und deren Schreibverfahren (u.a. Heines Modell) überschreitet. Schon in der Konzeption wird also ein eindeutiges Verhältnis Mentor-Schülerin bzw. Meister-Jüngerin unterlaufen. Im Peter Hille-Buch wird die wertschätzende Überschreitung des Mentors darüber hinaus auf der Ebene der Schreibverfahren realisiert, in dem Tino dem traditionellen Dichtungsmodell ein avantgardistisch-performatives gegenüberstellt, gerade um Petrus zu ehren. In der Episode „Am Abend“ überlässt Tino nach Petrus Tod einem „Knabe[n]“ den „grossen, grossen Bleistift“ und einem Mädchen die „starke Papierrolle“, die Petrus zuvor mit sich herumtrug und mit deutlich phallischer Konnotation zum Dichten benutzte. Beide Fundstücke sind Symbole männlicher Autorschaft, die hier in traditioneller Weise genderstereotyp verteilt werden: an den Jungen das Werkzeug zum Kultur schaffenden, schöpferischen (Ein-)Schreiben; an das Mädchen das Papier als kulturbewahrende und zu gestaltende Materie, in die die Einschreibung erfolgt. Tino selbst hat beides nicht nötig, denn sie geht über die traditionelle Dichtungskonzeption hinaus. Ganz am Ende des Peter Hille-Buchs schreibt sie zum ersten Mal selbst und zwar Petrus’ wirklichen Namen in die Erde an seinem Grab: und wie ein Beet duftete der Kranz seiner Lieblinge – er trug eine weisse Seidenschleife – darauf in Goldbuchstaben: Dem jubelnden Propheten. Und ich schrieb in die Erde: Er heisst wie die Welt heisst. (66)
Tino setzt sich hier von der traditionellen Verehrung und dem Schreiben der Jünglinge um Petrus ab. Durch die Vergänglichkeit ihrer Schrift292 wird gerade der performative Charakter des Schreibaktes betont, der gleichzeitig eine mystische Wahrheit verkündet. Es findet keine Einschreibung im eigentlichen Sinne statt, denn Petrus und die Welt sind ja in gewisser Weise schon eins, so dass das Schreiben seines Namens in die Erde mystisch konnotiert eher etwas hervorbringt, was schon in ihr ist, als ihr etwas einzuprägen, das zuvor der Imagination der Schreibenden entsprungen ist.
292 Vgl. Iris Hermann: Topographien des Schreibens. Beobachtungen in Else Lasker-Schülers Peter Hille-Buch. In: Prophet und Prinzessin, S. 207–225, hier S. 225: „Poetik des Verwitterns“.
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III.4.6 Zusammenfassung
Lasker-Schüler hat Das Peter Hille-Buch an der Grenze von Leben und Literatur als Erzählung konzipiert, die in mythisierender Form für die Figur Tino die Entwicklung zur Dichterin durch die Initiation und die Wanderschaft mit einer Meister-Figur sowie die Emanzipation von dieser in deren Andenken berichtet. Dabei ist die Metareflexion über Dichtung als Geschichte über die Entwicklung des eigenen poetologischen Entwurfs zu lesen, in Auseinandersetzung mit anderen Poetiken und in Fortführung und Überschreitung der Poetik Peter Hilles. In diesem Prozess und in der markierten poetologischen Analogie nehmen, wie gezeigt werden konnte, die „Jerusalemiter“ und somit die in diesen metaphorisierte Sicht Lasker-Schülers auf die Potenziale der kulturzionistischen Poetik eine herausgehobene Position ein. Sie sind es, die die Ablösung von Petrus durch die Offenbarung von Tinos genealogischer und poetischer Zugehörigkeit und die bewusste poetische Einbindung in die jüdische Tradition ermöglichen, ohne dass für Tino eine vereindeutigende Gruppenzugehörigkeit geschaffen wird. Lasker-Schüler stellt ihre Dichtung ähnlich wie ihre Darstellung der Poetik der „dichtenden Söhne Zebaoths“, also der jung-jüdischen Dichter, in die Nachfolge der von Heinrich Heine für die deutsch-jüdische Literatur fruchtbar gemachten sephardisch-orientalischen, jüdischen literarischen Tradition. Deren Repertoire changiert zwischen Liebeslyrik, poetischem ‚Kampf‘ in Verbindung mit jhwh und prophetischem Modus und ist mit Motiven aus Jugendstil und Neoromantik der Literatur der Jahrhundertwende verbunden. Somit lässt sich die im Peter Hille-Buch entworfene Poetologie in den Kontext der „Jüdischen Renaissance“ und in deren Bemühung um eine schöpferische jüdische Identität und eine aus dem „uralten Material“ neuzuschreibende jüdische Tradition stellen. Mit der Entwicklung einer weiblichen dichterischen Genealogie und der Betonung der produktiven Auseinandersetzung mit den mit Petrus verbundenen germanischen, griechischen und christlichen Traditionsbeständen erweitert Lasker-Schüler ein enges Modell jüdischer Dichtung, die nur jüdische Themen aus dem jüdischen Volksgeist gestalten dürfe, wie es Achad Haam formuliert hat. Die Betonung der Androgynität lässt sich mit dem uneindeutig bestimmten Status der Juden als Volk-Nichtvolk, „Jehovavolk“ und „Juden“ und dem ebenfalls zwischen Imagination und territorialer Verortung gehaltenen Heimatbezug der „Jerusalemiter“ verbinden. Lasker-Schüler überschreitet jedoch konventionelle und vereindeutigende Kategorien von Heimat und Identität sowie eindeutig hierarchische Konzepte und korrespondierend das traditionell männlich konnotierte Dichtungsmodell zugunsten eines avantgardistischen, performativen und überdeterminiert intertextuellen Entwurfs. So entsteht eine Literatur, deren poietische Qualität unauflösbar mit dem Leben verbunden ist, das selbst literarische Qualitäten aufweist.
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Das Peter Hille-Buch fasst als Metatext über Dichtung und prophetisches Dichter/innentum die von Lasker-Schüler in ihrem Frühwerk entwickelten Grundlagen ihrer Poetologie zusammen, die im weiteren Schaffen aufgenommen, zitiert und radikalisiert werden.293 III.5 Zwischenfazit mit „[…] Amokläufer“ (1910) – Selbstgewählte Assoziation und kritische Überschreitung
1910 veröffentlich Lasker-Schüler in der Zeitschrift Sturm die Erzählung „Der Amokläufer“, die sie später in die Prosasammlung Der Prinz von Theben. Ein Geschichtenbuch (1914) aufnehmen wird.294 Erneut werden nun schon bekannte Motive ihrer Prosa, wie Fragen der (jüdischen) Genealogie, die Konfrontation zweier junger Liebender mit einer patriarchalen Vaterfigur, das Modell eines orientalischen bzw. orientalisierten Judentums und die Ambivalenz von Auserwählung verwendet. Doch in dieser deutlich mit Mitteln der Groteske arbeitenden Erzählung spitzt Lasker-Schüler bisherige Entwürfe gerade zur Frage nach einer jüdischen Identität deutlich zu. Erzählt wird von Tschandragupta, dem Sohn eines heidnischen Stammesführers und einer entführten jüdischen Prinzessin, der als „der Abtrünnigen Sohn, […] Sehnsucht nach den Juden“ (129) hat. Er „fliegt an allen Sternen vorbei zu den Juden“ (ebd.), die ihn zunächst für einen „Engel“ halten, bevor sie bemerken, dass er unbeschnitten und „kein Gottgesandter“ ist.295 Nun fürchten sie ihn als „Schaitan“ (ebd.), doch der Oberpriester nimmt ihn in sein Haus auf. Tschand293 Vgl. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung, S. 100. Sie stellt die Entwicklung typischer, in spätere Erzählungen aufgenommene Strukturen fest. 294 Else Lasker-Schüler: Der Amokläufer. In: Der Sturm, Jg. 1 (10. März 1910), H. 2. KA 3.1, S. 129–132. Im Folgenden wird die Erzählung mit der Seitenangabe in Klammern zitiert. In der zweiten Auflage von Der Prinz von Theben (1920) trägt sie den Titel „Tschandragupta“. Auf die zahlreichen Bezüge in der Erzählung Der Wunderrabbiner von Barcelona (1921) kann hier nicht eingegangen werden. 295 Iris Hermann entgeht der hier zentrale Aspekt des Unbeschnittenseins und sie verwendet den historisch problematischen Begriff „Halbjude“, um Tschandraguptas Identität zu beschreiben. Sie deutet dessen Wandlung als Schlüpfen in Schlômes Haut und zeigt Bezüge der Opferungsszene zu Kleists Penthesilea auf. Iris Hermann: Raum – Körper – Schrift, S. 133– 137, hier S. 134, 133. Bischoff übersieht ebenfalls die im jüdischen Kontext der Geschichte zentrale Frage des Beschnittenseins und behauptet, es bleibe „offen, was die Leute hier tatsächlich sehen.“ Bischoff untersucht die Position des Souveräns und kommt zu dem Schluss, die Erzählung „lege[…] die Mechanismen der Verkennung und der Ausschließung bloß, auf denen der Glaube an einen, allmächtigen Gott aufruht.“ Vgl. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung, S. 289, 290.
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ragupta möchte zum Judentum übertreten und bringt dem Oberpriester Geschenke für den „Tempel Gottes“ dar, die jedoch Spuren heidnischer Götzenverehrung tragen, und – in Anspielung auf die Praxis des mehrmaligen Ablehnens von Übertrittsgesuchen im rabbinischen Judentum – nicht angenommen werden. Währenddessen verliebt sich die Tochter des Oberpriesters, Schlôme, in Tschandragupta, rebelliert gegen ihren Vater und versündigt sich im Gebet erotisch gegenüber jhwh. Zuletzt wendet sich das „Jehovavolk“ aufgestachelt von Schlôme gegen seinen Oberpriester. Tschandragupta läuft aus Rache über die Zurückweisungen Amok und tötet wahllos die Bewohner/innen der Stadt, bis Schlôme sich als sein letztes Opfer anbietet. In einer Szene zwischen Gewalt und sexueller Vereinigung findet eine besondere Konversion bzw. Verwandlung statt: Und aus des Oberpriesters Haus, in den Schleiern Schlômes tritt Tschandragupta wie die Frauen der Stadt. O und sein Wesen so liebevoll tastend, wie ein kindtragendes Weib. Zwischen den schaudernden Frauen, hinter den Gittern setzt er sich in den Tempel und seine Gebete tönen zwischen seinen Lippen, sanftes Gurren der Taube. Niemand hemmt den Wandel des Melech’s Enkel. Auch im ergrauten Feierkleid der tempelalte Knecht nicht. (132)
Tschandragupta ist offensichtlich durch das Selbstopfer und die Opferung Schlômes zum Judentum übergetreten, ‚seine‘ Anwesenheit wird im Tempel geduldet und ‚er‘ darf die Gebete mitsprechen. Darüber hinaus hat ein „Wandel“ stattgefunden, der auch die Geschlechtsidentität betrifft. Er setzt sich im Gebetsraum in den Bereich „hinter den Gittern“, also dem traditionell den Frauen zugewiesenen Raum, trägt Schlômes Schleier „wie die Frauen der Stadt“ und bewegt sich „wie ein kindtragendes Weib“; trotzdem wird er als „Enkel“ des Melechs (hebr.: „König“) bezeichnet. Somit ist unklar, ob es sich hier um eine Form von Travestie im Sinne von Verkleidung („wie“) oder einen intersexuellen bzw. androgynen Entwurf jüdischer Identität handelt.296 Durch die Gewalt, die zu diesem Ergebnis führt, und das Schaudern der Frauen wird die Gewaltförmigkeit von Identitätsbildungsprozessen markiert und auch der Schrecken, der bei der Überschreitung etablierter Grenzen möglich ist. Tschandraguptas scheinbare Monstrosität ist dabei aber nicht monströser als die zuvor bestehende etablierte Ordnung, repräsentiert durch den patriarchal agierenden Vater, der die Übertrittsgesuche eines durch die jüdische Mutter eigentlich
296 Doerte Bischoff sieht hier eine „Übersteigerung von Fremdheit und Differenz“: „Hinter dem Schleier verbirgt sich nicht mehr das Weibliche als rätselhafte Andersheit […], sondern ein „monströser, die Geschlechterdifferenz überbordender Körper“. Ebd., S. 295.
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jüdischen Mannes ablehnt und für den Erhalt des Systems zuletzt seine Tochter opfert.297 Besondere Brisanz gewinnt die Erzählung durch die Anspielung auf die Konversionsgeschichte der jüdischen Tradition, nämlich auf das Buch Ruth, in dem gerade das Kommen des Messias aus der von der Konvertitin Ruth ausgehenden Genealogie über König David ableitet wird. Tschandragupta bewegt sich am Ende zumindest „wie ein kindtragendes Weib (Hervorh. B.M.K.)“, könnte also durch die Vereinigung mit Schlôme ‚schwanger‘ sein. Die messianische Erlösung würde hier aus einer sehr ungewöhnlichen Verbindung erwartet.298 Dass der „tempelalte Knecht“ nichts gegen Tschandraguptas Verhalten unternimmt, weist vielleicht darauf hin, dass dies der gottgewollte Weg ist. Dass Lasker-Schüler mit dieser Erzählung erneut und noch einmal gesteigert über die bürgerlichen Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen im Kulturzionismus und über Modelle der „Männer des Geistes“ oder der jung-jüdischen Lyrik als Literatur der „Söhne“ hinausgeht, ist offensichtlich. Auch in Bubers späteren Überlegungen ist zu beobachten, dass kulturzionistische Identitätskategorien, die meist mit kulturpolitischen oder pädagogischen Zielen verbunden sind, tendenziell vereindeutigenden, auf identitäre Einheit zielenden Charakter haben.299 Diesem Streben nach einer einheitlichen jüdischen Identität, das implizit auf dichotomen Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen basiert, treten Lasker-Schülers Texte als provokative Herausforderung entgegen.300 Zwar wird auch hier immer wieder eine Verbindung der als gegensätzlich konstruierten Kategorien vorgeführt, aber die erreichte ‚Einheit‘ ist nie eine der Harmonie oder 297 Doerte Bischoff deutet die Handlung als Rückkehr der „Erinnerung an ein namenloses Ursprungsopfer ins Zentrum der Ordnung“, deren Wiederkehr „alle Instanzen, denen innerhalb der Ordnung das Gedenken des Ursprungs (in Gott) oblag“ zerstört; Tschandragupta werde selbst zum „alles umfassende[n] und in sich aufnehmende[n] Gott“ bzw. Priesterkönig. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung, S. 288–301, hier S. 293, 295. 298 Durch den Verweis auf die „Namen der Wildväter“ wird das Motiv der Integration eines „wilden“, „ursprünglichen“, „heidnischen“ Erbes in die jüdische Tradition angesprochen, das Lasker-Schüler in den 1910er und 1920er Jahren weiter beschäftigt, u.a. in den Gedichten „Jakob und Esau“ und „Jakob“ (vgl. Kapitel IV.1.2 und IV.1.3). 299 Vgl. hierzu Martin Bubers Ausführungen in der zweiten Rede über das Judentum: „Das Judentum und die Menschheit“ über das Ideal der Einheit, das er vom Monotheismus als die Idee des Einheitsgottes ableitet und als wesentliches Element des Judentums beschreibt, das sich in der Menschheitsgeschichte entwickle: „Das Streben nach Einheit ist es, was den Juden schöpferisch gemacht hat.“ (MBW 3, 232) Wie Buber in der dritten Rede ausführt, soll sich die Erneuerung des Judentums im Fokus folgender drei Leitideen vollziehen: die Idee der Einheit, der Tat und der Zukunft. (MBW 3, 219–256.) 300 Vgl. zu dieser Einschätzung Herbert Uerlings: Ethnizität und Geschlecht in Else LaskerSchülers ‚orientalischen‘ Erzählungen. Zu „Der Amokläufer“ („Tschandragupta“) und „Ached Bey“. In: Else Lasker-Schüler-Jahrbuch zur Klassischen Moderne 2, 2003, S. 6–26.
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des Endes von Widersprüchen. Ihr inhärent ist ein Beharren auf einer unhintergehbaren Differenz, so dass sie immer wieder von Abgrenzungsbewegungen durchkreuzt wird und neue, tendenziell hybride Modelle entstehen, die gerade die Präsenz des jeweils ‚Anderen‘ im Eigenen betonen, oder zumindest das Begehren danach. Ebenso werden, wie oben gezeigt, die gewaltförmigen Aspekte von Identitätsbildungsprozessen symbolisch vorgeführt. Schon durch das Einschreiben einer weiblichen Perspektive in Motive und Topoi des kulturzionistischen Diskurses sowie durch die Kombination von weiblichen und männlichen Figuren der jüdischen Tradition zur Entwicklung einer Rolle als Dichter/in – z.B. des Propheten Moses und der Prophetin Mirjam oder Sulamith als Protagonistin des Hoheliedes und König David als Dichter der Psalmen – wurde das kulturzionistische Modell indirekt kritisiert, unterlaufen und erweitert. Gerade dadurch wird dessen zentrale Forderung des „Neuschreibens“ der Tradition aus „uraltem Material“ umgesetzt, und zwar sowohl auf der Ebene der Konstruktion der ‚Identität‘ einer jüdischen Dichterin, als auch, unauflösbar mit dieser verschränkt, auf der Ebene der Schreibverfahren. Diese Haltung, die tendenziell das ‚Andere‘ im ‚Eigenen‘ betont, betrifft auch den jüdischen Volksbegriff, der in Lasker-Schülers Texten analog zur Erzählung „Der Amokläufer“ ein tendenziell hybrider, dabei aber in der Tradition jüdischer Texte situierter ist. Insgesamt haben die in diesem Kapitel unternommenen Analysen gezeigt, dass Lasker-Schüler in ihrem Frühwerk die Grundlagen ihrer Poetologie in Auseinandersetzung mit dem kulturzionistischen Diskurs in selbstbewusster Assoziation und kritischer Distanz entwickelt. Der Kulturzionismus ist dabei für sie vor allem poetologisch interessant und wird als wichtiges Referenzsystem zur Entwicklung einer weiblichen bis androgynen, schöpferischen jüdischen Rolle als Dichterin und einer dezidiert jüdischen Dichtung genutzt. Dabei verbindet Lasker-Schüler die beiden Forderungen der „Jüdischen Renaissance“ nach der Entwicklung einer jüdischen Identität und dem Neuschreiben der Tradition systematisch zu einem avantgardistischen poetologischen Verfahren, mit dem ‚jüdisches‘ Leben in ‚jüdische‘ Literatur (und Kunst) übergeht und umgekehrt. Ihr Vorgehen ist dabei konzeptuell und literarisch wesentlich progressiver und vielschichtiger, als die Entwürfe in vergleichbaren Arbeiten kulturzionistischer Protagonisten. Konsequent wird eine avantgardistische Poetologie entwickelt, die dabei einer kulturzionistischen Poetik und dem kulturzionistischen Diskurs nahe bleibt und sich mit einem überdeterminiert intertextuellen Verfahren, das sowohl Motive als auch Textstrukturen aufnimmt, auf diese bezieht. Hier sind für den Kulturzionismus vor allem prophetische Dichtungsmodelle, die Entwicklung von Modellen schöpferischer jüdischer Identität gerade über die Strategie der Orientalisierung, Diaspora- und Heimatkonstruktionen sowie Aspekte von Auserwählung und messianischer Erlösung zu nennen. Teilweise gehen Lasker-Schü-
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lers poetologische Entwürfe den theoretischen oder programmatischen Entwürfen namhafter Kulturzionisten voraus oder überschreiten diese durch die Komplexität der literarischen Verfahren und den subversiven Umgang mit Identitätskategorien wie Geschlecht, Nationalität und Religion. Lasker-Schülers Frühwerk ist somit als selbstbewusste Positionierung im Umfeld der „Jüdischen Renaissance“ und als Beginn eines poetologischen Projekts zu beschreiben, das sich in eigener Weise der jüdischen Erneuerung verpflichtet sieht. Die im Frühwerk in enger Auseinandersetzung mit dem Kulturzionismus entwickelten Grundlagen von Lasker-Schülers Poetologie werden in Texten der 1910er–1940er Jahre mit jüdischer Thematik in der markierten Nachfolge von Heinrich Heine weiterentwickelt, kommentierend und aktualisierend zitiert und häufig radikalisiert. Besonders der Bruch mit Herwarth Walden und die damit verbundene Abkehr vom Sturm-Kreis 1912 führt zu einem noch intensiveren Befragen der jüdischen Tradition und zu vielfältigen Anknüpfungspunkten an das kulturzionistische Projekt, das sich ebenfalls gerade vor und nach dem Ersten Weltkrieg zuerst in seinem Erneuerungsanspruch radikalisiert und später stärker in eine ethische Richtung orientiert.
IV. Erneuerung des Judentums: Else Lasker-Schülers avantgardistische Poetologie im Kontext der rabbinischen Tradition
„Ich denke an eine Geschichte aus dem Talmud, die mir ein Priester erzählte: wie Gott mit den Menschen vor dem zerstörten Tempel stand und weinte.“ Else Lasker-Schüler: An Franz Marc, 19161
Mit der Publikation der Gedichtsammlung Hebräische Balladen 1912/13 beginnt Lasker-Schüler nach dem Ende der Zusammenarbeit mit ihrem zweiten Ehemann Herwarth Walden und der Assoziation an den Sturm-Kreis ein neues poetologisches Projekt, das in der markierten Nachfolge von Heinrich Heine rabbinische Schreib- und Diskursverfahren für eine avantgardistische jüdische Literatur fruchtbar macht.2 Lasker-Schüler bezieht sich mit dem Gedichtband Hebräische Balladen und der Erzählung Der Wunderrabbiner von Barcelona zentral auf die beiden Texte Heinriche Heines, in denen er ein Modell der modernen deutsch-jüdischen Literatur aus der rabbinisch-talmudischen Tradition entwickelt:3 die Hebräischen Melodien im Romanzero4 und das Erzählfragment Der Rabbi von Bacherach.5 Die Auseinandersetzung mit Heinrich Heine – über 1 2
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Else Lasker-Schüler: An Franz Marc, KA 1.1, S. 185. Als Erste hat Gesa Dane für das Exil-Drama IchundIch Lasker-Schülers intertextuelles Schreibverfahren mit Erinnerungstechniken der rabbinischen Tradition in Verbindung gebracht. Gesa Dane: Die Dichterin als Rabbinerin. Geschichte und Erinnerung in Else Lasker-Schülers IchundIch. In: Text und Kritik (April 1994), H. 122, S. 55–64. Almuth Hammer arbeitet ein Einschreibungsverfahren moderner Autor/innen in die jüdische Tradition im Medium moderner Literatur heraus, sieht jedoch keinen Bezug zur rabbinischen Tradition oder zur vom Kulturzionismus inspirierten jüdischen Erneuerungsbewegung. Almuth Hammer: Erwählung erinnern. Literatur als Medium jüdischen Selbstverständnisses. Mit Fallstudien zu Else Lasker-Schüler und Joseph Roth. Göttingen 2004. Vgl. zu einer ausführlichen Darlegung: Bernd Witte: Jüdische Tradition und literarische Moderne. Heine, Buber, Kafka, Benjamin. München 2007, S. 39–94. Johannes Sabel: Die Geburt der Literatur aus der Aggada. Formationen eines deutsch-jüdischen Literaturparadigmas. Tübingen 2010, S. 1 f. Heinrich Heine: Romanzero. In: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. v. Manfred Windfuhr. Bd. 3/1: Romanzero, Gedichte 1853 und 1854, lyrischer Nachlass. Text. Bearb. v. Frauke Bartelt u. Alberto Destro. Hamburg 1992, S. 9–184. Heinrich Heine: Der Rabbi von Bacherach. In: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. v. Manfred Windfuhr. Bd. 5: Almansor. William Ratcliff. Der Rabbi von Bacherach.
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inhaltliche und motivische Verweise sowie Bezüge auf die poetologische Kon struktion – lässt sich dabei selbst als Anwendung des rabbinischen Kommentarverfahrens6 auf Heines Texte und als Aktualisierung derselben deuten. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die im Frühwerk zentrale Entwicklung einer orientalisierten, dezidiert weiblich bis androgyn konnotierten jüdischen Poetologie, die stark mit der Entwicklung einer dichterischen jüdischen ‚Identität‘ verbunden war. Statt der Ich-Figurationen Tino von Bagdad und Prinz Jussuf von Theben finden sich als „Dichterin“ bezeichnete Erzählfiguren. Es treten Themen des zeitgenössischen Diskurses über das Judentum, wie die Pogrome in Osteuropa, moderner Antisemitismus und christlicher Antijudaismus, und mit ihnen Fragen der jüdischen Überlieferung und Tradition7 sowie nach (kulturzionistischen) (Er-)Lösungsstrategien und der Rolle von Literatur in diesen Zusammenhängen ins Zentrum. Lasker-Schülers poetologisches Projekt ist gleichzeitig als weitergeführte Auseinandersetzung mit den spätestens nach dem Ersten Weltkrieg veränderten Parametern des kulturzionistischen Diskurses angelegt. So ist nach Bubers durch Gustav Landauer inspirierte Wandlung zu einer kriegskritischen Haltung die zunehmende Entfaltung utopischer bzw. antizipatorischer sowie ethischer (Buber: Der heilige Weg, 1919) und dialogphilosophischer Konzepte (Buber: Ich und Du, 1923) im deutschsprachigen Kulturzionismus zu beobachten, die als Weiterführung des utopisch konnotierten rabbinischen Projekts8 im Medium moderner Literatur beschrieben werden können. Lasker-Schüler unternimmt die Erneuerung der jüdischen Tradition durch die Übertragung rabbinischer Verfahren in
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Aus den Memoiren des Herren Schnabelewopski, Florentinische Nächte. Bearb. v. Manfred Windfuhr. Hamburg 1994, S. 107–145. Dass die Übertragung des rabbinischen Kommentarverfahrens als konstitutiv für die moderne deutsch-jüdische Literatur gelten kann, hat Bernd Witte gezeigt. Bernd Witte: Jüdische Tradition und literarische Moderne, hier S. 12: „Kommentieren heißt, einen vorgeschriebenen Text von der eigenen Aktualität her neu schreiben und ihn dadurch erst lesbar machen.“ Witte stellt dabei einer klassischen und nachfolgenden deutschen Literatur, die sich auf die Natur beziehe, eine deutsch-jüdische Tradition gegenüber, die genuin schriftverarbeitend sei (1). Problematisch ist, dass er damit unkommentiert antisemitische Stereotype der Jahrhundertwende aufruft, die jüdische Literatur für unschöpferisch erklären, u.a. da sie keinen Zugang zur Natur habe. Der These lässt sich entgegnen, dass die rabbinische Literatur sich durchaus auf ‚das Leben‘ bezieht und die Gebote für die jeweilige Zeit zur konkreten Anwendung auslegt. Des Weiteren ist die klassisch-romantische Literatur nicht vorstellbar ohne Verfahren, die man heute als Intertextualität, also den Bezug auf andere Texte bezeichnen würde, z.B. zu den antiken Vorbildern. Hier ist die Anknüpfung an rabbinische Erinnerungstechniken relevant. Vgl.: Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Berlin 1982. Zur Beschreibung des utopischen rabbinischen Projekts vgl. Jacob Neusner: The Rabbinic Utopia. Lanham u.a. 2007.
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den Bereich der avantgardistischen Literatur und setzt dabei die Metaphorik kulturzionistischer Intertexte von Martin Buber, Chaim Nachman Bialik und Achad Haam in ihren Texten poetologisch um.9 Lasker-Schüler entwickelt im Kontext ihrer avantgardistischen Poetologie und in der Nachfolge Heinrich Heines eine eigene Version des zentralen poetologischen Modells der jüdischen Erneuerungsbewegung: das maßgeblich von kulturzionistischen Protagonisten vorangebrachte, aber über diese hinausgehende10 Projekt, die moderne deutsch-jüdische und neuhebräische Literatur als Weiterführung und Überschreitung der rabbinischen Schriften in den beiden Gattungen der Halacha (gesetzliche rabbinische Schriften) und der Aggada (erzählende rabbinische Schriften) anzulegen. Dieses Projekt, das im 19. Jahrhundert für die Aggada als eine der Bemühungen der sich etablierenden Wissenschaft des Judentums begonnen wurde,11 wird um 1900 zunehmend von jüdischen Autoren und z.T. Autorinnen entfaltet. Gerade in dieser zweiten Phase ist der Kulturzionismus ein wichtiger Motor, so sind u.a. die neuhebräischen Autoren Micha Josef Berdyczewski und Chaim Nachman Bialik und deren anthologische und literarische Unternehmungen zu nennen,12 die teilweise in deutscher Sprache vorlagen. Im deutschsprachigen Kontext sind Bubers Bemühungen um einen schöpferischen jüdischen Mythos (Die Legende des Baal=schem, 1908), der als aggadisches Neuerzählen der chassidischen Quellen konzipiert ist, zu nennen. Trotz der heftigen Ablehnung, die die kulturzionistischen Protagonisten rabbinischer Autorität und Tradition, welche sie als veraltet bzw. verfallen konstruieren,13 entgegenbringen, wird durch das neoromantische Modell der ‚lebendigen jüdischen Volksüberlieferung‘ eine Übertragung talmudischer aggadischer Erzählverfahren auf die moderne jüdische Literatur möglich. So lässt sich ein Projekt beschreiben, das es modernen Autor/innen ermöglicht, in der Übernahme rabbinischer Verfahren die jüdische Tradition zugleich weiterzuschreiben und zu erneuern. 9
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So lassen sich interessante Überschneidungen von Lasker-Schülers poetologischem Verfahren mit Walter Benjamins Fruchtbarmachen des rabbinischen Zitierens beobachten, das er in seinem Essay „Karl Kraus“ (1931) im Kontext der Avantgarden theoretisch reflektiert und in seinem montageartig angelegten Passagenwerk als Verfahren entfaltet. Vgl. zum Zitat bei Benjamin im Kontext der rabbinischen Gattungen Halacha und Aggada: Jürgen Ebach: Das Zitat als Kommunikationsform. Beobachtungen, Anmerkungen und Fragestellungen am Beispiel biblischen und rabbinischen Zitierens. In: Ders.: Gott im Wort. Drei Studien zur biblischen Exegese und Hermeneutik. Neukirchen-Vluyn 1997, S. 27–84. Die von Michael Brenner für die Weimarer Republik beschriebene eigenständige jüdische Kultursphäre. Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. München 2000. Vgl. die detaillierte Studie von Johannes Sabel: Die Geburt der Literatur aus der Aggada. Vgl. ebd., S. 222–238. Vgl. u.a. Martin Buber: Einführung. In: Ders.: Die Legende des Baal=schem. Frankfurt/Main: Rütten & Loening 1908, S. I–VII.
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Heinrich Heine Zentral für dieses Modell einer modernen jüdischen Literatur ist die von Heine im Gedicht „Jehuda ben Halevy (Fragment)“ über den spanisch jüdischen Dichter Salomo Halevi entwickelte Ableitung der jüdischen Literatur aus der Unterscheidung der beiden Formen rabbinischer Auslegung: der Halacha (gesetzlich) und der „Hagada“ (erzählend).14 Die Halacha wird als diskursive Praktik einer „große[n] / Fechterschule“ (180 f.) bezeichnet und die „Hagada“ als „Garten / Solcher Luftkindgrillenart“ (183) mit „Poesie“ (184) gleichgesetzt.15 Heines Analogie lässt sich dabei leicht auf sein eigenes Schreiben zwischen politischer Prosa und Lyrik beziehen.16 Heine geht in seinem poetologischen Entwurf einer (deutsch)jüdischen Literatur jedoch noch weiter, indem er im Gedicht „Jehuda ben Halevy“ den tradierten Ursprung der europäischen Literatur im griechischen Mythos und den Epen Homers durch Halevis Zionslieder als ebenbürtige Überlieferung ersetzt. Heine entwickelt ein poetologisches Modell der modernen jüdischen bzw. deutsch-jüdischen Literatur als Nachfolge der rabbinischen Erzählweisen und als Etablierung eines schöpferischen jüdischen Mythos.
Chaim Nachman Bialik An Heine anschließend und besonders wirkmächtig für den deutschsprachigen, kulturzionistisch konnotierten Kontext und darüber hinaus entfaltet der neuhebräische, dem „geistigen Zionismus“ Achad Haams nahestehende Dichter Chaim Nachman Bialik Heines Modell weiter.17 1919 erscheint die von Gerhard (Gershom) Scholem unternommene Übersetzung seines Essays „Halacha und Aggada“ in Bubers Zeitschrift Der Jude.18 Bialik plädiert für eine Interpretation von Halacha und Aggada als „zwei Zwillingsformen des Schrifttums 14 Heine, Heinrich: Romanzero, S. 9–184. Im Folgenden nachgewiesen im Text. 15 Hierauf hat zuerst Bernd Witte hingewiesen, für den Heine „[d]er erste Autor der literarischen Moderne“ ist, der „sein Schreibverfahren als Autor stets von seiner Zugehörigkeit zum Judentum her definiert“ habe. Bernd Witte: Jüdische Tradition und literarische Moderne, S. 39 u. 90. 16 Umso mehr als auch Heines Krankheitszustand zurzeit der Niederschrift in das Gedicht eingeschrieben ist und eine Nähe des empirischen Autors zum lyrischen Ich nahelegt. Vgl. Ebd., S. 91. Ich folge Witte in seiner Interpretation weitgehend, widerspreche aber seiner Säkularisierungsthese (siehe FN 20). 17 Bialik verweist auf Heine und „Jehuda Halewi“ als Traditionslinie der aggadischen Überlieferung. Chaim Nachman Bialik: Essays. Autorisierte Uebertragung aus dem Hebräischen v. Victor Kellner. Berlin: Jüdischer Verlag 1925, S. 82–107, hier S. 86. 18 Dt. zuerst: Chaim Nachman Bialik: Halacha und Aggada. Übersetzt v. Gerhard [Gershom] Scholem. In: Der Jude, 1919/20, H. 1–2, S. 61–77. Hier zitiert nach: Chaim Nachman Bia-
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und des Lebens“ (106), die untrennbar miteinander verbunden seien: „So sind auch Halacha und Aggada in Wahrheit zwei Dinge, die eines sind, zwei Gesichter eines Wesens.“ (82) Dabei fällt neben dem Bezug auf das Leben vor allem auf, dass es für Bialik ganz selbstverständlich ist, dass die beiden talmudischen Begriffe auf die zeitgenössische jüdische Literatur ausweitbar sind: Die Worte Halacha und Aggada sind talmudisch und ihre Bedeutung an ihrem Ort eine präzise aber soweit ihr inneres Wesen in Betracht kommt, läßt sich ihr Sinn erweitern und auch auf alle Erscheinungen von gleicher Art, sei es aus vortalmudischen, sei es aus späteren Epochen, ausdehnen. Es sind zwei geschlossene Formen, zwei antithetische Stile, die einander durch Leben und Schrifttum begleiten.19
Bialik entwirft die poetologische Möglichkeit, das „innere Wesen“ von Halacha und Aggada auf nichttalmudisches bzw. rabbinisches Schrifttum auszuweiten, so dass es nicht nur möglich, sondern vielmehr ganz folgerichtig erscheint, seine eigenen poetischen Texte und die anderer Autor/innen seiner Zeit als moderne Aggada oder Texte in aggadischem Stil zu rezipieren. So spricht Bialik ganz selbstverständlich von „unseren heutigen ‚Meistern der Aggada‘“ (98).20 Die Literatur der Aggada reiche „ohne zeitliche Einschränkungen: von den Erzählungen, Visionen und Dichtungen der Bibel bis zur schönen Literatur unserer Tage.“ (98) Bialiks Anliegen ist es nun, das literarische Potenzial der Halacha freizulegen, da sie die Darstellung des tätigen Lebens enthalte und leicht das Material zu einem jüdischen Epos (101) liefern könne. Dabei folgt er dem kulturzionistischen Literaturmodell, nach dem der gottgesegnete Künstler die Seele des Volkes ausdrückt (102), „nationale Lyrik“ (103) schafft und die Halacha in ein nationales Epos verwandelt (103). Ebenso ist die kulturzionistische und der Avantgarde nahestehende Vorstellung zu finden, dass Literatur auf das Leben einwirken solle. Bialik geht es um ein Schrifttum, das alle Zweige der menschlichen Kultur umfasst (106) und „das Leben gestaltet und Leben aufbaut“ (106). So spricht er mit typisch Buber’schem und nietzscheanisch konnotiertem Vokabular vom Streben nach Verwirklichung und dem Willen zur Tat (104 f.). Im Gegensatz zu der von Heine postulierten Dichotomie, bemüht sich Bialik um ein vitalistisch konnotiertes verbundenes Konzept. Die Halacha gilt Bialik lik: Halacha und Aggada. Übertragen v. Gerhard [Gershom] Scholem. In: Ders.: Essays, S. 82–107. Im Folgenden nachgewiesen mit Seitenangabe im Text. 19 Ch. N. Bialik: Halacha und Aggada, S. 103. 20 Ebenso: „Nun sind wir mit einem Geschlecht beglückt, das ganz und gar Aggada ist, Aggada im Schrifttum und Aggada im Leben.“ Ebd., S. 105.
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als Fortsetzung, ja Zielpunkt der Aggada (104), beide gehen als flüssiger und fester Aggregatzustand unaufhörlich ineinander über: „Lebendige und kraftvolle Halacha ist vergangene und zukünftige Aggada und umgekehrt. Anfang und Ende beider sind miteinander verflochten.“ (83) Nur Halacha sei verhärtend, nur Aggada sei zu wenig konkret, zu wenig mit Tat verbunden: Ein Judentum, das nur Aggada wäre, gliche einem Eisen, das man wohl in die Flamme, aber nicht in die Kühlung gebracht hat. Streben des Herzens, guter Wille, Erhebung des Geistes, innere Liebe – all dies sind schöne und sinnvolle Dinge, wenn an ihrem Ende Tat steht, eisenharte Tat, strenge Pflicht. (107)
Bialik betont ebenfalls die Offenheit der jüdischen Tradition für Aktualisierung und er betont die Möglichkeit, dass jeder an diesem Prozess teilhaben kann: Aber auch nach ihrer schriftlichen Fixierung versteinerte sie noch nicht, da die Thora des Mundes und des Herzens in der Tat auch nicht einen Augenblick aufhörte. Ihre lebendige und bewegte Atmosphäre formte stündlich an der schriftlichen Thora und strömte in sie über, um sie lebendig zu erhalten, auszubauen oder einzuschränken, zuweilen auch, um sie (für kurze Zeit oder ganze Epochen) zu annihilieren, je nach den Umständen oder auch den neuen Anschauungen und Meinungen. Nicht nur ‚Moses schrieb nieder und Jecheskiel hob auf‘, sondern auch irgendein ‚Daniel der Schneider‘ scheute sich nicht, an einem strengen Verbot der Thora sehr schweren Anstoß zu nehmen und im Herzen auf seine Aufhebung in der messianischen Zeit zu hoffen. (83 f.)
Wie eine Bemerkung aus Bialiks Essay „Das hebräische Buch“ (1925) bestätigt, ist dies für den orthodox lebenden Autor keine Säkularisierung, sondern er betont die ‚heilige‘ Qualität der Literatur: Ich weiß, das Buch und die Literatur sind in unseren Tagen profan geworden. In den Augen vieler gelten sie ebensoviel wie andere Ware. Aber die wahre Schöpfung spottet des Marktes und seiner Menge. Ihr Leben ist ewiges Leben und ihre Weihe für alle Zeiten.21
Anschließend an Heines und Bialiks Ausführungen lässt sich die moderne deutsch-jüdische und die neuhebräische Literatur als legitime Fortsetzung der mündlichen Tora durch moderne jüdische Autor/innen verstehen. Die entstehende Literatur ist dabei nicht zwangsläufig als säkular zu bezeichnen, wie 21 Chaim Nachman Bialik: Das hebräische Buch. In: Ders.: Essays, S. 45. Zu Bialiks prophetischem Dichtungsmodell: Reuven Shoham: Poetry and Prophecy. The Image of the Poet as a „Prophet“, a Hero and an Artist in Modern Hebrew Poetry. Leiden, London 2003, S. 65–134.
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Bernd Witte für die Übertragung des rabbinischen Kommentarverfahrens auf die moderne deutsch-jüdische Literatur argumentiert hat.22 Zentral ist der Bezug auf die rabbinische Tradition, die als ein weites Verständnis von mündlicher Tora (Bialik: „Thora des Mundes und des Herzens“) entfaltet wird, das sich durchaus im rabbinischen Modell mündlicher und schriftlicher Tora bewegt, dabei keine rabbinische Autorität mehr benötigt und nicht auf halachisches, aber doch lebenspraktisches Wirken ausgerichtet ist. Das rabbinische Konzept einer Moses schon am Sinai offenbarten mündlichen Tora, die die schriftliche Tora den Zeitumständen anpasst, damit sie lebbar sein kann und eine Kontinuität der Tradition erhält, wird in der Grundkonzeption nicht überschritten, allerdings mit poetologischen Modellen einer wiederkehrenden prophetischen Offenbarung verschränkt.23 So werden rabbinische Gattungen und Kommentar- und Schreibverfahren von modernen Autor/innen übernommen und mit anderen jüdischen Traditionsbeständen, wie dem königlichen (König David als Dichter der Psalmen) und dem prophetischen Modell,24 verbunden. Außerdem werden in der sephardischen und/oder chassidischen Tradition stehende, über den Begriff des „Östlichen“ verbundene, schöpferisch und kabbalistisch konnotierte „Wunderrabbiner“-Figuren erschaffen.
22 Bernd Witte beobachtet von Mendelssohn über Heine, Buber, Kafka bis zu Benjamin eine Profanierung der Inhalte des Kommentars und damit einen Verlust der Bedeutung des heiligen Ursprungstextes. Bernd Witte: Jüdische Tradition und literarische Moderne. Als Gegenargument lässt sich neben einer Infragestellung der impliziten Säkularisierungsthese anführen, dass der poetologische Bezug auf die rabbinische Hermeneutik, also die Schreibund Kommentierungsverfahren die Tradition und z.T. den Bezug zum Ursprungstext erhält. Sicherlich ist es richtig, dass es eines Säkularisierungsschrittes bedarf, um sich als moderne/r Autor/in in eine prophetische Tradition zu stellen oder die mündliche Tora ohne rabbinische Autorität weiterzuschreiben, den die jüdische Aufklärungsbewegung (Haskala) zweifelsfrei gegangen ist bzw. mit vorbereitet hat. Dies sagt jedoch noch nichts über den Charakter des Textes oder seinen Platz im Diskursfeld religiös-säkular, heilig und profan aus, das in der Moderne ein anderes ist und den jeweiligen Zeitumständen entsprechend neu ausgehandelt wird, so dass etwas als religiös erscheinen, gemeint oder verstanden werden kann, das es nach traditionellem Verständnis zuvor nicht war. Zu einem Modell von Säkularisierung als Verschiebung innerhalb des Diskursfeldes vgl. u.a. Daniel Weidner (Hg.): Urpoesie und Morgenland. Johann Gottfried Herders „Vom Geist der Erbräischen Poesie“. Berlin 2008. Zur neueren Forschung zum Status des Heiligen in der Moderne u.a.: Héctor Canal, Maik Neumann, Caroline Sauter und Hans-Joachim Schott (Hg.): Das Heilige (in) der Moderne. Denkfiguren des Sakralen in Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2013. 23 Vgl. hierzu Reuven Shoham: Poetry and Prophecy. 24 Almuth Hammer hat in ihrer Studie ausgeführt, dass Lasker-Schüler in der Jussuf-Figuration königliche und prophetische Topoi verbindet. Almuth Hammer: Erwählung erinnern, S. 195–200.
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Kulturzionistische Protagonist/innen sind erneut Vorreiter in der literarischen Umsetzung dieser Konzeption und deren Anbindung an zeitgenössische, auch im nichtjüdischen literarischen und geistesgeschichtlichen Diskurs zentrale Phänomene wie Mythisierung, jüdischer Messianismus, Utopien und prophetische Dichtungsmodelle, z.B. im Expressionismus. Im Folgenden wird Lasker-Schülers Projekt einer Hebräischen Avantgarde in der Nachfolge von Heinrich Heine mit Bezug auf rabbinische Schreibverfahren und utopische bzw. antizipatorische Aspekte der rabbinischen Tradition im Medium avantgardistischer Literatur untersucht. Für die zentralen Texte dieses Projekts ist jeweils die enge Anbindung, aber weiterhin kritische Überschreitung des kulturzionistischen Diskurses als zweiter Schwerpunkt zu zeigen. Rekonstruiert wird das Modell einer Hebräischen Avantgarde als eine auf ein mehrdimensional verstandenes ‚Jerusalem‘ ausgerichtete Poetologie und Lebenshaltung, die das rettende und subversive Potenzial jüdischer Literatur und Tradition in der Nachfolge Heine’scher, rabbinischer, prophetischer und königlicher jüdischer Traditionselemente als Kommentarverfahren und fortgesetzte Offenbarung im Kontext der historischen Avantgarden entfaltet. IV.1 Melodien, Legende[n], Balladen: Die Hebräischen Balladen (1912/13) als avantgardistischer Midrasch und schöpferischer jüdischer Mythos „… und gerade Heine überzeugt mich. Himmel hing noch über ihn hinaus und darum riß er fahrläßig an den blauen Gottesranken, wie ein Kind wild die Locken seiner Mutter zerrt.“ Else Lasker-Schüler: Mein Herz (1912)25
Unter dem Titel Hebräische Balladen hat Lasker-Schüler im Herbst 1912 17 Gedichte zusammengestellt, die sich meist schon im Titel auf Figuren der Tora bzw. des Tanach beziehen oder andere Bezüge auf die jüdische Tradition aufweisen. Da die Gedichte über eine große zeitliche Spanne zwischen 1905 und 1912 entstanden und fast alle schon zuvor publiziert worden sind, ist davon auszugehen, dass es sich um eine programmatische Zusammenstellung handelt. Ein deutlicher Schwerpunkt lässt sich in den Jahren 1910 bis 1912 feststellen, u.a. sind in dieser Zeit mehrere der neuen Gedichte in der Zeitschrift Der Sturm 25 KA 3.1, S. 209.
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erschienen26 und weisen auf ein zunehmend fokussiertes Projekt im Umkreis der Avantgarde hin. Lasker-Schüler beginnt mit den Hebräischen Balladen ein poetologisches Projekt, mit dem rabbinische Schreibverfahren und die damit verbundenen ethischen und utopischen Implikationen für eine avantgardistische Literaturkonzeption fruchtbar gemacht werden. Sie entwickelt dieses Projekt einerseits in der nun direkt markierten Auseinandersetzung mit Heinrich Heine, denn der Titel der Gedichtsammlung bezieht sich auf Heines Hebräische Melodien (1851).27 Andererseits verweist der Titel Hebräische Balladen auf den kulturzionistischen Diskurs und die Bemühungen um die geistige Erneuerung der jüdischen Tradition, hier besonders durch die Literatur. So ist der Begriff ‚Hebräisch‘ in die kulturzionistischen Debatten um die ‚richtige‘ Sprache jüdischer Dichtung einzuordnen (vgl. Kapitel I.5 und II.). Lasker-Schüler bezieht eine eigene poetologische Position, die sich in ihrer so häufig überlieferten Antwort auf die Frage nach einer Übersetzung der Hebräischen Balladen ins Hebräische dokumentiert, sie seien schon hebräisch geschrieben.28 Denn mit dem Begriff des Hebräischen sind in ihrer Verwendung „urjüdische“ und dabei vor allem ethische, avantgardistische und poetische Werte verbunden,29 es geht weniger um eine konkrete Sprache. Mit dem Begriff des Hebräischen knüpft Lasker-Schüler an kulturzionistische und avantgardistische Modelle eines „Urjudentums“ an und an die ethische Komponente im deutschsprachigen Kulturzionismus, für die Martin Bubers 1913 zum ersten Mal den Begriff „hebräischer Humanismus“ verwendet.30
26 1910: „Pharao und Joseph“, „David und Jonathan“, „Versöhnung“, 1912: „Esther“. KA 1.2, S. 48 ff. 27 Wie weiter oben gezeigt, leitet Heine darin die moderne deutsch-jüdische Literatur aus den rabbinischen Gattungen Halacha und Aggada und dabei die Poesie aus der Aggada ab. Gleichzeitig stellt er die jüdische Dichtungstradition in der Gestalt der Gedichte Jehuda Halevis der griechischen Tradition und den Dichtungen Homers als gleichwertig an die Seite. Vgl. hierzu die Ausführungen von Bernd Witte, der betont, Heine unternehme „den Versuch einer radikalen Neudefinition des Ursprungs der kulturellen Überlieferung im Westen“. Bernd Witte: Jüdische Tradition und literarische Moderne, S. 92. 28 Die Anekdote überliefert Paul Pförtner, zeitgenössisch wurde diese Einschätzung u.a. von Alice Jacob-Loewenson, die einige Gedichte Lasker-Schülers ins Hebräische übertrug, und dem deutsch- und hebräischsprachigen Autor Uri Zwi Greenberg ‚bestätigt‘. Vgl. Christine Radde: Else Lasker-Schülers „Hebräische Balladen“. Trier 1998, S. 22, 42. 29 Vgl. ebd., S. 47. Sie interpretiert hebräisch als „poetisch, mythisch, heilig“, ohne auf einen Bezug zum Kulturzionismus oder der jüdischen Erneuerungsbewegung einzugehen. 30 Martin Buber: Hebräischer Humanismus. In: Ders.: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. 2., durchges. u. erw. Aufl., Neuausg. Gerlingen 1997, S. 717–729.
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In den Hebräischen Balladen sind tanachische Vorbildfiguren gestaltet, die zum einen häufig als schöpferische Figuren konnotiert und zum anderen in der kulturzionistischen Rezeption als moralische Vorbilder wahrgenommen worden sind. So berichtet Gershom Scholem in seinen Jugenderinnerungen von Rezitationen der Balladen bei der Gruppe „Jung Juda“ um 1913.31 Darüber hinaus wird durch den Begriff der Ballade32 ein poetologisches Unternehmen angezeigt, dass zum einen der ‚deutschen‘ klassischen und romantischen Balladentradition „hebräische“ Balladen an die Seite stellt33 und zum anderen deutlich auf kulturzionistische, in einem neoromantischen Kontext entworfene Konzepte, wie Börries von Münchhausens Balladensammlung Juda oder Martin Bubers Überlegungen zur Legende als jüdischem Mythos der Berufung in der Einleitung zur Legende des Baal=schem (1908), bezogen ist.34 Buber entwickelt die These, dass ein lebendiger jüdischer Mythos bis heute bestehe und dass das u.a. von ihm selbst am Beispiel des Chassidismus unternommene Weitererzählen dieses Mythos das wesentliche Element der jüdischen Wiedergeburt sei. Lasker-Schüler knüpft über den Titel und das an Heines Modell eines „Schlemihltums“ jüdischer Dichter erinnernde Gedicht „Im Anfang“35 an die von ihm in den Hebräischen Melodien entfaltete Übertragung rabbinischer Gattungen auf die jüdische Literatur an. Die Hebräischen Balladen können als moderne Version aggadischer „Poesie“ und damit als avantgardistischer Midrasch36 bezeichnet werden. 31 Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen. Frankfurt/Main 1977, S. 61 f. Scholem lobt die Hebräischen Balladen, „von denen einig zu ihren schönsten und unvergeßlichsten Sachen gehören.“ 32 Lasker-Schülers „Balladen“ sind formal sehr unterschiedlich gestaltet und erfüllen weder die Kriterien eines traditionellen Gattungsverständnisses als Ur-Ei aus Lyrischem, Epischem und Dramatischem, wie sie Goethe entworfen hat, noch die Kriterien, die Hartmut Laufhütte (Hg.) Deutsche Balladen. Stuttgart 1991, aufgestellt hat. 33 Auf diese Parallele weist Christine Radde hin, ohne eine Antwort zu geben, was die Wendung ins Hebräische bedeuten könnte. Vgl. Christine Radde: Else Lasker-Schülers Hebräische Balladen, S. 42. Nach Di Rosa verweist die Bezeichnung „Balladen“ auf „den Erzählhorizont des Epos“ und soll „deren symbolische Genese aus der jüdischen Volksseele […] suggerieren“. Valentina Di Rosa: „Begraben sind die Bibeljahre längst“. Diaspora und Identitätssuche im poetischen Entwurf Else Lasker-Schülers. Paderborn 2006, S. 191. 34 Martin Buber: Die Legende des Baal=schem. Frankfurt/Main: Rütten & Loening 1908. 35 Vgl. hierzu Itta Shedletzky: Bacherach und Barcelona. On Else Lasker-Schüler’s Relation to Heinrich Heine. In: Mark H. Gelber (Hg.): The Jewish Reception of Heinrich Heine. Tübingen 1992, S. 113–126. 36 Die Idee, die Hebräischen Balladen als avantgardistischen Midrasch zu interpretieren, verdanke ich einem Hinweis von Jakob Hessing, der zu Beginn seines Aufsatzes Else Lasker-Schüler. Jewish Aspects of Her Writing (1999) über eine Besprechung von Lasker-Schülers Gedicht „Joseph wird verkauft“ berichtet, die er „Die Ballade als Midrasch“ genannt hat. Jakob Hessing: Else Lasker-Schüler – Poetess of No Future. Jewish Aspects of her Writing. In: Else
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Des Weiteren nimmt Lasker-Schüler Heines selbstbewusstes Postulat eines dem griechischen gleichwertigen bzw. vorzuziehenden jüdischen Mythos auf und verbindet es zeitgenössisch mit Bubers Überlegungen zur Legende als schöpferischem jüdischen Mythos der Berufung. Sie verbindet dabei die ‚urjüdischen‘, hebräischen Mythen der Tora und des Tanach und deren rabbinische Auslegung mit zeitgenössischen kulturzionistischen und psychoanalytischen Modellen, um im Rahmen ihrer zuvor entwickelten poetologischen Prämissen (vgl. Kapitel III) zu einer eigenen Deutung zu gelangen. Dabei wird Lasker-Schüler an keiner Stelle nationalistisch im Sinne von Ludwig Strauß’ Begriff der zionistischen „Hurrahlyrik“, sondern legt erneut eine sehr differenzierte Auseinandersetzung vor, die unter dem Motto von „Versöhnung“ (166) innerjüdische Differenz (u.a. „Jakob und Esau“, „David und Jonathan“), aber auch Differenz im Verhältnis zu Nichtjuden oder in Geschlechterbeziehungen („Pharao und Joseph“, „Ruth“, „Boas“, „Eva“) im Medium der Literatur integriert. Der jüdische Mythos wird aus einer Verletzung entwickelt und die z.T. hoch aufgeladene prophetische und mit Auserwählung durch jhwh verbundene Dichtungskonzeption (u.a. „Mein Volk“, „Esther“, „Jakob und Esau“, „Jakob“) durch einen (selbst-)ironischen Bezug auf Heines Dichterentwurf als „Luftkindgrillenart“ im Schlussgedicht „Im Anfang“ gebrochen. IV.1.1 „Esther“ – das gefährdete, bewahrende und subversive Potenzial der jüdischen Tradition „Mordechai aber ging hinaus von dem König in königlichen Kleidern, blau und weiß, und mit einer großen goldenen Krone, angetan mit einem Mantel aus Leinen und Purpurwolle. Und die Stadt Susa jauchzte und war fröhlich. (Hervorh. B.M.K.)“ (Esther 8,15) Esther Esther ist schlank wie die Feldpalme Nach ihren Lippen duften die Weizenhalme Und die Feiertage, die in Juda fallen. Nachts ruht ihr Herz auf einem Psalme Die Götzen lauschen in den Hallen. Lasker-Schüler. Ansichten und Perspektiven. Views and Reviews. Hrsg. v. Ernst Schürer u. Sonja Hedgepeth. Tübingen, Basel 1999, S. 81–87, hier S. 85.
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Der König lächelt ihrem Nahen entgegen – Denn überall blickt Gott auf Esther. Die jungen Juden dichten Lieder an die Schwester Die sie in Säulen ihres Vorraums prägen.37
Unter der Bezeichnung Midrasch wird im engeren Sinne die rabbinische Tanachauslegung im ersten Jahrtausend n.d.Z. verstanden. Im weiteren Sinne bezeichnet das Wort Midrasch, das vom hebräischen Verb „darasch“ (suchen) abgeleitet ist,38 die Suche nach dem Sinn des biblischen Textes.39 Hermeneutisch ist mit der Gattung Midrasch, gerade mit den aggadischen (erzählenden) Midraschim, eine freiere Auslegungspraxis verbunden, die Strack/Stemberger als „schöpferische Philologie“40 bezeichnet haben. Der Tanach gilt als kanonisierter, nun zu kommentierender Text, in dem nach der Schule Rabbi Akibas alles Bedeutung hat und ausgelegt werden muss. Die Auslegung folgt hermeneutischen Regeln, wirkt aber sehr „frei“, so werden mehrdeutige Ausdrücke, stilistische Doppelungen und sinnverändernderte Satz- und Worttrennungen gedeutet (ebd. 99), außerdem finden Techniken perspektivischen Erzählens, das „Erfinden“ von Selbstgesprächen oder Dialogen, das Hinzufügen neuer Personen, das Erzählen einer Geschichte mit anderem Ausgang Anwendung.41 Grundlegend ist das Verständnis, dass eine Torastelle mehrere Bedeutungen hat, entsprechend des Ausspruchs in den „Sprüchen der Väter“ über die Tora: „Wende und wende sie, denn alles ist in ihr“ (Abot V,22). Hier ist eine Offenheit der jüdischen Tradition42 und Auslegungspraxis angelegt, die diese rabbinische Gattung und ihre
37 KA 1.1, S. 158 f. 38 Der Begriff findet sich in der Tora: „Und die Kinder stießen sich miteinander in ihrem [Rebekkas, Anm. B.M.K.] Leib. Da sprach sie: Wenn mir’s so gehen soll, warum bin ich schwanger geworden? Und sie ging hin, den Herrn zu befragen [liderosh, Anm. B.M.K.].“ (Bereschit/Genesis 25,22) 39 So definiert Jacob Neusner die Aufgabe des Midrasch. Vgl. Jacob Neusner: Judaism and the Interpretation of Scripture. Introduction to the Rabbinic Midrash. Peabody 2004, S. VII. 40 Hermann L. Strack, Günter Stemberger: Einleitung in Talmud und Midrasch. 7., völlig neu bearb. Aufl. München 1982, S. 225. 41 Susanne Plietzsch: Literatur im Dialog. Die Faszination von Talmud und Midrasch. Zürich 2007, S. 15. 42 Gershom Scholem hat diese Offenheit der jüdischen Tradition in seiner historischen Interpretation jüdischer Mystik zum Wort jhwhs im Extrem beschrieben: „Selber bedeutungslos, ist es das Deutbare schlechthin“. Gershom Scholem: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala. In: Ders.: Judaica 3. Studien zur jüdischen Mystik. Frankfurt/Main 1970, S. 7–70, hier S. 51. Bernd Witte nennt dies eine „extreme Auffassung des kommentierenden Schreibens“. Bernd Witte: Jüdische Tradition und literarische Moderne, S. 11.
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hermeneutischen Verfahren für die Adaption in moderner und avantgardistischer Literatur interessant machen.43 In den Hebräischen Balladen, die hier als avantgardistischer Midrasch gelesen werden, reflektiert Lasker-Schüler im programmatisch poetologischen Gedicht44 „Esther“ die Funktion von Literatur für das Etablieren und Weitertragen der jüdischen Tradition45 im Kontext jüdischer Diaspora-Erfahrung als aktualisierend und errettend. Sie spricht ihr in einem avantgardistischen Impuls das subversive Potenzial zu, traditionelle Machtstrukturen zu überwinden. Die darin aufgenommene zentrale Erwähnung von „jungen Juden“, die Lieder über Esther dichten (Z. 8), verweist zeitgenössisch (natürlich nicht nur, aber prominent) auf die sich selbst als jung-jüdisch bezeichnende Literatur,46 wie sie u.a. in Berthold Feiwels Anthologie Junge Harfen (1903) versammelt wurde,47 und macht das Gedicht als poetologische Auseinandersetzung mit dem kulturzionistischen Diskurs und dessen Projekt der Erneuerung der jüdischen Tradition im Medium der Literatur erkennbar. 43 Zur Anwendung der Gattungsbezeichnung Midrasch auf moderne jüdische Literatur vgl. u.a. Alfred Bodenheimer: Kein Midrasch nach Auschwitz. Zu Dan Pagis’ Gedicht „Mit Bleistift im versiegelten Waggon geschrieben“. In: EinBruch der Wirklichkeit. Die Realität der Moderne zwischen Säkularisierung und Entsäkularisierung. Berlin 2002, S. 210–219. Bodenheimer geht davon aus, dass eine Anwendung der Techniken des Midrasch durch moderne Autorinnen und Autoren bis zur Schoa möglich ist, nach dem Zivilisationsbruch Auschwitz jedoch nur mehr „eine Art negativer Midrasch“ ohne die Vorstellung einer göttlichen Erlösung, der, wie Pagis’ Gedicht, das Verstummen angesichts der Schoa integriere (ebd., S. 218). 44 Weitere programmatisch poetologische Gedichte sind: „Mein Volk“, „Versöhnung“ und „Im Anfang“, die als Eingangs- und Ausgangsgedichte in verschiedenen Ausgaben fungieren, sowie alle Gedichte, die Dichter/innen-Figuren entwerfen (u.a. „Jakob und Esau“, „Abel“, „Jakob“, „Esther“, „Zebaoth“ und „Im Anfang“). 45 Diesen Fokus betont auch Markus Hallensleben: Else Lasker-Schüler. Avantgardismus und Kunstinszenierung. Tübingen, Basel 2000, S. 231. 46 Vgl. KA 1.2, die zu der Bezeichnung „junge Juden“ anmerkt: „Wohl eine Anspielung auf die zionistischen Juden im Sinnen von Martin Bubers ‚Jüdischer Renaissance‘: der Erneuerung der jüdischen Kultur durch die jung-jüdische Dichtung.“ (KA 1.2, 184) Bubers Konzeption beschränkt sich jedoch nicht allein auf Literatur, sondern umfasst auch bildende Kunst, praktische Aufbauarbeit und pädagogische Aspekte. Christine Radde hält diesen Verweis für „unwahrscheinlich“. Christine Radde: Else Lasker-Schülers Hebräische Balladen, S. 216. 47 Auch die Bezeichnung „Juda“ verweist auf einen kulturzionistischen Bezug. Die Bezeichnung für das biblische Königreich, das nach dem vierten Sohn Jaakovs benannt wurde und von dem die Bezeichnung Juden abgeleitet ist, wird zum einen in zionistischen und antisemitischen zeitgenössischen Debatten für das jüdische Volk verwendet. Zum anderen ist Juda der Titel der bedeutenden Sammlung biblischer Balladen zum antiken Judentum von Börries von Münchhausen mit Illustrationen von E. M. Lilien. Wie in Kapitel III.1 gezeigt werden konnte, bezieht sich Lasker-Schüler in ihrem Gedichtband Der siebente Tag auf diesen Zyklus.
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Das Gedicht bezieht sich auf die Megillat Esther (die Esther-Rolle, christl. das Buch Esther), die als Teil des Tanach kanonisiert ist. Die Megillat erzählt die Geschichte der jüdischen Königin Esther, die unter König Ahaschverosch die Juden in Persien vor einem Pogrom rettet, indem sie sich vor dem König zu ihrer jüdischen Identität bekennt und für ihr Volk das Recht auf Selbstverteidigung erwirkt. Diese Errettung wird am jüdischen Purimfest erinnert. Die Etablierung des Festes, dessen Name auf die Lose (Purim) verweist, die laut der Geschichte geworfen worden sind, um den Tag des Pogroms zu bestimmen, wird in der Megillat Esther selbst zugeschrieben. Lasker-Schülers Gedicht „Esther“ kann als avantgardistischer Midrasch gelesen werden, da sie durch die extreme Verdichtung der biblischen Motive der Esther-Legende und durch die Umdeutung zentraler Aspekte eine eigene Auslegung im Anschluss an die rabbinische Auslegungspraxis vorlegt. Lasker-Schüler nimmt im Gedicht, das selbst wie eine Miniatur-Esther-Rolle gelesen werden kann, zwei entscheidende Veränderungen vor. So wird Esthers Handeln direkt mit einer Auserwählung durch jhwh in Verbindung gebracht [„Denn überall blickt Gott auf Esther“ (Z. 7)], während dieser in der Megillat keine Erwähnung findet. Des Weiteren wird die Verbindung Esthers und des (persischen) Königs als individuelle Liebesbeziehung gestaltet. Während Esther es in der Megillat unter drohender Todesstrafe wagt, selbst unter die Augen des Herrschers zu treten, der gerade seine vorherige Frau wegen Befehlsverweigerung verstoßen und wahrscheinlich ermorden lassen hat (Esther 1,10–20), wird die imperiale Machtgeste des erhobenen Arms im Gedicht durch die individuelle, elementar menschliche und affektiv als liebend besetzte Geste des Lächelns ersetzt (Z. 6).48 Die Begegnung wird dadurch den, durch den Herrscher symbolisierten, patriarchalen Machtstrukturen enthoben. Dem auf der Oberfläche harmonisch wirkenden Gedicht, das eine idealisierte Esther zeigt, die ihr Volk scheinbar mühelos vor dem Pogrom rettet, ist die drohende Vernichtung und die blutige Selbstverteidigung, die den Intertext prägen (es wird immerhin berichtet, dass 75.811 Judenfeinde in Selbstverteidigung getötet werden49), dem Gedicht auf der semiotischen Ebene durch das Reimschema und durch das Einfügen eines Gedankenstrichs eingeschrieben.50 Besonders 48 „Und als der König die Königin Ester im Hofe stehen sah, fand sie Gnade vor seinen Augen. Und der König streckte das goldene Zepter in seiner Hand gegen Ester aus. Da trat Ester herzu und rührte die Spitze des Zepters an.“ (Esther 5,2) 49 Vgl. Esther 9,6–10, 15 f. 50 So steht der Reim von „fallen“ und „Hallen“ den mit Esther verbundenen Reimen („Palme“, „Halme“ und „Psalme“) entgegen. Die Formulierung „die Feiertage, die in Juda fallen“ verweist auf das Purimfest, das seinen Namen von den Losen (Purim) ableitet, die der Judenfeind Haman werfen lässt, um den Tag des geplanten Pogroms zu bestimmen. Durch den Reim werden die fallenden Lose mit einer weiteren potenziell bedrohlichen Situation verbunden,
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auffällig ist die Zäsur im Reimschema zwischen der zweiten und dritten Strophe (aab ab cd cd), die eine Leerstelle erzeugt, in der der nicht explizit benannte Schrecken seinen Platz findet. Es ist in diesem Zusammenhang zunächst unklar, ob sich der Ausdruck „ihrem Nahen“ in der sechsten Zeile auf Esther oder auf die in der vorherigen Zeile erwähnten Götzen bezieht, so dass der Gedankenstrich eine weitere Zäsur inszeniert, die an den Moment des Fallens der Lose (Purim) erinnert, die über den Tag des Pogroms bestimmten. So wird der Entscheidungsmoment zwischen Errettung oder Vernichtung performativ im Text erzeugt. Dabei sind Bedrohung und Rettung eng miteinander und mit Dichtung verbunden, denn auch die Götzen lauschen dem Psalm, der Esther als Jüdin zu erkennen geben könnte.51 Mit der Übernahme der Auslegungspraxis des Midrasch bezieht sich LaskerSchüler auf das rabbinische Kommentarverfahren, um diese strukturelle Verbindung im Rahmen der jüdischen Tradition zu reflektieren. Über das Motiv der Weizenhalme als Nahrungs- und Rettungssymbol wird eine metaphorische Verknüpfung der Esther-Figur mit der Joseph-Figur der Tora hergestellt. Mit der Zeile „Nach ihren Lippen duften die Weizenhalme“ (Z. 2) wird Esthers errettendes Sprechen vor dem König mit dem Motiv des Getreides verbunden, das in der Joseph-Erzählung die Errettung des jüdischen Volks vor der Hungersnot symbolisiert. Parallelen zwischen beiden Erzählungen lassen sich darin sehen, dass sich Joseph ebenfalls in der Diaspora befindet (Ägypten), dem Herrscher (dem Pharao) nahesteht und von jhwh zur Rettung auserwählt ist. Die vierte Zeile: „Nachts ruht ihr Herz auf einem Psalme“ kann als Anspielung auf Josephs von jhwh inspirierte Träume gedeutet werden. Lasker-Schüler hat im Gedicht „Pharao und Joseph“ diese Verbindung als Rollenmodell einer beschützenden, Dichtung inspirierenden Verbindung entworfen, die mit der Liebesgeste des persischen Königs in „Esther“ vergleichbar ist und das Motiv des Weizens aufnimmt: Immer denkt Pharao An meine Brüder, Die mich in die Grube warfen. den lauschenden Götzen (Z. 5). Diese markieren, dass die Jüdin Esther sich in einer diasporischen Situation befindet. Ihr Lauschen ist doppeldeutig interpretierbar, als dem Psalm zuhörend oder im Kontext der Megillat als das Lauschen von Spionen, da der Psalm Esthers Identität als Jüdin verraten könnte. 51 Dass Lasker-Schüler die erinnerungskulturellen Bezüge des Themas und die Aktualisierungsfunktion eines Schreibens in rabbinischer Tradition bewusst waren, darauf weist das Datum der Erstpublikation in der Zeitschrift Der Sturm im März 1912 hin. Das Gedicht erscheint zu Purim (2.–4. März 1912) und erneut zu Purim 1926 und 1935 im Israelitischen Familienblatt. Vgl. KA 1.2, S. 183.
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Säulen werden im Schlaf seine Arme Und drohen! Aber sein träumerisch Herz Rauscht auf meinem Grund. Darum dichten meine Lippen Große Süßigkeiten, Im Weizen unseres Morgens.
Lasker-Schüler entwirft die Esther-Figur und -Geschichte, die nicht zur Tora (den fünf Büchern Moses’) gehört, aber als Teil des Tanach52 kanonisiert ist, als weibliches Pendant zur Joseph-Geschichte. Poetologisch weist die Verschränkung darauf hin, dass die Geschichte von Esthers Wirken als vorbildliche Retterin des jüdischen Volkes in einer Diaspora-Situation als erzählerische Auslegung bzw. als Kommentar und Aktualisierung der Joseph-Erzählung der Tora gelesen werden kann. Schon die Megillat Esther thematisiert nach der Errettung das Etablieren einer Tradition und betont, dass Esther selbst es ist (zumindest beim zweiten und entscheidenden Mal), die die Geschichte aufschreibt und per Dekret die Feiertagstradition installiert (Esther 9,17–32). Im Gedicht wird die Esther-Figur eng mit Metaphern lyrischer Dichtung und deren ‚Urform‘ des Gesangs verbunden. Es sind Esthers Lippen, die erretten. Dies kann zum einen auf die Megillat bezogen werden, in der ihr Onkel Mordechai Esther auffordert, für ihr Volk zu sprechen und sich als Jüdin zu erkennen zu geben (Esther 4,14). Gleichzeitig sind Esthers Lippen im Gedicht über den Psalm, auf dem ihr Herz ruht (Z. 4), mit den Liedern verbunden, die an sie gedichtet werden (Z. 8). Mit der Zeile „[d]ie jungen Juden dichten Lieder an die Schwester“ (Z. 8) verweist das Gedicht auf eine literarische Tradition, die sich wiederum als Kommentartradition der Esther-Geschichte deuten lässt. Den Prozess setzen die „jungen Juden“ fort, die mit Esther als ihrer „Schwester“ nicht nur im Sinne einer genealogisch abgeleiteten Volkszugehörigkeit, sondern vor allem geistig als „junge“, mit kreativem und subversivem Potenzial begabte, in gewissem Sinne avantgardistische Dichter verbunden sind. Gleiches trifft auf Lasker-Schülers eigenes Gedicht „Esther“ zu, das Teil dieser Tradition ist und diese gleichzeitig als poe-
52 Tanach ist die hebräische Bezeichnung für die hebräische Bibel. Er umfasst die Tora (die fünf Bücher Moses’), die Prophetenbücher (Nevi’im) und die Schriften (Ketubim), letztere sind die fünf Megillot (hebr.: „Rollen“) Ruth, Hohelied, Kohelet, Klagelieder und Esther.
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tologischer Metakommentar reflektiert bzw. mit ihrer Dichtung eine eigene Tradition literarischer Widmungsgedichte inspiriert hat.53 Die letzte Strophe „Die jungen Juden dichten Lieder an die Schwester / Die sie in Säulen ihres Vorraums prägen“ (Z. 8 f.) ist dabei mehrdeutig. Zunächst ist es Esther, die sich in einer palastartigen Umgebung befindet, worauf die „Hallen“, in denen die Götzen Esthers Träume belauschen, hinweisen (Z. 5). Dabei lässt sich die Formulierung „ihres Vorraums“ als metonymische Verschiebung deuten, die Esther gegenüber den „jungen Juden“ selbst zu einem Heiligtum macht, das einen ‚Vorraum‘ hat, in dem Dichtung wie eine Opfergabe in einem Tempel dargebracht wird.54 Hier klingen Assoziationen zum Stiftszelt und später zum Tempel in Jerusalem und zu den Ritualvorschriften für Moses und den Hohepriester Aharon bzw. den Priesterstamm an. Im Bereich des „Allerheiligsten“ befinden sich die Gesetzestafeln, also sinnbildlich die schriftliche Tora, so dass die im Gedicht erwähnten Lieder an Esther als Teil der mündlichen Tora verstanden werden können. Die „junge[n] Juden“ werden hier mit der Tradition der Priester und Propheten in Verbindung gebracht und ein prophetisches und dem Ritualgeschehen nahestehendes Dichter-/innen-Modell entworfen, wie es zum einen für die Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aber ebenso für kulturzionistische Literatur typisch ist.55 Lasker-Schüler entwirft in „Esther“ ein Verständnis von jüdischer Literatur, das den oben dargestellten Überlegungen von Heine und Bialik nahesteht und jüdische Literatur als selbstverständlichen Teil der mündlichen Tora und somit als Teil der Offenbarung versteht, der eine notwendige Aktualisierung des Ursprungstextes vornimmt. Darüber hinaus lassen sich die „Säulen ihres Vorraums“ als Zugang zu Esthers Gemächern im Palast deuten, sie ist der Zugang zur Macht, die durch den Palast symbolisiert wird. 53 Durch die Zeile „Nachts ruht ihr Herz auf einem Psalme“ (Z. 4), die in dreifacher Weise mit Lasker-Schülers Poetologie verbunden ist, verweist Lasker-Schüler auf sich selbst als „Dichterin“ in der Tradition Esthers. Die Chiffre Herz ist mit der fast zeitgleich zu den Hebräischen Balladen erscheinenden Prosaarbeit Mein Herz verbunden. Mein Herz erschien zuvor unter dem Titel Briefe aus Norwegen in einer Fortsetzung im Sturm von September 1911 bis Juni 1912. „Esther“ erschien zuerst in: Der Sturm, Jg. 2 (März 1912), H. 103, S. 821. 54 Auf die Bezüge der Esther-Figur zur babylonischen Göttin Astarde wurde in der Forschung hingewiesen. Durch den Bezug auf jhwh wird im Gedicht eine monotheistische Perspektive für Esther selbst betont. Dass die jungen Juden die Grenze in ihrer Anbetung überschreiten, ist denkbar. 55 Achad Haam: Moses, der Prophet. In: Moses. Hrsg. v. Adolf Gelber. Berlin: Jüdischer Verlag 1905. Ders.: Priester und Prophet. In: Ders.: Am Scheidewege. Ausgewählte Essays. Autorisierte Übersetzung aus dem Hebräischen v. Prof. Israel Friedlaender. Berlin: Jüdischer Verlag 1904, S. 258–271.
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Versteht man die Einschreibung als eine ‚tatsächliche‘ (bildlich) oder zumindest symbolische, werden hier wahrscheinlich hebräische Schriftzeichen in die Säulen, also in die Stützpfeiler eines Palastteils, eingeprägt.56 Die „fremden“ Schriftzeichen sind nun doppeldeutig, zum einen verweisen sie auf die friedliche Koexistenz, solange die Liebesverbindung zwischen diesem König und Esther besteht. Aber wie das unterschwellig in die ‚Oberfläche‘ des harmonisch wirkenden Gedichtes eingeprägte Bedrohungsszenario anzeigt, ist dies keine Garantie für das Überleben (auch der neue Pharao in Ägypten vergisst Josephs Wirken57). So sind die Zeichen eher als subversives Potenzial im Sinne einer Unterminierung der durch den Palast symbolisierten Machtstruktur, die immer wieder die Verfolgung von Juden und Jüdinnen ermöglichen wird, zu deuten. Die Esther-Legende, die mit dem Bekenntnis zur eigenen Identität und Mut zur Selbstverteidigung verbunden ist, wird als Inschrift in den Säulen die Herrschaftsdynastie überdauern oder den Palast und damit deren Strukturen irgendwann zu Fall bringen, wie ähnliche Szenarien in Lasker-Schülers Werk vermuten lassen.58 Lasker-Schüler entwirft im Gedicht „Esther“ eine von jhwh inspirierte, auserwählte Dichtungskonzeption, die das Bekenntnis zur eigenen jüdischen Identität als einer Volkzugehörigkeit in ein Bekenntnis der Zugehörigkeit zu einer Schrift- und Schriftauslegungstradition umwandelt. Basis ist eine jüdische Literatur (Psalmen), die einer ständigen Erneuerung der Tradition verpflichtet ist, und die in diesem Prozess von Erinnerung und Erneuerung potenziell Machtstrukturen unterminieren kann. Das rettende Potenzial geht auf die Dichtung über. Lasker-Schüler legt hier einen poetologischen Entwurf vor, der kulturzionistischen Überlegungen nahesteht, dabei jedoch erneut die Möglichkeit betont, Differenz zu integrieren. Denn das Gedicht erinnert gleichzeitig an die individuelle Liebesverbindung zwischen der Jüdin Esther und dem persischen König,
56 Wie Markus Hallensleben andeutet, lassen sich die letzten beiden Zeilen als Symbol für das kulturelle Gedächtnis deuten. Markus Hallensleben: Avantgardismus und Kunstinszenierung, S. 230 f. Eine ausführliche Interpretation der erinnerungstheoretischen Implikationen ist hier nicht möglich. 57 „Da kam ein neuer König auf in Ägypten, der wusste nichts von Josef.“ (Schemot/Exodus 1,8) 58 Zum einen wird das Einprägen durch Gott inspirierter Schriftzeichen in die Säulen eines Palastes in der Erzählung „Der Dichter von Irsahav“ (1907) als bedrohlich gezeigt und der väterliche Palast letztendlich durch den Dichter Grammaton zerstört. Zum anderen findet sich die Zerstörung eines Tempels durch dessen Säulen, wobei auf die Schimschon- (Simson-) Erzählung des Tanach verwiesen wird, in der Erzählung Der Wunderrabbiner von Barcelona (1921).
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so dass der Entwurf für eine Überschreitung identitätspolitischer Grenzen im Zeichen der Dichtung offen ist. Das ambivalente Motiv der in die Säulen des persischen Palastes eingeprägten (hebräischen) Schriftzeichen markiert in diesem Kontext eine Reflexion über das Verhältnis von Traditionsbezug und Zerstörung59 und verweist auf die Avantgarde und deren Umgang mit der (literarischen) Tradition. So haben die „jungen Juden“ im Gedicht durch das Adjektiv ‚jung‘ und die destruktive Potenz ihrer Inschriften avantgardistisches Potenzial. Trotzdem zeigt der enge Rückbezug auf die Megilla, auf deren Struktur und Themen, dass sich für ein avantgardistisches Projekt der Erneuerung der jüdischen Tradition die Frage nach deren Zerstörung noch einmal in einer ganz anderen Radikalität stellt, denn es ist gerade der Fortbestand der Tradition, der ein Überleben ermöglicht.60 Dieses Spannungsfeld ist es, das die Hebräischen Balladen insgesamt als avantgardistischen Midrasch und als Beitrag zu einem schöpferischen jüdischen Mythos der Berufung auszeichnet. IV.1.2 Avantgardistischer Midrasch: „Jakob“ – Die provokative und ethisch signifikante Umdeutung der Jakob-Figur
Dass sich eine Modernisierung der Gattung Midrasch besonders anbietet, um einen schöpferischen jüdischen Mythos zu behaupten und im Medium (avantgardistischer) Literatur weiterzuführen, lässt sich besonders anschaulich am Gedicht „Jakob“ zeigen. Als eines der zuletzt entstandenen Gedichte der Hebräischen Balladen (nach Juni 1912), das nicht vorher an anderer Stelle publiziert wurde, ist anzunehmen, dass es eng mit der im Titel der Sammlung formulierten poetologischen Konzeption verbunden ist. Lasker-Schüler hat die Bedeutung des Gedichts für den ganzen Zyklus in späteren Ausgaben dadurch hervorgehoben, dass sie es prominent an letzter Stelle platziert.61 Außerdem sind zwei poetologische Reflexionen über das Gedicht und die darin vorgenommene 59 Vgl. auch Benjamins in den Kontext der Avantgarden zu stellende Überlegungen zum rettenden und strafenden Zitat, die Jürgen Ebach als Bezug auf halachisches und aggadisches Erzählen interpretiert hat. Jürgen Ebach: Das Zitat als Kommunikationsform. Beobachtungen, Anmerkungen und Fragestellungen am Beispiel biblischen und rabbinischen Zitierens. In: Ders.: Gott im Wort. Drei Studien zur biblischen Exegese und Hermeneutik. Neukirchen-Vluyn 1997, S. 27–84. 60 Vgl. hierzu Alfred Bodenheimers Studie Ungebrochen gebrochen. Über jüdische Narrative und Traditionsbildung. Göttingen 2012, in der er zeigt, dass in der jüdischen Tradition gerade die Gebrochenheit der Inhalte die ungebrochene Tradierung ermöglicht. 61 Vgl. die Ausgaben der Gesammelte Gedichte 1917, 1918/19 und 1920 sowie der Hebräischen Balladen 1920.
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Darstellung der Jakob-Figur in später entstandenen Texten erhalten, im Nachruf „An Franz Marc“ (9. März 1916) und im Essay „Das Gebet“ (1931), die dessen konzeptuelle Wichtigkeit unterstreichen. Lasker-Schüler nimmt in der Hebräischen Ballade „Jakob“ zunächst eine provokante, mit ethischen Implikationen versehene, kulturgeschichtlich und psychoanalytisch fundierte, aber auch spielerische und humorvolle Umdeutung der Jakob-Figur vor. Diese steht im Gegensatz zur Jakob-Erzählung in der Tora und der Deutung der Figur in der rabbinischen Überlieferung. Lasker-Schüler führt hier ihre Umdeutung der Erzählung im Gedicht „Jakob und Esau“62 weiter und entwirft eine ‚wilde‘ Jakob-Figur, der Eigenschaften des Bruders inkorporiert sind. Dabei werden kulturzionistische Diskurse um ein „Muskeljudentum“63 und damit verbundene heroische Männlichkeitsbilder sowie die avantgardistische Faszination an einer idealisierten ‚ursprünglichen Wildheit‘ und damit verbundenen Exotismen spielerisch umgesetzt und kritisch hinterfragt. Des Weiteren zeigt das Gedicht exemplarisch gerade den Namensgeber des Volkes Israel (hebr.: „der mit jhwh kämpft und besteht“) im Moment der von Buber in der Einleitung zur Legende des Baal=schem beschriebenen Berufungserfahrung als Ich und Du gegenüber jhwh. Im Rückbezug auf die Geschichte vom Kampf mit dem Engel in der Tora, die Buber in seinen Überlegungen zu einem jüdischen Mythos als „die stolzeste aller mythischen Sagen“64 bezeichnet, wird die Tradition eines schöpferischen mythischen Judentums entworfen, das in der Begegnung mit jhwh den entscheidenden zivilisatorischen Schritt einer ethisch und künstlerisch konnotierten Humanisierung vollzieht. Wiederum legt LaskerSchüler dabei eine gewagte und gleichzeitig differenzierte Auslegung vor, wenn sie einen schöpferischen jüdischen Mythos gerade aus dem Element der Verletzung Jakobs durch den erkämpften Segen entwickelt.65
62 Das Gedicht „Jakob und Esau“ erschien zuerst in: Simplicissimus, Jg. 17 (22. Juli 1912), H. 17, S. 264. 63 Max Nordau: Muskeljudentum. In: Die Welt, Jg. 4 (15.6.1900), H. 24, S. 2–3. 64 Martin Buber: Die Legende des Baal=schem. Frankfurt/Main 1908. S. III. 65 In der Sekundärliteratur ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass LaskerSchüler in den Hebräischen Balladen und speziell im Gedicht „Jakob“ einen Mythos erzähle. So spricht Christine Radde (1998) im Kontext des Gedichts „Jakob“ vom „Anspruch der Ballade, einen Mythos zu erzählen“, das Gedicht enthalte „Else Lasker-Schülers Mythos von der Genese ‚Israels‘“. Christine Radde: Else Lasker-Schülers Hebräische Balladen, S. 245, 249.
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Jakob Jakob war der Büffel seiner Herde. Wenn er stampfte mit den Hufen Sprühte unter ihm die Erde. Brüllend ließ er die gescheckten Brüder, Rannte in den Urwald an die Flüsse, Stillte dort das Blut der Affenbisse. Durch die müden Schmerzen in den Knöcheln Sank er vor dem Himmel fiebernd nieder Und sein Ochsgesicht erschuf das Lächeln.66
Die erste Zeile des Gedichts präsentiert Jakob als „Büffel seiner Herde“ und nimmt somit eine Animalisierung vor, wobei Jakob durch das Possessivpronomen zum Leittier und damit zum Anführer der Herde erklärt wird. Demnach wird die Verbindung zwischen einem Individuum in herausgehobener Stellung und einer Gemeinschaft bezeichnet, die über den Titel, der auf den Stammvater des jüdischen Volkes verweist, als jüdische konnotiert ist. In dem in gewisser Weise ‚erzählenden‘ Gedicht – es ist im Präteritum gehalten und die Sprechinstanz berichtet ‚auktorial‘ und verdichtet von der Wandlung des Büffels Jakob – wird der zugeschriebene Tiercharakter mit dem Assoziationsfeld der Wildheit verbunden. Durch die Bezeichnung als Büffel, das Verb „stampfte“ und den Tatbestand, dass die Erde „unter“ ihm „[s]prühte“, wird der Eindruck eines dynamischen, starken, wilden, wirkmächtigen Wesens erzeugt, das über den Topos der expressiven Aktivität traditionell maskuline Eigenschaften verkörpert. Das durchgängige trochäische Metrum betont das ‚büffelartige‘, archaische Element. In der zweiten Strophe wird das Motiv der animalischen Wildheit auf eine weitere Stufe gehoben, wenn Jakob sich als wilder Büffel von seinen „gescheckten Brüdern“ trennt und „brüllend“ in den „Urwald“ läuft. Die Wildheit wird durch das Vokabular des „Urwald[s]“ und die „Affenbisse“ zeittypisch exotistisch gefasst. Die über den Begriff des Büffels aufgerufene Assoziation von Büffelherden in der nordamerikanischen Prärie67 und damit verbundene Wildwest- und Indianerimaginationen, wie sie zeitgenössisch u.a. durch die Romane von Karl May
66 KA 1.1, S. 158. 67 Auf das Assoziationsfeld der indianischen Prärie hat zuerst Christine Radde aufmerksam gemacht. Christine Radde: Else Lasker-Schülers Hebräische Balladen, S. 246.
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präsent sind,68 werden über den Topos der exotischen Wildheit mit Motiven des Urwalds überlagert. Populärkulturell ist über den Topos des Wilden und motivisch über die Nähe von Mensch und Tier im Urwald eine Referenz auf Rudyard Kiplings The Jungle Book69 nicht unwahrscheinlich.70 Mit der Erwähnung der Affenbisse kommt eine humorvolle, spielerische Komponente hinzu, denn die „Affenbisse“ lassen die Redewendung ‚vom Affen gebissen‘ assoziieren, und wirklich rennt Jakob wie vom Affen gebissen in den Urwald, um dort seine Schmerzen zu stillen. Gleichzeitig wird die Wildheit sexualisiert, da Affen traditionell ungezügelte, triebhafte Sexualität und Verantwortungslosigkeit sowie in christlicher Perspektive ‚das Tier im Menschen‘ und damit die Sünde symbolisieren.71 Der Büffel Jakob, der sich von seiner Herde, also den weiblichen und jungen männlichen Tieren entfernt und mit seinen „Brüdern“, also rivalisierenden anderen Büffeln kämpft, scheint, spätestes sobald er auch diese verlässt, einen inneren Kampf mit seinen ‚animalischen Trieben‘ auszufechten, der ihn verletzt und ‚vom Affen gebissen‘ erschöpft niedersinken lässt. Hier wird eine ‚wilde‘ Version des Stammvaters Jakob entworfen, die so in der Tora nicht vorkommt und der traditionellen rabbinischen Auslegung der JakobFigur widerspricht. In der Tora ist Jakob ( Jaakov) der zweitgeborene Sohn Isaaks ( Jitzchaks) und Rebekkas (Rivkas), der schon im Mutterleib mit seinem Bruder Esau (Esav) im Streit liegt (Bereschit/Genesis 25,22 f.). Sein Status als ‚Leittier‘ des jüdischen Volkes ist also keineswegs von Anfang an gegeben. Vielmehr muss er sich diese 68 Dass es sich dabei eigentlich um Bisonherden handelt, ist kein Widerspruch, May verwendet ebenfalls die Bezeichnung Büffel und über den englischen Begriff „Buffalo“ liegt das Wort Büffel klanglich näher. Vgl. Karl May: Winnetou. Bd. 3. Berlin: Verlag Neues Leben 1983 (zuerst 1893 Friedrich Ernst Fehsenfeld): Büffel (12), Büffelfleisch (86), Bisonherde (166), Bison (201), Büffelhaut (259). 69 Englische Originalausgabe Bd. 1: 1894, Bd. 2: 1895. Rudyard Kipling: Im Dschungel. Übertragen aus dem Englischen des Rudyard Kipling von Curt Abel-Musgrave. Freiburg i.Br.: Fehsenberg 1904. Unter dem Titel Das Dschungelbuch in zwei Bänden erneut um 1910. 70 Die ersten drei Erzählungen sind der Geschichte des Jungen Mowgli gewidmet, der nach einem Angriff des Tigers Sheerkan bei Wölfen aufwächst und von einem Panther und einem Bären das Überleben im Dschungel erlernt. Motivische Parallelen zum „Jakob“-Gedicht Lasker-Schülers sind darin zu sehen, dass in der dritten Erzählung („Tiger! Tiger!“) Mowgli als Hirte seine Büffel schickt, um den ihm nach dem Leben trachtenden Tiger tot zu trampeln. Auch wird die Affenhorde (Bandar-Log), von welcher Mowgli in der zweiten Geschichte („Kaa’s Jagd“) entführt wird, ähnlich negativ dargestellt, als gesetzlos und von den anderen Tieren verachtet. 71 Vgl. Roland Borgards: Affe. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. v. Günter Butzer u. Joachim Jacob. Stuttgart, Weimar 2012, S. 9–10. Christliche Traditionsbestände spielen für Lasker-Schülers Schreiben durchgängig eine wichtige Rolle, werden jedoch häufig auf ihre jüdischen Ursprünge zurückgeführt.
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Position über viele Umwege und durch mehrere moralisch fragwürdige Listen, u.a. mit Hilfe der ihn favorisierenden Mutter Rebekka, erkämpfen. So erwirbt er das Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht von seinem Bruder (ebd., 25,29–34) und erschleicht sich den Segen für den Erstgeborenen von seinem Vater, indem er sich als sein Bruder Esau ausgibt und seine glatte Haut mit Fell bedeckt (ebd., 27,1–30). Auch den Segen durch jhwh erhält Jakob nicht einfach, sondern erkämpft ihn in einem nächtlichen Kampf mit einem Engel Gottes am Fluss Jabbok (ebd., 32,25–33). Auf die Ambivalenz seines Charakters in der Tora weist schon sein Name hin. Jaakov wird von ‚aqev‘ (Ferse) abgeleitet, da er bei seiner Geburt die Ferse Esaus umfasst gehalten hat (ebd., 25,26). Das Verb ‚akav‘ bedeutet haften/unmittelbar folgen, im modernen Hebräisch wird hiervon ‚iqvi‘ als konsequent, folgerichtig abgeleitet. Zum anderen bedeutet das Adjektiv ‚aqov‘ abgeleitet von dem Sub stantiv Ferse: krumm, so dass der Name Jaakovs darauf verweist, dass er seine Bestimmung zwar konsequent, aber auf krummen oder verschlungenen Wegen erreichen wird.72 So muss er u.a. erneut sieben Jahre dienen, um die von ihm geliebte Rachel heiraten zu können, nachdem er von seinem Schwiegervater Laban zuerst mit deren älterer Schwester Leah verheiratet wurde. Die Wildheit ist in der Tora dagegen seinem erstgeborenen Bruder Esau zugeordnet, der als Lieblingssohn des Vaters auf die Jagd geht und dessen Haut mit rötlichem Haar wie mit Fell bedeckt ist: „Und es kam der erste heraus, rot, ganz wie ein Haar-Mantel, und man nannte seinen Namen Esav. […] und es ward Esav ein jagdkundiger Mann, ein Mann des Feldes, aber Jaakov ein schlichter Mann, wohnend in Zelten.“ (Bereschit/Genesis 25,25–27)73 In der rabbinischen Auslegung werden die moralischen Ambivalenzen der Jakob-Figur, wie sie seine Geschichte in der Tora prägen, zurückgedrängt und der im Zelt bleibende Jakob avanciert zum Prototyp des fleißigen rabbinischen Schülers oder Gelehrten im BeitHaMidrasch, dem rabbinischen Lehrhaus. So gibt es Midraschim, die erzählen, wie Jakob schon als Ungeborener im Bauch seiner Mutter versucht habe, herauszukommen, wenn sie an einem Lehrhaus vorbeigegangen sei, während sein Bruder Esau herauskommen wollte, wenn sie an einem Ort der Götzenanbetung vorbeiging. Mit dem Gedicht „Jakob“ und dessen Darstellung als Büffel legt LaskerSchüler eine ungewöhnliche und nach traditionellem Verständnis sicherlich provokative Umdeutung der Jakob-Figur vor. Dabei lehnt Lasker-Schüler ihre 72 Den Hinweis auf die doppelte Deutbarkeit der Ableitung des Namens Jaakov verdanke ich Prof. Dr. Birgit E. Klein in ihrer Auslegung der Parascha (Wochenabschnitt der Tora) „Toldot“ im Egalitären Minjan Frankfurt/Main im Oktober 2013. 73 Übersetzung: Die vierundzwanzig Bücher der Heiligen Schrift. Nach dem masoretischen Text. Übersetzt v. Leopold Zunz. Tel Aviv 2008.
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Auslegung nah an die Erzählung der Tora an, wobei sie in extremer lyrischer Verdichtung zentrale Motive aufnimmt und eine eigenständige Deutung der Erzählung von Jakob und Esau und der Jakob-Figur als Stammvater (Israel) des jüdischen Volkes entwickelt. Ihr Vorgehen ist dabei mit traditionellen rabbinischen Auslegungsverfahren im Genre der Aggada vergleichbar, die relativ frei mit dem Toratext verfahren und aus einzelnen Motiven, Leerstellen oder Parallelstellen eigene Deutungen entwickeln. Des Weiteren lassen sich eine ethische Komponente dieser Um- oder Neudeutung sowie utopische und messianische Elemente feststellen, die dem rabbinischen Unternehmen74 nahestehen, so dass hier von einem modernen Midrasch gesprochen werden kann. Die Nähe zum kanonischen Ursprungstext, der Tora, wird vor allem in der zweiten Strophe durch die Aufnahme von zentralen Motiven der Jakob-Erzählung deutlich markiert. So findet deren zentraler Wandlungspunkt, der Kampf mit dem Engel Gottes, am Fluss Jabbok (ebd., 32,23–33) statt. Die „gescheckten Brüder“ verweisen auf Jakobs List, große Teile der Herden seines Schwiegervaters Labans zu erwerben, indem er die gescheckten Tiere verlangt und diese geschickt vermehrt (ebd., 30,28–43). Mit dem Substantiv „Brüder“ werden gleichzeitig die Bruderproblematik zwischen Jakob und Esau schon vor ihrer Geburt und der Konflikt um die Erstgeburt und den Segen des Vaters Isaak/Jitzchak aufgerufen.75 Auch das Blutmotiv lässt sich mit dem Ursprungstext der Tora in Verbindung bringen. Traditionell ist es Jakobs Bruder Esau, dem über das Motiv der Jagd und die Farbe Rot, die beide mit dem Blutmotiv korrespondieren, ‚Wildheit‘ zugesprochen wird. Durch die Wahl von fremden, nicht gottwohlgefälligen Frauen ist er außerdem mit freier gelebter Sexualität verbunden. Gesetzlicher Autorität oder genealogischer Verantwortung entzieht er sich ebenfalls durch die Missachtung des Erstgeburtsrechts, das er für die sinnliche Befriedigung durch eine Mahlzeit (das Linsengericht) an Jakob verkauft. Lasker-Schüler führt im Gedicht „Jakob“ ihre Umdeutung der Geschichte der beiden Brüder im Gedicht „Jakob und Esau“, das schon im Juni 1912 entstanden ist, weiter. Dort hatte sie über die gesegnete und mit jhwh verbundene Figur „Rebekkas Magd“, an deren Wesen die beiden Kinder erblühen, die zen tralen Motive des Bruderkonflikts – Streit im Mutterschoß, Linsengericht, Erst74 Vgl. Jacob Neusner: The Rabbinic Utopia. 75 Indirekt klingt die für Lasker-Schüler poetologisch so zentrale Joseph-Erzählung an, die die Problematik einer berufenen Figur im Konflikt mit ihren Brüdern behandelt, da letztere Joseph zuerst in eine Grube werfen und töten wollen, ihn auf den Einwand Jehudahs hin jedoch an eine vorbeiziehende Karawane nach Ägypten verkaufen (Bereschit/Genesis 37,23– 28). Im poetologischen Essay „Sterndeuterei“ (1911) verbindet Lasker-Schüler die JakobFigur direkt mit Eigenschaften Josephs: „ich bin Jakob und deute die Träume der Kühe und Ähren. (Oder zweifeln Sie daran, daß mich meine Brüder verkauft haben, daß Bürgermillion!“) Zuerst in: Die Fackel, Jg. XII. (26. Januar 1911), H. 315/316, S. 24 f. KA 3.1, S. 166.
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geburtsrecht, vielleicht auch die Wahl einer gottgefälligen Frau – in ein nährendes Aufwachsen und eine erotisch und poetologisch konnotierte Versöhnung ‚umgeschrieben‘:76 Jakob und Esau blühn an ihrem Wesen Und streiten um die Süßigkeiten nicht, Die sie in ihrem Schoß zum Mahle bricht. Der Bruder läßt dem jüngeren die Jagd Und all sein Erbe für den Dienst der Magd; Um seine Schultern schlägt er wild das Dickicht.77
Wobei nicht ganz eindeutig zu bestimmen ist, welcher der beiden Brüder am Ende um seine Schultern „wild“ das Dickicht schlägt, so dass z.T. eine Verschmelzung der Brüder in einer Person schon hier angelegt scheint. Im Folgegedicht „Jakob“ nimmt Lasker-Schüler eine explizite Umdeutung der traditionellen Sicht der Jakob-Figur vor, indem sie Eigenschaften seines Bruders Esau in die Gestaltung der Jakob-Figur integriert. Nun wird Jakob selbst als wild und kämpferisch und gejagt oder jagend dargestellt und durch die Erwähnung des Blutes wird auch die Farbe Rot mit Jakob verbunden. Lasker-Schüler bezieht sich auf ein zentrales Motiv des Toratextes, nämlich Jakob, der sich mit Fell bedeckt, um seinen fast erblindeten Vater zu täuschen und somit Esau äußerlich ähnlich wird: „23.Und er [ Jitzchak, Anm. B.M.K.] erkannte ihn nicht, weil seine Hände behaart waren, wie die Hände Esav’s, seines Bruders, und so segnete er ihn.“ (Bereschit/Genesis 27,23). Die Anverwandlung wird durch Jakobs Behauptung bekräftigt: „Ich bin Esav, dein Erstgeborener“ (ebd., 27,19). Es ließe sich auch argumentieren, dass Esau zuvor durch das Essen eines roten und vegetarischen Linsengerichts ebenfalls Jakob ähnlicher wird. Die Verschmelzung der Eigenschaften von Jakob und Esau in einer Figur ist dabei insofern keine unbedeutende Umdeutung, als Jakob in der rabbinischen Literatur nicht nur zum Prototyp des rabbinischen Gelehrten stilisiert wurde, sondern Esau gleichzeitig zum Stammvater des Volkes Edom (hebr.: „rot“) wird, das als ewiger Feind des jüdischen Volkes gilt und über die Jahrhunderte u.a. als
76 Vgl. u.a. Vivian Liska: Die wilden Jüdinnen. Biblische Frauen in der Lyrik Else LaskerSchülers. In: Dies.: Fremde Gemeinschaft. Deutsch-jüdische Literatur der Moderne. Göttingen 2011, S. 92–112, hier S. 101–104. 77 KA 1.1, S. 163.
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die Römer und später als die Christen gedeutet wurde und somit in der rabbinischen Literatur als Synonym für jahrhundertelange grausame Verfolgungen steht.78 Dennoch scheint es Lasker-Schüler im Zeitkontext von (u.a. kulturzionistischen) Degenerationstheorien der jüdischen Tradition vor allem darum zu gehen, zwei primär jüdische Traditionsbestände zu vereinen.79 Entgegen einer ‚verfallenen‘ rabbinischen Tradition des Judentums, wie sie u.a. Buber polemisch gegen die Einengung durch das Religionsgesetz formuliert, aber auch entgegen antisemitischer Diskurse um ein unschöpferisches, degeneriertes Judentum werden ‚wilde‘ Eigenschaften und eine kämpferische Komponente in die Figur des Stammvaters Israels eingespeist. Lasker-Schüler knüpft an zeitgenössische kulturzionistische Debatten an, indem sie explizit der als unvital angesehenen rabbinischen Tradition (nur Gesetz) einen traditionell maskulinen, kämpferischen und schöpferischen Jakob gegenüberstellt. Die traditionell gegenderte Maskulinität ist durchaus im Kontext des Diskurses über ein sogenanntes „Muskeljudentum“ (u.a. Nordau)80 zu sehen, der den antisemitischen Stereotypen vom unmännlichen, ‚feminisierten‘ und physisch degenerierten Juden ein sportliches, kämpferisches Bild entgegensetzt, das von der deutschen Turnerbewegung des 19. Jahrhunderts und makkabäischen Kämpferidealen beeinflusst ist.81 Aber auch hier wird erneut deutlich, dass Lasker-Schüler nicht einfach kulturpolitische ‚Kampfbegriffe‘ aufnimmt, sondern die kulturzionistischen Diskurse sehr differenziert rezipiert. Denn Jakob als Büffel ist weiterhin ein pflanzenfressendes Herdentier und kein Löwe oder ähnliches, wie es sich im Bildfeld der 78 Hier ist ein Bezug auf Heinrich Heines Gedicht „An Edom“ (1824) zu sehen, das die enge („brüderlich[e]“) Verbindung zwischen Judentum und Christentum thematisiert, die sich im Erdulden antijüdischer Pogrome als nicht egalitäre und destruktive „Freundschaft“ erweist. Dem bedrohten jüdischen „[I]ch“ bleibt nur sich dem Aggressor anzupassen („Denn ich selbst begann zu rasen, / Und ich werde fast wie Du“). Heinrich Heines sämtliche Werke. Erster Band. (Heines Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Oskar Walzel.) Leipzig: Insel 1911, S. 280. Zur Darstellung und Deutung der Esau-Figur in der jüdischen Tradition von der Tora bis zur israelischen Gegenwartsliteratur, die Esau als Opfer Jakobs zeigt, vgl. Gabrielle Oberhänsli-Widmer: Esau. Zur Biographie eines Feindbildes im Judentum. In: Gegenwart der Einheit. Zum Begriff der Religion. Hrsg. v. Thomas Jürgasch. Freiburg 2008, S. 269–299. 79 Alfred Bodenheimer hat darauf hingewiesen, dass in der modernen deutsch-jüdischen Literatur eine „Relektüre traditioneller Selbst- und Feindbilder“ stattfinde, die dazu führt, „Esau nicht einfach als Antipoden, sondern als integralen, untrennbaren Teil“ von Jakob darzustellen. Alfred Bodenheimer: Alter Ego Edom. Der Umgang mit der Esau-Figur in der modernen jüdischen Literatur und Exegese. In: Esau – Bruder und Feind. Hrsg. v. Gerhard Langer. Göttingen 2009, S. 217–227, hier S. 219. 80 Max Nordau: Muskeljudentum, S. 2–3. 81 Entsprechendes Bildmaterial findet sich in: Doreet LeVitte Harten (Hg.): Die neuen Hebräer. 100 Jahre Kunst in Israel. Berlin 2005, S. 200–218.
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Prärie und des Urwalds und in der Traditionslinie König Davids oder der Makkabäer durchaus angeboten hätte. Vielmehr bleibt Lasker-Schüler mit der Metapher des Büffels nah an den Motiven der Ursprungsgeschichte in der Tora, betont deren Bedeutung und führt deren Traditionslinie weiter. Es findet keine einseitige Heroisierung traditionell gegenderter Männlichkeit statt, denn das Gedicht plädiert, trotz einer gewissen Idealisierung der ‚natürlichen‘ Wildheit, nicht für eine Rückkehr in den archaischen Zustand, sondern ‚erzählt‘ von den Schmerzen, die mit dem Kampf gegen die archaischen Triebe verbunden sind, und zeigt in der dritten Strophe eine Wandlung der Jakob-Figur durch eine Begegnung mit dem „Himmel“, die zur Erschaffung einer humanen und künstlerischen symbolischen Form und dabei in einen erlösten Zustand führt. Zum Judentum gehört in dieser Konzeption genuin ein ethischer Aspekt, ein Zivilisationsfortschritt, der mit der Aufgabe archaischer Triebe verbunden ist.82 Dass Lasker-Schüler hier zeitgenössische avantgardistische Diskurse um idealisierte Wildheit, Naturverbundenheit und Exotismus kritisch rezipiert, zeigt sich im Nachruf „An Franz Marc“ vom 9. März 1916, in dem sie ihre Konzeption der Jakob-Figur in den Gedichten „Jakob“ und „Jakob und Esau“ als Verschmelzung der Eigenschaften der beiden Brüder reflektiert: Nie sah ich irgend einen [sic] Maler gotternster und sanfter malen wie ihn. ‚Zitronenochsen‘ und ‚Feuerbüffel‘ nannte er seine Tiere, und auf seiner Schläfe ging ein Stern auf. Aber auch die Tiere der Wildnis begannen pflanzlich zu werden in seiner tropischen Hand. […] Er fühlte wie der junge Erzvater in der Bibelzeit, ein herrlicher Jakob er, der Fürst von Kana. Um seine Schultern schlug er wild das Dickicht; sein schönes Angesicht spiegelte er im Quell und sein Wunderherz trug oftmals in Fell gehüllt wie ein schlafendes Knäblein heim über die Wiesen, wenn er müde war.83
Nicht nur nennt Lasker-Schüler hier explizit „Zitronenochsen“ und „Feuerbüffel“, also zwei der im Gedicht „Jakob“ verwendeten Tierarten „Ochse“ und „Büffel“, wobei sie sich leicht verschoben auf eine Postkarte bezieht, die Marc für sie gemalt hat.84 Sie zitiert ebenfalls das Gedicht „Jakob und Esau“ mit der Zeile „Um seine Schultern schlug er wild das Dickicht“. Zusätzlich verweist das Motiv der Spiegelung des Angesichts im Quell auf die zweite Strophe des „Jakob“82 Zu einer ausführlichen Interpretation der letzten Strophe und deren Bezug zur jüdischen Tradition siehe das Kapitel IV.1.3. 83 KA 1.1, S. 185. 84 Von Franz Marc gemalte Postkarte von Franz und Maria Marc an Else Lasker-Schüler, 9. März 1913. Die Bildunterschrift lautet „Zitronenpferd und Feuerochse“. Abbildung bei: Ricarda Dick (Hg.): Else Lasker-Schüler - Franz Marc. Eine Freundschaft in Briefen und Bildern. Mit sämtlichen privaten und literarischen Briefen. München, London, New York 2012, S. 39.
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Gedichts, in dem der „Büffel“ Jakob seine Wunden am Fluss stillen will und in der Begegnung mit jhwh auf seinem Angesicht „das Lächeln“ erschafft. So werden hier zentrale Elemente der beiden Gedichte aufgenommen und Eigenschaften der Esau-Figur auf die Jakob-Figur übertragen. Lasker-Schüler identifiziert Franz Marc, den sie sonst im Kontext ihrer Ich-Figuration Prinz Jussuf als dessen Bruder Ruben bezeichnet, mit dem „jungen Erzvater der Bibelzeit“ und dies gerade über den Topos des göttlich inspirierten Künstlers als „gotternster“ Maler, in dessen Schläfe ein Stern aufgeht. Dabei wird die Wildheit idealisiert und mit begnadeten schöpferischen sowie väterlich sorgenden Attributen verbunden, so im Kontext von unter einer „tropischen Hand“ pflanzlich werdender Tiere oder einer Jakob-Figur, die ihr „Wunderherz […] in Fell gehüllt wie ein schlafendes Knäblein über die Wiesen“ trägt. Es liegt nahe, anzunehmen, dass für die Darstellung Jakobs als wildes Tier die Begegnung mit Franz Marc und seinen Tierdarstellungen zur Entstehungszeit des Gedichts eine zentrale Rolle gespielt hat.85 So gibt es von Marc zeitnah zwei Ölgemälde, die einen sitzenden oder niedergesunkenen Stier vor einer Wasserfläche zeigen: „Der Stier“ (1911) und „Roter Stier“ (1912), ebenso finden sich Bilder von Affen im Urwald: „Affenfries“ (1911), „Affe“ (1912) und „Das Äffchen“ (1912) sowie „Zwei Affen“ (1913) und schließlich von Kuh- oder Rinderherden, u.a. „Kühe gelb rot grün“ (1912), die als Inspiration für das Gedicht in Frage kommen.86 Die Darstellung von Tieren war bei Marc um diese Zeit deutlich mit ethischen Aspekten und Vorstellungen von Reinheit, Ursprünglichkeit, Naturverbundenheit konnotiert87 und korrespondiert mit dem (allerdings nicht unreflektierten) Idealisierungsaspekt88 von Wildheit in Lasker-Schülers „Jakob“Gedicht und der mythischen Konnotation. Dass Lasker-Schüler sich in dem Gedicht mit zeitgenössischen kunsttheoretischen Überlegungen im Rahmen avantgardistischer Kunst und Literatur auseinandersetzt, lässt sich an einem Essay von Franz Marc im Almanach Der Blaue 85 Die enge Verbindung des „Jakob“-Gedichts zu Marc weist auf dessen Entstehungszeit (nach Juni 1912) zurück, die die Zeit der Begegnung der beiden Kunstschaffenden ist. Marc hatte im September 1912 mit dem Holzschnitt „Versöhnung“, der im Sturm erschien, auf LaskerSchülers gleichnamiges, ebenfalls in die Hebräischen Balladen aufgenommenes Gedicht reagiert. Daraufhin beginnen beide einen Briefwechsel, der u.a. Karten mit Tierdarstellungen umfasst. Persönlich lernen sich beide im Dezember 1912 in Berlin kennen. 86 1912 war die erste Ausstellung der Künstlervereinigung „Der Blaue Reiter“ in der Galerie „Der Sturm“ von Lasker-Schülers zweitem Ehemann Herwarth Walden zu sehen. 87 Franz Marc: „das Tier schien mit schöner, reiner …“ (Brief an seine Frau Maria Marc 12.4.1916). Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig 1989, S. 141. 88 Lasker-Schüler reflektiert im „Jakob“-Gedicht die avantgardistische Faszination an ‚ursprünglicher‘ Wildheit, Exotismus und archaischen Elementen, denn sie plädiert nicht für ein Zurück zu den Wurzeln, sondern zeigt den für die schöpferische Produktion notwendigen Zivilisationsschritt.
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Reiter (Mai 1912) zeigen, der von ihm und Wassily Kandinsky herausgegeben wurde und hohe Popularität erlangte. Im Essay „Die ‚Wilden‘ Deutschlands“,89 der über eine gewisse kriegerische Rhetorik90 und Formulierungen wie „neue Kunst“, „ihre neuen Gedanken“ und „Neugeburt des Denkens“ deutlich eine avantgardistische Kunstposition vertritt, entwirft Marc die Konzeption einer auf „Mystik“ und „uralten Elementen“ basierenden Kunst: [M]an begriff, daß es sich in der Kunst um die tiefsten Dinge handelt, daß die Erneue rung nicht formal sein darf, sondern eine Neugeburt des Denkens ist. Die Mystik erwacht in den Seelen und mit ihr uralte Elemente der Kunst.91
Es sei unmöglich „die letzten Werke der ‚Wilden‘ aus einer formalen Entwicklung und Umdeutung des Impressionismus abzuleiten“, wobei die „Wilden“ durch die Künstlervereinigungen die „Dresdner Brücke“, die „Berliner Neue Sezession“ und die „Münchener Neue Vereinigung“ verkörpert werden. Diese verfolgten ein anderes Ziel als die Impressionisten: „durch ihre Arbeit ihrer Zeit Symbole zu schaffen, die auf die Altäre der kommenden geistigen Religion gehören und hinter denen der technische Erzeuger verschwindet.“92 Lasker-Schüler beschreibt Marc als „gotternste[n] und sanfte[n]“ Maler, göttlich inspiriert und gesegnet, und vergleicht und identifiziert ihn mit Jakob als schöpferischer Figur, die idealisierte Wildheit und direkten Gottesbezug verbindet und die „[ü]ber die Landschaft […] einen blauen Schatten [warf ]“ („An Franz Marc“). Diese Charakterisierung ist gleichzeitig ein poetologisches ‚Bekenntnis‘, das ihre beiden Gedichte „Jakob und Esau“ und „Jakob“ und letztendlich die gesamten Hebräischen Balladen als eine solche ‚mythisch‘ konnotierte und auf „uralten Elementen“ basierende Kunst im Medium der Literatur ausweist.93 89 Franz Marc: Die „Wilden“ Deutschlands. In: Der Blaue Reiter. Hg. von Wassily Kandinsky u. Franz Marc. Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit. München, Zürich 1984, S. 28–32. Marc hebt die Begriffe „neue Gedanken“, „Programm[ ]“, „Mystik“ und „Symbole“ durch Kursivsetzung hervor. 90 „In unserer Epoche des großen Kampfes um die neue Kunst streiten wir als „Wilde“, nicht Organisierte gegen eine alte organisierte Macht.“ „Die gefürchteten Waffen der ‚Wilden‘ sind ihre neuen Gedanken; sie töten besser als Stahl und brechen, was für unzerbrechlich galt.“ (Ebd., S. 28) 91 Ebd., S. 30. 92 Ebd., S. 31. 93 In diesen Kontext gehört Lasker-Schülers Konzept der „Wilden Juden“ als einem avantgardistischen Künstler/innen-Bund, idealisiert archaisch und gleichzeitig ethisch und schöpferisch, in den auch Nichtjuden aufgenommen werden konnten. Dieses Konzept wird in der Korrespondenz mit Franz Marc und in dem ihm posthum gewidmeten Roman Der Malik. Eine Kaisergeschichte (1919) entwickelt. Zum Aspekt der Kunstreligion grundlegend: Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006.
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Der Büffel Jakob macht im gleichnamigen Gedicht eine mythische Erfahrung und erschafft, wie das folgende Kapitel genauer zeigen wird, im jüdischen Bund mit jhwh seiner Zeit ein Symbol: das Lächeln. IV.1.3 Die verletzte Jakob-Figur als Prototyp eines schöpferischen jüdischen Mythos der Berufung
Lasker-Schüler nimmt im Gedicht „Jakob“ nicht nur eine in der Tradition der Gattung Midrasch stehende Umdeutung der Figur entgegen dem Verständnis der rabbinischen Überlieferung und der kanonisierten Erzählung in der Tora in äußerst verdichteter Form vor, das Gedicht lässt sich darüber hinaus als zentrales Beispiel für das mit den Hebräischen Balladen unternommene Projekt lesen, einen schöpferischen jüdischen Mythos zu entdecken, zu erneuern und vor allem weiterzuführen. Dabei lassen sich deutliche Bezüge zu Martin Bubers These aufzeigen, dass der jüdische Mythos nie aufgehört habe, schöpferisch zu sein, wie er sie in der Einleitung zur Legende des Baal=schem (1908) dargelegt hat. Gleichzeitig gibt Lasker-Schüler ihrer Variante dieses kulturzionistischen Projekts erneut ihre ganz eigene Note. Sie entwickelt einen schöpferischen jüdischen Mythos gerade aus der Verletzung der Jakob-Figur in der Begegnung mit jhwh. In der Einführung zur Legende des Baal=schem postuliert Buber die Existenz und das Fortbestehen eines schöpferischen jüdischen Mythos.94 Der seit Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich antisemitisch konnotierten Debatte über die nichtvorhandene jüdische Schöpfungs- und Mythosfähigkeit95 stellt Buber hier die Behauptung entgegen, dass „[d]ie Juden […] vielleicht das einzige Volk [sind], das nie aufgehört hat, Mythos zu erzeugen.“ (III) Somit ist nicht nur die jüdische Mythosfähigkeit offensichtlich, gleichzeitig endet sie nicht in mythischer Vorzeit wie der antike griechische Mythos. Buber imaginiert einen „Strom mythengebärender Kraft“, der in der Tora „[i]m Anfang ihrer [der Juden; Anm. B.M.K.] grossen Urkunde“ (III) beginne und seine bisher letzte Ausprägung im Chassidismus gefunden habe. Das mit dem Buch Die Legende des Baal=schem unternommene Projekt, die Legende des Begründers der „chassidischen Sekte“ als Nachgeborener zu erzählen, lässt sich leicht als neoromantisches Projekt erkennen, so verwendet Buber
94 Martin Buber: Die Legende des Baal=schem. Frankfurt/Main: Rütten & Loening 1908, S. III. In Folgenden nachgewiesen mit Seitenabgabe nach dem Zitat. 95 U.a. Richard Wagner, Ernest Renan und der Orientalist Friedrich Delitzsch. Vgl. Cathy S. Gelbin: The Golem Returns. From German Romantic Literature to Global Jewish Culture, 1808– 2008. Ann Abor 2011, u.a. S. 66 f., 86.
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zentral romantische Schlüsselbegriffe wie „Legende“, „Traum“, „Sehnsucht“ und „Märchen“.96 Explizit wird ein wissenschaftlicher oder streng philologischer Anspruch für den eigenen Ansatz zurückgewiesen (dabei aber die Arbeiten anderer in dieser Richtung durchaus gewürdigt). Keine Daten und Tatsachen sind zu erwarten und keine wissenschaftliche Biographie. Vielmehr geht es Buber darum, nicht weniger als das Verhältnis zum Absoluten und zur Welt darzustellen, das die „chassidische Sekte“ um den Baalschem zu leben versucht habe. Buber legt eine kulturzionistische und neoromantische Poetik dar, die durch den Anspruch auf eine Umsetzung in das Leben lebensreformerische und avantgardistische Anklänge hat. Dabei erweist sich das Projekt explizit als ein modernes, denn Buber gibt seine Legende explizit nicht als scheinbare Volkslegenden aus, die er nur gesammelt hat, sondern betont, dass er sie neu erzählt habe. Die Überlieferung der chassidischen Legenden bezeichnet er als ein untergründig im Ghetto weitergegebenes „Stammeln“ (II), das er durch Volksbücher, Hefte und Flugblätter sowie mündliches Erzählen empfangen habe, um es dann als „Nachgeborener“ (II) neu zu schreiben. Das Projekt ist über Achad Haams Konzept des Volkgeistes in kulturzionistischen Parametern legitimiert. So begründet Buber die Weitergabe des Erbes oder seine Berechtigung, es neu zu erzählen, folgendermaßen: Ich trage in mir das Blut und den Geist derer, die sie schufen, und aus Blut und Geist ist sie in mir neu geworden. Ich stehe in der Kette der Erzähler, ein Ring zwischen Ringen, ich sage noch einmal die alte Geschichte, und wenn sie neu klingt, so schlief das Neue in ihr schon damals, als sie zum ersten Mal gesagt wurde. (II)
Bubers Behauptung, wenn an seiner Darstellung etwas neu sei, dann sei es schon im Ursprungstext enthalten gewesen, verweist auf die rabbinische Hermeneutik, die in ihrer Interpretation der schriftlichen Tora ebenfalls davon ausgeht, dass die eigenen Auslegungen, die als mündliche Tora den kanonisierten Text für die jeweilige Zeit aktualisieren, ebenfalls einen schon am Sinai offenbarten Inhalt präsentieren. Somit tritt Buber als nachgeborener Neu-Erzähler auf, der durch den Volksgeist legitimiert als quasi prophetischer Erzähler („empfangen“) in der Nachfolge der Propheten, der Essäer, des Menschenkreises um „den grossen Nazarener“ (IV), der rabbinischen Aggada und des ursprünglichen Chassidismus den jüdischen 96 Die Begriffe erinnern darüber hinaus und sicherlich nicht zufällig an das „Nachwort des Verfassers“ in Theodor Herzls utopischem Roman Altneuland (1902). Theodor Herzl: Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen. Altneuland/Der Judenstaat. Hrsg. v. Julius H. Schoeps. Bodenheim 1985, S. 193.
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Mythos weiterführt und zwar mit kulturzionistischer Legitimation. Durch „Blut“ und ‚Volksgeist‘ kann er als Nachgeborener aus den Ursprungstexten, dem überlieferten Stammeln einen Sinn auslegen, der schon immer in ihnen angelegt war.97 Er selbst ist es, der mit Die Legende des Baal=schem den jüdischen Mythos weiterträgt, lebendig hält, von einem Stammeln in eine moderne Literatur hinüber ‚rettet‘ und damit einen wichtigen Schritt zur jüdischen Wiedergeburt leistet. Buber stellt den Mythos dabei als jüdische „Religiosität“ der jüdischen „Religion“ als Halacha (Gesetz) entgegen: „Die persönliche, ungemeinsame und unzugängliche Religiosität der Einzelseele hat ihre Geburt im Mythos, ihren Tod in der Religion.“ (III). Auf der Basis seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem als autoritär und veraltet empfundenen traditionellen Judentum zieht Buber hier eine Verbindung von jüdischem Mythos und der Gattung der Aggada. So findet sich bei Buber die auch bei Heine, Bialik und Benjamin als zentraler poetologischer Bezugspunkt benannte Unterscheidung jüdischer Schriften in die Kategorien der Halacha (Gesetz) und „Ag[g]ada“ (mit Buber: Volkssage). Den Chassidismus stilisiert Buber zu einer Bewegung, in der „der Mythos sich reinigt und erhebt“ und in dem „Mystik und Sage zu einer Einheit zusammen[strömen]“ (V): „Im Chassidismus siegt für eine Weile das unterirdische Judentum über das offizielle“ (V). Buber stilisiert die „Geschichte der jüdischen Religion“ zum Kampf gegen den Mythos (IV), der „immer wieder den wirklichen Sieg gewinnt“ (IV), und findet entsprechend bei Propheten, Essäern und den Meistern des Talmuds trotz aller Gesetzesstrenge immer wieder die mythischen Anteile, bis im Mittelalter Kabbala und „Ag[g]ada“ die „Schützerinnen und Verweserinnen“ des jüdischen Mythos werden. Zuletzt unterscheidet Buber zwischen Legende und Mythos, indem er die Legende als den „Mythos der Berufung“ (VI) definiert. Im Mythos gebe es einen Heros mit einem einheitlichen Wesen, der einer Vielheit von Göttern zwar begegne, aber nicht auf einer Stufe, nicht als ein Gegenüber. Er erhalte eine Sendung und steige empor, ohne sich zu verwandeln. Der Gott des reinen Mythos erzeuge und sende einen Gezeugten (VI). Bubers Modell der Legende als „Mythos der Berufung“ geht dem gegenüber davon aus, dass die ursprüngliche Personalität des Mythos gespalten sei in eine 97 Die mit dieser Konzeption verbundene enorme poetische Lizenz hat Buber in späteren Jahren kritisch gesehen. Zur Überarbeitung in den 1950er Jahren, bei der er starke Kürzungen vornimmt, schreibt er an Friedman: „Ich war recht erschrocken über die pathetische Unbekümmertheit meiner Jugend.“ Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. Bd. 3. Hrsg. v. Grete Schaeder. Heidelberg 1975, S. 383. Zu einer linguistischen Analyse der chassidischen Erzählungen und zu weiteren Hintergründen von Bubers Bearbeitung der chassidischen Stoffe vgl. Katja Pourshirazi: Martin Bubers literarisches Werk zum Chassidismus. Frankfurt/Main 2008.
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Zweiheit. Der Heros steht Gott als Ich und Du gegenüber. Er erhält eine Berufung und wandelt sich: „Der Gott der Legende beruft den Menschensohn: den Propheten, den Heiligen.“ (VI) Diese Konzeption enthält schon Elemente von Bubers späterer Dialogphilosophie, die er in Ich und Du (1923) formuliert. Sein Versuch, eine egalitärere Begegnung zwischen Heros und Gott zu beschreiben, weist dabei Anklänge an kabbalistische Modelle der Zusammenarbeit von Mensch und jhwh an der Vollendung der Schöpfung auf: „Die Legende ist der Mythos des Ich und Du, des Berufenen und des Berufenden, des Endlichen, der ins Unendliche eingeht, und des Unendlichen, der des Endlichen bedarf.“ So erzählt Buber im Baal=schem die Geschichte einer Berufung nicht in der linearen Zeitenfolge, sondern in „den drei Kreisen der Weihung“ (VII). Zentral ist, dass Buber die Existenz eines schöpferischen jüdischen Mythos behauptet, der von modernen deutsch-jüdischen Autor/innen im prophetischen Modell weitergeführt werden kann und dabei zum zentralen Genre der jüdischen Erneuerungsbewegung wird. Buber hat die Erzählung der Tora „vom Kampfe Jakobs mit dem Elohim“ als „die stolzeste aller mythischen Sagen“ (III) bezeichnet. Lasker-Schüler ‚antwortet‘ mit dem Gedicht „Jakob“ auf diese Hervorhebung und setzt sie in ganz eigener Weise um. Lasker-Schüler überschreitet in ihrem Gedicht zum einen die biblische Vorlage und die rabbinische Sicht auf die Jakob-Figur, indem sie Eigenschaften seines Bruders Esau inkorporiert. Zum anderen wählt sie entgegen der Heroisierungstendenz bei Buber und entgegen der Debatten um einen jüdischen Mythos im 19. Jahrhundert98 gerade den Moment der Wendung zum Monotheismus und die mit der Auserwählung verbundene Verletzung als Grundlage eines schöpferischen jüdischen Mythos. Nachdem in den ersten beiden Strophen des Gedichts „Jakob“ in starker Verdichtung die traditionelle rabbinische Interpretation der Jakob-Figur im Rückbezug auf zentrale Motive des Toratextes auf den Kopf gestellt wurde, wendet sich die letzte Strophe dem zentralen Moment der Jakobserzählung zu, durch den Jakob die Position als „Büffel seiner Herde“, also als Leittier und Stammvater Israels zugesprochen wird: der Kampf mit dem Engel oder jhwh, das Bestehen dieses Kampfes, die damit einhergehende Verwundung an der Hüfte und der 98 Im 19. Jh. wurde im Kontext der entstehenden Wissenschaft des Judentums argumentiert, dass das Judentum als monotheistische Religion keinen Mythos haben könne, da Mythos und Polytheismus untrennbar miteinander verbunden seien. Daher fänden sich in der hebräischen Bibel höchstens Reste mythischer Erzählungen aus vormonotheistischer Zeit. Zu den Debatten einer angeblichen Mythosunfähigkeit des Judentums sowie dem Verhältnis von Mythos und Monotheismus vgl.: Dr. Ignaz Goldziher: Der Mythos bei den Hebräern und seine geschichtliche Entwicklung. Untersuchungen zur Mythologie und Religionswissenschaft. Leipzig: F.A. Brockhaus 1876, bes. die Einleitung S. VII–XXX.
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erzwungene Segen durch jhwh, all dies zusammengeführt in der Wandlung und Namensänderung von Jakob in Israel (hebr.: „der mit jhwh kämpft und besteht“). Die nach Buber „stolzeste aller mythischen Sagen“ (III), die Erzählung von Jakobs Kampf mit dem Engel in der Tora, wird von Lasker-Schüler dem prototypischen griechischen Mythos, der nach Bubers Herleitung nicht mehr schöpferisch tätig ist, selbstbewusst gegenübergestellt. Zunächst verweist Lasker-Schüler mit der Eingangszeile des Gedichts „Jakob“ auf eine zentrale Gestalt des griechischen Mythos, denn mit der Bezeichnung Jakobs als „Büffel seiner Herde“ entwirft sie die Jakob-Figur als Parallel- und Kontrastfigur zu Agamemnon, der in Homers Ilias als „hervorragende[r] St[ier] der Herde“99 bezeichnet wird: So wie der stier in der heerd ein herlicher wandelt vor allen, Männlich stolz; denn er ragt aus den rindern hervor auf der weide: Also verherlichte Zeus an jenem tag Agamemnon, Daß er ragt’ aus vielen, und hervorschien unter den helden.100
Agamemnon wird hier ebenfalls mit dem Attribut stolzer Männlichkeit verbunden und als von Zeus ausgezeichnete Figur präsentiert, während die JakobFigur im Gedicht durchaus stiertypische Eigenschaften verkörpert, die durch die Verben stampfen, brüllen, kämpfen und rennen markiert sind. Die Bezeichnung Büffel bewegt sich im Symbolfeld des Stiers, als männlichem Rind und „Symbol der (Ur-)kraft, Fruchtbarkeit und des Reichtums, der Gefahr und Zerstörung, des Unheils und des Todes, der Triebhaftigkeit, Sexualität und Dämonie des Erotischen sowie des Frühlings.“101 Während die Bezeichnung Stier jedoch eher einzelne Tiere, Stierkämpfe und antike Mythologien wie den kretisch-minoischen Stierkult assoziieren lässt, ist der Büffel deutlicher mit der Vorstellung von Büffelherden und damit einer genealogischen Konnotation verbunden. Darüber hinaus deutet der Stier in der jüdischen Tradition auf das Goldene Kalb und damit auf Götzendienst und Bilderverbot und ist somit als Symbol für eine schöpferische jüdische Leitfigur wenig geeignet. Ein weiterer Hinweis, dass Lasker-Schüler mit dem Gedicht „Jakob“ die Frage eines schöpferischen jüdischen Mythos reflektiert und dessen Weiterleben im eigenen Text umsetzt, ist darin zu sehen, dass in der dritten Strophe der, von Buber als Merkmal der Legende betonte, zentrale Moment der Berufung durch jhwh gestaltet wird. Dieser Moment tritt ein, nachdem der Büffel Jakob sich von 99 Vgl. Alexander Ißler: Stier. In: Lexikon literarischer Symbole, S. 426–428, hier S. 427. 100 Homer: Ilias. Zweiter Gesang. Vers 480–484. In: Ders.: Ilias. Odyssee. Aus dem Griechischen übersetzt v. Johann Heinrich Voß. Text der Ausgabe letzter Hand von 1821. Mit Nachworten von Ernst Heitsch und Günter Häntzschel. Stuttgart 2010, S. 48. 101 Alexander Ißler: Stier. In: Lexikon literarischer Symbole, S. 426–428, hier S. 426.
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seinen „gescheckten Brüder[n]“, also von der Gruppe anderer männlicher Büffel entfernt hat, mit denen er Auseinandersetzungen über die Vormachtstellung in der Herde führt. Nun sind es gerade die Schmerzen, die er durch das Stampfen mit den Hufen in den Knöcheln empfindet und die ihn in eine demütige oder sich ergebende bzw. übergebende Position gegenüber einer höheren Macht bringen. So endet auch der Kampf von Bisonbullen untereinander meist mit einer Unterwerfungsgeste.102 Jakob sinkt „vor dem Himmel“ nieder und zwar „fiebernd“, also in einem halluzinatorischen, zwischen Krankheit und mystischer Vision oszillierenden Zustand, der eine Verwandlung in seinem Gesicht vorgehen lässt: „Und sein Ochsgesicht erschuf das Lächeln“. Das Lächeln erscheint hier im Gegensatz zum Assoziationsfeld der Wildheit und Animalität als genuin menschliche Eigenschaft. Gezeigt wird ein Humanisierungs-, Zivilisations- oder auch Kulturationsprozess, je nachdem, ob man das Lächeln als menschliche Eigenschaft, als humanisierte Kommunikationsform oder über das Verb „erschaffen“ als symbolische Form und künstlerische Leistung versteht. Der Büffel Jakob macht eine mystische Erfahrung mit einer höheren Macht, die Bubers Kriterien für die Legende entspricht, denn im Kontext von Jakobs Kampf mit dem Engel zeigt das Gedicht einen Heros, der eine Verwandlung und Berufung erfährt. Dass es sich dabei um eine Begegnung mit jhwh als Ich und Du handelt, darauf verweist die Bezeichnung Gesicht, die schon im Toratext eine zentrale Rolle spielt. Nach dem Kampf mit jhwh und seiner Namensänderung in Israel gibt Jakob dem Ort der Auseinandersetzung den Namen Peniel (hebr.: „Gottes Gesicht“): „denn ich habe Gott gesehn, Angesicht gegen Angesicht, und meine Seele ist gerettet worden.“ (Bereschit/Genesis 32,31) Das erschaffene Lächeln steht im Kontrast zu der rasenden Wildheit und den Schmerzen in den beiden vorhergehenden Strophen und suggeriert damit einen Zustand von Schmerzfreiheit, Zufriedenheit und Friedlichkeit, die in der jüdischen Tradition auf das Konzept von Schalom (hebr.: „Frieden“ im Sinne von Ganzheitlichkeit) verweist, ein erlöster, im Kontext der Jakob-Geschichte gesegneter Zustand, der mit endzeitlichen und messianischen Vorstellungen verbunden ist. Zentral ist, dass diese Wandlung als schöpferischer Akt Jakobs beschrieben wird, es ist sein „Ochsgesicht“, das „das Lächeln“ „erschuf“. Gestaltet wird also eine jüdische ‚Leitfigur‘, die im Kontext einer Erwählung oder mit Buber „Berufung“ eine Verwandlung erfährt, die mit Schmerzen und zivilisatorischem Fortschritt verbunden ist, und dabei zusammen mit jhwh schöpferisch tätig wird. Auffällig ist, dass der Büffel Jakob ein „Ochsgesicht“ hat und gerade dieses „Ochsgesicht“ das Lächeln erschafft. Dieser Aspekt wurde bisher in der Forschung 102 Vgl. die sitzenden oder ‚knienden‘ Stiere in den Ölgemälden Franz Marcs: „Der Stier“ (1911) und „Roter Stier“ (1912).
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als Humanisierungsschritt vom wildlebenden Büffel zum domestizierten Ochsen interpretiert.103 Die Bezeichnung Ochse ruft aber vor allem das Motiv der Kastration auf, da ein Ochse ein kastrierter Stier ist.104 Mit dem Motiv der Kastration wäre aber das schöpferische Potenzial der Jakob-Figur zumindest fragwürdig, womit im Kontext zeitgenössischer antisemitischer Debatten um die angebliche Schöpfungsunfähigkeit jüdischer Autor/innen und Künstler/innen eine problematische Position markiert wäre. Es lässt sich jedoch zeigen, dass Lasker-Schüler hier mit motivischem Rückbezug auf die Verletzung Jakobs beim Kampf mit dem Engel oder jhwh in der Tora arbeitet und diese mit dem Motiv der Beschneidung verbindet. Jakob wird im Kampf mit jhwh am Hüftgelenk verletzt: 25.Als nun Jaakob allein zurück blieb, da rang ein Mann mit ihm, bis zum Aufgang der Morgenröte. 26.Und da er sah, daß er nichts gegen ihn vermochte, da stieß er an seine Hüftpfanne, und es verrenkte sich die Hüftpfanne Jaakobs, indem er mit ihm rang. 27.Und er sprach: Laß mich los, denn die Frühe bricht an; und er sprach: Ich lasse dich nicht los, du habest mich denn gesegnet. 28.Und er sprach zu ihm: Wie ist dein Name? Und er sprach: Jaakob. 29.Und er sprach: Nicht Jaakob heiße fortan dein Name, sondern Jisrael; denn um den Vorrang gekämpft hast du mit göttlichen Wesen und mit Menschen und hast obsiegt. […] 32.Da ging ihm die Sonne auf, so wie er über Peniel hinaus war, und er hinkte an seiner Hüfte. 33.Daher essen die Kinder Jisrael nicht die Spannader, die über der Pfanne der Hüfte, bis auf den heutigen Tag; weil er stieß auf die Hüftpfanne Jaakobs, an die Spannader. (Bereschit/Genesis 32,25–33)
Durch die Überblendung des Motivs der Hüftverletzung (Tora) und des Motivs der Kastration („Ochsgesicht“) im Kontext einer Begegnung mit „dem Himmel“ wird auf die Beschneidung als Bundeszeichen mit jhwh angespielt. Die he bräische Bezeichnung für das Beschneidungsritual, Brit Milah, bedeutet: „Bund der Beschneidung“. Die Beschneidung ist demnach das Symbol für den jüdischen Bund mit jhwh, der neben dem Versprechen ungezählter Nachkommen und dem Land Kanaan an Abraham mit dem Gebot (der Mitzwa) verbunden ist, „alles Männliche zu beschneiden“.105 Eine solche Beschneidung führt das 103 U.a. bei Christine Radde: Else Lasker-Schülers Hebräische Balladen, S. 247–249. 104 Vgl. hier der Eintrag „ochse“ im Grimm’schen Wörterbuch. DWB: Bd. 13, Sp. 1129–1132, hier Sp. 1129 f.: „besonders der verschnittene Stier, als zug- oder schlachtvieh“. So bedeutet das Verb „ochsen“ transitiv verwendet „zum ochsen machen, einen stier castrieren“. Ebd., Sp. 1132. 105 Vgl.: „Und Gott sprach zu Abraham: So halte nun meinen Bund, du und dein Same nach dir, bei ihren Nachkommen. Dieses ist der Bund zwischen mir und dir und deinem Samen nach dir, den ihr halten sollt: Ihr müsst alles beschneiden, was männlich ist. Beschneidet eure Vorhaut. Dieses soll das Bundeszeichen sein zwischen mir und euch. Alles Männliche bei
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Gedicht an der Jakob-Figur vor, die zunächst über das Symbolfeld des Büffels und der Affenbisse als Verkörperung triebhafter, ‚animalischer‘, in traditionellen Genderkategorien ungezügelter männlicher Sexualität dargestellt wird. Über die Motive des Kampfes, der Verletzungen und der Schmerzen sowie über die Wandlung in ein „Ochsgesicht“ und das Erreichen eines gesegneten, erlösten Zustandes wird auf die Begegnung mit jhwh von Angesicht zu Angesicht, den Bund mit jhwh und die damit verbundene Beschneidung als dessen Bedingung und dessen Symbol verwiesen. Es findet also keine Kastration statt, sondern eine Beschneidung von traditionell gegenderter Männlichkeit, denn der Büffel Jakob verwandelt sich nicht in einen Ochsen, sondern er erhält lediglich ein „Ochsgesicht“. Die Veränderung betrifft somit metonymisch verschoben den Körperteil, der aus der Begegnung mit jhwh eine Verletzung im Kontext von Erwählung davonträgt. Im „Jakob“-Gedicht wird demnach die Umwandlung ungezügelter, triebhafter sexueller Energie in der Begegnung mit jhwh (die auch immer eine Begegnung mit einem Gesetz ist) in sublimierte Formen von kultureller symbolischer Produktion im Sinne ethischer oder zivilisatorischer und künstlerischer Leistungen gestaltet (das Lächeln). Poetologisch lässt sich hier das Konzept einer göttlich inspirierten und sublimierenden Form der jüdischen Schöpfung mit poetischen, künstlerischen, ethischen Implikationen destillieren, das mit einer notwendigen Einschränkung verbunden ist, damit der Mensch mit jhwh zusammenzuarbeiten kann. Neben den kabbalistischen Einflüssen106 lassen sich hier vor allem Parallelen, aber auch Abgrenzungen zu Sigmund Freuds zeitnahen psychoanalytischen Arbeiten feststellen.107 So zu seinem Artikel Die kulturelle Sexualmoral und die moderne euren Nachkommen soll, wenn es acht Tage alt ist, beschnitten werden, ein hausgeborenes Kind, oder eines von einem Fremden für Geld gekauft, das nicht von deinem Samen ist.“ (Bereschit/Genesis 17,9–12) Abraham beschneidet anschließend sich selbst im Alter von 99 Jahren und seinen mit der Magd Hagar gezeugten Sohn Ischmael/Ismael, der 13 Jahre alt ist. Itzchaak/Isaak, der Abraham und Sarah von jhwh versprochene Sohn, ist der erste Nachkomme Abrahams, der dem Gebot folgend am achten Tag beschnitten wird. 106 Lasker-Schüler hat in ihrem Essay „Gebet“ (1931) auf eine Parallelstelle in der Kabbala hingewiesen: „Wenn der Stier lächelt, wird das Lamm geboren.“ Sie betont dabei, diese zum Zeitpunkt der Niederschrift nicht gekannt zu haben, der mystische Bezug ist ihr aber wichtig, wie die rückwirkend behauptete Inspirationserfahrung betont: „Diese Offenbarung vergewaltigte mich im Vers. Eitelkeit kommt hier nicht in Frage, und ich beteure, nie im Leben vor meiner hebräischen Ballade „Jakob“ je im Leben in der Kabbala gelesen zu haben, noch von ihrem Inhalt gewußt zu haben durch Hörensagen. Ich beuge mich demütig vor meiner heiligen Erleuchtung.“ (KA 3.1, S. 210–216, hier 214) Kabbalistische Bezüge lassen sich aber schon im Peter Hille-Buch nachweisen (vgl. Kapitel III.4.4, FN 268). 107 Eine differenzierte Analyse von Lasker-Schülers offensichtlicher und oft humorvoller Auseinandersetzung mit psychoanalytischer Theoriebildung bildet weiterhin ein Forschungsde-
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Nervosität (1908), in dem Freud u.a. für ein Sublimierungs- und Verschiebungsmodell sexueller Energien plädiert und diese als notwendig für die Kulturarbeit ansieht, sowie zu Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker (1913, erste Aufsätze 1912).108 Allerdings verbindet Freud die verdrängte Schuld für den Urvatermord mit der Entstehung der monotheistischen Religionen, während Lasker-Schüler mit dem „Jakob“-Gedicht die Stammvaterfigur als schöpferische Figur in der Begegnung mit jhwh zeigt und die Ambivalenz dichterischer und künstlerischer Auserwählung behandelt.109 Lasker-Schüler entwirft im Gedicht „Jakob“ einen schöpferischen hebräischen Mythos, der gleichzeitig ein verwundeter ist, statt einen einseitig heroischen jüdischen Mythos und ein heroisches Männerbild zu gestalten. Somit hebt sie den jüdischen Mythos vom griechischen Modell ab. Dabei bleibt sie nah an der Erzählung der Tora, die durch Jakobs Verletzung an der Hüfte im Kampf um jhwhs Segen selbst indirekt auf die Beschneidung verweist. Gerade im Kontext zeitgenössischer antisemitischer Diskurse um ‚feminisierte‘, unschöpferische und degenerierte Juden ist das eine gewagte Darstellung, die aber der jüdischen Tradition und dem Toratext Rechnung trägt, denn Jakob, der den Namen Israel erhält und somit exemplarisch für das jüdische Volk steht, geht mit einer Verletzung und einem erkämpften Segen aus der Auseinandersetzung hervor. Jakob als schöpferische Künstlerfigur steht prototypisch für viele der Figuren in den Hebräischen Balladen, u.a. in den Gedichten „Abel“, „Zebaoth“, „Esther“, „Ruth“, „Pharao und Joseph“, „David und Jonathan“, „Versöhnung“, „Im Anfang“, die Dichter/innen-Figuren oder Künstler/innen-Figuren oder anderweitig erwählte Figuren sind und somit für ein Konzept der Erwählung und Schöpfung aus der individuellen Begegnung mit jhwh, die Verwundung und Segnung zugleich ist, stehen. Lasker-Schülers poetologischer Entwurf in den Hebräischen Balladen changiert zwischen kommentierendem Traditionsbezug und radikaler und aktualisierender Erneuerung. Gerade durch den genauen Bezug auf die Tora und durch die Umdeutung der traditionellen rabbinischen Lesart ist das „Jakob“-Gedicht als moderner siderat. Erste Ansätze bei Thomas Höfert: Signaturen kritischer Intertextualität. Else LaskerSchülers Schauspiel „Arthur Aronymus“. St. Ingbert 2002. 108 Sigmund Freud: Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität. In: Sexual-Probleme. Bd. 4 (3), 1908, S. 107–129. Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. Wien 1913. Auszüge daraus erschienen 1912 und 1913. Die hier vorgestellten Überlegungen zum Totemismus verbunden mit der Theorie der Urbrüderhorde und dem Urvatermord, der zu Mord- und Inzestverbot geführt habe, führt Freud in mehreren Arbeiten weiter und sieht in den 1930er Jahren in Der Mann Moses und die monotheistischen Religionen (1939) einen Bezug zur Entwicklung der jüdischen Religion. Hier bringt er die Beschneidung mit einem neurotischen Triebverzicht in Verbindung. 109 Die Dialektik der jüdischen Auserwählung als Erhebung und besondere Verantwortung, verbunden mit Verletzung und Verfolgung, reflektiert Lasker-Schüler erneut in der Erzählung Der Wunderrabbiner von Barcelona (1921) und im Exilprosatext Das Hebräerland (1937).
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Midrasch lesbar. Die Versöhnung der Eigenschaften von Jakob und Esau in einer Figur kann im Kontext einer utopischen Heilsgeschichte gesehen werden, die der traditionellen Trennung in zwei Stämme ewiger blutiger Feindschaft und Verfolgung entgegengesetzt wird. Erst in der Annahme der polaren Eigenschaften kann Jakob zu Israel und zum Stammvater des jüdischen Volkes werden, das heißt, ein weiterhin schöpferischer Mythos ist nur möglich, wenn ‚wilde‘, ursprüngliche Traditionsbestände in die jüdische Tradition integriert werden und diese gleichzeitig einer gewissen zivilisatorischen oder kulturellen Einschränkung unterliegen, um schöpferisch im Bund mit jhwh tätig zu sein. Es handelt sich also nicht um einen simplen Aufruf ‚zurück zu den (archaischen) Wurzeln‘, sondern ethische und poetische Implikationen sind dieser Konzeption inhärent. Prototypisch lässt das Gedicht „Jakob“ die Hebräischen Balladen als avantgardistisches Projekt erkennbar werden, das seine eigenen Setzungen reflektiert und ironisiert („vom Affen gebissen“). Von den Dichter/innen und Künstler/innen fordert es, in der Tradition von Heines „Schlemihltum“ zugleich „gotternst[...]“ und als „Gottes Schlingel“ (wie im Gedicht „Im Anfang“) zu agieren. Der in den Hebräischen Balladen entworfene, schöpferische jüdische Mythos konstituiert sich in der fortgesetzten Begegnung mit jhwh und dem Bestehen oder Scheitern an der Auserwählung und der damit verbundenen besonderen Verantwortung. Diese Thematik reflektiert Lasker-Schüler in den im Folgenden untersuchten Texten in fortgesetzter Auseinandersetzung mit der rabbinischen Tradition. IV.2 Der Wunderrabbiner von Barcelona (1921) – Rabbinische Hermeneutik und antizipatorische avantgardistische Literatur Ich habe mal von Chajim Bialik – einer (sic) sehr gute Büste gesehen – und ich dachte: wie ein Indianer. Nase, Mund und der Schnitt der Augen und die breite Stirn. Else Lasker-Schüler an Ernst Simon, 6. Juni 1942110
In ihrer Erzählung Der Wunderrabbiner von Barcelona111 setzt sich Lasker-Schüler in einem frühneuzeitlichen Kontext mit der europäischen Judenverfolgung 110 KA 11, S. 138. Brief an Ernst Simon vom 6. Juni 1942. Indianer-Figurationen sind über den Topos der „Wildheit“ in Lasker-Schülers Konzeption der „Wilden Juden“ eingegangen. 111 Die Erzählung erschien 1921 als einzelner Druck neben der zehnbändigen Gesamtausgabe von 1919/1920 bei Paul Cassirer. Zitiert wird, soweit nicht anders vermerkt, nach der Kritischen Ausgabe, Bd. 4.1, S. 7–17, mit Seitenangabe in Klammern hinter dem Zitat.
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auseinander. Dies ist in ihrem Werk in dieser Explizitheit eine neue Thematik, die sie bis in die 1940er Jahre weiter beschäftigen wird.112 Schon der Titel der Erzählung verweist darauf, dass hier eine Auseinandersetzung mit Heinrich Heines Erzählungsfragment zur mittelalterlichen Judenverfolgung Der Rabbi von Bacherach (1840) geführt wird. 113 Lasker-Schüler knüpft an das rabbinische Kommentarverfahren an, indem sie Heines Text zur Basis ihrer Auseinandersetzung mit jüdischer Auserwählung, Verfolgung und Erlösung macht, und ihn dabei für die Situation um 1920 und das Phänomen des modernen Antisemitismus aktualisiert.114 Erzählt wird die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Barcelona, deren Wunderrabbiner Eleasar (hebr.: „Gott hilf“) „an Ostern“ (15) regelmäßig in „Altasien“ weilt und die Gemeinde dadurch der alljährlichen Verfolgung durch die „Spanier“ preisgibt. Nur zwischen zwei Kindern, Amram, der „Judendichterin“ (14), und Pablo, dem Sohn des spanischen und christlichen Bürgermeisters, entwickelt sich eine poetisch konnotierte Liebe. Im Jahr der Erzählung plant die Gemeinde, Eleasar zum ersten Mal von den Verfolgungen zu berichten und ihn zum Bleiben zu überreden. Eine andere Gruppe von Juden will ins „verlorene[ ] Land[ ]“ (10) ziehen, eine Option, die Eleasar im Kontext einer größeren schöpfungsgeschichtlichen Aufgabe der Juden und Jüdinnen ablehnt. Durch Amrams und Pablos Liebe erscheint in übernatürlicher Weise ein Schiff auf dem Marktplatz, das es den beiden ermöglicht, Barcelona zu verlassen. Dieses Ereignis wird Anlass für einen Pogrom, bei dem die Christen die ganze jüdische Gemeinde
112 Vgl. die Erzählung „Arthur Aronymus. Die Geschichte meines Vaters“ und das Drama Arthur Aronymus und seine Väter (1932) sowie den Essay im Nachlass „Der Antisemitismus“. 113 Auf den Bezug zu Heines Erzählung hat zuerst Itta Shedletzky hingewiesen. Sie zeigt, dass Lasker-Schüler das Augenmotiv und die ambivalente Figur des Rabbiners aufgenommen und weiterentwickelt hat, besonders die bei Heine unausgesprochene Frage nach dessen Schuld. Itta Shedletzky: Bacherach und Barcelona, S. 120 f. Zum Augenmotiv im Kontext der „Assimilationsthematik“ außerdem Florian Krobb: „Mach die Augen zu, schöne Sara“. Zur Gestaltung der jüdischen Assimilationsproblematik in Heines „Der Rabbi von Bache rach“. In: German Life and Letters, Jg. 47 (April 1994), H. 2, S. 167–181. 114 Beide Erzählungen berichten von Pogromen in den sich häufig mit dem jüdischen Pessachfest überschneidenden Ostertagen, wie sie historisch mehrere Jahrhunderte lang stattgefunden und unzähligen Juden und Jüdinnen das Leben gekostet haben. Doch anders als Heines Erzählung, die in einem mittelalterlichen, deutschen Kontext angesiedelt ist und die Merkmale des christlichen Antijudaismus wie Ritualmordanschuldigungen und die Situation im Ghetto in Frankfurt am Main in den Mittelpunkt stellt, setzt sich Lasker-Schüler, wie Almuth Hammer anschaulich gezeigt hat, mit einen dezidiert modernen Antisemitismus auseinander. Dieser ist durch ökonomische Motive und die psychoanalytisch beschriebene Struktur der Projektion eigener verdrängter Anteile und empfundener ethischer Defizite auf „die Juden“ charakterisiert. Vgl. Almuth Hammer: Erwählung erinnern, S. 157 f.
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vernichten.115 Als Eleasar die Vorgänge bemerkt, ringt er eine Nacht wie der biblische Jaakov/Jakob mit jhwh. Sein Einsatz hat jedoch in einer endzeitlichen Vision die Auferstehung der „Christen“ (17) zur Folge, so dass der Wunderrabbiner sich zuletzt von jhwh abwendet und seinen Palast und die bereuenden Christ/innen vernichtet: Ein ungeheurer Steinbruch aber, Er, der große Wunderrabbiner, ein Volk stürzte sich vom heiligen Hügel, […], auf die Christen Barcelonas, die den letzten gequälten Juden reuevoll zur Ruhe legten, und erlosch ihre Erleuchtung, zermalmte ihre Körper. (17)
Wie allein dieser Schlusssatz zeigt, handelt es sich erneut um einen stark verdichteten Text Lasker-Schülers, der erst durch die Beachtung der avantgardistischen Verfahren und der vielfältigen intertextuellen Bezüge, auch auf das eigene Werk, angemessen gedeutet werden kann. Hier ist vor allem die mehrmalige Gattungsüberschreitung zwischen Lyrik und Prosa und zwischen einer textuellen, einer akustischen116 und einer graphischen Ebene offensichtlich. Darüber hinaus beinhaltet die Erzählung mehrere über die Grenze des Textes hinausweisende Elemente, die ein antizipatorisches Potenzial von Literatur markieren: zentral das Schiff, mit dem Amram und Pablo die Stadt verlassen, sowie die Figuren Amram und ihr Vater, der Baumeister Arion Elevantos, die über Bezüge zu anderen autobiographisierten Texten Lasker-Schülers Hinweise auf sie selbst und ihren Vater enthalten, diese jedoch poetologisch wenden.117 Lasker-Schüler positioniert die Erzählung als Auseinandersetzung mit dem kulturzionistischen Diskurs118 und dessen Bemühungen um eine jüdische Literatur im Kontext der jüdischen Erneuerung. Darauf weisen der legendenhafte Ton und die Figur eines Wunderrabbiners hin, die an jüdische Volkssagen oder deren moderne Adaptionen, u.a. Bubers Chassidische Geschichten, erinnern. In 115 Es ist dabei gerade Pablos Mutter, die Amrams Vater als Auftakt des Pogroms tötet: „Sie selbst riß dem unschuldigen Opfer das Herz aus der Brust, einen roten Grundstein zu legen, daran die herrenlosen Hunde ihr Geschäft verrichten sollten.“ (15) 116 Vgl. die in den Text eingefügten stilisierten Notationen, dazu mehr in Kapitel IV.2.2. 117 Bischoff weist darauf hin, dass es sich um die latinisierte Form des Namens von Aron Schüler handelt. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung, S. 413. Zur konsequent poetologischen Interpretation der biographischen Verweise vgl. Almuth Hammer: Erwählung erinnern, S. 182. 118 Itta Shedletzky hat biographisch begründet die Wunderrabbiner-Figur mit Martin Buber in Verbindung gebracht. Itta Shedletzky: Bacherach und Barcelona, S. 122. Doerte Bischoff weist auf Parallelen zu Martin Bubers kulturzionistischen Entwürfen hin, u.a. interpretiert sie Eleasar und Amram als ‚Verkörperungen‘ der von Buber unterschiedenen „vergeistigten oder dingorientierten Hinwendung zu Gott“. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung. Figuren der Souveränität und Ethik der Differenz in der Prosa Else Lasker-Schülers. Tübingen 2002, S. 420 ff., hier S. 436.
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Eleasar werden außerdem sephardische (spanisch-jüdische) und ostjüdisch-chassidische Merkmale verbunden. Die Umschlaggestaltung der Erstausgabe bestätigt diesen Eindruck, da sie erneut die zionistischen Farben und indirekt den Davidstern als zionistisches Symbol aufruft. Auf einem blaugrauen, auf jeden Fall deutlich helleren Untergrund stehen Verfasserin und Titel in blauer Schrift. Dazwischen sind drei Sterne abgebildet, die nicht explizit als Davidsterne stilisiert sind, aber sechs Strahlen aufweisen, also an den sechseckigen Davidstern erinnern.119 Außerdem verwendet Lasker-Schüler hier erneut hebräische Schriftzeichen für den Satz „Gottes Wege sind unerforschlich“ (16 f.) und verleiht dem Text damit auf der graphischen Ebene eine weitere jüdische Signatur.120 Neben der Gestaltung des Buchumschlags werden auf der inhaltlichen Ebene durch die Verhandlungen über eine mögliche Auswanderung in das „verlorene[ ] Land[ ]“ (10) verschiedene Positionen des modernen Judentums um 1900 thematisiert, so die zionistische, die akkulturierte und die traditionell religiöse.121 Wichtiger als der inhaltliche Bezug ist jedoch, dass Lasker-Schüler die Metaphoriken des Herzens, des Blühens und Keimens sowie des Bauens, welche kulturzionistische poetologische Modelle prägen, motivisch im Text und für die eigene Poetologie fruchtbar macht. Zuletzt wird die Auseinandersetzung mit dem kulturzionistischen Diskurs durch Bezüge auf Martin Bubers122 Konzept der „Verwirklichung“ geführt. Wie er in Der heilige Weg (1919) darstellt, liegt diesem ein jüdisches Messianismusverständnis zu Grunde, das die Erlösung vom Menschen durch die Tat im „[ J]etzt und [H]ier“ erwartet. Diese Haltung steht der antizipatorischen Qualität des avantgardistischen Projekts123 nahe. Lasker-Schü119 Damit weist die Erzählung Der Wunderrabbiner von Barcelona eine Verbindung zu der Gedichtsammlung Der siebente Tag (1905) und aus der Perspektive auf das Gesamtwerk zu dem späteren Prosabuch Das Hebräerland (1937) auf, in denen motivisch und poetologisch besonders deutlich eine Auseinandersetzung mit dem Kulturzionismus geführt und dies schon graphisch durch die Gestaltung des Umschlags markiert wird. 120 Dieses Verfahren findet sich zuerst in Der Malik. Eine Kaisergeschichte (1919). LaskerSchüler nimmt es später in Das Hebräerland wieder auf, dessen Motto einmal in hebräischer und einmal in deutscher Sprache abgedruckt ist. 121 Vgl. Almuth Hammer: Erwählung erinnern, S. 161. 122 Auf Bezüge zu Bubers Schrift Der heilige Weg hat Doerte Bischoff hingewiesen. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung, S. 421, 432 f., 439. 123 Aus der Sicht der Avantgardeforschung haben Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (2000) gezeigt, dass sich das romantische Fragment für den Avantgardediskurs fruchtbar machen lässt, und zwar im Sinne eines Projektes, das auf etwas Zukünftiges ausgerichtet ist, dieses aber schon in den Texten oder im Leben umsetzt (vgl. Kapitel I und Kapitel II.3). Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Hg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantegardekritik – Avantegardeforschung. Amsterdam/Atlanta 2000 (Avant Garde. Critical Studies; 14).
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ler realisiert die angestrebte Erlösung antizipatorisch im Text selbst und weist gleichzeitig über diesen hinaus. Lasker-Schüler überträgt rabbinische Diskursmerkmale und Schreibverfahren auf avantgardistische Schreibtechniken und verbindet das ethische und utopisch messianische Potenzial des rabbinischen Projekts124 mit dem antizipatorischen Element avantgardistischer Literatur. Dabei schließt sie zum einen an die von Ch. N. Bialik im Essay „Halacha und Aggada“ formulierte Forderung an, die halachische und aggadische Erzählweise des rabbinischen Diskurses im Medium der Literatur weiterzuführen und beide zu verbinden, wie die doppelte Erzählweise in Lyrik und Prosa zeigt. Als Merkmale rabbinischen Schreibens finden sich zum einen eine Anknüpfung an das Kommentarverfahren und rabbinische Erinnerungstechniken wie die Überlagerung von Zeit- und Raumstrukturen.125 Lasker-Schüler legt die Erzählung, die auf zeitgenössische Ausschreitungen gegen Juden und Jüdinnen in Jerusalem 1920 reagiert, als Aktualisierung von Heines Der Rabbi von Bacherach an. Um die Funktion von Literatur als jüdisches Erinnerungsmedium, aber ebenso als Medium der (Er-)Lösung und Überwindung der Wiederholungsstrukturen von antijüdischer Gewalt zu untersuchen, wählt sie als kulturzionistisch konnotierten weiteren Intertext die Lieder des Zorns, die Chaim Nachman Bialik als Reaktion auf den Pogrom in Kischinew 1903 verfasst hat.126 Lasker-Schüler macht zum anderen die pluralistische Qualität rabbinischer Hermeneutik fruchtbar, die die in der halachischen Auseinandersetzung unterlegene Meinung gleichberechtigt überliefert und damit im kulturellen Gedächtnis bewahrt.127 Dies betrifft besonders die Diskursfelder von modernem Antisemitismus und christlichem Antijudaismus sowie die innerjüdischen Debatten zwischen einer traditionell religiösen Position und dem zionistischen Versuch, selbst aktiv einen Ausweg aus der antijüdischen Verfolgungsdynamik zu finden. Durch die Figur der „Judendichterin“ Amram und durch ihre Gedichte wird zuletzt die Überschreitung rabbinischer hermeneutischer Kompetenz im Medium der Literatur im Text vorgeführt.
124 Vgl. die Ausführungen von Jacob Neusner: Rabbinic Utopia. 125 Vgl. hierzu Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Berlin 1982. 126 Intertextuelle Bezüge zu Bialiks Werk werden hier erstmals untersucht. 127 Zu einer differenzierten Einschätzung dieser Eigenschaft vgl. die Ausführungen in Kapitel IV.2.4 zu Daniel Boyarin: Den Logos zersplittern. Zur Genealogie der Nichtbestimmbarkeit des Textsinns im Midrasch. Berlin, Wien 2002.
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IV.2.1 Anlass des Kommentars: Antijüdische Ausschreitungen in Jerusalem im April 1920
Obwohl Lasker-Schülers Schreiben eine politische Dimension häufig abgesprochen wird, lässt sich hier erstmals zeigen, dass sie mit der WunderrabbinerErzählung auf zeitgenössische Ausschreitungen gegen Juden und Jüdinnen in der Jerusalemer Altstadt im April 1920 reagiert.128 Diese entfalten zeitgenössisch, gerade weil sie sich in der „Heiligen Stadt“ ereignen, eine nicht zu unterschätzende Schockwirkung129 und wurden nicht nur in der (kultur-)zionistischen Presse, sondern international als Pogrom rezipiert. Anlass für die arabischen Ausschreitungen, die zwischen dem 4. und 7. April 1920 gegen die Bewohner des Jüdischen Viertels in der Altstadt von Jerusalem im britisch kontrollierten Prä-Mandatsgebiet Palästina stattfanden, war das muslimische Nabi-Musa-Fest. Die in diesem Jahr gleichzeitig mit Pessach und dem griechisch-orthodoxen Osterfest vollzogene Prozession zu einem Schrein, der mit Moses assoziiert wird, hatte seit der Etablierung des Festes deutlich politischen Charakter.130 Umso mehr 1920, da zeitgleich bei den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg über die politische Zukunft des Gebiets Palästina entschieden wurde.131 Obwohl von zionistischer Seite mehrfach vor dem Ausbruch eines Pogroms gewarnt wurde (u.a. durch Chaim Weizmann), war die britische Verwaltung in keiner Weise auf die Prozessionen vorbereitet.132 Während der mehrtägigen Ausschreitungen133 wurden Mitglieder von jüdischen Selbstwehr128 Dazu findet sich kein Hinweis in der Kritischen Ausgabe (KA 4.1). 129 Der israelische Historiker Tom Segev, der die Ereignisse aus Quellen rekonstruiert hat, nennt sie aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive: „the opening shot in the war over the land of Israel.“ Tom Segev: One Palestine, Complete. Jews and Arabs under the British Mandate. New York 2000, S. 127. In der ersten jüdischen Zeitschrift in Palästina Ha’aretz (hebr.: „Das Land”) schreibt Mosche Smilansky: „There had been no clashes like these for a hundred years.“ (Zitiert nach: Ebd., S. 139) 130 Vgl. Tom Segev: One Palestine, Complete, S. 127. 131 Zur Debatte stand, ob das Gebiet Palästina Britisches Mandatsgebiet werden sollte oder eventuell Teil des von Emir Faisal im März 1920 ausgerufenen arabischen Reiches. 132 Vgl. Tom Segev: One Palestine, Complete, S. 127. 133 Die Jüdische Rundschau berichtet unter der Überschrift: „Die Lage in Palästina. Der Bericht der zionistischen Leitung“: „Ernste Unruhen ereigneten sich in Jerusalem am 4., 5. und 6. April. Juden wurden von Arabern überfallen. Die eingeborenen Polizeiorgane unterstützten die arabischen Plünderungen und Gewalttaten. Fünf Juden wurden getötet, ungefähr zweihundert verwundet, zwei Frauen vergewaltigt. Die britischen Verwaltungsbehörden verhalten sich trotz vorhergegangener Warnungen der Zionist Comission passiv. Das Anerbieten der jüdischen Selbstwehr, die Zivilbevölkerung zu schützen, wurde zurückgewiesen und mehrere Mitglieder der Selbstwehr verhaftet.“ Vgl.: O.V.: „Die Lage in Palästina“. In: Jüdische Rundschau, Jg. XXV. (16. April 1920), H. 24, S. 1.
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organisationen verhaftet und nach Abriegelung der Altstadt die unbewaffneten Juden und Jüdinnen ihren Angreifern überlassen. Es kam zu tätlichen Angriffen, Morden, Vergewaltigungen, Plünderungen, Zerstörung von Wohnhäusern, Schändung von Torarollen und zum Anzünden von Synagogen. Die Bilanz der mehrtägigen Ausschreitungen ist: „5 Jews dead, 216 wounded, 18 critically“.134 Dafür, dass Lasker-Schüler die Ausschreitungen tatsächlich zeitnah zur Kenntnis genommen hat, gibt es einen indirekten Hinweis in ihren Briefen. Direkt am 8. April 1920 schreibt Lasker-Schüler an den zentral mit den kulturzionistischen Kreisen Prags135 verbundenen Hugo Bergmann (1883–1975): „Viele Grüße Prinz von Theben / Wo ist Pinsky? Dachte in den letzten Tagen so viel an Sie, Athene und Pinsky.“ Lasker-Schüler kennt Hugo Bergmann und dessen erste Frau Else (geb. Fanta), die sie Athene nennt, von ihren Lesungen in Prag 1913, bei denen sie mit mehreren Mitgliedern des kulturzionistisch geprägten Bar Kochba-Vereins in Kontakt kam. Die wenigen Zeilen drücken berechtige Sorge aus, plante Bergmann doch tatsächlich noch für den Mai 1920136 mit seiner Frau und den beiden Kindern nach Palästina umzusiedeln, um dort die Jüdische Nationalbibliothek aufzubauen. Der Eindruck, dass Lasker-Schüler sich mit der Umschreibung „in den letzten Tagen“ auf die Ausschreitungen bezieht, wird verstärkt, wenn man ihre Sorge um Schamai Pinsky hinzunimmt, einem ostjüdischen Schriftsteller, der zeitweise in Berlin lebte, 1910/11 im Sturm Gedichte veröffentlicht hat und 1920 bereits nach Palästina übergesiedelt war.137 Lasker-Schüler nimmt die Ereignisse in Jerusalem als Anlass, sich mit Heines Erzählfragment Der Rabbi von Bacherach (1840) zur Judenverfolgung im Mittelalter auseinanderzusetzen. Noch im April 1920 taucht ein impliziter Hinweis auf, dass Lasker-Schüler begonnen hat, sich mit der Wunderrabbiner-Erzählung zu beschäftigen.138 So erwähnt sie in ihren Briefen mehrmals Spanien oder Sevilla 134 Vgl. Tom Segev: One Palestine, Complete, S. 138. 135 Zur kulturzionistischen Ausrichtung der Prager Kreise vgl. u.a. Iris Bruce: Kafka and Cultural Zionism. Dates in Palestine. Madison 2007. 136 Vgl. Hugo Bergmann: Tagebücher und Briefe. Bd. 1: 1901–1948. Hrsg. v. Miriam Sambursky. Königstein/Ts. 1985, S. 103. Des Weiteren ein Brief vom 1.5.1920 an Bergmanns Mutter vom Beginn der Reise aus Palermo. Ebd., S. 135. Am 21.5.1920 erschien in der Zeitung Haaretz ein Bericht über eine Feier zum Empfang Bergmanns in Jerusalem. Ebd., S. 136. 137 Vgl. KA 7, S. 636. Lasker-Schüler schreibt im Folgenden vor allem im Kontext ihrer Palästinareisepläne in den 1920er Jahren und im Exil an Bergmann und fragt noch mehrmals nach Schamai Pinsky, so Mitte November 1922 und im Oktober 1923. Sie erwähnt ihn erneut in Das Hebräerland (1937). 138 Über Briefe Lasker-Schülers lässt sich der Entstehungszeitraum der Wunderrabbiner-Erzählung auf die Zeit zwischen April 1920 und Oktober 1920 datieren. So schreibt LaskerSchüler am 28. Oktober 1920 im Rahmen von Verhandlungen zu einem Gedichtband in der Schweiz, in die sie die Erzählung miteinbezieht, an Carl Seelig: „Alles längst fertig 5 Gedichte und erstklassige Erzählung 9 Schreibmaschinenseiten.“ (KA 7, 200) Dass es sich
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als Reiseziel, ohne dass trotz intensiver Reisetätigkeit zwischen 1914 und 1924 eine konkrete Reise nach Spanien nachzuweisen ist.139 Die Hinweise auf Spanien können als Beschäftigung mit der Erzählung gedeutet werden und als Wunsch, einen spanischen (und zu Beginn durchaus weiter angelegten südeuropäischen) und damit aus jüdischer Perspektive sephardischen Kulturraum als Inspiration zu erleben oder als Assoziationsraum aufzurufen.140 Neben diesen Hinweisen zur Entstehungsgeschichte lassen sich thematische Bezüge der Erzählung auf die Ereignisse in Jerusalem und die kulturzionistischen Debatten darüber aufzeigen. Zum einen ist eine metonymische Verschiebung der Handlung von Jerusalem nach Spanien zu beobachten. Dabei kann Spanien als historisch in vielen Punkten äquivalenter Raum christlich-muslimisch-jüdischen Zusammenlebens gelten, ist aber in der jüdischen Tradition gleichzeitig als Erinnerungsraum für die traumatische Vertreibung der Juden und Jüdinnen aus Spanien während der katholischen Rückeroberung 1492 präsent. Lasker-Schüler macht damit explizit nicht die aktuelle Situation in Palästina zum Thema, sondern geht gerade zu zentralen Ereignissen der Judenverfolgung in Europa zurück, wobei sie Kontinuitäten zwischen christlichem Antijudaismus und modernem Antisemitismus aufzeigt. Dabei fällt auf, dass sowohl die Ausschreitungen an Nabi Musa als auch die alljährlichen Ausschreitungen gegen die Juden Barcelonas „an Ostern“ (15) und somit der ‚traditionellen‘ Zeit für christlich motivierte Pogrome, gerade erneut im 19. und 20. Jahrhundert in Osteuropa, stattfinden. Dass Lasker-Schüler die Wiederholungsstruktur der antijüdischen Ausschreitungen und das Aktualisierungs- und Erinnerungspotenzial ihrer Erzählung wichtig waren, zeigt ihr Kommentar zum Erscheinungsdatum des Wunderrabbiners in den Pessachtagen im April 1921:
um die Wunderrabbiner-Erzählung handelt, bestätigt ein Brief an Hans Feist-Wollheim drei Tage später (31. Oktober 1920), in dem es explizit heißt: „Meine Wunderrabbiner Geschichte soll ich illustrieren […].“ (KA 7, 200) 139 Der Eindruck, dass es sich dabei um mehr handelt als konkrete Reisepläne, wird dadurch bestärkt, dass Lasker-Schüler die Bezeichnungen graphisch hervorhebt, so zuerst am 17. oder 18. April 1920 an Georg Koch: „am 19. oder 20. Vortrag dann Abreise nach SevillaMailand“ (KA 7, 182 f.). Am 17. August heißt es an Albert Ehrenstein: „Will nach Sevilla“ (190) und Mitte September an Carl Seelig: „Ich muß nach Holland, Spanien“ (193). Die Signatur wird nach der Beendigung der Erzählung im Kontext von Vortragsreiseplänen aufrechterhalten, so schreibt Lasker-Schüler am 16. Oktober 1920 an Max Gubler: „Oder sollen wir erst Spanien wo ich vortragen soll überall?“ (197) 140 Ein entsprechender imaginativer Austausch lässt sich mit Albert Ehrenstein (1886–1950) nachweisen, dem Lasker-Schüler wahrscheinlich in der 2. Julihälfte 1920 schreibt: „und tausend Dank für herrliche spanische Zeitung“ (KA 7, 189) Die Änderung des Ortsnamens von Sevilla in Barcelona erfolgt sicherlich, um den Bezug auf Heines Erzählfragment deutlicher zu markieren.
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Ich habe doch den Wunderrabbiner von Barcelona geschrieben, der dieser Tage bei Cassirer erscheint. Er wird schon ins Jargon übersetzt. Ins Hebräische fände ich ihn überragend. Hatte enorme Erfolge mit ihm: Berlin, Wien, Prag; spreche ihn nun hier [in München, Anm. B.M.K.].141
Dass Lasker-Schüler hier die Datumsangabe hervorhebt, lässt sich als Hinweis lesen, dass „diese[ ] Tage“ eine Bedeutung über die Freude an einer aktuellen Veröffentlichung hinaus haben. Obwohl die Korrespondenz mit dem Verleger Ernst Cassirer nicht erhalten ist, liegt es nahe anzunehmen, dass Lasker-Schüler eine Publikation zu diesem Datum angestrebt hat oder ihr zumindest die symbolische Bedeutung dieses Zeitpunkts bewusst war.142 Eine weitere Parallele zu zeitgenössischen (kultur-)zionistischen Diskussionen ist die explizite Bezeichnung der gewaltsamen antijüdischen Ausschreitungen gegen Ende der Erzählung als „Pogrom“ (14). So wurde anlässlich der Ausschreitungen zu Nabi Musa in der internationalen und der (kultur-)zionistischen Presse in Deutschland, aber auch im Englischen Parlament die Frage debattiert, ob es sich um einen Pogrom gehandelt habe.143 Ebenso werden jüdische Versuche, den Ausschreitungen etwas entgegenzusetzen, in der Realität und in der Erzählung verhindert. So wurde in Jerusalem 1920 den Juden die Bitte um Selbstverteidigung verweigert, während sich in der Erzählung der Wunderrabbiner Eleasar gegen den Plan ausspricht, in das „verlorene[ ] Land[ ]“ (10) zu ziehen, und es ablehnt, „sich nicht verhalten und getragen [zu betragen]“ (14), eine Haltung, die angesichts der Vernichtung der Gemeinde am Ende zumindest fragwürdig erscheint. Außerdem findet sich in der Erzählung der Vorwurf, die Juden würden „Gleichheit und Brüderlichkeit“ (9) verbreiten und „mit ihrem Erlöserehrgeiz sich breit mach[ ]en in den unteren armen Schichten der Stadt“ (ebd.). Hier klingen neben den zentralen Werten der Französischen Revolution vor allem sozialistische 141 Brief an Erwin Loewenson vom 14. April 1921 (KA 7, 213). 142 Letzteres zeigt sich ebenfalls daran, dass sie mögliche Übersetzungen ins Jiddische ( Jargon ist eine abwertende Bezeichnung für Jiddisch) und ins Hebräische ins Spiel bringt. So erschien Bialiks Gedicht „In der Stadt des Mordens“ (1904), zu dem sich intertextuelle Bezüge nachweisen lassen (vgl. Kapitel IV.2.2), in einer hebräischen und einer jiddischen Version. Hier fällt auf, dass Lasker-Schüler sonst betont, dass ihre Texte schon hebräisch geschrieben seien. 143 So findet sich auf der Titelseite der Jüdischen Rundschau vom 23. April 1920 ein Artikel mit dem Titel „Wer sind die Schuldigen?“, der aus der Zeitschrift Haolam übernommen ist, dort unter dem Titel „Pogrom in Jerusalem“. Darin heißt es: „Es ist kein Pogrom, den die Araber gemacht haben, sondern ein Pogrom, welcher unter Benützung der Araber in bestimmter Absicht veranstaltet wurde. Es ist das gewöhnliche, politische Mittel, dessen sich die lokalen Beamten bedienen, […], um auf die Zentralregierung […] Einfluß zu nehmen.“ O.V.: „Wer sind die Schuldigen?“ In: Jüdische Rundschau, Jg. XXV. (23. April 1920), H. 26, S. 1.
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Vorstellungen an,144 die z.T. eng mit kulturzionistischen Vorstellungen verbunden waren, so in Osteuropa, aber auch bei Buber und unter den frühen jüdischen Einwanderern und Einwanderinnen in Palästina. Dies lässt sich als ein Verweis darauf lesen, dass in (kultur-)zionistischen Kreisen (u.a. von Chaim Weizmann) der Vorwurf von englischer Seite, alle Zionisten seien Bolschewisten, debattiert wird.145 Dass Lasker-Schüler in die kulturzionistischen Debatten um die Ausschreitungen und die aktuelle Situation in Palästina eingebunden war, betont darüber hinaus, dass sie im ersten Jahresviertel 1921 mehrfach in zionistischen Kontexten und gerade in den (kultur-)zionistischen Zentren Wien, Berlin und Prag146 aus dem unveröffentlichten Manuskript gelesen hat, wie sie selbst mehrfach betont, mit großem Erfolg gerade von jüdischer Seite.147 So bemühte sie sich im Dezember 1920 um eine Lesung bei der Zionistischen Vereinigung in Deutschland, womit sie an ihre Matinee zur Palästina-Aufbau-Woche im Januar 1920 angeknüpft hätte.148 Am 29. Dezember 1920 schreibt sie an Fritz Lampl: „wäre ich gerne bereit nochmals Manuscript zu lesen Zion etwa.“149 Die Lesung, die dann tatsächlich am 26. April 1921, also in der Pessachwoche, in München stattfindet, erfolgt schließlich in einem ähnlich kulturzionistischen Kontext, nämlich auf Einladung der Ewer-Buchhandlung des Jüdischen Verlags.150 Die zeitgenössischen, als Pogrom eingestuften Ausschreitungen gegen Juden und Jüdinnen in der Jerusalemer Altstadt im April 1920 werden für LaskerSchüler zum Schreibanlass für die Auseinandersetzung mit europäischer Juden144 Die Kritische Ausgabe merkt für diese Stelle an, dass es sich um eine „Anspielung auf den revolutionären – sozialistischen und anarchistischen – Aktivismus jüdischer Intellektueller in Mittel- und Osteuropa“ handelt (KA 4.2, 25). 145 Diese Aussage findet sich in dem von Tom Segev zitierten Bericht des britischen Untersuchungsausschusses vom April 1920, der jedoch nicht veröffentlicht wurde. Vgl. Tom Segev: One Palestine, Complete, S. 140/1: „Bolshevism flowed in Zionism’s inner heart, the court stated“. 146 Die genauen Daten sind: Wien am 11. Januar 1921 (Wiener Volkshaus), Berlin am 6. Februar und 6. März 1921 (Kammerspiele des Deutschen Theaters) und am 10. März 1921 auf Einladung der Volksbühne sowie Prag am 13. Januar 1921 (Mozarteum). KA 4.2, 24 f. 147 Vgl. u.a. den Brief vom Mai 1921 an Jethro Bithell. KA 7, S. 215 f. 148 Lasker-Schüler hat am 25. Januar 1920 anlässlich der „Palästina-Aufbau-Woche“, die von der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) in Berlin veranstaltet wurde, gelesen. Die Matinee stand im Kontext der Aktivitäten der Ewer-Buchhandlung des Jüdischen Verlags und kann als „Höhepunkt der Veranstaltung“ gelten. Anatol Schenker: Der Jüdische Verlag, 1902–1938. Zwischen Aufbruch, Blüte und Vernichtung. Tübingen 2003, S. 231, 299. 149 KA 7, S. 209. Ebenso der Vorschlag für eine Lesung an Albert Ehrenstein vom 29. Dezember 1920: „Zion etwa neues Manuscript.“ Ebd., S. 208. 150 Ebd., S. 214. Eine erneute Lesung ist für den 30. September 1921 im Berliner „Meistersaal“ nachgewiesen. Ebd., S. 528.
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verfolgung, christlichem Antijudaismus und modernem Antisemitismus. Als weiteren kulturzionistisch konnotierten Intertext nimmt sie Chaim Nachman Bialiks Gedichte zum Kischinew-Pogrom im April 1903 motivisch, thematisch und poetologisch auf, um die Wiederholungsstruktur antijüdischer Gewalt zu reflektieren und die Möglichkeiten zu untersuchen, durch Literatur einen Ausweg zu finden. IV.2.2 Jüdische Literatur und antijüdische Gewalt: Ch. N. Bialiks literarische Reaktion auf den Pogrom in Kischinew im April 1903
Der Anblick der mit Federn aus zerrissenen Bettdecken übersäten Straßen in der Jerusalemer Altstadt während der antijüdischen Ausschreitungen im April 1920 rief bei mehreren Augenzeug/innen Erinnerungen an die Pogrome in Osteuropa im 19. und gerade auch 20. Jahrhundert wach, vor denen viele der ersten jüdischen Einwanderer und Einwanderinnen geflohen waren.151 Im jüdischen kulturellen Gedächtnis wurde hierbei ganz konkret die Erinnerung an die Pogrome in Kischinew (1903, erneut 1905/6) aufgerufen, die im deutschsprachigen Kulturzionismus, international und von der russischen Intelligenz stark beachtet wurden.152 Die zweitägigen Ausschreitungen fanden in den Ostertagen im April 1903 statt, 49 Juden und Jüdinnen wurden getötet, 592 z.T. schwer verletzt, über 700 Häuser sowie 600 Geschäfte geplündert und zerstört, 2000 Familien wurden obdachlos,153 berichtet wird außerdem von zahlreichen Vergewaltigungen. Polizei und Militär griffen nicht ein, so dass die Ausschreitungen als staatlich initiiert oder zumindest geduldet gewertet werden können.154 151 Vgl.: Tom Segev: One Palestine, Complete, S. 135. Segev zitiert Rachel Yanait und Nachman Sykrin. 152 Vgl.: O.V.: „Jewish Massacre Denounced“. In: New York Times, April 28, 1903, S. 6. Ebenso J. J. Goldberg: Kishinev 1903: The Birth of a Century. Reconsidering the 49 Deaths That Galvanized a Generation and Changed Jewish History. In: The Jewish Daily Forward, April 4, 2003. So berichtet die New York Times von den Ereignissen, es gibt Massendemonstrationen in Paris, London und New York, der amerikanische Präsident Roosevelt protestiert beim russischen Zaren und nichtjüdische russische Autoren wie Tolstoi und Maxim Gorki protestieren erstmals öffentlich gegen einen Pogrom. 153 Die Zahlen beziehen sich auf die Angabe in der Encylopädia Judaica. Bd. 10. Jerusalem 1971, Sp. 1064 f. 154 Vgl. Encyclopedia Judaica, die angibt, dass der Pogrom von lokalen und zentralen Stellen wie dem Innenministerium und der Bessarabischen Administration initiiert und organisiert wurde. So befanden sich 5000 Soldanten in der Stadt, die nicht eingriffen (ebd.). Vorangegangen war eine antisemitische Kampagne von Pawel Alexandrowitsch Krushewan, Herausgeber der Zeitung Bessarabets, die den seit dem Mittelalter tradierten antijudaistischen
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Im deutschsprachigen kulturzionistischen Kontext veröffentlichte Berthold Feiwel 1903 ein Anklage- und Gedenkbuch Die Judenmassacres von Kischinew, in dem der Hergang des Pogroms geschildert, die Mithilfe der örtlichen Behörden analysiert sowie durch die Aussagen von Überlebenden das Geschehen in seinen grausamen Details rekonstruiert wird.155 Auch Feiwel weist auf die Kontinuität von antijüdischen Pogromen seit dem Mittelalter hin, denn das Cover der Broschüre zeigt die Graphik „Plünderung des Judenviertels in Frankfurt am Main (1612)“, die an den sogenannten ‚Fettmilch-Aufstand‘ erinnert. Den Ausführungen ist ein Gedenkblatt mit dem Titel „Den Märtyrern von Kischinew ...“ von E. M. Lilien vorangestellt, das als intermedialer Bezug Parallelen zur Gestaltung der Wunderrabbiner-Figur bei Lasker-Schüler aufweist. Die Illustration in Jugendstil-Ästhetik zeigt einen älteren, in einen Tallit (einen Gebetsschal) gehüllten, gefesselten Juden auf einem Scheiterhaufen. Hinter ihm befindet sich ein ihn auf die Stirn küssender männlicher Engel mit ausgebreiteten Flügeln, der eine Torarolle in den Armen hält. Beim Betrachten entsteht der Eindruck, dass die ausgebreiteten Flügel des Engels die des Juden sein könnten. Diese Darstellung könnte die doppelte Anlage der Figur Eleasars, den die Christen als Erzengel Gabriel wahrnehmen, inspiriert haben. In der Erzählung heißt es: „Von Eleasar flüsterte bange die ganze spanische Stadt. Gabriel sei er, der große Erzengel, nie gestorben; seines Bartes unzerrinnbarer Schnee umhülle die Bundeslade.“ (10) Liliens Jude hat ebenfalls einen weißen Bart und direkt neben ihm befindet sich die Torarolle, die ja den Inhalt der Bundeslade symbolisiert. Liliens Darstellung thematisiert außerdem den Zusammenhang von Auserwählung, Leid und Erlösung im Kontext der jüdischen Tradition, wie er für LaskerSchülers Wunderrabbiner-Erzählung zentral ist.156 Vorwurf eines Ritualmordes an einem christlichen Kind zumeist um die Oster- und Pessachtage lancierte und offen zur „Rache an den Juden“ aufrief. Trotz ersten Ansätzen jüdischer Selbstwehr kommt es am 19./20. Oktober 1905 zu einem weiteren Pogrom in der Stadt. 155 Berthold Feiwel [Pseud. Told]: Die Judenmassacres in Kischinew. Mit e. Weihebl. von E. M. Lilien u. Ill. Berlin: Juedischer Verlag 1903. Feiwel stellt die um historische und wissenschaftliche Standards bemühte Schrift in die Tradition literarisch-politscher Anklage gegen politische Missstände in der Tradition Émile Zolas: „Aufstacheln, aufrütteln will sie das öffentliche Gewissen, eine einzige Anklage, ein furchtbares „J’accuse“, ein Aufschrei aus entsetzlicher Not, den europäische Menschlichkeit hören muss, weil europäisches Barbarentum dieses Entsetzen bereitet hat.“ (Ebd., S. 3) Die Broschüre Die Judenmassacres von Kischinew beschreibt neben den Plünderungen und Zerstörungen einige der grausamen Details des Pogroms: die Misshandlungen und Folterungen der Opfer, die Vergewaltigung und Verstümmelung von Frauen und Kindern, die Schändung der Leichen sowie der Torarollen und weiterer Ritualgegenstände, S. 29 f., 48 f. 156 Zur motivischen Nähe von Lasker-Schülers früher weiblich erotischer Lyrik zu Liliens kulturzionistischen Illustrationen vgl. Mark H. Gelber: Jewish, Erotic, Female. Else LaskerSchüler in the Context of Cultural Zionism. In: Sonja Hedgepeth und Ernst Schürer (Hg.):
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Die berühmteste und wirkmächtigste Reaktion auf den Pogrom in Kischinew ist eine literarische: die Lieder des Zorns des hebräischen Dichters Chaim Nachman Bialik (1873–1934).157 Sie machten den Achad Haams Bemühungen um eine geistige Erneuerung des Judentums nahestehenden, neuhebräischen Dichter über Nacht zu dem jüdischen Nationalpoeten mit internationaler Anerkennung.158 Bialik reiste nach dem Pogrom im Auftrag des „Komitees der Nationalisierung“, einem Kreis, dem u.a. Achad Haam und der jüdische Historiker Simon Dubnow angehörten und der sich für die Gründung jüdischer Selbstwehrorganisationen einsetzte, nach Kischinew und sammelte die Aussagen der Überlebenden.159 Doch statt des geplanten Berichts schrieb Bialik die Lieder des Zorns. Bialiks berühmtestes Gedicht zum Kischinew-Pogrom „In der Stadt des Mordens“ (1904)160 ist eine Anklage aus der Sicht jhwhs, der selbst spricht und
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Else Lasker-Schüler. Ansichten und Perspektiven/Views and Reviews. Tübingen, Basel 1999, S. 27–43. Sowie ders.: Melancholy Pride. Nation, Race, and Gender in the German Literature of Cultural Zionism. Tübingen 2000 (Conditio Judaica; 23) und Kapitel III. Chaim Nachman Bialik (1873–1934) wurde in Radi (Radomyshl) in der Ukraine geboren und traditionell jüdisch erzogen, wandte sich jedoch früh der Haskala (der jüdischen Aufklärung) zu und ging 1900 in das kulturelle Zentrum Odessa (bis 1921). Dort erschien 1901 seine erste Gedichtsammlung, er engagierte sich bei den „Chowewei Zion“ („Zionsliebe“Vereinen) und gehörte Achad Haams Bund der ‚kulturellen Elite‘ „Bnei Mosche“ an („Söhne Moses“) und arbeitete für dessen Zeitschrift Ha-Shiloach. Er gründete den hebräischen Verlag „Moriah“ und übersetzte Weltliteratur ins Hebräische. Er avancierte zu dem jüdischen Nationalpoeten, eine Ikonisierung, die von ihm selbst am meisten kritisiert wurde und wohl auch für sein zeitweiliges Verstummen als Dichter verantwortlich war (zwischen 1910/11 und 1915). 1921 konnte er durch Intervention Maxim Gorkis Russland verlassen und lebte bis 1924 in Berlin und Homburg, bevor er 1925 nach Tel Aviv zog und dort nach seinem Tod 1934 neben Achad Haam begraben wurde. Vgl. Chaim Nachman Bialik: Selected poems. In Hebrew and English. Hrsg. und übersetzt v. David Aberbach. New York u.a. 2004, S. 12. Vgl. Simon Dubnow: Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit. Hrsg. v. Verena Dohrn. Bd. 1: 1860–1903. Göttingen 2004, S. 409, 411. „In der Stadt des Mordens“ erschien in deutscher Sprache zuerst 1911: Chaim Nachman Bialik: Gedichte. Aus dem Hebräischen übertragen v. Ernst Müller. Hrsg. unter Mitw. d. Vereinigung Hat’chijah in Wien. Köln, Leipzig 1911. Danach in der Zusammenstellung mit „Das Schlachten“ in: Ders.: Nach dem Pogrom. Aus dem Hebräischen v. Abraham Schwadron. Wien, Berlin: R. Löwit Verlag 1919. Wobei beide Übertragungen zeigen, dass die Übersetzer wenige Kenntnisse des traditionellen Judentums besaßen, da ihnen der metaphorische Bezug des hebräischen Titels „Ir HaHargah“ („Stadt des Schlachtens“) auf das Schächten, das rituelle jüdische Schlachten, entgeht. Dies wird erst durch die Übertragung aus dem Jiddischen von Ludwig Strauß unter dem Titel „In der Stadt des Schächtens“ beachtet. Vgl. Ch. N. Bialik: Gedichte. Aus dem Jidischen (sic) übertragen v. Ludwig Strauß. Bd. 2. Berlin: Welt=Verlag 1921, S. 21–39. Das Gedicht „Das Schlachten“ findet sich im ersten Band der Gedichtausgabe des zionistischen Weltverlags: Ders.: Gedichte. Aus dem Hebräischen übertragen v. Louis Weinberg. Bd. 1. Berlin: Welt=Verlag 1920, S. 84 f. Vgl. für die treffendere
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die Lesenden auffordert, mit ihm die Orte der Verbrechen aufzusuchen und die Verbrechen, deren Sinnlosigkeit und sein Versagen und seine Scham darüber zu bezeugen.161 Diese Lesart wird in der Ausgabe von 1919 dadurch bestärkt und vereindeutigt, dass „der herr“ und die Pronomen „ich“ und „mein“ wie der Gottesname in den Übersetzungen hebräischer Gebetsbücher in Großbuchstaben wiedergegeben sind: […] Und sei nun stumm mein Zeuge, daß du mich im Schimpfe gefunden, am Tag meines Elends gesehen.162
Bei der Wanderung durch die Stadt werden die Orte der Verbrechen besucht, Spuren der Gewalttaten gefunden und letztere in drastischen Bildern erinnert. Der Weg geht von den Höfen, durch zerstörte Häuser, auf Dachböden, in Keller, zu weiteren Verstecken in Abtritten, Ställen und zu einer „Hürde des Würgers“, wo Folterinstrumente gelagert werden, zum Friedhof und zuletzt zu den Überlebenden in die Synagoge am Fastentag Tischa BeAw.163 Die von Bialik erwähnten grausamen Details entsprechen dabei den in der Anklage- und Gedenkschrift Die Judenmassacres von Kischinew (1903) genannten Beschreibungen der Verbrechen, u.a. das Ausstopfen der Leichen mit Federn, das Zerreißen von Kleinkindern und die Folter mit Wagenrädern oder Nägeln.164 Formal arbeitet Bialik in dem elfstrophigen Gedicht nach der Vorlage hebräisch-biblischer, prophetischer Anklagen gegen jhwh, wie sie im Buch Hiob oder für die jüdische Literatur zentral in den Klagen des Propheten Ejcha/Jeremia über die Zerstörung Jerusalems überliefert sind.165 Auch ein Bezug auf Heines
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Übersetzung auch die spätere Übertragung aus dem Jiddischen: Ch. N. Bialik: In der Stadt des Schlachtens. Aus dem Jiddischen und mit einem Nachwort v. Richard Chaim Schneider. Salzburg, Wien 1990. Hier wird die Ausgabe von 1919 zitiert, da sich strukturelle und motivische Parallelen zu Lasker-Schülers Erzählung zeigen lassen. Ch. N. Bialik: Nach dem Pogrom, S. 20 f. Ebd., S. 21. An Tischa BeAw wird der Zerstörung des Tempels in Jerusalem und anderer katastrophaler Ereignissen der jüdischen Geschichte gedacht, u.a. der Vertreibung aus Spanien 1492. Vgl. Berthold Feiwel: Die Judenmassacres von Kischiniew. Ebenso der Artikel: O.V.: „Jewish Massacre Denounced“. In: New York Times, April 28, 1903, S. 6. Zu Bialiks Bezug auf prophetische Dichtungsmodelle vgl. Dan Miron: H. N. Bialik and the Propehtic Mode in Modern Hebrew Poetry. New York 2000 (The B. G. Rudolph Lectures in Judaic Studies; 2). Ders.: The Prophetic Mode in Modern Hebrew Poetry and other Essays on Modern Hebrew Literature. New Milford, London 2010, S. 91–190 und Reuven Shoham: Poetry and Prophecy. The Image of the Poet as a „Prophet“, a Hero and an Artist in Modern Hebrew Poetry. Leiden, Boston 2003, S. 65–134.
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Der Rabbi von Bacherach (1840) ist sehr wahrscheinlich, da bei Bialik, wie bei Lasker-Schüler, die Augenmetaphorik, die die Erzählung Heines prägt, zentral ist. Bialik arbeitet mit der Metaphorik des rituellen Schlachtens und dem damit verbundenen Kontrast von rein und unrein sowie dem Kontrast von Frühling und Mord/Gewaltexzess. Literaturgeschichtlich ist das Gedicht in den Kontext einer modernen „Ästhetik des Hässlichen“ einzuordnen. Da es sich aber um den Versuch handelt, eine konkrete historische Gewalterfahrung in Literatur auszudrücken und zu erinnern, reflektiert der Text mit dem Ineinanderblenden von Frühling und Mord auch das Problem des ästhetischen ‚Genusses‘ bei jeder literarischen Darstellung von Gewaltverbrechen, dem sich eine Literatur nach der Schoa in noch ganz anderer Radikalität zu stellen hatte.166 Dabei ist das Gedicht besonders provokativ, da Bialik nicht nur die Mörder und Verursacher der Pogrome anklagt, sondern ebenso die Passivität der jüdischen Männer und die Haltung des traditionellen Judentums, das die Juden und Jüdinnen darin bestärkt, in Demut zu verharren; ohne jedoch Zweifel daran zu lassen, wer die eigentlichen Täter sind.167 Die Anklage ist dabei sehr drastisch formuliert: Jetzt komm, ich führ dich in alle Verstecke: in Abtritte, Ställe von Schweinen und andere Orte voll Unrat, auf daß deine Augen erschauen, wo sie sich bargen, deine Brüder und deines Volkes Söhne, Die Enkel der Makkabäer und Märtyrer Löwen, zwanzig in e i n e m Loch und je dreißig, dreißig – – haben so meine Ehre auf Erden erhöht, s o in der Welt meinen Namen geheiligt … Wie die Mäuse sind sie geflohen, den Wanzen gleich haben sie sich verkrochen, 166 Vgl. die wohlbekannte, durch Adorno ausgelöste Debatte über „Lyrik nach Auschwitz“ und exemplarisch Paul Celans Gedicht „Todesfuge“. 167 Die schärfste Anklage Bialiks ist dabei der Vorwurf an die jüdischen Männer, die, selbst versteckt, Zeugen der Vergewaltigungen ihrer Ehefrauen, Schwestern und Töchter werden und nicht versuchen, diesen zu helfen, sondern nur um ihren eigenen Schutz beten. Die ersten deutschen Übersetzungen streichen die beiden Verse, die als Steigerung dieser Anklage beschreiben, dass, sollten einige der Frauen die Gewalttaten überlebt haben, ihre Ehemänner zum Rabbiner gehen, um zu fragen, ob sie nach der Halacha weiterhin mit ihrer Frau zusammenleben können.
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und starben den Hundetod, dort wo man sie fand.168
Wie schmerzhaft diese Darstellung gerade von einer jungen Generation rezipiert wurde, zeigt Abraham Schwadrons Kommentar zur Übersetzung 1919: Zum Inhalt möge bemerkt sein: Die völlige Passivität der Opfer, über die der Dichter wiederholt seiner Verbitterung Ausdruck verleiht, bestand bei den späteren Pogromen in diesem Maße nicht mehr. Schon im Jahre 1905 organisierten die Juden beim zweiten Kischenewer Pogrom eine Selbstwehr, ebenso bei den jetzigen Pogromen in PolenGalizien – Wehren, die allerdings in den meisten Orten von den Behörden vor den Überfällen entwaffnet worden sind.169
Für die Wunderrabbiner-Erzählung lassen sich deutliche Bezugnahmen LaskerSchülers auf Bialiks Gedichte „Das Schlachten“ (1903) und „In der Stadt des Mordens“ (1904) feststellen, die in die poetologische Konstruktion hineinreichen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Lasker-Schüler dabei eine Ausgabe vorlag, die beide Gedichte unter dem Titel Nach dem Pogrom (1919), in der Übersetzung aus dem Hebräischen von Abraham Schwadron, in einer ungewöhnlichen Textgestalt zusammenfasst. Hier lassen sich Parallelen zum Aufbau der Wunderrabbiner-Erzählung zeigen, gerade wenn man das Eingangs- und das Schlussgedicht der Erzählung beachtet. Auch die Gestaltung der Umschläge zeigt Übereinstimmungen, so gibt die Broschüre Nach dem Pogrom den Titel ebenfalls in blauer Schrift auf hellem Grund wieder, ist also in den zionistischen Farben gehalten. Auf der Ebene der Textstruktur beginnt die Zusammenstellung von 1919 mit dem Gedicht „Das Schlachten“ (5–7), jedoch ohne Titelangabe. Die erste Strophe ist eine Anklage des lyrischen Ichs, das nicht mehr zu Gott beten kann: „Ich – 168 Ch. N. Bialik: Nach dem Pogrom, S. 14f. 169 Ebd., S. 3. Vgl. das Gedicht von Georg Mannheimer, das die Auswirkung auf eine junge Generation zum Thema hat: „In Kischinew ward Euere Jugend erschlagen ….“ (Strophe 3, 116) und als Reaktion im Kontext des Ersten Weltkriegs und der russischen Revolution zum bewaffneten Kampf gegen die Mörder aufruft. Georg Mannheimer: Rache für Kischinew. In: März. Wochenschrift für deutsche Kultur. Hrsg. u.a. v. Hermann Hesse. Verantwortl. Leitung Theodor Heuß. 9 (1915) I, S. 115-117. Auch zu diesem Gedicht lassen sich motivische Bezüge Lasker-Schülers feststellen, so zum Herz- und Erz-Motiv, das Mannheimer kriegerisch wendet, Lasker-Schüler im Schlussgedicht eher versöhnend. Der Formulierung: „O Ihr Alle, denen frühzeitig das Schicksal die Schläfen gebleicht“ begegnet Lasker-Schüler mit dem Bild von einem „erlösenden Laut, der die Schläfen der Juden ritzte, sie zu tränken mit göttlicher Lymphe und manchem erschütterten zum Preis einen Blutstropfen entzog.“ (11)
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mein Herz ist tot / und kein Gebet trägt meine Lippe.“170 Daran schließt auf der siebten Seite direkt das Gedicht „In der Stadt des Mordens“ an, dessen letzte Strophe durch drei Zeilen mit Gedankenstrichen graphisch vom Rest des Gedichts abgehoben ist, so dass sie, anders als in anderen Ausgaben, wie ein separater Schluss wirkt. Die Wunderrabbiner-Erzählung beginnt ebenfalls mit einem Gedicht, dessen ursprünglicher Titel „Gott hör …“ in der Originalausgabe separat auf der Seite davor gedruckt ist.171 Durch diese Absetzung wird er zum Motto für das ganze Buch, das aus Eingangsgedicht, Erzählung und Schlussgedicht besteht. Das Eingangsgedicht ist ähnlich wie bei Bialik ein Klagegebet an jhwh, in dem das dichtende lyrische Ich einen hoffnungslosen Zustand artikuliert und von einer „tauben Narbe“ am eignen „Herz[en]“ berichtet (9). Im Schlussgedicht werden zentrale Metaphern aus der Schlussstrophe von „In der Stadt des Mordens“ wie „Kelch deines Schmerzes“, das „Herz“ und der Ort der Handlung auf einem Felsen aufgenommen.172 Die Bezüge, die sich zwischen Lasker-Schülers Wunderrabbiner-Erzählung und Bialiks berühmtestem Gedicht zum Kischinew-Pogrom zeigen lassen, betreffen darüber hinaus vor allem die Beschreibung des Pogroms, den von Bialik thematisierten Kontrast von erwachender Natur/Frühling und dem Morden und Foltern, die Forderung nach Rache, die Augen- und Herzmetaphorik sowie die Rolle der Tiere als stumme Beobachter.173 Bialiks Beschreibung der Spuren des Pogroms schon ab der dritten Zeile ist im Ton der Anklage, die nicht nur in der expressionistisch konnotierten Übersetzung als prophetische Sprachgewalt rezipiert wurde, in naturalistischer Weise explizit: Und deine Augen werden sehen und tasten die Hände auf Zäunen, auf Hölzern und Steinen und Mörtel der Wände
170 Ch. N. Bialik: Nach dem Pogrom, S. 5. 171 Die Kritische Ausgabe gibt die Textgestalt nur unzureichend wieder, so fehlt die Zeichnung von Amram, die als Signatur für das gesamte Buch fungiert, sowie die stilisierten Notationen; das Motto des Bandes „Gott hör …“, das sich in der Originalausgabe auf einer separaten Seite befindet, wird als Titel dem Eingangsgedicht zugeordnet (zum letzten Punkt KA 4.1, S. 7). 172 Ch. N. Bialik: Nach dem Pogrom, S. 30. 173 Im Gedicht „In der Stadt des Mordens“ sind es Spinnen, die das Morden beobachtet haben. In der Erzählung sieht nur der Hund des christlichen Bürgermeisters, wie Amram und Pablo Barcelona auf dem Schiff verlassen.
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verdichtetes Blut und vertrocknetes Hirn Erschlag’ner.174
Lasker-Schülers Beschreibung des Pogroms bleibt zwar im Legendenton der Erzählung, transportiert aber ebenso die Gewalttätigkeit, indem sie die Verbrechen im Motiv der zerstückelten Kinder zuspitzt: Und die Juden, die an den Namen Jehovas immer von neuem erwacht waren, lagen alle verstümmelt, zerbissen, Gesichte vom Körper getrennt, Kinderhände und Füßlein, zartestes Menschenlaub, auf den Gassen umher, in die man die Armen wie Vieh getrieben hatte. (15)175
Ihre Darstellung verdichtet Motive, die sich in zeitgenössischen Berichten u.a. über den Kischinew-Pogrom finden, so der Vergleich mit dem „Vieh“. Zentral ist die Verengung der Perspektive auf die Benennung der Körperteile als diejenigen getöteter Kinder. So erweist sich die zunächst grotesk erscheinende Darstellung angesichts der Berichte als eine nur wenig literarisierte Darstellung der Realität. In der New York Times heißt es: The Jews were taken wholly unaware and were slaughtered like sheep. [..] The scenes of horror attending this massacre are beyond description. Babes were literally torn to pieces by the frenzied and bloodthirsty mob. [...] At sunset the streets were piled with corpses and wounded.176
Lasker-Schüler nimmt einen weiteren Hauptpunkt von Bialiks Anklage auf, die der Unfassbarkeit nachgeht, dass das Morden inmitten der im Frühling erwachenden Natur stattfand und die Natur unbeteiligt bleibt: „die Sonne schien und
174 Ch. N. Bialik: Nach dem Pogrom, S. 7. 175 Eine ebenfalls auf Bialiks Gedichte und die Wunderrabbiner-Erzählung verweisende Passage findet sich in Lasker-Schülers Erzählung Arthur Aronymus. Die Geschichte meines Vaters, in der antijüdische Ausschreitungen im Rheinland thematisiert werden. In der Eingangsszene werden dabei in grotesker Weise Impressionen des christlichen Weihnachtsfestes mit Motiven eines Pogroms verschränkt: „An den geschmückten Zweigen der hohen Tannenbäume im Rathaussaale, in der Aula der Schulen, hatte man kleine Judenkinder wie Konfekt aufgehängt. Zarte Händchen und blutbespritzte Füßchen lagen, verfallenes und totes Laub, auf den Gassen des Ghettos umher, wo man den damaligen Juden gestattete, sich niederzulassen. Entblößte Körper, sie eindringlicher mißhandeln zu können, bluteten zerrissen auf Splittern der Fenstergläser gespießt unter kaltem Himmel.“ KA. 4.1, S. 239–266, hier S. 241 f. 176 Vgl. den Artikel: O.V.: „Jewish Massacre Denounced”. In: New York Times, April 28, 1903, S. 6.
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der Schlächter schlachtete“.177 Bialik verschränkt dabei unmittelbar die Sinneseindrücke von erblühender Natur und Sonnenschein mit den Spuren der Morde: Doch bleibst du nicht stehen am Ort der Verwüstung und kehrst dich zur Straße – ach! da blühen Akazien, es strömt ihr Duft dir entgegen, die Hälfte der Blüten geöffnet – doch riechen wie Blut sie! Und magst du wüten und magst du dich sträuben: es trägt ihr buhlender Duft des Frühlings Wollust in deine Brust – und dich überfällt kein Abscheu. Mit tausend goldenen Pfeilen durchbohrt die Sonne dein Herz und vervielfacht frohlocken die Strahlen aus jedem Glassplitter über dein Elend. Denn der herr entbot sie in einem beide: Frühling und Morden; die Sonne leuchtete – die Akazie blühte – und der Würger würgte … 178
Dieses unmittelbare Ineinanderübergehen von Sinneseindrücken, die nicht miteinander vereinbar gedacht werden können, und deren Darstellung auf die Struktur traumatischer Erlebnisse verweist, nimmt Lasker-Schüler als literarisches Verfahren auf. Im Wunderrabbiner gaukeln „süße lügnerische Winde“ Eleasar während des Pogroms, von dem er zunächst nichts bemerkt, da er im Schöpfungsatlas liest, eine Idylle vor (15). Pogrombeschreibung und Idylle grenzen unmittelbar aneinander: Und die Juden, die an den Namen Jehovas immer von neuem erwacht waren, lagen alle verstümmelt, zerbissen, Gesichte vom Körper getrennt, Kinderhände und Füßlein, zartestes Menschenlaub, auf den Gassen umher, in die man die Armen wie Vieh getrieben hatte. Aber die Abendwinde, die süßen Lügnerinnen, die um des großen Wunderrabbiners Palast sangen, brachten träumerisch falsche Märchen. „An den Hecken sitzen arglos deine Söhne, Eleasar, und zählen die Tage und Stunden, die sie von Palästina trennen, und mit Seide und Perlen sticken die feinen Töchter Davids, Kissen für deine
177 So die literarischere Übersetzung von 1921. 178 Ch. N. Bialik: Nach dem Pogrom, S. 8 f.
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segnenden Hände, Eleasar. Bald naht das Osterfest, und die Bäcker backen fromme ungesäuerte Brote für deinen Tisch, großer Wunderrabbiner. (15)
Ein weiterer zentraler Vergleichsaspekt ist die Frage nach Gerechtigkeit und Rache, die bei Bialik bis zur Forderung der Zerstörung der Weltordnung reicht. Lasker-Schüler entfaltet diese Forderung in der Selbstjustiz Eleasars und der von ihm verübten Zerstörung Barcelonas, mit der der Prosatext endet. Bialiks Gedicht „In der Stadt des Mordens“ ist eine Anklage des lyrischen Ichs, das nicht mehr um Erbarmen beten kann, gegen das jüdische „Schicksal“: „Zu wenigen sind wir verdammt!“179 Ebenso empfinden es die Juden und Jüdinnen in der Wunderrabbiner-Erzählung: Überall zerstreut, eingepflanzt, der Teige Zutat, sie zu süßen überdrüssig, um eines bitteren, geringfügigen Beigeschmacks ein ganzes Volk, schon seit Jahrtausenden gedemütigt zu werden. So empfanden die geplagten Juden dumpf ihr Geschick. (10)
Das lyrische Ich bei Bialik klagt die sich wiederholende Verfolgung und Vernichtung an und fordert Gerechtigkeit. Wie in der Wunderrabbiner-Erzählung, in dem die Christ/innen ihre Taten erst nach dem Pogrom bereuen und Erlösung erfahren, tritt auch hier die Gerechtigkeit erst nach der Vernichtung der Juden und Jüdinnen ein: Und gibt es ein Recht – erschein’ es sogleich! Doch, bin ich erst von der Erde vertilgt, da ein Recht erscheinet, so stürze sein Thron für immer dann hin und im ewigen Bösen der Himmel vergehe! Dann aber Frevelmörder lebet auch ihr mit diesem Raube in diesem Blute fort und seid entsühnt!180
Gerechtigkeit ist im Namen Elohim ein Grundaspekt jhwhs,181 so dass es sich um eine Anklage an jhwh handelt und dessen Machtanspruch grundsätzlich in Frage gestellt wird. Im Gedicht „Das Schlachten“ verwirft das lyrische Ich die Option der Rache an den Tätern, da das Blut eines Kindes nicht zu rächen sei: „Diese Rache, Rache für des Säuglings Blut, / hat auch noch der Satan nicht 179 Ch. N. Bialik: Gedichte. 180 Ebd., S. 6. 181 Der Name jhwh ist hingegen mit dem Aspekt der Barmherzigkeit und Gnade verbunden. (Schemot/Exodus 34, 6 f.)
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gezeugt.“ (6) Stattdessen wird die Vision einer Zerstörung der so etwas zulassenden Weltordnung imaginiert: Nein! Daß bis zum Orkus, tief und düster, das Blut sich bohre, daß in der Finsternis wütend es fresse all des Erdengrundes morsche Feste.182
Im Gedicht „In der Stadt des Mordens“ (1904) fordert hingegen jhwh selbst die Auflehnung gegen sich und die Vernichtung der Himmel und seines Thrones: Wahrlich, was beten sie denn noch zu mir? – O, sprich doch zu ihnen, daß sie aufdröhnen! Daß sie die Fäuste gegen mich ballen und fordern Sühne der Unbill, aller Geschlechter Unbill von Urzeiten her, daß sie die Himmel zusamt meinem Thron mit den Fäusten zerschmettern! – – – – – – – –183
Die Anklage an jhwh, das Motiv der Rache, aber vor allem das Motiv der Zerstörung der Weltordnung nimmt Lasker-Schüler in der Erzählung auf. Hier ist es der Wunderrabbiner Eleasar selbst, der sich gegen jhwh und dessen Gerechtigkeitsvorstellungen wendet, die auf ein „‚Hinschlachten läßt du deinen Lieblingssohn immer wieder immer [...]‘“ hinauslaufen, um die Christ/innen zu erleuchten (17). In einer Passage, die Anspielungen an Jaakovs/Jakobs Kampf mit dem Engel und Schimschons/Simsons Rache verschränkt,184 zerstört Eleasar seinen Palast, die bereuenden Christ/innen und Barcelona und damit schließlich den Diskurs‚Raum‘ der Erzählung (mit der Vernichtung endet der Proasateil). In der grotesken Übertragung des Zerstörungspotenzials auf den Körper des Wunderrabbiners, der in diesem Moment sein Volk repräsentiert, wird die bei Bialik geforderte Vernichtung der Weltordnung im Text realisiert: „Ein ungeheurer Steinbruch
182 Ebd., S. 6 f. 183 Ebd., S. 23 f. 184 Außerdem lässt sich ein Bezug auf Lasker-Schülers Erzählung „Der Dichter von Irsahav“ (1907) nachweisen. Auf den Bezug zu Simson haben Almuth Hammer (2004) und Doerte Bischoff (2002) hingewiesen, aber nicht unter dem Aspekt der Rache.
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aber, Er, der große Wunderrabbiner, ein Volk stürzte sich vom heiligen Hügel […] auf die Christen Barcelonas“ (17). Die Implikationen dieser Vernichtung sind weitreichend, denn zum einen ist Eleasars Palast mit dem Tempel jhwhs in Jerusalem, zum anderen über die Architektur- und Baumetaphorik eng mit dem Schöpfungsplan an sich und mit korrespondierenden poetologischen Entwürfen verbunden. Hier wird symbolisch eine Gottesbeziehung und ein dialogisches Modell, das Gefüge der Welt und des Textes, dessen Prosateil an dieser Stelle endet, vernichtet. Trotz dieser maximalen Vernichtung endet die Wunderrabbiner-Erzählung nicht an dieser Stelle und Lasker-Schüler entwirft eine andere poetologische Position als Bialik, dessen Gedichte eher eine Abwendung von jhwh fordern bzw. in denen jhwh sein Volk zur Rebellion und Selbsthilfe aufruft. Lasker-Schüler lotet zunächst die Möglichkeiten von Auflehnung (mit und gegen jhwh) im Rahmen der jüdischen Tradition aus, indem sie die Vernichtungsszene mit dem Kampf zwischen Jakob und jhwh und mit Simsons von jhwh unterstützter Rache verbindet. So endet der Text nicht mit der Vernichtung, sondern ist eingefasst durch zwei Gedichte, die letztendlich trotz der artikulierten Zweifel an jhwhs Wirken in der Welt den heilsgeschichtlichen Rahmen nicht verlassen. Während das Eingangsgedicht individuelle und prophetisch, schöpferische Zweifel an jhwh in der Form eines Klagepsalms formuliert,185 zeigt das Schlussgedicht, wie Eleasar trotz der zuvor verübten Vernichtung zu jhwh heimgekehrt (17). So wird eine dialogische Gottesbeziehung entworfen, in der Juden und Jüdinnen sich in der Auseinandersetzung mit jhwh sogar abwenden, und trotzdem ihr Leben auf Jerusalem ausrichten können und zuletzt Erlösung erfahren (vgl. Kapitel IV.2.4 und IV.2.5). Die ambivalente Verbindung von Auserwählung und Verfolgung, Vernichtung und Erlösung wird durch ein weiteres Strukturmerkmal des Textes betont: die Notationen, die an mehreren Stellen eingefügt sind und die den Klang des Schofars186 symbolisieren. Eine Notiz, die sich in einem im Nachlass von LaskerSchüler in Jerusalem erhaltenen persönlichen Exemplar von Der Wunderrabbiner von Barcelona befindet,187 nennt die Namen der Schofartöne: „Tékia! / lang / 185 Almuth Hammer zeigt die typische Struktur eines Klagepsalms auf. Almuth Hammer. Erwählung erinnern, S. 186 f. 186 Das Schofar wird vor allem an Rosh HaSchana ( Jüdisches Neujahrsfest) und Jom Kippur (Versöhnungstag) sowie während dem auf diese Hohen Feiertage hinführenden Monat Tischri geblasen und erinnert an die von jhwh geforderte und schließlich verhinderte Opferung Jizchaks/Isaaks (Bereschit/Genesis 22,1–14, Tora-Lesung an Rosh HaSchana). Anstelle Jizchaks wird ein Widder geopfert, der an den Hörnern im Dickicht hängen bleibt (ebd., 22,13). 187 Vgl. KA 4.2, S. 24.
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Schewarum! / Terua! / absetzen“, und stellt demnach eine ‚Übersetzung‘ der Notenbilder für Lesungen dar.188 Das wiederkehrende Notenbild, das eine symbolische Notation des Schofar blasens darstellt, findet sich an inhaltlich zentralen Stellen,189 so zu Beginn der Erzählung und zweimal bei der Anrufung des Namens jhwhs durch Eleasar, also im Moment eines direkten Dialogversuchs. Außerdem steht die Notenzeile an zwei Stellen, die erneut strukturell den Kontrast zwischen Idylle und Verbrechen inszenieren. So befindet sich eine Notenzeile zwischen dem Bericht über den sexuellen Missbrauch jüdischer Kinder durch einen Süßwarenhändler und dem Erscheinen des rettenden Schiffs auf dem Marktplatz, sowie zwischen Eleasars Nachdenken über Jerusalem als „Sternwarte der Heimat“ und dem Moment, in dem er den Pogrom entdeckt. Die Struktur von traumatischem Ereignis und dem Erinnerungs- und Erlösungsversprechen wird direkt im Text durch ein gattungsüberschreitendes avantgardistisches Verfahren realisiert. Das Schofarblasen und -hören hat in der jüdischen Liturgie explizit eine Erinnerungsfunktion, und zwar sowohl für die Juden und Jüdinnen als auch für jhwh. Die Juden und Jüdinnen soll der Klang auffordern, ihre Verfehlungen zu bedenken und Teschuwa (Umkehr) zu vollziehen, um an Rosh HaSchana für das neue Jahr in das „Buch des Lebens“ eingeschrieben zu werden, während auf der anderen Seite jhwh selbst daran erinnert werden soll, die Umkehrenden zu verschonen. Hier besteht ein Bezug zu dem Eingangsgedicht der Erzählung „Gott hör ….“, das in Umkehr des zentralen jüdischen Gebets, des „Schma Jisrael“ (hebr.: „Höre Israel“) nun jhwh zum Zuhören und Erhören auffordert.190 Der Klang des Schofars verweist also gleichzeitig auf die „Bindung Jitzchaks“ als eine traumatische Situation und auf das Versprechen der Rettung und Erlösung.191 Inhaltlich decken sowohl Bialik als auch Lasker-Schüler die Wiederholungsstruktur antijüdischer Gewalt auf192 und untersuchen die Möglichkeiten, im 188 Auch Hallensleben assoziiert den Klang des Schofars. Markus Hallensleben: Avantgardismus und Kunstinszenierung, S. 233 f. Diese Deutung unterstützt, dass der zweite im Buch überlieferte Zettel die lateinische Umschrift der hebräischen Schriftzeichen im Text enthält und somit als Vorbereitung für eine Lesung gelten kann: „Een cheker ledarke Adonaj. / Unerforschlich sind die Wege des Herrn.“ KA 4.2, S. 24. 189 Die Herausgeber/innen der Kritischen Ausgabe unterschätzen die Bedeutung dieses Elements als rein illustrativ, geben es im Textabdruck nicht wieder und verweisen nicht im Kommentar darauf. Die Notenbilder finden sich in der Erstausgabe: Else Lasker-Schüler: Der Wunderrabbiner von Barcelona. Berlin: Paul Cassirer 1921, S. 13, 18, 26 und 35. 190 Vgl. u.a. Dewarim/Deuteronomium 33,7 und Psalmen 27,7; 30,11; 143,1; und zentral in der Liturgie der Hohen Feiertage. 191 Zur Verschränkung der Passage mit Motiven der christlichen Tradition vgl. Doerte Bischoff (2002). 192 Bei der Analyse der Wiederholungsstrukturen bezieht sich Lasker-Schüler durchaus auf die psychoanalytische Theorie. So finden sich in der Wunderrabbiner-Erzählung somatische
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Rahmen der jüdischen Tradition und in deren Überschreitung auf diese zu reagieren. Lasker-Schülers Erzählung kann als ‚Antwort‘ auf Bialiks Gedichte gelesen werden, da sie Motive aus Bialiks Gedichten narrativ und poetologisch entfaltet und einen eigenen ‚(Er-)Lösungsentwurf‘ entwickelt. Bialiks Gedichte sind drastische Anklagen gegen die Passivität der jüdischen Opfer und die entsprechende Haltung des traditionellen Judentums. Seine oft appellative Darstellung zielt auf eine außerliterarische, politische Lösung ab. Sei sie nun die Gründung von Organisationen zur jüdischen Selbstwehr oder eine Übersiedlung nach Palästina. Lasker-Schüler führt hingegen zum einen Diskurslogiken u.a. von Antijudaismus und Antisemitismus und deren Verschränkung mit traditionellen jüdischen Narrativen vor, zum anderen lotet sie das Erlösungspotenzial jüdischer Literatur aus. Sie entwirft in einer schöpfungsgeschichtlichen Dimension eine auf Jerusalem ausgerichtete Poetologie, die eine Ausrichtung der eigenen schöpferischen Kräfte auf Jerusalem fordert, aber offen lässt, in welcher Weise sich diese Kräfte entfalten sollen. Die ‚Lösung‘ wird eher auf einer poetischen und zwischenmenschlichen Ebene verortet, die Differenz193 zu integrieren versucht, ohne dieses Unternehmen zu idealisieren. Vernichtung und Erlösung werden bei Lasker-Schüler im Medium der Literatur (traum-)symbolisch und mit antizipatorischer Qualität vorweggenommen. Diese Aspekte sind in den folgenden Unterkapiteln ausführlicher darzustellen. IV.2.3 Das (Luft-)Schiff: „Verwirklichung“ – Jüdischer Messianismus als antizipatorisches Projekt
Die Erzählung Der Wunderrabbiner von Barcelona stellt zum einen die Wiederholungsstruktur der jüdischen Verfolgungserfahrung im Kontext von christlichem Antijudaismus und modernem Antisemitismus aus. Zum anderen wird mit dem Bezug auf den Kulturzionismus der Wille nach einem Ausweg thematisiert, der jedoch nicht einfach die schöpfungsgeschichtliche Aufgabe des Judentums aufkündigen soll. So werden im Text und über diesen hinausweisend Fragen nach dem Verhältnis von (Kultur-)Zionismus, (jüdischer) Literatur und Erlösung erörtert. Lasker-Schüler knüpft dabei an messianische und utopische Zeichen als Symbole für verdrängtes Wissen (das Erbleichen Pablos) und Lasker-Schüler weist auf Parallelen von struktureller Gewalt und Verheimlichung am Beispiel des sexuellen Missbrauchs an Kindern hin. 193 Auch Doerte Bischoff betont den Aspekt der Differenz, wenn sie herausarbeitet, dass LaskerSchüler die jüdische Bestimmung in der Erzählung als „widerständige[…], nicht-assimilierbare[…] Anwesenheit“ unter den Völkern entwerfe, die sich jeglicher „Totalisierung“ von Religion oder Nationalität widersetzte. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung, S. 422.
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Aspekte der rabbinischen Tradition an und entfaltet sie als antizipatorisches Potenzial avantgardistischer Literatur, das in enger Verbindung mit Bubers kulturzionistischem Konzept der „Verwirklichung“ steht, wie er es in Der heilige Weg. Ein Wort an die Juden und an die Völker (1919) entwickelt hat.194 Damit hat die Wunderrabbiner-Erzählung Anteil am Utopiediskurs und am Diskurs über messianische Erlösung in der Moderne.195 Lasker-Schüler setzt sich mit dem Kulturzionismus und mit der Bedeutung einer Rückkehr nach oder Ausrichtung auf Jerusalem, z.B. in der Konzeption von Achad Haam im Sinne eines „geistigen Zentrums“, sowie mit der Rolle von Literatur in diesem Zusammenhang auseinander. Dabei geht es zentral darum, dass ein Anteil dieser Erlösung schon im „[ J]etzt und [H]ier“ (Buber 1919)196 – sozialhistorisch oder literarisch im Text – möglich ist. Dieses überschreitende Element, das eine Erlösung schon im Text selbst vorwegnimmt oder beginnen lässt, auf die Zukunft ausgerichtet ist und darüber hinaus auf das Leben einwirken will, findet sich in der Erzählung. Darauf, dass Lasker-Schüler Martin Bubers kulturzionistisches Konzept der Verwirklichung aufnimmt, deutet die Beschreibung des Wunderrabbiners hin, in der es heißt: „Sein ehrerbietiger Kopf rätselhaft wie durch die Lupe vergrößert und verwirklicht, neigte sich umrahmt im Bogenfenster des Palastes freundlich jedem Vorüberschreitenden zu, ob Jude oder Christ (Hervorh. B.M.K.)“ (10), die über die Betonung des Geistigen durch die Vergrößerung des Kopfes ebenfalls Überschneidungen zu anderen Beschreibungen Bubers durch Lasker-Schüler aufweist.197 Dass sich Lasker-Schüler im Wunderrabbiner auf Bubers Der heilige Weg bezieht, zeigt auch die Verwendung der Metaphorik des Bauens, die Bubers Text zentral prägt und die Lasker-Schüler poetologisch fruchtbar macht. So ist Amrams Vater Arion Elevantos als „Bauherr“ (15) „mit dem Bau der Aussichtstürme der großen Städte Spaniens betraut“ (11) und hat u.a. die Kuppel über Eleasars Palast ausgeführt. Das architektonische Wissen wird mit dem Wissen um die Konstruktion des Weltenbaus verbunden. Außerdem werden poetologische Konnotationen nahegelegt, da Eleasar die Konstruktion der Welt im Schöpfungsatlas nachliest
194 Doerte Bischoff (2002) argumentiert, dass Eleasar und Amram die bei Buber entwickelten Positionen von Geistigkeit und Wirklichkeitsorientierung repräsentierten. Ebd., S. 420 ff., hier S. 436. Mit dem Fokus dieser Arbeit lässt sich Bubers Der heilige Weg darüber hinaus über die avantgardistischen Implikationen seines Modells fruchtbar machen. 195 Almuth Hammer hat ebenfalls die utopische Signatur des Schiffes betont, allerdings ohne Bezug auf den Kulturzionismus. Almuth Hammer: Erwählung erinnern, S. 182–188. 196 Martin Buber: Der heilige Weg. Ein Wort an die Juden und an die Völker. Frankfurt/Main: Literarische Anstalt 1919, S. 39. 197 So war er im Reich des Prinzen von Theben als Statthalter der Stadt Irsahav angedacht, zu deren Bewohnern der Prinz von Theben eine Distanz fühlt, da sie zu geistig sind.
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und Amram, die von ihrem Vater als Junge erzogen wurde, um sein Nachfolger zu werden, diese Nachfolge offensichtlich als „Judendichterin“ antritt. Buber geht es in Der heilige Weg um das „Menschheitswerk“ (10) der „Verwirklichung des Göttlichen in der Menschheit“ durch den „Aufbau der wahren Gemeinschaft“.198 Dabei spricht er den Juden und Jüdinnen „eine besondere, erschließende Funktion“ (10 f.) zu, die avantgardistische Qualität hat, und von Buber selbst als „Vorangehen“ (11) bezeichnet wird. Verbunden sind sowohl „das Werk“ als auch der avantgardistische Impetus mit einem speziellen Verständnis von einem „aktiven Messianismus, der die Welt zum Gottesreich bereiten will“, anstatt zu warten, „daß Gott sich selbst sein Reich baue“ (36), wie Buber mit dem ihm üblichen Pathos formuliert: Bauende Begier liegt darin, die nicht warten will, bis Gott den Anfang macht, sondern ahnt, sie werde mitten im Bauen des mitbauenden Gottes inne werden. Formungswille, der ansetzt, wo allein angesetzt werden kann: jetzt und hier. Der Messianismus entschlossener Menschen, denen das eigene ungeteilte Leben gerade gut genug ist, ein Körnchen des messianischen Reiches zu werden.199
An der Schnittstelle zwischen einem speziellen Verständnis von jüdischem Messianismus und einem avantgardistischen Impetus treffen sich Lasker-Schülers poetologischer Entwurf und ein in diesem Sinne verstandenes kulturzionistisches Projekt, wobei die entsprechenden Protagonist/innen diese Qualität in sehr unterschiedlicher Weise umsetzen. Buber betont, dass das Ziel die „wahre Gemeinschaft“ und „nicht das Philosophem und nicht das Kunstwerk“ sei (23). Lasker-Schüler behauptet hingegen weiterhin eine inszeniert ‚subjektive‘ Position und lotet die poetologischen Möglichkeiten des Konzepts im Medium avantgardistischer Literatur an der Grenze von Literatur und Leben aus. Im Wunderrabbiner zeigt sich dies in der Überschreitung des Textraumes (durch das Schiff ), und wird vor allem als Erlösung in der Literatur und im Liebesdiskurs („Gemeinschaft“ wären zunächst nur zwei Menschen) sowie in der Integration von Differenz gestaltet. Die Struktur von Bubers Konzept einer messianischen „Verwirklichung“ schon im „[ J]etzt und [H]ier“ und die antizipatorische Eigenschaft avantgardistischer Texte gehen dabei über eine Utopie im herkömmlichen Wortsinn von „Nichtort“ hinaus.200 Das Schiff ist nicht nur die Utopie, es ist schon ein Stück von deren 198 Martin Buber: Der heilige Weg, S. 10 f. 199 Ebd., S. 39. 200 Hier lassen sich Parallelen zu Foucaults Konzept der Heterotopien zeigen, die Foucault als „Utopien […], die einen genau bestimmbaren Ort besitzen und auch eine genau bestimmbare Zeit“ (9), beschreibt. Vgl. Michel Foucault: Die Heterotopien. In: Die Heterotopien. Der
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Realisierung. So wird es mit der Arche Noah verglichen, wenn Eleasar in dem Moment, in dem er die Spuren des Pogroms entdeckt und seine Augen sich „vom Blitz des Schreckens – spalteten […] … weinten“, ruft: „‚Herr, fürwahr, der Kahn auf den Wellen des Meeres erweckte deines Namens Ehrfurcht.‘“ (16)201 Die Existenz der Arche Noah realisiert wie das Schiff der Liebenden schon ein Stück der versprochenen Rettung, der Verheißung von Erlösung. Die Übergänge zwischen Literatur und ‚Wirklichkeit‘, messianischer Zukunft und Gegenwart werden als fließend vorgestellt und korrespondieren mit einem avantgardistischen Literaturmodell, mit dem versucht wird, den Text für etwas offen zu halten, das noch kommt, und gleichzeitig schon etwas davon im Text zu realisieren. Für die Wunderrabbiner-Erzählung lässt sich das Schiff, das Amram und Pablo im kindlichen und poetischen Spiel und dennoch wie ein Brautwagen davon trägt, als Symbol dieses antizipatorischen Potenzials beschreiben. Das Schiff steht eines Tages auf dem Marktplatz: „Menschenmühen, Pferde und Ochsenkraft vermochten das rätselhafte Fahrzeug nicht zu entfernen aus der Stadt“ (14). So wird es als ein übernatürlicher Ort eingeführt, der mitten in Barcelona auf Grund von Amrams und Pablos Liebe und Sehnsucht erscheint und später über die Grenze des Textes und den zerstörten Diskursraum des Prosatexts hinausreicht.202 So ist das Schiff als ‚Ort‘, der durch Liebe und Sehnsucht erzeugt wird, ein Gegenentwurf zu Barcelona, ein ‚Ort‘ für eine Liebe, die in einem antisemitisch strukturierten Diskurs keinen ‚Raum‘ haben kann. Das Schiff stellt die Ordnung Barcelonas in Frage („beeinträchtigte [den Handel] und seinen Markt“) und ersetzt diese schließlich. Darüber hinaus weist das Schiff als poetologische Signatur über den Text hinaus, da es als Begriff und als Zeichnung ab 1924 in Lasker-Schülers Briefen vorkommt, häufig auf eine mögliche Palästinareise bezogen, bis hin zur doppelten Schiffssignatur am Ende von Das Hebräerland.203
utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe. Übersetzt v. Michael Bischoff. Mit einem Nachwort v. Daniel Defert. Frankfurt/Main 2005, S. 7–22 und ders.: Andere Räume. In: Karlheinz Barck (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. Leipzig u.a. 1998, S. 34–46. 201 Auch in Foucaults Beschreibung der Heterotopien klingt die Arche Noah als Modell an. Er beschreibt Heterotopien als „ein Stück schwimmender Raum […], Orte ohne Ort, ganz auf sich selbst angewiesen, in sich geschlossen und zugleich dem endlosen Meer ausgeliefert“. Michel Foucault: Die Heterotopien, S. 21. 202 Demnach entspricht es der von Foucault beschriebenen Funktion von Heterotopien gegenüber dem verbleibenden Raum. Er bezeichnet Heterotopien als Orte, „die vollkommen anders sind als die übrigen. Orte, die sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen.“ Ebd., S. 10. 203 Vgl. hierzu Sabine Graf (2009).
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Außerdem überlagern sich in typischer rabbinischer Darstellungsweise auf dem Schiff verschiedene Zeiten und Räume.204 Vor allem wird ein paradiesartiger Urzustand mit Motiven messianischer Erlösung überblendet und der ‚erlöste Zustand‘ in der zwischen kindlicher Unschuld und spielerischer Liebe („wie ein feierlicher Brautwagen“) angesiedelten Begegnung von Amram und Pablo als antizipatorisches Potenzial umgesetzt. Dass ein Schiff in einem utopischen bzw. antizipatorischen Kontext ganz zentral in der Erzählung auftaucht, verweist darüber hinaus auf die Schlüsselmetapher des (kultur-)zionistischen Diskurses und seines Verhältnisses zur Utopie. Wie Clemens Peck (2012) am Beispiel Theodor Herzls und Max Nordaus gezeigt hat, diente das „lenkbare Luftschiff“ als zentrale Metapher, um die Potenziale der zionistischen Utopie zu verhandeln.205 Für Herzl wird „das lenkbare Luftschiff“, wie Clemens Peck zeigt, zum „Fluchtpunkt des technikaffinen liberalen Fortschrittsdiskurses“ (412).206 Herzl geht es dabei, traditionell männlich gegendert, um Fragen der Machbarkeit: die Kraft der Bewegung und deren Kontrollierbarkeit wird zur Allegorie der Regulation der jüdischen Massenauswanderung gestaltet (vgl. ebd.). Das zentrale Kriterium ist die Lenkbarkeit, die das lenkbare Luftschiff zum bildlichen Ausdruck für die gesicherte Bewegung in die Zukunft macht (418). Entsprechend wirkt, wie Peck ausführt, die literarische Figur des Ingenieurs zurück auf das politische Projekt (415). Lasker-Schüler untersucht dagegen die poetologische und die auf der jüdischen Tradition beruhende heilsgeschichtliche Funktion des rettenden (Luft-)Schiffs und dessen utopisches bzw. antizipatorisches, (neo-)romantisches und revolutio 204 Foucault betont, dass „Heterotopien an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen [bringen], die eigentlich unvereinbar sind“ Michel Foucault: Die Heterotopien, S. 10. 205 Herzl selbst berichtet, dass seine Feuilleton-Erzählung „Das lenkbare Luftschiff“ „ziemlich allgemein als eine Allegorie auf den Judenstaat verstanden [wurde]“. Theodor Herzl: Briefe und Tagebücher. Hrsg. v. Alex Bein u.a. Bd. 2: Zionistisches Tagebuch. 1895–1899. Bearbeitet v. Johannes Wachten u. Chaya Harel. Berlin, Frankfurt/Main, Wien 1983, S. 350 f. Vgl. hierzu die Feuilletons: Theodor Herzl: Das lenkbare Luftschiff. Eine philosophische Erzählung. In: Neue Freie Presse, 31.5.1896, S. 1–3 und Max Nordau: Das lenkbare Luftschiff. In: Neue Freie Presse, 17.8.1901, S. 1. Clemens Peck (2012) zeigt im Kapitel „Das lenkbare Luftschiff als Medium utopischer Reflexion“, wie „das Luftschiff […] zunehmend zu einem Leitmotiv der zionistischen Utopie [avanciert]“. Clemens Peck: Im Labor der Utopie. Theodor Herzl und das „Altneuland“Projekt. Berlin 2012, S. 404–425, hier S. 412. Im Folgenden nachgewiesen mit Seitenangabe im Text. Ebenso: Nicolas Berg über Herzl: „So war das Luftschiff zuletzt sogar zur Schlüsselmetapher des territorialen zionistischen Projekts geworden […].“ Nicolas Berg: Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher. Göttingen 2008, S. 74. 206 Vgl. außerdem Nicolas Berg: Luftmenschen, S. 67–75 und Philipp Theisohn: Urbarkeit der Zeichen. Zionismus und Literatur. Eine andere Poetik der Moderne. Stuttgart, Weimar 2005, S. 107 f.
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näres, grenzüberschreitendes und Differenzen integrierendes Potenzial. Statt der Figur des Ingenieurs werden die poetologischen Figuren des Architekten und Baumeisters, der „Judendichterin“ sowie die des Wunderrabbiners für das ‚Erlösungsprojekt‘ ins Spiel gebracht. Statt Ideen eines politischen Liberalismus finden sich kabbalistische Bezüge, die allerdings ebenso um die Lösung einer sozialen Frage ringen. Ähnlich wie in Bubers Der heilige Weg entwirft Lasker-Schüler das Konzept der Zusammenarbeit des Menschen mit jhwh zur Vollendung der Schöpfung (hebr.: „Tikkun Olam“: Heilung/Vollendung der Welt). Statt der jüdischen Massenauswanderung oder einer Gemeinschafts- oder Staatsgründung entwirft Lasker-Schüler im antizipatorischen Raum des (Luft-) Schiffes ein anderes Erlösungsmodell aus der Wiederholungsstruktur der antisemitischen und antijudaistischen Verfolgungs- und Pogromdynamik. Die zionistische Metapher des Luftschiffs wird zum anderen Ort, an dem durch Poesie und Liebe Differenz integriert und versöhnt werden kann, ohne zu Vereindeutigungen zu führen. Lasker-Schülers (Er-)Lösungsmodell ist ein avantgardistisches an der Grenze von Leben und Kunst/Literatur und das eines schöpferischen Liebesdiskurses zwischen „Fremden“, in mehrfacher Weise „Anderen“ (Geschlecht, Ethnizität, Nationalität, Dichtungskonzeption). Im Gegenzug zu den Gemeinschaftsvorstellungen von Herzls und Bubers politisch-zionistischen und kulturzionistischen Modellen, wird hier eine individualisierte, poetische und spielerische Verbindung zwischen zwei Menschen entworfen, die darüber hinaus jüdisch und nichtjüdisch sein können. So erscheint das Schiff nicht von kontrollierbarer Kraft, sondern legendenhaft ‚von der Liebe bewegt‘, da es „die Sehnsucht zweier tiefer Menschen erhört hatte über Nacht“ (14), und es sind eine jüdische Dichterin und ein Christ, die auf dem Schiff gemeinsam der Vernichtungslogik entkommen. Die Figur Pablo wird darüber hinaus mit Gottfried Benns Lyrik verbunden, wenn es in Amrams Liebesgedicht heißt: „Oder es geht dir eine seltene Freude auf: / Deines Herzens schwarze Aster“ (12). Die letzte Zeile zitiert Benns Gedicht „Kleine Aster“ (Morgue 1912), in dem das lyrische Ich eine „dunkelhelllila“ Aster in die Brusthöhle des obduzierten Bierfahrers legt.207 Mit Benn verband LaskerSchüler ein spannungsreicher literarischer Dialog, zu dem auf Lasker-Schülers Seite mehrere Gedichte an Giselheer, den Barbaren und ‚Arier‘, bis hin zu einer Kriegserklärung in Der Malik. Eine Kaisergeschichte (1919) gehören. Benn widmet Lasker-Schüler seinen zweiten Gedichtband Söhne (1913), der deutlich ihre Metaphorik aufnimmt, antwortet in weiteren Gedichten jedoch zunehmend
207 Vgl. Gottfried Benn: Morgue und andere Gedichte von Gottfried Benn. Berlin 1912.
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zurückweisend und unter Ausgrenzung des ‚Anderen‘.208 In diesem zum Scheitern verurteilten Dialog macht Lasker-Schüler entsprechend die Fremdheit zwischen Giselheer, dem grausamen ‚Arier‘ aus dem Norden, gegenüber dem Prinzen Abigail Jussuf von Theben, der als orientalisch-südlich, weiblich und männlich, jüdisch und dunkel entworfen wird, zu einem Strukturmerkmal.209 Umso mehr überrascht die Darstellung hier. Die Judendichterin Amram und Pablo sind durch eine poetisch konnotierte Liebe verbunden, Amram lächelt im Traum, wenn Pablo an sie denkt, sie dichtet über ihre Verbindung. Pablo erscheinen im Traum hebräische Schriftzeichen, wenn er an sie denkt. Die Darstellung, die vordergründig auf die Integration von Differenz hindeutet („verklärt von übergroßer Liebe“), ist dennoch keine idyllische. In der Überblendung schöpferischer und erotischer Konnotationen wird auf deren Kosten verwiesen, wobei das lyrische Ich (durch die Ansprache an Pablo als Amram zu identifizieren) in einem Entäußerungsvorgang210 selbst die Positionen von Zeugung und (Selbst-) Defloration beansprucht:211 Du stolzer Eingeborener, Pablo, Von deinem Angesicht atme ich fremde Liebeslaute; In deiner Schläfe aber will ich meinen Glücksstern pflanzen, Mich berauben meiner leuchtenden Blüte. (12)
Mit der Figur von Amram schließt Lasker-Schüler tendenziell an das Modell des jüdischen Luftmenschen an. Als Metapher für die jüdische Diasporaexistenz wurde der Begriff im 19. Jahrhundert zusätzlich dadurch aufgeladen, dass in Analogie zum ahasverischen ‚Geist‘ zugleich eine jüdische Disposition nicht nur zum Künstlertum, sondern auch zur überbordenden Phantasie mit ihm assoziiert wurde.212 Dan Diner beschreibt die jüdischen Luftmenschen als zwischen 208 Markus Hallensleben hat zuerst den poetologischen Charakter der Begegnung betont. Markus Hallensleben: Avantgardismus und Kunstinszenierung, S. 187–202. Zuletzt Dorothee Ostmeier: Poetische Dialoge zu Liebe, Gender und Sex im frühen zwanzigsten Jahrhundert. Else Lasker-Schüler, Peter Hille und Gottfried Benn, Lou Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke, Bertolt Brecht und Margarete Steffin. Bielefeld 2014. 209 Benn verwendet in seinen Gedichten u.a. das Stereotyp der orientalisierten „schönen Jüdin“, die sich auf Lasker-Schülers frühe Lyrik beziehen lassen. 210 Ebenso Almuth Hammer: Erwählung erinnern, S. 181. 211 Vgl. die ambivalente Anlage der Amram-Figur, die den biblischen Namen von Moses’ Vater und Eleasars Großvater trägt, von ihrem Vater als Junge und Erbe erzogen wird, Pablo zuerst als Engel (also androgyn), später als Engelin erscheint, und deren Beziehung zu Pablo auf dem Schiff zwischen kindlichem Spiel und Brautmetaphorik changiert. 212 Zur Metapher des Luftmenschen zwischen jüdischer Selbstironie und antisemitischer Zuschreibungen vgl. Nicolas Berg: Luftmenschen.
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Himmel und Erde schwebend und ihr „kollektives Milieu“ als von einem hermeneutischen Habitus durchdrungen,213 zwei Eigenschaften, die auf Amram zutreffen und an rabbinische Traditionen anschließbar sind. Sie scheint schon vor dem Betreten des Schiffes auf den Baugerüsten ihres Vaters mehr zwischen Himmel und Erde zu Hause zu sein214 und fällt beim Sturz „vom heiligen Bau“ für Pablo als „Engel“ vom Himmel herab (19 f.). Der „hermeneutische Habitus“ lässt Amram, als Parallelfigur zu Eleasar,215 als prädestiniert dafür erscheinen, den rabbinischen Diskurs aufzunehmen und in ihrer Lyrik zu überschreiten. IV.2.4 Amram, „die Judendichterin“, und der pluralistische rabbinische Diskurs
Bisher wurde Lasker-Schülers Wunderrabbiner-Erzählung als Kommentar zu Heines und Bialiks literarischen Auseinandersetzungen mit der europäischen Judenverfolgung und als Übernahme der Aktualisierungs- und Erinnerungsfunktion rabbinischen Schreibens gezeigt. Für die Wunderrabbiner-Erzählung lässt sich darüber hinaus ein Schreibverfahren herausarbeiten, das Merkmale avantgardistischer Literatur mit Bezügen auf die pluralistische rabbinische Hermeneutik verbindet und zuletzt über Amrams Lyrik die avantgardistische Literatur als ‚Erbin‘ des rabbinischen Projektes einführt. Der rabbinische Diskurs ist fast sprichwörtlich berühmt für seine Pluralität216 und ‚demokratische‘ Vorgehensweise, die alle Meinungen zu einem halachischen Problem gleichberechtigt überliefert und dabei sogar die schließlich unterlegene weiter tradiert. Nun hat spätestens Daniel Boyarin (2002) gezeigt, dass es sich hierbei um eine Forschungsidealisierung und weniger um die tatsächliche Praxis im rabbinischen Judentum gehandelt hat,217 wie er am drastischen Beispiel einer Geschichte über Rabban Gamaliel zeigen kann. Diesem widerfährt eine Demütigung, indem er gezwungen wird, öffentlich gegen die von ihm vertretene Lehrmeinung zu 213 Vgl. Dan Diner: Vorwort. In: Nicolas Berg: Luftmenschen, S. 8. 214 „Amram bestieg jeden frühen Morgen mit ihrem Vater die Neubauten, die höchsten Gerippe der Stadt, daß sie oft glaubte, bei Gott zu Gast gewesen zu sein.“ (19) 215 Auf die parallele Anlage der Figuren Eleasar und Amram hat Doerte Bischoff hingewiesen. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung, S. 432–436. 216 Daniel Boyarin definiert diesen Pluralismus („indeterminacy“) als „das hermeneutische Prinzip der nicht eindeutigen Bestimmbarkeit des Textsinns, die ausbleibende Versöhnung in den Auseinandersetzungen im Babylonischen Talmud und die vielschichtige, gegensätzliche Interpretationsweise des Midrasch.“ Daniel Boyarin: Den Logos zersplittern. Zur Genealogie der Nichtbestimmbarkeit des Textsinns im Midrasch. Berlin, Wien 2002, S. 17. 217 Daniel Boyarin: Den Logos zersplittern., S. 27.
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handeln.218 So betont Boyarin, dass der rabbinische Diskurs ebenfalls auf Machtverhältnissen beruht, nämlich auf der Durchsetzung des alleinigen Machtanspruchs des rabbinischen Judentums. Außerdem handelt es sich um das hermeneutische Modell eines pluralistischen Diskurses, beide schließen die Rede von Frauen aus.219 Dennoch kann Boyarin zeigen, dass das Prinzip der Mehrstimmigkeit und die Hervorhebung der Bedeutungsvielfalt für die Editoren des babylonischen Talmuds durchaus gelten.220 So kann das Modell bei entsprechender Rezeptionshaltung eine Wirkung u.a. auf die moderne (jüdische) Literatur entfalten, gerade für ein Projekt der Erneue rung der jüdischen Tradition durch eine Gruppe, die sich innerhalb der kulturzionistischen Bewegung als „Demokratische Fraktion“ bezeichnet. Auf diese Weise wird das Ideal des rabbinischen Diskurses im Kontext der Bemühungen um eine „Jüdische Renaissance“ z.B. in der von Franz Rosenzweig entwickelten Lehrhausbewegung fruchtbar gemacht, an der sich auch Buber durch seine Lehrtätigkeit am „Jüdischen Lehrhaus“ in Frankfurt am Main beteiligt hat. In einem bewussten Demokratisierungsschritt wird die rabbinische Autorität auf jeden Juden, jede Jüdin ausgeweitet,221 und das Modell ist es, gerade von Laien zu lernen. Im Wunderrabbiner von Barcelona setzt Lasker-Schüler auf der Ebene der Figurengestaltung und der Ebene der Erzählinstanz ein dem rabbinischen Diskurs strukturell ähnliches Verfahren ein. So wechselt die Erzählinstanz z.T. innerhalb eines Satzes unkommentiert zwischen verschiedenen Sichtweisen und überlässt es den Lesenden, die jeweilige Aussagehaltung zu entschlüsseln. Dies betrifft zum einen kulturzionistische und traditionell religiöse Positionen,222 zum anderen diffamierende, antisemitische Fremdbeschreibungen und selbstbewusst innerjüdische Selbstbeschreibungen. Die Darstellung erinnert an die typische pluralistische Struktur des Talmuds, die in der Formel „Rabbi … sagt und Rabbi … sagt“ verdichtet ist.223 Die Positionen und Perspektiven grenzen lediglich ohne einleitende Floskel unmittelbar aneinander. Schon der Satz „Die Synagoge gestatteten die Spanier nur unter Vorbehalt zwischen den Häusern ihrer Stadt und empfanden dieses fremde Glied, ein scheuer Bau auf ihren Wegen“ (13) kann dieses Vorgehen demonstrieren. Hier grenzt die Sichtweise der Spanier auf die Synagoge („dieses fremde Glied“), der als Fremdkörper auf „ihren Wegen“ stört, direkt an die kontrastierende Beschreibung als 218 219 220 221 222 223
Ebd., S. 30–33. Ebd., S. 22. Ebd., S. 20 f. Vgl. hier u.a. Ch. N. Bialik: Halacha und Aggada, S. 83 f. Dies hat Doerte Bischoff ohne Bezug auf rabbinische Diskursverfahren untersucht. Daniel Boyarin: Den Logos zersplittern, S. 29. Boyarin weist auf den Unterschied zur „spät antiken christlichen Tradition“ hin, in der die normativen Aussagen „in der Form: ‚der hl. Augustinus sagt‘ oder ‚der hl. Gregor sagt‘“ als alternative Aussagen überliefert seien.
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„scheuer Bau“, die entweder ebenfalls die Sichtweise der Spanier wiedergibt, wobei scheu eine negative Konnotation hätte, oder aber eine neutrale oder wohlwollende Beschreibung der Erzählinstanz sein kann. Weiter heißt es: Die Gebote der Gebetsbücher der Juden wurden von außen nach innen gelesen, ihre Judenaugen mußten darum vom Beginn ihrer Ausgeburt anders wie die der gesamten Völker ausgerichtet worden sein. Augen, die sich nicht am Ziel zu bleiben getrauten, Augen, die sich versteckten in des Buches Heftung, sich flüchteten immer zurück in den Spalt. ‚Augen, die stehlen‘ – meinte der Bürgermeister betonend zu seinem erbleichenden Sohn. (13)
Die Passage beginnt mit einer neutralen Wiedergabe eines Sachverhalts aus einer Außenperspektive („[die] Gebetsbücher der Juden“), der anschließend aus einer nichtjüdischen Perspektive („ihre Judenaugen“) eine Erklärung für die Differenz gibt, die noch abgeschwächt im Konjunktiv formuliert ist: „ihre Judenaugen mußten darum vom Beginn ihrer Ausgeburt anders wie die der gesamten Völker ausgerichtet worden sein.“ „Ausgeburt“ ist als Begriff ambivalent, denn er erinnert an Auserwählung, ist aber meist negativ konnotiert.224 Mit den Worten „Augen, die sich nicht am Ziel zu bleiben getrauten, Augen, die sich versteckten in des Buches Heftung, sich flüchteten immer zurück in den Spalt“, schließt sich eine Erklärung an, die empathisch klingt und nicht direkt abwertet, aber mit den Topoi des Heimlichen, der Feigheit und Flucht antijüdische Stereotype aufruft. Es folgt die direkt antisemitische Diffamierung und Engführung der Deutungsangebote durch den Bürgermeister: „‚Augen, die stehlen‘.“225 Lasker-Schülers Verfahren erinnert hier an ähnliche Bemühungen in avantgardistischen Kontexten, wie Claire Golls Roman Der Neger Jupiter raubt Europa (1926), in dem die Funktionsweise rassistischer Diskurse und deren Interaktion mit sexistischen Diskurselementen aufgezeigt wird. Die rassistischen Diskurs elemente flottieren dabei frei zwischen der Erzählinstanz und den einzelnen Figuren, so dass ebenfalls keine eindeutige Positionierung abgeleitet werden kann.226 224 Vgl. DWB, Bd. 1, Sp. 868. 225 Doerte Bischoff spricht von Antisemitismus als Interpretationsakt. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung, S. 411, 415 f. 226 Claire Goll weist im Roman mehrfach auf eine strukturelle Nähe zwischen Antisemitismus und Rassismus hin, wobei die dabei zu beobachtende Unterschätzung des Antisemitismus ebenfalls nicht eindeutig als ernstgemeinte oder gerade provokative Aussage einzuordnen ist. Claire Goll: Der Neger Jupiter raubt Europa. Roman. Mit einem Nachwort v. Rita Mielke. Berlin 1987.
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Außer auf die Rede über ‚das Jüdische‘ wendet Lasker-Schüler das rabbinische Diskursverfahren auf die Gestaltung der Figur des Wunderrabbiners an, die als Überblendungsfigur verschiedener kulturzionistischer und traditionell religiöser, dem Zionismus kritisch gegenüberstehender Positionen fungiert. Die jeweiligen Intertexte sind nur über bestimmte poetologisch gewendete Signalwörter zu rekonstruieren, die zeigen, dass Lasker-Schüler in ihrer Erzählung eine Auseinandersetzung mit kulturzionistischen Positionen führt, die über die direkte Verhandlung der Auswanderungsfrage hinausgeht. Neben den schon aufgezeigten Verweisen auf E. M. Lilien, Ch. N. Bialik und Martin Bubers Konzept der Verwirklichung und der Metaphorik des Bauens lassen sich Bezüge zu Achad Haams Essay „Die Lehre des Herzens“ (1895, dt. zuerst 1904) feststellen. Lasker-Schüler nimmt die Metaphorik des Säens, Keimens und Blühens auf und Eleasars Position wird besonders mit dem Begriff des Herzens verbunden, die darüber hinaus in Lasker-Schülers eigener Poetologie eine zentrale Rolle spielt.227 Des Weiteren nimmt Lasker-Schüler in ihrer Darstellung die rabbinische Autorität im Sinne eines Herrschaftsdiskurses zurück und ersetzt sie durch ein Modell des magisch anmutenden, alterslosen, zwischen den Polen Erzengel und Kind fluktuierenden und göttlich inspirierten Wunderrabbiners Eleasar.228 Die Anlage der Figur vereint motivisch sephardische (spanisch-jüdische) und ostjüdisch-chassidische Elemente. Lasker-Schüler arbeitet hier ähnlich wie Martin Buber, der zunehmend chassidische und orientalische jüdische Identitätsmodelle unter dem weiten Begriff des Ostens verschmilzt.229 In seinem Essay „Lehre des Herzens“ setzt sich Achad Haam mit der Rolle der Literatur im kulturzionistischen Unterfangen auseinander und verteidigt deren Bedeutung gegen die häufig vorgebrachten Anfeindungen von Vertretern der „praktischen Arbeit“ und gegen das Schriftverständnis eines traditionellen, orthodoxen rabbinischen Judentums.230 Im kulturzionistischen Kontext sei es Aufgabe ‚der Männer der Literatur‘ ‒ wobei Achad Haam einen weiten Literaturbegriff vertritt, der seine eigene Essayistik einschließt ‒, „‚in die Furchen des Herzens die Saat zu senken‘“ (111), so dass aus dem Herzen eine Basis für „die Männer der Tat“ (112) erwachsen kann. Literatur bereite also Verwirklichung 227 Vgl. u.a.: Mein Herz. Liebesroman mit wirklich lebenden Menschen (1912) und der Essay „Wenn mein Herz gesund wär’ ...“ (1912). 228 Ähnlich in Arthur Aronymus und seine Väter (1932) die Darstellung des Großvaters. 229 Martin Buber: Der Geist des Orients und das Judentum. In: Ders.: Vom Geist des Judentums. Leipzig: Kurt Wolff 1916. 230 Achad Haam „Lehre des Herzens“ [1895]. In: Ders.: Am Scheidewege. Ausgewählte Essays. Autorisiert Übersetzung aus dem Hebräischen v. Prof. Israel Friedlaender. Berlin: Jüdischer Verlag 1904, S. 98–114. Das eigentliche Kriterium für die jüdische Lehre sei „in den Herzen des Volkes“. Ebd., S. 100. Im Folgenden nachgewiesen mit Seitenangabe im Text.
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vor. Achad Haam verbindet dabei in auffälliger Weise die Kategorie des Herzens mit der Metaphorik pflanzlichen Wachstums: Bei einem Volke der Literatur besteht also die Aufgabe der selben darin, in den Herzen des Volkes die neuen Gedanken und Forderungen zu säen und dann die zarte Saat der Aufsicht des Herzens zu überlassen, das sie pflegt und zum Aufsprossen und Reifen bringt durch seine eigene Kraft und nach seinen eigenen Bedürfnissen.231
Diese Verbindung zitiert die Erzählung während Eleasars zentraler Argumentation gegen die Auswanderung, weitet sie jedoch auf eine universalistische menschliche Aufgabe aus: Und dieser Gott erschlösse allen Menschen sich als ihre uredelste Eigenschaft. […] es wüßten nur wenige ihres Gottes Gärtner zu sein, ihre wertvollsten Keime zu ehren und zu pflegen. Es kein größeres Verarmen gäbe auf Erden, verkümmern zu lassen die himmlische Blüte des Herzens. (11)
Der Begriff des Herzens verweist bei Lasker-Schüler auf eine empfindsame bis romantische Tradition, betont imaginative, liebende und poetische Komponenten und wird im Zeitbezug durchaus revolutionär gewendet.232 Über den Begriff des Herzens, der im kulturzionistischen Diskurs u.a. bei Achad Haam, Bialik und Buber eine Rolle spielt, verbindet Lasker-Schüler diesen Diskurs mit der eigenen Poetologie, so dass die Erzählung selbst als legitimer Beitrag zu diesem Diskurs oder gerade als Metareflexion des kulturzionistischen Diskurses im Medium der Literatur zu verstehen ist. Mit ihrem Anknüpfen an den rabbinischen Diskurs entwirft Lasker-Schüler aber kein einseitig idealisiertes Modell eines pluralistischen Diskurses, sondern reflektiert die Möglichkeit des Scheiterns desselben. Der im Text eröffnete Aushandlungsraum233 wird am Ende des Prosateils durch den Wunderrabbiner zerstört.234 Allein das Schlussgedicht eröffnet zumindest die hermeneutische Position, dass der Dialog mit jhwh nach einem Kampf, der eine solche Abwendung, destruktive Rebellion und Selbstjustiz als Handlungsmöglichkeit zulässt, nicht zerstört ist, da es zeigt, wie Eleasar zu jhwh heimkehrt: 231 Ebd., S. 100. 232 Vgl. hierzu Markus Hallensleben: Avantgardismus und Kunstinszenierung. 233 Der Begriff Aushandlungsraum schließt lose an Clifford Geertz Modell einer „cultural negotiation“ an. 234 Hier stimme ich Almuth Hammer zu, die argumentiert, dass es gerade die Usurpation der primär jüdischen Werte durch das Christentum ist, die Eleasar nicht ertragen kann. Vgl. Almuth Hammer: Erwählung erinnern, S. 178.
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Die Engel deckten wolkenweiß zum Himmelsmahle, Des hohen Heimgekehrten Herz nahm Gott aus seiner Schale, Zu prüfen das geweihte wider spenstige Erz, O Eleasars Herz rieb sich an Herz, Entbrannte seinen Stein! Jerusalem, in seinen Krug gieß deinen Wein Und laß ihn gären aufbewahrt im Tale. (17)
Das Gedicht ist dabei der „Judendichterin“ Amram zuzuordnen, die somit Eleasars Erlösung durch ihre Lyrik ermöglicht und das Medium der Literatur der rabbinischen Aushandlung vorzieht. Das ganze Buch Der Wunderrabbiner von Barcelona ist unter Amrams Signatur gestellt, denn es beginnt in der Originalausgabe mit der Abbildung einer Zeichnung auf der Seite, die üblicherweise die Titelseite sein müsste. Sie zeigt einen Frauenkopf im Profil nach rechts blickend, mit einem Davidstern auf der Höhe der Schläfe und ist mit „amram“ in Schreibschrift unterzeichnet. Die Darstellung im Profil und der Haarschnitt erinnern an Lasker-Schülers Zeichnungen der Jussuf-Figuration, weisen aber eine weichere Strichführung auf, die die Figur ‚weiblicher‘ wirken lässt. Amram taucht im Text als die Figur „die Judendichterin“ (14) auf und ihr wird direkt das Liebesgedicht in der Mitte der Erzählung (11 f.) zugeordnet. Es erinnert an die Liebesgedichte der Ich-Figuration Tino aus Die Nächte Tino von Bagdads. Durch die Platzierung der Signatur kann ihr die durch den Namen der Autorin Else Lasker-Schüler autorisierte Erzählung zugeordnet werden, vor allem, da die Amram-Figur über ihren Vater Arion Elevantos mit Lasker-Schülers Vater und damit auch mit Lasker-Schüler selbst verbunden ist. Darüber hinaus fällt die ungewöhnliche Schreibweise des Namens auf. Da das erste „a“ in Schreibschrift nur minimal größer geschrieben ist, ohne ein Großbuchstabe zu sein, wirkt der Name fast wie eine Doppelung der Silbe „am“, die durch ein weiteres Zeichen verbundenen ist. Als ‚am&am‘ wirkt die Signatur wie eine Vorstufe des späteren Dramentitels IchundIch (1941) und markiert die Ablösung der Ich-Figuration Prinz Jussuf von Theben hin zu Figuren oder Erzählerinnen, die als „Dichterin“ bezeichnet werden.235 Darüber hinaus heißt „am“ im Hebräischen „Volk“, der Name Amram entsprechend „hohes Volk“,236 und erinnert an das Pseudonym „Achad Haam“ („Einer aus dem Volk“). Der Name 235 So in Das Hebräerland (1937) und IchundIch (1941). 236 Hierauf hat Alfred Bodenheimer hingewiesen. Alfred Bodenheimer: Die auferlegte Heimat. Else Lasker-Schülers Emigration in Palästina. Tübingen 1995, S. 21.
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„amram“237 weist in einer auf die graphischen Darstellungen bezogenen Lesart auf die Verbindung von zwei Völkern oder dem Beharren auf einer doppelten Struktur des jüdischen Volkes hin, also auf die Integration und den Erhalt von Differenz innerhalb eines jüdischen Volkskonzeptes (ähnlich der Konzeption der Gedichte „Jakob“ und „Jakob und Esau“, vgl. Kapitel IV.1.2–3).238 Da Amram der Erzählung als Signatur vorgeschaltet ist, ist sie es, die Eleasars Erlösung nach der Vernichtung des pluralistischen Diskursraums in einem Gedicht ermöglicht. Somit würde die Übernahme der rabbinischen Tradition in das Medium avantgardistischer Literatur im Text inszeniert. Gleichzeitig entwirft Lasker-Schüler, wie im Folgenden zu zeigen ist, als poetologisches Modell gerade eine Verbindung von Eleasars und Amrams Position unter der Maxime einer Ausrichtung auf ein mehrdimensional gedachtes Jerusalem. IV.2.5 Hebräische Poetologie: Poetische und lebenswirkliche Ausrichtung auf Jerusalem
Im Schlussgedicht, das auf die Vernichtung Barcelonas und des Prosatext‚Raumes‘ folgt und motivisch an das Eingangsgedicht anknüpft, entwirft Lasker-Schüler eine auf Jerusalem ausgerichtete Poetologie. Als Dichtungs- und Lebensmotto in der Nachfolge Heinrich Heines239 ist sie an traditionell jüdische und kulturzionistische Kontexte anschließbar, die Jerusalem in einem geistigen, traditionell religiösen oder literarisch-diasporischen Entwurf in das Zentrum ihrer Bemühungen stellen, und dabei nicht auf eine einseitige Dimension der Besiedelung oder Staatsgründung eng zu führen ist. Das Amram zuzuordnende Gedicht zeigt, dass Eleasar trotz seiner Rebellion und der von ihm verursachten Vernichtung zu jhwh heimkehrt.240 Es steht im Gegensatz zum Eingangsgedicht, das ein an jhwh zweifelndes Gebet eines
237 In der Tora ist Amram ein männlicher Name für den Vater von Moses, der gleichzeitig der Großvater von Eleasar ist, denn Eleasar ist der Sohn von Moses’ Bruder Aharon. 238 Hier ist die Formulierung anschließbar, dass jhwh aus dem Menschen „wieder mächtig holte die Völker und Völkervölker und Völkervölkervölker“ (15). 239 Durch die Ansprache an die Lesenden klingt in der Lebensmaxime das Motto-Gedicht zu Heines Hebräischen Melodien an, in dem es heißt: „Auch rat ich dir, baue dein Hüttchen im Tal / Und nicht auf dem Gipfel.“ 240 Das Gedicht kann hier nicht umfassend interpretiert werden. Almuth Hammer hat den Bezug zum Völkermahl und auf die Etablierung eines neuen Bundes herausgearbeitet. Almuth Hammer: Erwählung erinnern, S. 182–188.
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dichtenden lyrischen Ichs ist241 und mit einer pessimistischen Sicht auf den schöpferischen Prozess endet: Der rote Wein wird schon in seiner Beere schal Und überall die Bitternis in jedem Kerne. (9)
Diese Sicht wird im Schlussgedicht aufgehoben. Eleasars Kampf mit jhwh, das Reiben des Herzens an einem Herzen führt zu einer inspiratorischen Transformation: „O Eleasars Herz rieb sich an Herz, / Entbrannte seinen Stein!“ Beide Gedichte zusammen erinnern an Franz Rosenzweigs in Der Stern der Erlösung (1921) formulierten Forderung nach einem gläubigen und ungläubigen Gebet: „Wer sie [die göttliche Wahrheit] mit dem doppelten Gebet des Gläubigen und Ungläubigen anruft, dem wird sie nicht versagen.“242 Zentral ist die poetologische und lebenspraktische Maxime: Jerusalem, in seinen Krug gieß deinen Wein Und laß ihn gären aufbewahrt im Tale. (17)
Über den Begriff des Herzens werden Eleasars und Amrams poetologische Entwürfe durch das Schlussgedicht über die mehrdimensionale Chiffre Jerusalem verbunden. Zentral ist die Ausrichtung auf Jerusalem, das immer irdisch und überirdisch, als Vergangenheit, Gegenwart und messianische Zukunft, territorial und als ethisch-zwischenmenschliche Qualität gleichzeitig vorzustellen ist. Es ist ein Modell von Jerusalem, dem als Ort, Nicht-Ort und anderer Ort Differenz und die Uneindeutigkeit von Abgrenzungen eingeschrieben ist. Der Amram zuzuordnende poetologische Entwurf ist dabei geprägt von einem Moment der Entäußerung. Etwas schöpferisch Entstandenes (‚Entbranntes‘) soll in den „Krug“ „Jerusalem“ ‚gegossen‘ werden, wie es in der imperativen, an die Lesenden gerichteten Lebens- und Dichtungsanweisung im Schlussgedicht heißt. Eine ähnliche Bewegung, die im Gegenüber zu Erkenntnis oder Offenbarung führen kann, findet sich in ‚ihrem‘ Gedicht an Pablo: In deiner Schläfe aber will ich meinen Glücksstern pflanzen, Mich berauben meiner leuchtenden Blüte. (12)
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Gott hör, in deiner blauen Lieblingsfarbe Sang ich das Lied von deines Himmels Dach. Und wurde doch für deinen ewigen Hauch zu wach. Mein Herz schämt sich vor dir fast seiner tauben Narbe. (9) Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung. Frankfurt/Main 1988, S. 206.
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Amrams Konzeption widerspricht243 der von Eleasar vertretenen Position der Verinnerlichung oder Beschränkung des Bezugs auf Jerusalem auf die imaginative Ebene und betont eine verwirklichende, poietische Qualität von Literatur. Eleasars Maxime ist hingegen: „‚Wer das gelobte Land nicht im Herzen trägt, der wird es nie erreichen.‘“ (11) Entsprechend kann seine alljährliche Reise nach „Alt-Asien“, die er „in frommen Betrachtungen verlebte“ (9), als das Lesen im „Atlas der Schöpfung“ (15) gedeutet werden und ist keine reale Reise mit einem geographischen oder territorialen Ziel. Da er eine Auswanderung oder überhaupt aktives Handeln außerhalb der traditionellen Parameter von jüdischer Seite ablehnt, ist Eleasars Standpunkt wohl, dass man Jerusalem vor dem Erreichen der messianischen Zeit nur im Herzen erreichen kann. Eleasars Argument ist der schöpfungsgeschichtliche Auftrag an die Juden und Jüdinnen, als „Volk der Propheten, [jhwh] zu dienen in jedem Lande, in jedem Volke, auf allen Wegen. Amen.“ (16) Aber seine Einstellung fordert Menschenleben und führt ihn selbst zur absoluten Vernichtung von Differenz. Er verhindert Lösungen, die sich zwischen den festgefahrenen Positionen entwickeln ließen, die also z.B. eine Ansiedlung in Jerusalem und ein diasporisches Wirken verbinden würden. Die von ihm zitierte Forderung, als Juden und Jüdinnen in allen Völkern und in jedem Land zu wirken, ließe sich auch als Wirken einer Minderheit für das eigene Volk und das eigene Land umsetzen. Amrams Dichtung und Liebeshandeln strebt hingegen die Verwirklichung eines antizipatorischen Potenzials an und scheint fähig, Differenz und uneindeutige Zuordnungen zu integrieren.244 In ‚ihrem‘ Gedicht am Schluss des Buches wird sogar Eleasars Abwendung von jhwh und die von ihm verübte Vernichtung als eine Möglichkeit für den Erhalt des „Kruges“ Jerusalem und eine Antwort im Dialog mit jhwh gestaltet.245 Zentral ist, dass die imaginative, verinnerlichende Dimension „im Herzen“, wie sie Eleasar vertritt, nach Amrams Modell gleichzeitig nach Entäußerung im Sinne schöpferischer Verwirklichung strebt. Statt für eine passive Haltung wird für eine „entbrannte“ plädiert. Es ist notwendig, 243 Doerte Bischoff hat gezeigt, dass Amram und Eleasar zwei parallel und entgegengesetzt angelegte Figuren mit Bezug auf Moses sind, die sie Bubers Kriterien einer vergeistigten und dingorientierten Hinwendung zu Gott zuordnet. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung, S. 432–436. 244 Doerte Bischoff hat auf das Moment der Unentscheidbarkeit u.a. von Geschlechtsidentität in der Verbindung von Pablo und Amram auf dem Schiff hingewiesen und sie als eine Liebe beschrieben, „die Distanz und Fremdheit wahrt, ohne sie bereits in eine geschlechtliche Differenz zu transformieren“. Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung, S. 429 f. Diese Konzeption lässt sich als antizipatorischer Entwurf beschreiben, in einem liebenden und poetischen Modus die Differenz, aber auch die Ununterscheidbarkeit zuzulassen und auszuhalten zu können. Er ist u.a. rückbezogen auf das Modell des Adam Katmon, der als kabbalistisches Modell vom ersten Menschen männliche und weibliche Elemente vereint. 245 Hier lässt sich eine ähnliche Narration wie für Mephisto in IchundIch beobachten, der nach der Versöhnung mit Gott weiterhin durch störenden Unsinn auffällt. Vgl. Kapitel IV.3.
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Jerusalem im Herzen zu tragen, um es zu erreichen, aber an dieser Stelle setzt nach dem hier entwickelten Modell die schöpferische Aufgabe der Menschen in der Zusammenarbeit mit jhwh erst ein. Metaphorisch lässt sich für das Schlussgedicht ein Bezug auf Achad Haams Essay „Profanes und Heiliges“ (1891) feststellen. Achad Haam plädiert darin für die Erneuerung der jüdischen Tradition, wenn er betont, dass es darum gehe, den „Krug“ zu erhalten, der Inhalt aber wandelbar und den Zeiten angepasst sein müsse: Diese wie jene wollen nicht bedenken, daß der alte Krug einzig und allein in seiner alten Form heilig wird, selbst wenn der Krug selber von Zeit zu Zeit geleert und neu gefüllt wird, während umgekehrt, wenn der Krug bricht oder eine andere Gestalt bekommt, auch der Wein schal wird, mag er noch so ehrwürdigen Alters sein. (278)246
Jerusalem als Bezugspunkt für jüdische Dichtung und jüdisches, lebenspraktisches Handeln zu erhalten, kann als Beitrag zur Erhaltung des „Krugs“ gedeutet werden, der dabei mit einem neuen Inhalt gefüllt wird.247 Jeglicher Wein, der in den „Krug“ Jerusalem gegossen wird, trägt zum Erhalt der Bedeutung des „Kruges“ bei. Dabei wird eine Besiedlung nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dem heilsgeschichtlichen Auftrag widerspräche aber wohl ein jüdischer Nationalstaat mit einer jüdischen Mehrheitsposition. Vielmehr betont der Entwurf die Mehrdimensionalität, Vorläufigkeit („Sternwarte der Heimat“), die Minderheitenposition, die Verkörperung von Differenz und das Aushalten von Uneindeutigkeit, auch gegen eine Totalisierung oder Verengung der Chiffre „Zion“ auf allein nationalstaatliche Aspekte. Zentral scheint ein Wirken auf einer 246 Achad Haam argumentiert gegen eine erstarrte traditionelle Position, die sich gegen jegliche Veränderung des Inhalts sträube und gleichzeitig gegen das Reformjudentum, das die Schale der Religion, die praktischen Gebote entfernen und stattdessen den Kern, die abstrakten Ideen bewahren wolle. Den Status der Heiligen Schriften macht für Achad Haam gerade die Wandelbarkeit von deren Inhalt aus: „Die Schrift steht unerschütterlich da für immerdar, aber der Inhalt wandelt sich mit dem Leben und der Kultur. Was wurde nicht alles in unserer Heiligen Schrift gefunden, von Philo an bis auf unsere Zeit. […] Alle diese Männer suchten in der Heiligen Schrift nur die Wahrheit, ein jeder seine Wahrheit, und sie fanden auch alle das gesuchte, weil sie es finden mußten; denn sonst wäre die Wahrheit nicht wahr oder die Heilige Schrift nicht heilig.“ Achad Haam: Profanes und Heiliges [1891]. In: Ders.: Am Scheidewege. Ausgewählte Essays. Autorisierte Übersetzung aus dem Hebräischen v. Prof. Israel Friedlaender. Berlin: Jüdischer Verlag 1904, S. 181–185, hier S. 184. 247 Die innerhalb der Erzählung genannten Möglichkeiten des auf Jerusalem ausgerichteten Handelns, wie der ‚Erlöserehrgeiz‘ der Juden und Jüdinnen, ihr soziales Handeln gegenüber den Armen, die Liebe zwischen Pablo und Amram, Amrams Dichtung, Arion Elevantos Bauen, Eleasars Nachsinnen über jhwhs Weltenplan, der Plan der jungen Juden, nach Jerusalem gehen zu wollen, Eleasars Kampf mit jhwh – all das sind mögliche, auf Jerusalem ausgerichtete Handlungen in einer dialogischen Beziehung mit jhwh.
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zwischenmenschlichen und poetischen Ebene zu sein, so dass die Literatur nicht wie bei Bialik auf Politisierung, sondern auf eine kabbalistisch und heilsgeschichtlich konnotierte Poetisierung abzielt. Diese Position ist nicht unpolitisch und verschließt sich der realen Verfolgung nicht, vielmehr verteidigt sie Anteile am menschlichen Leben, die ein enger Politikbegriff nur unzureichend erfassen kann. Dies ist ein poetologischer Entwurf, der als Aktualisierung die kulturzionistische Rede über Zion mit religiösen Traditionsbeständen verbindet und gleichzeitig die Bedeutung der jüdischen Literaturtradition als auf Jerusalem ausgerichtete Literatur der Diaspora betont. Mit dem Kulturzionismus verbindet Lasker-Schülers Entwurf die Erneuerung der jüdischen Tradition, die Ausrichtung auf Jerusalem und die Betonung der imaginativen und gleichzeitig verwirklichenden Dimension. Die avantgardistische Literatur kann eine Version der Füllung des „Krugs“ Jerusalem sein. Die in der Wunderrabbiner-Erzählung entwickelten Grundparameter einer Übernahme und Überschreitung von Elementen der rabbinischen Hermeneutik ‒ Erinnerungstechniken, das Kommentarverfahren und dessen aktualisierende Funktion, der pluralistische Diskurs und ethische und messianische Aspekte, gewendet in eine Verwirklichung im ‚Jetzt und Hier‘ ‒ prägen erneut Lasker-Schülers poetologischen Entwurf in ihrer umfangreichsten Prosaarbeit Das Hebräerland (1937), die nach ihrer ersten tatsächlichen Palästinareise 1934 im Schweizer Exil entstanden und erschienen ist. Neben der Weiterentwicklung des Kommentarverfahrens nutzt sie als zentrale Erweiterung die Kategorie dichterischer Offenbarung. IV.3 Das Hebräerland (1937) – Avantgardistische Heiligung und dichterische Offenbarung „Ja, ich glaube nur an Offenbarung. Und die Offenbarung ist einfältig und eine Blume des Gemüts.“248 Else Lasker-Schüler an Ernst Simon, Juni 1942
1937 veröffentlicht Lasker-Schüler im Schweizer Exil249 ihr umfangreichstes Prosawerk Das Hebräerland, das auf ihre erste Reise in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina von Anfang April bis Ende Mai 1934 rekurriert.250 248 Brief an Ernst Simon, Jerusalem, kurz vor dem 6. Juni 1942. KA 11, S. 139. 249 Lasker-Schüler musste nach eigenen Angaben am 19. April 1933 nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten und einem tätlichen Angriff überstürzt aus dem Deutschen Reich in die Schweiz flüchten. 250 Die neuere Forschung hat Das Hebräerland als Avantgarde-Text interpretiert und von seinem Ruf als tendenziell misslungenes Werk befreit. Dies gilt besonders für Doerte Bischoff (1998, 2002), Markus Hallensleben (2000) und Sabine Graf (2009). Für eine ausführliche For-
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Anders als in ihrem bisherigen Werk ist der Bezug auf den kulturzionistischen Diskurs im Hebräerland ohne Metaphorisierung thematisch explizit gegeben, wurde aber bisher in der Forschung nicht differenziert untersucht.251 LaskerSchüler entwirft auf der inhaltlichen Ebene das Projekt der Besiedlung Palästinas als avantgardistische und lebensreformerisch inspirierte Gemeinschaft der „Hebräer“, die ‚Ureinwohner‘, zionistische Pioniere sowie deutschsprachige bzw. neuhebräische Kulturzionist/innen, Dichter/innen und Künstler/innen umfasst. Die Darstellung erinnert an ihre frühen Texte wie Das Peter Hille-Buch oder Mein Herz über die Berliner Bohème und Avantgarde-Kreise. Doch treten die Protagonist/innen nun unter ihren ‚realen‘ Namen auf und ‚reale‘ zionistische Institutionen werden beschrieben. Die Poetisierung wird zurückgenommen und weicht einem Modus der dichterischen Offenbarung und der Heiligung, mit der das ‚wirkliche‘ Hebräerland und die hebräische Qualität seiner Bewohner/innen dem realhistorischen Palästina offenbart werden sollen: Will man von Palästina erzählen – geschmacklos, sich einen Plan zu konstruieren. Ganz Palästina ist eine Offenbarung! Palästina getreu zu schildern, ist man nur imstande, indem man das Hebräerland dem zweiten – offenbart. Man muß gerne vom Bibelland erzählen; wir kennen es ja alle schon von der kleinen Schulbibel her. Nicht wissenschaftlich, nicht ökonomisch; Palästina ist das Land des Gottesbuchs; Jerusalem – Gottes verschleierte Braut. (Hervorh. B.M.K.) (11 f.) 252
Das eigentliche Hebräerland muss „dem zweiten“, gegenwärtigen Hebräerland offenbart werden. Dabei geht es nicht, wie bisher in der Forschung beschrieben, um einen Dialog, also die Offenbarung an eine andere Person, sondern um die doppelte Existenz des „Hebräer-land[s]“. Hier klingt eine zweite Offenbarung an, als deren erste Version die „kleine[ ] Schulbibel“ genannt wird. Um dieses poetologische Programm umzusetzen, werden die praktische Aufbauarbeit der Pioniere und die literarische Erneuerung in jüdischer Dichtung schungsdiskussion, u.a. zum problematischen Topos, Lasker-Schüler sei im Exil in Palästina mit einer Realität konfrontiert worden, die den von ihr entworfenen ‚orientalischen Phantasiewelten‘ widersprochen habe, sei hier verwiesen auf Bischoff (2002, S. 469–475) und Graf (2009, S. 18–24). 251 Meist wird ein allgemeiner Bezug zum Zionismus hergestellt. Sabine Graf definiert den Zionismus zwar als „nationalpolitische und kulturelle Bewegung“, stellt jedoch nur Bezüge zur Gründung eines jüdischen Staates und nicht zu Fragen der jüdischen Erneuerung her. So kommt sie zu dem Schluss, dass „Lasker-Schülers Hebräerland [versuche] die Zersplitterung als eine Figur zu denken, welche konstitutiv ist für die Existenz eines jüdischen Staats“. Sie deutet auch das Motto vereindeutigend politisch-zionistisch. Sabine Graf: Poetik des Transfers: „Das Hebräerland“ von Else Lasker-Schüler. Köln, Weimar, Wien 2009, S. 135, 147. 252 Zitiert wird der fünfte Band der Kritischen Ausgabe (KA 5).
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parallel gestaltet und metaphorisch verbunden, indem Lasker-Schüler ihr der Avantgarde zuzuordnendes Schreibverfahren als Bauprozess metaphorisiert.253 So heißt es, mit Bezug auf Martin Bubers Der heilige Weg,254 über die Figur der Dichterin: „Mühsam bahnte ich mir durch mein Buch „Das Hebräerland“ zwischen Stein und Stein einen geebneten Weg.“ (147)255 In kabbalistischer Konnotation sind beide Erneuerungsarbeiten darüber hinaus als schöpferische Zusammenarbeit mit jhwh angelegt, wie folgende Beschreibung des Aufbaus in Palästina zeigt: Auf zur Gottheit schauend, erbaute der Hebräer die brausende hebräische Meerstadt gegenüber Jaffa, spielend schoß sie aus der Hochflut des Sands der Wüste nach Gottmethode aus dem Gelobten Boden. Unsichtbar schritt die Schöpfung der werdenden Wasserstadt voran. Wissen das alle seine Bewohner? (100)
Es ist die Aufgabe der „Dichterin“ im prophetisch konnotierten Modus dichterischer Offenbarung zu verkünden, dass die Zusammenarbeit mit jhwh die Grundlage des Erneuerungsprojekts bildet.256 Getreu dem Motto des Buches „Ihr aber sollt mir sein ein Reich von Priestern, ein heiliges Volk“ (9) werden Land und Buch, Aufbauprozess und dichterische Arbeit geheiligt und als hei-
253 Vgl. Sabine Graf: Poetik des Transfers, S. 266: „Auf diese Weise wurden die zur Errichtung einer jüdischen Heimatstätte evozierten Bausteine auf der Ebene des Textverfahrens zugleich als ‚Text-Bausteine‘ lesbar.“ Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung. Figuren der Souveränität und Ethik der Differenz in der Prosa Else Lasker-Schülers. Tübingen 2002, S. 469–470, 475, 480. Dies.: Avantgarde und Exil. Else Lasker-Schülers „Hebräerland“. In: Exil und Avantgarden. Hrsg. v. Claus-Dieter Krohn. München 1998, S. 118. 254 Hierauf haben Sabine Graf und Doerte Bischoff hingewiesen. 255 Ähnlich äußert sich Lasker-Schüler über den Entstehungsprozess des Hebräerlandes in einem Brief an Emil Raas: „Auch schreib ich gar nicht so mühelos. Große Mühe gerade beim letzten Buch gegeben. Trug Stein und Stein zusammen wie die lieben Karawanen zum Bauplatz.“ Brief an Emil Raas, vermutlich aus Ascona, 3. Ostertag (14. April 1936), KA 9, S. 328. Ihr Schreibverfahren knüpft dabei sowohl an das rabbinische Kommentarverfahren als auch, wie Markus Hallensleben gezeigt hat, an die Wortkunst des Sturm-Kreises an. Markus Hallensleben: Else Lasker-Schüler. Avantgardismus und Kunstinszenierung. Tübingen, Basel 2000, S. 246. 256 Reuven Shoham weist darauf hin, dass für die neuhebräische Literatur der Zeit durchaus eine Prophetengestalt erwartet wurde, u.a. wurde ‚das Amt‘ Achad Haam und Ch. N. Bialik angetragen. Reuven Shoham: Poetry and Prophecy. The Image of the Poet as a „Prophet“, a Hero and an Artist in Modern Hebrew Poetry. Leiden, Boston 2003, S. 1–20, hier S. 4. Almuth Hammer hat für Lasker-Schüler eine „prophetische Poetologie“ (155) als „Fortsetzung des Prophetenamtes in der Poetologie“ (202) herausgearbeitet. Almuth Hammer: Erwählung erinnern. Literatur als Medium jüdischen Selbstverständnisses. Mit Fallstudien zu Else LaskerSchüler und Joseph Roth. Göttingen 2004, S. 155, 200–205.
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ligend entworfen, gerade indem ihre avantgardistische, die Schöpfung erneuernde, hebräische Qualität betont wird. Das Hebräerland ist als Weiterführung des mit den Hebräischen Balladen begonnenen poetologischen Projekts einer Übernahme der rabbinischen Tradition angelegt, wie schon der Titel und das Zitieren mehrerer der „Balladen“ im Text anzeigen (127–132). Die avantgardistische Verbindung von Literatur und Leben wird mit einer Verschränkung von Literatur und Religion überblendet.257 Dem weiterhin relevanten, an den rabbinischen Diskurs anschließbaren intertextuellen und kommentierenden Schreiberfahren werden die an prophetische Modelle angelehnte Kategorie dichterischer Offenbarung und der Modus der Heiligung (hebr.: „Kiddusch“; „Segen“: „Bracha“) an die Seite gestellt. Für letztere sind sprachliche Entlehnungen aus der katholischen Liturgie zu beobachten („das gebenedeite Land zu feiern“, 15). Dabei bleibt die intertextuelle Vernetzung, u.a. mit dem kulturzionistischen Diskurs und mit dem eigenen Werk, die eng mit den rabbinischen Schreib- und Erinnerungstechniken verbunden ist, bestehen. Auch die Vermittlung von Literatur und Leben ist weiterhin relevant, so ist die Erzählfigur der „Dichterin“ über mehrere Verweise mit Lasker-Schüler verbunden. Lasker-Schüler greift mit dem Motto eine wichtige Maxime des kulturzionistischen Diskurses auf, der selbst den Begriff des Heiligen mit einer avantgardistischen Qualität verschränkt. Statt nationaler Aspekte schildert sie das Projekt des Hebräerlands als Aufbauarbeit im Land und als kulturelle jüdische Erneuerung in Literatur, Kunst und Philosophie konsequent in diesen beiden Modi. IV.3.1 „Heiliges Volk“ – Der kulturzionistische Diskurs in Das Hebräerland
Schon der Schutzumschlag von Das Hebräerland zeigt an, dass hier eine Auseinandersetzung mit dem kulturzionistischen Diskurs geführt wird. Er ist in einem cremefarbenen Ton gehalten, der Name der Autorin sowie der Titel wurden in Blau gedruckt. Somit verweist er erneut auf die Farben Blau und Weiß der jüdischen Nationalbewegung. Doch wie schon für den Einband ihres zweiten Gedichtbandes Der siebente Tag von 1905 (vgl. Kapitel III.1) lässt sich aus der Gestaltung ebenfalls eine eigene Deutung dessen, was mit Zionismus gemeint ist, ablesen. Dass der Name der Autorin und der Titel jeweils am oberen und unteren Rand platziert wurden, erinnert an die Gestaltung der Fahne der jüdi257 Sabine Graf weist als ein Überarbeitungsverfahren zwischen den Entwürfen und der publizierten Fassung die „Glättung als Verschiebung ins Sakrale“ nach. Sabine Graf: Poetik des Transfers, S. 85–95.
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schen Nationalbewegung, die zwei blaue Streifen auf weißem Grund zeigt. Statt des Symbols des blauen Davidsterns findet sich auf dem Schutzumschlag in der Mitte eine Zeichnung von Lasker-Schüler, die eine Gruppe Menschen in leicht orientalisierter Kleidung unter einem muslimisch anmutenden Halbmond (-Symbol) zeigt. Die gleiche Zeichnung ist erneut als Frontispiz neben dem Titelblatt abgebildet und trägt folgende Unterschrift in Lasker-Schülers ungeübter hebräischer Handschrift: (wörtlich übersetzt) „Die Söhne der Moschawa258 am Schabbat in Jerusalem“.259 Somit ist der zionistischen Konnotation des Umschlags zugleich ein Verweis auf die zentrale Rolle, die den „hebräischen Pionieren“ im Text zugesprochen wird, eingeschrieben. Darüber hinaus trägt die Figur im Zentrum der Gruppe, die mit halblangem, kappenartigem Haarschnitt im Profil gezeigt ist, Züge von Prinz Jussuf von Theben, der Ich-Figuration Lasker-Schülers. Die Zeichnung verweist auf den von Prinz Jussuf begründeten Bund der „Wilden Juden“, wie er u.a. in Der Malik. Eine Kaisergeschichte ausgeführt wird, und eröffnet einen Verweiszusammenhang zu früheren Texten und zum poetologischen Gesamtentwurf Lasker-Schülers. Die Pioniere, die den praktischen Zionismus und Aufbauprozess symbolisieren, werden mit einer literarischen Komponente der Erneuerung der jüdischen Tradition in Verbindung gebracht. Die Darstellung korrespondiert mit dem in Das Hebräerland entworfenen Konzept der „Hebräer“, die als avantgardistische Gruppe aus „Wilden Juden“, Pionieren sowie jüdischen Autor/innen und Künstler/innen gemeinsam das „Hebräerland“/Das Hebräerland als avantgardistisches Projekt des praktischen Aufbaus (Land) und der poetologischen Erneuerungsarbeit (Buch) erschaffen.260 Entsprechend sind die Verweise auf den zionistischen Aufbauprozess in Palästina in Das Hebräerland fast ausschließlich kulturell oder praktisch zionistisch gestaltet. Nationale oder nationalstaatliche Konzepte und vereindeutigende Heimatkonstruktionen werden, wie jeglicher sich auf eine unveränderbare Tradition der „fanatische[n] Sohnesliebe zum Elternhaus“ (34) berufende und sich einer Erneuerung widersetzende Fanatismus, kritisch behandelt (18, 34). Lasker-Schüler unternimmt im Hebräerland eine Verschränkung des Avantgardebezugs mit dem Modus der Heiligung, die eng mit dem kulturzionistischen Diskurs verbunden ist. Als Motto des Buches wählt Lasker-Schüler ein Zitat, das auf den osteuropäischen, geistigen Kulturzionismus nach Achad Haam zurück258 Moschawot sind die älteste Form jüdischer ländlicher Siedlungen in Israel. Sie wurden vor allem vor dem Ersten Weltkrieg im damaligen Gebiet Palästina im Stil europäischer Dörfer errichtet. 259 Die Herausgeber/innen der Kritischen Ausgabe übersetzen: „Die Kolonisten am Sabbattag in Jerusalem“ (KA 5, 475). 260 Sabine Graf hat dies als doppelte Konstellation des Hebräerlands als konkreter topographischer Raum und als Buchmetapher bezeichnet. Sabine Graf: Poetik des Transfers, S. 313.
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geht und sowohl für die Anfänge des deutschsprachigen Kulturzionismus um 1900 als auch für die nachfolgende, stark von Buber geprägte, zionistische Generation Bedeutung erlangte. Dabei handelt es sich um ein Torazitat aus der Rede jhwhs zum jüdischen Volk am Berg Sinai: „Ihr aber sollt mir sein ein Reich von Priestern, ein heiliges Volk.“ (Schemot/Exodus 19,6) Dieses Motto verweist zum einen auf den Bundesschluss als ein zentrales Moment der jüdischen Tradition und zum anderen auf den kulturzionistischen Diskurs, denn, wie die Herausgeber/ innen der Kritischen Ausgabe angeben, „unter Achad Ha’am (Ascher Ginsberg) wurde dieser Vers zum Motto der mit dem Zionismus verbundenen moralischen Verpflichtung.“261 Gershom Scholem hat die Bedeutung der Torastelle für seine Definition von Zionismus in einem Gespräch im Winter 1973/74 in Jerusalem hervorgehoben: Ich gehöre zu denen, die den Vers „Ihr sollt mir sein ein Reich von Priestern, ein heiliges Volk“ als Definition des Zionismus annahmen. […] Es war der Begriff „heiliges Volk“, der mich interessierte. Obwohl ich seither viel gelernt habe, kann ich nicht sagen, dass dieser Vers seine Bedeutung verloren hat.262
Scholems weitere Äußerungen in diesem Kontext zeigen, dass das von ihm beschriebene Verständnis von Zionismus dem sehr nahekommt, das LaskerSchüler mit der Wahl dieses Mottos markiert. So beschreibt Scholem, der sich schon in jungen Jahren durch eine kritische Haltung zum politischen Zionismus und zu Teilen der zionistischen Jugendbewegung auszeichnete, für seine Generation junger Zionist/innen eine innere Haltung, die den Zionismus als „ein Rebellieren gegen die Atmosphäre in der mittleren Bürgerschicht“, meist der eigenen Familie,263 versteht: Was wir im Zionismus suchten, war nicht etwas Politisches. Es ist wichtig, zu verstehen, dass der Zionismus für meine Altersgenossen in Deutschland nur in begrenztem Maße (es wäre falsch, zu sagen, überhaupt nicht) eine politische Angelegenheit war. Sich zum Zionismus zu bekennen war jedoch eine moralische und emotionale Entscheidung, eine Reaktion, die mit Wahrhaftigkeit zu tun hatte.264 261 KA 5, S. 488. 262 Gershom Scholem: Es gibt ein Geheimnis in der Welt. Tradition und Säkularisierung. Ein Vortrag und ein Gespräch. Hrsg. v. Itta Shedletzky. Frankfurt/Main 2002, S. 93. Sabine Graf übersieht den kulturzionistischen Kontext des Mottos und zitiert Scholem verkürzt, wenn sie behauptet: „Unter den Zionisten avancierte dieser biblische Vers […], wie Scholem in einem Gespräch äußert, zur ‚Definition des Zionismus‘ überhaupt.“ Sabine Graf: Poetik des Transfers, S. 136. 263 Ebd., S. 51. 264 Ebd., S. 50 f.
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Dieses Zionismusverständnis lässt die in Kapitel II. für die Generation Bubers und die Mitglieder der Demokratischen Fraktion herausgearbeitete avantgardistische Komponente des Kulturzionismus und dessen Nähe zur Bohème um 1900 erkennen. Darüber hinaus betont Scholem die moralische bzw. ethische Ausrichtung, die auch im Motto von Das Hebräerland und kurz darauf in der Aussage: „Palästina verpflichtet!!!“ (12) ausgedrückt wird. Diese Grundparameter prägen Scholems Haltung auch nach seiner Übersiedlung nach Palästina 1923. Scholem interessieren die „bürgerlichen Angelegenheiten“ wie Landkauf nicht. Wie es für die Dichterin gesagt werden kann, die im Hebräerland eine wissenschaftliche oder ökonomische Betrachtung ablehnt (11), galt „[s]eine Sympathie […] den Pionieren, den Erneuerern, denen, die nach Erneuerung strebten.“265 Lasker-Schüler bezieht sich in der endgültigen Textfassung des Hebräerlands auf ein solches kulturelles Zionismus-Verständnis, das praktische zionistische Anteile der (frühen) Siedlungsbewegung integriert und deutlich ethische Implikationen beinhaltet. Zusätzlich werden durch das Motto und die Darstellung des Aufbaus eine religiöse Dimension betont und die messianischen Implikationen der zionistischen Bewegung reflektiert (vgl. Kapitel IV.3.2). Dass Lasker-Schüler Das Hebräerland bewusst in der Referenz auf kultur zionistische Kontexte gestaltet hat, zeigt der Vergleich mit einer in der Kritischen Ausgabe als Entwurf I abgedruckten Vorstufe des Textes, die als die explizit nationaljüdische Variante zu bezeichnen ist. Dort hat Lasker-Schüler im Motto das hebräische Wort „goj“ als Nation statt als Volk übersetzt: „Ihr aber sollt mir sein ein Reich von Priestern, eine heilige Nation.“ (161)266 Durch die Verwendung des Begriffs Nation hätte sie Das Hebräerland stärker in den Nationalismusdiskurs eingeordnet und eine nationalstaatliche Ausrichtung des Zionismus betont. Der Begriff Volk ist im Kontext der jüdischen Tradition hingegen mehrdeutiger und nicht generell an eine nationalstaatliche Konzeption gebunden. So werden die Israeliten nach dem Auszug aus Ägypten (in eben dieser Tora-Stelle) durch die Gabe der Tora zu einem Volk, das versprochene Land und eine eigenstaatliche Struktur erreichen sie erst viel später unter Josua und König David. Die Bezeichnung „heiliges Volk“ verbunden mit der Bezeichnung „Hebräerland“ ist dabei stärker religiös konnotiert267 und läßt sich auf den Bundesschluss und das den Juden und Jüdinnen seit Abraham versprochene Land zurückführen. 265 Gershom Scholem: Es gibt ein Geheimnis in der Welt. Tradition und Säkularisierung, S. 79. 266 Die meisten deutschsprachigen Tora- und Bibelübertragungen übersetzen „goj“ mit Volk (so Luther und Zunz). Im Kontext des deutschen Nationalismus findet sich in der Elberfelder Bibel (1871) die Übersetzung „Nation“. 267 So ersetzt Lasker-Schüler das in den Entwürfen I und II eingefügte Gedicht „Mein Volk“ (167, 246) in der publizierten Ausgabe durch das Gedicht „An Gott“ (18).
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Darüber hinaus wurde in Entwurf I eine poetologische und bildkünstlerische Referenz auf ein nationalistisches Zionismusverständnis markiert, die LaskerSchüler ebenfalls gestrichen hat. Die Dichterin kauft ihrem „liebe[n] Spielgefährte[n] [,] de[m] Rechtsanwalt Dr. Andreas Meyer“ (223) aus der Berliner Zeit, der jetzt in Tel Aviv einen Papeterieladen führt, „einen seiner Musterbleistifte grosszügig [,] einen blau und weißgestreiften in unseren Landesfarben ab“ (224). Er wird darüber hinaus besonders „für eine Illustratorin“ (ebd.) empfohlen, die die Dichterin, der die im Hebräerland abgedruckten Zeichnungen zugeordnet sind, ja auch ist. Hier wäre also das Schreib- und Zeichenwerkzeug in den auf dem I. Zionistischen Kongress (1897) beschlossenen Farben der zionistischen Bewegung gestaltet gewesen und das Schreiben und Zeichnen hätte eine stark nationaljüdische Konnotation erhalten, ohne Umdeutung, wie sie für die Umschlaggestaltung vorgenommen wurde. Dass Lasker-Schüler diese plakativen Referenzen auf einen expliziter national bis nationalistisch definierten Zionismus gestrichen hat und sich für den mehrdeutigeren Begriff eines „heiligen Volkes“ entschied, zeigt ihre andere Definition des zionistischen Projektes und korrespondiert mit der konsequenten Überblendung mit religiösen Diskurselementen. Gleichzeitig rückt dadurch das Modell der Hebräer in den Vordergrund, die ebenfalls nicht vorrangig nationaljüdisch entworfen sind.268 Dieser Konzeption entsprechend beschränken sich die Referenzen auf politisch zionistische Organisationen auf die ‚Hilfsorganisationen‘ Keren Kajemed ( Jüdischer Nationalfond) und Keren Hajesod (Gründungsfonds) und können damit gerade dem ethischen Aspekt des Mottos zugeordnet werden. Diese Gestaltung korrespondiert mit Lasker-Schülers Verwendung des Begriffs Zionismus in ihren Briefen (an Martin Buber und Erich Loewenson), die ein Verständnis von Zionismus als Wohlfahrtsorganisation für bedürftige Juden und Jüdinnen oder jüdische Autor/innen und Künstler/innen ausdrückt. So schreibt Lasker-Schüler z.B. am 7. August 1925 an Erwin Loewenson: Könnte nicht ein reicher Zionist oder durch Dr. Turowsky: Keren [darüber ein Davidstern] Hajessod ihm [Adalbert von Maltzahn] ein Ehrengeschenk gesandt werden 200–300 Mk. […] Haben Sie gelesen in den Abwehrblättern des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus den Aufsatz von H.A.v.M. in der Julinummer. […] Er würde doch einmal auch ein Entgegenkommen von Juden sehen. Später großartig ist er für Jerusalem […] (KA 8, 30 ff.).
268 Die Hebräer werden in der publizierten Fassung schon kurz nach dem Prolog zum ersten Mal erwähnt, im Entwurf I erst wesentlich später (14, 164).
Das Hebräerland
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Im Hebräerland wird der Besuch der „Hilfsgebäude“ der beiden Organisationen an der King George Street durch die Dichterin genutzt, um die Relevanz der dichterischen Erneuerungsarbeit durch den zionistischen Praktiker Arthur Ruppin (1876–1943)269 zu bestätigen. In einer leicht ironisierten Szene spricht der ‚Vater der Siedlungsbewegung‘ der Dichterin gegenüber aus, dass sie mit ihren Gedichten „zum Aufbau Palästinas beigetragen“ habe, betont also die Relevanz oder Gleichwertigkeit literarischer Bemühungen für den Aufbauprozess:270 „Ich habe zum Aufbau Palästinas beigetragen durch die Dichtungen meiner hebräischen Balladen; bin nicht untätig am Gotteswerk gewesen“, bestätigt mir der galante, aber auch ernste Weltmann. Und leichtgläubig, wie ich mal bin, freute es mich, da die Dichterin etwas gilt im Vaterland. (Ich lasse es ankommen auf die endgültige Blutprobe.) (30)
In dieser Passage nutzt Lasker-Schüler den Modus der Galanterie, um das ‚Eigenlob‘ der Dichterin abzuschwächen und referiert mit der „Blutprobe“ auf die zionistische Rhetorik, die auch im kulturzionistischen Diskurs das ‚Jüdische‘ in der Dichtung gerne in einem rassisch definierten Kern oder im Blut verortet sieht.271 Dennoch wird hier die zentrale poetologische Konzeption des Hebräerlandes von der praktisch zionistischen Seite bestätigt und sogar die mehrfach betonte Anbindung beider Bemühungen an das „Schöpfungswerk“ eingeflochten. Dass Lasker-Schüler die zionistischen Bemühungen insgesamt mit der avantgardistischen Erneuerungsarbeit und dem Modus der Heiligung verbindet, zeigt die durch die Verwendung von Großbuchstabe und Sperrdruck überdeutlich markierte Erwähnung von Theodor Herzl, die sich schon im Prolog findet. Die 269 Der Soziologe Ruppin, der 1908 das Palästinaamt übernahm, gilt als der „Vater der zionistischen Siedlungsbewegung“, die er von 1908 bis 1942 führend begleitet hat. Er ist für seine besondere Zusammenarbeit mit den ‚Pionieren‘ vor allem der zweiten Aliya seit 1905 berühmt und unterstützte die neuen Siedlungsformen, wie Kibbuzim oder Moschawim. Ebenso war er für die Gründung Tel Avivs und den Landkauf, u.a. des Carmel Bergs in Haifa oder des Gebietes von Rehavia in Jerusalem, verantwortlich, die im Hebräerland besonders erwähnt werden. Angaben zu Ruppin vgl. Artikel: Arthur Ruppin. In: Encyclopedia Judaica, Vol. 14, Jerusalem 1971, Sp. 430–432. 270 Es liegt nahe, anzunehmen, dass Lasker-Schülers Wertschätzung für Ruppin dadurch bestärkt wurde, dass er Mitbegründer des Brit Schalom (hebr.: „Friedensbund“) war, einer Vereinigung, die einen binationalen Staat in Palästina anstrebte und der viele der im Hebräerland erwähnten oder sonst mit Lasker-Schüler bekannten deutschsprachigen Intellektuellen, u.a. Hugo Bergmann, Gershom Scholem, Martin Buber und Ernst Simon, angehörten. 271 Vgl. zum Zusammenhang von Blutmetaphorik und jüdischen Gemeinschaftsvorstellungen Caspar Battegay: Das andere Blut. Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben 1830–1930. Köln, Weimar, Wien 2011.
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Erneuerung des Judentums
differenzierte Passage, die zwischen den Stillagen der Heiligenverehrung und Ironie changiert, entfaltet zusammen mit den nachfolgenden Abschnitten eine zugleich würdigende und kritische Auseinandersetzung mit Herzl und dessen Position im zionistischen Diskurs. Dabei werden Aspekte seines Werks in ihrer avantgardistischen Qualität geschätzt (vor allem sein utopischer Roman Altneuland) und als Beitrag zum Projekt des Hebräerlands gedeutet: Nach greisen Zeiten war es Herzl, der tote Melech, der lebendige, unsterbliche Wegweiser, Theodor Herzl, der auf seines Herzens Papyros den Wiederaufbauplan des Hebräerlandes entfaltete (sic). Er begann die ehrwürdige, ehrfürchtige Mumie auszugraben. Amen … Ich verweile andächtig. (12)
Hier wird sowohl Herzls Status als Begründer der modernen nationaljüdischen Bewegung geheiligt, als auch die ihm entgegengebrachte, messianisch konnotierte Verehrung durch den Modus religiöser Andacht überzeichnet und ironisch gebrochen.272 Herzl (1860–1904) wird gleichzeitig als „toter Melech“ (hebr.: „König“) und als „unsterblicher lebendiger Wegweiser“ bezeichnet und gehört demnach nun selbst zur jüdischen Tradition, die nach dem im Hebräerland entworfenen Modell immer wieder erneuert werden muss.273 Dabei ist der Passage eine kulturzionistische und avantgardistische Komponente im oben am Beispiel Scholems beschriebenen Sinne eingeschrieben, wenn Herzls seinen „Wiederaufbauplan des Hebräerlandes“ gerade „auf seines Herzens Papyros“ entwirft. Die Chiffre ‚Herz‘ spielt in Lasker-Schülers avantgardistischer Poetologie eine wichtige Rolle und verweist auf die angestrebte Verbindung von Leben und Literatur sowie auf den Begriff Herz in Achad Haams Essays (vgl. Kapitel IV.2). Lasker-Schüler referiert hier auf Herzls utopischen Roman Altneuland (1902) über eine jüdische Gesellschaftsordnung in Palästina im Jahr 1923, die bemerkenswerterweise nicht als Staat konzipiert ist. So findet sich eine Seite später die Erwähnung der „kleinen Judenkosaken“ in einer landwirtschaftlichen Siedlung (13 f.), wie sie auch in Altneuland beschrieben werden. Der utopische Roman 272 Sabine Graf hat herausgearbeitet, dass hier „auf metaphorischer Ebene […] ein buchstäblich inszeniertes Denkmal an Theodor Herzl im Sinne eines Eingedenkens, einer Hommage“ zu lesen ist. Dabei deutet sie jedoch die Gebetsformel „Amen“ irreführend allein als christliche; auch als jüdische entfaltet diese ironisches Potenzial. Sabine Graf: Poetik des Transfers, S. 139. 273 Zu den Referenzen auf ägyptische Topoi, vgl. Sabine Graf: Poetik des Transfers, S. 137 f. Zur Deutung der Mumie als intertextueller Verweis auf Heinrich Heine, der sie als Symbol für das ewige jüdische Volk verwendet hat, vgl. Alfred Bodenheimer: Wandernde Schatten. Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne. Göttingen 2002, S. 109.
Das Hebräerland
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Altneuland kann als ein relevanter Intertext des Hebräerlands gerade für dessen antizipatorische Aspekte gelten. Herzl wird als jemand gewürdigt, der ebenfalls an der jüdischen Erneuerung und der Verbindung von Literatur und Leben und somit am „Hebräerland“ gearbeitet hat. Besonders deutlich wird dies am Titel des Romans Altneuland, den Nachum Sokolow ins Hebräische mit Tel Aviv (hebr.: „Frühlingshügel“) übersetzt hat, nach dem wiederum die 1909 gegründete Stadt Tel Aviv benannt wurde. Somit sind die neu gebaute Stadt und ein Buch über den Aufbau in Palästina eng verbunden. Lasker-Schüler würdigt Herzl als jemanden, der als Schriftsteller ein Projekt begonnen hat, das zu einem sehr konkreten Aufbauprozess geführt hat. So gehört er zu ihrer Deutung des Aufbauprozesses und des kulturellen Zionismus als Avantgardeprojekt hinzu. Ihre Darstellung verbindet Lasker-Schüler jedoch mit der Infragestellung totalisierender bzw. vereindeutigender und autokratischer Konzepte auch in der zionistischen Bewegung, wie die folgende Passage zeigt. Palästina ist gedanklich das fernste Land der Welt. Ich wollte ja nur feststellen, ob man überhaupt wieder auf die Erde zurückkomme – und reiste ab. […] Ich reiste nach Europa zurück auf dem mächtigen Schiff „Jerusalem“. Wenn nicht am Morgen und am Abend die fröhlichen hebräischen Kolonisten, die kindlichen Judenbauern, auf Deck ihre rührenden Volkslieder gesungen, hätte ich mich, trotz der vielen netten Passagiere, als einsamste Passagierin gefühlt. Welcher Jude wäre auch fähig gewesen, den Grund meiner Rückfahrt zu verstehen und zu billigen. Ach, ich hätte mir so gerne in der italienischen Hafenstadt Trieste unseren Lloyd „Gerusalemme“ zum Andenken als Enveloppe an mein Armband gehängt! Er führte uns an Griechenland vorbei, an Ithaka. Er zeigte mir den Zeus auf dem Olymp thronend und aus blaublauem Wasser hörte ich die Sirenen singen. Es tanzten auf unserem Schiff die kernigen jüdischen Landleute, die Chaluzim mit ihren bildhübschen Bäuerinnen unter freiem Himmel. (12 f.)
Die Dichterin erklärt direkt nach der Heiligung Herzls, die mit „Ich verweile andächtig“ endet: „Palästina ist gedanklich das fernste Land der Welt. Ich wollte ja nur feststellen, ob man überhaupt wieder auf die Erde zurückkomme – und reiste ab.“ (12) Die Dichterin handelt also gerade entgegen einer zugespitzten zionistischen Forderung, alle Juden und Jüdinnen müssten nach Palästina einwandern. Die anschließende Beschreibung dieser Fahrt nach Europa verbindet weitere einander widersprechende, den (kultur-)zionistischen Heimatdiskurs betreffende Motive. So trägt das Schiff zunächst den Namen „Jerusalem“, bevor es kurz darauf mit „unseren Lloyd ‚Gerusalemme‘“ (13) deutlicher als Schiff und namentlich ins Italienische übersetzt verfremdet bezeichnet wird. Dies suggeriert, dass das ‚Gelobte Land‘ gerade durch und mit Jerusalem verlassen wird. Die
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Chiffre ‚Jerusalem‘ bezeichnet im Hebräerland eine Qualität, die nicht einseitig territorial verortet ist, sondern vor allem eine Qualität zwischen Menschen.274 Anschließend referiert Lasker-Schüler auf einen Topos zionistischer Palästinareiseberichte, die auf dem Schiff tanzenden Chaluzim (jüdischen Pioniere). Hier irritiert, dass sie auf dem nach Europa zurückkehrenden Schiff zu finden sein sollen. Vielmehr scheint eine imaginative, den Verlust traumlogisch ausgleichende Vision gemeint zu sein. Schließlich wird mit der Vorbeifahrt an Griechenland und der Erwähnung von Zeus, dem Olymp und den Sirenen (13) nicht nur die Odyssee als Exil- und Heimaterzählung zitiert, sondern generell das hellenistische mythische und poetische Erbe, das in der philosophischen Tradition und in antisemitischen und nationaljüdischen Debatten häufig dem jüdischen als komplementär gegenüber gestellt wird. Als antikes Erbe, das in der Renaissance wieder entdeckt wurde, lassen sich jedoch auch Parallelen zur Konzeption einer „Jüdischen Renaissance“ ziehen, die gerade den jüdischen oder ‚hebräischen‘ Mythos als gleichwertig zur griechischen Tradition entworfen hat. Lasker-Schüler lässt also der ‚Denkmalsetzung‘ für Herzl eine Passage folgen, die sich kritisch mit zionistischen Heimatdefinitionen auseinandersetzt und dadurch eine ideologisch zionistische Vereinnahmung verunmöglicht.275 Zuletzt folgt eine Passage, die „die große[ ] Bewunderung und Verehrung“ für die „mutigen Pioniere des Bibellandes, seinen Helden!“ (13) ausdrückt. Gelobt und überhöht wird hier die praktische Siedlungsbewegung, der Herzl zu Lebzeiten eher ablehnend gegenüber stand, die hier aber als logische Nachfolge seiner Bemühungen gezeigt wird. Die hier indirekt anklingende kritische Haltung zu nationalistischen und vereindeutigenden zionistischen Positionen findet sich mehrfach im Hebräerland. Die zentrale Forderung einer Rückkehr aller Juden nach Palästina wird folgendermaßen zitiert: „Einmal kehren ‚alle‘ Juden ins Hebräerland heim, zu sammeln sich in seines Tempels Räumen“ (96). Um Distanz zu dieser Forderung auszudrücken, ist das Numerale „alle“ in Anführungszeichen gesetzt. 274 Doerte Bischoff hat darin einen Widerspruch zur zionistischen Definition als „heimatlicher Boden“ gesehen, „den es – so die zionistische Überzeugung – wieder in Besitz zu nehmen gelte.“ Doerte Bischoff Avantgarde und Exil. Else Lasker-Schülers „Hebräerland“. In: Exil und Avantgarden. Hrsg. v. Claus-Dieter Krohn. München 1998 ( Jahrbuch für Exilforschung; 16), S. 116. 275 Vgl. hierzu Doerte Bischoffs Überlegung, die anhand einer Auseinandersetzung mit dem National-sozialismus und dem Themenfeld „Avantgarde und Exil“ zu dem Schluss kommt, Das Hebräerland „gestaltet selbst eine Welt, die sich der Vereinnahmung durch totalitäre Identitätsbehauptungen entzieht.“ Doerte Bischoff: Avantgarde und Exil. Else LaskerSchülers Hebräerland, S. 113. Auch die Behauptung einer einzigen Heimat ließe sich der Kategorie „totalitäre Identitätsbehauptung“ zuordnen.
Das Hebräerland
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Diese Distanz gegenüber einem vereindeutigten zionistischen Diskurs ist auch poetologisch relevant. So wird mehrfach betont, dass das Schreiben des Hebräerlandes und das Zeichnen der Illustrationen nur aus der Distanz nach der Rückkehr in die Schweiz möglich gewesen seien: Ich bin nun wieder ein volles Jahr in Europa. Jerusalem und sein Land taucht lächelnd auf aus meiner Erinnerung und belebt mich mächtig (sic). Wie die Nachkur einer Kur. Meine beiden Begleiterinnen, die Dichtung und die Malerei, beginnen die wohltätige Folge der Heiligen Stadt zu fühlen. Ausgeruht, erschließt sich die Zeile meines Verses und blüht. (99)276
Ähnliches wird in einer erinnerungstechnisch vielschichtigen Passage, die die Gegenwart in der Schweiz mit der Erinnerung an Jerusalem verschränkt, für die Arbeit an den Illustrationen behauptet: Nicht vom Balkon meines jerusalemitischen Gasthauses zeichnete ich am Offenbarungsmorgen die ehrwürdigen Chassidimpriester, zur Klagemauer pilgernd; erst heimgekehrt in Europa. Schneebedeckte Berge, lauter Rigis, erheben sich hinter dem grünenden Wasser, aber in meinem Herzen überragt sie des Hebräerlandes erzalter Fels. Ich vernehme durch das Klingen fröhlicher Jodlerstimmen himmlisch die lieben Kolonisten, aus ihrem Emek [hebr.: „Tal“, Anm. B.M.K.] kommend, singen … Jerusalem weint vor Glück. (99)
Somit wird Europa und die auf das Heilige Land bezogenen literarische Tradition der Diaspora als Basis der Aufbauarbeit und der kulturellen Erneuerung der jüdischen Tradition gestaltet. Außerdem schreibt Lasker-Schüler dem Hebräerland als widerständiges und erinnerungstechnisches Element die deutsch-jüdische Tradition in ihrem akkulturierten Elternhaus ein,277 die im Aufbauprozess Palästinas damals keinen Platz hatte. In diesen Kontext gehört, dass Lasker-Schüler im Hebräerland erneut die Distanz der Dichterin zum jüdischen Volk und den Hebräern betont, dem und denen sie sich zugehörig fühlt und dennoch abseits bleibt, so bei der Heimkehr am Abend (11), beim Pessach-Mahl in Alexandria (60) und beim Zug zur Westmauer an Schawuot (Fest zur Gabe der Tora):278 276 Die erinnerungstechnisch vielschichtige Passage kann hier nicht ausführlich interpretiert werden. 277 So ein Purimball im elterlichen Haus (70–72), verbunden mit Signaturen antisemitischer Bedrohung, sowie das leicht veränderte Gedicht „Mutter“ (hier ohne Titel gedruckt), das die Thematik der verlorenen Mutter behandelt (80), und das Gedicht „Mein Kind“ (81 f.). Beide sind funktional dem Kaddisch-Gebet vergleichbar in den Text aufgenommen. 278 Sicherlich hat es für die poetologische Konzeption eine Rolle gespielt, dass es gerade das Schawuot-Fest ist, das Lasker-Schüler während ihrer Reise in Jerusalem erlebt hat. Wie sie
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Erneuerung des Judentums
Vor wenigen Stunden verließ der Chor der säenden und erntenden Menschen ihr Emek, gen Jerusalem zu ziehen, gemeinschaftlich mit allen anderen Juden der gelobten Stadt Pfingsten279 zu feiern. Die ineinander verschlungenen Arabesken meines Teppichs grüßen über dem Gelände (sic) meines Balkons die Singenden. Als letzte Pilgerin folge ich, allein, fernab und doch ein tausendjähriges Volk, eine treue Leibgarde des Herrn, den hebräischen Prozessionen. Ich bin nicht Hebräerin der Hebräer willen, aber – Gottes Willen! Doch dieses Bekenntnis schließt die Liebe und Treue unerschütterlicher Ergebenheit zu Seinem Volke ein. Zu meinem kleinsten Volk unter den Völkern, dem ich mit Herz und Seele angehöre. (33)280
Diese Positionierung hat Lasker-Schüler schon in ihrer Prosaarbeit Das Peter Hille-Buch und im Gedicht „Mein Volk“ mit intertextuellen Bezügen zum Moses-Lied formuliert (vgl. Kapitel III.2 und III.4). Durch die erneute und mehrmalige Wiederholung im Hebräerland bekräftigt sie, schon im ‚Prolog‘ (11), dass sich nichts an dieser für das Schreiben notwendigen Distanz und besonderen Position der Auserwählung als jüdische Dichterin in der Auserwählung als Jüdin geändert hat. Die schon im kulturzionistischen Diskurs präsente Verbindung von Avantgarde und einem Modus der Heiligung wird im Hebräerland im Konzept der Hebräer verdichtet. IV.3.2 Heiligung durch Erneuerung: Die Hebräer als Avantgardist/innen
In Das Hebräerland lassen sich viele Verweise auf kulturzionistische Protagonist/innen und Projekte nachweisen, die konsequent als avantgardistisch und in einem Modus der Heiligung beschrieben werden. Unter anderem spricht sich die Dichterin für die Einführung der hebräischen Sprache aus, lobt die „Hebräische Universität“, die „Jüdische Nationalbibliothek“ und das erste professionelle hebräische Theater „Habima“, ohne dabei nationalstaatliche Qualitäten zu benennen. Vielmehr werden jeweils eine urjüdische Dimension, eine Dimension der avantgardistischen ‚Gegenwartsarbeit‘ und eine messianische Dimension betont, die zusammen den Begriff des Hebräischen ausmachen. gleichfalls den Umstand der Anreise über Ägypten im Rückbezug auf die jüdische Tradition mit dem Zug des jüdischen Volkes durch die Wüste verbindet. 279 Lasker-Schüler verwendet die christliche Bezeichnung Pfingsten für das Schawuot-Fest zur Gabe der Tora, ebenso findet sich die Bezeichnung Ostern für Pessach. 280 Lasker-Schüler zitiert hier ihr Gedicht „Mein Volk“ und verweist auf ihr wohl berühmtestes Gedicht „Ein alter Tibetteppich“.
Das Hebräerland
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In Das Hebräerland sind die Hebräer eine Gruppe innerhalb des jüdischen Volkes. Insgesamt werden drei Gruppen von Juden und Jüdinnen als „Hebräer“ bezeichnet. Zum einen „die Eingeborenen“, die diesen Status durch das Geborensein und Leben im Land erlangen und als Reinkarnationen von Figuren der hebräischen Bibel erscheinen (Rebekka und Hagar, 56; Esau, 91; konzeptuell, 102). Sie werden über den Topos der Ursprünglichkeit mit Lasker-Schülers Konzept der „wilden Juden“ verbunden: sie „wohnen zufrieden […]. Oder wie die wilden Juden […]. Es sind die schlechtesten Hebräer nicht.“ (14) Ansonsten ist die Bezeichnung „Hebräer“ mit der Aufbauarbeit in Palästina verbunden. Dies betrifft zum einen die ‚zionistischen Pioniere‘: „Der hebräische Pionier erweckte Palästina aus seinem tausendjährigen biblischen Sagenschlaf.“ (15) Sie finden mehrfach lobende Erwähnung: „Mit großer Bewunderung und Verehrung begegnete ich diesen Reisegenossen, den mutigen Pionieren des Bibellandes, seinen Helden!“ (13) Zum anderen werden die vielen im Hebräerland erwähnten Dichter/innen, Künstler/innen, Architekt/innen und Angehörigen der Universität als „Hebräer“ bezeichnet (z.B. 114). Auch die Erzählfigur „die Dichterin“ ordnet sich dieser Gruppe zu: „Ich bin eine Hebräerin“ (125). Der Bezug zwischen Avantgarde und kulturzionistischer Erneuerung der jüdischen Tradition wird über das avantgardistische Verfahren hergestellt, zugehörige Künstler/innen und Autor/innen in die eigenen Texte aufzunehmen und somit die traditionelle Kanonbildung zu unterlaufen. Lasker-Schüler hat dieses Widmungsverfahren schon in ihrer Prosaarbeit Das Peter Hille-Buch (1906) und im Briefroman Mein Herz (1912) oder in den Gedichten über bestimmte Personen ihres künstlerischen Umfeldes, z.T. mit poetisierten Namensgebungen, verwendet. Diesmal werden jedoch der Gattungskonvention des Reiseberichts entsprechend die Betreffenden unter ihren realen Namen und z.T. Adressen im britischen Mandatsgebiet Palästina aufgeführt, so dass Das Hebräerland vorrangig als Land der deutsch-jüdischen, aber auch neuhebräischen und jiddischen Autor/ innen, Künstler/innen und Geistes-wissenschaftler/innen entworfen wird. Die Mehrzahl der Genannten ist den kulturzionistischen Bemühungen um eine jüdische Literatur und Kunst zuzurechnen und Lasker-Schüler aus ihrer Zeit in Berlin bekannt. Viele sind schon in den 1920er Jahren oder sogar früher nach Palästina übergesiedelt.281 Die Dichter/innen und Künstler/innen in Palästina werden zusammen mit den hebräischen Pionieren als Mitglieder eines heiligen Bundes beschrieben, dessen Darstellung mit der Zeichnung auf dem Schutzumschlag korrespondiert. 281 So besucht die Dichterin u.a. Gershom Scholem, Hugo Bergmann, Grete Wolf-Krakauer und Leopold Krakauer, erwähnt Hermann Struck, Arnold Zweig, die hebräische Dichterin Bat Miriam oder den jiddischen Dichter Abraham Stenzel.
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Erneuerung des Judentums
Als Vorbilder fungieren die im Hebräerland zitierten Hebräischen Balladen,282 die von einer ähnlichen Zeichnung einer Gruppe junger Juden und Jüdinnen (129) begleitet wird. Schon die Etymologie des Wortes weist die Hebräer als prototypische Avantgardist/innen aus. Es ist in der Tora gerade die für Lasker-Schülers Poetologie so zentrale Joseph-Figur, die die Bezeichnung „Hebräerland“ in Ägypten für das eigene Herkunftsland verwendet (Bereschit/Genesis 40,15).283 Die Bezeichnung ‚Hebräer‘ geht dabei auf Abraham zurück und ist, wie Alfred Bodenheimer betont, mit der Qualität der Überschreitung oder der Transgression verbunden.284 Abrahams Handeln, als Erster in ein unbekanntes Land zu gehen, die Götter der Väter zu zerschlagen und alles zurückzulassen, um einem neuen Gott, einer neuen Idee zu folgen, kann als avantgardistische Essenz gedeutet werden. In der Darstellung der Hebräer als hebräische Pioniere und als der jüdischen Erneuerung verpflichtete Autor/innen, Künstler/innen und Geisteswissenschaftler/innen werden ebenfalls ein avantgardistischer und eine heiligender Modus verbunden. Es sind die Hebräer, die das Motto des Buches „Ihr aber sollt mir sein ein Reich von Priestern, ein heiliges Volk“ (9) und die darin formulierte Verpflichtung des Bundes mit jhwh umsetzen. Sie wirken an jhwhs Schöpfung durch die praktische Aufbauarbeit und die literarische und künstlerische Erneuerung avantgardistisch mit und heiligen das Hebräerland/„Hebräerland“ in seiner doppelten Anlage als Buch und Land. Gleichzeitig heiligen sie sich selbst, indem sie die Gebote, wie Bescheidenheit, Mäßigung, Toleranz, Versöhnung erfüllen wie es ihre Verpflichtung ist [„Palästina verpflichtet!!!“ (12)]. Dies ist die spezielle ‚hebräische Qualität‘, die die Hebräer als Vorreiter gegenüber den ‚gewöhnlichen‘ Juden und Jüdinnen auszeichnet: Unter der Last seiner Auserwähltheit keucht, verfolgt von Geschwistervölkern, der Juden Seele. Es verglimmt der Glaube an Gerechtigkeit in manch eines Juden Herzen. Der 282 Neben dem Gedicht „Versöhnungstag“ (früher „Versöhnung“) werden Gedichte über berufene Vorreiterfiguren der jüdischen Tradition aufgenommen: „Moses und Josua“, „Abraham und Issak“, „Saul“, „David und Jonathan“, „Jakob und Esau“, „Jakob“ und „Esther“, und zum Schluss der poetologische Entwurf als „Gottes Schlingel“ in der Nachfolge von Heinrich Heine im Gedicht „Im Anfang“ bekräftigt. (127–132) 283 Vgl. Alfred Bodenheimer: Die auferlegte Heimat. Else Lasker-Schülers Emigration in Palästina. Tübingen 1995, S. 29. 284 Ebd. S. 28 f.: „[d]as Wort ‚hebräisch‘, beziehungsweise ‚Hebräer‘ wird hergeleitet vom Verbstamm ‚avor‘, zu deutsch ‚überqueren‘, ‚überschreiten‘ oder eben auch: ‚transgredieren‘. Die Hebräer, in ihrer eigenen Sprache ivrim, waren die Nachkommen Abrahams, nach der Erklärung des Midrasch deshalb ivri ‚Überschreiter‘, geheißen (Gen. 14,13), weil er [Abraham] auf Gottes Befehl den ‚Fluss‘ überschritten hatte und aus Ur nach dem Lande kam, das Gott ihm zeigte.“
Das Hebräerland
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Hebräer aber, der vom Inhalt seiner göttlichen Bürde weiß, trägt die verantwortliche Last, das holde Kind der Gebote … die Thora lächelnd in seinen Armen. (86)
Diese Auserwählung wird jedoch erneut als ambivalent reflektiert: Den Stein der Schöpfung zu tragen, auf dem Bauplatz des Gelobten Landes, verfolgt und geplagt wie der kleinste Arbeitsesel der Eselskarawane, müdet sich der Jude ab, über die Wüstenstraße heim in sein Urland zu tragen. Immer wieder trägt Israel von Jahrhundert zu Jahrhundert gewissenhaft geheiligtes Mosaik über die Ozeane ins auserwählte Land, die Heilige Mumie aufzurichten zu neuem Leben. Ihr Völker, „so“ verhält sich das mit der Auserwählung von uns Juden! Aus diesem wahren, ernsten Auserwählungsgrunde mögen Andersgläubige uns Hebräer ferner – sorglich – beneiden. (118)
Neben der aus der Auserwählung resultierenden besonderen Verantwortung und dem mit ihr verbundenen Leid285 klingt in beiden Zitaten erneut eine religiöse Dimension an. Entsprechend wird die Arbeit der hebräischen Pioniere als vorrangig religiös motiviert gedeutet und gleichzeitig mit avantgardistischer, an Wildwest-Szenarien erinnernder Metaphorik verbunden. Sie werden als Pioniere bezeichnet, die nicht nach Gold graben, sondern nach Gott (15): Die Söhne und Töchter etlicher wohlhabender Judenfamilien Europas pilgerten schon vor vielen, vielen Jahren nach Palästina, ins Gebenedeite Land. Verließen Elternhaus und seine Obhut, sich der Erde des Heiligen Landes zu weihen, die Sümpfe Tiberias zu trocknen, ja ihr Leben zu opfern, mit Freuden hinzugeben für den Dienst des Herrn. (13)
Darüber hinaus sind sie mit Moses verbunden, der als ihr Vorläufer und ebenfalls mit der Betonung eines avantgardistischen Impetus als „göttlicher Pionier“ (113) bezeichnet wird. Sie werden damit in die Gesamtkomposition eines praktischen und künstlerischen Aufbaus des Hebräerlandes/Hebräerlandes in der Zusammenarbeit mit jhwh eingefügt. Während die Dichterin in ihrem Buch an der Grenze von Literatur und Leben den Text gegenüber dem ‚Leben‘ offen hält, realisieren die ‚hebräischen Pioniere‘ das avantgardistische Ideal umgekehrt, indem sie durch die Aufbauarbeit ein literarisches Vorbild (z.B. die hebräische Bibel) im ‚Leben‘ umsetzen: „Wo der Chaluzim [hebr.: „Pioniere“286, Anm. B.M.K.] säet und erntet, wird immer Bibel sein; Gott lächelt aus jeder sich neu rötenden Frucht.“ (119) 285 Vgl. eine ähnliche Darstellung in Der Wunderrabbiner von Barcelona. 286 Lasker-Schüler verwendet die Pluralform.
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Auch die literarische und künstlerische Arbeit der Hebräer an der Erneuerung von Land und Tradition wird als Mitarbeit an jhwhs Schöpfungsplan bezeichnet und die Kategorie des ‚Hebräischen‘ konsequent mit zukunftsweisenden, avantgardistischen Projekten verbunden. Solche Projekte sind z.B. der Aufbau neuer Städte wie Tel Aviv, das zu Lasker-Schülers Besuch sein 25-jähriges Bestehen feierte. Als Besonderheit wird hervorgehoben: „In Tel Aviv sind alle Menschen Juden […]. Eine Stadt, von Hebräern gebaut, gefüllt mit Hebräern.“ (95) Ebenso findet das kulturzionistische Projekt, die hebräische Sprache zu erneuern und als moderne Landessprache zu etablieren, die Zustimmung der Dichterin: „Hebräisch heißt das ehrwürdige und ewigblühende Sprachgewächs des Gelobten Landes.“ (39) In diesen Kontext werden auch Lasker-Schülers Hebräische Balladen eingeordnet, deren Lesung zuerst im ersten hebräischsprachigen Theater Habima stattfindet (126–133) 287 und ebenfalls mit einer religiösen Konnotation verbunden wird: „Es erfüllt mich mit Glück, meine Dichtungen im Lande der Erzväter vorzutragen, und besonders meine hebräischen Balladen; gelobt zu werden – vielleicht vom lieben Gott.“ (133)288 Das Habima-Theater ist ein eng mit einer avantgardistischen Ästhetik verbundenes, vom osteuropäischen Kulturzionismus inspiriertes Projekt, das in den 20er Jahren in Berlin gastierte289 und mit seiner „Gebärden- und Bildsprache des Expressionismus und des frühen Films“290 der historischen Avantgarde zugeordnet wird.291 Mit den „hebräischen Pionieren“, also dem Jischuw,292 teilt es die kollektive Organisationsstruktur, die bis 1969 bestand. Ähnlich wie bei LaskerSchülers poetologischen Verfahren im Hebräerland werden in den Inszenierungen scheinbar ‚hebräische‘ Ursprünglichkeit und eine Metaebene der Darstellung miteinander verbunden.293 287 „Meine hebräischen Balladen vorzutragen, lud mich ein das Habimâhtheater.“ (126) 288 Die zweite Lesung findet in Jerusalem in der Buchhandlung Steimatzky statt. 289 Dem Freundeskreis gehörten u.a. Max Reinhardt, Alfred Kerr, Martin Buber, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Sammy Gronemann, Franz Werfel, Arnold Zweig, Arthur Holitscher, Chaim Nachman Bialik, der Architekt Oskar Kaufmann und der Verleger Samuel Fischer an. Ilil Land-Boss: „Zwischen zwei Welten. Das Moskauer Hebräische Künstlertheater Habima.“ In: Habima. Moskaus Hebräisches Theater 1926–1931 in Deutschland. Im Bestand der Theaterwissenschaftlichen Sammlung Schloss Wahn. 2007, S. 10–31, hier S. 23. 290 Peter W. Marx: Habima in Deutschland. In: Ebd., S. 36–44, hier S. 41. 291 Vgl.: Ilil Land-Boss: „Zwischen zwei Welten. Das Moskauer Hebräische Künstlertheater Habima.“ In: Ebd., S. 10–31, hier S. 12. 292 Mit Jischuw wird die jüdische Bevölkerung in Palästina vor der Staatsgründung 1948 bezeichnet. 293 Peter W. Marx weist auf die Metaebene der Darstellung hin: „Die Szene behauptete nicht die Unmittelbarkeit des Dargestellten, sondern verwies – ähnlich wie Brecht dies später für sein episches Theater forderte – immer bereits auf ihren Status als Medium ästhetischer Gestaltung.“ Peter W. Marx: Habima in Deutschland. In: Ebd., S. 36–44, hier S. 37.
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Ebenso wird die „Kunstform“ der Architektur in der Ausübung durch „de[n] künstlerische[n] Baumeister“ (76) Leopold Krakauer, der dem Bauhaus zugeordnet wird, mit avantgardistischen Zügen beschrieben: Spießbürger fürchten sich, etliche von ihm ihre Häuser bauen zu lassen; wüßten sie doch, daß nur der künstlerische Architekt fähig, dem Bau – Odem einzublasen. Krakauers Häuser sind lebendig. (76)
Hier wird die Überschreitung der Grenze von Kunst und Leben deutlich, wenn die Häuser selbst „lebendig“ sind. Das Motiv wird weiter ausgeführt, indem die künstlerische Arbeit am Beispiel der Architektur, die metaphorisch eng mit poetologischer Arbeit verschränkt ist, mit Anspielung auf die faustische Tradition mit der Schöpfung des Menschen durch jhwh gleichgesetzt wird: Wenn ich sehr bat, durfte ich zuschauen beim Bauen der niedlichen Originale auf den Holztabletten im Atelier des genialen Baumeisters. Es gehörte zu meinem Lieblingsnichtstun! Jeden der kleinen Paläste aus totem Stein stellt der Erbauer, oft mit Hilfe seines netten Famulus, auf die Fläche seiner Hand und haucht dem Steinwickelkinde Leben ein. (Ebd.)
Neben der ‚urjüdischen‘ Dimension der ‚hebräischen‘ Qualität und der mit ihr verbundenen Aufbauarbeit im „[ J]etzt und [H]ier“ (Buber) betont LaskerSchüler die messianische Konnotation der jüdischen Erneuerung in Aufbauarbeit und Literatur/Kunst. Als vielleicht überraschender Bezug Lasker-Schülers auf kulturzionistische Projekte ist in diesen Kontext ihre Begeisterung für die Hebräische Universität und die Jüdische Nationalbibliothek294 zu nennen. Bürgerliche Bildungseinrichtungen grundsätzlich als ‚spießbürgerlich‘ ablehnend, gestaltet Lasker-Schüler die Hebräische Universität als Teil des Projekts des Hebräerlands in einer avantgardistischen und messianischen Dimension. Lasker-Schülers Wertschätzung geht biographisch schon auf die Zeit ihrer ersten Palästina-Reisepläne in den 1920er Jahren zurück. Am 8.3.1925 sendete Lasker-Schüler ihre Bücher an den damaligen Direktor der Universitätsbibliothek Hugo Bergmann: „Liebenswerter Herzog von Jerusalem/Sind meine gesammelten Bücher 9 – (ohne Schauspiel da vergriffen) und die nachgefolgten 2 angekommen? Im ganzen 11 Bücher?“295 Diese Handlung drückt zum einen eine Wertschätzung des kulturzionistisch initiierten Projekts und zum anderen ihre 294 Die Jüdische Nationalbibliothek wurde 1892 zunächst als öffentliche Bibliothek für die jüdischen Einwohner Palästinas etabliert und im Zuge der Gründung der Hebräischen Universität in eine Universitätsbibliothek umgewandelt. 295 KA 8, S. 21.
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Selbstdefinition als „jüdische Dichterin“ aus. Lasker-Schüler bekräftigt ihren Anspruch, in den Kanon jüdischer Dichtung zu gehören, der wesentlich durch die Bestände dieser Jüdischen Bibliothek definiert wird, bestätigt damit aber auch deren Geltungsanspruch. Zur gleichen Zeit taucht das Datum der Einweihung der Hebräischen Universität prominent in ihren Briefen auf. So schreibt sie an Erwin Loewenson: „Alles abgesandt gestern schon. Die Fahrkarten nach Palästina im Gange. Herr Arthur Holitscher, Ernst T[oller] Sie und ich – abgemacht I. April Einweihung Universität Jerusalem.“296 Die Gründung der Hebräischen Universität kann als das zentrale kulturzionistische Projekt seit dem Auftreten der „Demokratischen Fraktion“ auf dem V. Zionistischen Kongress 1901 bewertet werden.297 Vom 31. März bis zum 1. April 1925 fanden schließlich die offiziellen Eröffnungsfeierlichkeiten der Hebräischen Universität in Jerusalem statt. Arthur A. Goren betont den starken Eindruck, den diese auf die Zionist/innen und die „jüdischen Welten“ gemacht hätten. Sie seien als „the living sign of the rebirth of the Jewish nation“ gesehen und beworben worden.298 Lasker-Schülers Pläne, zur Eröffnung der Hebräischen Universität nach Jerusalem zu reisen, zeigen ihre Anteilnahme am zionistischen Aufbau in Palästina und ihre Wertschätzung dieses kulturzionistisch initiierten Projektes. Diese Anerkennung hängt eng mit Lasker-Schülers Verbindung zu bestimmten Menschen zusammen, die sie intellektuell schätzte und die der Universität nahe standen (wie Martin Buber und Hugo Bergmann, Ernst Simon, Schalom BenChorin).299 In Das Hebräerland lässt Lasker-Schüler „die Dichterin“ lobend ausrufen: „Auf dem Oelberg – wie phantastisch! – besuchen der Juden Söhne und Töchter die Hochschule. Was hätten unsere Könige dazu gesagt!“ (150) Interessant ist neben der Wertschätzung die vorgenommene Verschiebung des Standorts der Universität, die sich auf dem zur gleichen Hügelkette gehören296 Postkarte vom 3.2.1925, KA 8, S. 12. 297 Auf dem Fünften Zionistischen Kongress im Dezember 1901 in Basel stellten die Mitglieder des Kulturausschusses den Antrag zur Beauftragung eines Aktionskomitees, das „die Frage der Gründung einer Jüdischen Hochschule einem gründlichen Studium […] unterziehen“ sollte (MBW 3, 383). Im Juli 1902 legten Martin Buber, Berthold Feiwel und Chaim Weizmann das Papier „Eine jüdische Hochschule“ vor (MBW 3, 363–386). 298 Arthur A. Goren: Sanctifying Scopus. Locating the Hebrew University on Mount Scopus. In: Jewish History and Jewish Memory. Essays in Honor of Yosef Hayim Yerushalmi. Hrsg. v. Elisheva Carlebach, John M. Efron u. David N. Myers. Hanover und London 1998, S. 330– 347, hier S. 330 f. 299 Ebenso Itta Shedletzky (2006), die Lasker-Schülers Verbindung zur Hebräischen Universität vor allem auf Bubers und Bergmanns kulturzionistische Aktivitäten zurückführt. Itta Shedletzky: The Poetess and the Professors. Else Lasker-Schüler’s Relationship with the Hebrew University and its Faculty. In: Else Lasker-Schüler. A Poet Who Paints. Catalogue to the Exhibition of Irit Salmon. Hecht Museum Haifa 2006, S. 35–43, hier S. 35 f.
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den „Mount Scopus“/Scopusberg befindet, aber weit vom berühmten Friedhofs areal entfernt liegt.300 Lasker-Schüler arbeitet mit der Ortsangabe „auf dem Ölberg“ für die Hebräische Universität, da der Friedhof auf dem Ölberg mit dem Kommen des Messias verbunden ist,301 und schreibt ihr somit eine messianische Qualität zu. Fast am Ende der Passage heißt es: „Morgen ist wieder ein anderer Tag; vielleicht ein noch viel hellerer wie der heutige“ (150). Hier wird eine messianische Zeit angedeutet, die durch die in einer sehr irdischen Gegenwart und Zukunft zur Universität gehenden „Söhne und Töchter“ „der Juden“ (ebd.) erschaffen werden wird und somit das messianische Potenzial des kulturzionistischen Erneuerungsprojekts betont. Gleichzeitig drückt Lasker-Schüler in dieser Passage die Distanz der „Dichterin“ zu der akademischen Institution aus: Im Garten der Universität von Jerusalem säume ich auf einer der Gartenbänke schon den ganzen Vormittag, und es kommt mir gar nicht in den Sinn, das unvergleichliche Universitätsgebäude selbst zu betreten. (150)
Wofür sich „die Dichterin“ interessiert, ist nicht die Wissenschaft, sondern die Literatur und die Kunst bzw. die Verbindung von Literatur und Kunst mit dem Leben im Medium der Performance. Anschließend entwirft sie ihren spezifischen Beitrag zur jüdischen Erneuerung im Medium des Theaters: Von einem Abhang des schönen blumenreichen Gartens blicke ich herab auf ein Amphitheater. Das fesselt mich grenzenlos. Ich beginne zu spielen auf seiner Bühne: Joseph und seine Brüder. […] Immer ertappe ich mich in der Rolle des Josephs. Ich brenne 300 Arthur A. Goren weist darauf hin, dass der Name des 1914 ausgewählten Standortes Mount Scopus bis 1925 eher unbekannt war, so dass es möglich ist, dass sich Lasker-Schüler auf eine veraltete Information bezieht. Arthur A. Goren: Sanctifying Scopus, S. 330 f. Andererseits werden im Hebräerland ein Besuch auf dem Ölberg und ein Besuch des Universitätsgeländes geschildert. So ist anzunehmen, dass Lasker-Schüler der Unterschied zum eigentlich mit der Bezeichnung Ölberg benannten Areal bekannt gewesen ist. An anderen Stellen arbeitet sie geographisch und städtebaulich sehr genau, auch wenn die Beschreibungen zunächst ‚rein‘ poetisch wirken. So u.a. die Passage zu den Wohnhäusern von Bergmann und Scholem (21 f.) und zu den „Hilfsgebäuden“ an der King Georg Street (29). Für Hinweise zu den städtebaulichen Bezügen danke ich Itta Shedletzky, die sich die Zeit für einen Stadtrundgang in Jerusalem genommen hat. 301 So berichtet u.a. der Prophet Zachariah: „Und seine [des Herrn, Anm. B.M.K.] Füße werden stehen zu der Zeit auf dem Ölberg, der vor Jerusalem liegt nach Osten hin. Und der Ölberg wird sich in der Mitte spalten, vom Osten bis zum Westen, sehr weit auseinander, sodass die eine Hälfte des Berges nach Norden und die andere nach Süden weichen wird.“ (Zachariah 14,4).
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darauf, meine Lieblingsgeschichte einmal hier auf dieser steinernen Urbühne zu spielen in der Ursprache uraltem Hebräisch. Die Seele der Josephlegende, die einmal Wahrheit gewesen, wieder auferstehen zu lassen, sie zu verkörpern, in meinen Körper zu hüllen (150).
Die für ihre Poetologie zentrale Joseph-Figur in der ambivalenten innerjüdischen Position als auserwählter Traumdeuter und Retter und gleichzeitig von seinen Brüdern Verratener wird verbunden mit metaphorischen Bezügen auf das kulturzionistische Erneuerungsprojekt einer „Jüdische Renaissance“, so das ‚Wiederauferstehen‘ und die „Ursprache uralte[s] Hebräisch“. Lasker-Schüler verbindet über den Begriff der Hebräer eine ‚urjüdische‘ und eine in der Gegenwart zu realisierende antizipatorische, jüdisch-messianische und dabei heiligende Qualität, die mit dem eigenen Schreiben, kulturzionistisch initiierten Projekten und der praktischen Aufbauarbeit als Erneuerungsprojekt der jüdischen Tradition in Land und Buch verbunden ist. Die dabei entworfene Poetologie verbindet nicht nur die kulturzionistische Baumetaphorik mit dem Schreibprozess, sondern schließt poetologisch an die rabbinische Tradition an, erweitert diese jedoch durch die Kategorie der dichterischen Offenbarung. IV.3.3 Hebräische Poetologie: Dichterische Offenbarung, fortgesetzte Aggada und ‚unendlicher‘ Erneuerungsprozess
Lasker-Schüler setzt im Hebräerland die zuvor entwickelten poetologischen Parameter auf einer neuen Stufe fort, indem sie der Verbindung von Literatur und Leben konsequent eine religiöse Diskursebene hinzufügt, die die literarische und lebensweltliche „Verwirklichung“ (Buber) mit religiösen und kabbalistischen Schöpfungsmodellen verbindet. Das poetologische Modell ist die schöpferische Zusammenarbeit der Hebräer/ innen mit jhwh – in Literatur und Aufbauarbeit sowie in ethischer Dimension – als immer wieder zu vollziehender in messianischer Dimension zu vollendender Prozess: Palästina – eine Einige, Einzige Auferstehung! Noch von der Schöpfung her liegt auf dem Bauplatz, auf Palästinas Boden, Urmörtel, wilder Schlamm, Erzlehm und Materienrest, in Felsspalten aber neues Material zu neuem Aufbau. Vergehen und neu entstehen soll immer wieder das Heilige Land, bis es dem Himmel gleicht und mit ihm der Hebräer. (95)
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Lasker-Schüler weist die grundlegende Offenheit der jüdischen Tradition für Erneuerung302 als zukunftsweisend aus. Im Zitat findet durch die Alliteration „eine Einige, Einzige Auferstehung“303 erneut eine Doppelung der Perspektive auf Palästina statt. Sie korrespondiert mit der Beschreibung des Erzählmodus: „Palästina getreu zu schildern, ist man nur imstande, indem man das Hebräerland dem zweiten – offenbart (Hervorh. B.M.K.)“ (11). Wie Lasker-Schülers halbironische Bezeichnung ihrer Prosaarbeit in den Tagebuchzeilen aus Zürich (1937) als: „Bei aller Bescheidenheit -- mein Buch der Bücher …… semicolon!“304 und die Verbindung der Figur der Dichterin mit Moses andeuten, ist Das Hebräerland als ein zweites jüdisches Testament angelegt: „Der Herr wacht über mich und Sein Buch. Zwischen Seitenweißenewigkeiten verewigte ich – den Ewigen“ (85). Im Hebräerland wird eine Erneuerung des im Motto anklingenden Bundesschlusses am Sinai in einem neuen Bund der Hebräer gestaltet, die durch ihre avantgardistischen Taten und ihre ethische und bescheidene Einstellung sich selbst, das Land und durch Literatur die jüdische Tradition heiligen. Sie werden als heiligende Vorreiter des jüdischen Volkes in einem bis zur messianischen Zeit immer wieder zu vollziehenden Aufbauprozess gezeigt.305 Statt einer Jesus-Figur (für das „Neue Testament“) tritt eine Dichterin-Figur in der Nachfolge von Moses auf, die wie Moses jhwh „unausgesetzt in Sein ins Angesicht [blickt]“ (60) und über die Wüste nach Jerusalem kommt (12)306. So heißt es über Moses: Er sah den Allmächtigen nicht „in Rätseln“, „Er sah mich von Angesicht zu Angesicht!“ Sprach der Herr zu den Geschwistern des großen heiligen Feldherrn. Der erweckte das ächzende geknechtete Volk der Juden, an ihm Großgärtnerei zu erfüllen. Ließ es sprie302 Gershom Scholem: Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum. In: Ders.: Judaica 4. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/Main 1984, S. 189–228. Almuth Hammer betont, dass Scholem die Offenheit der Tradition für die Einzeichnung des Neuen sichtbar macht. Almuth Hammer: Erwählung erinnern, S. 18 f. 303 Vgl. zur Signatur solcher Doppelungen in Lasker-Schülers Werk die Namen Zwi Ben Jehuda, Amram und den Titel des Exildramas IchundIch (1941), siehe Kapitel V. Sie lassen sich mit dem Topos der doppelten Auserwählung als Jüdin und Dichterin verbinden, den LaskerSchüler mehrfach reflektiert. 304 KA 4.1, S. 412. 305 Vgl. hier Almuth Hammers Interpretation des Schlussgedichts im Wunderrabbiner, für das sie ebenfalls die Konzeption eines neuen Bundes zeigen kann. Almuth Hammer: Erwählung erinnern, S. 183–185. 306 Vgl. hierzu die Postkarte an S. J. Agnon vom 22. Juni 1933, die zur Bekräftigung des Wunsches, Palästina zu besuchen, auf die Moses-Erzählung referiert: „Ich komme im September und wenn ich durch das rote Meer schreiten soll.“ (KA 9, 26).
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ßen, sich entfalten – den Herrn zu erkennen! 40 Jahre führte der Prophet seine Scharen, sanftmütige und sich aufbäumende Herden, Zeit für ihre Gotteserkenntnis zu gewinnen, auf Umwegen durch die Wüste ins Gelobte Land. (85)
Poetologisch wird dem an rabbinische Traditionen angelehnten Kommentarverfahren und der Technik der Überblendung von Räumen und Zeitebenen307 als dichterische Legitimation die Kategorie der unabgeschlossenen und genuin schöpferischen Offenbarung an die Seite gestellt.308 Sie ist an ein weites (bzw. modernes) Verständnis der mündlichen Tora anschließbar, das durch die Übertragung des Modus prophetischer Offenbarung auf die Position der Dichter/ innen erweitert wird.309 Der im Hebräerland formulierten Wertschätzung für die Rabbiner verschiedener Nominationen und die Verweise auf die rabbinische und die kabbalistische Tradition310 wird Lasker-Schülers eigene Auslegung und ihr Buch als gleichwertig an die Seite gestellt. So lässt Lasker-Schüler die Talmudschüler des Jerusalemer „Großrabbiner Kook“ (20), mit denen die Dichterin das Alter jhwhs diskutiert, die Dichterin bitten, „ihnen eine meiner mir liebsten hebräischen Balladen vorzutragen. An Gott“ (17 f.). Das Gedicht wird als gleichwertig zur rabbinischen Auslegung, wenn auch in einem anderen ‚Medium‘ oder Modus behandelt.311 Ähnlich aggadisch angelegt ist die märchenartige Erzählung über „eine Hirtin im Volke Israel, die, wenn sie nicht die Lämmer hütete, Verse dichtete an den Herrn.“ (48) Anlässlich einer Schabbateinladung bei dem neuhebräischen Dichter S. J. Agnon gerät die Dichterin in einen Disput mit einem „Talmudist[en]“ (49) („[d]er schüchterne Talmudmönch“, 47; „der Talmude“, 48; „den Mönch“, 307 Vgl. Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Berlin 1982, der eine „ahistorische Denkweise“ (45) für die rabbinischen Schriften festgestellt hat: „Im Gegensatz zu den Verfassern der Bibel scheinen die Rabbiner mit der Zeit zu spielen, als wäre sie ein Akkordeon, das sich nach Belieben auseinander- und zusammenziehen lässt“, so dass „jedes Zeitalter mit jedem in Dialog treten kann.“ (30) 308 Vgl. Gershom Scholem: Offenbarung und Tradition, S. 189, 192. 309 Reuven Shoham zeigt, dass sich die Erwartung einer neuen Prophetie auf dem Weg zum messianischen Zeitalter schon in den rabbinischen Schriften zeigen lässt. Reuven Shoham: Poetry and Prophecy, S. 13–20. 310 So u.a.: „Balschem[ ]“ (32), „Mischra“ für Mischna (83) und zur Kabbala (22, 93, 110), „Simeon Ben Jochays“ (23) und der Sohar (93, 110). 311 Die Passage erinnert an Theodor Herzls Beschreibung eines Schabbatgottesdienstes im neuerbauten Tempel in Altneuland, bei dem dem Protagonisten Friedrich statt der traditionellen Liturgie einige Zeilen aus Heinrich Heines Gedicht „Prinzessin Sabbat“ aus den Hebräischen Melodien einfallen und in ähnlicher Weise in die Texte der Tradition eingefügt werden. Theodor Herzl: Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen. Altneuland/Der Judenstaat. Hrsg. v. Julius H. Schoeps. Bodenheim 1985, S. 164 f.
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48), der künstlerische Verfahren z.B. im Vortrag des Schma-Gebets ablehnt. Strukturell wird ein klassischer ‚rabbinischer‘ Disput („de[r] religiöse[ ] Wortwechsel“, 47) inszeniert, bei dem die Dichterin das Jüdischsein „nach [der] eigenen, eigenen Flamme“312 oder „Art“ (47) betont. „Ich erlaube mir, mich wiederum im Gleichnis zu verteidigen“ (48): „Es war einmal eine Hirtin im Volke Israel, die, wenn die nicht die Lämmer hütete, Verse dichtete an den Herrn. Eines Morgens dürstete sie sehr und sie neigte sich tief über einen Brunnenrand, um zu trinken. Als über dem Quell ein Tropfen des Wassers der unzähligen Tropfen emporstieß, in dem sich die ganze Schöpfung widerspiegelte, der Schöpfer Selbst. Und die Hirtin ging eine Schale zu suchen, die unaussprechliche Kostbarkeit zu bergen; aber sie fand nicht eine einzige […]. Da spann sie aus den roten Fäden ihres durchsichtigen klaren Herzens einen Kelch, kristallen im Klang und von holder Dunkelheit seiner Darreichung, und legte die bebende Ewigkeit, verwahrt in einem winzigen Tropfen, den Demant der Gebete, das ‚Schmah‘ – zwischen den gesponnenen Wänden ihres gottgeopferten Herzens.“ (48 f.)313
Mit dem Motiv des Kelches referiert Lasker-Schüler auf das Schlussgedicht ihrer Wunderrabbiner-Erzählung und auf Ch. N. Bialiks essayistische Überlegungen zu einer modernen jüdischen Literatur als Nachfolge der Aggada. Sabine Graf deutet den Disput als Gegensatz zwischen einer narrativen und einer religiösen Tradition,314 für die aggadische Erzählweise ist eine solche Trennung aber nicht gegeben. Vielmehr geht es hier in kulturzionistischer Konnotation um die u.a. von Martin Buber und Achad Haam formulierte Konfrontation zwischen Gesetztestreue des traditionellen Judentums und einer freieren aggadischen, dichterischen, an prophetische Offenbarung anknüpfenden Tradition. Der Rahmen der Erzählung, ein Schabbatabend im Hause des Dichters S. J. Agnon, ist an sich religiös konnotiert, denn zuvor wurden die traditionellen Schabbateingangsbrachot, wie die spezielle Segnung von Brot und Wein (Kiddusch), vorgenommen: „Er [jhwh] hört ja auch so gerne, wenn am Freitagabend die Kleinsten ihrer Eltern zu ihm die Gebete sprechen. Aus ihren rührenden, unschuldigen Händen empfängt der liebe ‚große‘ Adoneu bewegt seine ihn preisenden Psalmen.“ (47) Gleichzeitig wird der Begriff „psalmodier[en]“ (47) in der Beschreibung der Szene sowohl für die traditionellen Brachot als auch für
312 Hier fällt erneut die doppelte Struktur auf, die auf den Titel des Exildramas IchundIch vorausweist. 313 Eine ausführliche Interpretation u.a. der kabbalistischen Bezüge kann hier nicht geleistet werden. 314 Vgl. Sabine Graf: Poetik des Transfers, S. 152.
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die Gedichte des „Prophetendichters“ Peter Hille (49) über Gott verwendet, die als „Psalmodien“ (49) bezeichnet werden.315 Die poetologisch gewendeten Kategorien der Heiligung und der dichterischen Offenbarung in prophetischer Tradition werden mit dem weiterhin relevanten intertextuellen und an die rabbinische Kommentartradition angelehnten avantgardistischen Schreibverfahren verbunden. Während das rabbinische Schreiben auf der Kanonisierung des Ursprungstextes (der Tora) und dessen aktualisierender Kommentierung im Modell der mündlichen Tora basiert, wird mit der Kategorie der Offenbarung eine den Protagonist/innen des Tanach bis zu den Prophet/ innen vorbehaltene Fähigkeit auf die Position der Dichter/in übertragen. Zum Kommentierungsverfahren tritt ein Modell hinzu, nach dem das Zeitalter der Offenbarung nicht als abgeschlossen gilt, vielmehr ist es möglich, weitere Offenbarungen zu empfangen und niederzuschreiben. Hier sind Parallelen zur Übernahme des prophetischen Modells durch moderne und avantgardistische Autor/innen zu beobachten.316 Diese enorme poetische Lizenz bindet Lasker-Schüler an ein kabbalistisches Modell der schöpferischen Zusammenarbeit der Juden und Jüdinnen mit jhwh zur Vollendung des Schöpfungsprozesses zurück, das auch Martin Buber entfaltet hat. Die diesem poetologischen Anspruch inhärente Gefahr der Totalisierung der dichterischen oder menschlichen Position317 begegnet Lasker-Schüler durch das avantgardistische Verfahren des übergangslosen Aneinandergrenzens von erhabener, heiligender Sprache und Nonsensgedichten sowie dem Modus der Ironie, durch die die Überhebung in der Schwebe gehalten, reflektiert und ausgestellt wird. Entgegen Sabine Grafs an Benjamins Modell erarbeiteter These von der dichterischen Sprache als etwas Drittem zwischen profaner und sakraler Sprache318 sehe ich das Hebräerland als Entwurf einer dichterischen Sprache, die das Höchste und das Niedrigste unvermittelt umfasst. Es geht um Transgression,319 aber nicht um das Dazwischen oder den Transfer, sondern um das gleichzeitige Aushalten 315 Auch das Vorlesen aus der Pessach-„Hagâdah“ wird als „psalmodieren“ durch den „Rabbuni“ beschrieben (60). 316 „Zur Wiederkehr des Propheten als Künstler in der Moderne“ programmatisch und an den Beispielen von Stefan George, Rainer Maria Rilke, Georg Trakl und Franz Werfel: Gabriela Wacker: Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne. Berlin, Boston 2013. 317 Doerte Bischoff zeigt, dass Das Hebräerland als Text der Avantgarde „Totalität zugleich beansprucht wie verwirft“. Doerte Bischoff: Avantgarde und Exil. Else Lasker-Schülers Hebräerland, S. 106. 318 Sabine Graf: Poetik des Transfers, S. 155–160. 319 Vgl. Alfred Bodenheimer: Die auferlegte Heimat, S. 19.
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von zwei Extremen, die verbunden, aber nicht harmonisiert werden: „In Palästina gibt es keine Dämmerung.“ (31) So grenzen im Hebräerland häufig verschiedene Stillagen unmittelbar aneinander, gerade besonders pathetische Passagen, wie die Würdigung Herzls, werden, wie gezeigt, gleich im Anschluss ironisch gebrochen. Das Verfahren, Extreme unvermittelt aneinandergrenzen zu lassen, zeigt schon die Eingangspassage des ‚Prologs‘: Aus der Höhe Jerusalems stürzt der Geier und ordnet sein Gefieder, bevor er sich in einer Grube niederläßt. Feder auf Feder glättet er sorgfältig, als gehe es zum Festflug. Nie sah ich einen Menschen, der, im Begriff, sich auszuruhen, mit glorreicherer Geste sein Gewand betrachtete wie der edle Raubvogel. Ich erinnere mich gern der mächtigen Tiere, die uns so oft durch die Wüste, kühn und voll Unternehmungslust, auf der Fahrt im Omnibus eine Strecke Wegs nach Tel-Aviv begleiteten. Unwillkürlich legt die besorgte Mutter fester um ihr Schoßkindlein ihren Arm. (11)
Schon der erste Satz „Aus der Höhe Jerusalems stürzt der Geier und ordnet sein Gefieder, bevor er sich in der Grube niederläßt“ verbindet zwei extreme Positionen, die der Höhe und der Grube. Für einen Übergang zwischen beiden bleibt eigentlich kein Raum, denn der Geier stürzt „und ordnet sein Gefieder“, ein Zwischenzustand wird erst nach dieser Formulierung mit einem Komma abgetrennt. Da das Ordnen des Gefieders logisch argumentiert nicht im Flug oder Sturz geschehen kann, findet die Landung ohne erzählerischen Übergang in ‚einer‘ Bewegung statt. Die Eingangspassage führt die nach dem Buchtitel zu erwartende Referenz auf Jerusalem über den absoluten Kontrast zwischen den beiden Extremen Höhe und Grube ein und verbindet sie mit Tel-Aviv als dem Reiseziel der Ich-Erzählerin, das wenig später als „unten am Meer“ (11) lokalisiert wird. Lasker-Schüler arbeitet mit extremen Gegensätzen, die unmittelbar aneinandergrenzend auftreten und in der Bewegung eines (Raubvogel-)Sturzes symbolisiert werden. So lässt sie in Das Hebräerland mit der montageartigen Gestaltung heterogene Elemente wie hohe und niedrige Sprachstile, literarische und religiöse Traditionen und verschiedene Genres und Medien (Prosa, Lyrik und graphische Illustrationen) weitgehend unvermittelt aufeinander treffen.320 Neben der Einführung des avantgardistischen Verfahrens weist der erste Abschnitt auf die poetologische Metaebene. Schon im ersten Satz erscheint die 320 Alfred Bodenheimer hat dieses Verfahren mit dem Begriff der „Transgressivität“ gefasst. Alfred Bodenheimer: Die auferlegte Heimat, S. 3, 19–36. Graf spricht von Bodenheimer ausgehend von einer „Poetik des Transfers“, die sich durch Überschreitung und inszenierte Heterogenität auszeichne. Sabine Graf: Poetik des Transfers.
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Tätigkeit des Geiers,321 das Ordnen seines Gefieders, als künstlerische Tätigkeit, die durch die Formulierung „Feder auf Feder glättet er sorgfältig“ semantisch mit einem Schreib- oder auch Zeichenwerkzeug verbunden wird und somit als poetologische Referenz lesbar ist.322 Eine poetologische Deutung des Geiers wird wenige Seiten später durch eine Referenz auf die Erzählerin, „die Dichterin“ verstärkt, die im schöpferischen Prozess eine zum Sturzflug des Geiers umgekehrte Bewegung vollzieht: Nur der dichtende Mensch, der sich bis auf den Grund der Welt Versenkende, zu gleicher Zeit sich zum Himmel Emporrichtende, erfaßt, inspiriert von begnadeter Perspektive aus, Palästina, das Hebräerland! Und teilt mit dem Herrn die Verantwortung Seiner Lieblingsschöpfung. (15)
Doch auch der Geier schaut zu jhwh auf wie „der dichtende Mensch“: Darum blicken die Städte und Dörfer Palästinas noch immer lauschend zum Himmel auf, wie das die Vögel noch überall vor den Bächen der Erde zu tun pflegen und namentlich der herrliche Wildvogel vom Fels des Hebräerlandes: der Geier. (100)323
Im Kontext des Auserwählungstopos sowie der Abgrenzung von antisemitischen Diskursen über ‚das Jüdische‘ wird das Symbol des Geiers im Hebräerland als Chiffre für eine jüdische Dichtung lesbar. Dabei symbolisiert er nicht den Übergang zwischen den Extremen, sondern vielmehr deren unmittelbares Aneinandergrenzen und Nebeneinanderbestehen. Die Zeichnung, die als Emblem den Abschluss des Textes bildet, zeigt den poetologisch konnotierten Geier über den Schiffen „Esperia“ und „Gerusalemme“, die beide einen Davidstern am Mast tragen. Der Geier symbolisiert auch hier weniger den Übergang324 als die sich über die jeweiligen Extreme erhebende und zwischen ihnen stürzende Dichter/in-Position. 321 Zur Deutung des Geiers und der unterschiedlichen kulturgeschichtlichen Bezüge vgl. Sabine Graf: Poetik des Transfers, S. 99–113 und Hans Otto Horch: „Es rauscht der Flügel des Geiers“. Zu einem emblematischen Bild bei Else Lasker-Schüler. In: Texte und Lektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Aleida Assmann. Frankfurt/Main 1996, S. 29–46. 322 Auch eine Referenz auf die künstlerische Tätigkeit des Zeichnens ist denkbar, enthält Das Hebräerland doch mehrere Reproduktionen von graphischen Arbeiten Lasker-Schülers. 323 Hier klingt eine Referenz auf Lasker-Schülers Gedicht „Jakob“ an, in dem der als Büffel bezeichnete Jakob an einem Fluss kniend einer höheren Macht begegnet. Vgl. Kapitel IV.1.2–3. 324 Vgl. Sabine Graf, die hier eine Poetik des „Transfers“ symbolisiert sieht. Sabine Graf: Poetik des Transfers.
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Dass Lasker-Schüler einen Geier statt des Adlers der Psalmen und der Tora (u.a. Schemot/Exodus 19,4 und Dwarim/Deuteronomium 32,11),325 aber auch der Fahne des Deutschen Kaiserreiches326 wählt, betont das subversive Potenzial avantgardistischer, an der Erneuerung der jüdischen Tradition interessierter Literatur und verwandter Erneuerungsprojekte unter dem Schlagwort der Verwirklichung, die ihre eigenen Setzungen immer wieder überschreiten. Durch die Rückbindung der Literatur an das Leben und den Entwurf eines Aufbau- und Erneuerungsprojekts in einem Bund gleichgesinnter Vorreiter wird der Anspruch, sich selbst, das Land und die jüdische Tradition in schöpferischer Zusammenarbeit mit jhwh als berufender Autorität zu heiligen, betont. Der poetologische Entwurf ist dabei weder traditionell religiös noch eindeutig säkular als bloßes Sprechen in prophetischer rhetorischer Tradition zu verstehen, sondern erzeugt, wie Almuth Hammer für die Erzählung Der Wunderrabbiner von Barcelona gezeigt hat, einen „nichtstillzustellenden Verweiszusammenhang“ zwischen Religion und Literatur.327 Die dichterischen Modi der Offenbarung und der Heiligung repräsentieren im Hebräerland das schöpferische Moment in einem potenziell als unendlich imaginierten Aufbau- und Erneuerungsprozess: „Neu wird gekleidet vom Judenvolk von Jahrhundert zu Jahrhundert Palästina, das liebliche Land: im neuen Einband Gott gereicht.“ (14) Dabei entzieht sich die dichterische Inspiration einer wissenschaftlichen328 und einer psychoanalytischen Erklärung, denn: „Für das – Fach Offenbarung existiert kein Lehrstuhl. Aber auch kein Kanapee.“ (117)
325 Zur Übersetzung des hebräischen „nesher“ mit Adler in den Übertragungen der hebräischen Bibel vgl. Sabine Graf: Poetik des Transfers, S. 101 f. 326 Vgl. hierzu Stefanie Leuenberger: Schrift-Raum Jerusalem. Identitätsdiskurse im Werk deutschjüdischer Autoren. Köln 2007, S. 125 f. 327 Almuth Hammer: Erwählung erinnern, S. 206. 328 Vgl. den im Hebräerland geschilderten Disput mit dem Kabbalisten Scholem, der sich „an der Lehre der Kabbâla“ „bereichert“ (22) und sich „bemüht […] mit dem Gifte der Logik, mir die Legenden des heiligen Israels zu enthimmeln“ (ebd.), wobei auch die Versöhnung der Positionen erzählt wird (23).
V. Hebräische Avantgarde
Im Exil in Jerusalem schreibt Lasker-Schüler das Drama IchundIch (1941)1 als Bestandteil des nicht mehr vollendeten zweiten „Palästinabuchs“, das als Nachfolge des Hebräerlands geplant war.2 IchundIch ist ein avantgardistisches Metadrama. Nachdem im ersten Akt die titelgebende Ichspaltung der Figur der Dichterin in Faust/Goethe und Mephisto vollzogen wird, ist es als Spiel im Spiel konzipiert. Im zu probenden Theaterstück wollen die Größen des NSSystems, wie Göring und Goebbels, Mephistos Unterstützung für die nationalsozialistischen Weltherrschaftspläne erlangen. Da diese letztlich die Eroberung der Hölle umfassen, lässt Mephisto die aufmarschierenden „Nacisoldaten“ (214) samt Hitler in Lava untergehen. Er kapituliert vor Gott (225) und in einer umfassenden Versöhnung gelangen Faust, Mephisto und die im fünften Akt sterbende Dichterin in den Himmel. Das Stück endet mit deren Worten: „Gott ist ‚da‘!!“ (235) Das Drama IchundIch, in dem sich Lasker-Schüler historisch mit den Verbrechen des NS-Staates bis 1941, der Situation des Exils aus Deutschland, Fragen deutsch-jüdischer Identität und dem Exil in einer jüdisch-messianischen3 Dimension auseinandersetzt, weist zunächst keinen direkten inhaltlichen Bezug zum Kulturzionismus auf. Lasker-Schüler hat es jedoch in Palästina zweimal vor einem mit dem Projekt der jüdischen Erneuerung assoziierten deutschsprachigen Publikum gelesen, so am 20. Juli 1941 in Jerusalem und am 11. Juli 1943 in Haifa, sowie Verhandlungen über eine Aufführung mit Max Brod am avantgardistisch und kulturzionistisch assoziierten Habima-Theater in Tel-Aviv geführt. Darüber hinaus ruft der Titel in doppelter Weise Martin Bubers zentrale kulturzionistische Maxime auf: zum einen die aus den 1910er Jahren stammende Forderung, eine als jüdisch konstruierte Grundstruktur „innere Zweiheit“ zu einer
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KA 2, S. 183–235. Im Folgenden mit Seitenangabe hinter den Zitaten nachgewiesen. Die folgenden Ausführungen schließen an meinen Artikel zu IchundIch an: Birgit M. Körner: Else Lasker- Schüler: „IchundIch“ (1970). In: Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller. Hrsg. v. Bettina Bannasch u. Gerhild Rochus. Berlin, Boston 2013, S. 406–413. Das Drama entstand im Herbst/Winter 1940/41 im Jerusalemer Exil. Da Ernst Ginsberg, Werner Kraft und der Nachlassverwalter Manfred Sturmann die avantgardistische Form als Zeichen geistiger Zerrüttung ansahen, erschien der Text erst 1970 für wissenschaftliche Zwecke von Margarete Kupper ediert im Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft. Vgl.: Ebd., S. 407. So gehört zu den Zuschauern des ‚Spiel im Spiels‘ König David, dessen Anwesenheit auf die messianische Tradition verweist.
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„Einheit“ zu führen,4 zum anderen seine dialogphilosophischen Überlegungen in Ich und Du (1923). Darüber hinaus lässt sich weiterhin die Übertragung rabbinischer Schreibverfahren in avantgardistische Verfahren beobachten, die LaskerSchüler, wie in Kapitel IV gezeigt, im Kontext kulturzionistischer Bemühungen unternimmt. Mit dem zeitweiligen Arbeitstitel Tiberias für das zweite „Palästinabuch“ weist sie auf die dort zentral situierte rabbinische Tradition hin.5 Gesa Dane hat außerdem beschrieben, dass sich für die intertextuelle Machart des Dramas Bezüge auf rabbinische Schreibverfahren im Kontext jüdischer Erinnerungsdiskurse nachweisen lassen.6 Mit dem Titel IchundIch hebt Lasker-Schüler noch einmal die spezifische Ausrichtung ihrer Poetologie und ihres literarischen Werkes hervor. Zwar wird im Drama eine Integration von Differenz erzielt – Faust und Mephisto versöhnen sich, und Mephisto kehrt heim zu Gott –, aber in der Einheit bleibt eine Zweiheit erhalten. Mephisto fällt weiterhin durch störenden Unsinn auf und entfaltet sein subversives Potenzial als „Erzschelm!!!!“ (235), wird allerdings nun von Gott liebevoll betrachtet (235). Auch in der Versöhnung ist Differenz die zentrale und produktive Kategorie. Die Integration ist darüber hinaus programmatisch zuallererst im eigenen Ich zu erzielen und weniger in einem z.T. projizierten Du. So sind die Figuren in IchundIch eigenständig, als Teil einer Paarkonstruktion und in sich selbst gespalten gestaltet, so dass mehrfache Identifizierungen möglich sind.7 Das poetologische Modell ist nun explizit an Adam Katmon (190, 353) angelehnt, nach kabbalistischer Lehre der erste Mensch, der weibliche und männliche Anteile vereinte, und dem die „prinzliche Dichterin“ (230) nahesteht. Im Drama werden noch einmal essentialistische Vorstellungen von Heimat, Identität, Geschlecht, Kultur, Nation und Religion destabilisiert und unterschied4
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Vgl. hierzu Martin Bubers Ausführungen in der zweiten seiner Drei Reden über das Judentum „Das Judentum und die Menschheit“, in der er von einem „extremen Dualitätsbewusstsein im Judentum“ spricht (230) und sowohl die „Idee der inneren Zweiheit“ als auch „die Idee der Erlösung“ als „jüdische“ bezeichnet: „Das Streben nach Einheit ist es, was den Juden schöpferisch gemacht hat.“ (MBW 3, 227–238, hier 232) In Tiberias befinden sich u.a. die Gräber der großen Rabbiner der ersten bis dritten Generation n.d.Z., so von Rabbi Jochanan ben Sakkai, Rabbi Akiba und Rabbi Meir sowie von Maimonides und Rabbi Moses ben Maimon, genannt Rambam (1135/8–1204). Schon in den 1920er Jahren hatte sich Lasker-Schüler mit einer Lesung anlässlich der „PalästinaAufbau-Woche“, die von der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) in Berlin veranstaltet wurde, für „den Aufbau Tiberias in Palästina“ eingesetzt (an Rudolf Simolin, 24. Januar 1920, KA 7, S. 178): „Am 25. spreche ich umsonst für den Aufbau Palästinas. In Tiberias baut man mir einen ganz kleinen (Regierungsbaumeister Loos) Palast. Wirklich!“ (an Siegfried Caro, 15. Jan. 20, KA 7, S. 175f., hier S. 176). Gesa Dane: Die Dichterin als Rabbinerin. Geschichte und Erinnerung in Else LaskerSchülers IchundIch. In: Text und Kritik (April 1994), H. 122, S. 55–64, hier 62 f. Vgl. Birgit M. Körner: Else Lasker-Schüler IchundIch, S. 408.
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liche Traditionsbestände dehierarchisiert und übergangslos aneinander grenzend gezeigt und gleichzeitig in einer messianischen Dimension der Versöhnung integriert.8 So schließt sich in gewisser Weise ein Kreis, auch wenn die Figur der Dichterin auf Grund der historischen Bedingungen – die Entstehung des Dramas wird explizit an eine konkrete historische Exilsituation, Lasker-Schülers Vertreibung aus Berlin 1933, rückgebunden (185) – im Drama in der Verdoppelung zur „Vogelscheuche“ (228–234) oder im Exillyrikband Mein blaues Klavier (1943) in der Rolle der „Verscheuchten“ zurückbleibt und ihren poetologischen Prämissen die nationalsozialistische Ideologie der Unterwerfung und Vernichtung jeglicher Differenz gegenübersteht. Dies ist jedoch kein Scheitern des poetologischen Projekts, vielmehr führt Lasker-Schülers es in einer neuen Radikalität weiter.9 Die von Buber als „Grundbedeutung des Judentums für die Menschheit“ genannte Verkündigung einer „Welt der Einheit“ als Erlösung aus der „Urzweiheit“, „die im Leben der Einzelnen und im Leben der Gesamtheit verwirklicht werde will“,10 wird von Lasker-Schüler in eigener Weise produktiv gemacht, gerade indem ihr Entwurf die Gefahr der Totalisierung in einem solchen Konzept reflektiert und zu überwinden sucht.11 Die in der Literatur und in der zwischenmenschlichen Begegnung zu erreichende Synthese löst die dialektischen Kon stellationen nicht auf, sondern zeigt gerade deren Brüche und versöhnt sie in einer Vereinigung, die, wie am Beispiel Mephistos gezeigt, gleichzeitig die unhintergehbare Differenz erhält und respektiert. Die im Drama IchundIch zu beobachtende Betonung einer noch in der Versöhnung unhintergehbaren Differenz ist als das bestimmende Merkmal von Lasker-Schülers Poetologie zu betrachten, die hier als „Hebräische Avantgarde“ bezeichnet wurde. Sie ist auch der entscheidende Faktor von Lasker-Schülers Bezug auf den Kulturzionismus und dessen Projekt einer Erneuerung der jüdischen 8
Lasker-Schülers Vorgehen ist als Unterbrechung totalisierender Ursprungsinstanzen gedeutet worden. Vgl. Andrea Krauß: Zerbrechende Tradierung. Zu Kontexten des Schauspiels „Ichund Ich“ von Else Lasker-Schüler. Wien 2002. Vgl. ebenso Markus Hallensleben: Else LaskerSchüler. Avantgardismus und Kunstinszenierung. Tübingen, Basel 2000, S. 269: „Kritik des Totalitären“. 9 Hier wende ich mich gegen Di Rosas Sichtweise, Lasker-Schülers Poetologie scheitere im Exil, wobei Di Rosa ihre Einschätzung problematisch an das „Echo“ eines „unglücklichen Bewusstseins der jahrtausendealten conditio judaica“ anstatt an die historischen Bedingungen der nationalsozialistischen Verfolgung knüpft. Valentina Di Rosa: „Begraben sind die Bibeljahre längst“. Diaspora und Identitätssuche im poetischen Entwurf Else Lasker-Schülers. Paderborn 2006, S. 20. 10 Martin Buber: Das Judentum und die Menschheit. In: MBW 3, S. 227–238, hier S. 237 f. 11 Vgl. als weitere Signaturen einer solchen Zweiheit in der Einheit die Unterschrift des Prinzen von Theben als „Zwi Ben Jehuda“ aus Der Malik. Eine Kaisergeschichte oder die in Kapitel IV.2 gezeigte Doppelstruktur des Namens Amram im Wunderrabbiner von Barcelona.
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Tradition, dessen grundlegende Relevanz für Lasker-Schülers poetologischen Entwurf als selbstbewusste kreative Assoziation gleichzeitig mit einer produktiven und kritischen Distanz verbunden ist. Zunächst ist der Kulturzionismus durch seine Affinität zu den sich um 1900 entwickelnden historischen Avantgarden und durch sein Streben nach einer jüdischen Literatur und Kunst, die verwirklichend ein jüdisches Leben erneuern sollen, für Lasker-Schülers avantgardistische Poetologie interessant. Wie diese Untersuchung gezeigt hat, entwickelt Lasker-Schüler im Kontext der kulturzionistisch motivierten jüdischen Erneuerungsbewegung ein eigenes Projekt der Erneuerung der jüdischen Tradition im Medium der Literatur. Die Auseinandersetzung mit dem kulturzionistischen Diskurs bildet dabei eine zentrale Grundlinie von Lasker-Schülers poetologischen Entwürfen über die Spanne des Gesamtwerks, wobei sich zwei Phasen unterscheiden lassen. Im Frühwerk bezieht sich Lasker-Schüler auf die beiden zentralen Forderungen der „Jüdischen Renaissance“, die Tradition neu zu schreiben und eine schöpferische jüdische Identität zu entwickeln (Kapitel III). In diesem Rahmen erarbeitet sie Modelle einer ‚Identität‘ als jüdische Dichterin an der Grenze von Literatur und Leben. Wie am Peter Hille-Buch als Metaerzählung über Dichtung gezeigt, entwickelt sie ein avantgardistisches Verfahren, durch das der poetologische Gesamtentwurf systematisch mit den in den einzelnen Texten gestalteten Entwürfen und inhaltlichen oder motivischen Aspekten verbunden wird. Die Position der jüdischen Dichterin markiert Lasker-Schüler von Anfang an als eine Position der Differenz gegenüber einem jüdischen Volk, wie sie im Gedicht „Mein Volk“ mit Bezug auf die prophetische rhetorische Tradition gestaltet ist. Darüber hinaus entwickelt Lasker-Schüler ihre poetische Legitimation entgegen den kulturzionistischen Mustern der „Söhne“ und „Männer des Geistes“ aus einer weiblichen jüdischen Genealogie und in der Nachfolge Heinrich Heines, verbindet also weibliche Traditionselemente mit männlichen (bes. König David). Sie entwirft mit dem Verfahren der Orientalisierung selbstbewusst erotische, jüdisch schöpferische und weibliche bis androgyne Dichter/innen-Modelle (u.a. „‚Täubchen, das in seinem eigenen Blute schwimmt‘“). Das zu beobachtende Schreibverfahren ist das einer überdeterminierten Intertextualität, das tanachische, rabbinische, mythische und literarische Traditionsbestände kombiniert, aktualisierend zitiert, umdeutet und überschreitet. Immer wieder lotet Lasker-Schüler die Ambivalenz von Erwählung aus, die sie als doppelte (als Jüdin und als Dichterin) darstellt. Ihre Texte erweisen sich als widerständig gegenüber vereindeutigenden Tendenzen im kulturzionistischen Diskurs. So werden Identitätskategorien wie Nation, Religion und Geschlecht sowie Heimatkonzepte einer Vereindeutigung entzogen und systematisch das ‚Andere‘ im vom Kulturzionismus konstruierten jüdischen ‚Wir‘ betont und Bezüge zum ‚ganz Anderen‘, Nichtjüdischen hergestellt. Wobei
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der Kulturzionismus selbst, gerade im binationalen Entwurf für einen jüdischen Staat in Palästina ab den 1920er Jahren verstärkt die Position des ‚Anderen‘ berücksichtigt (Buber Ich und Du, 1923). Die Betonung einer unhintergehbaren Differenz wird nicht zuletzt in Lasker-Schülers Texten poetologisch umgesetzt, indem sie durch die überdeterminierte Intertextualität jedem vereindeutigenden Interpretationsakt systematischen Widerstand entgegensetzen.12 In der zweiten Phase von Lasker-Schülers hier rekonstruierter Auseinandersetzung mit dem deutschsprachigen Kulturzionismus ab 1912 und verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg treten die zuvor entwickelten Ich-Figurationen der Prinzessin Tino von Bagdad und des Prinzen Abigail Jussuf von Theben in den Hintergrund. Sie weichen Dichterinnen-Figuren, mit denen strukturell die Übernahme und die Überschreitung rabbinischer hermeneutischer Verfahren in avantgardistischer Literatur unternommen werden. Lasker-Schüler entwickelt im Kontext kulturzionistischer Bemühungen ein in der Nachfolge von Heinrich Heine stehendes poetologisches Projekt, die rabbinische Kommentar- und Auslegungstradition weiterzuführen (Kapitel IV). Dabei nimmt sie deren hermeneutische Prinzipien sowie erinnerungskulturelle, konzeptuell pluralistische, ethische und utopisch-messianische Aspekte auf. Das Konzept, die mündliche Tradition im Medium moderner und avantgardistischer Literatur weiterzuschreiben, ist anschließbar an kulturzionistische poetologische Entwürfe von Achad Haam, Chaim Nachman Bialik und Martin Buber. Durch die Kategorie der dichterischen Offenbarung betont Lasker-Schüler in der Tradition der Figuren des Tanach und der Prophet/innen ein genuin schöpferisches Moment. Die rabbinische Tradition wird zum einen für avantgardistische Literatur und intertextuelle und den Intertext aktualisierende Verfahren fruchtbar gemacht. Gleichzeitig wird sie durch die Übernahme des prophetischen Dichtermodells und kabbalistischer Vorstellungen von einer individuell auserwählten schöpferischen Zusammenarbeit mit jhwh ergänzt. Der Begriff des ‚Hebräischen‘ gewinnt in diesem Projekt eine besondere Konnotation, da er zum einen Heines zentralen poetologischen Entwurf einer modernen jüdischen Dichtung in den Hebräischen Melodien aktualisierend zitiert und zum anderen eine avantgardistische, überschreitende, extreme Positionen zugleich umfassende, schöpferische, heilige und heiligende Qualität repräsentiert, die von Lasker-Schüler auf die deutschsprachige jüdische Literatur übertragen wird. ‚Hebräisch‘ bezeichnet bei Lasker-Schüler eine genuin avantgardistische, kämpferische, ‚urjüdische‘ und gleichzeitig zwischenmenschlich liebende, ethische, versöhnende, schöpferisch an jhwh zurückgebundene Haltung. In diesem Begriff 12 Vgl. Krauß’ Beschreibung des poetologischen Vorgehens in IchundIch. Andrea Krauß: Zerbrechende Tradierung, S. 11 f.
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wird Lasker-Schülers Version des kulturzionistischen Erneuerungsprojekts in Literatur, Leben und Aufbauarbeit verdichtet zum Ausdruck gebracht. Mit einem antizipatorischen Literaturmodell kann Dichtung eine heiligende Funktion übernehmen, die bei Lasker-Schüler zugleich durch Ironie in der Schwebe gehalten wird, und gerade dadurch beabsichtigt, (messianische) Erlösung im Text vorauszunehmen. Lasker-Schülers Texte und ihre poetologischen Entwürfe streben nach antizipatorischer ‚Verwirklichung‘ in Literatur und Leben und stehen entsprechenden kulturzionistischen Texten, poetologischen Modellen und Entwürfen nahe, zielen aber deutlicher als diese vor allem auf eine zwischenmenschliche und literarische Dimension. Die Kategorie der Verwirklichung in Leben und Werk tritt den Lesenden als Text entgegen, in den systematisch ‚Leben‘ eingewoben ist, das wiederum nicht ohne Mythisierung und Poetisierung erfassbar ist. Das Modell ist potenziell demokratisch und an keine menschliche Autorität gebunden, jeder Jude und jede Jüdin kann jhwh so gegenüber treten und ist zu diesem Dialog aufgerufen, gleichzeitig ist es ‚aristokratisch‘ konnotiert und markiert eine Position der Auserwählung oder Berufung als Dichter/in oder Künstler/in innerhalb der Auserwählung als Jude oder Jüdin.13 Lasker-Schülers Poetologie der „Hebräischen Avantgarde“ stellt sich der komplexen Aufgabe, Tradition weiterzuführen und zu aktualisieren und sie gleichzeitig neu zu schreiben. Mit ihrem überdeterminiert intertextuellen Verfahren kombiniert Lasker-Schüler Traditionsbestände, zerstört Tradition aber nicht, sondern versucht vielmehr eine ‚wilde‘, ‚ursprüngliche‘, verschüttete Qualität zu ‚reaktivieren‘. Hier zeigt sich, dass für die (deutsch-)jüdische Avantgarde die Frage nach der Zerstörung der Tradition von Anfang an anders zu stellen ist, als es die historischen Avantgarden programmatisch behaupten, da das eigene Selbstverständnis und der Erhalt der Tradition, ebenso wie Schrift und Identitätsentwurf, existentiell verbunden sind.14 Lasker-Schüler betont in ihrem Entwurf, dass beide Aspekte, Zerstörung und Erhalt der Tradition, im aktualisierenden Neuschreiben einen antizipatorischen bis zur messianischen Erlösung fortzusetzenden Prozess der 13 Vgl. u.a. Lasker-Schülers Essay „Das Gebet“: „Wie könnten sonst die von der Dichtung vergewaltigten Auserwählten die unmenschliche Verantwortung der Weisheit auf sich nehmen? Der Prophet, des Dichters ältester Bruder, erbte die Zucht des Gewissens direkt vom Schöpfer. Die Zucht des Gewissens aber adelt auch den Dichter […]. Die Dichtung ist eine Gunst, die der Dichter auf sich nimmt. Und selbst das mit Gott hadernde Gedicht kniet vor Ihm. […] Aber dieses Wunder der Erleuchtung [ein ‚leuchtendes Liebeswort‘ zu finden, Anm. B.M.K.] weht über jedes Menschenherz […].“ (KA 3.1, S. 210–216, hier 211 f.) 14 Vgl. hierzu Alfred Bodenheimers These, dass die ungebrochene Tradierung der jüdischen Tradition gerade auf der Gebrochenheit ihrer Inhalte basiere. Alfred Bodenheimer: Ungebrochen gebrochen. Über jüdische Narrative und Traditionsbildung. Göttingen 2012.
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Erneuerung und des Verfalls darstellen. An dieser Stelle wäre es lohnend, ihren poetologischen Entwurf systematisch mit den Entwürfen anderer jüdischer Avantgarde-Autor/innen zu vergleichen, um das Profil einer an die jüdische Tradition gebundenen Avantgarde genauer zu konturieren. Gleiches gilt für Fragen zum Säkularisierungsgrad der entsprechenden Texte. Wie am Beispiel Bialiks gezeigt, können sie im Selbstverständnis vieler Autor/ innen als Teil der mündlichen Tora oder als prophetisch konnotierte dichterische Offenbarung zur Offenbarung am Berg Sinai und zu den heiligen Schriften gezählt werden. So oszilliert schon der prominent genannte Begriff des Hebräischen als Sprache oder Kategorie für Literatur zwischen religiös und säkular. Somit ist hier kein unreflektiertes Selbstverständnis als Prophet/in gemeint, sondern ein reflektiertes Sprechen im der Tradition entlehnten Modus prophetischer Offenbarung. Die in der Forschung lange vertretene Säkularisierungs- und Profanisierungsthese erklärt die zu untersuchenden Phänomene zu einseitig. Vielmehr ist statt eines fortschreitenden Säkularisierungsprozesses in der Moderne ein komplexeres Verhältnis zu vermuten, wie neuere Forschungsansätze zeigen.15 Was unter den Bedingungen der Moderne religiös zu nennen ist, müsste im Einzelnen für jeden Text und poetologischen Entwurf diskutiert werden. Die Chiffre für Lasker-Schülers utopisch und antizipatorisch messianisch konnotierten Entwurf einer Hebräischen Avantgarde ist ‚Jerusalem‘. Jerusalem wird dabei immer mehrdimensional gedacht, als vergangen, gegenwärtig und zukünftig, als Zielpunkt eines imaginativen und zu verwirklichenden Erneuerungsprozesses und als zwischenmenschliche Qualität. Als territorialer und literarisch tradierter ‚Ort‘ ist es gleichzeitig mit einer diasporischen jüdischen Literaturtradition verbunden. Die Ausrichtung auf Jerusalem verbindet Lasker-Schülers Projekt mit dem Kulturzionismus und betont gleichzeitig vor allem eine poetische, zwischenmenschliche und schöpferische Dimension. Lasker-Schülers Konzeption einer in der Literatur und im Leben auf Jerusalem ausgerichteten avantgardistischen Poetologie, die noch die im Garten eines Augenarztes in Jerusalem sterbende Figur der Dichterin in IchundIch betrifft,16 15 Vgl. hierzu Daniel Weidner, der argumentiert, dass um 1800 „durch den Epochenbruch alle kulturellen Register verschoben werden“, so dass „nicht ‚religiöse‘ Ideen oder Inhalte in das säkulare Denken übernommen [werden], sondern ‚Religion‘ selbst […] im Lichte dieses Denkens neu gedacht [wird]“. Daniel Weidner (Hg.): Urpoesie und Morgenland. Johann Gottfried Herders „Vom Geist der Erbräischen Poesie“. Berlin 2008, S. 11 f. 16 Als Vorbild für den Ort des letzten Aktes diente der noch heute in Jerusalem bestehende Garten des Augenarztes Dr. Abraham Albert Ticho und der bildenden Künstlerin Anna Ticho, auf die im Text verwiesen wird. Vgl. auch KA 2, 359. Die Figur der Dichterin stirbt, wobei sie immer kleiner zu werden scheint, nach den Worten König Davids: „Sie malte einen goldenen Spann wie einst mein armer Absalom sich übers dunkle Haar. – – / Mr. Swet: Sie stirbt ….. / Die Vogelscheuche: Und ohn Geistlichkeit, Raf, Scheik, Pastor
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schließt in einer Zirkelstruktur an ihr 1901 in der kulturzionistischen Zeitschrift Ost und West veröffentlichtes Gedicht „Sulamith“ an, das Lasker-Schüler erneut in Das Hebräerland (1937) aufgenommen hat. In „Sulamith“ wird der doppelte ‚Kern‘ des poetologischen Projekts einer „Hebräischen Avantgarde“, die Ambivalenz liebender bzw. schöpferischer Erwählung zwischen den avantgardistisch konnotierten Polen von Destruktion und Erlösung (im Sinne von Versöhnung) in der Chiffre „Jerusalem[ ]“ vereint: Sulamith O, ich lernte an Deinem Munde Zu viel der Seligkeiten kennen! Schon fühl’ ich die Lippen Gabriels Auf meinem Herzen brennen, Und die Nachtwolke trinkt Meinen tiefen Cederntraum. O, wie Dein Leben mir winkt, Und ich vergehe Mit blühendem Herzeleid! Und verwehe im Weltraum, In Zeit, In Ewigkeit, Und meine Seele verglüht in den Abendfarben Jerusalems.17
– / Mr. Swet: Tor ---“ (KA 2, 234). Die letzten Worte der Vogelscheuche verweisen noch einmal auf Heine. 17 KA 1.1, 48.
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VII. Personenregister
Else Lasker-Schüler wurde aufgrund der Häufigkeit der Einträge nicht ins Register aufgenommen. Abeles, Otto 81 Achad Haam (eigentlich Ascher Ginsberg) 18, 21–22, 54–74, 79, 92–94, 97, 109, 112, 124, 133, 143–147, 153, 182, 202, 209, 217–218, 245, 265, 277, 286–288, 292, 295, 297– 298, 302, 317, 326 Adorno, Theodor W. 267 Agnon, Esther (geb. Marx) 114 Agnon, Samuel Joseph 114, 315–317 Akiba ben Josef, Rabbi 226, 323 Asenijeff, Elsa (eigentlich Elsa Maria Packeny) 189 Baal Schem Tov, Rabbi Israel ben Elieser 244–245 Bachtin, Michail Michailowitsch 41 Badt-Strauss, Bertha (Pseudonym Bath Hillel) 126 Bambus, Elise 115 Bambus, Willy 115 Barber, Max 82, 84–85, 96, 181 Bat Miriam, Jocheved 307 Bauer, Felice 15 Ben-Ami, Mordechai 106–107 Ben-Chorin, Schalom 114, 312 Ben Israel 156 Ben Jehuda, Elieser 36 Benjamin, Walter 25, 36, 110, 150, 217, 221, 233, 246, 318 Benn, Gottfried 281–282 Berdyczewski, Micha Josef 217 Bergmann, Else (geb. Fanta) 259
Bergmann, Hugo Samuel 71, 110, 112, 114–115, 259, 301, 307, 311–313 Bialik, Chaim Nachman 9, 36, 49, 72, 93, 124, 202, 217–221, 231, 246, 253, 257, 261–276, 283–287, 293, 295, 310, 317, 326, 328 Birnbaum, Nathan (Pseudonym Mathias Acher) 20, 50–51, 56, 63–64, 75, 77, 124, 129, 156, 202 Bithell, Jethro 262 Blumenfeld, Kurt 114–115 Boruchowisch, J.C. 80 Botticelli, Sandro 144 Brahm, Otto 189 Brecht, Bertolt 310 Brod, Max 110, 114, 322 Buber, Eva 79 Buber, Martin Mordechai 7–8, 14, 21–28, 33–39, 43–46, 49–52, 55–59, 63–79, 84–104, 108–112, 114–115, 119–120, 123–125, 133, 141, 143, 145, 146, 150, 156–158, 161–163, 166, 168, 171, 175, 189–196, 202– 203, 212, 216–219, 221, 223–227, 234, 240, 244–249, 255–256, 262, 277–278, 281, 284, 286–287, 291, 295, 298–301, 310–312, 314, 317– 318, 322–324, 326 Buber, Paula (geb. Winkler) 78–79, 88 Cassirer, Paul 202, 253, 261, 275 Celan, Paul 267 Cohn, Helena Hanna 126
353
Personenregister
Dehmel, Richard 79 Diederichs, Eugen 196 Dilthey, Wilhelm 101, 110 Druyanov, Alter 62 Döblin, Alfred 116, 127, 310 Dolorosa (eigentlich Marie Eichhorn) 134 Dubnow, Simon 62, 265 Dürer, Alfred 144 Ehrenpreis, Dr. Marcus 52 Ehrenstein, Albert 260, 262 Eliasberg, Ahron 126 Eliot, George 126 Esra, Moses Ibn 202 Farbstein, David 114 Feist-Wollheim, Hans 260 Feiwel, Berthold 21, 27, 58, 63, 75, 77– 80, 82, 96, 109, 123–128, 133–134, 156, 161, 166–168, 171, 181–182, 195, 227, 264, 266, 312 Feuchtwanger, Leon 310 Ficker, Ludwig von 29 Fichte, Johann Gottlieb 63, 65 Fischer, Samuel 310 Fleischer, Max 81–82 Freud, Sigmund 188, 251–252 Friedländer, Martin 158 Frisch, Efraim 158, 166 Frug, Simon 202 Gabirol, Solomon Ibn 202 Genette, Gérard 42, 128 George, Stefan 174, 318 Ginsberg, Ernst 322 Goebbels, Joseph 322 Göring, Hermann Wilhelm 322 Goethe, Johann Wolfgang von 204, 224, 322 Goldmann, Nachum 114 Goldstein, Moritz 23, 37, 69–70
Goll, Claire 285 Gorki, Maxim 263, 265 Gottlieb, Moritz 90 Greenberg, Uri Zwi 37, 114, 223 Gronemann, Sammy 76–77, 99, 105, 310 Gubler, Max 260 Halevi, Jehuda ben Samuel 129, 149, 193–195, 202–203, 218, 223 Hart, Heinrich 74 Hart, Julius 74, 172, 189 Hauptmann, Gerhard 189 Heine, Heinrich 8, 29–31, 35, 37, 39, 49, 70, 84, 93, 104–105, 116–119, 122, 135, 145, 149–150, 182, 189, 191–199, 202–203, 206, 208–209, 214–225, 231, 240, 246, 253–254, 257, 259–260, 266–267, 283, 289, 302, 308, 316, 325–326, 329 Herder, Johann Gottfried 18, 61, 64– 65, 144 Herzl, Theodor 13, 20–22, 50–55, 57– 60, 62–64, 66–67, 71, 75–76, 79, 87, 89, 101, 106–107, 112, 124, 145, 180, 189, 192, 201–202, 245, 280– 281, 301–304, 316, 319 Hess, Moses 22, 58 Heym, Stefan 12, 156 Hille, Peter 8, 29, 30–31, 127, 155, 172– 190, 194–201, 203–209, 318 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 145 Holitscher, Arthur 114, 310, 312 Homer 37, 194, 218, 223, 248 Huelsenbeck, Richard 85 Jacob-Loewenson, Alice 37, 223 Jung, Carl Gustav 61 Juncker, Axel 129–130
354 Kafka, Franz 7, 13–20, 29, 31, 36, 150, 221 Kahn, Dr. Leopold 53 Kandinsky, Wassily 243 Kaufmann, Oskar 310 Kaznelson, Siegmund 126 Kerr, Alfred 310 Kestenberg, Leo 114 Kipling, Rudyard 236 Kleinberg, Max 84 Kleist, Heinrich von 210 Klinger, Friedrich Maximilian 169 Koch, Georg 260 Kohn, Hans 104, 158, 193 Kook, Rabbi Abraham Issak 316 Kraft, Werner 114, 322 Krakauer, Leopold 114, 307, 311 Kraus, Karl 79, 130, 217 Krushewan, Pawel Alexandrowitsch 263 Lagerlöf, Selma 79 Lampl, Fritz 262 Landauer, Gustav 99, 142, 175, 216 Landauer, Karl 106 Lasker-Schüler, Paul 190 Leib, Glikl bas Judah 126 Leppin, Paul 114 Lévinas, Emmanuel 185 Lilien, Ephraim Moses 27, 50, 54, 63, 73–75, 84, 90, 114, 123, 127–128, 130–134, 181, 227, 264, 286 Lindner, Anton 82, 96, 158, 166 Lissauer, Ernst 35 Loewe, Heinrich 50, 74, 76, 104–106, 114, 129 Loewensohn, Erwin 114, 261, 300, 312 Loos, Adolf 79 Lublinski, Samuel 29, 30, 114, 120, 123, 174, 178
Personenregister
Magnes, Judah Leon 114 Maimon, Rabbi Moses ben (Rambam) 323 Maimonides 72, 323 Majakovskij, Wladimir 151 Maltzahn, Hans Adalbert von 300 Mann, Heinrich 127 Mann, Thomas 127 Mannheimer, Georg 268 Marc, Franz 215, 234, 241–243, 249 Marc, Maria (geb. Bertha Pauline Maria Franck) 241–242 Marx, Gertrud 126 Marinetti, Filippo Tommaso 82, 86, 151 May, Karl 235–236 Meir, Rabbi 323 Mendelssohn, Moses 221 Meyer, Dr. Andreas 300 Michelangelo 144 Münchhausen, Börries von 73–75, 114, 128, 130–132, 224, 227 Musil, Robert 67, 108 Nietzsche, Friedrich 63, 65–66, 75, 96, 98, 173, 186, 196–197, 207, 219 Nordau, Max 21, 52, 55–56, 63–65, 192, 234, 240, 280 Nossig, Alfred 90, 156 Pagis, Dan 227 Perez, Jizchok Leib 124, 202 Pförtner, Paul 37, 223 Philo (= Philon von Alexandria) 292 Pick, Otto 18 Pinsker, Leon 55, 60 Pinsky, Schamai 114, 259 Pinthus, Kurt 107, 140
355
Personenregister
Raas, Emil 295 Rafael, Leo 80 Rapin, Dr. Esther Else 126 Raschi (Rabbi Schlomo ben Jizchak) 201 Reines, Rabbiner Isaak Jakob 52 Reinhardt, Max 310 Rembrandt 144 Rilke, Rainer Maria 127, 318 Roosevelt, Franklin Delano 263 Rosenfeld, Morris 124, 127, 158, 202 Rosenfeld-Berdyczew, Josef 53 Rosenzweig, Franz 11, 38, 68–69, 129, 149, 202, 284, 290 Ruppin, Arthur 114–115, 301 Sakkai, Rabbi Jochanan ben 323 Sappho 173, 206 Schapira, Zwi Hermann 66 Schüler, Aron 255 Saglowitz, Benjamin 114 Schatz, Boris 131 Schlegel, Friedrich 6, 28, 91 Schocken, Salman 114, 149 Schönberg, Arnold 79 Scholem, Gershom 36, 71, 76, 93, 110, 114, 129, 132, 203, 218–219, 224, 226, 298, 299, 301, 302, 307, 313, 315, 321 Schwadron, Abraham 268 Seelig, Carl 259, 260 Simmel, Georg 65 Simon, Ernst 71, 114, 253, 293, 301, 312 Smilansky, Mosche 258 Sokolow, Nachum ben Josef Samuel 53, 55, 89, 303 Stenzel, Abraham 307 Strauss, Johann Baptist 169 Strauß, Ludwig 30, 79, 110, 198, 225, 265
Struck, Hermann 90, 114, 307 Sturmann, Manfred 322 Susman, Margarete 36, 110, 126 Swet, Gershon 114, 328–329 Sykrin, Nachman 263 Ticho, Dr. Abraham Albert 114, 328 Ticho, Anna 114, 328 Toller, Ernst 312 Tolstoi, Leo 263 Trakl, Georg 29, 318 Trakl, Margarethe 29 Trietsch, Davis 21, 74, 89, 104, 114, 119, 123, 133, 158, 193, 202 Tschlenow, Echiel Wolfowitsch 53 Turowsky, Dr. 300 Ury, Leo Lesser 90, 144 Wagner, Richard 14, 244 Walden, Herwarth (eigentlich Georg Lewin) 127, 130, 174, 178–179, 214–215, 242 Wassermann, Jakob 104, 158, 193 Wassermann, Oscar 114–115 Weizmann, Chaim 21, 53, 57, 60, 63, 66, 88–89, 114–115, 133, 258, 262, 312 Weltsch, Robert 71, 114 Werfel, Franz 310, 318 Wied, Pauline Fürstin zu 79 Wiener, Marta 127 Wilhelm, Kurt 114 Winkler, Paula (später Paula Buber) 78–79, 88 Winz, Leo 55, 119, 123 Wolf-Krakauer, Grete 307 Wolff, Kurt 97 Wolfskehl, Karl 30, 114, 134, 156
356 Yanait, Rachel 263 Zangwill, Israel 114
Personenregister
Zola, Émile 264 Zucker, Jacob 114 Zweig, Arnold 114, 307, 310